Enteignende Eingriffe?: Das Entschädigungsinstitut des enteignenden Eingriffs und die neuere verfassungsrechtliche Dogmatik der Eigentumsgarantie [1 ed.] 9783428501687, 9783428101689

Das Recht der öffentlich-rechtlichen Ersatzleistungen befindet sich in einer Krise. Eine wesentliche Ursache der Krise i

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Enteignende Eingriffe?: Das Entschädigungsinstitut des enteignenden Eingriffs und die neuere verfassungsrechtliche Dogmatik der Eigentumsgarantie [1 ed.]
 9783428501687, 9783428101689

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CHRISTOPH KÜLPMANN

Enteignende Eingriffe?

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 834

Enteignende Eingriffe? Das Entschädigungsinstitüt des enteignenden Eingriffs und die neuere verfassungsrechtliche Dogmatik der Eigentumsgarantie

Von Christoph Külpmann

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Külpmann, Christoph: Enteignende Eingriffe? : das Entschädigungsinstitut des enteignenden Eingriffs und die neuere verfassungsrechtliche Dogmatik der Eigentumsgarantie / Christoph Külpmann. Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 834) Zugl.: Köln, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-10168-5

Alle Rechte vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme Selignow Verlagsdienstleistungen Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-10168-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1999/2000 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen. Sie befindet sich im wesentlichen auf dem Stand vom Mai 1999; Schrifttum und Rechtsprechung sind vereinzelt auch darüber hinaus berücksichtigt. Herzlicher Dank gilt Herrn Prof. Dr. Arnulf Schmitt-Kammler, der die Arbeit angeregt, betreut und durch das Verfahren begleitet hat. Herrn Prof. Dr. Peter J. Tettinger habe ich für das Zweitgutachten zu danken. Die Studienstiftung des deutschen Volkes hat mich durch die Gewährung eines Promotionsstipendiums großzügig gefördert. Christine Budzikiewicz, Heike Parpart und Johannes Achter haben den Text vor der Abgabe gelesen und wertvolle Hinweise gegeben. Schließlich danke ich der Universität zu Köln für die Auszeichnung mit dem Universitätspreis im Jahr 2000. Für persönliche Unterstützung und manche Aufmunterung danke ich meinen Eltern und Tina. Gewidmet ist die Arbeit meinen Eltern, die mir das Studium und die Promotion ermöglicht haben.

Köln, im Februar 2000

Christoph Külpmann

Inhalt § 1 Einleitung § 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff A. Gedankliche Grundlage: Das Schwellenmodell des BGH B. Rechtsprechungsübersicht I. Beeinträchtigungen durch Infrastrukturmaßnahmen 1. Beeinträchtigungen bei der Durchführung von Infrastrukturmaßnahmen .. 2. Beeinträchtigungen durch die Ergebnisse von Infrastrukturmaßnahmen .. II. Immissionen 1. Verkehrsimmissionen a) Behandlung nach privatem Nachbarrecht b) Verkehrsimmissionen als öffentlich-rechtliche Beeinträchtigungen ... c) Modernes Entschädigungsrecht: BGHZ 64, 220 („Bonner Reuterstraße") d) Verkehrsimmissionen von planfestgestellten Straßen 2. Fluglärmimmissionen 3. Immissionen von sonstigen hoheitlichen Veranstaltungen III. Staatliche Unfallhaftung IV. Fälle im „Randbereich" 1. Anschluß- und Benutzungszwang 2. Abbau von Kies, Sand und anderen Bodenschätzen C. Begrifflichkeit D. Konsolidierung einer Rechtsfigur I. Dogmengeschichtliche Entwicklung 1. Entwicklung im Schrifttum 2. Die Diskussion um das Staatshaftungsgesetz (StHG) 3. Stand zu Beginn der 80er Jahre II. Prüfungsschema 1. Übersicht 2. Erläuterungen a) Tatbestand b) Rechtsfolge

§3 VerfassungsrechtlicheEigentumsdogmatik A. Gedankliche Grundlage: Das Trennungsmodell des BVerfG B. Grundrechtlicher Aufbau von Art. 14 GG I. Schutzbereich 1. Schutzobjekt: „Eigentum" 2. Schutzrichtungen der Eigentumsgewährleistung II. Inhaltsbestimmungen und Eingriffe

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Inhalt 1. Inhalts-und Schrankenbestimmungen als Definitionsakte 2. Enteignungen als Entzugsakte III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Inhalts- und Schrankenbestimmungen 1. Verfassungsrechtliche Maßstäbe 2. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit 3. Ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmungen a) Was sind ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmungen? (1) Inhalt der sog. Ausgleichspflicht (2) Ursprung der Ausgleichsregelungspflicht (3) Terminologie b) Verfassungsrechtliche Bewertung IV. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Enteignungen

§4 Entwicklungen nach dem Naßauskiesungsbeschluß A. Enteignender Eingriff und Enteignungen I. Literatur 1. Zweifel 2. Neue Gewißheiten II. Rechtsprechung 1. BGHZ 90, 17 („Sandabbau"): Fortbestand des enteignungsgleichen Eingriffs 2. BGHZ 91, 20 („Kläranlage II"): Fortbestand des enteignenden Eingriffs . 3. Ergänzende Passagen in Entscheidungen des BGH B. Enteignender Eingriff und ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmungen I. Literatur 1. Aufgehen des enteignenden Eingriffs in der Figur der ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmung 2. Kritik: Enteignende Eingriffe als Nichtvollzugsfälle II. Rechtsprechung 1. BVerwGE 77, 295: Immissionen von planfestgestellten Straßen - § 74 Abs. 2 S. 3 VwVfG als Ausgleichsregelung im Rahmen von Art. 14 Abs. 1 GG 2. BVerfGE79, 174: Verkehrsimmissionen und Bebauungspläne 3. BGHZ 100, 136; 102, 350; NJW 1998, 1398: Legislatives Unrecht 4. BGHZ 122, 76: Grundsätzlich weiterbestehendes Bedürfnis für das Rechtsinstitut des enteignenden Eingriffs

§ 5 Enteignende Eingriffe im Bereich des Art. 14 Abs. 3 GG A. Tatbestandliches Vorliegen von Enteignungen I. Rechtspositionen im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG 1. Infrastrukturmaßnahmen a) Nicht entschädigte Fälle b) Entschädigte Fälle: Verlust und Erschwerung von Zugängen 2. Immissionen a) § 906 BGB analog b) Regelungsmodell des § 906 BGB (analog) c) Gemeinwichtige Anlagen

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Inhalt (1) Duldungspflichten gegenüber gemeinwichtigen Anlagen? (2) Folgen für das Institut des enteignenden Eingriffs 3. Unfallartige Schädigungen II. Entzug 1. Rechtsakte 2. Finalität a) Fälle fehlender Finalität b) Fälle zweifelhafter Finalität (1) Widmungen (a) Duldungspflicht kraft Widmung? (b) Folgen für das Institut des enteignenden Eingriffs (2) Planfeststellungsbeschlüsse (3) Bebauungspläne (a) Duldungspflicht aufgrund eines Bebauungsplans? (b) Folgen für das Institut des enteignenden Eingriffs 3. Konkret-individuell 4. Vollständig oder teilweise a) Rechtsprechung b) Formale Abgrenzung c) Materiale Abgrenzung III. Ergänzend: Zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben IV. Ergebnis B. Folgen I. Materiell 1. Kein Raum für das Institut des enteignenden Eingriffs 2. Verfassungsgemäßheit der gegenwärtigen Rechtslage a) § 74 Abs. 2 S. 3 VwVfG b) Folgen für Bebauungspläne II. Prozessual

§ 6 Enteignende Eingriffe im Bereich des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG A. Geregelte Beeinträchtigungen I. Typische Konstellationen 1. Regelungen der Infrastrukturmaßnahmen in den Straßen- und Wegegesetzen 2. Ausgleichsansprüche bei Immissionen a) § 42 Abs. 1 BImSchG b) §§ 74 Abs. 2 S. 3, 75 Abs. 2 S. 4 VwVfG c) § 906 Abs. 2 S. 2 BGB analog - nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch II. Qualifikation der Ausgleichsregeln III. Folgen für das Institut des enteignenden Eingriffs 1. Materiell 2. Prozessual 3. Ergebnis B. Nicht geregelte Beeinträchtigungen I. Ausschlaggebend: Die Regelungsfähigkeit II. Regelungsfähige Fälle 1. Typische Konstellationen

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Inhalt a) Entschädigung für Fluglärmimmissionen b) Keine Entschädigung bei Schäden durch das „Waldsterben" c) Würdigung 2. Folgen für das Institut des enteignenden Eingriffs a) Materiell b) Prozessual (1) Der Normalfall: Abwehrklage (2) Der Sonderfall: Entschädigungsklage III. Nicht regelungsfähige Fälle 1. Atypische Beeinträchtigungen a) Konstellationen b) Behandlung dieser Fälle (1) Entfallen der Grenze der Regelungsfähigkeit durch salvatorische Klauseln? (2) Keine Entschädigung wegen enteignenden Eingriffs c) Ergebnis 2. Unfallhaftung 3. Ergebnis

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§7 Enteignende Eingriffe und staatliche Unfallhaftung

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A. Typische Konstellationen B. Unrechtshaftung I. Handlungs-und Erfolgsunrecht II. Erfolgsunrecht als tragfähiges Konzept 1. Begründung der Idee 2. Mögliche Einwände 3. Anspruchsgrundlage a) Aufopferung nach § 74,75 EinlprALR? b) Gewohnheitsrecht III. Konkurrierende Konzepte 1. Öffentlich-rechtliche Gefährdungshaftung 2. Folgenentschädigungsanspruch C. Folgen für das Institut des enteignenden Eingriffs I. Materiell II. Prozessual

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§8 Zusammenfassung

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Literaturverzeichnis

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Sachwortverzeichnis

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§ 1 Einleitung Unternimmt man es, sich mit dem Bereich der öffentlich-rechtlichen Ersatzleistungen zu beschäftigen, begegnen einem neben gelegentlichen Aufmunterungen („Keine Angst vor Art. 14 GG!" 1 ) alsbald Warnhinweise, die zur Umkehr mahnen: Ein „Chaos"2 herrsche in diesem Gebiet, das sich zu einem „gordischen Knoten"3 entwickelt habe, man bewege sich auf einen „Trümmerhaufen" 4 zu, auf dem „lebende Leichname"5 ihr Unwesen trieben. Wer sich nun nicht mit Grausen abwendet, sondern weiter fortschreitet zur „Eiger-Nordwand der Grundrechtslandschaft" 6, dem wird sehr schnell deutlich, daß wohl über keine Frage in diesem Rechtsgebiet so viel Einigkeit besteht wie über das Bestehen einer tiefen dogmatischen Krise. Das System öffentlich-rechtlicher Ersatzleistungen ruht in Deutschland auf zwei Säulen. Der Staat entschädigt zum einen für die rechtmäßige Aufopferung der Rechte des Bürgers. Klassischen Ausdruck fand diese Idee in den §§ 74,75 EinlprALR 7 , für den Bereich des Eigentums ist sie in Art. 14 Abs. 3 GG niedergelegt. Der Staat haftet zum anderen für die rechtswidrig-schuldhafte Verletzung von Amtspflichten gegenüber Dritten, indem die den Beamten treffende Verpflichtung aus § 839 BGB nach Art. 34 S. 1 GG auf den jeweiligen Hoheitsträger übergeleitet wird. Schon diese beiden Anspruchssysteme bergen in sich erhebliche Probleme. Aus der Aufopferung entwickelte sich für den Fall aufgeopferten Eigentums die Enteignung. Die damit gegebene Verbindung zum Eigentum rückte das Rechtsgebiet der öffentlich-rechtlichen Ersatzleistungen in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung um „Mein und Dein" oder, genauer, um die Verteilung von privater Herrschaftsmacht und staatlicher Zugriffsbefugnis. Es ist verständlich, daß es hier namentlich in Zeiten einer grundsätzlichen Systemalternative zur sozialen Marktwirt• Heinegg/v. Haltern, JuS 1993, 121. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. VI. 3 Schenke, NJW 1995, 3145 (3151). 4 Thieme, DÖV 1996,757 (763). 5 Schmitt-Kammler, NJW 1990,2515. 6 Schwabe, Jura 1994, 529 (529f.). 7 Die Vorschriften lauten: § 74. Einzelne Rechte und Vortheile der Mitglieder des Staates muessen den Rechten und Pflichten zur Befoerderung des gemeinschaftlichen Wohls, wenn zwischen beiden ein wirklicher Widerspruch (Collission) eintritt, nachstehen. § 75. Dagegen ist der Staat denjenigen, welcher seine besonderen Rechte und Vortheile dem Wohle des gemeinen Wesens aufzuopfern genoethigt wird, zu entschädigen gehalten. (zit. nach Schmitt-Kammler, JuS 1995,473). 2

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§ 1 Einleitung

schaft in Form des „real existierenden Sozialismus" nicht ohne politische Schärfen zuging.8 Zugleich belastete der zögerliche Zugriff der Gesetzgeber dieses Rechtsgebiet, die allzuoft die Flucht aus der politischen Verantwortung in die Generalklauseln antraten - so etwa im Natur- und Denkmalschutzrecht - und der Rechtsprechung durch salvatorische Klauseln die Verantwortung zuschoben. Aber auch die Regelung der Amtshaftung in § 839 BGB blieb in vielfacher Hinsicht unbefriedigend. Die bloße Überleitung der Beamtenhaftung auf den Staat anstelle einer unmittelbaren Staatshaftung, die Subsidiaritätsklausel des § 839 Abs. 1 S. 2 BGB, die Begrenzung auf schuldhafte Schädigungen, die Beschränkung der Rechtsfolge auf Geldersatz - dies alles wird heute mit Recht als Mißstand empfunden. Der Versuch, die Rechtsstaatsidee im Staatshaftungsrecht zu verwirklichen (H.-J. Vogel9), scheiterte jedoch. Das BVerfG erklärte das 1981 verabschiedete Staatshaftungsgesetz in seinem Urteil vom 19.10.1982 wegen der fehlenden Bundeskompetenz für verfassungswidrig und daher nichtig.10 So bestehen die gesetzlichen Grundlagen der Amtshaftung weiter; in den neuen Bundesländern tritt - mit Ausnahme von Sachsen-Anhalt11 - das als Landesrecht fortgeltende Staatshaftungsgesetz der DDR 12 hinzu.13 Sind also schon die beiden Grundpfeiler erheblichen Belastungen ausgesetzt, so erreichten die Schwierigkeiten doch eine neue Qualität, als der BGH begann, beide Bereiche miteinander zu verbinden.14 Das Gericht griff seit 1952 über die bis dahin bestehende Amtshaftung hinaus und schuf mit dem enteignungsgleichen Eingriff ein Institut zum Ausgleich rechtswidriger Eigentumsbeeinträchtigungen, unabhängig davon, ob diese schuldhaft erfolgt waren. Das Institut wurde aber nicht im Bereich des Staatshaftungsrechts angeknüpft, sondern bei Art. 14 Abs. 3 GG. Die Tatbestandsmerkmale des neuen Instituts skizzierte der BGH daher im Sinn des Enteignungsrechts, etwa bei der Begrenzung des Schutzguts (nur Eigentum), bei der Ausgestaltung des Eingriffs (kein Eingriff durch Unterlassen; Erfordernis der Gemeinwohlbezogenheit) und bei der Rechtsfolge (Entschädigung durch den begünstigten Hoheitsträger). 15 In der Folge gerieten Fragen der Rechtmäßigkeit oder Rechts8 Vgl. etwa die von Rittstieg geschilderte Auseinandersetzung um seine Habilitationsschrift in der s., FS Thieme, 183 (185 f.). Sehr früh (1923) aber auchM. Wolff. \ FG Kahl, passim, der die Eigentumsgarantie gegen linksradikale Bestrebungen in Stellung bringen wollte. Vgl. dazu auch § 2 A bei Fn. 8. 9 Vogel, DVB1. 1978, 657. 10 BVerfGE 61, 149. 11 In Sachsen-Anhalt gilt das Gesetz zur Regelung von Entschädigungsansprüchen im Land Sachsen-Anhalt vom 01.01.1997 (GVB1. S. 17). 12 Vom 12.05.1969 (GBl. IS. 34). 13 Die Fortgeltung ist angeordnet im Einigungsvertrag vom 31.08.1990 (BGBl. II S. 1168), Art. 9 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 i. V. m. Anlage II, Kapitel III, Sachgebiet B: Bürgerliches Recht, Abschnitt III Nr. 1; dazu Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 457 ff. 14 Seit BGHZ (GS) 6, 270. 15 Übersicht bei Schock, Jura 1989, 529 (534).

§ 1 Einleitung

Widrigkeit einer Maßnahme ebenso wie das Verhältnis von Abwehr und Entschädigung zunehmend durcheinander. Die Erkenntnis, daß zwischen rechtsgemäßen und rechtswidrigen Maßnahmen ein grundsätzlicher Unterschied besteht, rückte immer weiter in den Hintergrund. Diese Vermengung zweier Rechtsgebiete wurde zu einem der wichtigsten Auslöser der gegenwärtigen Krise, die nach wie vor so weit reicht, daß die lehrbuchartigen Darstellungen des Gebietes bereits im Titel differieren: Wahrend F. Ossenbühl sein Werk mit „Staatshaftungsrecht" überschreibt, 16 sprechen R. Steinberg und A. Lubberger bei weitestgehend gleicher thematischer Reichweite von „Aufopferung - Enteignung und Staatshaftung". Die Verbindung von Aufopferung und Enteignung einerseits und Staatsunrechtshaftung andererseits führte neben dem enteignungsgleichen Eingriff zu einer zweiten derart hybriden Rechtsfigur, dem enteignenden Eingriff. Diese Figur soll nach einer geläufigen Definition solche meist atypischen und unvorhergesehenen Nachteile ausgleichen, die eine an sich rechtmäßige hoheitliche Maßnahme bei einzelnen Betroffenen hervorruft und die die Schwelle des enteignungsrechtlich Zumutbaren überschreiten. 17 Diese Figur ist das dogmengeschichtlich jüngste richterrechtliche Entschädigungsinstitut, das erst vergleichsweise spät, etwa in der Mitte der 70er Jahre, als eigenständige Figur erkannt wurde. Die Entwicklung dieses Rechtsinstituts, seine Verbreitung und Konsolidierung, aber auch die seit Anfang der 80er Jahre aufgeworfene Frage nach seinem Fortbestand und seiner richtigen verfassungsrechtlichen Einordnung sind Gegenstand dieser Arbeit. Einige Entscheidungen des BVerfG unter führender Beteiligung des Richters W. Böhmer erschütterten Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre das bis dahin von den Zivilgerichten beherrschte Gebiet der öffentlich-rechtlichen Ersatzleistungen. Die Entscheidung über die Naßauskiesung vom 15.07.198118 reformulierte den Eigentums- und den Enteignungsbegriff und versuchte, der bis dahin (trotz vorheriger Bemühungen des BVerfG 19) praktisch ignorierten Junktimklausel des Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG zur Durchsetzung zu verhelfen. Die alsbald auftretenden Zweifel am Fortbestand der richterrechtlichen Entschädigungsinstitute im Bereich des Art. 14 GG wurden brisant, nachdem das BVerfG ein gutes Jahr später auch das Staatshaftungsgesetz als verfassungswidrig verwarf, da nun ein erheblicher Rückschritt beim Ausgleich schuldloser Eigentumsbeeinträchtigungen durch die öffentliche Hand drohte. Die Literatur, aber auch die zivilgerichtliche Rechtsprechung, mühten sich um „Schadensbegrenzung" und verteidigten die Institute des enteignungsgleichen wie des enteignenden Eingriffs in großem Umfang - dies gelang auch zunächst und ist für den enteignungsgleichen Eingriff heute weitgehend außer Streit.

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Mit sogleich folgenden Erläuterungen, ebd. y S. 1 ff. BGHZ 91,20 (26). BVerfGE 58, 300. Vgl. bereits BVerfGE 4, 219 (228 ff.). Im übrigen unten § 3 A.

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§ 1 Einleitung

Das Entschädigungsinstitut des enteignenden Eingriff dagegen ist seit Beginn der 90er Jahre erneut unter schweren Beschüß geraten: Das BVerfG habe durch seine Entscheidung zum hessischen Pflichtexemplarrecht vom 14.07.198120 die Figur der ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmung geschaffen. Dieses Institut verdränge die Figur des enteignenden Eingriffs und mache sie in weiten Teilen obsolet oder sogar verfassungswidrig. 21 Bisher hat sich die Rechtsprechung unter teilweiser Zustimmung der Literatur von der Rechtsfigur nicht gelöst, auch wenn das BVerfG in einer Kammerentscheidung erst kürzlich Zweifel an ihrem Fortbestand anmeldete22 und auch sonst kaum größere Bemühungen zur Verteidigung des Rechtsinstituts erkennbar sind. In der vorliegenden Arbeit wird die Frage nach dem Überleben des enteignenden Eingriffs vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Eigentumsdogmatik gestellt - es steht immerhin zu befürchten, daß hier ein weiterer Untoter im Staatshaftungsrecht herumspukt, der in neuen Konstellationen mit unverhoffter Lebenskraft erstarken könnte.23 Die Untersuchung gliedert sich in sechs Paragraphen: Zunächst wird dem enteignenden Eingriff in der zivilgerichtlichen Rechtsprechung nachgespürt. Dabei ist das Schwellenmodell des BGH in den Blick zu nehmen, das die gedankliche Grundlage für den enteignenden Eingriff bildet, beherrscht von der Vorstellung, Inhalts- und Schrankenbestimmungen nach Art. 14 Abs. 1 GG schlügen bei Überschreiten einer bestimmten Schwelle in Enteignungen nach Art. 14 Abs. 3 GG um. Im folgenden wird den einzelnen Fallgruppen dieser Rechtsfigur nachgegangen. Schließlich ist das Augenmerk auf die Frage zu richten, warum und unter welchen Bedingungen die verschiedenen, zunächst eher disparaten Fallgruppen zu einem einheitlichen Institut zusammengefaßt wurden (§ 2). Die Diskussion um den enteignenden Eingriff findet heute vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des BVerfG zur Eigentumsdogmatik statt. Das Gericht hat ein Modell der formalen Trennung von Inhalts- und Schrankenbestimmungen und Enteignungen entworfen, das im Verhältnis der unterschiedlichen Staatsgewalten und der verschiedenen Gerichtszweige zu deutlichen Veränderungen führte. Dieses Modell ermöglicht heute einen strikt grundrechtlichen Aufbau, so daß sich Art. 14 GG in die allgemeine Grundrechtsdogmatik einfügt. Mit Blick auf die Autorität des BVerfG und die aus der Richterschaft des BGH kommende Bemerkung, man folge inzwischen der neuen eigentumsrechtlichen Dogmatik,24 beruht diese Arbeit auf den Grundzügen der Eigentumsdogmatik des BVerfG (§ 3). Der Konfrontation der Modelle von BGH und BVerfG folgten alsbald Zweifel und neue Gewißheiten über Reichweite und Fortbestand der vom BGH in Anlehnung an 20 21 22 23 24

BVerfGE 58, 137. Insbesondere Maurer y DVB1. 1991, 781. BVerfG, NJW 1998, 3264. Vgl. die bei Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 272 angedeutete Auffangfunktion. Engelhardt, NVwZ 1994, 337; Krohn, ZfBR 1994, 5.

§ 1 Einleitung

Art. 14 Abs. 3 GG entwickelten richterrechtlichen Institute des enteignungsgleichen und enteignenden Eingriffs. Während im direkten Anschluß an die Naßauskiesungsentscheidung des BVerfG zumeist Überschneidungen mit der Enteignung erörtert wurden, kamen später Zweifel auf, welche Konsequenzen aus der Idee ausgleichspflichtiger Inhalts- und Schrankenbestimmungen zu ziehen seien. Diese Diskussionen werden in § 4 dargestellt. Die folgende Untersuchung orientiert sich an der Frage, wie die verschiedenen, in der Rechtspraxis als enteignende Eingriffe entschädigten Beeinträchtigungen von Eigentum in den grundrechtlichen Aufbau des Art. 14 GG einzufügen seien. Dabei gibt das Grundgesetz die Prüfungsreihenfolge vor. Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG begründet für alle Enteignungen die Pflicht zu einer gesetzlichen Regelung der Entschädigung. Soweit Beeinträchtigungen durch enteignende Eingriffe Enteignungen sind, ist danach die Gewährung einer richterrechtlichen Entschädigung schlechthin ausgeschlossen. Dabei werden die Tatbestandsmerkmale einer Enteignung im einzelnen geprüft (§ 5). Im weiteren Verlauf ist zu untersuchen, ob und inwieweit Beeinträchtigungen durch enteignende Eingriffe im Bereich von Inhalts- und Schrankenbestimmungen nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG zu verorten sind. Dabei dürfte die Frage bei Bestehen gesetzlicher Anspruchsgrundlagen weniger brisant sein. Wichtiger ist die Frage, wie die beteiligten Akteure, also die Hoheitsträger und die Rechtsunterworfenen, bei Fehlen notwendiger Abfederungsregeln zu verfahren haben. Es wird insbesondere zu klären sein, ob im Bereich der nicht regelungsfähigen Beeinträchtigungen für das Institut einer Entschädigung wegen enteignenden Eingriffs noch Raum verbleibt (§ 6). Schließlich sind die Fälle zu untersuchen, die sich als Unfälle gar nicht oder doch nur mit großer Mühe im Bereich des Art. 14 GG verorten lassen. Es wird gezeigt werden, wie die Idee des Erfolgsunrechts in solchen Konstellationen zum Tragen kommen kann und einen gewohnheitsrechtlichen Anspruch kraft Richterrechts auszulösen vermag (§ 7).

§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff A. Gedankliche Grundlage: Das Schwellenmodell des BGH Das Entschädigungsinstitut des enteignenden Eingriffs beruht auf dem Konzept der Enteignung, das der BGH in den 50er und 60er Jahren aufbauend auf der Rechtsprechung des Reichsgerichts entwickelte. Dieses Konzept hat der Vorsitzende Richter des für Entschädigungsfragen zuständigen 3. Zivilsenats G. Krohn 1983 auf folgendes Prinzip reduziert: „Wir [sc.: der BGH] haben die Enteignung in einem weiteren Sinn verstanden, als jede Einwirkung auf das Eigentum, die die Grenzen zulässiger Inhaltsbestimmungen oder Sozialbindung überschritten hat."1 Das Modell des BGH beruhte also auf der Vorstellung, Beeinträchtigungen des Eigentums - in welcher Form auch immer-seien entweder „leichte" Inhaltsbestimmungen oder „schwere" Enteignungen. Es mußte stereotyp danach gefragt werden, ob die in Rede stehende hoheitliche Maßnahme noch Sozialbindung oder schon Enteignung sei.2 Damit wurde zur entscheidenden Frage in Entschädigungsprozessen wegen Eigentumsbeeinträchtigungen durch die öffentliche Hand, ob die Auswirkungen der jeweiligen Maßnahme die Enteignungsschwelle überschritten und das hoheitliche Handeln daher von einer Sozialbindung oder Inhaltsbestimmung in eine Enteignung umschlage - deshalb wird dieser Ansatz zutreffend als Schwellenmodell3 oder Umschlagtheorie4 bezeichnet. Das Schwellenmodell des BGH stand am Ende einer Entwicklung, die C. Peter treffend als „zweite Auflösung" des Enteignungsbegriffs bezeichnet hat.5 Im Zuge der ersten Auflösung des Begriffs hatte das Reichsgericht in der Weimarer Republik die Enteignungsdefinition des 19. Jahrhunderts aufgegeben. Enteignung war nach dem Verständnis der Enteignungsgesetze des 19. Jahrhunderts die Übertragung von Grundeigentum (oder dinglichen Rechten an solchen6) durch Verwaltungsakt auf ei' Krohn, Beil. 1/1984 in AgrarR 4/1984, 31. Aus der Rechtsprechung etwa BGHZ 77, 179 (185); 77, 351 (353); 90,4 (14); aus der Literatur etwa Kreft, EG Heusinger, 167 (175). 3 Vgl. Lege, Zwangskontrakt, S. 18 („Schwellentheorien"). 4 Böhmen Der Staat 1985,157 (159). Übernommen etwa von Bierlein, Ausgleich, S. 144ff.; Erbguthy JuS 1988, 699 (700); Schmitt-Kammler, FS Uni Köln, 821 (828 m. Fn. 24). 5 In JZ 1969,549 (552). 6 Insoweit war der Begriff strittig, vgl. Maurer, FS Dürig, 293 (296 m. Fn. 14). 2

Α. Das Schwellenmodell des BGH

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nen öffentlichen Unternehmer zugunsten eines konkreten Gemeinwohlprojekts, kurz gesagt: ein Zwangskauf. 7 Von dieser, auch als „klassisch" apostrophierten Definition löste sich das Reichsgericht, um die Eigentumsgarantie auch und gerade gegen einen als konfiskationslüstern verdächtigten Gesetzgeber in Stellung zu bringen.8 Das Gericht erweiterte den Enteignungsbegriff in drei Richtungen:9 Es verwarf die Beschränkung des Enteignungsbegriffs auf Eingriffe in das Grundeigentum und dehnte den Schutz der Eigentumsgarantie auf alle Vermögenswerten privaten Rechte aus.10 Enteignungen sollten zudem nicht mehr nur durch Verwaltungsakte, sondern auch durch Gesetze erfolgen können.11 Für die Enteignung sei schließlich nicht die Übertragung eines Rechts kennzeichnend, sondern der bloße Entzug ausreichend.12 Eine Enteignung sollte nach der sog. Einzelakttheorie des Reichsgerichts aber nur vorliegen, wenn es sich bei der fraglichen Maßnahme „um einen Einzeleingriff in Rechte bestimmter Personen oder eines bestimmt begrenzten Personenkreises" 13 handelte. Die rechtswidrige Beeinträchtigung einer Eigentumsposition sollte dagegen nicht dem Enteignungsbegriff unterfallen, sondern - so jedenfalls ein Urteil vom 11.04.1933 - einen Entschädigungsanspruch wegen Aufopferung nach § 75 EinlprALR auslösen.14 Das Schrifttum ist dieser Entwicklung im wesentlichen ge7 Vgl. BGHZ (GS) 6,270 (276); BVerfGE 45,297 (332); aus der Literatur insb. Böhmer, Der Staat 1985, 157 (165 ff.); Maurer, FS Dürig, 293 (295 ff.); ferner etwa Hesse, Grundzüge, Rz. 450; Nüßgens/Boujong, Eigentum, Rz. 331; Ossenbiihl, Staatshaftungsrecht, S. 146f.; Ramsauer, Beeinträchtigungen, S. 57 f.; Rüfner, in Erichsen (Hrsg.), AllgVerwR, § 48 Rz. 1; Steinberg/Lubberger, Aufopferung, S. 33; W. Weber, Grundrechte II, 331 (349). 8 M. Wolff FG Kahl, S. 21. Dieser immer wieder zitierte Beitrag legt beredtes Zeugnis von dem politischen Mißtrauen ab, das namentlich den Landesgesetzgebern im Bereich des Eigentums entgegengebracht wurde. So spricht M. Wolff von linksradikalen Ideen {ebd., S. 6) ebenso wie von kommunistisch gerichteten Landesgesetzgebern (ebd., S. 22). Kritisch zur ritualisierten Bezugnahme auf M. Wolff Böhmer, Beil. 1/1984 in AgrarR 4/1984,2 (5 m. Fn. 14); ders., NJW 1988,2561 (2571 m. Fn. 73). Dazu etwa auch Breuer, Bodennutzung, S. 46 m. Fn. 148\ Maurer, FS Dürig, 293 (298); Rittstieg, Eigentum, S. 258 f. 9 Zusammenfassung dieser Entwicklung etwa bei Böhmer, Der Staat 1985, 157 (182ff.); Gusy, Reichsverfassung, S. 343ff.; Forsthoff, VerwR I, § 18.2, S. 350ff.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 147 ff.; Ramsauer, Beeinträchtigungen, S. 58 ff.; W. Weber, Grundrechte II, 331 (338 ff.); H. J. Wolff/ Bachof, VerwR I, § 62 II b, S. 542. Ausführlich Rittstieg, Eigentum, S. 252 ff. 10 RGZ 103,200(201); 109,310(319); 111,320(328); 121,166(168); 128,165(171); 129, 146(148); 136, 113(123); 139, 177(182). » RGZ 103,200(201); 109,310(323); 111,123(130); 111,320(323); 116,268 (272); 128, 18 (32); 128, 165 (171); 129, 146 (149); 136, 113, (123); 139, 177 (182). M. Wolff, FG Kahl, S. 22; zu dem dabei in Anspruch genommenen Prüfungsrecht gegenüber dem Gesetzgeber Rittstieg, Eigentum, S. 256ff. 12 RGZ 105, 251 (253); 107, 261 (269f.); 108, 252 (253); 111, 224 (226); 112, 189 (191); 116, 168 (172); 129, 146 (148); 135, 308 (311); ablehnend insoweitM. Wolff, FG Kahl, S.25. 13 RGZ 129, 146 (149); später etwa 132, 69 (72); 133, 124 (125); 136, 113 (124); 139, 177 (183). 14 RGZ 140, 276 (281 ff.). Die Rechtsprechung war bis dahin davon ausgegangen, der Aufopferungsanspruch sei auf rechtmäßige Schädigungen beschränkt, vgl. RGZ 112,95 (98); 135, 308 (311); 137, 163 (167). (Dazu auch Heidenhain, Amtshaftung, S. 81 ff.; Schmitt-Kammler,

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

folgt, 15 auch wenn vereinzelt Stimmen gegen die „Auflösung des Enteignungsbegriffs" 16 laut wurden. Die dogmengeschichtlich zweite Auflösung des Enteignungsbegriffs begann mit dem Beschluß des Großen Senats für Zivilsachen des BGH vom 10.06.195217 („Wohnraumbewirtschaftung"). Dieser Beschluß wird heute vor allem als Geburtsstunde des enteignungsgleichen Eingriffs behandelt, gedanklich vorausliegend sind aber die Ausführungen des Senats zum Eigentums- und zum Enteignungsbegriff, deren Formulierung denn auch zentraler Gegenstand der Urteilsbesprechungen war. 18 Der Große Senat des BGH hatte auf Vorlage des 3. Zivilsenats über Beeinträchtigungen zu entscheiden, die bei der Durchführung des Kontrollratsgesetzes Nr. 18 (Wohnungsgesetz) durch die rechtswidrige Zwangseinweisung von Mietern aufgetreten waren. In seinem Beschluß hielt der BGH an der Tendenz zur Ausweitung des Eigentumsbegriffs durch das Reichsgericht fest. Mit auffallendem Pathos und unter Bezugnahme auf die Erschütterungen der Eigentumsordnung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts 19 setzte der BGH dem nach dem Vermögen des Bürgers greifenden Staat einen umfassenden Vermögensschutz entgegen: „Wenn die staatliche Enteignung nach dem ganzen Vermögen der Bürger greift, muß die Eigentumsgarantie und der Enteignungsschutz auch das ganze Vermögen der Bürger decken."20 Diese Aussage ging, weil sie ausdrücklich auch Vermögenswerte Rechte des öffentlichen Rechts einschloß,21 deutlich über den Eigentumsbegriff des Reichsgerichts hinaus.

JuS 1995,473 [477 m. Fn.45f.].) Das Reichsgericht beschränkte den Aufopferungsanspruch aus § 75 EinlprALR auf den Ausgleich von Vermögensschäden, während es unter Berufung auf die Preußische Kabinettsordre vom 04.12.1831 annahm, daß Schäden an anderen Rechtsgütern, wie etwa Leben und Gesundheit, nicht nach § 75 EinlprALR ausgeglichen werden könnten. Vgl. RGZ 103,423 (426); 122,298 (302); 144, 325 (333); Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 128; Stödter, Entschädigung, S. 27 ff.; Abdruck der Kabinettsordre bei Huber, Dokumente, Bd. 1, S. 73 ff. 15 S. insb. die Arbeiten von M. Wolff \ FG Kahl, 1 ff. und Triepel, Goldbilanzen, S. 15 ff. Umfangreiche Verweise auf zeitgenössische Literatur bei Breuer, Bodennutzung, S. 14 m. Fn. 15; Forsthoff,; VerwR I, § 18.2, S. 331 m. Fn. 1 ; Gusy, Reichsverfassung, S. 343 ff. m. Fn. 49-51 ; Rittstieg., Eigentum, S. 269ff.; W Weber, Grundrechte II, 331 (342 m. Fn. 342). 16 So der Titel eines Aufsatzes von Carl Schmitt, JW 1929,495 ff.; kritisch auch Kirchheimer, Die Justiz, Bd. V, 1930, S. 553 ff. 17 BGHZ (GS) 6,270. 18 Zu verweisen ist auf Giese, MDR 1953, 61 („in allen wesentlichen Punkten das Richtige getroffen"); zustimmend zuchHamann, NJW 1952,1176; Pagenkopf\ NJW 1952,1193, kritisch dagegen Forsthoff, JZ 1952,627; Haas, MDR 1952,648; Stödter, DÖV 1953, 97. 19 Vgl. BGHZ (GS) 6,270 (277), wo das Gericht die „beruhigten" Zeiten des späten 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts den „sozialen Katastrophen" des späteren 20. Jahrhunderts gegenüberstellt. Äußerst kritisch dazu Rittstieg, Eigentum, S. 291 ff. 20 BGHZ (GS) 6, 270 (278). 21 Ebd.

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Mit diesem weiten Eigentumsverständnis signalisierte der BGH zugleich, daß es in der zivilgerichtlichen Rechtsprechung keine Rückkehr zum klassischen Enteignungsbegriff geben würde. 22 Denn Eigentumsschutz verstand das Gericht in der Hauptsache als Eigentumswerischutz bei Enteignungen - anders gewendet, Eigentumsschutz mußte über den Enteignungsbegriff vermittelt werden. Der „klassische" Enteignungsbegriff war aber gar nicht in der Lage, etwa die Beeinträchtigung subjektiver öffentlicher Rechte zu erfassen. So stellte sich der BGH vielmehr in die Tradition des Reichsgerichts und modifizierte dessen Einzelakttheorie in Richtung der Sonderopfertheorie. Bei der Enteignung handele es sich, so diese Theorie,,»nicht um eine allgemeine und gleichwirkende, mit dem Wesen des betroffenen Rechtes vereinbare inhaltliche Bestimmung und Begrenzung des Eigentumsrechts, sondern um einen zulässigen, zwangsweisen Eingriff in das Eigentum [...], der die betroffenen Einzelnen oder Gruppen im Vergleich zu anderen ungleich, besonders trifft und sie zu einem besonderen, den übrigen nicht zugemuteten Opfer für die Allgemeinheit zwingt [...]." 23 Der Verstoß gegen den Gleichheitssatz kennzeichne die Enteignung. Die Brisanz dieser Formel zeigt sich erst, wenn man die Konstellationen in den Blick nimmt, in denen der BGH schon in diesem Beschluß ein Sonderopfer prüfte oder annahm: zum einen beim Vollzug einer verfassungswidrigen Inhalts- und Schrankenbestimmung, zum anderen beim rechtswidrigen Vollzug einer verfassungsgemäßen Inhalts- und Schrankenbestimmung:24 (1) Das einschlägige Kontrollratsgesetz Nr. 18 stufte der BGH als Inhalts- und Schrankenbestimmung ein. Derartige Inhalts- und Schrankenbestimmungen, also allgemein angeordnete inhaltliche Bindungen des Eigentums, seien keine Enteignungen, selbst dann nicht, wenn sie die von der Verfassung gezogenen Grenzen überschritten. 25 Dieser Satz klingt verblüffend „modern". Er wird indes konterkariert durch die darauf folgende Annahme, der Vollzug eines verfassungswidrigen Gesetzes, der wegen dieser Verfassungswidrigkeit rechtswidrig sei, könne als Sonderopfer enteignungsgleich wirken. 26 Diese Entkoppelung von Inhalts- und Schrankenbestimmung und ihrem Vollzug führte dazu, daß der BGH die Verfassungsgemäßheit einer Inhalts- und Schrankenbestimmung selbst prüfte und bei Verfassungswidrigkeit deren (zwingend rechtswidrigen) Vollzug als enteignungsgleich entschädigte. Dies ist, so J. Lege treffend, „der Pferdefuß, auf dem die Rechtsprechung des BGH bis heute hinkt." 27 22

BGHZ (GS) 6, 270 (281). BGHZ (GS) 6, 270 (279 f.). 24 Zu BGHZ (GS) 6,270 insb. die Analyse von Lege, NJW 1990,864 (868 f.), der die hier dargestellten Aspekte besonders deutlich herausgearbeitet hat. 25 BGHZ (GS) 6, 270 (279). 26 BGHZ (GS) 6,270 (279). 27 Lege, NJW 1990,864 (866) (abweichend für BGHZ [GS] 6,270 nach Überprüfung seines Enteignungsbegriffs jetzt aber ders., NJW 1995, 2745 [2749]; ders., Zwangskontrakt, S. 85); vgl. auch Schmitt-Kammler, FS E. Wolf, 595 (596 f.). 23

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

(2) Der rechtswidrige Vollzug eines verfassungsgemäßen, den Inhalt des Eigentums bestimmenden Gesetzes könne - so der BGH weiter - ebenso als Sonderopfer zu entschädigen sein. Der rechtswidrige Eingriff sei in einem solchen Fall eine selbständige Beeinträchtigung, die dem Betroffenen ein ihn ungleich treffendes Opfer auferlege. Es handele sich hier zwar nicht um eine Enteignung, da Art. 14 GG auf rechtmäßige Maßnahmen beschränkt sei, eine Entschädigung sei dennoch geboten: Der BGH begründete dies mit einem inzwischen zum Schulbeispieldie avancierten28 argumentum a maiore ad minus: Wenn schon die rechtsgemäße Enteignung eine Entschädigungspflicht auslöse, dann doch erst recht ein rechtswidriger Eingriff, der für den Fall seiner Zulässigkeit nach Inhalt und Wirkung eine Enteignung darstellen würde. 29 Dabei konnte schon in dem entschiedenen Fall kaum übersehen werden, daß der letzte Halbsatz die Sache nicht traf. Denn für den Fall der Zulässigkeit des Eingriffs hätte es sich ja - so der BGH selbst - gerade nicht um eine Enteignung, sondern um eine rechtsgemäße, ohne finanziellen Ausgleich hinzunehmende Inhaltsund Schrankenbestimmung gehandelt. Als Schulbeispiel für die juristische Methodenlehre ist das Argument also denkbar ungeeignet.30 Die so vorgegebene Richtung führte in den kommenden Jahren bis 1962 in schneller Folge zu zusätzlichen Ausweitungen des Enteignungsbegriffs. Noch in derselben Sache wie BGHZ (GS) 6, 270 („Wohnraumbewirtschaftung") dehnte der 3. Zivilsenat des BGH die Haftung wegen enteignungsgleichen Eingriffs mittels eines zweiten Erst-recht-Schlusses auch auf schuldhaft-rechtswidrige Eingriffe aus:31 Wenn schon schuldlos-rechtswidrige Beeinträchtigungen entschädigt werden müßten, dann doch erst recht schuldhaft-rechtswidrige Beeinträchtigungen. Damit traten Ansprüche wegen enteignungsgleichen Eingriffs in direkte Konkurrenz zum Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB, Art. 34 GG. Mit der Begründung, die Entschädigungsansprüche wegen enteignungsgleichen Eingriffs und die Schadensersatzansprüche aus Amtshaftung bewegten sich auf unterschiedlichen Ebenen bzwdidiee. diegehörten verschieden gelagerten Rechtskreisen an,32 löste der Große Zivilsenat des BGH die auftretenden Konkurrenzprobleme wie folgt: Ansprüche wegen enteignungsgleichen Eingriffs und solche aus Amtshaftung könnten nebeneinander gegeben sein; der Anspruch wegen enteignungsgleichen Eingriffs sei kei-

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Lorenz, Methodenlehre, S. 389. BGHZ (GS) 6, 270 (290). 30 Die Frage nach einer möglichen Abwehr im Wege des verwaltungsgerichtlichen Primärrechtsschutzes wurde im übrigen gar nicht aufgeworfen. Vgl. auch die Kritik bei Bettermann, Diskussionsbeitrag, Verh. 41. DJT, Bd. 2, S. C 81 (C 82 f.); Dürig, JZ 1955,521 (523); Heidenhain, Amtshaftung, S. 71 f.; Rüfner, in Erichsen/Martens (Hrsg.), AllgVerwR3, § 52 III 1, S. 430; Weyreuther, Gutachten, Β 156. Fehlerhaft dagegen ζ. B. Breuer, Bodennutzung, S. 85 f.; J. Ipsen, DVB1. 1983, 1029 (1033 m. Fn.56); Papier, DVB1. 1975, 567 (568); ders., NVwZ 1982, 258. Unklar Ramsauer, Beeinträchtigungen, S.61 („Folgewirkungen"). 31 BGHZ 7, 296 (297). 32 BGHZ (GS) 13,88 (94). 29

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ne den Amtshaftungsanspruch ausschließende anderweitige Ersatzmöglichkeit nach §839 Abs. 1 S. 2 BGB. 33 Mit seinem Urteil vom 25.04. I960 34 („Fahrendes Kaufhaus") rückte der BGH von der schon oben angesprochenen, mißverständlichen Formulierung ab, der enteignungsgleiche Eingriff entspreche - seine Zulässigkeit unterstellt - in Art und Wirkung einer Enteignung. In einer auffallend unsicheren, gleichsam tastenden Formulierung forderte der BGH nunmehr nur noch, der Eingriff müsse „überhaupt begrifflich, seiner Natur nach, bezogen auf seine Art und Weise den Tatbestand eines enteignenden Aktes bilden."35 Ausgeschlossen aus dem Bereich des enteignungsgleichen Eingriffs waren künftig nur noch schlichtes Unterlassen, Maßnahmen ohne Gemeinwohlbezug sowie die Belastung mit Steuern. Ansonsten aber indiziere die Rechtswidrigkeit des staatlichen Handelns das Sonderopfer und damit die Enteignungsgleichheit. Der BGH entschädigte also nicht, wie er in BGHZ (GS) 6, 270 („Wohnraumbewirtschaftung") zumindest noch behauptet hatte, obwohl der Eingriff rechtswidrig war, sondern vielmehr, weil der Eingriff rechtswidrig war. 36 Schließlich verzichtete der BGH seit dem Urteil vom 15.03.196237 („Waldbrand") auf das Erfordernis einer finalen Beeinträchtigung, das der Sache nach schon zuvor aufgegeben worden war. 38 Mit diesem Urteil war die Ausweitung des Enteignungsbegriffs abgeschlossen. Dies wird besonders deutlich in den Entscheidungen des BGH vom 15.10.197039 („feindliches Grün I") und vom 25.01.197140 („Wasserrohrbruch"). In beiden Fällen Schloß das Gericht eine Entschädigung für Beeinträchtigungen aus, die nicht unmittelbar erfolgt seien. Auch wenn der Inhalt dieses Tatbestandsmerkmals im dunkeln blieb, so wird das rechtsdogmatische Ziel des BGH doch deutlich: Die weitgehend konturlos 41 gewordene Haftung wegen enteignungsgleichen Eingriffs sollte nicht zu einer öffentlich-rechtlichen Gefährdungshaftung werden 42 Enteignung war damit nach einer die Entwicklung abschließenden Definition des BGH „der hoheitliche Eingriff, der im öffentlichen Interesse einem einzelnen unmittelbar an seinem Eigentum oder sonstigen Vermögenswerten Gütern ein Opfer auferlegt, das über die Grenzen der Sozialbindung des Eigentums hinausgeht."43 Für die Aufopferung nach den 33 BGHZ (GS) 13, 88 (Leitsätze). Kritisch zu dieser Entscheidung etwa Forsthoff\ VerwR I, §18.4, S. 356ff. 34 BGHZ 32, 208. 35 BGHZ 32, 208 (211). 36 Diese berühmt gewordene Unterscheidung geht wohl auf Bettermann, Diskussionsbeitrag, Verh. 41. DJT, Bd. 2, C 82 f. zurück. 37 BGHZ 37,44. 38 S. dazu ausführlich § 2 Β III. 39 BGHZ 54, 332. 40 BGHZ 55, 229. 41 So Schmitt-Kammler, FS E. Wolf, 595 (597). 42 BGHZ 54, 332 (336f.); 55, 229 (232); VersR 1972, 1047. 43 BGHZ 57, 359 (363).

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

§§ 74, 75 EinlprALR blieb nur noch Raum, soweit es sich um Beeinträchtigungen von nicht-vermögenswerten Rechtsgütem handelte.44 Wie weit die Entwicklung bis 1980 fortgeschritten war, zeigt eine Stellungnahme des Vorsitzenden Richters am BGH F. Kreft. In einer für die Praxis maßgeblichen Kommentierung definierte er Enteignungen als alle diejenigen Eigentumsbeeinträchtigungen, die nicht als Ausprägung einer Inhalts- und Schrankenbestimmung oder als sonstige Konturierung der Sozialpflichtigkeit zu rechtfertigen seien. Ob sie rechtmäßig oder rechtswidrig seien, spiele keine Rolle. Tatsächlich handele es sich selbst beim enteignungsgleichen Eingriff nicht um ein selbständiges Rechtsinstitut, sondern vielmehr um einen Unterfall des allgemeinen Enteignungstatbestandes.45 Mit verblüffender Offenheit und stupendem Selbstvertrauen stellte er fest, gegenüber diesem Konzept könne dahinstehen, „was in Art. 14 Abs. 3 GG mit »Enteignung4 gemeint" sei.46 Die Literatur begleitete die Ausweitung des Enteignungsbegriffs, bewertete sie allerdings unterschiedlich: Bei einigen Autoren bestanden durchaus Bedenken gegen die zunehmende Auflösung des Enteignungsbegriffs, die in der frühen Forderung nach einem „Zurück zum klassischen Enteignungsbegriff!" 47 gipfelten. Die systematische Kritik entzündete sich an der Frage, ob bei der rechtlichen Behandlung aller hoheitlichen Beeinträchtigungen des Eigentums im Rahmen des Art. 14 Abs. 3 GG der Gesetzgeber dem Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG noch genügen könne oder zumindest ein Mehr an Rechtsschutz für den Bürger erreicht werde. 48 Aus praktischen wie didaktischen Gründen wurden diese Differenzen allerdings zum Teil zurückgestellt und das Modell des BGH den Darstellungen zugrunde gelegt.49 Andere Autoren schlossen sich ganz dem BGH an. So schrieb etwa F. Ossenbühl in der 2. Aufl. seines Lehrbuchs zum Staatshaftungsrecht: „Wo in diesem Spektrum [der verschiedenen Eigentumsbeeinträchtigungen] die Bestimmung von »Inhalt und Schranken4 des Eigentums im Sinne des Art. 14II2 [sie!] aufhören und die entschädigungspflichtigen Ein44 BGHZ 9, 83; 13,88 (91); 23,157 (161) und st. Rspr. In der Anfangszeit gab es allerdings noch Ausnahmen von dieser Regel, so etwa BGHZ 8,273 (275). Weitere Beispiele bei R. Weimar, DÖV 1961,607 (608f.). 45 RGRK-tfre/f, vor § 839 Rz. 16. 46 KGRK-Kreft, vor § 839 Rz. 17. 47 So Dürig, JZ 1954,4. 48 Vgl. etwa Dürig, JZ 1955, 521 (522); ders., FS Apelt, 13 (50); Haas, MDR 1953, 648; ders., System, S. 12, 35; Rüfner, in Erichsen/Martens (Hrsg.), AllgVerwR3, § 5212, S. 420; Schack, DÖV 1961, 728 (729); W. Weber, Grundrechte II, 331 (344). Berühmt wurde die Sentenz von H. J. Wolff/ Bachof, VerwR I, § 601c 2a, S. 529: „Der »enteignungsgleiche Eingriff 1 des BGH ist also weder enteignungsgleich noch stets ein Eingriff" (etwa auch bei Kriele, DÖV 1967,531 [538]). Antikritik bei Kreft, EG Heusinger, 167 (180) mit der Bemerkung, es handele sich hier nur um terminologische Fragen. Ganz ablehnend gegenüber dem enteignungsgleichen Eingriff, soweit Entschädigung wegen Rechtswidrigkeit gewährt wird, äußerte sich ζ. B. Weyreuther, Gutachten, Β 160ff. Kritisch auch Rittstieg, Eigentum, S. 291 ff. 49 Rüfner, in Erichsen/Martens (Hrsg.), AllgVerwR3, § 5212, S. 420; W. Weber, Grundrechte U, 331 (378).

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griffe anfangen, ist die permanente Frage des Eigentumsschutzes."50 Die Institute desenteignenden bzw. enteignungsgleichen Eingriffs seien „weitere Differenzierungen innerhalb des Instituts der Enteignung"51, bei denen fraglich sei, ob die unterschiedliche Tatbestandsausformung überhaupt geboten sei. Auch die Einzelfragen des Enteignungsrechts wurden in der Literatur anhand der Fragestellung „Schon Enteignung oder noch Sozialbindung?" behandelt.52 Im Schwellenmodell des BGH erlangte die Enteignungsschwelle und ihre Bestimmung überragende Bedeutung. Festgelegt wurde sie durch die Rechtsprechung, die unter Herausbildung einer vielfältigen, verästelten Kasuistik diese Schwelle bereichsspezifisch konkretisierte. Im Ergebnis entschieden die ordentlichen Gerichte daher nicht nur entsprechend Art. 14 Abs. 3 S. 4 GG über die Höhe der Enteignungsentschädigung, sondern auch über das tatbestandliche Vorliegen einer Enteignung und besetzten so eine Schlüsselposition im Eigentumsrecht. Angesichts der herausragenden wirtschaftlichen Bedeutung der Enteignungsschwelle vermag es nicht zu verwundern, daß zu der Frage, wie diese Schwelle zu bestimmen sei, eine Vielzahl von Theorien entwickelt wurde und auch die Rechtsprechung des BGH und des BVerwG zumindest im theoretischen Ansatz differierte. Entscheidendes Kriterium für den BGH war das Vorliegen eines Sonderopfers, also einer gleichheitswidrigen Belastung.53 Kritik an diesem eher formalen Merkmal ist vor allem mit der Begründung geübt worden, das Merkmal des Sonderopfers sei nicht in der Lage, die Gruppenenteignung (insbesondere durch Gesetze) zu erfassen. 54 In der Folge reicherte der BGH seine Sonderopfertheorie denn auch mit materiellen Gesichtspunkten an.55 Besondere Bedeutung erlangten dabei die Figuren der Situationsgebundenheit des Grundeigentums und des vernünftigen Eigentümers, der auch das Allgemeinwohl nicht aus den Augen verliere („Pflichtigkeitstheorie"). 56 Auch die Schwere der Beeinträchtigung zog der BGH ergänzend heran. Wie noch im einzelnen darzustellen ist, spielt diese wirtschaftliche Betrachtungsweise in einigen Fallgruppen des enteignenden Eingriffs eine hervorragende Rolle.57 Das BVerwG sah da50

Ossenbühl, Staatshaftungsrecht2, S. 118 (Ergänzung vom Verfasser). Ebd., S. 136 (Hervorhebung vom Verfasser). 52 Vgl. ζ. B. Haas-Traeger, DÖV 1980, 16 (zum Recht der Pflichtexemplare); Korbmacher, DÖV 1982,517 (zum Recht der Planfeststellung); Leisner, NJW 1975,233 (zum Nachbarrecht). 53 S. dazu oben bei Fn. 23. 54 Bender, NJW 1965, 1297 (1299); Breuer, Bodennutzung, S. 52f.; Forsthoff, VerwR I, § 18.2, S. 341 f.; Kimminich, JuS 1969,349 (356); Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. \l\',Rüfner, in Erichsen/Martens (Hrsg.), AllgVerwR3, § 52 II 2, S. 424; Stödter, DÖV 1953,97 (100). Modifizierungen bei H. J. Wolff IBachof, VerwR I, § 62 III b 2, S. 545 ff. Ausführlich dazu Schmitt-Kammler, NJW 1990, 2515 ff. 55 S. auch Breuer, Bodennutzung, S. 53 m. Fn. 186f.; Gassner, NVwZ 1982, 165 ff.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 171 ff.; RGRK-Kreft, vor § 839 Rz. 58. 56 BGHZ 23,30 (32); BGH, LM Art. 14 Nr. 60; BGHZ 60,126 (130f.); 72,211 (216f.); 77, 351 (354); 87,66 (71); 90,4 (14); 105, 15 (18). 57 Vgl. Bender, NJW 1965, 1297 (1299f.). 51

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

gegen von Beginn an in der Schwere und Tragweite der Beeinträchtigung das entscheidende Kriterium (daher „Schweretheorie"), während es die Sonderopfertheorie mit Blick auf die Gruppenenteignung ablehnte.58 Die Rechtsprechung der Zivil- und Verwaltungsgerichte wurde ergänzt und begleitet von vielfältigen Bemühungen in der Literatur, Kriterien zur Bestimmung der Enteignungsschwelle zu benennen.59 So wurde die Dienstbarmachung des Eigentums zu fremden Zwecken als entscheidend angesehen,60 andere verwiesen auf die Schutzwürdigkeit des betroffenen Eigentums61 bzw. die Erhaltung der Privatnützigkeit des Eigentumsobjekts62 oder stellten auf die Zumutbarkeit der Beeinträchtigung ab.63 Eine Würdigung dieser Theorien ist entbehrlich, ihre Unterschiede in der praktischen Arbeit wohl auch gering. 64 Die Ergebnisse konvergierten, zumal die verschiedenen Ansätze in der Regel nicht im Sinn einer „reinen Lehre" Anwendung fanden, sondern eher als topische Gesichtspunkte herangezogen wurden. 65 Wichtig in dem hier behandelten Zusammenhang ist aber die Funktion dieser Theorien. Sie dienten der Bestimmung der Enteignungsschwelle. Auf die Frage, was eine Enteignung sei, geben sie also eine übereinstimmende Antwort: Eine Enteignung ist, was nicht mehr als Sozialbindung entschädigungslos hingenommen werden muß. Es handelt sich also „nur" um Hilfstheorien, die auf einer anderen Ebene als die grundsätzliche Frage nach dem Enteignungsbegriff angesiedelt sind. Während der Bestimmung der Enteignungsschwelle also große Aufmerksamkeit zuteil wurde, fällt in der Rechtsprechung des BGH eine bemerkenswerte Ignoranz gegenüber der Frage auf, ob der Eigentümer eine hoheitliche Eigentumsbeeinträchtigung überhaupt dulden müsse. Ob sich der Bürger im Wege des Primärrechtsschutzes gegen eine Beeinträchtigung zur Wehr setzen könne, blieb in der Rechtsprechung 58 BVerwGE 5, 143 (145), seitdem st. Rspr., vgl. BVerwGE 7, 297 (299); 11, 68 (75); 15, 1 (2); 19, 94 (98); 32, 174 (178 f.); 61, 295 (303). 59 Überblicke ζ. B. bei Bender» NJW 1965, 1297 (1298ff.); Breuer, Bodennutzung, S.47ff.; Kimminich, JuS 1969, 349 (356f.); Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 174 ff.; Schmidt-B leibtreu, in ders./Klein, GG, Art. 14 Rz. 8 ff. 60 Kutscher, Enteignung, S. 123. 61 W. Jellinek, Verwaltungsrecht, S.413. 62 Reinhardt, in Reinhardt/Scheuner, Verfassungsschutz, S. 29. 63 Stödter, DÖV 1953, 136. 64 Kreft, EG Heusinger, 167. Vgl. auch den Bericht über eine Aussprache der Mitglieder des 3. Zivilsenats des BGH und des 4. Senats des BVerwG in DRiZ 1967, 163; ebenso Kimminich, JuS 1969, 349 (357). 65 Vgl. Krohn, Beil. 1/1984 in AgrarR 4/1984, S. 20: „[...] weil es eben [...] eine allgemeingültige Formel der Abgrenzung von »Sozialbindung4 und .Enteignung4 nicht gibt. Und alle Theorien [...]» die gemeint haben» sie könnten in einer Art mathematischer Grenzziehung genau die Grenze ziehen zwischen »Inhaltsbindung4 und »Sozialbindung4 einerseits und »Enteignung4 andererseits, sind im Grunde gescheitert. Wir behelfen uns heute mit einer Vielzahl von Topen.44 In dieselbe Richtung auch Breuer» Bodennutzung, S. 63; Schmidt-Bleibtreu, in ders./Klein, GG, Art. 14 Rz. 11. Zur Notwendigkeit der Enteignungstheorien vor dem Hintergrund eines an § 903 BGB orientierten Eigentumsbegriffs, vgl. Böhmer, NJW 1988» 2561 (2569).

Α. Das Schwellenmodell des BGH

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in aller Regel ohne Erörterung. Vielmehr wurde die Frage nach der Rechtswidrigkeit einer Maßnahme - so sie überhaupt angesprochen wurde - unter dem Gesichtspunkt von Entschädigungsansprüchen diskutiert und auf diese Weise Abwehrrechte und Entschädigungsansprüche miteinander vermengt. Für diese Tendenz in der Rechtsprechung sind wohl verschiedene Gründe ursächlich gewesen: (1) Insbesondere in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland war der Gedanke verwaltungsgerichtlichen Primärrechtsschutzes trotz Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG noch nicht allzu fest im juristischen Bewußtsein verankert; es dominierte vielfach die Vorstellung, der Eigentümer habe eine Beeinträchtigung grundsätzlich hinzunehmen. So liest man etwa in einem Beschluß des Großen Zivilsenats vom 12.04.1954: Bei einem Entschädigungsanspruch handele es sich „vielmehr um das unmittelbare Einstehen des Staates für die Folge hoheitlicher Eingriffe in die Rechtssphäre des einzelnen, die dem Betroffenen Sonderopfer auferlegen, zu deren Hinnahme er infolge seines Unterworfenseins unter die Staatsgewalt auch dann genötigt ist, wenn der rechtswidrige Eingriff schuldhaft verwirklicht worden ist." 66 Die diesem Satz zugrundeliegende Prämisse, der einzelne habe rechtswidrige Eingriffe wegen seiner Einordnung unter die Staatsgewalt zu dulden, entbehrt unter der Herrschaft des Grundgesetzes schon wegen des Grundrechtskatalogs jeder Grundlage. Daß eine so offensichtlich verfehlte Vorstellung vom Verhältnis von Staatsbürger und Staatsgewalt in einem Beschluß des Großen Senats des BGH zu Tage tritt, zeigt, daß es einige Jahre dauerte, bis die Rechtsprechung die Bedeutung der Grundrechte und der Rechtsweggarantie für das Verhältnis von Bürger und öffentlicher Gewalt in vollem Umfang erkannte und umsetzte.67 (2) Das Zurückdrängen des Primärrechtsschutzes diente der Verwirklichung von Verwaltungsprojekten auf dem Gebiete der Daseinsfürsorge. Es bestand die Befürchtung, Infrastrukturmaßnahmen, namentlich Straßen- und U-Bahn-Baumaßnahmen der Verwaltung, könnten durch Klagen einzelner Anlieger unzumutbar verzögert werden. Bei Projekten von gemeinwichtiger Bedeutung sei es daher für die öffentliche Hand, aber eventuell auch für den Bürger allemal besser, wenn der einzelne bestimmte Belastungen zwar hinnehmen müsse, dafür aber Entschädigungszahlungen erhalte.68 Hinter der Zurückdrängung von Primärrechtsschutz steht also auch eine po66

BGHZ (GS) 13, 88 (92) (Hervorhebung vom Verfasser); vgl. etwa auch BGH, LM § 906 BGB Nr. 17 (Bl. 2); LM § 906 BGB Nr. 61 (Bl. 2). Inzident auch in BGHZ 48, 98 (104). Ähnlich etwa auch Schack, DÖV 1961, 728: „Im Kollisionsfalle gehen die Interessen der Allgemeinheit denen des einzelnen vor." Diese Aussage schien Schack so selbstverständlich, daß er sogar auf eine (in Wahrheit nicht mögliche) Begründung verzichtete. Vgl. auch Haas, System, S. 22: „der Satz ,dulde und liquidiere* gehört längst der Geschichte an, obwohl er immer noch unser Denken bestimmt." 67 Kritik aus rechtsgeschichtlicher Sicht bei Böhmer, Staat 1985,157 (165 ff.) („späte Frucht polizeistaatlicher Grundsätze"); krit. etwa auch Papier, DVB1. 1975, 567 (575); Weyreuther, Gutachten, Β 173 f. 68 Sehr deutlich Faber, AllgVerwR, § 37 II, S. 415 („wahres Meisterstück"); Krohn, Beil. 1/1984 in AgrarR 4/1984, 17 (20). Sinnfälligsten Ausdruck fand diese Überlegung in der

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

litische Überlegung, die Aufbau und Ausbau von Infrastruktureinrichtungen, insbesondere der Verkehrswege, nicht durch die Eigentumsrechte einzelner gebremst sehen wollte. (3) Entscheidend tritt die prozessuale Stellung des BGH hinzu. Der ordentliche Rechtsweg steht nach Art. 14 Abs. 3 S. 4 GG für Streitigkeiten über die Höhe der Enteignungsentschädigung offen. Die Zivilgerichte bekommen mit hoheitlichen Eigentumsbeeinträchtigungen also erst zu tun, wenn diese bereits abgeschlossen sind. Der Rechtsschutz suchende Bürger sah nun unter dem Eindruck der Rechtsprechung des BGH sein Heil oftmals nicht in der Geltendmachung von Abwehransprüchen, sondern in dem Einklagen einer Entschädigung nach der bereits eingetretenen Eigentumsbeeinträchtigung. In diesem Stadium stellte sich für den BGH die Frage nach der Abwehr der Beeinträchtigung nicht mehr, da er den Eigentumsschutz nur noch über die Gewährung einer Entschädigungszahlung verwirklichen konnte. So fand erst in späteren Urteilen der Gedanke des Primärrechtsschutzes im Rahmen des § 254 BGB analog eine gewisse, eher zurückhaltende Berücksichtigung. 69 Im Ergebnis führte die Rechtsprechung weithin zu dem Prinzip: „Dulde [die Beeinträchtigung deines Eigentums] und liquidiere [eine Entschädigung]/'70 Der Eigentumsschutz wurde also als Eigentumswertschutz vor den ordentlichen Gerichten verwirklicht. Die Folgen dieses Konzeptes wurden besonders deutlich in der Entscheidung des BGH vom 25.01.197371 („Ur-Naßauskiesung"). Sie zeigt nicht nur paradigmatisch, wie sich der BGH zu Eigentumsbeeinträchtigungen durch die öffentlichen Hand verhielt, sondern ist zugleich der mittelbare Anlaß für die Naßauskiesungsentscheidung des BVerfG, die das eigentumsrechtliche Gebäude des BGH ins Wanken brachte.

„Duldungspflicht gegenüber gemeinwichtigen Anlagen". Dazu auch unten § 5 A12 c. Vgl. etwa J. F. Baur, in ders./Stümer, Sachenrecht, § 13 Rz. 25, der aus der Sicht des Bürgers argumentiert: „Bisher konnte er [der Bürger] sich mit einem Wertschutz (»Entschädigung') begnügen, weil er sich sagte» es habe im konkreten Fall doch keinen Sinn» den Bestandsschutz durchzusetzen. Schließlich könnte es ganz vernünftig sein, sich an den Satz zu halten ,Dulde und liquidiere4". Ähnlich auch Soergel-/. F. Baur, § 903 Rz. 195 mit der Bemerkung, in vielen Fällen seien Bewertungsmaßstäbe entwickelt worden, bei denen die Unterscheidung zwischen rechtmäßigem und rechtswidrigem Handeln keinen rechten Sinn mehr mache. Ebenso Sass, Entschädigungserfordernis, S. 369. 69 In BGHZ 23,157 (170) war die Frage der analogen Anwendbarkeit von § 254 BGB offengelassen worden. Ausdrücklich bejaht wird sie in BGHZ 56, 57 (64ff.). Für die Zeit vor 1968 weist Weyreuther, Gutachten, Β 173 m. Fn. 714 nach, wie oft der BGH die Frage gar nicht behandelte. BGHZ 90,17 (31 ff.) zog den § 254 BGB später stärker heran. Übersicht etwa auch bei RGRK-Kreft, vor § 839 Rz. 36; Nüßgens/Boujong, Eigentum, Rz. 434 ff.; Rüfner, in Erichsen (Hrsg.), AllgVerwR, § 48 Rz. 73 m. Fn. 234. 70 Die klassische Formulierung geht zurück auf O. Mayer, Verwaltungsrecht I, S. 53 Fn. 27. Zu O. Mayers staatshaftungsrechtlicher Konzeption siehe Heidenhain, Amtshaftung, S. 48 ff. 71 BGHZ 60, 126.

Β. Rechtsprechungsübersicht

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Der Eigentümer von kiesführenden Grundstücken hatte eine Genehmigung zur Naßauskiesung beantragt. Diese war ihm versagt worden, um die gefahrlose Grundwasserförderung durch die Stadtwerke der beklagten Stadt sicherzustellen. Ohne diese Entscheidung vor den Verwaltungsgerichten anzufechten, klagte der Betroffene vor den ordentlichen Gerichten erfolgreich eine Entschädigung ein. Die Revision der beklagten Stadt blieb erfolglos. Der BGH stellte ganz im Sinne seines Schwellenmodells die Frage, ob die Versagung der (vom BGH als notwendig angesehenen72) Genehmigung eine enteignende Maßnahme sei oder im Rahmen der Sozialbindung bleibe.73 Er nahm mit Blick auf die Lage der Grundstücke und die sich aus dieser Lage ergebenden Möglichkeiten einer wirtschaftlichen Nutzung eine enteignende Maßnahme an74 und hielt deshalb einen Entschädigungsanspruch für gegeben. Den Umstand, daß es an einer gesetzlichen Entschädigungsregelung fehlte, ließ das Gericht ebenso unberücksichtigt wie die Tatsache, daß es die Rechtmäßigkeit des versagenden Bescheides für sehr wahrscheinlich hielt. 75 Damit setzte sich der BGH über die gesetzgeberische Entscheidung, keine Entschädigung zu gewähren, hinweg und verpflichtete die öffentliche Hand zu einer Entschädigung wegen Enteignung ohne gesetzliche Grundlage. Derartige Fälle sind gemeint, wenn davon gesprochen wird, der BGH habe sich zu einem „Sonder-Verfassungsgericht für Eigentumsfragen" 76 entwickelt. Die Rechtsprechung zum enteignenden Eingriff, der im folgenden in ihren einzelnen Verästelungen nachgegangen wird, beruht auf der hier dargestellten Vorstellung. Es handelt sich um ein Denkmodell, das von demjenigen des BVerfG 77 grundsätzlich verschieden ist.

B. Rechtsprechungsübersicht Im folgenden werden die einzelnen Fallgruppen dargestellt, in denen die Rechtsprechung einen Anspruch wegen enteignenden Eingriffs gewährt hat. Es handelt 72

BGHZ 60, 126 (127 f.). BGHZ 60, 126 (129 f.). 74 BGHZ 60, 126(133). 75 BGHZ 60, 126(137). 76 Schmitt-Kammler, FS E. Wolf, 595 (616). Vgl. auch Lege, NJW 1990,864 (870); Ritt stieg, Eigentum, S. 300. Euphemistisch zu dieser Umgehung von Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG ζ. B. Forsthoff, VerwR I, § 18.3, S. 354: „Die Anerkennung des enteignungsgleichen Eingriffs hat insofern praktische Bedeutung, als sie die Gerichte in den Stand versetzt, die Entschädigung auch dann zuzuerkennen, wenn der Eingriff auf einer unwirksamen Norm oder auf rechtsfehlerhafter Anwendung einer unwirksamen Norm beruht. Dadurch werden vor allem die praktischen Schwierigkeiten gemindert, die sich aus der strengen Auslegung der Junktim-Klausel sonst ergeben würden." oder v. Heyl, DÖV 1975, 603 (604), der von einem „im Widerspruch zur Rspr. des BVerfG stehenden durchaus zweckmäßigen großzügigen Umgang mit der Junktimregel des Art. 14 (3) 2 GG" spricht. 77 Dazu ausführlich unten § 3. 73

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

sich um Beeinträchtigungen durch Infrastrukturmaßnahmen (I), durch Immissionen (II) sowie durch Unfälle (III). Am Ende werden Fälle im Randbereich der Rechtsfigur behandelt werden (IV). 78

I. Beeinträchtigungen durch Infrastrukturmaßnahmen Beeinträchtigungen durch Maßnahmen zur Erhaltung oder zur Verbesserung der Infrastruktur verpflichten die öffentliche Hand nach der Rechtsprechung unter bestimmten Umständen zur Entschädigung wegen enteignenden Eingriffs. Derartige Fälle haben die Rechtsprechung namentlich in den 60er und 70er Jahren beschäftigt, gelegentlich treten noch heute Fälle auf. 79 Das Abnehmen des Fallmaterials beruht auf einer fortschreitenden Normierung der hier in Rede stehenden Fälle und der verstärkten Inanspruchnahme von Primärrechtsschutz, nicht jedoch auf Abstrichen an der Rechtsfigur in der Rechtsprechung. Infrastrukturmaßnahmen können während ihrer Durchführung das Eigentum beeinträchtigen. Beeinträchtigungen sind denkbar bei Sperrungen von Zufahrtswegen oder bei Lärm infolge von Straßenbauarbeiten. Aber auch die Ergebnisse solcher Maßnahmen können Eigentum beeinträchtigen: So mag etwa nach Abschluß von Straßenarbeiten einem Gewerbebetrieb eine Zufahrt zum öffentlichen Straßennetz entzogen oder erschwert worden sein. Daher sollen die Beeinträchtigungen durch Infrastrukturmaßnahmen hier nach verhaltensbezogenen und ergebnisbezogenen Beeinträchtigungen unterschieden werden. Diese Unterscheidung deckt sich im Ergebnis weitgehend mit der Unterscheidung nach vorübergehenden und dauerhaften Beeinträchtigungen.80

1. Beeinträchtigungen bei der Durchführung von Infrastrukturmaßnahmen Führt die öffentliche Hand Infrastrukturmaßnahmen durch, erleiden die Anlieger oftmals Einbußen. Dies gilt für Maßnahmen zur Erhaltung und zum Ausbau des öffentlichen Straßennetzes ebenso wie für groß angelegte Projekte, wie den Bau von 78

Darstellungen des Fallmaterials auch bei Büchs, Handbuch, Rz. 1399 ff. (nicht: Rz. 1019ff.!); Jaschinski, Fortbestand, S. 79ff.; Nüßgens/Boujong, Eigentum, Rz.449ff.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 273 ff.; Sass, Entschädigungserfordemis, S. 368 ff.; St Öhr, Aspekte, S. 9ff.; einschränkend Steinberg/Lubberger, Aufopferung, S. 241ff., die den enteignenden Eingriff auf einen nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch beschränken. 79 Vgl. BGHZ 132,63 (als Teil einer Enteignungsentschädigung). 80 So Jaschinski, Fortbestand, S. 79ff. Es gibt allerdings auch Ausnahmen: So etwa im Fall von BGHZ 8, 273, wo das Ergebnis einer bloß vorübergehenden Maßnahme (Umleitung von Fußgängerströmen) zu Umsatzeinbußen führte.

Β. Rechtsprechungsübersicht

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U-Bahnen und S-Bahnen. Die betroffenen Anlieger machten in der Regel geltend, wegen der Bauarbeiten habe die Kundschaft ihren Gewerbebetrieb nicht mehr über die normalen Zugänge erreichen können, Bauzäune hätten die Schaufenster verstellt oder Lärm und Dreck habe die Käufer abgeschreckt.82 Daß für den Ausgleich derartiger Beeinträchtigungen eine gesetzliche Regelung nicht existierte, hinderte den BGH nicht, eine Entschädigung zu gewähren. Dabei unterschied das Gericht grundsätzlich zwischen den Beeinträchtigungen durch den Straßenbau und den Beeinträchtigungen durch überörtlich angelegte Maßnahmen, wie den Bau von U-Bahnen und S-Bahnen. Die Fälle der Straßenbaumaßnahmen beschäftigten den BGH seit den frühen 50er Jahren. Zunächst nahm die Rechtsprechung einen Entschädigungsanspruch nur an, wenn die Behörde rechtswidrig gehandelt hatte. Dabei waren Verstöße gegen Sorgfaltspflichten gegenüber den Bürgern durchaus nicht selten. Ein Anspruch sollte insbesondere dann gegeben sein, wenn die Gewerbebetriebe der Anlieger stärker in Mitleidenschaft gezogen worden waren, als dies bei zügiger und ordnungsgemäßer Durchführung der Arbeiten unerläßlich gewesen wäre. Daraus folgte die Verpflichtung der Verwaltung, ausreichend finanzielle und personelle Mittel vorzuhalten, um die Maßnahmen in angemessener Zeit durchführen zu können. Ein Verstoß gegen das Gebot einer hinreichend zügigen Durchführung der Bauarbeiten sei, so der BGH, ein Verstoß gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit, da die Betroffenen in diesem Falle stärker belastet würden, als dies zur Erreichung des von der Verwaltung verfolgten Zieles notwendig gewesen wäre. 83 Weiterhin sei die Verwaltung gehalten, die von den Bauarbeiten betroffenen Anlieger anzuhören und sich mit ihren Wünschen und Nöten auseinanderzusetzen. Gegebenenfalls habe sie auch finanzielle Unterstützung für die Erhaltung eines Gewerbetriebes zu leisten.84 Schließlich könnten auch andere Verstöße gegen Normen des öffentlichen Rechts zur Rechtswidrigkeit der Maßnah81

Einen Sonderfall betraf BGH, DVB1. 1977, 34, wo der BGH über den Ausgleich von Beeinträchtigungen infolge von Restaurierungsarbeiten an einem Baudenkmal (der Porta Nigra) zu entscheiden hatte. Der BGH entnahm den Maßstab für mögliche Entschädigungsansprüche hier dem § 906 BGB, so daß grundsätzlich auf unten § 2 Β II verwiesen werden kann. Dabei ging der BGH von einer Prägung der Ortsüblichkeit durch die Porta Nigra aus, so daß der Fall grundsätzlich entsprechend den Regeln über die Entschädigung für Immissionen von (ebenfalls als die Ortsüblichkeit prägend angesehenen) Flugplätzen entschieden wurde (dazu unten § 2 Β II 2). 82 BGH, LM Art. 14 (Cf) GrundG Nr. 24; NJW 1965,1907; BGHZ 70,212; NJW 1980,2703; zusammenfassend BGHZ 49, 231 (236); 57, 359 (361); 83,61 (65). 83 BGH, LM Art. 14 (Cf) GrundG Nr. 16; NJW 1962,1816; WM 1964,1100; LM Art. 14 (Cf) GrundG Nr. 24, Bl. 2; NJW 1965, 1907 (1908). S. a. BGHZ 70, 212 (222). 84 BGH, NJW 1965, 1907 (1908f.). Es ist allerdings nicht deutlich, wie ein Verstoß gegen diese Pflichten nach der Vorstellung des BGH rechtlich zu bewerten wäre. In dem hier zitierten Urteil behandelt das Gericht diese Pflichten im Zusammenhang mit einem (rechtmäßigen) enteignenden Eingriff, obwohl eine Verletzung dieser Pflichten doch wohl rechtswidrig wäre. Ebenso unklar BGHZ 48,65 (67): Die öffentliche Hand „darf auch nicht, wenn anders sie eine Entschädigung wegen (rechtmäßigen) enteignenden Eingriffs leisten muß, das geschützte Rechtsgut des Anliegers gänzlich entziehen." Zu den Vorsorgezahlungen im übrigen Battis , NJW 1976,936.

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

me führen. 85 Entsprechend dieser Einordnung als rechtswidrig wurde ein Anspruch wegen enteignungsgleichen Eingriffs gewährt. Eine Entschädigung wegen einer rechtmäßigen behördlichen Maßnahme wurde erstmals in dem Urteil des BGH vom 24.04.195886 („Stuttgarter Rathausbau") erwogen, allerdings noch nicht auf der Grundlage eines enteignenden Eingriffs. Der Kläger, Inhaber eines Bekleidungsgeschäftes in der Stuttgarter Innenstadt, verlangte von der beklagten Stadt Entschädigung für die Beeinträchtigungen, die aufgetreten waren, nachdem die Stadt wegepolizeirechtlich genehmigte Bauzäune errichtet hatte, die für die Dauer von gut zwei Jahren den Zugang zu seinem Betrieb behindert hatten. Der BGH prüfte einen Eingriff durch die polizeiliche Genehmigung, zu deren Rechtmäßigkeit er aber nicht abschließend Stellung nahm. Als Anspruchsgrundlage zog er allerdings für den Fall der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns keinen Anspruch wegen enteignenden Eingriffs heran, sondern den gesetzlich geregelten oder § 70 prPVG zu entnehmenden Entschädigungsanspruch des Notstandspflichtigen im polizeilichen Notstand.87 Die Gestattung zur Aufstellung des Bauzauns wurde also als Maßnahme gegen den Nachbarn (als Notstandspflichtigen) angesehen. Diesen Gedanken griff der BGH später nicht mehr auf, 88 sondern entwickelte in den folgenden Jahren ein eigenständiges richterrechtliches Entschädigungsinstitut, das unter dem Stichwort „enteignender Eingriff" konsolidiert werden sollte. Als Geburtsstunde des enteignenden Eingriffs wird für diese Fallgruppe gemeinhin die Entscheidung vom 30.04.1964 („Bärenbaude" 89) angesehen. Ob dem BGH selbst deutlich war, daß er im Begriffe stand, neben der Enteignung und dem enteignungsgleichen Eingriff ein weiteres Institut im System öffentlich-rechtlicher Ersatzleistungen zu begründen, wird man bezweifeln müssen. Das Gericht sprach von enteignenden Eingriffen, sofort im Anschluß (und wohl als Synonym) aber von Enteignungen, die es unter Rückgriff auf die Sonderopferformel definierte. 90 Wie noch zu zeigen sein wird, 91 hat sich das Bewußtsein von der Schaffung eines eigenständigen Rechtsinstituts erst deutlich später gebildet. 85

Vgl. BGHZ 23, 157 (166f.): Die polizeiliche Genehmigung zugunsten eines Anwohners, Baubaracken aufzustellen, überschreitet die Grenzen des Gemeingebrauchs und beeinträchtigt andere Anlieger. Vgl. auch BGH, NJW 1964,198 (199) in einer Amtshaftungssache. 86 BGH, LM Art. 14 Nr. 76 GrundG. 87 BGH, LM Art. 14 GrundG Nr. 76 (Bl. 2). § 70 prPVG lautete: „In den Fällen des § 21 [Heranziehung des Notstandspflichtigen] kann, sofern die Entschädigungspflicht nicht in anderen gesetzlichen Vorschriften geregelt ist, derjenige, gegen den die polizeiliche Maßnahme getroffen ist, Ersatz des ihm entstandenen Schadens verlangen." Heutefinden sich derartige Vorschriften in den Polizeigesetzen, z. B. §§ 39 Abs. 1 lit. a nwOBG i. V. m. 67 nwPolG. Vgl. die Nachweise bei Treffen Staatshaftung, S. 23. 88 Die Entscheidung BGH, Warn. 1967, Nr. 258 (S. 583) kann als Ausnahme gelten. 89 Colorandi causa: Der Begriff ,ßaude" bezeichnet im Ostmitteldeutschen eine Unterkunftshütte im Gebirge. 90 BGH, LM Art. 14 (Cf) GrundG Nr. 24. 91 Unten § 2 D I .

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Im Zuge von Brückenbauarbeiten und Maßnahmen zur Stadtentwässerung war es im Umkreis einer Gaststätte zu erheblichen Verkehrsbeschränkungen und Straßensperren gekommen; die Maßnahmen dauerten insgesamt etwa 2V2 Jahre. Eine während der Maßnahmen vom Kläger erworbene Gastwirtschaft, die Bärenbaude, mußte nach 9 Monaten geschlossen werden. Der Kläger verlangte Entschädigung. Der BGH skizzierte zunächst die Reichweite des Rechts am Gewerbebetrieb und die Position des Straßenanliegers. Deutlich betonte er weitreichende Duldungspflichten, die den Straßenanlieger gegenüber hoheitlichen Baumaßnahmen träfen. Der Anlieger könne nicht beanspruchen, daß alle Vorteile, die sich für ihn aus einer bestimmten Verkehrslage ergäben, unverändert blieben.92 Dennoch sei die Verwaltung bei der Durchführung von Maßnahmen nicht frei, da sie insbesondere das Gebot der Verhältnismäßigkeit beachten müsse;93 bei einem Verstoß sei Entschädigung wegen enteignungsgleichen Eingriffs zu leisten. Von diesen verhaltensbezogenen Pflichten als Auslöser für Zahlungspflichten der öffentlichen Hand wandte sich der BGH im folgenden ab und formulierte einen weiteren Grund für Entschädigungspflichten ergebnisbezogen: Eine entschädigungslos hinzunehmende Sozialbindung liege auch dann nicht mehr vor - sondern, so ist wohl zu ergänzen, eine Enteignung - , wenn die Maßnahme das Eigentumsrecht in seinem Wesensgehalt antaste.94 Dies alles sei gefestigte Rechtsprechung.95 Die Frage, ob die Verwaltung in dem in Rede stehenden Fall rechtswidrig gehandelt hatte und daher eine Entschädigungspflicht wegen enteignungsgleichen Eingriffs entstanden war, verwies der BGH zur erneuten Prüfung zurück. 96 Selbst wenn aber ein rechtswidriger Eingriff zu verneinen sei, müsse dennoch geprüft werden, ob nicht die öffentliche Hand wegen eines enteignenden Eingriffs zur Entschädigung verpflichtet sei. Dessen positive Voraussetzungen behandelte der BGH indessen nicht mehr, sondern deutete vielmehr an, daß im entschiedenen Falle verschiedene Gesichtspunkte gegen eine Entschädigung sprächen.97 Daß in dieser Frage die Existenzvernichtung und der dabei angenommene Eingriff in den Wesensgehalt des Eigentums ein entscheidender Aspekt war, stellte der BGH erst in seinem Urteil vom 92

BGH, LM Art. 14 (Cf) GrundG Nr. 24 (Bl. 2). Dazu soeben bei Fn. 83. 94 BGH, LM Art. 14 (Cf) GrundG Nr. 24 (Bl. 2). 95 Diese Behauptung war allerdings unzutreffend, da3 die angeführten Entscheidungen den Entschädigungsanspruch für rechtmäßige vorübergehende Maßnahmen nicht tragen: BGHZ 8, 273; 30,241; MDR 1963,478 = BGH, Warn. 1963, Nr. 28 betrafen dauerhafte Beeinträchtigungen; BGHZ 23, 157; LM, Art. 14 (Cf) GrundG Nr. 16; NJW 1962,1816; W M 1963,1100 Ansprüche wegen enteignungsgleichen Eingriffs und BGH, NJW 1964,198 Ansprüche aus Amtshaftung. BGHZ 22, 395 befaßte sich überhaupt nicht mit der Frage öffentlich-rechtlicher Ersatzleistungen. 96 BGH, LM Art. 14 (Cf) GrundG Nr. 24 (Bl. 3). 97 Dies waren insbesondere die bei Eröffnung des Betriebes abzusehende wirtschaftliche Belastung durch die Bauarbeiten, die Abhängigkeit der Gastwirtschaft von dem vorüberflutenden Verkehr und die Möglichkeiten einer vorsichtigeren Betriebsführung. 93

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

05.07.1965 („Buschkrugbrücke") klar, das ebenso (u. a.) Beeinträchtigungen durch Bauarbeiten an Straßen zu behandeln hatte. Trotz Einhaltung der durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip gezogenen Grenzen, müsse die Behörde „Entschädigung wegen (rechtmäßigen) enteignenden Eingriffs leisten, wenn ihr Vorgehen den Wesenskern eines geschützten Rechtsgutes angetastet hat." 98 Warum der angenommene Verstoß gegen den Art. 19 Abs. 2 GG ein rechtmäßiger Eingriff sein sollte, blieb allerdings unklar. Auch in späteren Entscheidungen hielt der BGH daran fest, daß eine Entschädigung wegen rechtmäßigen Staatshandelns in Rede stand.99 Die Bestimmung der Grenze zwischen Sozialbindung und Enteignung wurde vom BGH bereits in diesen sehr frühen Entscheidungen materiell bestimmt, da die Grenze in derartigen Fällen nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu ziehen sei. 100 Das formale Kriterium des Sonderopfers wurde zwar rhetorisch bemüht, spielte aber kaum eine Rolle. Daran wird deutlich, wie flexibel die verschiedenen Enteignungstheorien verwendet wurden. 101 Die „Opfergrenze", deren Überschreitung einen Entschädigungsanspruch gegen die öffentliche Hand auslösen sollte, wurde dabei sehr hoch angesiedelt: Der an einer Straße liegende Gewerbebetrieb bedürfe des Kontakts nach außen; er sei in der Regel darauf angewiesen, daß sein Geschäft von außen zugänglich sei und durch Werbung nach außen wirken könne (sog. „Kontakt nach außen").102 Dieser „Kontakt nach außen" als Ausfluß des Gemeingebrauchs sei Bestandteil des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebes. Denn der Gewerbebetrieb umfasse nicht nur den Betrieb mit seinen Grundstücken, Räumen, Einrichtungen, Vorräten und Außenständen, sondern auch „geschäftliche Verbindungen, Beziehungen, den Kundenstamm, kurz alles das, was in seiner Gesamtheit den wirtschaftlichen Wert des konkreten Gewerbebetriebes ausmacht."103 Da der Gewerbebetrieb aber derart mit der Straße verbunden sei, müsse er auch Beeinträchtigungen durch Erhaltungsarbeiten dulden. Der BGH nahm also eine wechselseitige Beziehung an: Gerade weil der Gewerbetreibende vom Gemeingebrauch an der Straße profitiere, müsse er Maßnahmen für deren Erhaltung in der Regel entschädigungslos dulden.104 Dies gelte sogar für Arbeiten, die dem Gewerbebetriebe zwar nicht zugute kämen, mit denen der Anlieger aber grundsätzlich zu rechnen habe.105 Summarisch spricht der BGH von „Schicksalsverbun-

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BGH, NJW 1965, 1907 (1908). BGHZ 70, 212 (217). 100 BGH, LM Art. 14 (Cf) GrundG Nr. 24. 101 Dazu bereits oben § 2 A bei Fn. 65. 102 BGH, LM Art. 14 (Cf) GrundG Nr. 24. 103 BGHZ 45, 150 (155). St. Rspr., vgl. auch BGH, LM Art. 14 GrundG Nr. 76 (Bl. 2); LM, Art. 14 (Cf) GrundG Nr. 24; BGHZ 48, 65 (66); BGHZ 70, 212 (218). 104 BGH, LM Art. 14 (Cf) GrundG Nr. 24; BGHZ 57,359 (361); MDR 1980,39; NJW 1980, 2703 (2704); BGHZ 83, 61 (65). 105 BGH, NJW 1962, 1816 (Arbeiten an der Kanalisation); BGHZ 57, 359 (365). 99

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denheit".106 Diese Schicksalsverbundenheit, die den Anlieger in guten wie in schlechten Tagen mit der Straße verbindet, führte dazu, daß der BGH eine Entschädigung nur bei „ungewöhnlich schwerer" Beeinträchtigung oder Existenzvernichtung eines an sich wirtschaftlich gesunden Betriebes gewährte.107 Von besonderer Bedeutung für große Kommunen und politisch umstritten war die Rechtsprechung des BGH zu Beeinträchtigungen infolge von U-Bahn-Baumaßnahmen. Bei diesen setzte die Rechtsprechung die Opfeigrenze zur Abgrenzung von entschädigungslos hinzunehmenden und entschädigungspflichtigen Beeinträchtigungen niedriger an. Zunächst hielt der BGH derartige Beeinträchtigungen sogar generell für entschädigungspflichtig. 108 U-Bahnen wiesen in der Regel keinen Bezug zur Straße auf, sie dienten auch nicht der Anpassung der Straße an gesteigerte Verkehrsbedürfnisse. Schließlich seien sie auch nicht mit Kanalisationsarbeiten o. ä. vergleichbar, da U-Bahnen nur in wenigen Städten gebaut würden. 109 Die grundsätzliche Festlegung einer Entschädigungspflicht ist im Schrifttum namentlich bei Praktikern der Kommunal Verwaltung auf deutliche Kritik gestoßen.110 Das Urteil zeuge von Realitätsferne 11 da U-Bahnen in aller Regel unter Straßen verliefen und die Anlieger an U-Bahnen erheblich von der verbesserten Verkehrsanbindung profitierten. 112 Zudem behinderten das Urteil und seine finanziellen Konsequenzen für die Kommunen den verkehrswirtschaftlich notwendigen U-Bahnbau und die damit einhergehende „Entmischung" des innerörtlichen Verkehrs. 113 Diese Kritik richtete sich also vor allem gegen die praktischen finanziellen Auswirkungen einer Rechtsprechung, die die Verteuerung öffentlicher Maßnahmen befürchten ließ. Dogmatische Kritik blieb dagegen vereinzelt. Sie entzündete sich zum einen an dem obiter dictum des BGH, in dem er die Vereinbarkeit des § 39 hmbgWegeG mit seiner Rechtsprechung anzweifelte. 114 Mit dieser Formulierung, so die Kritik, setze sich der BGH über das positive Recht hinweg und überschreite die dem Richter nach 106

BGH, MDR 1980, 39. Zusammenfassend BGHR/GG vor Art. 1/enteignender Eingriff/Straßenbau 1. Zu summierten Immissionen BGHZ 70, 212 (223). Stärker an § 906 BGB (analog) orientiert sich die Entscheidung BGH, W M 1971, 1389. Sie folgt daher im wesentlichen den unter § 2 Β II 3 dargestellten Grundsätzen. 108 BGH, NJW 1965, 1907. 109 BGH, NJW 1965, 1907 (1909). 1.0 Battis, JuS 1971, 519 (520 m. Fn. 9). 1.1 So ausdrücklich Battis, JuS 1971, 519 (520). 112 Fromm, DVB1. 1965, 910 (911); Floerke, MDR 1966, 799 (802); Ganzeschian-Finck, NJW 1969,161 (165); Roth, BB 1966,520 (520f.); Zimmiok/Schirmer, BB 1969,1108 (1109); zusammenfassend Battis, JuS 1971, 520 (521). 1,3 Roth, BB 1966, 520 (521); Battis, JuS 1971,519 (522). 114 BGH, NJW 1965,1907 (1910). Ähnliche Formulierung in BGHR/GG vor Art. 1/enteignender Eingriff/Straßenbau 4: „Dieser allgemeine Entschädigungsanspruch ist durch § 39 des Hamburgischen Wegegesetzes (HWG) in zulässiger Weise konkretisiert worden" (Hervorhebung vom Verfasser). 107

3 Külpmann

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

Art. 97 Abs. 1 GG gezogenen Grenzen.115 Zum anderen wurde auch vereinzelt die Frage aufgeworfen, warum es trotz der Junktimklausel des Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG eigentlich rechtmäßige entschädigungspflichtige Enteignungen ohne gesetzliche Regelung der Entschädigung geben sollte. Tatsächlich müsse man in diesen Fällen von enteignungsgleichen Eingriffen sprechen.116 Der BGH nahm die Kritik aus der Praxis auf und löste sich in seinem Urteil vom 20.12.1971117 („Frankfurter U-Bahn") von einer generellen Entschädigungspflicht bei U-Bahn-Baumaßnahmen: Nicht allein der Zweck einer Maßnahme dürfe über die Frage der Entschädigungspflicht entscheiden, denn auch Straßenbauarbeiten könnten Folgen für die Anlieger haben, die in ihrer Schwere den Beeinträchtigungen im Zuge von U-Bahn-Baumaßnahmen vergleichbar seien.118 Zudem wiesen U-Bahnen einen gewissen Bezug zur darüber liegenden Straße auf, so daß jedenfalls ein gewisses Maß an Beeinträchtigung entschädigungslos hinzunehmen sei. 119 Im Ergebnis verwies der BGH auf den Einzelfall, bei dem auch Eigenarten des betroffenen Gewerbebetriebes zu berücksichtigen seien.120 Mit diesen Erwägungen verneinte das Gericht eine generelle Entschädigungspflicht bei Beeinträchtigungen durch U-Bahnbau, eine gegenüber dem Straßenbau niedrigere Opfergrenze nahm der BGH jedoch weiterhin an. 121 Diese Rechtsprechung übertrug er auch auf S-Bahnbauten122 und Straßentunnel von großer Bedeutung für den innerstädtischen Verkehr 123. Da diese Projekte wie der U-Bahnbau der Bewältigung des innerstädtischen Massenverkehrs dienten, sei auch hier eine niedriger liegende Opfergrenze anzunehmen. In den Fällen der U-Bahn-Baumaßnahmen wurde ebenso wie bei den Straßenbaumaßnahmen von vornherein auf eine wirtschaftliche Betrachtung zur Bestimmung der Enteignungsschwelle abgestellt - die Sonderopfertheorie allein bot in diesen Fällen keine Lösung. Ebenso blieb auch in den U-Bahn-Fällen unklar, inwieweit der BGH von einem besonderen Entschädigungsinstitut des enteignenden Eingriffs ausging. So sprach das Gericht in seiner Entscheidung zum Bau der Frankfurter U-Bahn ohne erkennbaren Unterschied von einem Anspruch auf „Enteignungsentschädi-

1.5 Battis , JuS 1971, 519 (522); Haas, NJW 1965, 2196 (2197); später auch Böhmer, Staat 1985, 157 (197). 1.6 Κ.Ό. Konow, BB 1967,103, der aber die Möglichkeit einer Abwehrklage gar nicht erörtert. 1.7 BGHZ 57, 359. 1.8 BGHZ 57,359 (365 f.). 1.9 BGH, NJW 1978, 371 (373); NJW 1983,1663 (1664). 120 BGHZ 57, 359 (366f.). Vgl. zur Berechnung im einzelnen etwa BGH, NJW 1983, 1663 (Berücksichtigung mehrerer Filialbetriebe). Ähnlich auch BGHR/GG vor Art. 1/enteignender Eingriff/Straßenbau 4. 121 Bestätigend NJW 1983, 1663. 122 BGH, NJW 1976, 1312 („Münchener S-Bahn Γ ) ; NJW 1977, 1817 („Münchener S-Bahn II"). 123 BGH, NJW 1980, 2703.

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gung" , von „Enteignungen" , von „Beeinträchtigungen mit enteignendem Charakter" 126 , von „Entschädigungen wegen Eingriffs in das Eigentum" 127 und von einem „enteignenden Eingriff". 128 Der BGH bewegte sich also auf dem Feld des Art. 14 Abs. 3 GG - ob er tatsächlich von einem Entschädigungsinstitut „enteignender Eingriff" als eigenständiger Rechtsfigur ausging, wird man bezweifeln müssen. 2. Beeinträchtigungen durch die Ergebnisse von Infrastrukturmaßnahmen Das Bild der Rechtsprechung zu den Beeinträchtigungen durch die Ergebnisse von Infrastrukturmaßnahmen ist diffuser als dasjenige zu den Beeinträchtigungen bei der Durchführung von solchen Maßnahmen. Gleichwohl betrifft auch dieser Bereich der Rechtsprechung ganz überwiegend das öffentliche Verkehrswegenetz, dessen Ausund Umbau immer wieder einzelne Eigentümer beeinträchtigte. 129 So beschäftigten folgende Beeinträchtigungen die Rechtsprechung: Nach der Erhöhung einer Straße waren Anlieger gezwungen, Überfahrten zu bauen.130 Gaststättenbetriebe erlitten Einbußen, weil unmittelbare Verbindungen zu einer Bundesstraße 131 oder zu einem naheliegenden Kasernenbereich 132 verloren gingen. Infrastrukturmaßnahmen verlängerten die Anfahrtswege zum Acker eines landwirtschaftlichen Betriebes 133 oder zu den Fanggründen eines Krabbenfischerbetriebes 134 und provozierten so Betriebseinbußen. Deichbaumaßnahmen erhöhten die Gefahr einer Überflutung von Vordeichgrundstücken. 135 Eine Jagdgenossenschaft mußte Einschränkungen durch die Zerschneidung ihres Jagdbezirkes hinnehmen,136 ein Fährbetrieb wurde durch den Bau einer nahe gelegenen Autobahnbrücke in den Ruin getrieben. 137 / 138 124

BGHZ 57,359 (361). BGHZ 57, 359 (363, 368). 126 BGHZ 57,359 (363,367). 127 BGHZ 57,359 (366). 128 BGHZ 57, 359 (366). 129 Genau genommen gehören auch die Immissionen von hoheitlichen Anlagen, insbesondere von Straßen, hierher. Da sich dieses Gebiet jedoch weitestgehend verselbständigt hat, wird es sogleich unter § 2 Β II behandelt. 130 BGHZ 30, 241; MDR 1963,478. 131 BGHZ 48,58. 132 BGHZ 55,261. 133 BGHZ 48,65. 134 BGHZ 45, 150. 135 BGHZ 80, 111; BGH, UPR 1987,68. 136 BGHZ 84, 261; 132,63. 137 BGHZ 94,373. 138 Weitere Beispiele aus der Rechtsprechung sind die Verlegung von Rohrleitungen im Zuge eines Autobahnbaus (BGHZ 123, 166) oder die Unpassierbarkeit einer Tordurchfahrt für 125

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

Der BGH gewährte in dieser Fallgruppe nur in Ausnahmefällen die eingeklagte Entschädigung. Insbesondere lehnte er einen Erst-recht-Schluß von vorübergehenden auf dauerhafte Maßnahmen ab.139 Dabei fällt ein eigentümlicher Wechsel der Argumentation auf: Entschied der BGH gegen den Bürger, argumentierte er meist damit, das Eigentum umfasse kein Abwehrrecht gegen die fragliche Maßnahme; entschied er gegen die öffentliche Hand, so verwies er dagegen auf die wirtschaftlichen Folgen einer Maßnahme. Der Blick wechselte so von der rechtlichen Position des Eigentümers hin zu den wirtschaftlichen Auswirkungen einer Maßnahme. In einer Vielzahl von Fällen verwies das Gericht den betroffenen Bürger darauf, seine Rechtsposition als Eigentümer biete gegen bestimmte Beeinträchtigungen keinen Schutz, daher verfalle seine Klage der Abweisung.140 So sollte der bestehende Kontakt eines Geschäftes nach außen nicht vor Maßnahmen zur Umleitung von Fußgängerströmen schützen,141 der eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb eines Krabbenfischers nicht vor einer Verlängerung der Anfahrtswege durch den Elbeleitdamm. 142 Auch eine bestimmte, für den Inhaber besonders günstige Verbindung zum öffentlichen Straßennetz oder sonstigen öffentlichen Einrichtungen werde vom Eigentum am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb nicht erfaßt, 143 wenn nur der Zugang als solcher erhalten bleibe.144 Das Grundeigentum biete gegen die Erhöhung eines Nachbargrundstücks keinen Schutz.145 Der Inhaber einer Fährgerechtigkeit besitze kein Abwehrrecht gegen den Bau einer Autobahnbrücke in der Nähe.146 Schwerlaster nach einer Straßenverengung (BGH, NJW 1979,1043). Im letzten Fall wurde der enteignende Eingriff allerdings nur alternativ neben gesetzlichen Anspruchsgrundlagen erwogen (ebd., S. 1044). (Dazu unten § 6 ΑΙΠ 1) Zur Rechtsprechung des RG s. Breuer, Bodennutzung, S.316 (m. Fn.57). 139 BGHZ 48,58 (62). Umgekehrt lehnte der BGH aber auch die Übertragung der Maßstäbe für dauernde Immissionen auf vorübergehende ab. Vgl. BGH, LM § 906 BGB Nr. 61 (Bl. 3). 140 BGHZ 94, 373 (374). Ähnlich BGHZ 8, 273 (274); 45, 150 (154 ff.); 48, 58 (61); 48, 65 (66); 55,261 (263); 123,166(170). Vgl. auch BGHR/GG vor Art. 1/enteignender Eingriff/Loipe 1 : Das Eigentum an einer ohne besonderes Nutzungsrecht über fremde Grundstücke geführten Loipe wird nicht durch Beschädigungen der Loipe beeinträchtigt. 141 BGHZ 8, 273 (274). Bloße Lagevorteile sollen grundsätzlich nicht geschützt sein, vgl. Nüßgens/Boujong, Eigentum, Rz. 101 ff.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 165; Papier, Recht der öffentlichen Sachen, S. 114ff. 142 BGHZ 45,150 (154 ff.). Ebenso zu einer Baumaßnahme an einem Wasserweg (Bau einer Moselstaustufe) auch BGHZ 49,231 (235) (Vorübergehende Beeinträchtigung des Fischzuges kann nicht kraft Fischereirecht verboten werden) und BGH, MDR 1980, 39 (Beeinträchtigung der Kiesausbeute). In den beiden letztgenannten Fällen stand mit § 31 Abs. 2 WHG allerdings eine gesetzliche Anspruchsgrundlage zur Verfügung, so daß es eines Rückgriffs auf den enteignenden Eingriff nicht bedurft hätte. 143 BGHZ 48, 58 (60); 55, 261 (263 f.). 144 BGH, NJW 1983, 1663 (1664). 143 BGH, NJW 1974, 53 (54). Anders bei Bestehen eines nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses BGH, NJW 1976, 1840 (1841); abweichend auch BGHZ 30,241, dazu sogleich bei Fn. 149. 146 BGHZ 94, 373.

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Ebensowenig umfasse ein altes Wasserrecht nach § 15 WHG i. V. m. §§ 122, 123 bwWassG und Art. 3 WürttWassG ein Abwehrrecht gegen Grundwasserbeeinträchtigungen durch Streusalz.147 Die Position eines Entleihers in einem jederzeit kündbaren Leihvertrag schütze nicht vor einer Beendigung des Leihverhältnisses durch die öffentliche Hand.148 In den vom BGH als entschädigungswürdig eingestuften Fällen kam es zu einem Β lick Wechsel: Der Fokus wurde von der abwehrrechtlichen Position des Eigentumsrechts verschoben zu den wirtschaftlichen Folgen an dem Eigentumsgegenstand. In seinem Urteil vom 02.07.1959149 („Straßenerhöhung") hielt der BGH eine Entschädigung für einen Eigentümer und Landwirt für möglich, weil dieser infolge der Höherlegung einer Landstraße Umbaumaßnahmen vornehmen mußte, um weiterhin die Äcker und Wiesen jenseits der Straße zu erreichen. Auf die Frage, ob dieser Höherlegung der Straße Eigentumspositionen des Klägers entgegenstanden, ging das Gericht überhaupt nicht ein. Vielmehr sei bei Beeinträchtigungen der Nutzbarkeit von Grundstücken danach zu fragen, ob die zum Ausgleich erforderlichen Maßnahmen wirtschaftlich so schwer wögen, daß sie als Sonderopfer über die Beeinträchtigungen hinausgingen, die jeder Straßenanlieger entschädigungslos dulden müsse.150 Damit machte das Gericht die Verpflichtung der öffentlichen Hand zur Entschädigung von der „Erheblichkeit des Eingriffs" abhängig, die nach dem zur Wiederherstellung der ursprünglichen Zufahrt notwendigen Aufwand zu bestimmen sei.151 Entscheidend sei eine wirtschaftliche Betrachtungsweise.152 Diese Sichtweise entspreche im Ergebnis, wenn auch nicht in der Terminologie, der Rechtsprechung des Reichsgerichts, 153 das ein subjektives Anliegerrecht auf Erhaltung des Zugangs zur Straße angenommen hatte.154 Dabei wäre die Sichtweise des Reichsgerichts allerdings mit dem Konzept des BGH in den „abwehrrechtlich" entschiedenen Fällen155 besser vereinbar gewesen. Dieser Wechsel der „Blickrichtung" vom Schutzbereich des Eigentums als Abwehrrecht auf die wirtschaftlichen Auswirkungen einer Maßnahme zeigt sich auch deutlich in dem Urteil vom 29.05.1967 („Bundesstraße"), 156 das die Erklärung einer Straße zur Bundesfernstraße zum Gegenstand hatte. Infolge dieser Erklärung hatte ein Landwirt eine Überfahrt über die Straße verloren und konnte seinen Acker nur 147

BGHZ 124, 394 (400). BGHZ 125,293 (301). 149 BGHZ 30,241. Ergänzend dazu BGH, NJW 1959,1916; BGH, L M Nr. 32 zu Art. 14 (Ea) GrundG; MDR 1963,478. 150 BGHZ 30, 241 (243). 151 BGHZ 30, 241 (Leitsatz). Vgl. auch die Bezugnahme in BGHZ 48, 58 (63). 152 BGHZ 30, 241 (243). 153 Unter Berufung auf RGZ 145, 107 (113). 154 BGHZ 30, 241 (245). 155 S. soeben bei Fn. 140. 156 BGHZ 48, 65. 148

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

noch über einen Umweg erreichen. Der BGH prüfte einen Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbetrieb und einen Eingriff in das Grundeigentum. Einen entschädigungspflichtigen Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten landwirtschaftlichen Gewerbebetrieb verneinte der BGH. Denn der Zugang von und zu der Straße könne einen geschützten Wert nur darstellen, wenn und soweit der Betriebsinhaber sich darauf verlassen könne, daß der Zustand auf Dauer erhalten bleibe. Im vorliegenden Fall gehe der Ausbau der Straße nicht über das sachlich gebotene Maß hinaus, eine Zugangsmöglichkeit bleibe dem Anlieger erhalten. Daher könne dieser auch dann keine Entschädigung wegen eines Eingriffs in seinen eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb verlangen, wenn „erhebliche Erschwernisse" aufträten. 157 Mit dieser Feststellung Schloß der BGH seine Prüfung aber nicht ab, sondern erörterte im Anschluß einen Eingriff in das Grundeigentum des Klägers. Ein Entschädigungsanspruch stehe dem Grundeigentümer bereits dann zu, wenn die Zufahrt zu seinem Grundstück nicht nur unerheblich erschwert werde. In diesem Fall verlange die öffentliche Hand dem Bürger ein Sonderopfer ab, da bei wirtschaftlicher Betrachtung die Nutzbarkeit des Grundstücks erheblich gemindert werde. 158 Im Ergebnis wechselte der BGH also auch hier von einer abwehrrechtlichen, den Entschädigungsanspruch verneinenden Sicht zu einer an den Folgen orientierten, einen Entschädigungsanspruch bejahenden Sicht - innerhalb desselben Urteils! Bei dem Blick auf die Folgen einer Maßnahme wird im übrigen erneut deutlich, daß die materielle Schwere des Eingriffs, nicht etwa das rhetorisch bemühte Sonderopfer über die Überschreitung der Enteignungsschwelle entschied.159 Bei der entschädigungsrechtlichen Behandlung der Zerschneidung von Jagdbezirken wird der Wechsel der Blickrichtung ebenso deutlich. Wird ein gemeinschaftlicher Jagdbezirk einer Jagdgenossenschaft durch Bau von Straßen, insb. Autobahnen, zerschnitten, so kann dies die Jagdausübung beeinträchtigen. Dies gilt für bestimmte Formen der Jagd ebenso wie für mögliche Veränderungen des Wildbestandes und erschwerte Wildhege.160 Ausdrücklich erklärte es der BGH für unbeachtlich, ob die Jagdgenossenschaft einen Anspruch auf den Fortbestand des Jagdbezirks und seine räumliche Ausdehnung habe.161 Ein enteignender Eingriff liege bereits vor, wenn nachteilige tatsächliche Einwirkungen das Jagdausübungsrecht in den Grenzen der geschützten Rechtsposition faktisch beeinträchtigten.162 Mit dieser Formulierung

157

BGHZ 48,65 (66 ff.). BGHZ 48,65 (68 f.). 159 Dazu bereits oben § 2 A bei Fn. 65. 160 BGHZ 84,261 (265); 132,63 (66). 161 BGHZ 84,261 (266 f.). 162 BGHZ 84,261 (266). In BGHZ 123,166 stellte der BGH allerdings auf die Frage ab, ob die Rechtsposition des Bürgers (im fraglichen Fall eines Mieters) ein Abwehrrecht gegen die hoheitliche Beeinträchtigung (hier: Zwang zur Verlegung von Rohrleitungen) umfaßte. Dies wurde im Streitfall jedenfalls für die vorzeitige Verlegung bejaht (ebd., S. 172). Ähnlich bereits 158

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drohte die Verbindung von faktischer Beeinträchtigung und rechtlicher Gestaltung indes abzureißen. Denn Entschädigung kann bei dieser Prämisse sogar dann zugesprochen werden, wenn die faktischen Beeinträchtigungen innerhalb des gesetzlich gestalteten Duldungsrahmens bleiben. Ähnliche wirtschaftliche Betrachtungen wie in den bisher behandelten Fällen sind auch in anderen Entscheidungen zu finden, die aber nur scheinbar dem Institut des enteignenden Eingriffs zugehören. So hatte die Rechtsprechung über Sachverhalte zu entscheiden, in denen Deichbaumaßnahmen in Hamburg zu einer erhöhten Gefährdung solcher Grundstücke führten, die sich außerhalb der Deichanlagen befanden. 163 Der BGH deutete zwar zunächst an, ob und wie der Bürger sich gegebenenfalls gegen die Belastung mit der Gefahrerhöhung wehren könnte; problematisch war insbesondere eine Klage aus § 1004 BGB, da diese wegen § 48 Abs. 8 hbgWassG i. V. m. 11 Abs. 1 S. 1 WHG ausgeschlossen sein sollte.164 Entscheidend für die Annahme einer Entschädigungspflicht war aber nicht etwa diese abwehrrechtliche Sicht, sondern waren die tatsächlichen Auswirkungen. Danach müsse die Klägerin zwar geringfügige Folgen von Hochwasserschutzmaßnahmen hinnehmen, die Opfergrenze werde bei einer Erhöhung des Wasserstandes um 70 bis 100 cm und (eingetretenen) Schäden in Höhe von rund einer halben Million DM überschritten. 165 Diese Fälle sind allerdings nicht dem Entschädigungsinstitut des enteignenden Eingriffs zuzuordnen. 166 Der BGH sprach zwar von einem „enteignenden Tatbestand"167 oder von einem „entschädigungspflichtigen enteignenden Eingriff" 168 , tatsächlich beruhten die Entschädigungsansprüche aber auf der gesetzlichen Anspruchsgrundlage der §§ 55, 48 Abs. 4 S. 3 hbgWassG, die in den Urteilsgründen in der amtlichen Sammlung nicht genannt wurden. 169 Auch die gezielte Überschwemmung eines unterhalb des Wasserspiegels eines nahen Flusses liegenden, künstlich entwässerten Geländes zum Schutze anderer Grundstücke kann nach dem BGH einen Entschädigungsanspruch wegen enteignen-

vorher BGHZ 117,236. In diesem Fall hätte der Ausgleich über das im Zuge des Autobahnbaus notwendige Planfeststellungsverfahren erfolgen müssen. 163 BGHZ 80,111 =ZfW 1981/1982,218; BGH, UPR 1987,68. Da hier bereits die vorhersehbare Gefahierhöhung als Eingriff gewertet wurde, handelt es sich nicht um einen Fall der Unfallhaftung entsprechend unten § 2 ΒΙΠ. 164 BGHZ 80,111(113). 165 BGHZ 80,111 (117). Etwas anders allerdings BGH, UPR 1987,68, wo der BGH die öffentliche Hand zur Entschädigung für Hochwasserschutzmaßnahmen verurteilte. 166 Fehlerhaft daher Jaschinski, Fortbestand, S. 91 m. Fn. 323. 167 BGHZ 80, 111 (114). 168 BGHZ 80,111 (116). Zu den Gründen für diese Falschbezeichnung s. u. § 6 A III 1. 169 BGH, ZfW 1981/1982, 218; auch UPR 1987, 68. Fehlerhaft daher sogar das Eigenzitat des BGH in BGHZ 117, 240 (252).

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

den (oder enteignungsgleichen) Eingriffs auslösen.170 Richtigerweise handelte es sich allerdings hier um die Inanspruchnahme eines Polizeipflichtigen im polizeilichen Notstand,171 so daß die entsprechende gesetzliche Regelung-im Fall § 221 Abs. 1 shLVwG - hätte herangezogen werden müssen. Auch dieser Fall bleibt daher im folgenden außer Betracht.

II. Immissionen 1. Verkehrsimmissionen Fortschreitende Besiedlung, zunehmende Mobilität und wachsende Motorisierung haben das Gebiet der Verkehrsimmissionen und des Ausgleichs der mit ihnen verbundenen nachbarlichen Interessenkonflikte zu einem Rechtsgebiet von großer Wichtigkeit werden lassen.172 Mehrere große Linien prägten die Entwicklung dieses Gebiets: An die Stelle des bürgerlichen Nachbarrechts ist mehr und mehr das öffentliche Planungsrecht getreten.173 Damit einhergehend hat sich der parlamentarische Gesetzgeber, aber auch der Verordnungsgeber, zunehmend dieses Gebiets angenommen, auch wenn der Versuch einer umfassenden Regelung in einem Verkehrslärmschutzgesetz Anfang der 80er Jahre scheiterte.174 Abwehransprüche bis hin zu Folgenbeseitigungsansprüchen175 gerieten stärker ins Blickfeld, während das Reichsgericht, aber auch der BGH Lösungen durchgängig auf dem Weg der Entschädigungszahlungen suchten.176 Schließlich erlangte das steigende Umweltbewußtsein177 im Laufe der Jahre erheblichen Einfluß auf die Festlegung von Grenzwerten. Im Rahmen dieser Arbeit kann keine abschließende Darstellung dieses Rechtsgebiets gegeben werden; dazu ist auf das einschlägige Spezialschrifttum zu verweisen.178 Die Rechtsprechung wird im folgenden nur mit Blick auf Entschädigungsan170

BGHZ 117, 240 (252 ff.). Zutreffend Jaschinski, Fortbestand, S. 92 m. Fn. 328. 172 Vgl. dazu auch den Immissionsschutzbericht der Bundesregierung, BT-Drucks. 13/4825, S.22ff. 173 Vgl. auch unten § 2 Β II ld. 174 Vgl. den Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 8/1671, dazu der Bericht des Verkehrsausschusses, BT-Drucks. 8/3730. Das Gesetzesvorhaben scheiterte, weil Bundestag und Bundesrat keine Einigung hinsichtlich der für die Lärmsanierung maßgeblichen Grenzwerte erzielten. Vgl. Härtung, Entschädigung, S. 166ff.; Parzefall, Entschädigung, S. 74. 175 Vgl. jetzt etwa BVerwGE 94, 100. 176 Zu dieser Grundtendenz in der Rechtsprechung des BGH s. o. § 2 A. 177 Wichtig zu Beginn dieser Entwicklung war das Umweltprogramm der Bundesregierung 1971, BT-Drucks. 6/2710. Inzwischen hat die Bedeutung des Umweltschutzes verfassungsrechtlich in der Staatszielbestimmung des Art. 20a GG Anerkennung gefunden. 178 Aus jüngerer Zeit etwa Büchs, Handbuch, Rz. 1521ff.; Härtung, Entschädigung (1987); M ichler, Rechtsprobleme (1993); Nüßgens/Boujong, Eigentum, Rz. 241ff.; Papier, Recht der öffentlichen Sachen, S. 149ff.; Parzefall, Entschädigung (1993); W. F. Schmidt, Entschädigung (1987). Zum bestehenden Reformbedarf Jarass, DVB1. 1995, 589. Ältere Darstellungen bei Breuer Bodennutzung, S. 305ff.; Schmidt-Aßmann, Grundlagen (1979). 171

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Sprüche ohne gesetzliche Grundlage bei rechtsgemäßem Handeln der Verwaltung dargestellt. a) Behandlung nach privatem Nachbarrecht Das Reichsgericht hatte Verkehrsimmissionen öffentlicher Straßen dem privaten Nachbarrecht unterstellt und so außerhalb des Systems öffentlich-rechtlicher Entschädigungspflichten verortet. Leitentscheidung war das Urteil vom 09.01.1939179 („Reichsautobahn"). Eine Eigentümerin verlangte Entschädigung für die erheblichen Immissionen, die auf ihr in unmittelbarer Nähe zur Autobahn stehendes Haus einwirkten. Die Einordnung von Verkehrsimmissionen in das private Nachbarrecht stützte das Gericht allerdings nicht auf die Benutzung der Straße durch die (privatrechtlich handelnden) Autofahrer, da sich die Klage nicht gegen diese richtete und nicht richten konnte, weil der Anlieger der einzelnen Autofahrer nicht habhaft wurde und jeder einzelne Straßennutzer nur einen kleinen Teil zu den im ganzen beträchtlichen Immissionen beitrug. Statt dessen begründete das Reichsgericht die Einordnung als privatrechtlich mit der Überlegung, daß die Straße zwar einer öffentlichen Aufgabe gewidmet worden sei, sie sich aber gleichwohl im Privateigentum des Hoheitsträgers befinde 180 und somit weiterhin dem privaten Nachbarrecht unterstehe, es sei denn, dieses widerspräche der wahrgenommenen öffentlichen Aufgabe oder einschlägigen Sonderbestimmungen.181 Diese privatrechtliche Einordnung der Verkehrsimmissionen wird heute nicht mehr vertreten. 182 Für das Reichsgericht war diese Einordnung gleichwohl von großer Bedeutung: Denn nur so konnte es seine Zuständigkeit nach § 13 GVG begründen, anderenfalls hätte es jede Klage auf Ausgleich von Beeinträchtigungen als unzulässig abweisen müssen183 und damit den Bürger jeden Rechtsschutzes beraubt, da die - in den einzelnen Ländern bestehenden - Verwaltungsgerichte gegen hoheitliche Realakte nicht angerufen werden konnten.184 Eine Anspruchsgrundlage für den Ausgleich von Beeinträchtigungen durch Verkehrsimmissionen war im positiven Recht nicht ersichtlich. 185 Das Reichsgericht zog als Anspruchsgrundlage einen aus einer Rechtsanalogie zu § 26 GewO 186 und § 75 179

RGZ 159, 129. Vgl. dazu auch RGZ 58, 130, danach st. Rspr., zuletzt RGZ 170,40 (44). 181 RGZ 159, 129 (131 f.). 182 Vgl. bereits 1979 mit dieser Einschätzung Schmidt-Aßmann, Grundlagen, S. 4 m. w. Nw. 183 RGZ 159, 129(131). 184 Vgl. Rüfner, in Jeserich/Pohl/v. Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 4, 639 (641 f.). 185 § 906 Abs. 2 S. 2 BGB trat erst am 01.06.1960 in Kraft. 186 § 26 GewO a. F. lautete: „Soweit die bestehenden Rechte zur Abwehr benachteiligender Einwirkungen, welche von einem Grundstück aus auf ein benachbartes Grundstück geübt wer180

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

EinlprALR gewonnenen Aufopferungsanspruch heran: Obwohl das Grundstück dem privaten Nachbarrecht unterstellt werde, sei eine Abwehrklage nach § 1004 BGB mit Blick auf die öffentliche Stellung des Unternehmens von vornherein ausgeschlossen. Sollten jedoch die Voraussetzungen des § 1004 BGB „eigentlich" gegeben sein, so sollte der Bürger als Ausgleich für das entfallene Abwehrrecht zumindest einen Schadensersatzanspruch erhalten. 187 Damit erkannte das Reichsgericht jedenfalls grundsätzlich einen Ausgleichsanspruch an. Mit auffallender Deutlichkeit stellte das Reichsgericht aber klar, daß es derartige Ausgleichsansprüche auf seltene Fälle beschränkt sehen wollte: Die Anforderungen des modernen Verkehrs erforderten für das Volksganze eine Fortentwicklung des Straßennetzes, die durch Schadensersatzansprüche von Straßenanliegern in keinem Fall gehemmt werden dürften. 188 Die technische Fortentwicklung einerseits, die grundsätzliche Unterordnung des einzelnen unter die Volksgemeinschaft andererseits sollten als tragende Gründe Ansprüche so weit als möglich begrenzen, Ausgleichsansprüche die „seltene Ausnahme" bleiben.189 Dogmatisches Vehikel für den Ausschluß von Entschädigungsansprüchen war das Merkmal der Ortsüblichkeit. Das Reichsgericht verwies darauf, „daß die Benutzung einer städtischen Straße oder einer Fernverkehrsstraße durch den Verkehr, der dort auf Grund der örtlichen Gegebenheiten herrscht, die bei Grundstücken dieser Lage nach den örtlichen Verhältnissen gewöhnliche Benutzung ist, mag auch der Verkehr noch so massenhaft und geräuschvoll sein." 190 Es sei angemerkt, daß diese Begründung auf einem Denkfehler beruhte: Das Reichsgericht hatte ja gerade auf die Bereitstellung der Straße, nicht aber auf die Benutzung durch die einzelnen Autofahrer abgestellt - die richtige Frage wäre also gewesen, ob die Bereitstellung der Straße selbst, nicht dagegen, ob die Benutzung der Straße durch die Autofahrer ortsüblich sei. Die letztere Frage mußte ja immer bejaht werden, wenn man mit dem Reichsgericht Autoverkehr auf einer Autostraße als ortsüblich ansah.

den, dem Eigentümer oder Besitzer des letzteren eine Privatklage gewähren, kann diese Klage einer mit obrigkeitlicher Genehmigung errichteten gewerblichen Anlage gegenüber niemals auf die Einstellung des Gewerbebetriebes, sondern nur auf Herstellung von Einrichtungen, welche die benachteiligende Wirkung ausschließen oder, wo solche Einwirkungen untunlich oder mit einem gehörigen Betriebe des Gewerbes unvereinbar sind, auf Schadloshaltung gerichtet werden" (Zitiert nach Härtung, Entschädigung, S. 27 m. Fn. 22). 187 RGZ 159, 129 (135 f.). 188 RGZ 159, 129(138, 141). 189 RGZ 159,129 (141). Korrekturen erreichte das Reichsgericht gelegentlich durch Ansprüche aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis, vgl. RGZ 154, 161 (165 ff.). Dazu auch Härtung, Entschädigung, S. 30 f. 190 RGZ 159,129 (137). Vgl. auch ebd., S. 138 f.: „Nun ist nicht zu bezweifeln, daß die Benutzung von Gelände zur Anlage eines notwendigen Verkehrsweges und dann weiter die Benutzung der so geschaffenen Bahn durch Kraftwagen und Motorräder in regelrechtem Verkehr namentlich in Gegenden mit starker Verkehrsentwicklung ortsüblich ist."

Β. Rechtsprechungsübersicht

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Von dem so begründeten Ausschluß von Entschädigungsansprüchen wollte das Reichsgericht nur zwei Ausnahmen zulassen:191 Zum einen den Fall fehlender oder unzureichender Rücksichtnahme auf die Anlieger, zum anderen den Fall der Zerstörung oder einer ihr nahekommenden Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Lebensbedingungen. Selbst wenn ähnliche Gedanken in der Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff eine Rolle spielen,192 blieb bei der privatrechtlichen Einordnung der Immissionen eine öffentlich-rechtliche Entschädigung für das Reichsgericht außer Betracht. b) Verkehrsimmissionen als öffentlich-rechtliche Beeinträchtigungen Der BGH hielt zunächst an der Einordnung von Verkehrsimmissionen als privatrechtlich fest und Schloß sie so weiterhin vom Anwendungsbereich des enteignenden Eingriffs aus.193 Eine mögliche Änderung der Rechtsprechung zu dieser Frage zeichnete sich in zwei Entscheidungen des 3. und des 5. Zivilsenats aus dem Jahre 1967 ab. Der 3. Zivilsenat hatte in seinem Urteil vom 18.06.1967194 („Staubimmissionen") über Entschädigungen für Straßenfozwimmissionen zu entscheiden: Infolge von Autobahnbauarbeiten hatte sich Staub auf umliegenden Feldern abgelagert, deren Eigentümer Entschädigung verlangte. Der BGH erwog neben einem bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruch mit Blick auf die öffentliche Aufgabe der Schaffung und Unterhaltung des Straßennetzes einen öffentlich-rechtlichen Entschädigungsanspruch. 195 Beide Ansprüche stünden im Verhältnis strenger Exklusivität, entscheidend sei, ob die emittierende Tätigkeit privatrechtlich oder öffentlich-rechtlich erfolge. 196 Für den zu entscheidenden Fall ließ der BGH diese Einordnung aber offen: Die Bauarbeiten waren zwar von einem privaten Unternehmer wahrgenommen, wohl aber von staatlichen Stellen überwacht worden, so daß eine Einordnung schwer fiel. Da diese aber weder für den Anspruchsinhalt 197 noch für den Anspruchsgegner 198 191

RGZ 159, 129(139). Vgl. zur mangelnden Rücksichtnahme oben § 2 Β11 bei Fn. 83, zur Vernichtung eines Betriebes oben § 2 Β11 bei Fn. 98. 193 Vgl. NJW 1968, 1133 („Straßenbahnkehre"). Ebenso Härtung, Entschädigung, S. 25. 194 BGHZ 48,98. 195 BGHZ 48,98 (100ff.). 196 Die Feststellung der strengen Exklusivität von öffentlich-rechtlichem und bürgerlichrechtlichem Aufopferungsanspruch wurde als die zentrale Aussage des Urteils begrüßt. Vgl. Schock, DVB1. 1967, 886; Hubmann, JZ 1968, 66. Kritik dagegen bei Faber, NJW 1968, 47. 197 BGHZ 48, 98 (104 ff.). Es war zwar zweifelhaft, ob nicht der privatrechtliche Aufopferungsanspruch anders als der öffentlich-rechtliche Entschädigungsanspruch auf vollen Schadensersatz (an Stelle eines billigen Ausgleichs) gegangen wäre. Da jedoch der Kläger bereits billigen Ausgleich zugesprochen bekommen und selbst keine Revision eingelegt hatte, brauchte der BGH diese Frage gemäß § 559 Abs. 1 ZPO nicht zu entscheiden. 198 BGHZ 48,98 (106 ff.). 192

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

von Belang war, beließ es der BGH aus Gründen der Prozeßökonomie 1" bei einer Verurteilung aus wahlweisem Haftungsgrund. 200 Deutlich bezeichnete das Gericht bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen eines öffentlich-rechtlichen Entschädigungsanspruchs: Dieser sollte durch Immissionen ausgelöst werden, die über das nach § 906 BGB zu duldende Maß hinausgingen.201 In diesem Fall liege ein enteignungsrechtliches Sonderopfer vor. 202 Ebenso wie bei den Beeinträchtigungen durch Straßenbaumaßnahmen war auch hier allerdings nicht das Vorliegen eines formal verstandenen Sonderopfers entscheidend, sondern die Schwere der Beeinträchtigung. Im Ergebnis hielt der BGH an den Maßstäben aus dem Zivilrecht fest, sicherte sie aber zugleich enteignungsrechtlich unter rhetorischem Rückgriff auf das Sonderopfer ab. Eine erhebliche Unsicherheit offenbarte der BGH dagegen bei der Frage der dogmatischen Einordnung dieses Anspruchs. Die Bezeichnungen als „Anspruch auf Enteignungsentschädigung"203, als „Anspruch auf Entschädigung aus enteignendem oder enteignungsgleichem Eingriff" 204 und »Anspruch auf Entschädigung wegen enteignenden (enteignungsgleichen) Eingriffs" 205 wechselten sich ab, ohne daß sich dogmatische Unterschiede abzeichneten206 - man muß mit Blick auf das Konzept des weiten Enteignungsbegriffs wohl vermuten, daß Unterschiede auch nicht gewollt waren. Eine öffentlich-rechtliche Einordnung von Straßenver&e/irsimmissionen erwog der 5. Zivilsenat des BGH erstmals in seinem Urteil vom 22.12.1967207 („Bergnase"). Dem Fall lag ein Sachverhalt zugrunde, in dem ein Eigentümer Ersatz für Umbaumaßnahmen verlangte, um die Schlafräume seines Hauses auf die von einer Bundesstraße abgewandte, einer Bergnase zugewandte Seite des Gebäudes zu verlegen. Im Ergebnis hielt der BGH in diesem Urteil zwar an der privatrechtlichen Behandlung der Immissionen fest, 208 skizzierte aber zugleich die Voraussetzungen eines öffentlich-rechtlichen Anspruchs und stellte in der Rechtswegfrage ganz auf eine öffentlich-rechtliche Einordnung ab. Als Anspruchsgrundlage zog der BGH einen öffentlich-rechtlichen Anspruch wegen enteignungsgleichen Eingriffs in Betracht, der 199

So die Vermutung von Hubmann, JZ 1968, 66 (67). BGHZ 48,98(108). 201 Im Urteil noch in der bis zum 31.05.1960 geltenden Fassung. 202 BGHZ 48, 98(101). 203 BGHZ 48,98(101, 105). 204 BGHZ 48, 98 (102). Später wird das mögliche Vorliegen eines „enteignungsrechtlichen »Eingriffs* [sie]" konstatiert, (ebd., S. 104). 205 BGHZ 48,98 (104). Ebd.findet sich auch die Bezeichnung als „Entschädigungsanspruch wegen enteignenden Eingriffs" (ebenso BGHZ 48,98 [106]). 206 Ähnlich auch BGH, W M 1968, 580. Hier spricht der BGH von einem „öffentlich-rechtlichen Anspruch auf Entschädigung aus rechtmäßigem oder rechtswidrigem enteignenden Eingriff", beließ es dann aber bei der vom Berufungsgericht angenommenen privatrechtlichen Einordnung. 207 BGHZ 49, 148. 208 BGHZ 49, 148(150). 200

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in seinen Voraussetzungen dem § 906 Abs. 2 S. 2 BGB „im wesentlichen" entsprechen sollte.209 Dabei blieb allerdings offen, ob dieser rhetorische Vorbehalt („im wesentlichen") substanzielle Veränderungen möglich machen sollte. Unklar war auch, warum der BGH einen enteignungsgleichen (also rechtswidrigen) Eingriff annahm, während im Zivilrecht Immissionen im Bereich des § 906 Abs. 2 S. 2 BGB rechtmäßig sind, aber eben einen Ausgleichsanspruch auslösen.210 Obwohl der BGH im Ergebnis doch eine privatrechtliche Einordnung vornahm, begründete er seine Zuständigkeit mit einem Verweis auf Art. 14 Abs. 3 GG. 2 1 1 Das war ebenso inkonsequent wie überflüssig: Denn nach der überkommenen Rechtsprechung des BGH hätte Art. 14 Abs. 3 GG zwar den Rechtsweg für den Anspruch wegen enteignungsgleichen Eingriffs begründen können, nicht aber den Rechtsweg für einen privatrechtlichen Anspruch. Zudem stand die Zuständigkeit des BGH nach § 13 GVG bei privatrechtlicher Einordnung ja ohnehin außer Frage. Infolge der Neufassung des § 906 BGB und der Einführung des Ausgleichsanspruchs des § 906 Abs. 2 S. 2 BGB 2 1 2 hatte der in den Blick genommene öffentlichrechtliche Entschädigungsanspruch allerdings gleichsam „unter der Hand" einen neuen Inhalt bekommen. Im Fall von BGHZ 48, 98 („Staubimmissionen") ging es um einen Entschädigungsanspruch für nicht ortsübliche Immissionen, bei denen die Abwehrklage jedoch aus Gründen der Gemein Wichtigkeit ausgeschlossen wurde. 213 BGHZ 49,148 („Bergnase") betraf dagegen einen Entschädigungsanspruch für ortsübliche und unvermeidbare und daher nach § 906 Abs. 2 S. 1 BGB zu duldende Immissionen, für die § 906 Abs. 2 S. 2 BGB im Falle der Unzumutbarkeit der Störung einen Ausgleichsanspruch bereitstellt. 214 BGHZ 48,98 („Staubimmissionen") betraf also eine Entschädigung für den Fall eines - wegen der Gemeinwichtigkeit einer hoheitlichen Anlage gleichsam „ausnahmsweise" - ausgeschlossenen Abwehrrechtes,215 BGHZ 49,148 („Bergnase") den Fall einer Entschädigung bei einer von vornherein bestehenden Duldungspflicht. 216 Durch das Urteil des 5. Zivilsenats vom 30.10.1970217 („Breitscheid") erfolgte die endgültige Wende der Rechtsprechung zur öffentlich-rechtlichen Einordnung von Straßenverkehrs- und Straßenbauimmissionen. Ausgleichsansprüche sind seit209

BGHZ 49, 148(150). BGHZ 117,110 (111 f.); F. Baur, in ders./Stümer, Sachenrecht, § 25 Rz. 42, Tabelle 17, S. 292; Palandt-Bassenge, § 906 Rz. 21. 211 BGHZ 48, 148(149). 2,2 Durch Gesetz vom 22.12.1959 (BGBl. I S. 781), in Kraft ab dem 01.06.1960. 213 BGHZ 48, 98(104). 2,4 BGHZ 49, 148(150). 215 Diese noch auf das Reichsgericht (s. o. § 2 Β II 1 a) zurückgehende Begründung wurde allerdings in der Literatur zum Teil kritisiert, vgl. Hubmann, JZ 1968, 66. Das Kriterium verteidigen dagegen etwa Mengerl Er ichsen, VerwArch 59 (1968), 366 (384). 2.6 Vgl. auch Menger/Erichsen, VerwArch 59 (1968), 366 (384f.); Hubmann, JZ 1968, 66. 2.7 BGHZ 54, 384. 2,0

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

dem - wie auch die anderen Immissionen von hoher Hand - dem System öffentlichrechtlicher Entschädigung zuzuordnen. Der BGH ging in dieser Entscheidung - wie schon bisher - davon aus, der Bürger müsse Immissionen von hoher Hand in demselben Maße dulden wie private Immissionen. Doch auch darüber hinausgehende Immissionen durch den Straßenbau oder den Straßenverkehr seien zu dulden, da der rechtskräftige Planfeststellungsbeschluß ebenso wie die Widmung der Straße entsprechende Duldungspflichten begründeten. Dabei beziehe sich der Planfeststellungsbeschluß auf die Bauimmissionen, die Widmung auf die Verkehrsimmissionen. 218 In diesem rechtsgestaltenden Entzug des Abwehrrechtes durch die genannten Verwaltungsakte liege der Eingriff in das Eigentum. Die Bauarbeiten selbst zog der BGH dann nur noch mit der Feststellung in Betracht, es fehlten Anzeichen dafür, daß sie gleichsam „außerhalb" des Planfeststellungsbeschlusses erfolgt seien; ebenso sei die tatsächliche Nutzung der Straße durch den Verkehr die unmittelbare Folge der Widmung.219 Im Ergebnis wurde also die öffentlich-rechtliche Gestaltung durch Verwaltungsakt und nicht die faktische Beeinträchtigung als Eingriff angesehen, so daß die Immissionen ganz dem öffentlichen Recht unterstellt werden konnten.220 Der BGH verneinte folgerichtig einen Eingriff in das Eigentum durch Immissionen, die nach privatem Nachbarrecht zwar zu dulden gewesen wären, gleichwohl aber einen Ausgleichsanspruch nach § 906 Abs. 2 S. 2 BGB ausgelöst hätten: Da hier eine Unterlassungsklage auch im privaten Nachbarrecht ausscheide, griffen die Verwaltungsakte nicht rechtsgestaltend ein. 221 Als Anspruchsgrundlage für Ausgleichsansprüche war infolge der öffentlichrechtlichen Einordnung das Institut bürgerlich-rechtlicher Aufopferung ebenso wie § 906 Abs. 2 S. 2 BGB ausgeschlossen. Der BGH prüfte daher öffentlich-rechtliche Entschädigungsansprüche und differenzierte: Auf der einen Seite standen Immissionen, die wesentlich waren und von einer nicht ortsüblichen Benutzung des emittierenden Grundstücks ausgingen, bei denen also der Planfeststellungsbeschluß und die Widmung rechtsgestaltend wirkten; auf der anderen Seite solche Immissionen, die nach privatem Nachbarrecht zwar hätten geduldet werden müssen, aber einen Ausgleichsanspruch nach § 906 Abs. 2 S. 2 BGB ausgelöst hätten. Für die erstgenannten Immissionen nahm der BGH die Möglichkeit eines Anspruchs wegen enteignenden 218 Die Annahme von Duldungspflichten aus dem Planfeststellungsbeschluß fand ihre gesetzliche Grundlage in § 17 Abs. 1 S. 3 BFStrG (heute: § 75 Abs. 1 S. 2 VwVfG); für die Annahme der Duldungspflichten aus der Widmung fehlte eine gesetzliche Regelung, dennoch verzichtete der BGH auf eine Begründung dieser Annahme. Ebenso blieb undeutlich, warum der Planfeststellungsbeschluß sich nur auf die Bauimmissionen, die Widmung aber auf die Verkehrsimmissionen beziehen sollte. Zur Begründung von Duldungspflichten ausführlich unten § 5 A II 2 b. 219 BGHZ 54, 384 (388). 220 Inkonsequent ist in diesem Zusammenhang die zustimmende Zitierung der früheren Rechtsprechung zur Einordnung des Eigentums juristischer Personen des öffentlichen Rechts unter die Regeln des bürgerlichen Nachbarrechts (BGHZ 54, 384 [387]). 221 BGHZ 54, 384 (387 f.).

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Eingriffs an, der teils als „(öffentlich-rechtlicher) Anspruch auf Enteignungsentschädigung" 222 , teils als „Anspruch auf Entschädigung wegen enteignenden Eingriffs" 223 bezeichnet wurde. Für den Fall der letztgenannten Immissionen sollte ein öffentlichrechtlicher Entschädigungsanspruch224 aus Billigkeitsgründen 225 analog § 906 Abs. 2 S. 2 BGB in Betracht kommen. In dieser Differenzierung zwischen aufgeopfertem Abwehrrecht und Billigkeitsentschädigung führte der 5. Zivilsenat des BGH den zwischen den Fällen BGHZ 48, 98 („Staubimmissionen") und BGHZ 49, 148 („Bergnase") bestehenden Unterschied zusammen. Wie noch zu zeigen sein wird, 226 ging diese Differenzierung unter der Führung des 3. Zivilsenats des BGH alsbald wieder verloren. Trotz der neuen öffentlich-rechtlichen Einordnung übernahm der BGH auch in BGHZ 54,384 („Breitscheid") die zivilrechtlichen Argumentationsmuster und prüft e - n u r unter einer anderen Überschrift - die Voraussetzungen des § 906 BGB. Auch die rechtspolitische Ausrichtung blieb erhalten: Entschädigungsansprüche sollten die seltene Ausnahme bleiben. Denn die Verkehrsimmissionen seien ein Teil der „gesamtwirtschaftlichen Lasten"227, die auch Eigentümer von bisher unbelasteten Grundstücken zu tragen hätten. Erneut diente das Tatbestandsmerkmal der Ortsüblichkeit dem Ausschluß von Ansprüchen. Als Vergleichsgebiet für die Ortsüblichkeit der Immissionen dürften nicht einzelne Abschnitte der Straße isoliert betrachtet werden, vielmehr müsse das gesamte, von der Straße durchschnittene Gebiet als Vergleichsgebiet betrachtet werden. In der Regel handele es sich hier um außerhalb der Ballungszentren liegende, schwach besiedelte Gebiete, durch die der Fernverkehr geführt werde. 228 In diesem Gesamtgebiet seien Verkehrsimmissionen ortsüblich. Ein Billigkeitsanspruch nach § 906 Abs. 2 S. 2 BGB analog scheide aus, da Verkehrsimmissionen in der Regel zumutbar seien, es sei denn, es handele sich ausnahmsweise um eine „besonders schwere" Einwirkung. 229 Diese rechtspolitische Linie behielt der BGH zunächst bei. 230 Weitergehende Entschädigungsansprüche erkannte der (dann für Verkehrsimmissionen zuständige) 3. Zivilsenat seit 1975 an und begründete so eine großzügigere Entschädigungspraxis.

222 BGHZ 54,384 (388). Vgl. auch BGHZ 54,384 (388): Die Behörde handele „im Rahmen ihres Enteignungsrechts". 223 BGHZ 54, 384 (389). 224 BGHZ 54, 384 (391). 223 BGHZ 54, 384 (387). 226 S. u. § 2 Β II 1 c. 227 BGHZ 54, 384 (390). 228 BGHZ 54, 384 (390). 229 BGHZ 54,384 (391). 230 BGH, NJW 1974, 53 (54).

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

c) Modernes Entschädigungsrecht: BGHZ 64,220 („Bonner Reuterstraße ") Der BGH hatte erneut über Entschädigungsansprüche für Verkehrslärmimmissionen in seinem vielbeachteten Urteil vom 21.03.1975231 („Bonner Reuterstraße") zu entscheiden. Das Gericht hielt an den Grundzügen seiner Rechtsprechung fest: Der von Verkehrsimmissionen betroffene Anlieger werde durch die Widmung der Straße zur Duldung der Verkehrsimmissionen verpflichtet. Er habe aber unter Umständen einen bei Art. 14 GG anzusiedelnden Anspruch auf Entschädigung. Maßstab für diesen Anspruch sei § 906 BGB analog.232 Die Begründung des BGH konzentrierte sich ganz auf die Senkung der für die Entschädigung relevanten Zumutbarkeitsgrenze nach § 906 Abs. 2 S. 2 BGB. Diese Senkung sei notwendig geworden, da die bisherige - wie dargestellt überaus restriktive - Entschädigungsrechtsprechung mit den Wertentscheidungen des BImSchG vom 15.03.1974233 nicht mehr zu vereinbaren sei. 234 Die Senkung der Zumutbarkeitsgrenze infolge des BImSchG bedurfte dabei besonderer Begründung: Das BImSchG war auf die in Rede stehenden Immissionen nicht anwendbar, da diese von einer vor Gesetzeserlaß ausgebauten sog. Altstraße ausgingen.235 Der BGH sah das BImSchG jedoch als Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers zur gerechten Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten im Sinne von Art. 14 Abs. 3 S. 3 GG an. Daher sei diese Entscheidung des Gesetzgebers auch bei der enteignungsrechtlichen Bewertung der sog. Altfälle heranzuziehen,236 die Grenze des noch Zumutbaren im Sinne von § 906 Abs. 2 S. 2 BGB entsprechend zu senken. Auch das Fehlen der nach § 43 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BImSchG erforderlichen Rechtsverordnung 237 hinderte den BGH an der Senkung der Zumutbarkeitsgrenze nicht, da das Normprogramm hinreichend erkennbar sei: Der Gesetzgeber habe eine allgemeine Regelung der Im-

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BGHZ 64,220 mit Anmerkungen von v.Heyl, DÖV 1975,603; Kastner, NJW 1975,2319; Kersten, BayVBl. 1975, 625; Kloepfer, JuS 1976,436. 232 Diese analoge Anwendung wirkte später auf das Zivilrecht zurück, indem die Senkung der Zumutbarkeitsgrenze bei den (öffentlich-rechtlichen) Verkehrsimmissionen in BGHZ 64, 220 auf eine zivilrechtliche Fallgestaltung übertragen wurde, da eine Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt werden könne. S. BGHZ 79,44 (48). BGHZ 62,361 hatte eine solche „Rückanalogie" noch abgelehnt. 233 BGBl.IS.721. 234 BGHZ 64, 220 (223). 235 Dies ergibt sich aus § 42 Abs. 1 S. 1 („im Falle des § 41 BImSchG") i. V. m. § 41 Abs. 1 BImSchG („Bei dem Bau oder der wesentlichen Änderung"). So auch BGHZ 64,220 (225); vgl. auch v.Heyl, DÖV 1975, 603 (604); Kersten, BayVBl. 1975, 625 (626); Kastner, NJW 1975, 2319 (2320); Kloepfer, JuS 1976,436 (437). 236 BGHZ 64, 220 (226). 237 Diese Rechtsverordnung erging am 12.06.1990 als „Sechzehnte Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Verkehrslärmschutzverordnung 16. BImSchV)" (BGB1.I S. 1036).

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missionsgrenzwerte gewollt, daher könnten Entschädigungsansprüche nicht auf Fälle besonders schwerer Beeinträchtigung beschränkt werden. 238 Die rückwirkende Berücksichtigung der angenommenen Wertentscheidung des BImSchG für die Bestimmung der Zumutbarkeitsgrenze stieß auf deutlichen Widerspruch aus der Verwaltungspraxis. 239 Dabei war unter den Kritikern strittig, ob eine einheitliche Regelung für Alt- und Neustraßen überhaupt sachgerecht sei, 240 jedenfalls sei der BGH zu einer derart weitreichenden Rechtsfortbildung gegen den Willen des historischen Gesetzgebers nicht befugt. Aus Gründen der Gewaltenteilung stehe dem BGH eine derartige politische Prioritätensetzung nicht zu. 241 Die Rechtsprechung begegnete also auch hier wie schon in den Fällen der U-Bahn-Baumaßnahmen Kritik aus der Verwaltung, 242 die dem BGH eine zu großzügige Gewährung von Entschädigungsansprüchen vorwarf. Anders als bei den U-Bahnbauten verhallte die Kritik bei den Verkehrslärmimmissionen allerdings ungehört; ihr braucht nicht weiter nachgegangen werden. Der Blick soll im folgenden auf die Grundlegung des Entschädigungsanspruchs gerichtet werden. Die bis dahin in der Rechtsprechung bestehenden Unsicherheiten bei der Einordnung des Entschädigungsanspruchs schienen überwunden: Der BGH sprach durchgängig 243 von einem Anspruch auf Enteignungsentschädigung.244 Diese Einordnung bezog sich zunächst auf die gesetzliche Regelung des § 42 Abs. 1 S. 1 BImSchG. Der Wortlaut der Norm spreche von angemessener Entschädigung, die Norm verweise in § 42 Abs. 3 S. 2 BImSchG auf die Enteignungsgesetze der Länder und deren Verfahren und auch der historische Gesetzgeber sei von einer Enteignungsnorm ausgegangen.245 Die Einordnung als Enteignungsentschädigung nahm der BGH auch für den Anspruch zum Ausgleich der Immissionen von Altstraßen an.

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BGHZ 64,220 (227f.). Kritik dazu bei v.Heyl, DÖV 1975,603 (604); den BGH verteidigt mit dem Argument einer zulässigen Vorberücksichtigung noch nicht ergangenen Rechts Kloepfer, JuS 1976,436 (440f.). 239 Vgl. Kastner, NJW 1975,2319 (2320); Kersten, BayVBl. 1975,625 (626); v.Heyl, DÖV 1975,603 (604). Den Versuch einer Rechtfertigung dieses Vorgehens mittels der Argumentationsfigur der „Rückberücksichtigung" von Neurecht bei der Auslegung von Altrecht unternimmt Kloepfer, JuS 1976, 436 (insb. 437). Rückwirkende Berücksichtigung findet heute auch die 16. BImSchV auf Baumaßnahmen, die vor dem Erlaß der Verordnung, aber nach Erlaß des BImSchG erfolgt sind. Vgl. OLG Braunschweig, NVwZ 1997,415. 240 Dafür etwa Kersten, BayVBl. 1975, 625 (626), dagegen v. Heyl y DÖV 1975, 603 (604). Unentschieden Kastner, NJW 1975, 2319 (2322). 241 v.HeyU DÖV 1975, 603 (604). 242 Dazu bereits oben bei § 2 Β11. 243 Auf S. 228 formuliert der BGH allerdings, es lägen „enteignende Eingriffe durch Verkehrsimmissionen" vor. 244 BGHZ 64,220 (221 zu § 42 BImSchG), (222), (229 „enteignungsrechtliche Sicht"), (230). 245 BGHZ 64,220 (225). Kritik daran bei Kastner, NJW 1975,2319 (2321 f.), der mit Blick auf den Vorsorgecharakter der Entschädigung von Erstattungsanspruch spricht. Zu weiterer Kritik s. auch Nüßgens/Boujong, Eigentum, Rz. 253. 4 Külpmann

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

Bei der Herleitung dieses Anspruchs nahm das Gericht im Anschluß an einige weitgehend unbeachtete Entscheidungen246 Veränderungen vor, die zur Aufhebung der noch in BGHZ 54,384 („Breitscheid") angelegten Unterscheidung von Enteignungsentschädigung und Billigkeitsausgleich führten. Zunächst ist daraufhinzuweisen, daß der BGH in Abkehr von BGHZ 54,384 nicht mehr die rechtliche Gestaltung durch Verwaltungsakte als Eingriff bewertete, sondern nun - allerdings unter Beibehaltung der öffentlich-rechtlichen Einordnung - wieder auf die faktischen Beeinträchtigungen abstellte.247 Nach BGHZ 64, 220 („Bonner Reuterstraße") sollte ein Enteignungsanspruch für diese Beeinträchtigungen bereits dann gegeben sein, wenn die Immissionen das nach § 906 BGB entschädigungslos zu duldende Maß überschritten. 248 Damit konnte der BGH nun auch ortsübliche, aber unzumutbare Immissionen mittels eines Anspruchs auf Enteignungsentschädigung ausgleichen. Diese Veränderung in der Herleitung des Entschädigungsanspruchs erklärt, warum die großzügigere Zuerkennung von Entschädigungsansprüchen mittels einer Senkung der Grenze des zumutbaren Maßes an Beeinträchtigung nach § 906 Abs. 2 S. 2 BGB erfolgen konnte. Denn diese Grenze spielt nach der Regelung des § 906 BGB keine Rolle bei Immissionen, die auf einer nicht ortsüblichen Benutzung des emittierenden Grundstücks beruhen, da diese immer einen Abwehranspruch auslösen, der nach BGHZ 54, 384 („Breitscheid") einen Anspruch auf Enteignungsentschädigung zur Folge haben sollte. Von Bedeutung ist diese Grenze nur bei § 906 Abs. 2 S. 2 BGB, also für die Immissionen, die BGHZ 54, 384 dem Bereich des Billigkeitsausgleichs (und eben nicht der Enteignungsentschädigung) zugeordnet hatte. Auf der Rechtsfolgenseite differenzierte der BGH. In der Regel sollte der Anspruch nur die Kosten für den passiven Lärmschutz decken. Diese Beschränkung des Anspruchsinhalts begründete der BGH mit der Eigenart des Eingriffs; er orientierte sich an der Entschädigungsregelung des § 42 Abs. 2 S. 1 BImSchG. 249 Nur in den Fällen schwerer und unerträglicher Belastung, wenn Lärmschutzeinrichtungen nicht in Betracht kämen oder keine Abhilfe brächten, sollte ein Ausgleich für den Minderwert in Betracht kommen.250 Die für diesen Minderwertausgleich gegebene Begründung, derartige Beeinträchtigungen hätten eigentlich bereits bei der Bauleitplanung berücksichtigt werden müssen,251 warf allerdings die vom BGH ungeklärte Frage auf, ob für den Minderwertausgleich nicht der Anspruch wegen enteignungsgleichen Eingriffs einschlägig ge246 BGH, NJW 1974, 53 (54). Zu Fluglärmimmissionen auch BGHZ 59, 378 (379). Die im folgenden dargestellten Veränderungen finden in der Literatur nicht immer Beachtung, weil zu pauschal auf § 906 BGB verwiesen wird. Anders dagegen ζ. B. Schmidt-Aßmann, Grundlagen, S. 13; Parzefall, Entschädigung, S. 223. 247 Vgl. BGHZ 64, 220 (222): „Die Lärmeinwirkungen stellen sich daher als unmittelbarer hoheitlicher Eingriff in das Anliegereigentum dar." 248 BGHZ 64,220 (222). 249 BGHZ 64, 220 (229). 250 BGHZ 64,220 (230). 251 BGHZ 64, 220 (230f.).

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wesen wäre, da die Verwaltung die erforderliche Regelung durch Bebauungsplan rechtswidrigerweise unterlassen hatte.252 In diesem Fall handelte es sich bei der Entschädigung für Schallschutzmaßnahmen und dem Minderwertausgleich jedenfalls um zwei deutlich zu trennende Ansprüche. 253 Auch in einem späteren Urteil widmete der BGH der Frage nach einer möglichen Rechtswidrigkeit des Bebauungsplanes auffallend wenig Aufmerksamkeit. Für die Entbehrlichkeit von Primärrechtsschutz ließ er es ausreichen, daß die beklagte Bundesrepublik Deutschland von der Rechtmäßigkeit des Bebauungsplanes ausgegangen sei und der Kläger zu Zweifeln an der Rechtmäßigkeit keinen Anlaß gehabt habe.254 Dennoch äußerte der BGH in diesem Urteil erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bebauungsplanes,255 ließ aber auch hier die Frage offen, warum er trotz seiner Zweifel keinen Anspruch wegen enteignungsgleichen Eingriffs gewährte. Ungeachtet dieser dogmatischen Probleme ist BGHZ 64, 220 („Bonner Reuterstraße") der Beginn der modernen Entschädigungsrechtsprechung zum Ausgleich von Verkehrsimmissionen. Entschädigungsansprüche waren nicht mehr auf besonders liegende Ausnahmefälle begrenzt. Zutreffend wies der BGH daraufhin, daß den Anliegern einer Fernstraße in der Regel keine, ein Sonderopfer möglicherweise ausschließende Sondervorteile erwüchsen,256 anders gewendet, bei ihnen fehle es an einer „Schicksalsverbundenheit". Mit der Entscheidung wurde zugleich dem gestiegenen Umweltbewußtsein, wie es im Erlaß des BImSchG seinen Ausdruck gefunden hatte, Rechnung getragen. In der Folgezeit differenzierte der BGH seine Rechtsprechung in Einzelfragen aus, an den dargestellten Grundsätzen hält er bis heute fest. 257 So nahm er für Grundstücke im Außenbereich 258 ebenso wie für vorbelastete Grundstücke 259 eine erhöhte Zumut-

252 S. auch BGHZ 80, 360 (365): Eine zur Berechnung der Entschädigung herangezogene „hypothetische Trasse müßte zunächst so gelegt werden, daß von der Verkehrsanlage keine schweren und unerträglichen Einwirkungen auf das betroffene Grundeigentum ausgingen (vgl. Senatsurteil BGHZ 64, 220, 230)" (Hervorhebung vom Verfasser). 253 Vgl. dazu auch v.Heyl DÖV 1975,603 (604). 254 BGHZ 97, 361 (363 f.). Zweites Revisionsurteil in dieser Sache: BGHR/GG vor Art. 1/enteignender Eingriff/Steigerungsrechtsprechung 1. 255 Vgl. BGHZ 97, 361 (368): „Das Berufungsgericht hat keine Feststellungen dazu getroffen, ob die Β 455 bei objektiv sachgerechter Planung nicht überhaupt in den Außenbereich (§ 35 BBauG) oder zumindest an den Stadtrand gehört hätte (vgl. auch Senatsurteil BGHZ 64, 220, 231 f.) Es liegt nach den genannten Umständen zumindest nahe, daß sie unter Beachtung der obigen Grundsätze nur in erheblichem Abstand von dem in einem reinem Wohngebiet gelegenen Anwesen der Kläger hätte errichtet werden dürfen, was eine erhebliche Verbesserung der Immissionsverhältnisse zur Folge gehabt hätte." 256 BGHZ 64, 220 (229). Kritik daran bei Kastner, NJW 1975, 2319 (2322), der für Ortsdurchfahrten von einem Sondervorteil ausgeht. 257 Zu den Veränderungen im Verhältnis zum Planfeststellungsrecht sogleich § 2 Β II 1 d. 258 BGH, W M 1976, 1064 (1065f.); NJW 1977,894 (895); BGHZ 97, 114 (122f.); 97, 361 (365 f.); NVwZ 1989, 285 (286).

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

barkeitsgrenze an. Der BGH befaßte sich mit der Möglichkeit einer Entschädigung bei einer (zusätzlichen) Teilenteignung eines Grundstückes260 und bei Umwidmung einer Straße ohne bauliche Veränderungen 261 sowie mit der Frage nach dem Anspruchsgegner. 262 Die entschädigungsrechtlichen Schwellenwerte zu konkretisieren, war eine weitere Aufgabe der Rechtsprechung, weil es an gesetzgeberischen Regelungen fehlte. Diese Konkretisierung erfolgte unter Rückgriff auf gesetzgeberische Entwürfe 263 und Verwaltungsvorgaben 264 unter wiederholter Betonung der Notwendigkeit einer tatrichterlichen Einzelprüfung. 265 Infolge des Naßauskiesungsbeschlusses des BVerfG vom 15.07.1981266 wandelte der BGH einige Begrifflichkeiten ab; in der Sache blieb die Rechtsprechung jedoch unverändert. So vermeidet es der BGH seit dem Urteil vom 29.03.1984267 von einer Enteignung zu sprechen: Die Gewährung eines Entschädigungsanspruchs ohne gesetzliche Grundlage bei Vorliegen einer Enteignung wäre mit den Ausführungen des BVerfG zu offensichtlich unvereinbar gewesen. So sprach das Gericht etwa von einem „öffentlich-rechtlichen Anspruch auf Entschädigung"268, von einem Entschädigungsanspruch, der „der Sache nach ein solcher aus enteignendem Eingriff" sei 269 oder von „Entschädigungsansprüchen enteignungsrechtlicher Art" 2 7 0 . In untergerichtlichen Entscheidungen wird zum Teil sogar weiter die Bezeichnung Enteignungsentschädigung gebraucht.271 d) Verkehrsimmissionen

von planfestgestellten

Straßen

Konkurrenzprobleme zu gesetzlichen Ansprüchen ergeben sich bei planfestgestellten Straßen. Für Beeinträchtigungen durch Immissionen sah § 17 Abs. 4 S. 2 259

BGHZ 97,361 (364); NJW 1988,900 (902). Der BGH lehnte es allerdings ab, zwischen Alt- und Neustraßen zu differenzieren, vgl. BGHZ 97, 361 (364). 260 BGH, NJW 1978, 318 (319); vgl. auch BGH, NJW 1982, 95 (96). 261 Bejahend BGH, DVB1. 1978, 110; NJW 1988,900 (901). 262 BGH, NJW 1980, 582. 263 Insb. zum Verkehrslärmschutzgesetz (s. o. § 2 Β II 1 bei Fn. 174), vgl. BGHZ 97,114(122); 97, 361 (366). 264 Etwa die „Richtlinien für den Verkehrslärmschutz an Bundesstraßen in der Baulast des Bundes" (RLS 83), BGHZ 97, 114 (122). 265 BGHZ 97, 114 (123); 97,361 (365). Zusammenfassend BGH, NVwZ 1989,285 (285 f.); NJW 1988,900(901). 266 BVerfGE 58, 300. 267 BGHZ 91, 20. Zu diesem Urteil ausführlich unten § 4 A II 2. 268 BGHZ 97, 114(116). 269 BGHZ 97, 114(117). 270 BGHZ 97, 114(118). 271 LG Aachen, VersR 1990, 47 (48): „Dem Kläger steht [...] gem. § 906 Abs. 2 S. 2 BGB i. V. m. Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG [sie!] ein öffentlich-rechtlicher Anspruch auf Enteignungsentschädigung [...] zu."

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BFStrG a. F. einen Entschädigungsanspruch vor, wenn Schutzmaßnahmen mit dem Vorhaben unvereinbar waren oder ihre Kosten zum Schutzzweck außer Verhältnis standen.272 Diese Regelung stellte die Zuständigkeit des BGH bei den Verkehrsimmissionen von planfestgestellten Straßen ebenso in Frage wie den Fortbestand eines ohne gesetzliche Grundlage gewährten Anspruchs wegen enteignenden Eingriffs: Für Ansprüche aus § 17 Abs. 4 S. 2 BFStrG a. F. wären die Verwaltungsgerichte zuständig gewesen,273 materiell-rechtlich hätte der grundsätzlich gegenüber gesetzlichen Ansprüchen subsidiäre Anspruch wegen enteignenden Eingriffs für Verkehrsimmissionen von planfestgestellten Straßen jeden Anwendungsbereich verlieren können. In seinem Urteil vom 06.02.1986274 (,»Buxheim") nahm der BGH zu den aufgeworfenen Fragen Stellung, offenbar geleitet von dem Bestreben, seine Zuständigkeit zu sichern und dem Insitut des enteignenden Eingriffs einen Anwendungsbereich auch bei Immissionen von planfestgestellten Straßen zu erhalten. Zu diesem Zweck unterschied das Gericht die Verkehrsimmissionen nach ihrer Schwere und formulierte zwei Schwellen, deren Überschreitung verschiedene rechtliche Folgen haben sollte: zum einen die Schwelle fachplanungsrechtlicher Erheblichkeit, zum anderen die deutlich höher liegende Schwelle enteignungsrechtlicher Erheblichkeit. Dies führte zu drei Arten von Immissionen: Solchen, die nicht einmal fachplanungsrechtlich zu berücksichtigen seien, solchen, die fachplanungsrechtlich relevant, enteignungsrechtlich aber irrelevant seien, und den besonders schwerwiegenden, die enteignungsrechtliche Schwelle übersteigenden Immissionen. Mittels dieses Konzepts sollte § 17 Abs. 4 S. 2 BFStrG a. F. beschränkt werden, zugleich dem Institut des enteignenden Eingriffs ein Anwendungsbereich erhalten bleiben und die Zuständigkeit des BGH gesichert werden. Die gesetzliche Regelung sollte nur Beeinträchtigungen oberhalb der fachplanungsrechtlichen, aber unterhalb der enteignungsrechtlichen Schwelle ausgleichen, da es sich bei dem Anspruch um eine „einfachgesetzliche Billigkeitsentschädigung im Vorfeld enteignender Eingriffe" 275 272 § 17 Abs. 4 S. 2 BFStrG a. F. wurde eingeführt durch das 2. Gesetz zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes vom 04.07.1974 (BGBl. I S. 1401), aufgehoben durch die Neufassung des BFStrG vom 08.08.1990 (BGBl. IS. 1714). § 17 Abs. 4 BFStrG a. F. lautete: „Im Planfeststellungsbeschluß sind dem Träger der Straßenbaulast die Errichtung und die Unterhaltung der Anlagen aufzuerlegen, die für das öffentliche Wohl oder zur Sicherung der Benutzung der benachbarten Grundstücke gegen Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen notwendig sind. Sind solche Anlagen mit dem Vorhaben unvereinbar oder stehen ihre Kosten außer Verhältnis zu dem angestrebten Schutzzweck, so hat der Betroffene gegen den Träger der Straßenbaulast Anspruch auf angemessene Entschädigung in Geld. Die §§41 und 42 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes vom 15. März 1974 (Bundesgesetzbl. I 721) bleiben unberührt." - An die Stelle des § 17 Abs. 4 BFStrG a. F. ist nunmehr § 74 Abs. 2 S. 2 und 3 VwVfG getreten. 273 BGHZ 97, 114(118). 274 BGHZ 97, 114 mit Anmerkungen von Berkemann, DVB1. 1986, 768; Nürnberger, BayVBl. 1986, 540; Papier, JZ 1986, 547. 275 BGHZ 97, 114(117).

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

handele. Für Belastungen jenseits dieser enteignungsrechtlichen Schwelle sollte weiterhin ein Anspruch wegen enteignenden Eingriffs herangezogen werden. Die Beschränkung des § 17 Abs. 4 S. 2 BFStrG a. F. stützte der BGH auf zwei Erwägungen: § 17 Abs. 4 S. 2 BFStrG a. F. bestimme die Art und das Ausmaß der Entschädigung nicht, was unter dem Blickwinkel der Junktimklausel für enteignungsrechtlich relevante Immissionen zumindest „ungewöhnlich" sei. 276 Für die Ansprüche mit enteignungsrechtlicher Qualität stünde zudem das Institut des enteignenden Eingriffs zur Verfügung, so daß der Gesetzgeber keine Veranlassung gehabt habe, Ausgleichsansprüche für die Beeinträchtigungen oberhalb der Enteignungsschwelle gesetzlich zu regeln. 277 Beide Erwägungen gehen fehl. 278 Die Ansicht, § 17 Abs. 4 S. 2 BFStrG a. F. regele eine Enteignungsentschädigung, sei aber mit Blick auf Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG nicht hinreichend bestimmt, war in der Literatur von beachtlichen Stimmen vertreten worden. 279 Wenn diese Ansicht zuträfe, dann wäre die Regelung mit Blick auf die Junktimklausel aber nicht „ungewöhnlich", sondern verfassungswidrig gewesen. Dies vorausgesetzt, ist es eine groteske argumentative Volte, die gesetzliche Norm mit Blick auf Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG zu beschränken und den verbleibenden, als enteig/zwflgsrechtlich eingestuften Bereich aus dem Institut des enteignenden Eingriffs zu entschädigen: Diese richterliche Rechtsfigur kann dem Gesetzes vorbehält des Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG doch in keinem Fall genügen! Die weitere Begründung, der Gesetzgeber habe enteignungsrechtlich relevante Immissionen nicht erfassen wollen, da der Anspruch aus dem Institut des enteignenden Eingriffs als Anspruchsgrundlage zur Verfügung stehe, überzeugt als Zirkelschluß ebensowenig: Ein Anspruch aus diesem Institut stand nur dann zur Verfügung, wenn er nicht als subsidiär durch § 17 Abs. 4 S. 2 BFStrG a. F. verdrängt worden sein sollte. Diese Frage sollte indes erst beantwortet werden. Der BGH veränderte aber auch seine Aussagen zum Anspruch wegen enteignenden Eingriffs. Dabei fällt zunächst die Unsicherheit des Gerichts bei der Frage auf, ob der Anspuch wegen enteignenden Eingriffs seine Grundlage im allgemeinen Aufopferungsgrundsatz oder in §§ 19 Abs. 5 BFStrG i. V. m. Art. 40 bayStrWG und dem landesrechtlichen Enteignungsgesetz finde. 280 Neben diese folgenlose und später nicht wieder aufgegriffene Bemerkung trat eine Beschränkung des Anwendungsbereichs dieser Rechtsfigur. Der Anspruch sollte nur bei solchen Immissionen gegeben 276

BGHZ 97, 114(118). BGHZ 97, 114(118). 278 Kritik an der Entscheidung des BGH etwa auch bei Berkemann, DVB1. 1986,768 (770); Nürnberger, BayVBl. 1986,540; Papier, JZ 1986,547; ders., NWVB1. 1990,397. Diese Autoren wiesen zutreffend darauf hin, die Tatsache, daß § 17 Abs. 4 S. 2 BFStrG jedenfalls „fachplanungsrechtliche" Entschädigungsansprüche regelte, schließe ja nicht aus, daß § 17 Abs. 4 S. 2 BFStrG auch „enteignungsrechtliche" Entschädigungsansprüche umfasse. 27 9 Bender, DVB1. 1984, 301 (313f.); Heime, BayVBl. 1981, 649; später auch Peine, DÖV 1988,937 (948). 280 BGHZ 97, 114(117). 277

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sein, die die vorgegebene Grundstückssituation nachhaltig veränderten oder das Wohneigentum schwer und unerträglich trafen, 281 oder - anders gewendet - , die enteignungsrechtliche Schwelle überschritten. 282 Bei Überschreiten dieser Schwelle sollte der Anspruch wegen enteignenden Eingriffs aber auch Ansprüche auf Schallschutzeinrichtungen umfassen. 283 Die für den Rechtssuchenden unglückliche Konsequenz284 dieser Rechtsprechung war eine Spaltung des Rechtswegs: Für Entschädigungsansprüche oberhalb der fachplanungsrechtlichen, aber unterhalb der enteignungsrechtlichen Grenze waren die Verwaltungsgerichte, für die Entschädigungsansprüche oberhalb der enteignungsrechtlichen Grenze die Zivilgerichte zuständig. In casu konnte der BGH dieses Problem allerdings mit der Erwägung umgehen, es könne wegen des Fehlens behördlicher Hinweise und eines administrativen Entschädigungsverfahrens über den Ausgleich für Lärmimmissionen sinnvollerweise nur einheitlich entschieden werden. 285 Ebenso ungelöst blieb ein weiteres Problem. Die Gestaltungswirkung des Planfeststellungsbeschlusses nach § 75 Abs. 1 S. 2 VwVfG führt dazu, daß die Planfeststellung alle öffentlich-rechtlichen Beziehungen zwischen dem Träger des Vorhabens und dem vom Plan Betroffenen regelt. Dies hatte nahegelegt, wegen der fehlenden Regelung von Entschädigungsansprüchen in dem fraglichen Planfeststellungsbeschluß derartige Ansprüche für ausgeschlossen zu halten; einen solchen Anspruchsausschluß hatten das BVerwG 286 und das Schrifttum 287 bereits allgemein für Planfeststellungsbeschlüsse angenommen. Dies vorausgesetzt, wäre wegen der fehlenden Festsetzung von Entschädigungsansprüchen nur ein Anspruch auf Planeigänzung oder - unter Berücksichtigung von § 254 BGB wegen des Versäumens von Primärrechtsschutz - ein Anspruch wegen enteignungsgleichen Eingriffs in Betracht gekommen.288 In dem zu entscheidenden Fall hatte die Behörde den Bürger jedoch in dem Planfeststellungsbeschluß darauf verwiesen, Entschädigungsansprüche seien in einem späteren Entschädigungsverfahren geltend zu machen. Der BGH hat dem mit diesem Inhalt bestandskräftig gewordenen Planfeststellungsbeschluß keine an-

281

BGHZ 97, 114 (116f.). So in der Folgezeit auch BGHZ 97,361 (363); NJW 1988,900 (901); BGHZ 122,76 (77); BGH, NJW 1999, 1247 (1249); OLG Braunschweig, NVwZ 1997, 415 (416); anders aber BGHZ 129, 124 (125 f.). 283 BGHZ 97, 114 (116); 97, 361 (362); 122,76 (79); 129, 124 (126). 284 Vgl. auch Nürnberger, BayVBl. 1986,540; Peine, DÖV 1988,937 (946). Papier, JZ 1986, 547 (548) nahm dagegen an, die Zuständigkeit der Zivilgerichte hätte sich auch für § 17 Abs. 4 S. 2 BFStrG a. F. mit § 40 Abs. 2 S. 1 1. Alt. VwGO begründen lassen. Bereits zuvor kritisch Korbmacher, DÖV 1982, 517 (528). 285 BGHZ 97, 114(120). 286 BVerwGE 61,295 (306). 287 Bender, DVB1. 1984, 301 (312); Korbmacher, DÖV 1982, 517 (526f.). 288 Für BGHZ 97,114 mit derselben Einschätzung tiwBerkemann, DVB1.1986,768 (771); Nürnberger, BayVBl. 1986,540 (541); Papier, JZ 1986,547 (549). 282

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

spruchsausschließende Wirkung zuerkannt. 289 Dies wird man mit Rücksicht auf Treu und Glauben akzeptieren können. Dennoch fällt die Auseinandersetzung des BGH mit der Möglichkeit der Inanspruchnahme von Primärrechtsschutz zu knapp aus. Daß die Klägerin keinen Anlaß hatte, dem „überlegenen Fachwissen"290 der Behörde zu mißtrauen, dürfte allein kaum ausreichen, die verwaltungsgerichtliche Prüfung eines Verwaltungsaktes für entbehrlich zu halten, soll der Grundsatz vom Vorrang des Primärrechtsschutzes nicht leerlaufen. Auch in einem späteren Urteil umging der BGH dieses Problem, dessen Lösung er zuletzt in einem Urteil vom 15.02.1996 offenließ 291: So nahm er an, daß einem Betroffenen das Unterlassen der Anfechtung eines Planfeststellungsbeschlusses nicht schade, wenn der Plan vor dem Urteil des BVerwG vom 23.01.1981292 festgestellt worden sei. Erst mit diesem Urteil sei deutlich geworden, daß auch Entschädigungsansprüche in Planfeststellungsbeschlüssen zu regeln seien.293 In diesem Urteil blieb freilich unklar, warum der BGH dann einen enteignenden und nicht einen enteignungsgleichen Eingriff annahm. Die vorstehend dargestellte Überlegung hätte schließlich im Rahmen des Mitverschuldens nach § 254 BGB berücksichtigt werden können. Einen weitergehenden Vorrang des Planfeststellungsbeschlusses erkannte der BGH in seinem Urteil vom 21.01.1999294 („A 3") an. Der Kläger, Eigentümer eines unmittelbar an die Autobahn A 3 grenzenden Grundstücks, verlangte Entschädigung für vorgenommene Schallschutzmaßnahmen an dem auf dem Grundstück stehenden Gebäude; entsprechende Forderungen waren allerdings im Planfeststellungsverfahren zurückgewiesen worden-mit diesem Inhalt wurde der Planfeststellungsbeschluß bestandskräftig. Der Kläger stellte keinen Anspruch auf Planergänzung, sondern klagte vor den Zivilgerichten eine Entschädigung ein. Der BGH wies die Klage ab. Ein Anspruch aus § 42 Abs. 1 BimSchG sei nicht gegeben, da es sich um einen Altfall handele;295 auch Ansprüche aus § 74 Abs. 2 S. 3 VwVfG oder § 75 Abs. 2 S. 2 VwVfG kämen nicht in Betracht, da der Planfeststellungsbeschluß keine Regelungen über Entschädigungsansprüche enthalte und der Kläger sich um eine Planergänzung nicht bemüht habe. Da der Kläger die Rechtswidrigkeit des Beschlusses nicht gerügt habe, schiede auch ein Anspruch wegen enteignungsgleichen Eingriffs aus.296 289

BGHZ 97, 114(120). BGHZ 97, 114(121). 291 BGHZ 132, 63 (66 ff.). 292 BVerwGE 61, 295. 293 BGH, NVwZ 1989, 285. 294 BGH, NJW 1999, 1247 (für die amtliche Sammlung bestimmt); in diese Richtung auch schon RiBGH Engelhardt, DWW 1994, 297 (301). 295 BGH, NJW 1999, 1247 (1250). 296 BGH, NJW 1999, 1247 (1250f.). 290

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Der BGH verneinte auch einen Anspruch wegen enteignenden Eingriffs. Ein solcher Anspruch könne jedenfalls in Fällen von planfestgestellten Vorhaben dann nicht gewährt werden, wenn der Anspruch ein Geldanspruch für die Anbringung passiver Schallschutzmaßnahmen sei. Der Bürger habe die Möglichkeit, im Wege der Anfechtung des Planfeststellungsbeschlusses Ergänzungen durchzusetzen. Mache er von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch oder würden seine Forderungen bestandskräftig abgewiesen, bleibe auch für einen Anspruch wegen enteignenden Eingriffs kein Raum.297 Mit diesem Urteil ist der Vorrang des Planfeststellungsverfahrens und der in einem Planfeststellungsbeschluß getroffenen Festsetzungen deutlich gestärkt worden: Bei planfestgestellten Vorhaben kommt in Zukunft ein Anspruch auf Schallschutzeinrichtungen nicht mehr in Betracht; allerdings ließ der BGH offen, ob ein Anspruch wegen enteignenden Eingriffs für die Wertminderung eines Grundstücks in Betracht komme.298 Ob und wie lange der BGH diesen Vorbehalt aufrecht erhalten wird, ist derzeit nicht absehbar.

2. Fluglärmimmissionen Die Rechtsprechung hatte des öfteren über Entschädigungsansprüche zugunsten von Grundstückseigentümern zu entscheiden, die als Anwohner von Flugplätzen Geräuschimmissionen ausgesetzt waren. 299 Als Anspruchsgrundlage zog der BGH zunächst einen öffentlich-rechtlichen Anspruch auf Enteignungsentschädigung heran, 300 vermied nach der Naßauskiesungsentscheidung des BVerfG 301 allerdings diesen Begriff und sprach - ohne Änderung in der Sache - von einem „Entschädigungsanspruch aus enteignendem Eingriff" 302 oder von einem „öffentlich-rechtlichen Anspruch auf Entschädigung"303. Dieser Anspruch sollte gegeben sein, wenn die Immissionen eines hoheitlich betriebenen Flugplatzes das nach § 906 Abs. 2 S. 2 BGB entschädigungslos zu duldende Maß überstiegen.304 Der BGH verzichtete beim Ausgleich von Fluglärmimmissionen mit diesem Obersatz von vornherein auf die in BGHZ 54, 384 („Breitscheid") vorgenommene Differenzierung zwischen einem Ausgleichsanspruch analog § 906 297

BGH, NJW 1999, 1247 (1252). BGH, NJW 1999, 1247 (1252). 299 BGHZ 59,378; BGH, LM § 906 BGB Nr. 64; NJW 1986,2423; VersR 1992,322; BGHZ 122,76; 129,124. Privatrechtliche Ansprüche hatte der BGH etwa in BGHZ 69,105; 79,45 zu behandeln. 300 BGHZ 59, 378; BGH, LM § 906 Nr. 64. 301 BVerfGE 58, 300. 302 BGH, NJW 1986,2423 (2424). 303 BGH, VersR 1992, 322 (323); BGHZ 122,76; 129, 124 (125). 304 BGHZ 59, 374 (379); BGH, LM § 906 BGB Nr. 64. 298

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

Abs. 2 S. 2 BGB und einem Enteignungsentschädigungsanspruch bei versagter Abwehrklage, 305 obwohl er in Entscheidungen zu Immissionen von privatrechtlich betriebenen Flugplätzen an dieser Differenzierung festhielt. 306 Die Rechtsprechung verstand den Begriff der Ortsüblichkeit nach § 906 Abs. 2 S. 1 BGB allerdings in einer Weise, die einen Anspruch auf Enteignungsentschädigung nach dem Konzept von BGHZ 54,384 („Breitscheid") ohnehin ausschloß. Ein Anspruch wegen versagter Abwehrklage wäre nach §§11 LuftVG i. V. m. 26 GewO oder 14 S. 2 BImSchG in Betracht gekommen, dies hätte jedoch das Fehlen einer Duldungspflicht aus § 906 Abs. 2 S. 1 BGB und damit die fehlende Ortsüblichkeit der Immissionen vorausgesetzt. Großanlagen wie Flugplätze seien in der Regel aber, so der BGH, derart prägend für ein bestimmtes Gebiet, daß ihre Benutzung als ortsüblich anzusehen sei.307 Dabei stützte sich das Gericht auf einige frühere Urteile in zivilrechtlichen Streitigkeiten. 308 Damit bestand von vornherein eine Duldungspflicht gegenüber den Immissionen, so daß ein Abwehrrecht nicht überwunden werden mußte. Die Annahme der Ortsüblichkeit der emittierenden Nutzung Schloß seit dem 01.06.I960 309 einen Anspruch auf Entschädigung aber nicht aus, da der BGH auf § 906 Abs. 2 S. 2 BGB analog zurückgreifen konnte. Besondere Bedeutung hatte hier wie bei den Verkehrsimmissionen die Bestimmung der Zumutbarkeitsgrenze. 310 Dabei, so der BGH, verbiete sich jede schematische Beurteilung nach Grenzwerten, seien sie aus Gesetzen oder aus technischen Regelwerken entnommen;311 geboten sei vielmehr eine tatrichterliche Würdigung. 312 Auf der Rechtsfolgenseite unterschied der BGH in Fortsetzung von BGHZ 64,220 („Bonner Reuterstraße") 313 auch bei den Fluglärmimmissionen zwischen einem für Schallschutzmaßnahmen gewährten Ausgleichsanspruch und einer Entschädigung für den Minderwert der betroffenen Grundstücke. 314 Der Anspruch aus § 906 Abs. 2 S. 2 BGB (analog) richte sich gegen den Inhaber des Flugplatzgrundstückes: Zwar werde der Lärm von den Flugzeugen verursacht, die das betroffene Grundstück überflögen, gleichwohl ständen diese 305

Dazu oben § 2 Β Π 1 b bei Fn. 222. Vgl. BGHZ 69, 105 (110). Bemerkenswert ist auch, daß BGHZ 59, 374 (379) die Stelle BGHZ 54, 384 (388) falsch zitiert, obwohl beide Entscheidungen innerhalb von zwei Jahren vom 5. Zivilsenat gefällt wurden. 307 BGHZ 59,378 (381 f.); 69, 105 (110); BGH, L M § 906 BGB Nr. 64 (Bl. 2). 308 Vgl. etwa BGHZ 15,146; 30,273 (277). 309 S. dazu schon oben Fn. 212. 3,0 Vgl. i. ü. die Erörterung eines möglichen „Mitverschuldens" bei der Bestimmung dieser Grenze in BGHZ 54, 378 (382 ff.); 79,45 (52 ff.). 311 BGHZ 69, 105(116). 3.2 BGHZ 69, 105 (117); BGH, LM § 906 Nr. 64 (Bl. 3); BGHZ 79, 45 (50f.); BGH, NJW 1986, 2423 (2424). Zu Berechnungsmethoden BGHZ 79,45 (46ff.). 3.3 Dazu oben § 2 Β II 1 c. 3.4 BGH, LM § 906 BGB Nr. 64 (Bl. 2); VersR 1992, 322 (323). 306

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Flugbewegungen in so engem Zusammenhang mit dem Flugplatz, daß sie dem Flugplatzgrundstück und damit dessen Eigentümer als Störer zuzurechnen seien.315 Gewisse Veränderungen infolge von BGHZ 97, 114 („Buxheim") 316 nahm der BGH allerdings durch das Urteil vom 25.03.1993317 vor. Auch bei den Fluglärmimmissionen unterschied er nun zwischen einer fachplanungsrechtlichen und einer enteignungsrechtlichen Zumutbarkeitsgrenze. Die fachplanungsrechtliche Grenze erreichten bereits die „wesentlichen" Immissionen im Sinne von § 906 Abs. 1 BGB; diese Schwelle entspreche der Erheblichkeitsgrenze in § 3 Abs. 1 BImSchG, der Zumutbarkeitsgrenze des § 906 Abs. 2 S. 2 BGB 318 und den in §§ 74 Abs. 2 S. 3 VwVfG, 42 Abs. 2 S. 1 BImSchG oder 9,10 FluglärmschG vorgesehenen Schwellen. Die enteignungsrechtliche Zumutbarkeitsgrenze liege höher; nur bei Überschreiten dieser Grenze sei ein Anspruch wegen enteignenden Eingriffs gegeben. Für derartige Ansprüche seien die Zivilgerichte nach § 40 Abs. 2 S. 1 1. Alt. VwGO zuständig.319 § 906 Abs. 2 S. 2 BGB analog war damit als Maßstab für den Entschädigungsanspruch wegen enteignenden Eingriffs entfallen. Diese Lösung liegt in der Konsequenz der Beschränkung des Anwendungsbereichs von § 17 Abs. 4 S. 2 BFStrG a. F.: Wollte der BGH bei planfestgestellten Straßen seine Zuständigkeit mittels zweier Zumutbarkeitsgrenzen verteidigen und dem Institut des enteignenden Eingriffs einen (wenn auch beschränkten Anwendungsbereich) sichern, so sah er sich jetzt gezwungen, auch bei anderen nachbarrechtlichen Ausgleichsansprüchen den Anwendungsbereich des Instituts zu beschneiden. Ob diese Entwicklung Bestand haben wird, ist jedoch ungewiß: Immerhin hat der BGH in seiner letzten Entscheidung vom 16.03.1995320 diesen Ansatz nicht wieder aufgenommen, sondern den Entschädigungsanspruch an die Grenzen des § 906 Abs. 2 S. 2 BGB analog gebunden.321 Es ist damit zur Zeit offen, ob der BGH den Anspruch wegen enteignenden Eingriffs endgültig von den Maßstäben des § 906 Abs. 2 S. 2 BGB lösen wird. Eine beachtliche Ausnahme von dem dargestellten Konzept der Entschädigung für Fluglärmimmissionen ist allerdings ein Vorlagebeschluß des BGH zum BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG vom 10.03.1978322 („Flughafen Salzburg"). Durch das Zustimmungsgesetz zu einem zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland geschlossenen völkerrechtlichen Vertrag waren Unterlassungsan3,5

BGHZ 59, 378 (380); 69, 105 (111); BGH, LM § 906 Nr. 64. Dazu oben § 2 Β II 1 d. 317 BGHZ 122,76. 3,8 Die Gleichsetzung der Wesentlichkeit in § 906 Abs. 1 BGB mit der Zumutbarkeit in § 906 Abs. 2 S. 2 BGB überzeugt nicht: Das Gesetz geht offensichtlich von zwei (auch inhaltlich verschiedenen) Begriffen aus. 319 BGHZ 122, 76 (78 f.). 320 BGHZ 129, 124. 321 BGHZ 129, 124 (125 f.). 322 BGH, DVB1. 1979,226. 316

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

Sprüche gegen den Fluglärm ausgeschlossen worden, den Flugzeuge beim An- oder Abflug zum bzw. vom Flughafen Salzburg verursachten. Wegen der Grenznähe des Flughafens überflogen diese Flugzeuge deutsche Grundstücke in sehr geringer Höhe. In dem Entzug von Unterlassungsansprüchen gegen diesen Fluglärm sah der BGH eine Legislativenteignung, da den Betroffenen eine Eigentumsfreiheitsklage nach §§ 1004 Abs. 1 i. V. m. 906 BGB entzogen und damit in den Bestand ihres Eigentums eingegriffen werde. 323 Zudem waren den Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme und eine Parteistellung in dem österreichischen Zulassungsverfahren versagt worden, so daß das Gericht neben Art. 14 GG auch eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips annahm, denn es fehle an der gebotenen verwaltungsgerichtlichen Kontrolle der angenommenen Enteignung.324 Nach diesem Vorlagebeschluß lag also in dem Entzug eines Abwehrrechtes eine Enteignung - dies entsprach dem Konzept aus BGHZ 54, 384 („Breitscheid"). Dieser Beschluß blieb allerdings - wie überhaupt Vorlagebeschlüsse im Rahmen von Art. 14 GG 325 - eine Ausnahme. Das BVerfG stufte die Bestimmungen des Staatsvertrages später allerdings nicht als Enteignung, sondern als Inhalts- und Schrankenbestimmung ein. 326 3. Immissionen von sonstigen hoheitlichen Veranstaltungen Im übrigen hatte sich die Rechtsprechung mit Immissionen von kleinräumigen, hoheitlich betriebenen Anlagen, etwa Kläranlagen 327 oder Mülldeponien328, oder mit Immissionen durch Manöver 329 zu befassen. Auch in diesen Fällen gewährte der BGH einen Entschädigungsanspruch, den er zunächst als Enteignungsentschädigungsanspruch,330 nach der Naßauskiesungsentscheidung des BVerfG 331 als öffentlich-rechtlichen Entschädigungsanspruch bezeichnete.332 Dogmatisch folgt dieser Anspruch ganz den in den Fällen des Verkehrs- und Fluglärms entwickelten Grundzügen: Der Anspruch ist gegeben, wenn Immissionen von hoher Hand nicht untersagt werden können und die Grenze dessen überschritten wird, was ein Eigentümer nach § 906 BGB entschädigungslos zu dulden verpflichtet ist. 323

BGH, DVB1. 1979, 226 (227). BGH, DVB1. 1979, 226 (228). S. auch die Darstellung in BVerfGE 72,66 (72). 325 Zum Verfahrensaufkommen s. u. § 3 A bei Fn. 14. 326 BVerfGE 72,66 (75 ff.). 327 BGH, NJW 1976, 1204; BGHZ 91, 20; 97,97 (in einer Amtshaftungssache); aus älterer Zeit BGH, LM § 906 BGB Nr. 17 - Immissionen von einem Soldatenclub. 328 BGH, NJW 1980, 770. Hier lag die Besonderheit darin, daß Tiere (Saatkrähen) die Immissionen waren, die, von der Mülldeponie angelockt, Saatgut auf umliegenden Feldern vernichteten. Im Zivilrecht ist streitig, ob Tiere Immissionen im Sinne des § 906 BGB sind. Vgl. dazu Soergel-/. F. Baur y § 906 Rz. 72. 329 BGH, LM § 906 BGB Nr. 61. 330 BGH, NJW 1976, 1204 (1205); LM § 906 BGB Nr. 61. 331 BVerfGE 58, 300. 332 BGHZ 91, 20 (21). 324

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In den hier behandelten Fällen ist allerdings eine Besonderheit zu beachten. Die Duldungspflicht gegenüber den Immissionen konnte mit dem Vorliegen eines entsprechenden Rechtsaktes nicht begründet werden, da es an derartigen Akten in der Regel fehlte. 333 Die Rechtsprechung war dennoch bemüht, Abwehransprüche gegen die jeweilige hoheitliche Veranstaltung auszuschließen. Alternativ wurden für diesen Ausschluß von Unterlassungsklagen zwei Begründungen herangezogen: Zum einen wurde darauf verwiesen, gegen die Ausübung hoheitlicher Gewalt sei ein Unterlassungsanspruch nicht gegeben.334 Zum anderen bediente sich die Rechtsprechung der Figur der gemeinwichtigen Anlage: Gegen gemeinwichtige Betriebe der öffentlichen Hand - so der BGH - seien Unterlassungsansprüche nicht gegeben.335 Trotz des durchgängigen Ausschlusses von Unterlassungsklagen prüfte das Gericht die Ortsüblichkeit der Nutzung des emittierenden Grundstückes.336 Diese Prüfung überrascht, denn sie ist für den bei Entschädigungsansprüchen postulierten Obersatz - Vorliegen gewichtigerer Immissionen als solcher, die nach § 906 BGB entschädigungslos hingenommen werden müssen - bedeutungslos. Wie unten 337 noch zu zeigen sein wird, kann die Rechtsprechung so verstanden werden, daß es beim Vorliegen nicht ortsüblicher Immissionen um eine Entschädigung wegen rechtswidriger Immissionen geht. Auf dieser Linie liegt es denn auch, wenn der BGH in einer Entscheidung sowohl die Frage nach der Ortsüblichkeit als auch die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Immissionen offenließ, so daß er einen Anspruch wahlweise wegen enteignenden oder enteignungsgleichen Eingriffs annahm.338

III. Staatliche Unfallhaftung Eine heterogene Gruppe von Fällen bilden Eigentumsbeeinträchtigungen, die in der jeweiligen Situation unvorhersehbar und unfallartig auftraten. In der Literatur werden sie unter dem Stichwort „Unfallhaftung" 339 zusammengefaßt. Als Folgen 333

Dieser Umstand erklärt wohl auch den formelhaften Zusatz „deren Zuführung nicht untersagt werden kann" (BGH, NJW 1976, 1204 [1205]; ähnlich auch BGH, LM §906 BGB Nr. 61 ; BGHZ 91,20 [21 ]), der sich so in der in Bezug genommenen Stelle BGHZ 64,220 (222) nicht findet. 334 BGH, LM § 906 BGB Nr. 17 (Bl. 2); LM § 906 BGB Nr. 61 (Bl. 2). Zu einer ähnlichen Formulierung s. schon oben § 2 A bei Fn. 66. 335 BGH, NJW 1976,1204 (1205); BGHZ 91,20(23). Vgl. auch BGHZ 29,314 (317); BGH, NJW 1965, 2335. 336 BGH, NJW 1976, 1204 (1205) (Ortsüblichkeit verneint); BGH, L M § 906 BGB Nr. 61 (Bl. 3) (Ortsüblichkeit bejaht); BGHZ 91,20 (Entscheidung offen gelassen). Abweichend BGH, NJW 1980,770. Nicht in dieses Schema paßt BGH, LM § 906 BGB Nr. 17, da die Entscheidung vor BGHZ 64,220 erging und der BGH hier einen Anspruch wegen versagter Abwehrklage annahm (vgl. ebd., S. 2). 337 S.u. § 5 A I 2 c ( l ) . 338 BGHZ 91, 20 (25). 339 Schmitt-Kammler, FS E. Wolf, 595 (614); ders., NJW 1990,2515 (2519); ders., JuS 1995, 473 (478); früher schon ähnlich Leisner, VVDStRL 20 (1961), 186 (236); übernommen etwa

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

derartiger Beeinträchtigungen wurden etwa entschädigt: Gebäudeschäden nach hoheitlich vorgenommenen Tiefbauarbeiten, namentlich Kanalisationsarbeiten,340 die Zerstörung einer Gastwirtschaft durch einen von der Straße abgekommenen Schützenpanzer,341 oder Schäden, die von der Jagd verschonte Graugänse auf Feldern durch Verkotung anrichteten. 342 Eine Entschädigung wurde weiter erwogen für unvorhersehbare Schäden bei einem Autobahnbau, soweit diese nicht von der Planfeststellung umfaßt waren. 343 Schließlich sollen die Schäden am Eigentum eines Unbeteiligten bei rechtsgemäßen polizeilichem Schußwaffengebrauch mittels des Instituts des enteignenden Eingriffs ausgeglichen werden. 344 Diese Unfälle zeichnen sich durch die fehlende Finalität des staatlichen Handelns gegenüber dem Geschädigten aus. Solange der BGH solche Beeinträchtigungen nicht als Eingriffe in das Eigentum verstand,345 blieb die Gewährung einer Entschädigung ausgeschlossen. Erst die Ausweitung des Enteignungsbegriffs auf nicht-finale Schädigungen ermöglichte eine Entschädigung wegen enteignenden Eingriffs. Die Aufgabe des Finalitätsmerkmals als Voraussetzung für einen Eingriff war zunächst bei anderen Rechtsgütem als dem Eigentum erfolgt. So erkannte der BGH trotz Fehlens einer gesetzlichen Regelung einen gewohnheitsrechtlich anerkannten und aus § 75 EinlprALR entwickelten Aufopferungsanspruch zu, wenn gesetzliche Schutzimpfungen zu Gesundheitsschäden geführt hatten, die deutlich über das normale Maß hinausgingen.346 Die Entscheidung begründete der BGH in Abwendung von reichsgerichtlicher Rechtsprechung damit, daß § 75 EinlprALR auch auf andere Rechtsgüter als Eigentum Anwendung finden könne.347 Ebenso erforderte die Be-

von Bryde, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 102; Lege, Zwangskontrakt, S. 78; Wendt, in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 179. 340 BGH, DÖV 1965, 203; BGHZ 57, 370; NJW 1978, 1051; BGHZ 72, 289; W M 1979, 1216; NJW 1981, 1663; NJW 1999,938. 341 BGH, NJW 1964, 104. 342 BGH, NVwZ 1988, 1066. 343 OLG Düsseldorf, NVwZ-RR 1994,6. 344 Soweit ersichtlich hatte die Rechtsprechung bei dieser Fallgestaltung bisher nur über Schäden an Leben und Gesundheit zu entscheiden, so daß ausschließlich ein Aufopferungsanspruch in Betracht kam. Vgl. OLG Schleswig, NJW 1951,605; BGHZ 20,81; VersR 1960,248. Ein Teil der Literatur geht für Schäden am Eigentum von einem enteignenden Eingriff aus. So etwa Jaenicke, VVDStRL 20 (1961), 135 (166) (Entschädigung wegen rechtmäßiger Aufopferung); Papier, DVB1. 1975, 567 (573); Rachor, in Lisken/Denninger (Hrsg.), HdbPolR L 4; wohl auch Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 367, 373 f.; für eine Haftung analog den gesetzlichen Entschädigungsregelungen für den im polizeilichen Notstand herangezogenen Bürger, also ebenfalls für eine Haftung bei rechtmäßigem Verhalten, sprechen sich aus LG Köln, NVwZ 1992, 1125; Drews /Vogel/WackelMartens, Gefahrenabwehr, S. 666; Friauf, in Schmidt-Aßmann (Hrsg.), BesVerwR, Kap. 2, Rz. 198; Treffer, Staatshaftung, S. 63. 345 BGHZ 12, 52 (57) (obiter dictum); 23,235 (240). 346 BGHZ 9, 83 (85 ff.). Vgl. vorher bereits OLG Schleswig, NJW 1951, 605 (606). 347 S. oben § 2 A in Fn. 44.

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gründung eines Sonderopfers trotz der gesetzlichen Impfpflicht einigen Aufwand. 348 Auf den Umstand, daß die Schädigung nicht final erfolgt war, ging der BGH dagegen gar nicht ein. Dies blieb auch in Folgeentscheidungen ohne Erörterung. 349 Bei Schädigungen des Eigentums hielt der BGH zunächst zumindest rhetorisch am Erfordernis der Finalität einer Schädigung fest. In seinem Urteil vom 10.11.1958350 („Trecker") erkannte er einen Anspruch wegen enteignenden Eingriffs für den Eigentümer eines Treckers an, der zu Hand- und Spanndiensten herangezogen worden war. Der Trecker war bei Arbeiten in einem Steinbruch mit starkem Gefälle beschädigt worden. Diese Schädigung sei aber nicht zufällig gewesen, sondern in dem Schaden habe sich gerade die der Tätigkeit innewohnende Gefahr verwirklicht. 351 Der Sache nach zeichnete sich schon in diesem Urteil die Abkehr vom Erfordernis finalen Handelns ab. Entscheidender Gesichtspunkt für die Entschädigung wurde in der Folgezeit denn auch die Unmittelbarkeit des staatlichen Handelns für die Eigentumsbeeinträchtigung. Mit seinem Urteil vom 15.03.1962352 („Schießübungen") gab der BGH das Merkmal der Finalität als Voraussetzung für einen die Entschädigungspflicht auslösenden Eingriff endgültig auf. Es genüge bereits, wenn eine hoheitliche Maßnahme unmittelbar auf das Eigentum einwirke. Dies nahm der BGH in dem in Rede stehenden Fall - gelagertes Holz war durch Schießübungen von Stationierungskräften in Brand geraten - an. 353 Besondere Schwierigkeiten bereitete die Frage, ob der eingetretene Totalverlust der Holzvorräte ein die Entschädigungspflicht auslösendes Sonderopfer sei. Dies bejahte der BGH mit der Erwägung, daß das in der Nähe des Übungsplatzes gelagerte Holz zwar mit der Gefahr geringer Beschädigungen (etwa durch Geschoßsplitter) oder einer erschwerten Abfuhr belastet gewesen sei. Die völlige Vernichtung des Bestands sei dagegen keine von vornherein bestehende Belastung, sondern ein Sonderopfer. 354 Diese Überlegungen zum Sonderopfer zeigen, daß der BGH von rechtsgemäßem Staatshandeln ausging: Bei rechtswidrigem Staatshandeln wäre das Sonderopfer nach einer kurz zuvor ergangenen Entscheidung des BGH 3 5 5 indiziert gewesen. An der Aufgabe der Finalität staatlichen Handelns als Voraussetzung für einen Eingriff hielt der BGH seitdem in ständiger Rechtsprechung fest. 356

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BGHZ 9, 83 (87 if.). BGHZ 20, 61 („Thorotrast"); 20, 81 (82) („fehlgehender Schuß"). 350 BGHZ 28,310. 351 BGHZ 28, 310 (313); noch unter zustimmender Zitierung von BGHZ 12, 52 (57). Vgl. auch Wagner, NJW 1966, 569 (571) („Verrenkungen"). 352 BGHZ 37,44. 353 BGHZ 37,44 (47). 354 BGHZ 37,44 (47 ff.). 355 BGHZ 32,208 (210ff.). 356 Vgl. etwa BGH, NJW 1964, 104; DÖV 1965, 203; Warn. 1968 Nr. 6 (S. 15); BGHZ 55, 229 (231); VersR 1972, 1047 (1048); VersR 1980,45. 349

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

Die Fälle der Unfallhaftung sind in zwei Richtungen abzugrenzen. Ein Anspruch wegen enteignenden Eingriffs greift erstens nicht Platz, soweit die Verwaltung den Bürger final mit einem Risiko belastet, das er nach der Rechtsordnung tragen muß. So verpflichtet der Impfzwang ausweislich des § 14 Abs. 1 S. 3 BSeuchG e contrario, die mit einer Impfung üblicherweise verbundenen Risiken zu tragen. Ebenso sind mit dem Wehrdienst bestimmte Gefahren verbunden, die dem einzelnen von der Rechtsordnung auferlegt werden. 357 In solchen Fällen erhält der Betroffene keine Entschädigung, auch soweit Eigentum betroffen ist. 358 Zweitens ist ein Anspruch wegen enteignungsgleichen (und nicht wegen enteignenden) Eingriffs heranzuziehen, wenn der handelnden Behörde rechtswidriges T\in vorzuwerfen ist. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn sie sorgfaltswidrig eine bestehende Gefahr unterschätzt oder erst gar nicht erkannt hat. 359 Dabei läßt die Rechtsprechung hinsichtlich der Frage nach der Anspruchsgrundlage die erforderliche Klarheit vermissen. So wird nicht deutlich, ob der BGH im Fall der Absenkung eines Hauses trotz lege artis durchgeführter Kanalisationsarbeiten wegen enteignenden oder enteignungsgleichen Eingriffs entschädigen will: In der ersten Entscheidung nach BGHZ 37, 44 („Schießübungen") nahm der BGH im Leitsatz eine Entschädigung wegen enteignungsgleichen Eingriffs an, spricht im Text aber vom Vorliegen eines „enteignenden oder enteignungsgleichen Eingriffs", ohne dies näher zu begründen.360 Weitere Unklarheiten schafft die Entscheidung vom 20.12.1971: Im Leitsatz spricht der BGH von einem „unmittelbaren enteignenden Eingriff" 361 , beurteilt die Absenkung des Hauses in der Folge allerdings nach § 909 BGB. Dieser sei heranzuziehen, da der Bürger jedenfalls solche Beeinträchtigungen von Seiten der öffentlichen Hand hinnehmen müsse, zu deren Duldung er auch nach bürgerlichem Nachbarrecht verpflichtet sei. 362 Nach § 909 BGB sei die Absenkung des Bodens unzulässig gewesen.363 Auf dieser Linie liegt es, wenn der BGH den vom Berufungsgericht angenommenen Anspruch wegen enteignungsgleichen Eingriffs offenbar billigt, ohne weiter darauf einzugehen. Dieser Widerspruch wird auch in Folgeentscheidungen nicht aufgelöst: So spricht der BGH in seinem Urteil vom 10.11.1977364 bei im wesentlichen gleicher Formulierung des Leitsatzes („unmittelbarer enteignender Eingriff") von einem Entschädigungsanspruch nach Art. 14 GG, obwohl er auch hier § 909 BGB erörtert; 365 in seinem Urteil vom 26.10.1978 erörtert er die Zumutbarkeit einer (doch nur gegen rechtswidriges Han357 358 359 360 361 362 363 364 365

BGHZ 20, 61 (64). Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 136ff.; Schmitt-Kammler, JuS 1995,473 (475). Zum Konzept des Erfolgsunrechts s. auch noch unten § 7 Β II. BGH, DÖV 1965, 203. BGHZ 57, 370 (Ls. 1). BGHZ 57, 370 (373 ff.). BGHZ 57, 370 (375). BGH, NJW 1978, 1051. BGH, NJW 1977, 1051 (1052f.); ähnlich auch BGH, WM 1979, 1216.

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dein gegebenen!) Abwehrklage, 366 läßt aber offen, ob wegen rechtmäßigen oder rechtswidrigen Eingriffs entschädigt werden müsse. Angesichts dieser Unklarheiten verblüfft es, wenn der BGH später in einer Amtshaftungssache die Erkenntnis, ein gegen § 909 BGB verstoßendes Handeln der öffentlichen Hand sei rechtswidrig, für so offensichtlich hält, daß eine gegenteilige Entscheidung eines Landgerichts ein Verschulden wegen Rechtsirrtums des handelnden Beamten nicht ausschließe.367 Selbst nach dieser Entscheidung ließ der BGH die Frage nach der Anspruchsgrundlage offen oder sprach von einem enteignenden Eingriff. 368 Auch in anderen Fällen ließ die Rechtsprechung häufig offen, ob sie Entschädigung wegen enteignenden oder enteignungsgleichen Eingriffs gewähren wollte. 369 Zum Teil beschränkte sie sich in der Sache auf die Prüfung einer Anspruchsgrundlage, wobei sie zum Teil nur den enteignungsgleichen Eingriff, 370 zum Teil nur den enteignenden Eingriff erörterte. 371 Warum in dem einen Fall nur auf die eine, in dem anderen Fall nur auf die andere Anspruchsgrundlage zurückgegriffen wurde, blieb ohne Begründung. Die einschlägigen Fälle sollen trotz dieser Schwierigkeiten hier erörtert werden: Sie werden von der Literatur häufig dem Institut des enteignenden Eingriff zugeschlagen und haben dogmatisch eine erhebliche Bedeutung für diese Rechtsfigur. Sie werden oftmals pars pro toto herangezogen, um die Beeinträchtigungen durch enteignende Eingriffe von der Geltung der Junktimklausel freizustellen. Dabei sei bereits hier betont, daß der BGH Entschädigungsansprüche nicht auf die Fälle der Unfallhaftung beschränkt. So formuliert das Gericht in einem jüngeren Urteil zu militärischen Tiefflügen: Es bedürfe der Aufgabe des „Unfallereignisses" als Tatbestandsmerkmal der gesetzlichen Anspruchsgrundlage der §§ 53,33 LuftVG nicht, da für die sonstigen, erst allmählich eintretenden Schäden - dann doch wohl die NichtUnfälle - Entschädigung aus dem Gesichtspunkt des enteignenden oder enteignungsgleichen Eingriffs zu gewähren sei. 372

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BGHZ 72, 289 (293 ff.). BGH, NJW 1980,1679. Grundsätzlich ging der BGH davon aus, daß eine billigende Entscheidung eines Kollegialgerichts das Verschulden eines Beamten wegen Rechtsirrtums ausschließe. Vgl. BGHZ 27,338 (343); 73,161 (164); 78,274 (279); 97,97 (107), etwas schwächer BGH, NJW 1989,96 (90); NJW 1994, 3162 (3164); NJW 1998,751. S. dazu auch Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 74ff.; Rüfner, in Erichsen (Hrsg.), AllgVerwR, § 47 Rz. 25 m. w. Nw. in Fn. 102; Steinberg/Lubberger, Aufopferung, S. 308 f. 368 BGH, NJW 1981,1663 (Im Leitsatz ist die Rede von einem „enteignenden Eingriff", das Urteil selbst spricht von „Grundsätzen des enteignungsgleichen oder enteignenden Eingriffs".) Vgl. zu diesem Problem auch Steinberg!Lubber ger y Aufopferung, S. 369 Fn. 208. 369 BGHZ 37, 44 (46); 55, 229 (231); VersR 1972, 1047 (1048); NVwZ 1987, 115; BGHZ 105, 65 (66); 117(240). 370 BGH, NJW 1964,104; 54,332 (337); VersR 1980,145; DVB1. 1983, 1056 (1057); OLG Hamm, NVwZ 1986,509; BGHZ 99,249. 371 BGHZ 100, 335 (337); NVwZ 1988, 1066. 372 BGHZ 123, 363 (368). 367

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

IV. Fälle im „Randbereich" Die soeben dargestellten drei großen Fallgruppen - Infrastrukturmaßnahmen, Immissionen, Unfallhaftung - sind in der Regel gemeint, wenn von dem Entschädigungsinstitut des enteignenden Eingriffs gesprochen wird. Oben wurde aber deutlich, daß der BGH schon in diesen Fällen oftmals die notwendige begriffliche Klarheit vermissen ließ. Die Unklarheiten in der Begriffsverwendung setzen sich in Fällen fort, die „am Rande" des Entschädigungsinstitut angesiedelt sind. In diesen Fällen bleibt die enteignungsrechtliche Einordnung durch den BGH ganz im unklaren, so daß Zweifel bestehen, ob sie dem Institut des enteignenden Eingriffs zugeordnet werden können. In diesen Randbereich gehören insbesondere die Beeinträchtigungen durch Anschluß- und Benutzungszwang und Verbote des Abbaus von Bodenschätzen.

1. Anschluß- und Benutzungszwang Die Gemeinden können (in Nordrhein-Westfalen etwa nach § 9 nwGO 373 ) durch Satzung für bestimmte Anlagen der Daseinsvorsorge, wie etwa Wasserleitungen oder Kanalisationsanlagen, im Gemeindegebiet einen Anschluß- oder Benutzungszwang anordnen. Derartige Anordnungen können Investitionen wertlos machen oder zum Verlust alter Rechte führen; von solchen Maßnahmen Betroffene verlangten in einigen Fällen von den handelnden Gemeinden Entschädigung.374 So klagte etwa ein Müllabfuhrunternehmer auf Entschädigung, für dessen Betrieb die wirtschaftliche Grundlage durch die Einführung einer gemeindlichen Müllbeseitigung entfallen war; 375 die Einführung eines öffentlichen Abwassernetzes führte zum Verlust eines alten Wasserableitungsrechtes, 376 der Anschlußzwang an ein gemeindliches Fernheizwerk ließ das vertragliche Warme-Bezugsrecht zu günstigeren Tarifen entfallen. 377 Die Rechtsprechung hat diese Fälle als nicht entschädigungspflichtig angesehen, wenn nicht besondere Rechtsverhältnisse vorlagen, was in dem letztgenannten Falle des gemeindlichen Fernheizwerks zumindest für möglich gehalten wurde. 378 Dabei 373 Nachweise der weiteren landesrechtlichen Regelungen bei Schmidt-Aßmann, in ders. (Hrsg.), BesVerwR, 1. Abschnitt, Rz. 114 m. Fn. 405. 374 Aus der Lit. dazu Büchs, Handbuch, Rz. 969ff.; BK-Kimminich, Art. 14 Rz. 271ff.; Nüßgens/Boujong, Eigentum, Rz. 194, 319; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 197ff.; Rüfner, in Erichsen (Hrsg.), Allg VerwR, § 48 Rz. 45; Schmidt-Aßmann, in ders. (Hrsg.), Bes VerwR, 1. Abschnitt, Rz. 114ff.; Steinberg! Lubberger, Aufopferung, S. 176ff.; aus der Rechtsprechung des BVerwG v. a. BVerwG, DVB1. 1960, 396; BVerwGE 62, 224. 375 BGHZ 40, 355. 376 BGHZ 54, 293. 377 BGHZ 77,179. 378 BGHZ 40, 355 (358, 362); 54, 293 (296); 77, 179 (181).

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wechselten die Formulierungen mehrfach. Es sei kein „enteignender oder enteignungsgleicher Eingriff" 379 oder keine Maßnahme mit „enteignendem Charakter mit der Folge einer Entschädigungspflicht" 380 gegeben, ein „entschädigungspflichtiger Eingriff nach Enteignungsgrundsätzen"381 fehle, da die Maßnahmen keinen „enteignenden Eingriff" 382 darstellten und keinen „enteignenden Tatbestand"383 erfüllten. Zur Begründung dieses Ergebnisses verwies der BGH auf die „Pflichtigkeit" 384 des Grundeigentums oder des Gewerbebetriebes. Das Eigentum sei wegen seiner Lage auf dem Gebiet der Gemeinde von vornherein mit der Gefahr belastet gewesen, durch Einführung eines Anschluß- und Benutzungszwangs Einbußen zu erleiden - es stelle daher keinen Eingriff in das Eigentum dar, wenn die Gemeinde insoweit von ihrer gesetzlichen Befugnis zum Satzungserlaß Gebrauch mache.385 Ergänzend verweist die Rechtsprechung auf die Bedeutung des Anschluß- und Benutzungszwangs für die Abwehr von Gesundheitsgefahren und so auf die Figur des „polizeiwidrigen Eigentums", das keinen Schutz verdiene. 386 Die Literatur hat sich dieser Rechtsprechung teilweise angeschlossen,387 die Urteile sind jedoch auch auf Kritik gestoßen.388 Für die Reichweite des Instituts des enteignenden Eingriffs ist auf folgendes hinzuweisen: Der BGH lehnte in den Fällen des Anschluß- und Benutzungszwangs zwar grundsätzlich eine Entschädigung ab, hielt sie in besonderen Konstellationen aber für möglich, wie der Fall des gemeindlichen Fernheizwerkes 389 zeigt. Da es in den Gemeindeordnungen an Entschädigungsregelungen fehlt, läge es mit Blick auf die angesprochenen Formulierungen nahe, daß der BGH in Sonderfällen wegen enteignenden Eingriffs entschädigen wollte. 390 Man hätte es hier mit einer Gruppe enteignender Eingriffe zu tun, die einer besonderen Untersuchung bedürften. Diese Einordnung läge in der Konsequenz der gerichtlichen Konzeption, bleibt freilich bis zu

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BGHZ 40, 355 (356). BGHZ 40, 355 (358). 381 BGHZ 40,355 (362). 382 BGHZ 54,293 (296); 77, 179 (181). 383 BGHZ 54, 293 (295); 77, 179 (183); bestätigend BGHZ 133,265 (270) (obiter dictum). 384 Zu dieser Figur bereits oben § 2 A bei Fn. 56. 385 BGHZ 40, 355 (360,365) (unter Rückgriff auf § 18 DGO 1935); 54,293 (297). 386 BGHZ 40, 355 (361); 54,293 (296). 387 Bryde, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 20; Forsthoff\ VerwR I, § 27 B, S. 544; Jarass, in Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rz. 19; Nüßgens/Boujong, Eigentum, Rz. 194; Papier, in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 103; Rüfner, in Erichsen (Hrsg.), AllgVerwR, § 48 Rz. 45; Steinberg! Lubberger, Aufopferung, S. 180. 388 Badura, DÖV 1964,539; BK-Kimminich, Art. 14 Rz. 271 ff.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 197 m. w. Nw. in Fn. 167; Schmidt-Aßmann, in ders. (Hrsg.), BesVerwR, 1. Abschnitt, Rz. 117; Wendt, in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 50. 389 BGHZ 77, 179. 390 So auch das Verständnis des BayVGH in NVwZ 1983,423 (424). 380

5*

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

einem gewissen Grade spekulativ.391 Auf eine Auseinandersetzung kann deshalb hier verzichtet werden. 2. Abbau von Kies, Sand und anderen Bodenschätzen Welche Schwierigkeiten es bereitet, die Grenzen des Entschädigungsinstituts zu bestimmen, zeigen auch einige Entscheidungen zum Abbau von Bodenschätzen. Dies sei an drei Beispielsfällen zur Naßauskiesung verdeutlicht. In der grundlegenden Entscheidung des BGH in BGHZ 60, 126 („Ur-Naßauskiesung") bewertete das Gericht die Versagung einer Genehmigung zur Naßauskiesung nach § 6 WHG als „Enteignung"392, sprach aber auch von einer „enteignenden [...] Maßnahme"393, die einen Entschädigungsanspruch auslöse. Für diesen behaupteten Anspruch fehlte es an einer gesetzlichen Grundlage. Insbesondere der vom BGH erwähnte § 19 Abs. 3 WHG war insoweit unbrauchbar: Diese Norm regelt nur die Entschädigungen für Schutzgebietsanordnungen, sieht aber keine Entschädigungen für Genehmigungsversagungen vor. Die in Rede stehende Konstellation erfaßte § 19 Abs. 3 WHG also ausweislich seines klaren Wortlauts nicht. Es blieb letztlich offen, welche Anspruchsgrundlage der BGH an Stelle dieser gesetzlichen Norm heranziehen wollte. In einer Entscheidung vom gleichen Tage394 prüfte der BGH im Zusammenhang mit einer Schutzgebietsanordnung einen „enteignenden Eingriff". 395 Der Begriff bezeichnete hier indes eine bestimmte Handlungsform und kein Entschädigungsinstitut, 396 denn für die Nachteile infolge einer Schutzgebietsanordnung hatte der Gesetzgeber ja in § 19 Abs. 3 W ^ G eine Entschädigungsregelung getroffen, deren Voraussetzungen der BGH in casu allerdings nicht als gegeben ansah. In einer dem Sachverhalt von BGHZ 60, 126 („Ur-Naßauskiesung") ganz ähnlichen Entscheidung - rechtsgemäße Genehmigungsversagung für eine Naßauskiesung - sprach der BGH wieder durchgängig vom Vorliegen einer Enteignung.397 Als Anspruchsgrundlage für die gewährte Entschädigung sollte § 19 Abs. 3 WHG analog dienen, gestützt auf die Erwägung, daß Schutzgebietsanordnungen in der Regel den Abbau von Bodenschätzen untersagten und der Rechtsgedanke der Vorschrift auch dann heranzuziehen sei, wenn der Abbau nicht durch eine Schutzgebietsanordnung, 391 Staudinger-Se/fer, vor §§ 903 ff. Rz. 38; Windthor st ßproll, Staatshaftungsrecht, § 16 Rz. 46. 392 BGHZ 60, 126 (Ls. b). Zum Tatbestand dieser Entscheidung s. bereits oben § 2 A bei Fn. 71. 393 BGHZ 60, 126(130). 394 BGHZ 60, 145. 395 BGHZ 60, 145 (Ls., ebenso S. 149). 396 Zu diesem Unterschied noch unten, § 2 C bei Fn. 408. 397 BGH, ZfW 1975,45 (47).

C. Begrifflichkeit

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sondern durch die Versagung einer Genehmigung erfolge. 398 Tatsächlich handelt es sich um eine nachgeschobene Begründung des BGH, die nicht überzeugen kann, weil sie die Versagung einer Genehmigung mit der planerischen Entscheidung einer Schutzgebietsanordnung entgegen der Systematik des WHG gleichsetzt und zudem den Willen des Gesetzgebers offen ignoriert. 399 Es liegt nahe, im Fall von BGHZ 60, 126 („Ur-Naßauskiesung") ebenso wie in dem letztgenannten Falle als Anspruchsgrundlage das Institut des enteignenden Eingriffs anzusehen, wie dies in der Literatur verschiedentlich getan wird. 400 Denn es fehlte eine gesetzliche Anspruchsgrundlage für den zuerkannten Entschädigungsanspruch, zugleich nahm der BGH an, die Verwaltung habe rechtsgemäß gehandelt.401 Nachdem § la Abs. 3 Nr. 1 WHG das Recht zur Grundwassernutzung in der Weise aus dem Grundeigentum hinausdefiniert hat, daß die Nutzung einer Erlaubnis oder Bewilligung bedarf, 402 ist eine Entschädigung heute nicht mehr statthaft. Denn das Grundeigentum ist von vornherein dahingehend ausgestaltet, daß derartige Nutzungen nicht vom Schutzbereich der Eigentumsgarantie umfaßt werden. 403 Ausnahmen läßt der BGH allerdings dann zu, wenn die Versagung einer Abbaugenehmigung oder einer Planfeststellung nicht auf wasserrechtlichen Gründen beruht. 404

C. Begrifflichkeit Der weite Enteignungsbegriff der zivilgerichtlichen Rechtsprechung ist die Ursache für die Schwierigkeiten, die bei der Abgrenzung des Rechtsinstitutes des enteignenden Eingriffs auftreten. Aus dem Blickwinkel dieses Begriffs erscheinen Fragen nach der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit einer Maßnahme oder nach ihrer Finalität ebenso als nutzloser Zierat und dogmatische Haarspalterei wie die Frage, ob es sich beim jeweiligen hoheitlichen Handeln um einen Rechtsakt oder einen Realakt 398

Die Urteile BGHZ 60, 126 und BGH, ZfW 1975, 45 stießen insb. im wasserrechtlichen Schrifttum auf einhellige Kritik. Vgl. die umfassenden Nachweise in BVerfGE 45,63 (81). 399 Vgl. BGH, ZfW 1975,45 (47): „Auf die Ansicht und den Willen des Gesetzgebers kann es gerade dann nicht entscheidend ankommen, wenn es um das Verhältnis des anzuwendenden einfachen Gesetzes zu höherrangigem Recht geht." Der Verstoß gegen das Verwerfungsmonopol des BVerfG ist augenfällig; später (BGH, NJW 1978,2290 [2291]) gab der BGH seine Ansicht wieder auf. 400 Achterberg, AllgVerwR, § 25 Rz. 71 m. Fn. 89; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 272; Papier, Jura 1981,65 (73); Schwerdtfeger, JuS 1982, 1 (6 m. Fn. 51); Soergel-/. F. Baur, § 903 Rz. 230ff.; auch in BT-Drucks. 8/2079, S. 55. 401 BGHZ 60, 126(137). 402 Zu dieser Neuregelung noch unten § 2 D12 bei Fn. 472. 403 BGHZ 84, 223 (226). 404 BGHZ 90, 4 (9). Als Entschädigungsgrundlage zog der BGH hier allerdings Art. 153 Abs. 2 S. 2 WRV heran, so daß diese Fallkonstellation sub specie „enteignender Eingriff" keiner Behandlung bedarf. Krohn, W M 1984,825 (825 f.); kritisch Bryde, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 102; Lege, NJW 1990, 864 (870f.).

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

handele. Dementsprechend unterscheiden sich die Stellungnahmen zum Institut des enteignenden Eingriffs oftmals schon darin, welche Fälle überhaupt erfaßt werden sollen.405 Daher erscheinen einige Erläuterungen zur Begrifflichkeit geboten. Daß der Begriff „enteignender Eingriff" in die Irre führt, läßt sich leicht belegen. Sicher ist, daß enteignende Eingriffe weder stets enteignen noch stets (finale) Eingriffe sind. 406 Denn jedenfalls die nicht-finalen Beeinträchtigungen im Bereich der Unfallhaftung sind keine Enteignungen. Ob diese Aussage allerdings generell gilt oder ob sich nicht doch unter der Bezeichnung enteignender Eingriff Enteignungen verbergen, wird noch zu prüfen sein.407 Der Begriff des enteignenden Eingriff ist zudem aus zwei weiteren Gründen verfehlt, einem semantischen und einem rhetorischen: Zunächst ist daraufhinzuweisen, daß der Begriff „enteignender Eingriff" zwei unterschiedliche Bedeutungen hat, die beide in der Rechtsprechung verwendet werden. Bezogen auf ein hoheitliches Handeln bezeichnet der Begriff solche Beeinträchtigungen des Eigentums, die über das Maß entschädigungslos hinzunehmender Sozialbindung hinausgehen, „enteignender Eingriff" ist damit ein Synonym für die Enteignung im Sinne des BGH. Bei dieser Begrifflichkeit geht es also keineswegs um Entschädigung wegen enteignenden Eingriffs (als Entschädigungsinstitut), sondern um Beeinträchtigungen durch enteignenden Eingriff (im Sinne eines bestimmten Maßes an Beeinträchtigung). Diese Begriffsverwendung ist durchaus häufig in der Judikatur des BGH 4 0 8 aber auch der des BVerfG 409 anzutreffen - sie entspricht dem Wortsinn, da mit „Eingriff" zunächst nur eine bestimmte Einwirkung auf eine geschützte Position bezeichnet wird. Schon wegen der offenbaren Doppeldeutigkeit ist die Bezeichnung „enteignender Eingriff" also alles andere als glücklich gewählt, da sie sprachlich das Maß bestimmter hoheitlicher Beeinträchtigungen des Eigentums mit der Frage ihrer Entschädigung und deren Rechtsgrundlagen vermengt. Rhetorisch deutet der Begriff „enteignender Eingriff" eine große Parallelität zum Anspruch wegen enteignungsgleichen Eingriffs an. Dies mag mit Blick auf die Ähnlichkeit der Tatbestandsmerkmale bis zu einem gewissen Grade berechtigt sein, gibt aber auch Anlaß zu der Vermutung, beim enteignenden Eingriff handele es sich um 405

Vgl. etwa die Differenz zwischen Schmitt-Kammler, FS E. Wolf, 595 (614) und Maurer, DVB1. 1991, 781 mit der Klarstellung von Maurer, AllgVerwR, § 26 Rz. 109. 406 Im Anschluß an die berühmte Sentenz von //. J. Wolff/ Bachof, VerwR I, § 601 c 2a, S. 529 zum enteignungsgleichen Eingriff. 407 Dazu § 5 A. 408 Vgl. etwa BGHZ 30,123 ( 125 f.); 30,281 (285); 31,49 (53); 31,244 (249); 32,240 (245); 32,338 (340); 34, 188; 80,116; 111,349 (356). 409 BVerfGE 58, 300 (322). Vgl. auch Büchs, Handbuch (1996!), der das 5. Kapitel, Rz. 1019 ff. mit „Der enteignende Eingriff" überschreibt, und im folgenden Enteignungen, enteignungsgleiche Eingriffe und enteignende Eingriffe erörtert. In der Literatur mit der gleichen Begriffsverwendung Böhmer, NJW 1988,2561 (2562,2566); Wey reuther, Verfassungswidrigkeit, passim.

D. Konsolidierung einer Rechtsfigur

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ein Rechtsinstitut, das nach Alter, dogmatischer Durchdringung und praktischer Bedeutung dem enteignungsgleichen Eingriff entspreche. Dies ist allerdings nicht der Fall: Der enteignende Eingriff ist ein ,junges" Rechtsinstitut, dessen Konsolidierung selbst bis Anfang der 80er Jahre noch nicht abgeschlossen war. 410 Es ist bis auf einige neue Arbeiten, die sich bezeichnenderweise gleich kritisch mit der Frage nach dem Fortbestand des Instituts befassen, 411 nicht Gegenstand monographischer Behandlung gewesen. Auch praktisch ist der enteignende Eingriff von deutlich geringerer Bedeutung als der enteignungsgleiche Eingriff. Es ist auf folgendes hinzuweisen: Die Arbeit hält trotz dieser Bedenken an der überkommenen Terminologie fest, weil sich diese eingebürgert hat. Im weiteren Verlauf werden folgende Bezeichnungen verwendet: Enteignender Eingriff bezeichnet hoheitliches Handeln, das nach der zivilgerichtlichen Rechtsprechung einen öffentlich-rechtlichen Entschädigungsanspruch ohne gesetzliche Grundlage für rechtsgemäßes Staatshandeln im Bereich des Eigentums auslöst. Die bewirkten Folgen werden als Beeinträchtigungen durch enteignende Eingriffe benannt. Für den im konkreten Fall zugesprochene Anspruch wird die Bezeichnung Anspruch wegen enteignenden Eingriffs verwandt. Das richterrechtlich gebildete Rechtsinstitut einer Entschädigung in diesen Fällen wird Institut (oder: Figur) des enteignenden Eingriffs genannt. Die Reichweite dieses Entschädigungsinstituts und damit dieser Untersuchung richtet sich nach der Rechtsprechung. Die Figur umfaßt die Beeinträchtigungen wie sie in den § 2 Β I—III dargestellt wurden, nicht dagegen die Beeinträchtigungen im Randbereich nach § 2 Β IV. Denn in den Fällen des Anschluß- und Benutzungszwangs hat der BGH keine Entschädigung gewährt. Beim Abbau von Bodenschätzen liegt dies zwar anders, dieser zweite Bereich gehört aber zum Vollzug von Inhaltsund Schrankenbestimmungen und folgt daher eigenen Regeln.412 Diese Beschränkung der Arbeit wird auch gerechtfertigt durch den Umstand, daß die Fälle im Randbereich nur gelegentlich als Fälle eines enteignenden Eingriffs angesehen werden und - bei allem Streit im übrigen - einer Ausweitung des Rechtsinstitutes des enteignenden Eingriffs niemand das Wort redet.

D. Konsolidierung einer Rechtsfigur Angesichts des weiten Enteignungsbegriffs in der Rechtsprechung, der jegliche übermäßige Eigentumsbeeinträchtigung als Enteignung ansah, überrascht es nicht, 410

Dazu sogleich unter § 2 DI. Zu nennen sind die Dissertationen von Stöhr, Aspekte (1992) und Jaschinski, Fortbestand (1997). Vgl. auch Ossenbühl, Staatshaftungsrecht4, S. 226, der bis auf einen Hinweis auf das Standardwerk von Nüßgens/Boujong, Eigentum, S. 205 ff. ganz auf Literaturangaben verzichtet. 4,2 Lege, NJW 1990, 864 (870f.). 411

72

§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

daß die dogmatische Einordnung des enteignenden Eingriffs, als Binnendifferenzierung innerhalb des Enteignungsbegriffs, von der rechtswissenschaftlichen Literatur erst sehr spät, wenn überhaupt, geleistet wurde. Ob es ein eigenständiges Entschädigungsinstitut des enteignenden Eingriffs gab oder geben sollte, blieb ebenso umstritten wie die Frage, welche Fälle diesem Institut gegebenenfalls zuzuordnen seien. Eine gewisse Konsolidierung der Rechtsfigur wurde erst Mitte der 70er Jahre durch die Diskussionen über das Staatshaftungsgesetz erreicht.

I. Dogmengeschichtliche Entwicklung 1. Entwicklung im Schrifttum Die rechtswissenschaftliche Literatur hatte lange Zeit Schwierigkeiten mit der Figur des enteignenden Eingriffs. Das angefallene Material wurde zwar zur Kenntnis genommen und diskutiert, unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zusammengeführt wurde es indes erst sehr spät. Dies spiegelt sich deutlich in den Standardwerken zum Verwaltungs- und Staatshaftungsrecht, die als Gebrauchsliteratur für die Praxis besondere Relevanz hatten. In diesem Prozeß der Anerkennung des Instituts des enteignenden Eingriffs lassen sich drei Phasen unterscheiden: Bis Anfang der 70er Jahre war sich die Literatur eines eigenständigen Instituts des enteignenden Eingriffs nicht bewußt. In der Folgezeit behandelten die Arbeiten zum Staatshaftungsrecht zwar das Thema, gingen aber von einem Unterfall des enteignungsgleichen Eingriffs aus. Erst Anfang der 80er Jahre setzte sich der enteignende Eingriff neben dem enteignungsgleichen Eingriff als eigenständiges Institut durch. Bis Anfang der 70er Jahre dominierten die Lehrbücher von H. J. Wolff (später zusammen mit O. Bachof) 413 und E. Forsthoff 414 das Verwaltungsrecht. 415 Obwohl aber der BGH spätestens seit seinem Urteil BGHZ 37,44 („Schießübungen") immer wieder Entschädigungen aufgrund eines als rechtsgemäß angenommenen hoheitlichen Handelns gewährt hatte, nahmen weder H. J. Wolff noch E. Forsthoff ein einheitliches Entschädigungsinstitut an, das als Sammelbegriff zum Ausgleich derartiger Beeinträchtigungen gedient hätte. Die Verortung der auflaufenden Judikatur im System öffentlich-rechtlicher Ersatzleistungen fiel im Vergleich beider Werke dabei unterschiedlich aus. H. J. Wolff und O. Bachof sahen im Konzept des BGH zwischen den rechtsgemäßen Enteignungen und den rechtswidrigen enteignungsgleichen Eingriffen keine 4,3 H. J. Wolff, ; VerwR I, 1956; später als H. J. Wolff /Bachof, 9. Aufl., 1974 (fortgeführt von Bachof)\ nunmehr in 11. Aufl. als H. J. Wolff! Bachof /Stober, VerwR I, allerdings unter Verzicht auf eine Darstellung des Staatshaftungsrechts. 414 Forsthoff; VerwR I, 1950; letzte Auflage ders., VerwR I 1 0 , 1973. 4,5 Vgl. Stolleis, in Simon (Hrsg.), Rechtswissenschaft, 227 (240); Thieme, DÖV 1996, 756 (756 f.).

D. Konsolidierung einer Rechtsfigur

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Lücke, die mit der Figur des enteignenden Eingriffs hätte geschlossen werden müssen. Bei den nicht-finalen Nebenfolgen von Verwaltungshandeln sei zu unterscheiden: Bei Rechtmäßigkeit der Beeinträchtigungen lägen Enteignungen vor, bei Rechtswidrigkeit der Beeinträchtigungen enteignungsgleiche Eingriffe 416 - tertium non datur. Immissionen von hoheitlichen Veranstaltungen sollten dagegen unter dem Stichwort der Aufopferung in Engführung mit dem privatrechtlichem Aufopferungsanspruch behandelt werden. 417 So ließen sich die auflaufenden Fälle ohne eine eigenständige Figur des enteignenden Eingriffs einordnen. E. Forsthoffs Konzeption unterschied sich elementar von der Position H. J. Wolffs/O. Bachofs, denn dieser Autor nahm sehr wohl eine Lücke im System der öffentlich-rechtlichen Ersatzleistungen an. Diese Differenz beruhte im Kern darauf, daß E. Forsthoff die Ausweitung des Eingriffsbegriffs und damit auch des Enteignungsbegriffs auf die nicht-finalen Schädigungen vehement ablehnte.418 Zwar könne dahinstehen, ob der ungezielte Eingriff nicht ein „sprachliches und logisches Unding" sei, 419 an der Finalität des Eingriffs sei jedenfalls festzuhalten, um die begrifflichen Konturen nicht völlig zu verwischen und damit die Sachlogik der Enteignung aufzugeben. 420 In der Konsequenz dieser Konzeption lag es, daß E. Forsthoff neben der Amtshaftung für rechtswidrig-schuldhaftes Verwaltungshandeln, dem enteignungsgleichen Eingriff für rechtswidrig-schuldloses Handeln421 und der Enteignung für rechtmäßige Beeinträchtigungen eine öffentlich-rechtliche Gefährdungshaftung forderte. 422 Diese öffentlich-rechtliche Gefährdungshaftung sollte die nicht-finalen Beeinträchtigungen entschädigen, die in dem überkommenen System der öffentlich-rechtlichen Ersatzleistungen keinen Platz fanden, weil es sich eben nicht um Eingriffe handelte. Damit bestand aber auch in diesem System für ein Entschädigungsinstitut des enteignenden Eingriffs weder Raum noch Bedarf. Denn die Fälle der Unfallhaftung konnte E. Forsthoff nun dem Bereich der öffentlich-rechtlichen Gefährdungshaftung zuordnen, während die Beeinträchtigungen bei der Durchführung von Infrastrukturmaßnahmen als Enteignungen einzustufen seien.423 Die Einordnung der Immissionsfälle blieb allerdings unklar; E. Forsthoff erwähnte sie zwar

4,6

H. J. Wolff /Bachofy VerwR I, § 601 c 4, S. 530; § 60IV b, S. 533. H. J. Wolff I Bachof, VerwR I, § 611 c, S. 535. In diesem Zusammenhang sprachen sie zwar von einem Anspruch „wegen enteignenden Eingriffs", meinten aber kein Entschädigungsinstitut, sondern ein bestimmtes Ausmaß der Beeinträchtigung. Dazu bereits oben § 2 C bei Fn. 408. 4.8 Das Festhalten an diesem Konzept war Forsthoff so wichtig, daß er bereits im Vorwort betonte, seine Position nicht aufgeben zu wollen. Ein Abrücken von dieser Position, gebe „den auflösenden Tendenzen der modernen Rechtsentwicklung Raum", dem werde er sich nicht anschließen (Forsthoff,; VerwR I, S. V). 4.9 Forsthoff, VerwR I, § 18.2, S. 347. 420 Forsthoff,; VerwR I, § 19.1, S. 359. 421 Forsthoff,; VerwR I, § 18.4, S. 356 ff. 422 Forsthoff,; VerwR I, § 19.1, S. 359ff. 423 Forsthoff,; VerwR I, § 21.2, S. 406 f. 417

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

im Zusammenhang mit der Gefährdungshaftung, 424 behandelte sie dann aber erneut unter Ablehnung einer (Enteignungs- [?]) Entschädigung beim Recht der Straßenanlieger. 425 So sehr sich beide Konzeptionen unterschieden: Für ein eigenständiges Rechtsinstitut des enteignenden Eingriffs sahen die Autoren weder ein Bedürfnis noch einen Anhaltspunkt. Diese Meinung kann bis zum Beginn der 70er Jahre als herrschend angesehen werden. Denn auch die führenden Kommentare zum Grundgesetz verzichteten auf die Rechtsfigur eines enteignenden Eingriffs und beschränkten sich auf den Dualismus von Enteignung und enteignungsgleichem Eingriff. 426 Vereinzelt wurde allerdings bereits auch ein neues Entschädigungsinstitut in der Rechtsprechung des BGH vermutet, dem jedoch verfassungsrechtliche Bedenken wegen eines Verstoßes gegen die Junktimklausel entgegengehalten wurden. 427 Soweit das Institut der Sache nach anerkannt wurde, blieb es zumindest bei Zweifeln, ob für nicht-gezielte Beeinträchtigungen nicht der Aufopferungsgedanke anstelle von Art. 14 GG die richtige Rechtsgrundlage sei. 428 In den 70er Jahren veränderte sich die Lage. Das Staatshaftungsrecht war inzwischen Gegenstand von lehr- und handbuchartigen Darstellungen geworden, die zur dogmatischen Durchdringung des Rechtsgebietes beitrugen. Auch diese Arbeiten ließen aber die Schwierigkeiten erkennen, ein Institut des enteignende Eingriff in das System öffentlich-rechtlicher Ersatzleistungen einzuordnen. Dies zeigen die einflußreichen Darstellungen von B. Bender 429, F. Ossenbühl430 und W. Rüfner 431 . Alle Autoren behandelten den enteignenden Eingriff im Zusammenhang mit dem enteignungsgleichen Eingriff. 432 Das Spezifische des enteignenden Eingriffs sollte 424 425

Forsthoff,;

VerwR I, § 18.2, S. 347.

Forsthoff,; VerwR I, § 21.2, S. 405 m. Fn. 6. 426 S. Kimminich, Eigentum, Rz. 119ff.; 232 ff. (Sonderdruck aus dem Bonner Kommentar); Maunz, in Maunz/Dürig/Herzog, Art. 14 (Stand: 1969) Rz. 69 ff.; 94 ff. Aus dem übrigen Schrifttum etwa Bauschke / Kloepfer, NJW 1971,1233 (die sogar die Figur des enteignungsgleichen Eingriffs ablehnten, dagegen wiederum Papier, NJW 1971, 2157); Bender, NJW 1965, 1297 (1300); Kimminich, JuS 1969,349 (350). 427 Janssen, NJW 1962,939 (940ff.); G. Konow, Eigentumsschutz, S. 28f.; 41 ff.; K-O. Konow, BB 1967,103; Kriele, DÖV 1967,531 (538); resignierend Rüfner, BB 1968,881 (884) (es gebe „kein zurück mehr"). Später auch Breuer, Bodennutzung, S. 95. 428 Döbereiner, NJW 1968,1916(1917). Wieder anders Wagner, NJW 1967,2333, derein eigenständiges Institut des enteignenden Eingriffs für nicht-finale Beeinträchtigungen oder Unglücksfälle in der Rechtsprechung des BGH erkennen wollte, das er aber als Unterfall des enteignungsgleichen Eingriffs verstand (Wagner, NJW 1967, 2333 [2337]); so auch Heidenhain, Amtshaftung, S. 88 m. Fn. 5; Kriele, DÖV 1967,531 (538) und die führenden Lehrbücher in den 70er Jahren, s. sogleich im Text. 429 Bender, Staatshaftungsrecht2, 1974. 430 Ossenbühl, Staatshaftungsrecht2, 1978. 431 Rüfner, in Erichsen/Martens (Hrsg.), AllgVerwR3, 1978, S.416ff. 432 Vgl. Bender, Staatshaftungsrecht2, Rz. 75ff.; 158ff.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht2, S. 151 („4. Teil: Der enteignungsgleiche und enteignende Eingriff"); Rüfner, in Erichsen/Mar-

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die fehlende Finalität der hoheitlichen Beeinträchtigung sein,433 die Entschädigung aber sollte-trotz der Rechtmäßigkeit des staatlichen Handelns - wegen enteignungsgleichen Eingriffs erfolgen. So schrieb etwa F. Ossenbühl von der „Erweiterung des enteignungsgleichen Eingriffs auf rechtmäßige Eingriffe" 434 . Als Fälle wurden vor allem die staatliche Unfallhaftung genannt, zum Teil auch die Beeinträchtigung durch Infrastrukturmaßnahmen 4 3 5 Nach diesem Verständnis handelte es sich um Sonderfälle des enteignungsgleichen Eingriffs, nicht aber um einen Entschädigungsanspruch aus einem eigenständigen Rechtsinstitut. Die heute wichtigste Fallgruppe des enteignenden Eingriffs, die Immissionen von hoheitlichen Veranstaltungen, fand ihren Platz dagegen - wie schon bei H. J. Wolff/O. Bachof - außerhalb dieses Systems. Sie wurden als Parallelfälle zum bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruch 436 oder als nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch erörtert. 437 Arbeiten vom Beginn der 80er Jahre behandelten den enteignenden Eingriff schließlich als eigenes Entschädigungsinstitut mit dem oben beschriebenen Anwendungsbereich 438 Dabei blieb die Einordnung der Figur zwischen Enteignung und enteignungsgleichem Eingriff unklar. Der enteignende Eingriff unterfalle, so etwa H. Maurer, nicht der Junktimklausel und sei deshalb trotz des Fehlens einer Entschädigungsregelung rechtmäßig und daher kein enteignungsgleicher Eingriff - mit dieser Begründung sollten insbesondere Unterlassungsansprüche ausgeschlossen sein.439 Aber auch in dieser Zeit war weiter umstritten, ob es neben der Enteignung und dem enteignungsgleichen Eingriff eine eigenständige Figur des enteignenden Eingriffs in der Rechtsprechung des BGH gebe440 oder geben sollte.441 Selbst der Vorsitzende Richter am BGH F. Kreft ging 1980 offenbar noch von einer Zweiteilung des Entschädigungsrechts in Enteignung und enteignungsgleichen Eingriff - also tens (Hrsg.), AllgVerwR3, § 52 III 1, S. 433. („III. Enteignungsgleicher und enteignender Eingriff"). 433 Bender, Staatshaftungsrecht2, Rz. 75; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht2, S. 153; Rüfner, in Erichsen/Martens (Hrsg.), AllgVerwR3, § 52 ΠΙ 1, S. 433. 434 Ossenbühl, Staatshaftungsrecht2, S. 153; ähnlich noch heute Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S.218. 435 Ossenbühl, Staatshaftungsrecht2, S. 153; Rüfner, in Erichsen/Martens (Hrsg.), AllgVerwR3, § 52 III 1, S. 433 ff.; für die Infrastrukturmaßnahmen spricht Bender dagegen von einer enteignungsrechtlichen Konzeption, vgl. Bender, Staatshaftungsrecht2, Rz. 93. 436 Ossenbühl, Staatshaftungsrecht2, S.90ff. 437 Bender, Staatshaftungsrecht2, Rz. 158 ff. 438 Maurer, AllgVerwR1, § 26 Rz. 56 ff.; später auch Faber, Verwaltungsrecht1, § 37 II, S. 382; weniger deutlich Papier, Jura 1981,65. Symptomatisch auch die stiefmütterliche Behandlung der Figur bei Krohn/Löwisch, Eigentumsgarantie, Rz. 236f.; Nüßgens/Boujong, Eigentum, Rz. 449 ff. 439 Maurer, AllgVerwR1, § 26 Rz. 57. 440 Dagegen A. Ehlers, Grundlagen, S. 166; Weyreuther, Verfassungswidrigkeit, S. 36 m. Fn. 123. 441 Achterberg, AllgVerwR, § 24 Rz. 70; Bull, AllgVerwR, S. 402 f.

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

ohne enteignenden Eingriff - aus, wobei die Einordnung der nachbarrechtlichen Fälle im unklaren blieb, da er diese nur in Abgrenzung zum bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruch behandelte.442

2. Die Diskussion um das Staatshaftungsgesetz (StHG) Einen wesentlichen Beitrag zur Konsolidierung der Rechtsfigur des enteignenden Eingriffs leistete die Diskussion um das StHG in den Jahren 1968 bis 1981. Die dogmatische „Geburtsstunde" des Instituts läßt sich nach den Beiträgen zu dieser Diskussion recht genau auf die Mitte der 70er Jahre datieren. Die moderne Diskussion um eine Reform des Staatshaftungsrechts 443 begann auf dem 47. Deutschen Juristentag 1968, dessen öffentlich-rechtliche Abteilung folgende Frage behandelte: Empfiehlt es sich, die Folgen rechtswidrigen hoheitlichen Verwaltungshandelns gesetzlich zu regeln (Folgenbeseitigung, Folgenentschädigung)? Der Gutachter F. Weyreuther war sich mit den Referenten B. Bender und D. Haas einig, daß eine solche Regelung nur durch eine Reform des Staatshaftungsrechts im ganzen zu erreichen sei; insbesondere das Verhältnis von Folgenbeseitigung und Folgenentschädigung einerseits und dem enteignungsgleichen Eingriff (oder einer daraus zu entwickelnden Staatsunrechtshaftung) andererseits könne nur so geklärt werden. Bei der Darstellung des staatshaftungsrechtlichen status quo fehlte bei allen Sachverständigen ein Institut des enteignenden Eingriffs. Besonders deutlich wird dies bei F. Weyreuther, der die Fälle unfallartiger Schädigung dem Bereich des enteignungsgleichen Eingriffs zuordnete. Der BGH entschädige, so der Gutachter, auch solche Fälle wegen enteignungsgleichen Eingriffs, bei denen der Eingriffsakt rechtmäßig gewesen oder zumindest seine Rechtswidrigkeit ungeklärt geblieben sei, denn das Gericht stelle in diesen Fällen auf die Rechts widrigkeit des Erfolges ab; dies entspreche dem Folgenbeseitigungsanspruch, bei dem es ebenso auf die Rechtswidrigkeit der Folgen des Handelns ankäme. Enteignung und enteignungsgleicher Eingriff unterschieden sich mithin danach, ob die Folgen einer hoheitlichen Handlung rechtmäßig oder rechtswidrig seien;444 für ein besonderes Institut des enteignenden Eingriffs sah F. Weyreuther offenbar weder Anhaltspunkte noch Bedarf. Auch die Referenten B. Bender 445 und D. Haas446 gingen nicht von einem besonderen Rechtsin-

442

RGRK-Kreft, vor § 839 Rz. 16, 38. Darstellung auch in BVerfGE 61,149 (156ff.). Zu früheren Diskussionen, vgl. z. B. Maurer, AllgVerwR, § 30 Rz. 2; Rüfner, in Erichsen (Hrsg.), AllgVerwR, § 50 Rz. 1. 444 Weyreuther, Gutachten, Β 155 f. Soweit Weyreuther, ebd., Β 160 von einem enteignenden Eingriff spricht, meint er dies im Sinne eines bestimmten Ausmaßes an Beeinträchtigung. 445 Vgl. Referat, L 18-21 mit der Darstellung von enteignungsgleichem Eingriff und der Amtshaftung. 443

D. Konsolidierung einer Rechtsfigur

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stitut des enteignenden Eingriffs aus. Der Juristentag forderte zum Abschluß seiner Beratungen den Gesetzgeber auf, Staatshaftung und Rechtsschutz zu harmonisieren und eine umfassende bundesgesetzliche Regelung zu schaffen. 447 In Reaktion auf die Beschlüsse des Juristentages riefen die Bundesminister der Justiz und des Innern eine Kommission mit dem Auftrag ins Leben, einen Gesetzentwurf für ein Staatshaftungsgesetz vorzulegen. Der Kommissionsbericht wurde 1973 der Öffentlichkeit übergeben.448 Da sich die Kommission auf die Regelung der Haftung für staatliches Unrecht beschränkte, lagen Fälle des enteignenden Eingriffs außerhalb ihres Arbeitsgebietes. Die Konkurrenzvorschriften des Gesetzentwurfs machen jedoch deutlich, daß die Kommission nicht von einem zusätzlich neben der Enteignung und dem enteignungsgleichen Eingriff stehenden Institut des enteignenden Eingriffs ausging. In der fraglichen Vorschrift des § 15 KE StHG heißt es lediglich in Abgrenzung zur Enteignung: „Ein Entschädigungsanspruch aus Enteignung oder Aufopferung für das gemeine Wohl wird durch die Rechtswidrigkeit des Eingriffs weder begründet noch ausgeschlossen. Der Entschädigungsanspruch kann bei Rechtswidrigkeit des Eingriffs neben Ansprüchen aus diesem Gesetz geltend gemacht werden."449

Dies zielte in seinem ersten Satz gegen die Rechtsprechung des BGH, soweit diese Ansprüche wegen enteignungsgleichen Eingriffs gerade wegen (und nicht nur trotz) der Rechtswidrigkeit des staatlichen Handelns gewährt hatte.450 Eine Abgrenzung zu einem selbständigen Institut des enteignenden Eingriffs hielt die Kommission dagegen nicht für nötig, weil sie nicht von dessen Existenz ausging.451 Erstmalig war es der Referentenentwurf zum Staatshaftungsrecht von 1976452, der einen Regelungsbedarf für enteignende Eingriffe sah und einen entsprechenden Regelungsvorschlag machte. In § 15 Abs. 3 RE StHG formulierten die Verfasser: „Erfolgt der Eingriff, der eine Enteignung oder Aufopferung für das gemeine Wohl bewirkt, durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes, das Art und Ausmaß der Entschädigung nicht

446 Vgl. Referat, L 37, wo Haas zwar der Sache nach Fälle des enteignenden Eingriffs anspricht, diese aber als solche nicht benennt und wohl dem Bereich des Erfolgsunrechts zuordnen will. 447 47. DJT, Verhandlungen, Band II, L 144f. 448 BMJIBMI (Hrsg.), Kommissionsbericht, 1973. 449 Neben der Fundstelle in Fn. 448 auch abgedruckt in Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S.633. 450 BMJ!BMI (Hrsg.), Kommissionsbericht, S. 112 f.; zu dieser Unterscheidung bereits oben § 2 A bei Fn. 36. 451 Dies überrascht schon deshalb nicht, weil mit Wey reuther, Bender und Haas der Gutachter und die Referenten des 47. DJT Mitglieder der Kommission waren. Auch ein weiteres Mitglied der Kommission, noch dazu der einzige Richter am BGH, Kreft, ging nicht von einer eigenständigen Figur des enteignenden Eingriffs aus. S. dazu bereits oben § 2 D11 bei Fn. 442. 452 BMJ/BMI (Hrsg.), Referentenentwürfe, 1976.

§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

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regelt, bestimmt sich die Haftung für diesen rechtswidrigen Eingriff ausschließlich nach diesem Gesetz."453

Unter Berufung auf einige der oben dargestellten Urteile stellten die Entwurfsverfasser eine eigenständige Fallgruppe des enteignenden Eingriffs in der Rechtsprechung des BGH fest. Sie sei dadurch gekennzeichnet, daß hoheitliche Handlungen, die ungezielt und ungewollt Verfassungsrechtsgüter beeinträchtigten, auch bei Fehlen einer gesetzlichen Entschädigungsregelung rechtsgemäß sein könnten.454 Der Entwurf widersprach dem dogmatischen Konzept des BGH. Schon im Wortlaut „für diesen rechtswidrigen Eingriff" wird deutlich, daß die Verfasser nicht von einem rechtsgemäßen, sondern einem rechtswidrigen hoheitlichen Handeln in diesen Fällen ausgingen. Die Überschreitung der „Sozialbindungsgrenze" in diesen Fällen ohne Regelung einer Entschädigung lasse die Eingriffe insgesamt rechtswidrig werden.455 Die Rechtswidrigkeit ergebe sich entweder aus der Überschreitung der jeweiligen Ermächtigungsnorm durch die Verwaltung, die wegen des Fehlens einer Entschädigungsregelung nur zu Eingriffen diesseits der Sozialbindungsgrenze ermächtigt werde, oder aber aus dem Fehlen einer Entschädigungsregelung als Verstoß des Gesetzgebers gegen die Junktimklausel des Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG. Für die Fortsetzung der Rechtsprechung zu diesen Fällen bestehe neben der allgemeinen Staatsunrechtshaftung kein Bedarf mehr; die Regelung des § 15 Abs. 3 RE StHG stelle die bisherigen enteignenden Eingriffe vielmehr den enteignungsgleichen Eingriffen gleich und ordne sie der Staatsunrechtshaftung zu. 456 Der Referentenentwurf erkannte also ein eigenständiges Institut „enteignender Eingriff" in der Rechtsprechung. Die aufgeführten Fälle waren die auch in der vorliegenden Arbeit behandelten Fälle der Infrastrukturmaßnahmen, der Immissionen und der Unfallhaftung. Der Entwurf distanzierte sich allerdings zugleich deutlich von der Rechtsprechung des BGH, unterstellte die enteignenden Eingriffe ganz der Junktimklausel und ordnete sie, weil es an der dann notwendigen gesetzlichen Regelung einer Entschädigung fehlte, der Haftung für Staatsunrecht zu. Diese erstaunlich deutliche Ablehnung der höchstrichterlichen Rechtsprechung gab die Bundesregierung im ersten Entwurf eines Staatshaftungsgesetzes vom 05.09.1978457 auf. § 14 Abs. 3 E-StHG, der an die Stelle von § 15 Abs. 3 RE StHG treten sollte, lautete nunmehr:

453

Neben der Fundstelle in Fn. 452 auch abgedruckt bei Ossenbühl, Staatshaftungsrecht,

S.468. 454 BMJ!BMI (Hrsg.), Referentenentwürfe, S. 116. Angeführte Beispiele in diesem Zusammenhang waren BGHZ 20,81 („fehlgehender Schuß"); 28,310 („Trecker"); 30,241 („Straßenerhöhung"); 37, 44 („Schießübungen"); 45, 150 („Elbeleitdamm"); 48, 65 („Bundesstraße"); 54, 384 („Breitscheid"); 57, 359 („Frankfurter U-Bahn"); 57, 370 („Kanalisationsarbeiten"). 455 BMJ/BMI (Hrsg.), Referentenentwürfe, S. 116. 456 BMJ/BMI (Hrsg.), Referentenentwürfe, S. 117. 457 BT-Drucks. 8/2079.

D. Konsolidierung einer Rechtsfigur

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„Bewirkt ein Eingriff eine Enteignung oder Aufopferung für das gemeine Wohl, ohne daß Art und Ausmaß für diesen Eingriff gesetzlich geregelt sind, so haftet der Träger entsprechend § 2 Abs. 2 S. 1, sofern sich seine Haftung nicht nach den §§2 und 3 oder nach anderen Rechtsvorschriften bestimmt."

Schon der Wortlaut machte deutlich, daß die Bundesregierung sich von der Einordnung der Beeinträchtigungen als rechtswidrig lösen wollte, indem sie eine Haftung nur entsprechend der allgemeinen Haftungsnorm für rechtswidrige Grundrechtseingriffe vorsah. Dem enteignenden Eingriff liege - so die Begründung des Entwurfs - ein zunächst rechtmäßiges hoheitliches Verhalten zugrunde, das keine Enteignungs- oder Aufopferungslage herbeiführen solle. Daher fehle es regelmäßig an einer gesetzlichen Entschädigungsregelung, wenn die Beeinträchtigung doch die Grenze der Sozialpflichtigkeit überschreite, weil eine „atypische und unvorhersehbare" Wirkung auftrete. 458 Die Formulierung von der „atypischen und unvorhersehbaren" Wirkung - eine inzwischen häufig verwendete Kennzeichnung des enteignenden Eingriffs 459 - war neu gegenüber dem Referentenentwurf, der die Junktimklausel noch für alle Fälle des enteignenden Eingriffs für anwendbar hielt, mithin also von der Regelungsfähigkeit und -bedürftigkeit der Fälle ausgegangen war. Die Bundesregierung schreckte - wiederum von ihrem eigenen Referentenentwurf deutlich abweichend - vor einer Kennzeichnung der Beeinträchtigungen durch enteignende Eingriffe als rechtswidrig zurück. Es sei zweifelhaft, „ob solche Eingriffe noch als insgesamt rechtmäßig angesehen werden können oder ob sie deswegen rechtswidrig sind, weil sie dem Bürger ein ihn ungleich belastendes Opfer in seinen grundrechtlich geschützten Rechtspositionen zumuten, ohne daß ihm ein angemessener Ausgleich dafür gesetzlich zugebilligt wird." 460 Im Anschluß an diese Überlegung werden die drei Ziele des § 14 Abs. 3 E-StHG dargestellt: 461 (1) Es solle eine Anspruchsgrundlage geschaffen werden. Dieses Ziel bringt die Begründung zunächst in Verbindung mit Art. 14 Abs. 3 S. 3 GG. Richtigerweise gemeint war allerdings wohl Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG, denn die Bundesregierung bezog sich auf die Rechtsprechung des BVerfG, das - so die Begründung - eine Entschädigung ohne gesetzliche Grundlage für rechtsgemäße Enteignungsmaßnahmen ausgeschlossen habe.462 § 14 Abs. 3 E-StHG sollte für Enteignungen aufgrund vorkonstitutionellen Rechts eine Anspruchsgrundlage bieten, ebenso für „an sich rechtmä458

BT-Drucks. 8/2079, S.54. Vgl. die Nachweise unten in § 2 D II bei Fn. 514. 460 BT-Drucks. 8/2079, S.54. 461 BT-Drucks. 8/2079, S. 55. 462 Diese Aussage ist falsch: Denn eine Enteignung kann ja wegen Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG nicht rechtsgemäß sein, wenn es an einer gesetzlichen Entschädigungsregelung fehlt. Gemeint war offenbar, daß den ordentlichen Gerichten in derartigen Fällen auch die Zuerkennung von Entschädigungen wegen (rechtswidrigen!) enteignungsgleichen Eingriffs versagt sei. In diesem Sinn auch die zitierte Stelle BVerfG, BayVBl. 1978, 113 (115). 459

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

ßige Eingriffe mit ungewollter enteignender [...] Wirkung". Dabei ging die Bundesregierung davon aus, daß die Junktimklausel für beide genannten Fallgruppen nicht gelte. Für die Entschädigung von Enteignungen aufgrund von nachkonstitutionellen Gesetzen sollte § 14 Abs. 3 E-StHG dagegen keine Anspruchsgrundlage bieten; hier sei eine Haftung für rechtswidriges Staatshandeln nach § 2 Abs. 2 E-StHG begründet, sobald das BVerfG die fragliche Norm für nichtig erkläre. 463 (2) Durch die Regelung des § 14 Abs. 3 E-StHG solle klargestellt werden, daß das Fehlen einer Entschädigungsregelung nicht zur Rechtswidrigkeit einer Maßnahme führe. Den Gerichten sollte in der Frage der Einstufung dieser Maßnahmen als rechtmäßig oder rechtswidrig vorgegriffen werden, denn die „nicht auszuschließende Einstufung der Maßnahmen als rechtswidrig durch die Gerichte würde unangemessene haftungsrechtliche Folgen nach sich ziehen (Folgenbeseitigung, vorbeugende Unterlassungsklage etc.)" 464 . Die Bundesregierung wollte also die zunächst als zweifelhaft eingestufte dogmatische Einordnung der enteignenden Eingriffe durch gesetzgeberische Dezision entscheiden und - darin lag die rechtspolitische Stoßrichtung des Entwurfs - Abwehransprüche der Bürger gegen hoheitliche Veranstaltungen der Daseinsvorsorge ausschließen.465 (3) Schließlich sollte mittels § 14 Abs. 3 E-StHG die Haftung für Schädigung am Eigentum mit der Haftung für Schäden an sonstigen Rechtsgütern harmonisiert werden. Das letztgenannte Ziel wird man akzeptieren können. Die Passagen zu (1) und (2) zeigen dagegen, daß die Bundesregierung die dogmatische Einordnung verfehlte, in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise den Gerichten Vorgriff, und sie ihrer rechtspolitischen Gestaltungsaufgabe nicht gerecht wurde. Dogmatisch unklar blieb der Verweis auf die Junktimklausel.466 Wenn Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG auf die in den Blick genommenen Fälle des enteignenden Eingriffs 467 nicht anwendbar sein sollte, wovon die Bundesregierung wegen der angenommenen atypischen und unvorhergesehenen Wirkungen ausging, so bliebe Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG für den enteignenden Eingriff belanglos. Wenn aber Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG doch auf diese Fälle anwendbar sein sollte, dann hätte auch § 14 Abs. 3 E-StHG den Anforderungen der Junktimklausel wegen seiner völligen Unbestimmtheit nicht genügt; davon ging auch die Bundesregierung aus, wenn sie § 14 Abs. 3 E-StHG für Enteignungen aufgrund nachkonstitutioneller Gesetze für unanwendbar hielt, ob463 464 465

(828). 466

BT-Drucks. 8/2079, S.55. BT-Drucks. 8/2079, S.55. Vgl. auch Krohn, in Krohn/Löwisch, Eigentumsgarantie, Rz. 237; ders., W M 1984, 825

Zum Fehlzitat in der Drucksache soeben bei Fn. 462. Hinzugekommen waren BGHZ 60, 126 („Ur-Naßauskiesung"); 64, 220 („Bonner Reuterstraße"). Beide Entscheidungen waren dagegen im Referentenentwurf nicht eingearbeitet worden, obwohl sie auch schon im Zeitpunkt dessen Erscheinens (1976) vorlagen (Vgl. oben bei Fn. 454). 467

D. Konsolidierung einer Rechtsfigur

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wohl der Wortlaut des Gesetzes nachkonstitutionelle Enteignungen jedenfalls nicht ausschloß. Denn die Bundesregierung hatte im Wortlaut des § 14 Abs. 3 E-StHG keine Beschränkung auf atypische oder unvorhersehbare Wirkungen vorgesehen. Verfassungsrechtlich unhaltbar ist die Passage zu (2). Die Bundesregierung wollte kurzerhand alle Fälle des enteignenden Eingriffs für rechtsgemäß erklären. Der gesetzgeberische Vorgriff auf diese dogmatische Frage überzeugt indessen nicht. Denn bei Geltung der Junktimklausel in diesen Fällen wäre der einfache Gesetzgeber gehindert gewesen, sich von seiner Regelungspflicht durch einfaches Gesetz zu lösen. Selbst wenn dieser Verweis mangels Geltung der Junktimklausel aber nicht verfinge, wäre die Regelung nicht zu halten gewesen: § 14 Abs. 3 E-StHG wäre eine Duldungsanordnung gegenüber den Eigentümern des Inhalts gewesen, gegen Beeinträchtigungen durch enteignende Eingriffe seien Folgenbeseitigungs- und Unterlassungsansprüche immer (!) ausgeschlossen. Bei der Vielfalt der möglichen Beeinträchtigungen durch enteignende Eingriffe und der verschiedenen betroffenen Lebenssachverhalte hätte diese Regelung dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot nicht genügt. Zudem war der Bundesgesetzgeber zu einem Teil der Regelungen nicht befugt, wie etwa zur Normierung der Straßen- und Wegegesetze, die ausweislich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 22 GG weithin in die Zuständigkeit des Landesgesetzgebers fallen. 468 Rechtspolitisch versagte die Bundesregierung bei diesem Entwurf. Sie verzichtete auf bereichsspezifische Regelungen und sanktionierte eine Rechtsprechung, die der Gesetzgeber selbst in einzelnen Bereichen bereits verworfen hatte. So zitierte die Begründung etwa BGHZ 64, 220 („Bonner Reuterstraße") 469. In dieser Entscheidung hatte der BGH das Institut des enteignenden Eingriffs heranziehen müssen, da der Gesetzgeber selbst eine angemessene Regelung der Immissionen durch Altstraßen im BImSchG verfehlt hatte. Die Bundesregierung wollte diese Rechtsprechung zu den Verkehrslärmimmissionen akzeptieren, während ein Verkehrslärmschutzgesetz mit bereichsspezifischen Regelungen scheiterte.470 Geradezu grotesk wirkt der Bezug auf BGHZ 60,126 („Ur-Naßauskiesung"): 471 In Ablehnung dieser Entscheidung hatte der Gesetzgeber bereits durch Gesetz vom 26.04.1976472 zwei Jahre vor dem hier behandelten Regierungsentwurf eines Staatshaftungsgesetzes auf Vorschlag des Innenausschusses des Bundestages473 in § la Abs. 3 WHG „klargestellt" 474 , daß das 468 Dazu aus der Literatur etwa Degenhart, in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 74 Rz. 85; Pieroth, in Jarass/Pieroth, GG, Art. 74 Rz. 53. Zur Überschreitung der Bundeskompetenz durch das StHG s. grundsätzlich BVerfGE 61,149. Das Urteil geht allerdings auf die hier beschriebene Schwierigkeit nicht ein. 469 Dazu oben § 2 Β II 1 c. 470 Dazu oben § 2 Β II 1 bei Fn. 174. 471 Dazu bereits oben § 2 A bei Fn. 71 und § 2 Β I V 2 bei Fn. 392. 472 BGBl.IS. 1109. 473 BT-Drucks. 7/4546, S . l l . 474 Vgl. BT-Drucks. 7/4546, S. 5. Der Gesetzgeber wollte also keine Neuregelung, sondern beabsichtigte lediglich, die seiner Ansicht nach verfehlte Auslegung des WHG durch den BGH zu korrigieren.

6 Külpmann

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

Grundeigentum nicht zu solchen Gewässerbenutzungen berechtige, die nach dem WHG oder den Regelungen eines Landeswassergesetzes der Erlaubnis oder Bewilligung bedürfen. Diese Neuregelung zielte ausschließlich gegen die Rechtsprechung des BGH, die nun aber wieder rezipiert wurde und durch § 14 Abs. 3 E-StHG sanktioniert werden sollte. Die Vorstellung, Beeinträchtigungen durch enteignende Eingriffe seien auf rechtmäßiges hoheitliches Handeln zurückzuführen, sollte nach den Beratungen des Rechtsausschusses des Bundestages noch betont werden. In seiner Beschlußempfehlung schlug der Rechtsausschuß folgende Fassung des § 14 Abs. 3 E-StHG vor: „Bewirkt ein Eingriff eine Enteignung oder Aufopferung für das gemeine Wohl, ohne daß Art und Ausmaß der Entschädigung für diesen Eingriff gesetzlich geregelt sind, so haftet der Träger wie für einen rechtswidrigen Grundrechtseingriff \ sofem sich seine Haftung nicht nach den §§ 2 und 3 oder nach anderen Rechtsvorschriften bestimmt."475

Diese Formulierung, so der Bericht des Ausschusses,476 solle noch klarer hervortreten lassen, daß die Beeinträchtigung des Eigentümers durch enteignende Eingriffe die Rechtswidrigkeit des hoheitlichen Handelns nicht begründe.477 Diese Formulierung ist freilich nach dem soeben Gesagten gleichfalls verfassungsrechtlich wie rechtspolitisch verfehlt. Nachdem der Bundestag das Gesetz am 12.06.1980 in der Fassung des Rechtsausschusses beschlossen hatte, verweigerte der Bundesrat nach einem von ihm initiierten Vermittlungsverfahren 478 dem Gesetz die Zustimmung und legte hilfsweise Einspruch ein. 479 Das Gesetzgebungsverfahren konnte danach in der 8. Legislaturperiode nicht mehr abgeschlossen werden, so daß der Gesetzentwurf der Diskontinuität des Bundestages verfiel. In der 9. Legislaturperiode brachten die Regierungsfraktionen von SPD und F. D. P. erneut einen Gesetzentwurf ein. 480 Dieser nahm § 14 Abs. 3 E-StHG in der Fassung des Rechtsausschusses wieder auf und wurde so am 12.02.1981 vom Bundestag beschlossen, trat am 01.01.1982 in Kraft, scheiterte aber vor dem BVerfG am 19.10.1982 wegen der Unzuständigkeit des Bundesgesetzgebers. 481 Die Diskussion um die Reform des Staatshaftungsrechts zeigt folgendes: Erst ab Mitte der 70er Jahre setzte sich die Ansicht durch, man habe es bei enteignenden Eingriffen mit einer eigenständigen Fallgruppe zu tun. Die dogmatische Konzeption der Rechtsprechung stieß dabei zunächst auf deutliche Ablehnung im Referentenentwurf zu einem Staatshaftungsgesetz, bevor sie von der Bundesregierung ihrem Entwurf 475 476 477 478 479 480 481

BT-Drucks. 8/4026, S. 10; BT-Drucks. 8/4144, S. 10 (Betonung im Original). Berichterstatter waren die Abgeordneten Däubler-Gmelin und Klein (Göttingen). BT-Drucks. 8/4037, S. 5; BT-Drucks. 8/4144, S. 37. BT-Drucks. 8/4342. BT-Drucks. 8/4411. BT-Drucks. 9/25. BVerfGE 61, 149.

D. Konsolidierung einer Rechtsfigur

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zugrundegelegt wurde. Tragender Grund dafür, rechtmäßiges Staatshandeln anzunehmen, war die damit eröffnete Möglichkeit, Folgenbeseitigungs- und Unterlassungsansprüche gegen Infrastrukturmaßnahmen zu beschneiden. Diese rechtspolitische Zielsetzung des Entwurfs war verfassungsrechtlich aber unzulässig, rechtspolitisch mißglückt und bemühte sich vergeblich, eine dogmatische Frage gesetzgeberisch zu entscheiden. 3. Stand zu Beginn der 80er Jahre Als das BVerfG 1981 mit der Naßauskiesungsentscheidung die Frage nach dem Fortbestand der Rechtsfigur des enteignenden Eingriffs auslöste, hatte man es also nicht mit einem dogmatisch durchdrungenen, in seiner Reichweite geklärten Institut zu tun. In der Wissenschaft hatte sich die Ansicht, man habe es hier mit einer eigenständigen Figur zu tun, noch nicht endgültig durchgesetzt. In vollem Umfang entdeckte die Literatur das Institut erst, als mit der Entscheidung des BVerfG der Fortbestand des Instituts in Zweifel gezogen wurde - zugespitzt formuliert: Der enteignende Eingriff verdankt seine dogmatische Anerkennung auch und gerade dem Naßauskiesungsbeschluß. Einen wesentlichen Beitrag zur Konsolidierung hatte zuvor die Diskussion um das Staatshaftungsgesetz geleistet, die zutreffende verfassungsrechtliche Behandlung indes verfehlt. Dabei darf nicht vergessen werden, daß die Junktimklausel den Interessen des Gesetzgebers zuwiderläuft, so daß gegenüber der gesetzgeberischen „Entgiftung" der Junktimklausel durch § 14 Abs. 3 StHG Mißtrauen angebracht war. Angesichts dieser diffusen Lage zum Zeitpunkt des Naßauskiesungsbeschlusses überrascht es schon, wie nach einigen ersten Zweifeln die Rechtslehre den enteignenden Eingriff ganz überwiegend in toto gegen verfassungsrechtliche Zweifel verteidigte.482

II. Prüfungsschema Die dargestellten Fallgruppen des enteignenden Eingriffs unterscheiden sich deutlich von einander. Dies gilt sowohl bei Betrachtung der Handlungsformen als auch mit Blick auf die praktische Relevanz und die normative Durchdringung. Es ist daher zweifelhaft, ob dem mit einem praktischen Fall Konfrontierten geraten werden kann, Entschädigungsansprüche wegen enteignenden Eingriffs anhand eines Schemas zu prüfen. In vielen Fällen dürfte es ratsam sein, sich ohne Rückgriff auf ein allgemeines Schema sofort der bereichsspezifischen Probleme anzunehmen, etwa des Schwellenwertes für Immissionen oder der Unmittelbarkeit einer unfallartigen Schädigung. Dies ist auch deshalb ratsam, weil die Rechtsprechung den enteignenden Eingriff auf

482

6*

Dazu unten § 4 A12.

§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

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bestimmte Fallgruppen beschränkt und nicht etwa alle Fälle entschädigt, die von dem sogleich dargestellten Schema erfaßt werden könnten.483 Es wird hier dennoch ein Schema vorgeschlagen, um für die folgende Untersuchung Klarheit über die dogmatische Ausformung des Institutes zu erlangen. Dieses Schema entspricht den Prüfungspunkten, auf denen die Rechtsprechung des BGH beruht; es handelt sich nicht um ein auf seine dogmatische, insbesondere verfassungsrechtliche Schlüssigkeit hin „bereinigtes" Schema.484 1. Übersicht (I) Tatbestand (1) Eigentum (2) Eingriff (a) hoheitlich (b) unmittelbar (3) Sonderopfer = Enteignungswirkung (4) Rechtmäßigkeit des Eingriffs (5) Verhältnis zu gesetzlichen Bestimmungen (a) Subsidiarität (b) Keine Haftung für legislatives Unrecht (6) Mitverschulden (7) Fehlende Verjährung (II) Rechtsfolge (1) Anspruchsumfang (2) Passivlegitimation (3) Rechtsweg 2. Erläuterungen a) Tatbestand (1) Eigentum. Schon aus der Herleitung des Anspruchs aus dem verfassungsrechtlichen Enteignungsrecht ergibt sich, daß Eigentum hier nicht den privatrechtlichen 483

Dazu noch unten § 6 ΒI; § 6 Β II 1 b. In diesem Sinn sind wohl die Schemata von Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rz. 958 und Jarass, in Jarass/Pieroth, Art. 14 Rz. 41b zu verstehen. Vorschläge für Schemata auch bei Jaschinski, Fortbestand, S. 73 ff.; Schwerdtfeger, Öffentliches Recht, Rz. 349 ff.; Staudinger-Se//er, vor §§ 903ff., Rz. 37; Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht, § 16 Rz. 16ff., 38ff.; Wüstenbecker, Staatshaftungsrecht, S. 118 ff. Ein Kurzschemafindet sich bei Götz, AgrarR 1984, 1 (4), eine Beispielsklausur bei Holzer, JuS 1988,301 (nach BGHZ 57,359 - „Frankfurter U-Bahn"), ein Formular für die Rechtspraxis bei de Witt, in Johlen (Hrsg.), Prozeßformularbuch, S. 974 f. 484

D. Konsolidierung einer Rechtsfigur

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Eigentumsbegriff des § 903 BGB, sondern den weiten, verfassungsrechtlichen Begriff des Eigentums meint, wie ihn der BGH aus der Rechtsprechung des Reichsgericht übernommen hat 485 und der auch der Rechtsprechung des BVerfG entspricht. 486 Zwei Fallgestaltungen scheiden allerdings schon bei diesem Prüfungspunkt aus dem enteignenden Eingriff aus: Erstens Fälle, in denen Eigentum im Sinne des Verfassungsrechts nicht betroffen ist, insbesondere, weil die betroffene Eigentumsposition von vornherein kein Abwehrrecht gegen die erfolgte Beeinträchtigung umfaßt, zweitens Fälle, die thematisch der Berufsfreiheit des Art. 12 GG zuzuordnen sind. Zur Abgrenzung dient die Faustformel, daß Art. 14 GG objektbezogen das Erworbene, Art. 12 GG persönlichkeitsbezogen den Erwerb schütze.487 Diese Abgrenzung ist auch wirtschaftlich von erheblicher Bedeutung. Entgegen Stimmen im Schrifttum 488 weigert sich der BGH, Beeinträchtigungen der Berufsfreiheit wegen Aufopferung zu entschädigen,489 so daß die Berufsfreiheit in einem entschädigungsrechtlichen Niemandsland verbleibt - ein Ergebnis, das gerade im Bereich der Berufsunrechtshaftung kaum überzeugen kann, wie das Paradebeispiel der Verzögerungsschäden bei einer rechtswidrig versagten Gewerbeerlaubnis zeigt. (2) Eingriff. Der Eingriffsbegriff hat - nach Aufgabe des Finalitätserfordernisses - weitgehend seine Konturen verloren. Er dürfte nur noch in dem Maße Bedeutung haben, als entsprechend der (stark umstrittenen 490) Rechtsprechung491 zum enteignungsgleichen Eingriff ein Eingriff durch Unterlassen grundsätzlich nicht in Betracht kommt. Soweit ein behördliches Tun in Rede steht, reicht dagegen zunächst jede Nachteilszufügung am Eigentum, eine Abgrenzungsfunktion kommt erst den nachfolgenden Attributen „hoheitlich" und „unmittelbar" zu. (a) hoheitlich. Das beeinträchtigende Handeln muß in Formen des öffentlichen Rechts erfolgen. Geringe Schwierigkeiten bereitet diese Abgrenzung, wenn aufgrund von gesetzlichen Regelungen gehandelt wird. Die Qualifikation des Handelns richtet sich in diesem Falle nach der Qualifikation der zugrunde liegenden Rechtssätze. Diese sind nach herrschender Meinung öffentlich-rechtlich, wenn die fragli485

Dazu oben § 2 A bei Fn. 10. Dazu § 3 ΒI. 487 BVerfGE 30, 292 (334 f.) unter Rückgriff auf Wittig, FS G. Müller, 575 (590 m. Fn. 67). Tettinger, in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 12 Rz. 164f.; Wieland, in Dreier (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 152, kritisch Breuer, HdBStR VI, § 147 Rz. 100. 488 Bonk, in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 34 Rz. 43; Maurer, AllgVerwR, § 27 Rz. 3; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 133; Schenke, NJW 1991,1777 (1779); Scheuing, FS Bachof, 343 (362); Wieland, in Dreier (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 128. 489 BGHZ 111,349 (355 ff.). 490 Luhmann, Entschädigung, S. 112 ff.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 255; Papier, HdBStR VI, § 157 Rz. 61; Steinberg/Lubberger, Aufopferung, S. 354 ff. 491 BGHZ 12,52 (56); 15, 84 (86); 102,350 (364), eine Ausnahme gilt bei sog. „qualifiziertem Unterlassen" vgl. BGHZ 32, 208 (211); 56,40 (42); 102, 350 (364); 118,253 (261); 120, 124 (132). Wie der BGH auch Nüßgens/Boujong, Eigentum, Rz. 420; Rüfner, in Erichsen (Hrsg.), AllgVerwR, § 48 Rz. 60; Schwerdtfeger, Öffentliches Recht, Rz. 352. 486

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

chen Normen den Staat oder einen sonstigen Träger in dieser Eigenschaft berechtigen und verpflichten, also Sonderrecht des Staates sind. 492 Schwieriger gestaltet sich die Einordnung von Handlungen, die nicht auf bestimmte Normen zurückgeführt werden können, namentlich bei den im Bereich des enteignenden Eingriffs häufigen Realakten, insbesondere den Immissionen. Ob ein Realakt öffentlich-rechtlich einzuordnen ist, hängt nach herrschender Meinung davon ab, ob er in einem öffentlichrechtlichen Funktionszusammenhang stattfindet. 493 Daher ist auch bei Immissionen danach zu fragen, ob sie in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einer hoheitlichen Veranstaltung stattfinden; 494 als wichtiges Indiz ist die Ausgestaltung der Nutzungsverhältnisse zu beachten.495 Für die wichtigsten Fälle der Verkehrslärmimmissionen bereitet diese Einordnung keine Schwierigkeiten mehr. Es fallen allerdings an dieser Stelle alle die Fälle aus dem Anwendungsbereich des enteignenden Eingriffs heraus, in denen die Verwaltung zwar Verwaltungsaufgaben - insbesondere im Bereich der Daseinsvorsorge - wahrnimmt, sich dabei aber der Formen des Privatrechts bedient.496 Denn bei diesem Verwaltungsprivatrecht ist die öffentliche Hand zwar bestimmten öffentlich-rechtlichen Bindungen unterworfen, 497 an der Einordnung der Tätigkeit als privatrechtlich vermag dies jedoch nichts zu ändern 498 (b) unmittelbar. Die Unmittelbarkeit des Eingriffs ist das wohl am stärksten umstrittene und in seinen Konturen unklarste Tatbestandsmerkmal. Klar ist allerdings seine Funktion: Es soll nach dem Wegfall des Finalitätserfordemisses verhindern, daß die Institute des enteignenden oder auch des enteignungsgleichen Eingriffs Entschädigungsinstitute einer allgemeinen öffentlich-rechtlichen Gefährdungshaftung kraft Richterrechts werden. 499 Die inhaltliche Substanz des Begriffs ist dagegen bis heute unklar. 500 492 GSOGB BGHZ 108, 284 (287); BGHZ 41, 264 (266); D. Ehlers, in Erichsen (Hrsg.), AllgVerwR, § 2 Rz. 26ff.; Eyermann /Rennert, VwGO, § 40 Rz. 44; Kopp! Schenke, VwGO, § 40 Rz. 11; Maurer, AllgVerwR, § 3 Rz. 14ff.; Stern, Probleme, Rz. 19; H. J. Wolff/ Bachof/Stober, VerwR I, § 22 Rz. 25ff. Kritik gibt es gelegentlich an der Modiiikation, der Staat müsse in seiner Eigenschaft als Hoheitsträger angesprochen werden, da so die Ergebnisse der Sonderrechtstheorie weitgehend wieder aufgegeben würden. Vgl. Eycrrmim/ Rennert, VwGO, § 40 Rz. 44. 493 BVerwGE 14,323 (328); 89,281 (283); BGHZ41,263 (266);48,98 (103); 70,212 (216); Eyermann /Rennert, VwGO, § 40 Rz. 81; Kopp/Schenke, VwGO, § 40 Rz. 13a; H. J. Wolff/ Bachof/Stober, VerwR I, § 22 Rz. 52 ff. 494 Kopp/Schenke, VwGO, § 40 Rz. 29 f.; Redeker/v. Oertzen, VwGO, § 40 Rz. 27; Stern, Probleme, Rz. 23. 495 BGH, NJW 1993, 1656 (1657); BVerwGE 81, 179 (199); 88, 143 (144). 496 BGHZ 69,105; 79,45: Flughafen-GmbH. 497 BGHZ 52, 325. 498 D. Ehlers, in Erichsen (Hrsg.), AllgVerwR, § 2 Rz. 69; Stern, Probleme, Rz. 21. 499 BGHZ 54, 332; 55,229; VersR 1972, 1047. 500 Vgl. weiter mit überwiegend kritischer Tendenz etwa Breuer, Bodennutzung, S. 78 ff.; BMJ/BMI (Hrsg.), Kommissionsbericht, S. 40; Kimminich, JuS 1969, 349 (351); Maurer, AllgVerwR, § 26 Rz. 93; Olivet , NVwZ 1986,431; ders., Rechtswidrigkeitsbegriff, S. 109ff.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 206ff.; Papier, DVB1.1975,567 (568); ders., in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 706ff.; Ramsauer, Beeinträchtigungen, S. 167 f.;

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Grundsätzlich handelt es sich um einen Blankettbegriff, der wertende Zurechnungskriterien aufnehmen kann und die mit staatlichem Handeln verbundenen Risiken gerecht zwischen öffentlicher Hand und Bürger verteilen soll. Zur Ausfüllung dieses Blankettbegriffs können verschiedene Topoi herangezogen werden, die bisher noch nicht in eine schlüssige Definition gegossen werden konnten. Folgende Kriterien können eine Rolle spielen: Einen wichtigen Platz hatte die Rechtsprechung zunächst dem Kausalverlauf beigemessen: Eine Schädigung sollte nur dann unmittelbar erfolgt sein, wenn eine vom Staat geschaffene Gefahrenlage ohne Hinzutreten weiterer Umstände zu einer Schädigung führte. 501 Bei diesem Gesichtspunkt ist die Nähe zum Polizeirecht unverkennbar: Während im Staatshaftungsrecht das Unmittelbarkeitserfordernis durch eine Kausalitätsüberlegung ausgefüllt werden soll, bemüht man im Polizeirecht die Unmittelbarkeit, um die Kausalitätsfrage zu beantworten.502 Daß dieser Ansatz allein nicht befriedigen kann, hat vor allem zwei Gründe: Angesichts der (fast) beliebigen Teilbarkeit eines Kausalverlaufs läßt sich die schließlich letzte (also unmittelbare) Verursachung kaum bestimmen; zum anderen können derartige empirische Überlegungen die normative Frage der Risikoverteilung nicht schlüssig beantworten. Wichtiger scheint denn auch ein anderer Topos zu werden: Unmittelbarkeit soll nur gegeben sein, wenn sich eine typische, in der Eigenart der hoheitlichen Maßnahme liegende Gefahr verwirklicht. Besonders einsichtig sind zwei Fälle aus der jüngeren Judikatur: Beschädigen Einbrecher ein sichelgestelltes Automobil, verwirklicht sich gerade nicht ein mit der Sicherstellung typischerweise einheigehendes Risiko; 503 Schäden durch Saatkrähen, die von einer gemeindlichen Mülldeponie angelockt werden, sind dagegen grundsätzlich typisch.504 Gerade der erste Fall zeigt, daß der BGH der Kausalitätsüberlegung keine allein entscheidende Bedeutung mehr beimißt, denn es hätte doch nahegelegen, den Vandalismus durch Dritte als hinzutretenden und damit den Unmittelbarkeitszusammenhang unterbrechenden Umstand zu deuten. Der Topos der „typischen Gefahr" ist auch in der Literatur überwiegend anerkannt.505

Rüfner, in Erichsen (Hrsg.), AllgVerwR, § 48 Rz. 75; Sass> Entschädigungserfordemis, S. 227 ff.; Steinberg! Lubber ger, Aufopferung, S. 363 ff.; Wagner, NJW 1966, 569ff. Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht, § 16 Rz. 22 ff. Berühmt wurde die Sentenz von Nipperdey, der Begriff sei „nur Ausdruck der dogmatischen und sachlichen Verlegenheit, (noch) nicht ganz präzise angeben zu können, was überhaupt gemeint ist" (NJW 1967, 1985 [1990]). 501 BGHZ 54, 332 (338); 55, 229 (232). Vgl. auch Wagner, NJW 1966,569 (572). 502 Vgl. Friaufy in Schmidt-Aßmann (Hrsg.), BesVerwR, 2. Abschnitt, Rz. 76; Denninger, in Lisken/Denninger (Hrsg.), HdBPolR, E 62 ff. m. w. Nw. 503 BGHZ 100, 335 (338). 504 BGH, NJW 1980, 770. 505 Büchs, Handbuch, Rz. 1152; Rüfner, in Erichsen (Hrsg.), AllgVerwR, § 49 Rz. 60; NüßgenslBoujongy Eigentum, Rz.426f.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 248 ff.; Steinberg/Lubberger, Aufopferung, S. 363.

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§ 2 Die Rechtsprechung des BGH zum enteignenden Eingriff

Im Anschluß an eine neuere Entscheidung des BGH 506 ist verschiedentlich auch die Verteilung der gesetzlichen Verantwortungsbereiche als Topos zur Bestimmung der Unmittelbarkeit in der Rechtsprechung angenommen worden. 507 Im fraglichen Fall hatte ein Grundstückseigentümer, dessen Grundstück infolge der Bodenversiegelung eines mehrere Kilometer entfernten Grundstücks Überschwemmungsschäden erlitten hatte, die Gemeinde auf Entschädigung verklagt, auf deren Bauleitplanung die Bodenversiegelung und spätere Bebauung beruhte. Die Gemeinde sei aber nach der gesetzlichen Regelung der Verantwortungsbereiche weder für den Hochwasserschutz noch für den Gewässerausbau zuständig, die in der Verantwortung des Landes lägen, urteilte der BGH, der die Klage abwies.508 In einem Folgeurteil 509, das in dem nunmehr vom Kläger gegen das Land angestrengten Verfahren erging, stellte das Gericht klar, daß es das Umittelbarkeitskriterium nicht habe verändern wollen, sondern vielmehr eine Pflichtverletzung der Gemeinde ausgeschlossen habe. In diesem zweiten Urteil machte der BGH allerdings deutlich, daß die Unmittelbarkeit eines Eingriffs jedenfalls dann nicht gegeben ist, wenn ein Verwaltungsträger gegenüber einem anderen Verwaltungsträger eine verwaltungsinterne Erklärung ohne Bindungswirkung abgibt.510 In der Literatur wird ergänzend auf die Schutzzwecklehre verwiesen: Eine Schädigung soll unmittelbar sein, wenn der Ausgleich nach dem Schutzweck einer Norm geboten erscheint. 511 So berechtigt dieser Topos sein mag, ist doch auf eines hinzuweisen: Oftmals fehlt es in den fraglichen Fällen gerade an einer regelnden Norm, so daß auch Vertretern dieser Lehre am Ende nichts anderes bleibt, als auf die Kasuistik des BGH zurückzugreifen. 512 (c) Weitere Kriterien? Der BGH nimmt weitere Eingrenzungen durch zusätzliche Attribute zum Begriff des „Eingriffs" nicht vor. Daher führt eine gebräuchliche Charakterisierung des enteignenden Eingriffs in die Irre oder doch zumindest an der Rechtsprechung des BGH vorbei. Es wird - in Anschluß an die Begründung des Regierungsentwurfs zum Staatshaftungsgesetz 513 und an BGHZ 91, 20 („Kläranlage II") - gesagt, der enteignende Eingriff diene dem Ausgleich atypischer, unvorhersehbarer und/oder faktischer Nebenfolgen am Eigentum durch die öffentliche Hand. 514 Diese Gesichtspunkte haben auch schon Eingang in Prüfungsschemata ge506

BGH, NVwZ 1987, 1115. Ossenbühl, FS Geiger, 475 (489 f.) (mit kritischer Grundtendenz); ders., Staatshaftungarecht, S. 251; Steinbergl Lubber ger, Aufopferung, S. 363 ff. 508 BGH, NVwZ 1987, 1115 (1116). 509 BGH, ZfW 1993/1994,97 (99f.). 510 BGH, ZfW 1993/1994,97 (99). 3.1 Olivet, NVwZ 1986,431. 5.2 Vgl. Olivet , NVwZ 1986,431 (438). 5.3 Dazu oben § 2 D12 bei Fn. 458. 5.4 Bender, BauR 1983,1 (11); Boujong, UPR 1984,137 (141 f.); Hendler, DVB1. 1983,873 (881); Jarass, in Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rz. 41b; Krohn, W M 1984, 825 (828); Maurer, DVB1. 1991, 781 (781 f., einschränkend „meist"); Nüßgens/Boujong, Eigentum, Rz. 449; Os507

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funden 515 und scheinen inzwischen so weit ins juristische Unterbewußtsein vorgedrungen zu sein, daß selbst die wegen enteignenden Eingriffs entschädigten Beeinträchtigungen durch Fluglärmimmissionen als atypisch gekennzeichnet werden. 516 Demgegenüber ist auf folgendes hinzuweisen: Ein Nachteil muß weder atypisch noch unvorhersehbar sein, um einen Entschädigungsanspruch wegen enteignenden Eingriffs auszulösen.517 Ebenso sind enteignende Eingriffe nicht auf faktische Beeinträchtigungen beschränkt; die Rechtsprechung hat Entschädigungsansprüche auch bei Beeinträchtigungen durch Rechtsakt anerkannt.518 Soweit die vorgenannten Merkmale in der Definition des enteignenden Eingriffs genannt werden, handelt es sich also nicht um den enteignenden Eingriff, wie ihn die Rechtsprechung des BGH ausgebildet hat, sondern um etwas anderes. (3) Sonderopfer = Enteignungswirkung. Der eingetretene Nachteil muß dem Beeinträchtigten ein Sonderopfer auferlegt, also eine Enteignungswirkung (im Sinne des BGH) entfaltet haben. Das Tatbestandsmerkmal ist in den unterschiedlichen Fallkonstellationen jeweils von verschiedener Wichtigkeit und inhaltlicher Bedeutung. Entscheidendes Gewicht kommt ihm bei Beeinträchtigungen durch Infrastrukturmaßnahmen und durch Immissionen zu. In beiden Fallgruppen wird das Sonderopfer allerdings nicht in der stark formalen Ursprungsfassung bemüht, sondern jeweils um materielle Schwellen ergänzt, wenn nicht sogar ersetzt. Bei den Infrastrukturmaßnahmen ist bereits oben auf die unterschiedlich hohen Belastungsschwellen bei Straßenbaumaßnahmen einerseits und überörtlich angelegten Maßnahmen andererseits hingewiesen worden; 519 bei den Immissionen erlangen Grenzwerte - wie auch immer sie abgeleitet werden - die ausschlaggebende Bedeutung. Eine wesentlich geringere Rolle spielt das Sonderopfer bei den Fällen der Unfallhaftung. Ein besonderes Opfer liegt hier schon darin, daß sich das allgemeine Risiko in einem besonderen Fall realisiert, 520 zugespitzt formuliert: Der unmittelbare unfallartige Eingriff indiziert nach der Rechtsprechung das Sonderopfer.

senbühl, NJW 1983, 1 (3); ders., JZ 1994, 263 (264); ders., Staatshaftungsrecht, S. 273 („meist"); Papier, NVwZ 1983, 258 (259) („Nebenfolgen"); ders., Eigentumsgarantie, S. 39 („Realakte"); Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rz. 950; Schwerdtfeger, JuS 1983,104 (109) (mit Betonung der faktischen Beeinträchtigung); differenzierend nach dem Risiko ders., Struktur, S. 26f.; Wendt, in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 179; Wieland, in Dreier (Hrsg.), Art. 14 Rz. 142. Sehr deutlich dagegen J. F. Baur, GS Martens, 545 (553); Schmitt-Kammler, FS E. Wolf, 595 (602 m Fn. 28); ders., NJW 1990, 2515 (2516 m. Fn. 8); ders., JuS 1995,473 (478 m. Fn. 56). 5.5 Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rz. 958; Schwerdtfeger, Öffentliches Recht, Rz. 351. 5.6 v. Brünneck, RdE 1998, 1 (4). 5.7 BGH, NJW 1986, 2423 (2424). 5.8 Vgl. nur BGHZ 54, 384 (388); 97, 114; NVwZ 1989, 285. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 276. 5.9 Dazu oben § 2 Β11. 520 Vgl. BGHZ 37,44 (47 ff.).

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(4) Rechtmäßigkeit. Die Rechtmäßigkeit des Eingriffs wird in Literatur und Rechtsprechung als das entscheidende Merkmal zur Abgrenzung von enteignungsgleichem und enteignendem Eingriff angegeben.521 Trotz dieser schon zum Ritual erstarrten Abgrenzung 522 ist das Merkmal der Rechtmäßigkeit nicht abschließend geklärt; es spielt zudem in der Rechtsprechung keine herausragende Rolle. Unsicherheiten offenbart schon die Formulierung, beim enteignenden Eingriff handele es sich um eine „an sich rechtmäßige" 523 Maßnahme. Dies könnte bedeuten, die Maßnahme sei eben - trotz unzumutbarer Folge - rechtmäßig, es könnte aber auch meinen, die Maßnahme sei nur rechtmäßig unter Hinwegdenken der unzumutbaren (also rechtswidrigen) Folge. Pointiert ist gesagt worden, der enteignende Eingriff sei eine „Kippfigur", die Handlung der Verwaltung sei rechtmäßig, der Erfolg rechtswidrig, die Rechtswidrigkeit entfalle aber bei Zahlung einer Entschädigung - also Entschädigung trotz Rechtmäßigkeit wegen Rechtswidrigkeit. 524 Auch das Tatbestandsmerkmal des Sonderopfers läßt Zweifel an dem Erfordernis der Rechtmäßigkeit aufkommen. Denn wenn das Sonderopfer ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz ist, 525 dann müßte es sich doch zumindest um rechtswidrige Auswirkungen handeln. So wird gelegentlich in der Literatur das Institut des enteignenden Eingriffs ganz dem Bereich der Eigentumsunrechtshaftung zugeschlagen.526 In der Rechtsprechung hat die Rechtmäßigkeit nicht die bedeutende Rolle gespielt, die man nach der herkömmlichen Charakterisierung annehmen könnte. Zum Teil ist sogar ein Anspruch wahlweise wegen enteignenden oder enteignungsgleichen Eingriffs angenommen worden, 527 zum Teil herrschten erhebliche Unklarheiten. 528 Das angeführte Tatbestandsmerkmal dient damit in dem vorgeschlagenen Schema mehr der systematischen Klarheit als praktischen Bedürfnissen.

521 BGH, NJW 1965, 1907 (1908); BGHZ 48, 65 (67); 91, 20 (26); 100, 136 (144); Nüßgens/Boujong, Eigentum, Rz. 449; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 269; Papier, HdBStR VI, § 157 Rz. 65; Rüfner, in Erichsen (Hrsg.), AllgVerwR, § 48 Rz. 75; Schwerdtfeger, Öffentliches Recht, Rz. 351 ; Wendt, in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 179; Wieland, in Dreier (Hrsg.), Art. 14 Rz. 142. 522 Abweichend allerdings Kempen, Eingriff, Rz. 278. 323 BGHZ 91,20 (26); 100, 136 (144). 524 Lege, NVwZ 1998,160; ähnlich auch Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 272. 525 BGHZ 6,270 (279). 526 D. Ehlers, VVDStRL 51 (1991), 211 (242ff.); Sachs, VVDStRL 51 (1991), 336 (338); Schmitt-Kammler, FS E. Wolf, 595 (614ff.) (Enteignender Eingriff als Fall der Haftung für Erfolgsunrecht); etwas abweichend Stöhr, Aspekte, S. 187 ff. (Enteignender Eingriff als Folgenentschädigungsanspruch). 527 BGHZ 72,289 (291); 91, 20 (25), 117, 240 (252). 528 Vgl. oben die Rechtsprechung zur Unfallhaftung, § 2 Β III bei Fn. 360.

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(5) Verhältnis zu gesetzlichen Bestimmungen (a) Subsidiarität. Der Anspruch wegen enteignenden Eingriffs tritt hinter gesetzliche Ansprüche zurück. 529 Gesetzliche Regelungen verdrängen in diesem Fall das Richterrecht. (b) Keine Haftung für legislatives Unrecht. Der BGH lehnt es in gefestigter Rechtsprechung ab, bei legislativem Unrecht wegen enteignenden Eingriffs zu entschädigen. 530 Der nur für die Entschädigung von Einzelfällen entwickelte enteignende Eingriff sei für den Ausgleich von massenhaft auftretenden Schäden nicht geeignet; bei derartigen Globalphänomenen sei der Gesetzgeber selbst gehalten, Ausgleichsregelungen zu schaffen. 531 Diese Begründung ist bemerkenswert: Des Verweises auf die Gewaltenteilung und (mittelbar) auch auf das Budgetrecht des Parlaments hätte es nicht bedurft, wenn der BGH dem Merkmal der Rechtmäßigkeit des Eingriffs tatsächlich entscheidende Bedeutung beimäße: Schon aus der Beschränkung auf rechtmäßige Eingriffe hätte sich doch ergeben müssen, daß das Institut des enteignenden Eingriffs eine Haftung für legislatives Unrecht nicht begründen kann. (6) Mitverschulden. Der Rechtsprechung berücksichtigt den Gedanken des § 254 BGB unter dem Stichwort Mitverschulden. Der Geschädigte ist gehalten, seinen Schaden möglichst zu begrenzen.532 So soll er etwa notwendige oder geplante Umbaumaßnahmen an seinem Ladenlokal in der Zeit durchzuführen, während der die Ertragssituation infolge hoheitlicher Bautätigkeit ohnehin ungünstig ist. 533 Der Gedanke des versäumten Primärrechtsschutzes, der beim enteignungsgleichen Eingriff eine herausragende Rolle bei der Beurteilung des Mitverschuldens spielt, hat beim enteignenden Eingriff grundsätzlich keine Bedeutung: Gegen rechtmäßiges Verwaltungshandeln ist Primärrechtsschutz nicht gegeben. Daß die Rechtsprechung den Gedanken doch gelegentlich herangezogen hat, 534 zeigt, wie „großzügig" sie bei der Frage nach Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Verwaltungshandeln verfährt. (7) Verjährung.

Der Anspruch verjährt in 30 Jahren. 535

529 BGHZ 112, 392 (400); DÖV 1991, 332 (334). Falls eine gesetzliche Regelung existiert, sollte dieser Prüfungspunkt an den Anfang gestellt werden. 530 BGHZ 100, 136 (144); 102, 350 (361); NJW 1998, 1398 (1399). 531 Grundlegend BGHZ 102, 350 (361 f.). 532 Vgl. dazu Palandt-Heinrichs, § 254 Rz. 1. 333 BGH, NJW 1983, 1663 (1664). 534 Vgl. etwa BGHZ 72, 289 (293 ff.); 97, 114 (121); 97, 361 (363). 535 BGHZ 72,273 (277) zum enteignungsgleichen Eingriff; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 284; abweichend Staudinger-fo/Λ, § 906 Rz. 244 (analog § 852 BGB: 3 Jahre).

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b) Rechtsfolge (1) Anspruchsumfang. Entsprechend seiner Herkunft aus dem Enteignungsrecht ist der Anspruch auf eine angemessene Entschädigung gerichtet, dagegen nicht auf vollen Schadensersatz.536 Damit entspricht der Haftungsumfang dem Haftungsumfang bei einem Anspruch wegen enteignungsgleichen Eingriffs. (2) Passivlegitimation. Passiv legitimiert ist die begünstigte, nicht die eingreifende Körperschaft, 537 bei Verkehrsimmissionen der Träger der Straßenbaulast.538 (3) Rechtsweg. Der Anspruch ist nach § 40 Abs. 2 S. 1 1. Alt. VwGO vor den Zivilgerichten geltend zu machen.539

536 Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S.283,207 ff.; Rüfner, in Erichsen (Hrsg.), AllgVerwR, § 48 Rz. 81; Steinberg/Lubberger, Aufopferung, S. 254; Wendt, in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 179; Windthor st I Sproll, Staatshaftungsrecht, § 16 Rz. 31. 537 BGH, NJW 1980, 582; BGHZ 117, 240 (259). 538 BGH, NJW 1980, 582. 539 BGHZ 91, 20 (28); Krohn in Krohn/Löwisch, Eigentumsgarantie, Rz. 237. Α. A. Schwerdtfeger, JuS 1983, 104 (110); ders., Struktur, S. 39f.

§ 3 Verfassungsrechtliche Eigentumsdogmatik Α. Gedankliche Grundlage: Das Trennungsmodell des BVerfG Das BVerfG löste die Begriffe der Enteignung und der Inhalts- und Schrankenbestimmung von dem Gegensatz „schwer - leicht" und damit von der Vorstellung, man habe es idealtypisch mit den zwei Endpunkten einer gleitenden Skala von Eigentumsbeeinträchtigungen zu tun. Statt dessen formulierte es die Abgrenzung von Enteignungen und Inhalts- und Schrankenbestimmungen anhand formaler Merkmale, die beide Institute strikt trennen (daher „Trennungsmodell" 1). Mit diesem gedanklichen Modell setzte sich das BVerfG in so grundsätzlichen Widerspruch zur zivilgerichtlichen Rechtsprechung, daß die Veränderung Vergleiche mit Naturkatastrophen 2 ebenso provozierte wie mit der Entdeckung des neuzeitlichen Weltbildes3 - freilich unterschiedlich konnotiert. Trotz einer bis in die Anfangsjahre des Gerichts zurückreichenden Kette von Entscheidungen zum Eigentum4 blieb der Einfluß der Verfassungsgerichtsbarkeit auf diesem Gebiet gering, die Urteile in Literatur und fachgerichtlicher Rechtsprechung ohne nachhaltige Resonanz.5 Erst in seinem Beschluß zur Naßauskiesung vom 15.07.19816 formulierte das BVerfG seine eigentumsrechtliche Position in aller Deutlichkeit und mit nachhaltigem Einfluß auf die gerichtliche Praxis und die Rechtswissenschaft 7 - die Entscheidung ist nicht zu Unrecht als „Rechtsprechungskodifikation" 8 bezeichnet worden. 1

Lege, Zwangskontrakt, S. 20. Ossenbühl, Entwicklungen, S. 17 („Beben"). 3 Lege, Zwangskontrakt, S. 30. Böhmer, Der Staat 1985, 157 (167); ders., NJW 1988, 2561 sprach von der kopernikanischen Wende durch das Grundgesetz. 4 BVerfGE 4, 219 (228 ff.), dazu eindringlich Dürig, JZ 1955, 521 ff. Später etwa BVerfGE 14,263; 21,73; 24, 367; 31,229; 37, 132; 38,248; 42,263; 45,297; 46,325; 50,290; 51,193; 52, 1; 56, 249; 58, 81; 58, 137. 5 Böhmer, NJW 1988, 2561. 6 BVerfGE 58, 300. Die wichtigsten Aussagen waren schon in BVerfGE 52, 1 zufinden, sie wurden jedoch in ihrer möglichen Tragweite nur vereinzelt erkannt. Vgl. allerdings Berkemann, EuGRZ 1979,594; Schmitt-Kammler, Grundeigentum, S. 173 ff.; zum Modell des BVerfG ebd., S. 299 f.; zur Entwicklung auch Lege, Zwangskontrakt, S. 20ff. 7 Das Urteil rief eine Unzahl von Stellungnahmen hervor. Grundlegend zum Verständnis des BVerfG sind die Arbeiten von Böhmer, Beil. 1/1984 zu AgrarR 4/1984,2; ders., Der Staat 1985, 157; ders., NJW 1988, 2561. Die Sicht der Richter am BGH ist daigestellt in Boujong, UPR 1984, 137; Engelhardt, NVwZ 1985, 621; Hagen, WM 1984, 677; Kreft, NJW 1981, 1577; 2

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§ 3 Verfassungsrechtliche Eigentumsdogmatik

Daß das BVerfG verfassungs(zeit-)geschichtlich erst spät nachhaltigen Einfluß auf die Fachgerichte im Bereich des Eigentums erlangen konnte, findet seinen Grund in einer eigentümlich schwachen verfassungsprozessualen Stellung des BVerfG, sofern Entschädigungen wegen vermeintlicher Enteignungen in Rede stehen. Die Schwierigkeiten zeigen sich paradigmatisch in Konstellationen, in denen ein Bürger eine staatliche Maßnahme als Enteignung einstuft und vor den ordentlichen Gerichten eine Entschädigung einklagt, obwohl es an einer gesetzlichen Anspruchsgrundlage fehlt. Für das angerufene Gericht ergeben sich drei Möglichkeiten: Es gibt der Klage statt (1), es weist die Klage als unbegründet ab (2), es hält die der Beeinträchtigung zugrundeliegenden Regelungen für verfassungswidrig und legt die Frage dem BVerfG im Wege einer konkreten Normenkontrolle vor (3). Wird der Klage stattgegeben (1), bleibt der nunmehr belasteten öffentlichen Hand eine Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil verwehrt, da sie als Grundrechts verpflichtete kein Jedermann" im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 BVerfGG ist9 und daher keine Grundrechtsverletzung zu rügen vermag. 10 Wird die Klage abgewiesen (2), könnte der Bürger zwar Verfassungsbeschwerde erheben. In einem solchen Prozeß um die Nichtgewährung einer Entschädigung hat es jedoch eine abschließende Entscheidung des BVerfG über die (doch auch in anderen Fällen erfolgte) Entschädigungsgewährung nie gegeben.11 Für die Zukunft ist eine Verfassungsbeschwerde bei versagter Zuerkennung einer Entschädigung aus einem richterrechtlichen Entschädigungsinstitut allemal ausgeschlossen, da das BVerfG insbesondere den enteignungsgleichen Eingriff, aber auch den aufopferungsgleichen Eingriff als Krohn, Beil. 1/1984 zu AgrarR 4/1984, S. 17; ders., W M 1984, 825; Krohn/Löwisch, Eigentumsgarantie, 1984; Nüßgens/Boujong, Eigentum, 1987. Aus der Rechtswissenschaft sind etwa zu nennen Battis , NVwZ 1982,585; Battis/ Felkl-Brentano, JA 1983,494; F. Baur, NJW 1982, 1734; Bender, BauR 1983,1 ; ders., VB1BW1984,225; Berkemann, JR 1982,229; Götz, AgrarR 1984, 1; Hendler, DVB1. 1983, 873 ; J. Ipsen, DVB1. 1983, 1029; Knauber, NVwZ 1984,753; Leisner, DVB1. 1983, 61; Ossenbühl, NJW 1983, 1; ders., Entwicklungen (1984); Papier, NVwZ 1983,258; Rittstieg, NJW 1982,721; ders., JZ 1983,161; Schmidt-Aßmann, JuS 1986, 833; ders., FS Heidelberg, 107; Schmitt-Kammler, FS E. Wolf, 595; Scholz, NVwZ 1982, 337; Schwabe, JZ 1983,273; Schwerdtfeger, JuS 1983, 104; ders., Struktur (1983). 8 Leisner, DVB1.1983,61 (62). Ähnlich auch Badura, HdBVerfR, § 10 Rz. 56; Böhmer, NJW 1988, 2561. 9 BVerfGE 21, 362 (369; 372); 45,63 (78f.); 61, 82 (105); 68, 193 (206); Krüger, in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 19 Rz. 81 ff.; v. Münch, in ders./Kunig (Hrsg.), GG, vor Art. 1-19, Rz. 10; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 12 Rz. 19. 10 BVerfGE 45, 63 (75 ff.). Hinzu treten zwei weitere Erwägungen: Art. 14 Abs. 3 GG begründet für den zur Entschädigung Verpflichteten kein Grundrecht, zudem ist die Auferlegung einer (noch dazu von der Verfassung vorgesehenen!) Geldleistungspflicht kein Eingriff in die Eigentumsgarantie. 11 Böhmer, Beil. 1/1984 zu AgrarR 4/1984,2 (4). Dem BVerfG wäre es nach seinem eigenen Konzept auch verwehrt gewesen, ohne gesetzliche Grundlage eine Entschädigung zuzugestehen, da hierin ein Verstoß gegen die Junktimklausel liegen würde. Im übrigen kann vermutet werden, daß viele Bürger nach einem Prozeß durch drei Instanzen eine Anrufung des BVerfG unterließen, und zudem die tendenziell eigentümerfreundliche Rechtsprechung des BGH eher selten Anlaß zur Verfassungsbeschwerde gab.

Α. Das Trennungsmodell des BVerfG

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Institute des einfachen Rechts ansieht.12 Eine Verfassungsbeschwerde wäre daher wegen der fehlenden Beschwerdebefugnis als unzulässig abzuweisen, weil es an der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts fehlte. 13 Schließlich kommt eine Vorlage des ordentlichen Gerichtes zum BVerfG im Wege der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG (3) mit der Begründung in Betracht, die fragliche Maßnahme sei eine Enteignung, die aber wegen des Fehlens einer gesetzlichen Entschädigungsregelung nach Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG verfassungswidrig sei. In diesem Verfahren ist das BVerfG auf Vorlagen durch die Fachgerichte angewiesen; da die ordentlichen Gerichte, namentlich der BGH, im Bereich der Eigentumsgarantie Gesetze in aller Regel aber nicht vorlegten, 14 blieben dem BVerfG die Hände gebunden. Selbst wenn ein ordentliches Gericht ein Gesetz einmal vorlegt, wie es der BGH - gedrängt durch den Gesetzgeber in § la Abs. 3 WHG 1 5 und das BVerfG 16 - im Fall von BVerfGE 58,300 (,,Naßauskiesung") tat, treten eigentümliche Schwierigkeiten auf. Denn es fehlt in der Regel an der Entscheidungserheblichkeit der Vorlage, da die Entscheidung des Zivilgerichts bei Verfassungswidrigkeit des angenommenen Enteignungsgesetzes nicht anders ausfällt als bei Verfassungsgemäßheit: 17 Liegt keine Enteignung vor, verfällt die Klage auf Entschädigung der Abweisung, da es einer Entschädigungsregelung nicht bedarf. Liegt dagegen eine Enteignung vor, so bleibt die Klage dennoch erfolglos, weil es an der verfassungsrechtlich notwendigen Entschädigungsregelung als Anspruchsgrundlage fehlt. 18 In dem Ver12

BVerfG, NJW 1992,36 (37); NVwZ 1998,271 (272). Ebenso BGHZ 76,375 (384); 90,17 (29 f.) (unklar noch BGHZ 72, 273 [276]). Wie das BVerfG etwa auch Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 217; Papier, in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 687; Schmitt-Kammler, FS E. Wolf, 595 (611). Unklar Wendt, in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 174. 13 BVerfGE 1, 418 (420) („Hecksche Formel"). Vgl. auch Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 12 Rz. 31 ; Pieroth/Schlink, StaatsR Π, Rz. 1175 ff.; Sturm, in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 93 Rz. 17. 14 Zum Verfahrensaufkommen bis 1982 vgl. Böhmer, Beil. 1/1984 zu AgrarR 4/1984,2(11); ders., Der Staat 1985, 157 (197). 15 Dazu oben § 2 D12 bei Fn. 472. 16 In BVerfGE 45,63 (81). Das BVerfG deutete hier bereits an, daß es die Rechtsprechung des BGH inhaltlich nicht akzeptieren würde, indem es die rechtswissenschaftliche Kritik an den Entscheidungen des BGH zur Naßauskiesung mit auffallender Akribie nachwies. 17 Zu dieser Formel von der Entscheidungserheblichkeit s. BVerfGE 63, 1 (24); 65, 308 (315); 67, 26 (33 f.); 68, 311 (316); 72, 91 (102); 78, 306 (316); Pestalozza,, Verfassungsprozeßrecht, § 13 Rz. 20. 18 Im Fall der Naßauskiesungsentscheidung wurde die Zulässigkeitsprüfung noch erheblich erschwert, weil der BGH die Vorlagefrage nicht so stellte, wie er sie in einem Schwellenmodell hätte stellen müssen. Der BGH formulierte folgende Entscheidungsaltemativen: Handele es sich bei den Regelungen des Wasserhaushaltsgesetzes um eine verfassungsmäßige Inhalts- und Schrankenbestimmung, sei die Klage auf Entschädigung abzuweisen. Handele es sich dagegen um eine verfassungswidrige Inhalts- und Schrankenbestimmung, dann sei mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis der Gesetzgeber eine verfassungskonforme Regelung zum Ausgleich von Grundeigentum und Grundwassemutzung getroffen habe. (BGH, NJW 1978,2290). Der BGH wich also von seiner bisherigen Praxis ab, er hatte „Kreide gefressen". Denn die im Schwellenmodell des BGH konsequente Entscheidungsaltemative hätte doch lauten müssen: Ist die Aus-

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§ 3 Verfassungsrechtliche Eigentumsdogmatik

fahren zu BVerfGE 58,300 (,»Naßauskiesung") überwand das BVerfG diese Hürde mit dem Gedanken des Vertrauensschutzes. Dem Fall lag ein Sachverhalt zugrunde, der in allen wesentlichen Punkten BGHZ 60, 126 („Ur-Naßauskiesung") entsprach.19 Der Kläger in diesem Verfahren durfte, so das BVerfG, auf eine Entschädigung auch ohne gesetzliche Regelung vertrauen, da die Versagung der erforderlichen Genehmigung nur ein gutes halbes Jahr nach der Entscheidung des BGH erfolgt war. 20 Die Möglichkeit zu einer Stellungnahme in der Naßauskiesungsentscheidung nutzte das BVerfG zu einer umfassenden Darstellung seiner Eigentumsdogmatik. Vier Aussagen stehen im Zentrum des Urteils: Inhalts- und Schrankenbestimmungen und Enteignungen sind nach formalen Merkmalen zu trennende Rechtsinstitute (1). Das Eigentum unterliegt gesetzlicher Ausgestaltung, bei der Privatrecht und öffentliches Recht gleichrangig zusammenwirken (2). Eine Enteignungsentschädigung kann nur bei Bestehen einer gesetzlichen Entschädigungsregelung zuerkannt werden (3). Der Bürger hat rechtswidrige Eigentumsbeeinträchtigungen abzuwehren und kann nicht unter Auslassung von Primärrechtsschutz Entschädigung verlangen (4). 21 (1) Trennung von Inhalts- und Schrankenbestimmungen und Enteignungen. Bei Inhalts- und Schrankenbestimmungen, Legalenteignungen und Administrativenteignungen handelt es sich um grundsätzlich verschiedene Rechtsinstitute, die unterschiedlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen unterliegen und nicht beliebig ausgetauscht werden können.22 Sie korrespondieren also nicht mit den Begriffen „leicht" und „schwer", sondern sind bestimmte Formen hoheitlichen Einwirkens auf das Eigentum, die anhand formaler Merkmale zu unterscheiden sind. Daher schlägt eine Inhalts· und Schrankenbestimmung selbst bei Verfassungswidrigkeit nicht in eine Enteignung um, sondern bleibt eine Inhalts- und Schrankenbestimmung.23 gliederung der genehmigungspflichtigen Gewässerbenutzungen aus dem Grundeigentum noch eine Inhaltsbestimmung oder schlägt sie wegen Vorliegens eines Sonderopfers in eine entschädigungspflichtige Enteignung um? (auf dieser Linie das Berufungsgericht: vgl. BGH, NJW 1978,2290 [2290 f.]) Das nun vom BGH in Blick genommene Abwarten auf den Gesetzgeber bedeutete offensichtlich einen stillen Rückzug von ursprünglich wie selbstverständlich beanspruchten Entscheidungsbefugnissen. Nicht zuletzt wegen dieser Fassung der Vorlagefrage bereitete es dem BVerfG große Mühe, die Zulässigkeit der Vorlage zu begründen (BVerfGE 58, 300 [317-328]). Das Gericht löste das Problem, indem es die Vorlagefrage zunächst so umdeutete, wie der BGH sie in einem Schwellenmodell hätte stellen müssen (BVerfGE 58, 300 [318-320] [sub Β11-2]), und erst im Anschluß auf die oben im Text dargestellte Argumentation zum Vertrauensschutz zurückgriff. 19 Dazu schon oben § 2 A bei Fn. 71. 20 BVerfGE 58, 300 (322-326) (sub Β13). Vgl. Engelhardt, NVwZ 1985, 621 (622): „Es überrascht geradezu, daß das BVerfG nach diesen Erwägungen noch zur Zulässigkeit der Vorlage gelangt." 21 In der Literatur sind verschiedentlich ähnliche Versuche unternommen worden, die „Sicherheiten" im Eigentumsrecht zufixieren. Vgl. etwa Lege, Zwangskontrakt, S. 22 ff.; Osterloh, DVB1. 1991,906 (907 ff.); Schmitt-Kammler, FS Uni Köln, 821 (821 f.). 22 BVerfGE 58, 300 (331). Ähnlich auch vorher 45, 297 (332); 52, 1 (27). 23 BVerfGE 58,300 (320). Auch BVerfGE 52, 1 (27); 58, 137 (145); 79, 174 (192). Zu einer ganz ähnlichen Formulierung in BGHZ 6,270 vgl. bereits oben § 2 A bei Fn. 25.

Α. Das Trennungsmodell des BVerfG

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Die drei Institute grenzt das BVerfG mit berühmt gewordenen Definitionen ab: Inhalts- und Schrankenbestimmungen im Sinn des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG sind solche Normen, die generell und abstrakt die Rechte und Pflichten der Eigentümer festlegen und so den Inhalt des Eigentums bestimmen. Durch sie schafft der Gesetzgeber auf der Ebene des objektiven Rechts diejenigen Rechtssätze, die die Rechtsstellung des Eigentümers begründen und ausformen. 24 Mittels einer Legalenteignung entzieht der Gesetzgeber einem bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis konkrete Eigentumsrechte, die aufgrund der allgemein geltenden Gesetze im Sinne des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG rechtmäßig erworben sind.25 Eine Administrativenteignung ist demgegenüber der Entzug konkreter Rechte einzelner durch einen behördlichen Vollzugsakt, der einer gesetzlichen Ermächtigung bedarf. 26 (2) Eigentum. Das Verständnis von Inhalts- und Schrankenbestimmungen als Normen, die die Eigentumsordnung gestalten, wirkt sich auf den Begriff des Eigentums aus. Dieser könne nur „aus der Verfassung selbst gewonnen werden." 27 Dabei sei der Gesetzgeber berufen, den Schutzbereich des Art. 14 GG auszugestalten, denn „welche Befugnisse einem Eigentümer in einem bestimmten Zeitpunkt zustehen, ergibt sich [...] aus der Zusammenschau aller in diesem Zeitpunkt geltenden, die Eigentümerstellung regelnden gesetzlichen Vorschriften." 28 Bei dieser Ausgestaltung wirken privates und öffentliches Recht gleichrangig zusammen.29 Öffentlich-rechtliche Beschränkungen durch Inhalts- und Schrankenbestimmungen sind danach also nicht etwa Eingriffe in eine zunächst im Sinne von § 903 S. 1 BGB als unbeschränkt gedachte Herrschaftsbefugnis des Eigentümers, sondern gestalten von vornherein den Schutzbereich der Eigentumsgarantie,30 der dadurch eine starke Normprägung erfährt. (3) Erfordernis einer gesetzlichen Entschädigungsregelung. Beim Vorliegen von Enteignungen gilt Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG. Danach darf eine Enteignung nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt; fehlt es an einem solchen Gesetz, kann auch ein Gericht keine Enteignungsentschädigung gewähren. Enteignungsnormen ohne gesetzliche Entschädigungsregelung sind verfassungswidrig und nichtig, während eine Ergänzung und „Heilung" durch Zuerkennung einer richterrechtlichen Entschädigung - aus welchem Rechtsinstitut auch immer - nicht möglich ist.31 24

BVerfGE 58,300 (330). So auch BVerfGE 20,351 (355), 24,367 (396); 45,297 (325), 52,1

(27). 25

BVerfGE 58, 300 (331). BVerfGE 58, 300 (331). 27 BVerfGE 58, 300 (335). 28 BVerfGE 58,300 (336). 29 BVerfGE 58, 300 (336). 30 BVerfGE 58,300 (334ff.). 31 BVerfGE 58,300 (319; 324). Diese an sich selbstverständliche Aussage hatte das Gericht bereits in BVerfGE 4, 219 (228 ff.) ausführlich begründet. 26

7 Külpmann

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§ 3 Verfassungsrechtliche Eigentumsdogmatik

(4) Vorrang des Primärrechtsschutzes. Es liegt in der Konsequenz des Trennungsmodells, daß die Frage besonderer Aufmerksamkeit bedarf, wie sich der Bürger gegen rechts-, insbesondere verfassungswidrige Maßnahmen zur Wehr setzen kann, da eine „Bewältigung" der Eigentumsverletzung durch Zahlung einer richterrechtlich gewährten Enteignungsentschädigung grundsätzlich ausscheidet. Der Bürger wird vom BVerfG auf den Verwaltungsrechtsweg verwiesen, den der Bürger beschreiten muß, will er keinen Rechtsverlust erleiden. Denn wer „von den ihm durch das Grundgesetz eingeräumten Möglichkeiten, sein Recht auf Herstellung des verfassungsgemäßen Zustandes zu wahren, keinen Gebrauch macht, kann wegen eines etwaigen, von ihm selbst herbeigeführten Rechtsverlustes nicht anschließend von der öffentlichen Hand Geldersatz verlangen." 32 Mit dieser Konzeption formulierte das BVerfG die tragenden Säulen einer Eigentumsdogmatik, die sich aus der Tradition der zivilgerichtlichen Rechtsprechung und deren Wurzeln in der Weimarer Republik löste. Diese Ablösung dürfte zu einem Teil durch die Änderungen im Text der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantien begründet gewesen sein;33 wichtiger aber waren wohl die Veränderungen im Gesamtgefüge der Verfassungen, sowohl in ihren staatsorganisatorischen wie in ihren grundrechtlichen Teilen.34 Diese Änderungen betreffen vier Punkte: Das Verhältnis der Gerichte, insbesondere der ordentlichen Gerichte, zum Gesetzgeber (1), die Aufgabenteilung zwischen der Verwaltungsgerichtsbarkeit und der ordentlichen Gerichtsbarkeit (2), die Durchsetzung des Verwerfungsmonopols des BVerfG (3) und schließlich die Stellung des Bürgers gegenüber der öffentlichen Gewalt (4). (1) Stärkung des parlamentarischen Gesetzgebers. Die Eigentumsdogmatik des BVerfG stärkt den parlamentarischen Gesetzgeber gegenüber den Zivilgerichten, 35 32

BVerfGE 58, 300 (324). S. a. Böhmer, NJW 1988,2561 (2564). Die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG Schloß zwar im Grundsatz an den Text des Art. 153 WRV an, brachte aber auch einige Änderungen: So stellte der Parlamentarische Rat die Absätze 2 und 3 um (dazuBöhmer, NJW 1988,2561 [2572]) und nahm das zuvor in Art. 154 WRV geregelte Erbrecht in die Eigentumsgarantie auf. Mit der Regelung der Legalenteignung in Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG sanktionierte das Grundgesetz die schon durch das Reichsgericht erfolgte Ausweitung des Enteignungsbegriffs auf Gesetze; nicht mehr in Art. 14 GG vorgesehen war die Abdingbarkeit des ordentlichen Rechtswegs durch einfaches (Reichs-) Gesetz (Art. 153 Abs. 2 S. 2 2. Hs. WRV) sowie die Regelung über die Enteignung von Hoheitsträgern durch das Reich (Art. 153 Abs. 2 S. 4 WRV). Eine einschneidende Veränderung erfuhr die Junktimklausel. Art. 153 Abs. 2 S. 2 WRV war nach herrschender Meinung eine Anspruchsgrundlage (RGZ 112, 189 [191]; Anschütz, Verfassung, Art. 153 Anm. 13; Böhmer, NJW 1988,2561 [2565]; Stödten Entschädigung, S. 238; anders RGZ 111,123 [132]), konnte allerdings durch Reichsgesetz abbedungen werden. Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG verpflichtet demgegenüber den Gesetzgeber für Enteignungen eine Entschädigungsregelung als Anspruchsgrundlage zu schaffen. Diesen Änderungen hatte die Literatur nach 1949 allerdings zunächst wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Vgl. Forsthoffi VerwR I, § 18.2, S. 334; Weber, Grundrechte II, 331 (346). Bereits sehr früh zu den grundsätzlichen Unterschieden Haas, System, S. 14 ff. Weitere Nachweise bei Böhmer, Der Staat 1985,157 (165 m. Fn.20). 33

34 35

So auch Böhmer, Beil. 1/1984 zu AgrarR 4/1984,2 (8); ders., Der Staat 1985, 157 (193). Böhmer, Der Staat 1985, 157 (164).

Α. Das Trennungsmodell des BVerfG

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denn dieser soll bestimmen, was Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums und was Enteignung ist. Regelungen durch Inhalts- und Schrankenbestimmungen soll der BGH nicht eigenmächtig in eine Enteignung umdeuten können.36 Dabei sollten zugleich die Schwierigkeiten der Junktimklausel beseitigt werden: Stand der Gesetzgeber unter der Herrschaft des Schwellenmodells oftmals vor der Frage, ob die erst ex post feststellbaren Folgen einer Handlung noch im Rahmen der Sozialbindung verbleiben würden, so sollte der Enteignungsbegriff des Trennungsmodells Enteignungen ex ante erkennbar machen.37 Einen Machtzuwachs erfuhr der Gesetzgeber ebenso durch die Ausgestaltungsbefugnis bei der Bestimmung des Schutzbereichs der Eigentumsgarantie. Das gleichrangige Zusammenwirken von privatem und öffentlichem Recht bei der Ausgestaltung des Eigentums bedeutet eine Abkehr von der Vorstellung, jede Beschränkung der absoluten Herrschaftsgewalt über eine Sache sei ein Eingriff in das Eigentum. Vielmehr ist es nunmehr dem Gesetzgeber aufgetragen, Befugnisse und Pflichten der Eigentümer zu regeln und so den Schutzbereich des Grundrechts zu gestalten.38 (2) Stärkung der Verwaltungsgerichte. Unter den Fachgerichten führte die verfassungsgerichtliche Eigentumskonzeption zu einer Machtverschiebung von den ordentlichen Gerichten hin zu den Verwaltungsgerichten. 39 Die dem Eigentümer auferlegte Anfechtungslast zwingt diesen, bei hoheitlichen Beeinträchtigungen des Eigentums Primärrechtsschutz zu suchen, für den nach § 40 Abs. 1 VwGO die Verwaltungsgerichte zuständig sind. Die Zivilgerichte, nach Art. 14 Abs. 3 S. 4 GG nur für die Entscheidung über die Höhe der Enteignungsentschädigung zuständig, verloren damit an Einfluß auf die Dogmatik des Eigentums, den sie in Zeiten eines allgemeinen „Dulde und liquidiere" gewonnen hatten. (3) Durchsetzung des Verwerfungsmonopols des BVerfG. Die neue Dogmatik des Art. 14 GG sollte auch der Stellung des BVerfG, insbesondere seinem nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, 100 Abs. 1 GG bestehenden Verwerfungsmonopol für formelle, nachkonstitutionelle Gesetze gerecht werden.40 Der BGH hatte sich durch sein Schwellenmodell mehr und mehr zu einem Verfassungsgericht in Eigentumsfragen entwickelt;41 dieser Entwicklung gebietet die neue Eigentumsdogmatik Einhalt, da der Bürger nunmehr gehalten ist, Primärrechtsschutz vor den Verwaltungsgerichten zu suchen. Halten diese den angegriffenen hoheitlichen Akt wegen der Verfassungswidrigkeit der ihm zugrundeliegenden Norm für rechtswidrig, haben sie diese Norm, 36

Böhmer, Beil. 1/1984 zu AgrarR 4/1984, 2 (11); ders., Der Staat 1985, 157 (161); ders., NJW 1988,2561 (2573). 37 Vgl. Böhmer, Beil. 1/1984 zu AgrarR 4/1984,2 (4,9,16); Breuer, Bodennutzung, S. 66ff.; Schmidt-Aßmann, FS Heidelberg, 107 (111). 38 Böhmen Beil. 1/1984 zu AgrarR 4/1984, 2 (14); ders., Der Staat 1985, 157 (164); ders., NJW 1988, 2561 (2573). 39 Böhmer, Der Staat 1985,157 (162f.). 40 Böhmer, Beil. 1/1984 zu AgrarR 4/1984, 2 (11); ders., Der Staat 1985, 157 (163). 41 Dazu bereits oben § 2 A bei Fn. 76. Ί*

100

§ 3 Verfassungsrechtliche Eigentumsdogmatik

sei es eine Inhalts- und Schrankenbestimmung, sei es ein Enteignungsgesetz, dem BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG vorzulegen. In solchen Fällen ist es, anders als in einem Rechtsstreit um die Entschädigung, grundsätzlich entscheidungserheblich, ob die fragliche Norm verfassungsgemäß ist: Denn wenn dies der Fall ist, kommt es zur Klageabweisung, sonst aber zur Stattgabe; eine Heilung durch Entschädigung scheidet dagegen aus. Auf diesem Weg sollte das BVerfG verstärkt die Möglichkeit erhalten, die Dogmatik des Art. 14 GG zu gestalten. (4) Grundrechtliche Normalität. Das Konzept des BVerfG stellt das Eigentumsgrundrecht mit den Worten F. Schochs von seinem »„entschädigungsrechtlichen Kopf auf die ,grundrechtlichen Füße4".42 Art. 14 GG ist als Grundrecht ein Abwehrrecht gegen den Staat, das vor hoheitlichen Eingriffen in den Eigentumsbestand schützt. Garantiert wird die Freiheit des einzelnen im vermögensrechtlichen Bereich und nicht allein der Wert des Eigentumsgegenstandes in der Hand des Eigentümers. Daher ist es auch nicht notwendig, Eigentumsschutz entsprechend der zivilgerichtlichen Konzeption43 allein mittels des (dann zwangsläufig sehr weiten) Enteignungsbegriffes zu vermitteln, sondern der Schutz des Eigentums wird durch - je nach der Form des hoheitlichen Handelns verschiedene - Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen verwirklicht. Verfehlt die öffentliche Hand diese rechtlichen Anforderungen an Inhalts· und Schrankenbestimmungen, Legal- oder Administrativenteignungen, so wird der grundrechtliche Schutzmechanismus ausgelöst, der auf Abwehr der hoheitlichen rechtswidrigen Beeinträchtigung zielt. Eigentumswerfschutz kommt grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn die öffentliche Hand den bestehenden Eigentumsbestandsschutz überwindet und entsprechend einer gesetzlichen Regelung nach Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG Enteignungsentschädigung zu leisten hat.44

B. Grundrechtlicher Aufbau von Art. 14 GG Im folgenden wird die Dogmatik des Eigentums in ihren Grundzügen skizziert. Die Darstellung folgt dem dreistufigen Schema „Schutzbereich - Eingriff - Verfassungsrechtliche Rechtfertigung". Dabei ist eine umfassende Darstellung aller Probleme weder möglich noch angestrebt.45

42

Schoch, Jura 1989, 113. S. o. § 2 A. 44 BVerfGE 24, 367 (397). 45 Zu verweisen ist hier auf die Kommentierungen zu Art. 14 bei (in Reihenfolge ihres Umfangs) Jarass y in Jarass/Pieroth, GG; Schmidt-Bleibtreu, in Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG; Wendt in Sachs (Hrsg.), GG; Wieland, in Dreier (Hrsg.), GG; Bryde, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG; AK -Rittstieg; BK-Kimminich; Papier, in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG. Zu Vorbehalten gegen diese Darstellungen aus der Sicht der Trennungstheorie allerdings Lege, Zwangskontrakt, S. 34 m. Fn. 70. 43

Β. Grundrechtlicher Aufbau von Art. 14 GG

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I. Schutzbereich 1. Schutzobjekt: „Eigentum" Art. 14 GG schützt das Eigentum,46 also die Zuordnung bestimmter Eigentumsobjekte zu bestimmten Personen als Grundrechtsträger. Die Frage, ob eine bestimmte Zuordnung Eigentum im Sinne des Art. 14 GG begründe, bedarf daher der Untergliederung in drei Fragen: Ist der Berechtigte überhaupt Träger des Eigentumsgrundrechts? Kann das betroffene Objekt Gegenstand der Eigentumsgarantie sein? Begründet die Zuordnung nach ihrer Struktur Eigentum im Sinn des Art. 14 GG? Träger des Eigentumsgrundrechts sind alle natürlichen Personen sowie die inländischen juristischen Personen des Privatrechts und ihnen gleichgestellte Vereinigungen. Dagegen sind in der Regel juristische Personen des öffentlichen Rechts nicht Träger der Eigentumsgarantie, da Art. 14 GG „nicht das Privateigentum, sondern das Eigentum Privater" 47 schützt.48 In der Hand des Staates oder seiner Untergliederungen kann sich zwar Privateigentum befinden, es hat hier aber nicht die Funktion, privaten Interessen und der privaten Freiheit zu dienen.49 Der Kreis möglicher Eigentumsobjekte ist vom BGH - in Fortsetzung der Entwicklung unter der Weimarer Reichsverfassung - beständig erweitert worden, 50 das rechts wissenschaftliche Schrifttum hat diese Tendenz im ganzen mitgetragen.51 Auch die Naßauskiesungsentscheidung hat diese Entwicklung unberührt gelassen, obwohl das BVerfG sich grundsätzlich von der vom Reichsgericht und dem BGH begründeten Traditionslinie abgewandt hat. Hinter diesem Festhalten an der Ausweitung des Eigentumsbegriffs steht offenbar die Überzeugung, daß die sachliche Reichweite der Eigentumsgarantie durch das Trennungsmodell nicht verkürzt werden dürfe, und dieses in der Lage sein müsse, auch die Eigentumsobjekte angemessen zu erfassen, die erst im Laufe der Entwicklung unter den Eigentumsschutz gestellt worden sind.52 46

Das Erbrecht bleibt hier außer Betracht. Grundlegend BVerfGE 61, 82 (109) („Sasbach"). 48 BVerfGE 45, 63 (81); 75, 192 (197); 78, 101 (102). Böhmer, NJW 1988, 2561 (2566); Bryde, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 6 ff.; Papier, in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 204ff.; Wendt, in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 17 ff. Ausführlich dazu Stern, StaatsR III/1, § 71 VII, S. 1149 ff. (auch zu den Ausnahmen von dieser Regel). 49 BVerfGE 61, 82 (108). 50 S.oben § 2 A bei Fn.20. 51 Vgl. etwa Bryde, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 11 ff.; D. Ehlers, VVDStRL 51 (1991), 211 (214ff.);Haas, System, S.33ff.; Jarass, in Jarass/Pieroth, GG, Art. 14Rz.5ff.; Leisner, HdBStR VI, § 149 Rz. lOOff.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 150; W. Weber, Grundrechte II, 331 (352 f.); Wendt, in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 21 ff. 52 Dazu zählen insbesondere die öffentlich-rechtlichen Positionen, s. sogleich in Fn. 58; Lege, Zwangskontrakt, S. 118 ff. 47

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§ 3 Verfassungsrechtliche Eigentumsdogmatik

Art. 14 GG schützt zunächst alle privaten Vermögenswerten Rechte, beispielhaft seien das Sacheigentum, Forderungen, 53 dingliche Rechte wie etwa das Erbbaurecht, 54 die Vermögenswerten Befugnisse des Urhebers, 55 Vorkaufsrechte 56 oder das Besitzrecht des Mieters 57 genannt. Vermögenswerte Rechte des öffentlichen Rechts (insbesondere des Sozialversicherungsrechts) werden geschützt, wenn sie dem einzelnen als privatnützig zugeordnet sind, auf einer nicht unerheblichen Eigenleistung beruhen und der Existenzsicherung dienen.58 Keinen Schutz genießt nach bisher herrschender Meinung das Vermögen als ganzes, so daß Art. 14 GG in der Regel nicht gegen die Auferlegung von staatlichen Geldleistungen schützt.59 Ob das BVerfG an diesem Ansatz festhalten wird, ist nach dem Beschluß vom 22.06.199560 („Einheitswert") allerdings zweifelhaft, da das Gericht nunmehr Art. 14 GG entnimmt, die steuerliche Gesamtbelastung dürfe zu keiner stärkeren Belastung als einer hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand führen. 61 Inwieweit das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb von Art. 14 GG als Eigentum geschützt wird, ist noch nicht abschließend geklärt. Dabei geht es um die Frage, ob das Unternehmen als solches eigenständig Schutzobjekt der Eigentumsgarantie sei, wohingegen der Schutz der einzelnen Eigentumsobjekte, aus denen sich das Unternehmen zusammensetzt, unstreitig ist. Das BVerfG hat das 33

BVerfGE 45, 142 (179); 68, 193 (222); Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 124. BVerfGE 79,174(191). 55 BVerfGE 31,229 (239), 77,263 (270); 79,1 (25). 56 BVerfGE 83,201 (210). 37 BVerfGE 89,1(5 f.). 58 BVerfGE40,65 (83) (offen gelassen); 45,142 (170); 53,257 (289ff.); 69,272 (300ff.); etwas enger BVerfG, JZ 1998,674 („Hinterbliebenenversorgung"); BGHZ 81,21 (33 f.); 92,94. Aus der Literatur etwa Ery de, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 25 ff.; Dürig, FS Apelt, S. 13 (41 ff.).; D. Ehlers, VVDStRL 51 (1991), 211 (215); Haas, System, S. 34; Hesse, Grundzüge, Rz.443f.; Leisner, HdBStR VI, § 149 Rz. 119 ff.; Nüßgens/Boujong, Eigentum, Rz. 115 ff.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 155 ff.; Städter, Entschädigung, S. 159 f. Kritisch Papier, Eigentumsgarantie, S. 9 ff.; Rittstieg, Eigentum, S. 369 ff.; umfangreiches Material zu dieser Frage bei Stober (Hrsg.), Eigentumsschutz, S. 60 ff. 59 Im einzelnen ist hier vieles streitig. Zum grundsätzlichen Ausschluß des Vermögens aus Art. 14 GG s. BVerfGE 4,7 (17); 30,250 (271 f.); 65, 196 (209); 74, 129 (148); 78,232 (243), 81, 108 (122). Etwas anderes soll gelten, wenn Steuern zu einer grundlegenden Beeinträchtigung der Vermögens Verhältnisse führen oder eine erdrosselnde Wirkung haben. So jedenfalls BVerfGE 14,221 (241); 30,250 (271); 76,130 (141); 78,232 (243); 82,159 (190). Aus der Literatur ζ. B. Bryde, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 23; Jarass, in Jarras/Pieroth, GG, Art. 14 Rz. 12; Leisner, HdBStR VI, § 149 Rz. 124ff.; Papier, in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 160; ders., Eigentumsgarantie, S. 14ff.; Ramsauer, Beeinträchtigungen, S. 133 f.; AK -Rittstieg, Art. 14/15 Rz. 125; ders., Eigentum, S. 377; Scholz, NVwZ 1982, 337 (340; 347 f.); Wendt, in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 38 f. Für einen generellen Schutz des Vermögens insb. BK-Kimminich, Art. 14 Rz. 50ff.; kritisch Hesse, Grundzüge, Rz. 447; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 201 ff. 60 BVerfGE 93, 121. 61 BVerfGE 93,121 (136) m. abw. Meinung Böckenförde, ebd., S. 149ff.; zustimmend Leisner, NJW 1995, 2591 (2596); ablehnend Bull, NJW 1996, 281; s. auch Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 203. 54

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Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbetrieb zunächst in einem sehr frühen obiter dictum anerkannt,62 in der Folge aber immer wieder Zweifel angemeldet und die Frage häufig ausdrücklich offen gelassen, ohne daß es in dem jeweiligen Fall auf eine Antwort angekommen wäre. 63 Das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbetrieb (ζ. T. wird auch vom Recht am Unternehmen gesprochen) wird dagegen von der herrschenden Meinung64 ebenso wie vom BGH 65 und vom BVerwG 66 als Schutzobjekt grundsätzlich anerkannt. 62

BVerfGE 1, 264 (277). Mit einschränkender Tendenz zunächst BVerfGE 13,225 (229); 45,142 (173). Sehr deutliche Zweifel in BVerfGE 51,193 (221 f.): „Es ist die Frage, ob der Gewerbebetrieb als solcher die konstituierenden Merkmale des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs aufweist. Eigentumsrechtlich gesehen ist das Unternehmen die tatsächliche - nicht aber die rechtliche Zusammenfassung - der zu seinem Vermögen gehörenden Sachen und Rechte, die an sich schon vor verfassungswidrigen Eingriffen geschützt sind"; in diese Richtung dann auch BVerfGE 58,300 (353); 66,116 (145); 68,193 (222); 77,84 (118). Eher zur Anerkennung scheinen die Entscheidungen BVerfGE 81, 40 (51); 81, 208 (228) zu neigen. Die Annahme, das BVerfG habe das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb inzwischen anerkannt, (Ossenbühl, AöR 115 [1990], 1 [28 m. Fn. 186] unter Berufung auf BVerfGE 77,84 [118]) hat sich indes als falsch erwiesen, nachdem das BVerfG in seiner Kammerentscheidung vom 29.07.1991 die Frage erneut ausdrücklich offen gelassen hat (BVerfG, NJW 1992,36 [37]). 64 Ausführlich bei Engel, AöR 118 (1993), 169 (174) (m. Nw. in Fn. 19). S. etwa auch D. Ehlers , V VDStRL 51 (1991), 211 (215); BK-Kimminich, Art. 14 Rz. 77 ff.; Nüßgens/Boujong, Eigentum, Rz. 76 ff.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 159 ff.; Papier, in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 96ff.; ders., Jura 1981,65 (68); Rüfner, in Erichsen (Hrsg.), AllgVerwR, § 49 Rz. 17; Wendt, in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 47 ff. Kritisch dagegen Kempen, Eingriff, Rz. 28 ff.; Steinberg/Lubberger, Aufopferung, S. 78 ff.; Steinberg, VVDStRL 51, ( 1991), 328 (330); einschränkend auchBryde, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 18 ff.; ganz ablehnend AK -Rittstieg, Art. 14 Rz. 99f.; ders., Eigentum, S. 354 ff.; Sendler, UPR 1983, 33 (36). - Folgende Gründe sprechen im Ergebnis wohl gegen eine Anerkennung des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebtrieb als Eigentum im Sinne von Art. 14 GG:Zunächst ist die Verortung bei Art. 14 Abs. 1 GG sehr zweifelhaft, da die Eigentumsgarantie ja nur das Erworbene, den Erwerb dagegen die Berufsfreiheit schützen soll (BVerfGE 30, 292 [335]). Was aber über den durch Art. 14 GG geschützten Bestand an Einzelpositionen hinausgeht, also die Tätigkeit des Unternehmens und seine Position am Markt, ist eher dem Erwerb als dem Erworbenen zuzuordnen (AK-Rittstieg, Art. 14 Rz. 100; Steinberg!Lubber ger, Aufopferung, S. 78 ff.). Weiter fehlt es an einer gesetzgeberischen Ausformung der Rechtsposition, allein der Begriff des sonstigen Rechtes in § 823 Abs. 1 BGB und die dazu ergangene zivilgerichtliche Rechtsprechung ist nicht ausreichend (Wieland, in Dreier [Hrsg.], GG, Art. 14 Rz. 44). Dagegen schützen eine Vielzahl von Gesetzen die einzelnen Bestandteile des Unternehmens (Urheberrechte, Markenrechte, Patente usw.). Schließlich kann der weite Schutzbereich der Rechtsfigur nicht wie im Zivilrecht durch das Erfordernis betriebsbezogener Eingriffe beschränkt werden (Kempen, Eingriff, Rz. 33). Allerdings liegt der Rechtsfigur des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebes ein berechtigtes Anliegen zu Grunde: Die Figur soll der Tatsache Rechnung tragen, daß das Unternehmen mehr wert ist als die Summe seiner Teile und dieser Mehrwert auch im Rahmen des Grundrechtsschutzes Beachtung finden muß. Diesem Mehrwert kann Rechnung getragen werden, indem der Gesichtspunkt der Beeinträchtigung des Gewerbebetriebes bei der Höhe der Entschädigung berücksichtigt wird (so Bryde, in v. Münch/Kunig [Hrsg.], GG, Art. 14 Rz. 19). 63

65 66

BGHZ 111,349 (355 f.). BVerwGE 67,93 (96).

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Wie die Zuordnung eines Gegenstandes zu einem Grundrechtsträger ausgestaltet sein muß, um Eigentum im Sinne der Verfassung zu begründen, hat das BVerfG in einigen frühen Urteilen durch Vergleich mit dem Eigentum zu ermitteln versucht, das sich im bürgerlichen Recht und nach den gesellschaftlichen Anschauungen herausgebildet hat.67 Diese - wegen ihrer Bezugnahme auf die privatrechtliche Eigentümerposition und damit auf § 903 S. 1 BGB wenig brauchbare - Umschreibung verwendet das BVerfG nicht mehr. Vielmehr sieht es den rechtlichen Gehalt des Eigentums in der Privatnützigkeit und der grundsätzlichen Verfügungsbefugnis des Eigentümers über den Eigentumsgegenstand.68 Der Eigentümer kann den Gegenstand, der ihm von der Rechtsordnung zugeordnet wird, innehaben und ihn nutzen.69 Dabei bedarf die Ausgestaltung des Eigentums der gesetzgeberischen Regelung. Erst eine Zusammenschau aller in dem jeweiligen Zeitpunkt geltenden zivilrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Vorschriften ergibt, was als Eigentum von der Verfassung geschützt wird. 70 Damit gestaltet der Gesetzgeber selbst den Schutzbereich der Eigentumsgarantie, wobei er weder an einen sich aus der „Natur der Sache" ergebenden noch an den zivilrechtlichen Eigentumsbegriff gebunden ist. 71 Die von Art. 1 Abs. 3 GG geforderte Grundrechtsbindung des Gesetzgebers wird durch verschiedene verfassungsrechtliche Vorgaben verwirklicht, denen der Inhalt und Schranken bestimmende Gesetzgeber unterliegt. 72

2. Schutzrichtungen der Eigentumsgewährleistung Die Eigentumsgewährleistung des Art. 14 GG weist mehrere miteinander verzahnte Gewährleistungen auf. Art. 14 GG garantiert subjektiv-rechtlich den Bestand des Eigentums in der Hand eines Eigentümers, bietet in Art. 14 Abs. 3 GG der öffentlichen Hand jedoch die Möglichkeit, diese Bestandsgarantie durch Enteignungen zu überwinden. In diesem Falle tritt an die Stelle der Bestandsgarantie eine Wertgarantie. Neben diese subjektiv-rechtlichen Garantien tritt als wichtig-

67 BVerfGE 2, 380 (402); 4, 219 (240); 11,64 (70); 14,263 (278); 65,196 (209). Vgl. auch Ery de, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 11; Schmitt-Kammler, FS Uni Köln, 821 (822 m.Fn.8). 68 BVerfGE 24, 367 (390); 31, 229 (240); 37, 132 (140); 42, 263 (294); 52, 1 (30); 53, 257 (290); 82, 1 (16); 83, 209 (210); 84, 382 (384), 88, 366 (384); 89, 1 (6f.); Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 150; Wendt, in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 5. 69 D. Ehlers, VVDStRL 51 (1991), 211 (214); Hesse, Grundzüge, Rz.444; Jarass, in Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rz. 5; Schoch, Jura 1989, 113 (115); ders., FS Boujong, 655 (659); Wendt, in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 21. 70 BVerfGE 58, 300 (336); Böhmer, NJW 1988, 2561 (2566ff.); D. Ehlers, VVDStRL 51 (1991), 211 (214). 71 BVerfGE 58, 300 (334). 72 Zu diesen Schranken s. unten § 3 Β III 1.

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ste73 objektiv-rechtliche Garantie die Gewährleistung des Rechtsinstituts des Eigentums. Die Eigentumsgarantie ist wie alle Grundrechte ein subjektives Abwehrrecht des Bürgers gegen den Staat. Sie sichert die Freiheit im vermögensrechtlichen Bereich. Geschützt wird der Bestand der konkreten Befugnisse in der Hand des Eigentümers - denn die Eigentumsgarantie ist in erster Linie Rechtsträger- und nicht Sachgarantie.74 So selbstverständlich diese Aussage mit Blick auf die grundrechtliche Normallage scheinen mag, so deutlich ist sie eine Absage an die Versuche der Zivilgerichtsbarkeit, Eigentumsschutz in der Tradition der Weimarer Verfassung als Eigentumswertschutz zu verwirklichen. Unter der Herrschaft des Grundgesetzes kann der Bürger rechtswidrige Eingriffe in sein Eigentum durch verwaltungsgerichtlichen und ggf. verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz abwehren; er ist nicht gehalten, derartige Eingriffe hinzunehmen und sich mit Entschädigung zu begnügen. Im Gegenteil: Dem Bürger droht ein Rechtsverlust, falls er einen rechtswidrigen Eingriff duldet, da er trotz des Eingriffs eine Entschädigung als „Heilung" nicht verlangen kann.75 Indem die Zuordnung eines Eigentumsgegenstandes zu einem Grundrechtsträger geschützt wird, zeigt sich die „personhafte Bezogenheit"76 des Eigentums als Freiheitsrecht, das eben mehr garantiert als den im Eigentumsgegenstand verkörperten Wert. Damit soll Art. 14 GG als Grundrecht den Menschen als freie Person schützen und nicht auf die Rolle als Inhaber bestimmter Vermögenswerte beschränken.77 Beim Zugriff des Staates auf das Eigentum mittels einer Enteignung wird die Bestandsgarantie überwunden und wandelt sich zu einer Eigentumswertgarantie. Denn es gibt insbesondere im Bereich des (unvermeidbaren) Grundeigentums immer wieder Situationen, in denen der Staat des Eigentums des einzelnen bedarf, um hoheitlichen Aufgaben, etwa beim Bau von Straßen, Eisenbahnlinien oder Flughäfen, nachzukommen. Nach Art. 14 Abs. 3 GG bleibt in diesem Fall allein der Wert des Eigentums geschützt.78 Die Wertgarantie folgt dabei der Bestandsgarantie nach: Rechtspositionen, die von der Bestandsgarantie nicht umfaßt werden, werden von 73 Große Bedeutung hat auch die Verfahrensgarantie im Bereich des Art. 14 GG erlangt. Unmittelbar aus Art. 14 GG folgt die Pflicht, bei Eingriffen in das Eigentum effektiven Rechtsschutz zu gewähren (BVerfGE 37,132 [141,148]; 49, 220 [225]; 53, 30 [65]; Wendt, in Sachs [Hrsg.], GG, Art. 14 Rz.43; eher kritisch Schmidt-Aßmann, FS Heidelberg, 107 [123 f.; 134]). Auch Verwaltungsverfahren, namentlich planerische Entscheidungen, müssen so ausgestaltet sein, daß der Eigentümer seine Interessen hinreichend zur Geltung bringen kann. Dazu etwa auch Kempen, Eingriff, Rz. 77 ff. 74 BVerfGE 24,367 (400); 38, 175 (181,184f.); 58, 300 (323); 74, 264 (283); Jarass, in Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rz. 2; Leisner, HdBStR VI, § 149 Rz. 5; Schoch, Jura 1989,113(114); Wendt, in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 9. 75 BVerfGE 52, 1 (27 f.); 58, 300 (324). 76 BVerfGE 24, 367 (400). Die Formulierung geht zurück auf M. Wolff, FG Kahl, 1 (6). 77 Böhmer, NJW 1988, 2561 (2563). 78 Badura, StaatsR, C 86; Bryde, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 31; Hesse, Grundzüge, Rz. 449; Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rz. 898.

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Art. 14 Abs. 3 GG auch nicht ihrem Werte nach geschützt. Eine Enteignung kommt daher nur bei Rechtspositionen in Betracht, „die aufgrund der allgemein geltenden Gesetze im Sinne des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG rechtmäßig erworben worden sind." 79 Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG verpflichtet den Gesetzgeber zur Regelung von Art und Ausmaß einer Entschädigung, die nach Art. 14 Abs. 3 S. 3 GG unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen ist. Allein wegen der Höhe der Entschädigung - nicht etwa wegen des Vorliegens einer Enteignung! - steht nach Art. 14 Abs. 3 S. 4 GG im Streitfalle der Weg zu den ordentlichen Gerichten offen. Bestands- und Wertgarantie des Eigentums würden leerlaufen, wenn der Gesetzgeber das Eigentum durch ein Rechtsinstitut ersetzen könnte, das diesen Namen nicht verdiente.80 Zur Sicherung des Abwehrrechtes „Eigentum" ist daher der objektiv-rechtliche Gewährleistungsgehalt der Institutsgarantie zu beachten. Der Gewährleistungsgehalt dieser Institutsgarantie ist bisher kaum ausdifferenziert worden, nicht zuletzt, weil bei der grundsätzlichen politischen Anerkennung des Privateigentums und in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität (oder doch zumindest der Abwesenheit einer fundamentalen Krise) Angriffe des Gesetzgebers auf das Institut des Eigentums ausgeblieben sind.81 Die Institutsgarantie schützt jedenfalls vor der Abschaffung des Privateigentums sowie vor dem Ausgliedern von Sachbereichen aus der Privatrechtsordnung, die zum elementaren Bestand grundrechtlicher Freiheitsausübung im vermögensrechtlichen Bereich gehören; sie schließt dagegen nicht aus, daß bestimmte Eigentumsgegenstände einer öffentlich-rechtlichen Sachherrschaft unterstellt werden. 82 Im Bereich des enteignenden Eingriffs spielt die Institutsgarantie des Eigentums keine Rolle, da die hier in Rede stehenden einzelnen Eigentumsbeeinträchtigungen das Rechtsinstitut des Eigentums unberührt lassen. Beeinträchtigungen, die wegen enteignenden Eingriffs entschädigt wurden, bewegen sich vielmehr im Spannungsfeld von Bestandsgarantie und möglicher Abwehr von Beeinträchtigungen auf der einen und Wertgarantie und möglicher staatlicher Entschädigungspflicht auf der anderen Seite.

79

BVerfGE 58,300 (331). Dazu vor allem BVerfGE 24, 367 (389). 81 Zu Gefahren für das Eigentumsgrundrecht durch politische oder ökonomische Krisen, s. auch Papier, Eigentumsgarantie, S. 45; Scholz, NVwZ 1982, 337 (338). 82 BVerfGE 24, 367 (389). Vgl. auch BVerfGE 91, 294 (308): „Der Kernbereich der Eigentumsgarantie darf dabei nicht ausgehöhlt werden. Zu diesem gehört sowohl die Privatnützigkeit, also die Zuordnung des Eigentumsobjekts zu einem Rechtsträger, dem es als Grundlage privater Initiative von Nutzen sein soll, als auch die grundsätzliche Verfügungsbefugnis über den Eigentumsgegenstand." D. Ehlers, VVDStRL 51 (1991), 211 (216) spricht von einem Untermaßverbot, gegen diesen Terminus skeptisch Ossenbühl VVDStRL 51 (1991), 285 (288). 80

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II. Inhaltsbestimmungen und Eingriffe 1. Inhalts- und Schrankenbestimmungen als Definitionsakte Der Eigentumsgarantie fehlt es im Unterschied zu anderen Grundrechten weitgehend an einem gesellschaftlichen Substrat, auf das sich die Garantie beziehen könnte. Menschen können sich ohne Bestehen einer Rechtsordnung versammeln, ihre Religion ausüben oder ihre Meinung äußern, Eigentum bedarf dagegen der Regelung durch die Rechtsordnung. Die Garantie ist daher in hohem Maße normgeprägt und wandelbar.83 Das Grundgesetz hat dem Gesetzgeber in Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG aufgetragen, Inhalt und Schranken des Eigentums zu bestimmen und so das Eigentum zu gestalten. Inhalts- und Schrankenbestimmungen sind nach der,»klassischen" Umschreibung des BVerfG die generellen und abstrakten Festlegungen von Rechten und Pflichten durch den Gesetzgeber hinsichtlich solcher Rechtsgüter, die als Eigentum im Sinne der Verfassung zu verstehen sind.84 Abkürzend wird von Definitionsakten 85 gesprochen.86 Die Regelungen müssen sich auf das Eigentum richten, also Zuordnungen betreffen, wie sie oben beschrieben wurden. 87 Sie regeln die Rechtsbeziehungen der Eigentümer zu anderen Rechtssubjekten hinsichtlich des Eigentumsgegenstandes.88 Der in der Definition angesprochene Gesetzgeber ist nicht nur der zum Erlaß formeller Gesetze berufene parlamentarische Gesetzgeber, sondern auch - im Zusammenspiel mit dem parlamentarischen Gesetzgeber-der Gesetzgeber untergesetzlicher Normen, wie etwa der Verordnungs- oder Satzungsgeber.89

83 Böhmer, NJW 1988,2561 (2568); Breuer, Bodennutzung, S. 20 ff.; Bryde, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 11, Hesse, Grundzüge, Rz. 303,441 ff.; Pieroth/Schlink, StaatsR Π, Rz. 895. 84 BVerfGE 52, 1 (26); 72, 66 (76). Zu Vorläufern dieser Formulierung vgl. Lege, Zwangskontrakt, S. 36 Fn. 1. In BVerfGE 58,300 formuliert das BVerfG stärker auf den Eigentümer bezogen (Festlegung der Rechte und Pflichten des Eigentümers) (BVerfGE 58, 300 [330]) - ein Bedeutungswandel ist offenbar nicht gewollt. 85 Schmitt-Kammler, Grundeigentum, S. 179; ders., FS E. Wolf, 595 (598); ders., FS Uni Köln, 821 (823). 86 Vorliegend wird mit dem BVerfG und der h. M. nicht zwischen Inhalts- und Schrankenbestimmungen unterschieden, wie dies gelegentlich vorgeschlagen wird. Vgl. etwa D. Ehlers, VVDStRL 51 (1991), 211 (225); Leisner, HdBStR VI, § 149 Rz. 133 ff.; Wendt, Eigentum, S. 147ff.; ders. in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 55 ff. 87 Soeben § 3 B I 1 . 88 Lege, Zwangskontrakt, S. 39. 89 BVerfGE8,71 (79);58,137(146);BVerwGE67,84;68,143(148);94,1 (4f.);BGHZ77, 179 (183); D. Ehlers, VVDStRL 51, (1991), 211 (224); Lege, Zwangskontrakt, S. 38; Papier, in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 332; Steinberg/Lubberger, Aufopferung, S. 220.

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Dies deutet schon daraufhin, daß die eigentlichen Schwierigkeiten bei der Kennzeichnung der Inhalts- und Schrankenbestimmungen als „generell und abstrakt" liegen. Generell sind Normen, die eine Vielzahl von Personen betreffen, abstrakt solche, die eine Vielzahl von Sachverhalten betreffen. Damit verweist die Formulierung auf die Definition des Gesetzes im materiellen Sinne als abstrakt-generelle Regelung. 90 Auch abstrakt-generelle Gesetze bedürfen aber oftmals der Konkretisierung im Einzelfall, etwa durch Verwaltungsakte. Solche Konkretisierungen von Inhaltsund Schrankenbestimmungen sind gleichwohl dem Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG zuzuordnen und nicht etwa sonstige Eingriffe, die sich einer verfassungsrechtlichen Einordnung entzögen.91 Wegen des häufig eingeräumten Ermessens und der Möglichkeit einer konstitutiven Regelung durch die Verwaltung 92 ist es zur Begründung dieser Aussage zu kurz gegriffen, allein auf den angeblich nur deklaratorischen Charakter derartiger Konkretisierungsakte zu verweisen.93 Es wurde aber schon oben gezeigt, daß es die Entkoppelung von Inhalts- und Schrankenbestimmungen und ihrem Vollzug war, die die Rechtsprechung des BGH zum enteignungsgleichen Eingriff und damit die zivilgerichtliche Kontrolle des Gesetzgebers ermöglichte. 94 Zudem kann nicht übersehen werden, daß die Vielgestaltigkeit der Eigentumsverhältnisse oftmals eine Konkretisierung unterhalb der Ebene parlamentarischer Gesetzgebung notwendig werden läßt. Diese (in der Praxis überaus häufigen) Konkretisierungsakte außerhalb von Art. 14 Abs. 1 S. 2 als „sonstige Eingriffe" anzusiedeln,95 erscheint sinnlos, wenn für die Kontrollmaßstäbe dann erneut auf die Verfassungsgemäßheit der Inhalts- und Schrankenbestimmung verwiesen wird. Vollzieht die Verwaltung eine Inhalts- und Schrankenbestimmung, ist auch der Vollzugsakt Inhalts- und Schrankenbestimmung. Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG ist also korrigierend zu lesen: „Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze oder auf Grund dieser Gesetze geregelt." Die Merkmale „generell und abstrakt" sind dann aber bei der Abgrenzung zur,»konkret-individuellen" Enteignung wenig hilfreich: Auch abstrakt-generelle Inhaltsbestimmungen bedürfen der Konkretisierung, konkret-individuelle Enteignungen bedürfen der abstrakt-generellen Regelung des Zugriffsrechtes - es ist also gedanklich zwischen dem Gesetzgeber im Sinne von Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG und dem Gesetzgeber im Sinne von Art. 14 90

Vgl. dazu Maurer, AllgVerwR, § 4 Rz. 8; Ossenbühl, in Erichsen (Hrsg.), AllgVerwR, § 6

Rz.4. 91

So inzwischen auch die Rechtsprechung vgl. BVerwGE 94,1 (4 f.); BGH, NJW 1998,1398 (1399) (bei einem „reinen Vollzugsakt, der sich lediglich in einer Bestätigung der vorgegebenen Gesetzeslage erschöpft"); Bryde, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 58; Lege, Zwangskontrakt, S. 31 ff., 37: Kempen, Eingriff, Rz. 139 ff.; Schwabe, Jura 1994, 529 (530). 92 Etwa die Eintragung eines Denkmals in die Denkmalschutzliste in einem Bundesland, in dem das Eintragungsprinzip gilt. 93 So aber Böhmer, Beil. 1/1984 in AgrarR 1984,2 (14); ders., Der Staat 1985, 157(185 f.); ders., NJW 1988,2561 (2572). 94 Dazu bereits oben § 2 A bei Fn. 27. 95 So Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rz. 925, 946.

Β. Grundrechtlicher Aufbau von Art. 14 GG

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Abs. 3 GG zu unterscheiden. Ob eine Konkretisierung einer Inhalts- und Schrankenbestimmung oder eine Enteignung vorliegt, ist daher bereichsspezifisch 96 zu prüfen. Es muß als Faustregel darauf ankommen, ob der fragliche Akt eine schon im Gesetz angelegte Schwäche des Eigentums „ausnutzt" (dann Inhalts- und Schrankenbestimmung) oder eine Eigentumsposition überwindet (dann Enteignung).97 Probleme bereitet auch die Einordnung von Realakten in den Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG, da diese ja keine Regelungen treffen. 98 Gerade bei Beeinträchtigungen durch Realakte hat die Rechtsprechung aber oftmals Entschädigungsansprüche wegen enteignenden Eingriffs angenommen. Wenn man Realakte im Bereich von Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG anerkennt, so ist dies jedenfalls in zwei alternativen Konstellationen denkbar: (1) Der Realakt erfolgt im Vollzug einer Inhalts- und Schrankenbestimmung, etwa wenn die Verwaltung aufgrund einer Inhalts- und Schrankenbestimmung einen Gegenstand zerstört. In diesem Fall handelt es sich um eine Konkretisierung einer Inhalts- und Schrankenbestimmung, wie sie soeben dem Bereich des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG zugeordnet wurde. (2) Der Realakt läßt sich nicht auf eine Inhalts- und Schrankenbestimmung zurückführen, weil es an einer solchen Bestimmung fehlt. Aus verfassungsrechtlichen Gründen ist eine solche Inhalts- und Schrankenbestimmung aber geboten. In diesem Fall ist der Realakt zwar dem Bereich des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG zuzuordnen, jedoch rechtswidrig, da er ohne die notwendige gesetzgeberische Gestattung erfolgt. 2. Enteignungen als Entzugsakte Enteignungen sind nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG auf die vollständige oder teilweise Entziehung konkreter subjektiver Eigentumspositionen im Sinne des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben gerichtet.99 Abkürzend wird von Entzugsakten gesprochen.100 Der Begriff des Entzuges schließt zunächst alle Nicht-Rechtsakte aus dem Bereich des Art. 14 Abs. 3 GG aus. Denn ohne einen Rechtsakt kann eine Rechtsposition nicht entzogen werden, selbst wenn das Substrat des Eigentums, der Eigentumsgegenstand, geschmälert oder zerstört wird. 101 Dies ändert sich auch nicht, wenn in ei96

Diesen Aspekt betont mit Recht Bryde, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 58. Ähnlich BVerfGE 100, 226 (240): Die Versagung einer Abbruchsgenehmigung für ein denkmalgeschütztes Gebäude aktualisiere eine gesetzlich angeordnete Beschränkung. 98 Erichsen, in ders. (Hrsg.), AllgVerwR, § 30 Rz. 1. 99 BVerfGE 24, 367 (394); 38, 175 (180); 42, 263 (299); 52, 1 (27); 58, 300 (331); 66, 248 (257); 70, 191 (199f.); 100,226 (240). 100 Schmitt-Kammler, Grundeigentum, S. 248 ff.; ders., FS E. Wolf, 595 (598); ders., FS Uni Köln, 821 (825) (mit dem Vorschlag, zwischen Enteignungen und sozialbindenden Entzugsakten zu unterscheiden). 101 Bryde, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 73; D. Ehlers, VVDStRL 51 (1991), 211 (238); Kleinlein, DVB1. 1991,365 (369); Ossenbühl, NJW 1983,1 (3); Papier, Eigentumsgarantie, S. 39 f.; ders., HdBStR VI, § 157 Rz. 55; ders., in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz 97

§ 3 Verfassungsrechtliche Eigentumsdogmatik

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nem Realakt die Inanspruchnahme eines Sonderzugriffsrechtes liegt, 1 0 2 denn die in einem Realakt möglicherweise liegende Behauptung eines Sonderzugriffsrechtes kann die Rechtsposition als solche nicht schmälern. Anders liegt der Fall aber, wenn Realakte einer Enteignung durch Rechtsakt nur nachfolgen. So kann die öffentliche Hand den Grundeigentümern bestimmte Duldungspflichten durch eine zwangsweise eingetragene Grunddienstbarkeit nach § 1018 3. Alt. BGB auferlegen und i m Anschluß unter Ausnutzung dieser Dienstbarkeit in Form von Realakten einwirken. Dann kommt eine Enteignung durch die Dienstbarkeit, nicht aber durch die Realakte in Betracht. M i t dem Begriff des Entzuges verschließt sich das BVerfG Literaturstimmen, die die Enteignung auf den Begriff des Zwangskaufes bzw. der Güterbeschaffung verengen wollen. 1 0 3 Für diese Begriffsbestimmung wurde zunächst namentlich eine Passage in dem Beschluß vom 10.05.1977 104 („Hamburger U-Bahn") herangezogen, in der die Enteignung als „Vorgang der Güterbeschaffung" 105 charakterisiert wurde. 1 0 6

(Hrsg.), GG, Art. 14Rz.540; AK-Rittstieg, Art. 14/15Rz. 184; Schmidt-Aßmann, JuS 1986,833 (837); Schwerdtfeger, JuS 1983, 104 (109). Im Ergebnis ebenso Bender, BauR 1983, 1 (6) mit der wegen § 40 Abs. 1 VwGO, Art. 19 Abs. 4 GG nicht überzeugenden Begründung, Realakte seien vor den Verwaltungsgerichten nicht gerichtlich angreifbar; später auch ders., DVB1.1984, 301 (315). 102 So aber abweichend von der ganz allg. Meinung Lege, Zwangskontrakt, S. 84. Zweifelnd auch Schwabe, JZ 1983, 273 (277 f.), der auf die Möglichkeit von Gesetzen hinweist, die zu Realakten ermächtigen. Allerdings bleibt die von Schwabe beabsichtigte Einordnung im dunkeln. 103 Zunächst namentlich Rittstieg, Eigentum, S. 411; ders., NJW 1982, 721 (724); ders., JZ 1983,161 (166); ders., in AK-GG, Art. 14/15 Rz. 187; ders., FS Thieme, 183 (191); ebenso Battis, NVwZ 1982,585 (589) (jedenfalls für die Administrativenteignung); Uechtritz, BauR 1983, 523 (531 m. Fn. 166); aus jüngerer Zeit insb. Lege, Zwangskontrakt, S. 59 f. und passim; ders., NJW 1993,2565 (2567); ders., JZ 1994,431 (438). Lege schlägt vor, die rein abwehrrechtliche Sicht des Art. 14 Abs. 1 GG (im Verhältnis Staat-Bürger) zu ersetzen durch ein dreipoliges Modell eines Marktes. Um die Eigentumsobjekte sollen sich Anbieter und Nachfrager sowie der Marktveranstalter gruppieren (vgl. die Skizze in Lege, Zwangskontrakt, S. 68, 95, 149). Eine Enteignung soll vorliegen, wenn der Staat sich wie ein Marktinterner verhält und die Enteignung als Zwangskauf verwendet, eine Inhalts- und Schrankenbestimmung, wenn der Staat als Marktveranstalter eingreift. Ob sich dieses Modell durchhalten läßt, kann hier nicht abschließend untersucht werden, einige Bedenken seien jedoch erwähnt: Wird die Annahme, Art. 14 Abs. 1 GG garantiere eine Marktwirtschaft (Lege, Zwangskontrakt, S. 64), der Aussage des BVerfG gerecht, das Grundgesetz sei „wirtschaftspolitisch neutral" (BVerfGE 4,7 [18])? Liegt in der Festlegung auf ein dreipoliges Marktmodell nicht eine Überinterpretation des abwehrrechtlichen Art. 14 GG (in diese Richtung Maurer, NVwZ 1996,673 [674])? In der vorliegenden Arbeit soll mit dem BVerfG jedenfalls grundsätzlich an dem Begriff des Entzuges festgehalten werden. Ähnlich wie Lege auch Deutsch, DVB1. 1995, 546 (549) und Osterloh, DVB1. 1991,906,911, die als Enteignung nur ansehen will, „was nach Art und Gewicht der klassischen Grundstücksenteignung entspricht"; zuvor bereits dies, (unter Schulze-Osterloh), Eigentumsopferentschädigung, S. 267. Unklar Hösch, JA 1998,727 (728). 104 105

hen.

BVerfGE 45, 297. BVerfGE 45, 297 (332). In diese Richtung ließ sich auch BVerfGE 20, 351 (359) verste-

Β. Grundrechtlicher Aufbau von Art. 14 GG

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Die Heranziehung dieser Entscheidung ist schon früh als „Überinterpretation" abgelehnt worden 107 - wohl zu Recht, denn das BVerfG sprach davon, es handele sich bei der Administrativenteignung „in erster Linie", also eben gerade nicht „ausschließlich" um einen Güterbeschaffungsvorgang. Zudem diente die Passage im ganzen der Abgrenzung der Legalenteignung von der Administrativenteignung, nicht dagegen der Abgrenzung der Enteignung von anderen Rechtsinstituten. Schließlich hatte das Gericht bereits zuvor in seinem Urteil vom 18.12.1968108 („Hamburger Deichordnung") dem Begriff der Enteignung als Güterbeschaffungsvorgang eine Absage erteilt. 109 Der Berufung auf die Autorität des BVerfG zur Begründung der Enteignung als Güterbeschaffungsvorgang ist inzwischen ganz der Boden entzogen, da das Gericht in seinem Beschluß vom 09.01.1991110 („Bergrechtliches Vorkaufsrecht") - allerdings ohne Begründung - festgestellt hat, das entscheidende Merkmal der Enteignung sei „der Entzug des Eigentums und der dadurch bewirkte Rechts- und Vermögensverlust, nicht aber die Übertragung des entzogenen Objekts".111 Allerdings formuliert das BVerfG in ständiger Rechtsprechung, die Enteignung erfolge zur „Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben" - gedacht ist dabei wohl an konkrete Gemeinwohlprojekte. Der so hergestellte Zusammenhang zwischen der Enteignung und einem bestimmten Projekt der öffentlichen Hand schwächt die Absage an das Konzept der Enteignung als Güterbeschaffungsvorgang etwas ab. Die fehlende Notwendigkeit eines Güterbeschaffungsvorgangs ist danach wohl im rechtstechnischen Sinn zu verstehen: Ein Rechtsträgerwechsel 112 ist für das Vorliegen einer Enteignung nicht erforderlich. Denn schon der Entzug eines Abwehrrechtes kann einem bestimmten öffentlichen Projekt dienen, ohne daß auf der anderen Seite eine entsprechende Bereicherung vorliegen müßte.113 Die Beschränkung der Enteignung auf einen Rechtsträgerwechsel nähme zudem verschiedene von Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Rechte, etwa subjektiv-öffentliche Rechte, ganz aus dem Bereich des Art. 14 Abs. 3 GG heraus, 114 da bei diesen eine Übertragung auf den (bis dahin verpflichteten) Hoheitsträger zum Erlöschen der Ansprüche wegen Konfusion führen würde. Es erscheint jedoch - unter Hinweis auf den vom BVerfG hergestell106

Battis , NVwZ 1982,585 (589); υ echtritz, BauR 1983,523 (531 m. Fn.66). Bender, DVB1. 1984,301 (315); ders., BauR 1983,1 (7 m. Fn.43); Hendler, DVB1.1983, 873 (878); W. F. Schmidt, Entschädigung, S. 122. Gegen das Erfordernis eines Rechtsträgerwechsels etwa auch/. Ipsen, DVB1. 1983,1029 (1031); Schmidt-Aßmann, FS Heidelberg, 107 (120); Schwabe, JZ 1983, 273 (278). 108 BVerfGE 24, 367. 109 BVerfGE 24,367 (394). Daß es sich hier um eine ganz bewußte Abkehr von der Begriffsbestimmung einer Enteignung als Güterbeschaffung gehandelt hat, erläutert Böhmer, Der Staat 1985, 157 (185 m. Fn. 184); ders., NJW 1988,2561 (2564 m. Fn.27). 1,0 BVerfGE 83, 201. 111 BVerfGE 83, 201 (211). 1.2 Wie ihn etwa AK -Rittstieg, Art. 14/15 Rz. 185 fordert. 1.3 Schwabe, JZ 1983, 273 (278); ders., FS Thieme, 251 (258). 1.4 J. Ipsen, DVB1. 1983, 1029 (1031 f.). 107

112

§ 3 Verfassungsrechtliche Eigentumsdogmatik

ten Zusammenhang von Enteignungen und bestimmten öffentlichen Aufgaben - statthaft, den Bezug zu einem bestimmten Gemeinwohlprojekt zumindest typologisch bei der Abgrenzung der Enteignung zu bemühen. Wie sich dies in den Fällen enteignender Eingriffe auswirkt, ist noch zu zeigen.115 Der Entzug kann nach Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen. In dem ersten Fall, der sog. Legalenteignung, werden einem bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis durch Gesetz konkrete Eigentumsrechte entzogen, die zuvor aufgrund der allgemein geltenden Gesetze rechtmäßig erworben wurden. 116 In dem zweiten Fall, der sog. Administrativenteignung, erfolgt der Entzug durch einen behördlichen Vollzugsakt, der auf einer gesetzlichen Ermächtigung beruht. 117 Der Entzug muß sich auf eine von Art. 14 Abs. 1 GG garantierte Rechtsposition richten. Was der Gesetzgeber durch Inhalts- und Schrankenbestimmungen einmal aus dem Eigentum hinausdefiniert hat, kann nicht noch einmal entzogen werden. 118 Außergewöhnlich komplizierte Probleme ergeben sich allerdings durch die Möglichkeit, auch einen Teilentzug einer nach Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Eigentumsposition als Enteignung anzusehen. Die Gretchenfrage 119, wann eine solche Teilentziehung eine Enteignung sei, ist bis heute nicht geklärt und könnte sich als die eigentliche Achillesferse der verfassungsgerichtlichen Eigentumskonzeption entpuppen.120 Die Enteignung muß auf den Entzug gerichtet sein, sie muß also final erfolgen. Dieser Begriff darf nicht psychologisch mißverstanden werden, insbesondere sind Anleihen bei der strafrechtlichen Vorsatzdogmatik verfehlt. So werden gelegentlich strafrechtliche Begriffe wie dolus eventualis oder bewußte Fahrlässigkeit verwandt.121 Auf derartige Abgrenzungen kommt es jedoch hei behördlichen Handlungen nicht an: Entscheidend ist nicht eine psychologische Finalität (des Behördenlei-

1.5

Dazu unten §5 AHI. BVerfGE 58, 300 (330f.); ähnlich schon BVerfGE 45,297 (325); 52, 1 (27). 1.7 BVerfGE 58, 300 (331). 1.8 BVerfGE 58,300 (331). 119 Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 178 in Fn. 65. 120 Zu den Problemen, die hier im Bereich der Beeinträchtigungen durch enteignende Eingriffe auftreten, s. u. bei § 5 A II 4. 121 W. F. Schmidt, Entschädigung, S. 128 schreibt etwa: „Die Duldung [...] ist von ihm insofern .gewollt4, als er den Verkehrslärm als unabänderliche Folge [...] angesehen und damit - nach strafrechtlichem Sprachgebrauch - ,billigend4 in Kauf genommen hat." Diese Formulierung ist i. ü. sogar strafrechtlich verkehrt, da es sich bei einer als sicher vorausgesehenen Folge nicht etwa um einen dolus evtentualis handelt, sondern um einen direkten Vorsatz 2. Grades. Vgl. auch die terminologische Nähe zum Strafrecht bei Eckhoff\ Grundrechtseingriff, der von „bewußt und gewollt44 spricht. Ähnlich auch Lege, Zwangskontrakt, S. 78; Papier, Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 539: „gewollter und gezielter Zugriff 44. 1.6

Β. Grundrechtlicher Aufbau von Art. 14 GG

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ters? des handelnden Amtswalters?), sondern der objektive Sinnbezug und Regelungsgehalt der Maßnahme.122 Das BVerfG formuliert damit einen eigenständigen Enteignungsbegriff, so daß die häufig anzutreffende Bezeichnung als „enger Enteignungsbegriff" 123 in die Irre führt. Es handelt sich ja nicht etwa um den Enteignungsbegriff des BGH mit einer besonders „hoch" liegenden Enteignungsschwelle, sondern vielmehr um einen ganz anders konzipierten Begriff. Selbst wenn der Enteignungsbegriff des BVerfG (ausschließlich!) eine Teilmenge aus dem Enteignungsbegriff des BGH umfaßte - was einer eingehenden Prüfung bedürfte - , verwischt die Rede vom engen Enteignungsbegriff, daß es im Verhältnis der beiden Enteignungsbegriffe nicht um ein graduelles „Mehr" oder „Weniger" geht, sondern um zwei ganz unterschiedliche Konzeptionen. Ebenso führen rhetorische Bezüge zum „klassischen" Enteignungsbegriff ins Leere. 124 Das BVerfG beschränkt den Enteignungsbegriff schon wegen Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG („durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes") nicht auf Verwaltungsakte; die Enteignung wird nicht auf Grundeigentum beschränkt, und schließlich ist der Entzug eines Rechtes ausreichend, eine Übertragung nicht erforderlich.

III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Inhalts- und Schrankenbestimmungen 1. Verfassungsrechtliche Maßstäbe Der Gesetzgeber gestaltet Inhalt und Schranken des Eigentums und damit den Schutzbereich des Art. 14 GG, gleichwohl ist er nach Art. 1 Abs. 3 GG an Art. 14 GG gebunden. Diese-schon im Grundgesetz angelegte - Verbindung zweier, sich scheinbar widersprechender Aussagen führte zu dem Vorwurf, die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung beruhe auf einem Zirkelschluß, der im Ergebnis das Eigentum dem gesetzgeberischen Belieben opfere. Denn wie soll denn der Gesetzgeber an Art. 14 GG gebunden sein, wenn der Schutzbereich der Garantie weitestgehend zu seiner Disposition gestellt wird? 125 122

Bender, DVB1. 1984, 301 (316); Schmidt-Aßmann, JuS 1986, 833 (837); Wagner, NJW 1967,2333 (2338). 123 Krohn, W M 1984, 825 (827). Verfehlt auch Bäumler, DÖV 1980, 339 (340), der in der neueren Rechtsprechung des BVerfG ein Bekenntnis zur Sonderopfertheorie sehen wollte, dabei allerdings verkannte, daß es in der Auseinandersetzung zwischen BGH und BVerfG um eine ganz andere Frage als die Bestimmung der „Enteignungsschwelle" geht. 124 Zutreffend Maurer, FS Dürig, 293 (305); Schmidt-Aßmann, JuS 1986, 833 (837). 123 Besonders deutlich in jüngerer Zeit F. Baur, NJW 1982, 1734 (1735); J. F. Baur, in ders./Stürner, Sachenrecht16, § 2415 (1), S. 239; zurückhaltender nun ders., in ders./Stürner, Sachenrecht, § 24 Rz. 12; Leisner, DVB1.1983,61 (63); Staudinger-Se/fer, § 903 BGB Rz. 30. Das Problem der Gesetzesabhängigkeit des Eigentumsbegriffs ist allerdings nicht neu, vgl. nur Stödter, DÖV 1953,97 (98); W Weber, Grundrechte II, 331 (356 ff.); zu den verfassungsrechtlichen Bindungen des Gesetzegebers auch Bender, NJW 1965,1297 ( 1298); Böhmer, NJW 1988,2561 8 Külpmann

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§ 3 Verfassungsrechtliche Eigentumsdogmatik

Strukturell ähnelt das Problem des richtigen Prüfungsmaßstabs der Frage nach der Kontrolle des Gesetzgebers bei Beschränkungen des Art. 2 Abs. 1 GG, wenn man die Vorschrift mit dem BVerfG als Garantie der allgemeinen Handlungsfreiheit versteht:126 (Fast) der gesamte Schutzbereich einer Grundrechtsgewährleistung wird zur Disposition des einfachen Gesetzgebers gestellt - bei Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG durch die Befugnis, Inhalt und Schranken zu bestimmen, bei Art. 2 Abs. 1 GG durch die Befugnis zur Ausgestaltung der verfassungsmäßigen Ordnung als Gesamtheit aller formell und materiell verfassungsmäßigen Gesetze.127 Hier wie dort sind es dann Verfassungsrechtssätze und Verfassungsprinzipien „außerhalb" der fraglichen Grundrechtsnorm, die eine Kontrolle des Gesetzgebers ermöglichen. Vom spezifischen Gewährleistungsgehalt der Grundrechtsgarantie bleibt der Schutz eines innersten Kernbereichs, im Bereich des Art. 14 GG durch die Institutsgarantie, bei Art. 2 Abs. 1 GG ein letzter unantastbarer Bereich menschlicher Freiheit. 128 Im übrigen fließen spezifische Wertungen aus der Grundrechtsnorm in die jeweilige verfassungsrechtliche „Großformel" ein, insbesondere in das Übermaß verbot und den Gleichheitssatz.129 In dem hier behandelten Zusammenhang sind die materiellen Grenzen, denen der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Eigentumsordnung unterworfen ist, von besonderer Bedeutung. Dabei kommt der Prüfung des Obermaßverbotes und des Gleichheitssatzes eine hervorragende Bedeutung zu. Der Gesetzgeber ist bei der Ausgestaltung der Eigentumsordnung an das Übermaßverbot gebunden.130 Bei der Anwendung dieses Grundsatzes auf die Inhalts- und (2573 f.); Breuer, Bodennutzung, S. 22 ff.; Haas, System, S. 42 ff.; Jarass, in Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rz. 28 ff.; Papier, in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 38; Steinberg I Lubber ger, Aufopferung, S. 220 ff. 126 Grundlegend BVerfGE 6, 32 (36 ff.) („Elfes"), seitdem st. Rspr., vgl. BVerfGE 80, 137 („Reiten im Walde"). Nachweise zur herrschenden Meinung, die dem BVerfG folgt, bei Kunig, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 2 Rz. 9 ff.; Murswiek, in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 2 Rz. 41 ff. Kritik an der Rechtsprechung insb. bei Grimm, abw. Meinung in BVerfGE 80, 164; Hesse, Grundzüge, Rz. 425 ff. Auf die strukturelle Ähnlichkeit weist auch Lege, Zwangskontrakt, S. 45 Fn. 52 hin. 127 BVerfGE 6, 32 (38). 128 BVerfGE 6, 32 (41). 129 Zutreffend weist Papier, Eigentumsgarantie, S. 13; ders., in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 38 daraufhin, daß es bei diesen Formeln an einem spezifischen Eigentumsbezug fehlt. Zur Notwendigkeit der Einbeziehung solcher Gesichtspunkte Bryde, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 62. 130 BVerfGE 20, 351 (369); 52, 1 (29); 58, 137 (148); 72, 66 (79); 79, 174 (198); 83, 201 (212); 100, 226 (241); Steinberg! Lubber ger, Aufopferung, S. 223ff.; Wendt, in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 85; Wieland, in Dreier (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 118 ff. Kritik an der Rechtsprechung bei Bryde, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 63 („bisher nicht auf einen logischen Nenner gebracht"). Abweichend Lerche, Übermass, S. 140 ff., der aus dem Fehlen eines „Rechtsbezirks" (im Sinne einer vorstaatlichen Freiheit) und mit Verweis auf die Notwendigkeit eines gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums gefolgert hat, daß das Übermaßverbot im Bereich von Art. 14 Abs. 1 GG (wohl aber für Enteignungen!) nicht gelte. Die Ansicht hat sich nicht durchsetzen können, auch wenn dem Gedanken des gesetzgeberischen Gestaltungsspiel-

Β. Grundrechtlicher Aufbau von Art. 14 GG

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Schrankenbestimmungen ergeben sich allerdings Besonderheiten, die in der Befugnis des Gesetzgebers zur Gestaltung der Eigentumsordnung ihren Ursprung haben. Ein Eingriff in ein Freiheitsrecht genügt dem Übermaßverbot, wenn er zur Verfolgung eines legitimen Ziels (1) geeignet (2), erforderlich (3) und angemessen (= verhältnismäßig im engeren Sinn) (4) ist. 131 Dieser Prüfung liegt gedanklich die Vorstellung eines Freiheitsraumes voraus (etwa: „seine Meinung zu äußern", „sich zu versammeln"), in den die öffentliche Hand (hin-) eingreift. Nun fehlt es aber im Bereich der Eigentumsgarantie - wenn man von einem Kernbereich absieht - an diesem vorstaatlichen und vor-rechtlichen Freiheitsraum, der für andere Grundrechte typisch ist. 132 Insbesondere hat es das BVerfG abgelehnt, die Sachherrschaft nach dem Vorbild des § 903 S. 1 BGB als einen derartigen Freiheitsraum zu begreifen, in den der Gesetzgeber durch eigentums-„beschränkende" Gesetze eingreife. 133 Die Prüfung eines legitimen Ziels (1) des gesetzgeberischen Handelns weicht dennoch nicht von der Prüfung bei anderen Grundrechten ab, denn die Überlegung, ob der Gesetzgeber überhaupt ein verfassungsrechtlich legitimes Ziel verfolgt, kann auch beim Fehlen eines grundrechtlichen Freiheitsbereichs unternommen werden. Ebenso bestehen bei der Prüfung der Geeignetheit (2) keine strukturellen Probleme. Eine den Inhalt und die Schranken des Eigentums bestimmende Norm ist nicht geeignet, wenn sie zur Erreichung des zuvor benannten legitimen Ziels schlechthin untauglich ist. 134 Auch die Prüfung der Erforderlichkeit (3) unterscheidet sich nicht von der Prüfung bei anderen Grundrechten: Es ist zu fragen ob es eine gleich geeignete Regelung gebe, die die Freiheit im vermögensrechtlichen Bereich weniger einschneidend beschränke.135 Gedanklich wird man freilich hier nicht ohne die Hintergrundfolie einer unbegrenzten Sachherrschaft auskommen, die durch die verschiedenen in den Blick genommenen Regelungsmodelle unterschiedlich stark beeinträchtigt wird. 136 raums in der Rechtsprechung des BVerfG mehr Raum gegeben wird (Dazu oben § 3 A bei Fn. 35). 131 Dazu statt aller BVerfGE 30,292 (316ff.); 81,156 (188); 91,207 (222); Dreier, in ders. (Hrsg.), GG, Vorb. Rz. 9Iff. (m. umf. Nw. in Fn. 359); Hesse, HdBVerfR, § 5 Rz. 67ff.; Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rz. 279 ff.; Sachs, in ders. (Hrsg.), GG, Art. 20 Rz. 149 ff.; Stern, StaatsR III/2, § 84 II, S. 776 ff.; ders., FS Lerche, 165 (m. umf. Nw. auf S. 166 in Fn. 2-4). 132 S. o. § 3 Β II 1 bei Fn. 83. 133 S. o. § 3 A bei Fn. 29. Zu den Schwierigkeiten auchBryde, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG. Art. 14 Rz. 63; Wieland, in Dreier (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 118. 134 Zu Art. 14 GG etwa BVerfGE 70, 278 (286); 75, 78 (95); 76, 220 (240); allgemein BVerfGE 17,306 (315 ff.), 55,159 (165 ff.); 81,156(192). Eine Verpflichtung des Gesetzgebers auf das geeignetste Mittel besteht aus Gründen der Gewaltenteilung nicht. Vgl. Dreier, in ders. (Hrsg.), GG, Vorb. Rz. 92; Sachs, in ders. (Hrsg.), GG, Art. 20 Rz. 150 f. 135 Aus dem Bereich des Art. 14 GG BVerfGE 70, 278 (287); 76, 220 (240ff.); allgemein BVerfGE 17,269 (279 f.); 81,156 ( 192 ff.); Dreier, in ders. (Hrsg.), GG, Vorb. Rz. 93. Gegen die Prüfung der Erforderlichkeit allerdings Breuer, Bodennutzung, S. 24 ff., der eine zu weitgehende Beschränkung des Gesetzgebers befürchtet. Zur Unerheblichkeit von Ausgleichszahlungen in diesem Zusammenhang s. u. § 3 Β III 3 a. 136 Ähnlich auch Wieland, in Dreier (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 119. 8*

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§ 3 Verfassungsrechtliche Eigentumsdogmatik

Schwierigkeiten ergeben sich namentlich bei der Angemessenheit (= Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn) (4). Angemessen im Sinne des Übermaßverbotes ist bei „normalen" Eingriffsrechten eine Regelung, deren Eingriffsintensität zu dem verfolgten Ziel nicht völlig außer Verhältnis steht.137 Die Eingriffsintensität läßt sich aber nur beurteilen, wenn man von einem dem Gesetzgeber vorgegebenen Freiheitsbereich ausgeht: Die Beeinträchtigung ist um so intensiver, je mehr sie diesen Bereich verkürzt. Es fehlt aber bei Art. 14 GG an einer vor-staatlichen und vor-rechtlichen Freiheit. Es ist versucht worden, die Anwendbarkeit des Übermaßverbotes trotz dieser Schwierigkeiten mit der „Bipolarität" des Schutzbereiches zu begründen: Das Übermaßverbot müsse sowohl in bezug auf die Freiheitsverkürzung (mit Blick auf Art. 14 Abs. 1 S. 2) als auch in bezug auf die Sozialbindung (Art. 14 Abs. 2 GG) geprüft werden. 138 Dies ist indes aus zwei Gründen verfehlt: Die doppelte Prüfung ist gedanklich weiter dem an sich für Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG unbrauchbaren Eingriffsmodell verhaftet. Zudem führt sie zu einer zu starken Einengung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums, weil der Gesetzgeber gleichsam von zwei Seiten in die Zange genommen wird. 139 Der im Grundgesetz angelegte weite Spielraum des Gesetzgebers würde sinnwidrigerweise bei Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG stärker eingeengt als bei anderen Grundrechten, indem der Gesetzgeber eine doppelte Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die Verfassungsgerichtsbarkeit zu gewärtigen hätte. Tatsächlich ist die Prüfung der Angemessenheit (= Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn) in der Rechtsprechung des BVerfG als eine (sehr grobmaschige) Abwägungskontrolle zu verstehen. Das Gericht prüft, ob der Gesetzgeber die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Privateigentums (Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG) und der Sozialbindung (Art. 14 Abs. 2 GG) zum Ausgleich gebracht hat, wobei es Rücksicht auf den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum nimmt. 140 Dieser Spielraum fällt unterschiedlich aus; er nimmt zu, je mehr das Eigentum in einem sozialen Bezug und einer

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BVerfGE 16, 194 (201 ff.); 30, 292 (323); 83, 1 (19); 90, 145 (183 ff.); Dreier, in ders. (Hrsg.), GG, Vorb. Rz. 94; Hesse, Grundzüge, Rz. 318; v. Münch in ders./Kunig (Hrsg.), GG, Vorb. Art. 1-19, Rz. 55; kritisch Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rz. 284ff. 138 Jaschinski, Fortbestand, S. 143 ff.; Pieroth/Schlink, StaatsR ΙΓ, Rz. 1023. (Pieroth/Schlink haben diese Formulierung später mit Recht gestrichen.) 139 Richtig Thormann, Abstufungen, S. 213, der vom „völligen Versagen" der herkömmlichen Definitionen spricht. Zweifelnd Wahl, VVDStRL 51 ( 1991 ), 291 (293), der zwar zunächst von einer doppelten Verhältnismäßigkeitsprüfung ausgeht, aber mit Recht auf die drohenden Gefahren aufmerksam macht. 140 Vgl. etwa BVerfGE 25, 112(117f.); 37, 132 (140f.); 52, 1 (29); 79, 174 (198); 87, 114 (138). Wie hier Breuer, Bodennutzung, S. 33; Bryde, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 63; Wieland, in Dreier (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 119. Die Trennung bei Papier, in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 303 ff. in Abwägung (Rz. 303 ff.) und Verhältnismäßigkeit (Rz. 307 ff.) ist demnach unnötig (so aber auchD. Ehlers, VVDStRL 51 [1991], 211 [226 f., 227 ff.]).

Β. Grundrechtlicher Aufbau von Art. 14 GG

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sozialen Funktion steht, namentlich also bei der Ausgestaltung des Eigentums an Produktionsmitteln. 142 Ebenso können bestimmte Eigenarten des Eigentumsobjekts, etwa die Unvermehrbarkeit von Grund und Boden, für eine verstärkte Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers sprechen.143 Ein „gedanklicher Rest" der normalen Prüfung des Obermaßverbotes bleibt aber: Um die Seite des privaten Eigentümers hinreichend würdigen zu können, wird man die gesetzliche Regelung mit der Rechtslage vergleichen müssen, die ohne die fragliche Regelung gölte. Mit diesen Bedenken kann die Prüfung des Übermaßverbotes unter steter Beachtung eines grundsätzlich weiten, wegen der Ausgestaltungsbefugnis in Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG sogar besonders weiten Ermessensspielraums des Gesetzgebers erfolgen. Sie stellt die wichtigste Grenze für den Gesetzgeber im Bereich des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG dar. Der Gesetzgeber ist bei der Ausgestaltung der Eigentumsordnung auch an Art. 3 Abs. 1 GG gebunden.144 Nach der Willkürformel des BVerfG ist es dem Gesetzgeber verboten, wesentlich Gleiches willkürlich ungleich, wesentlich Ungleiches willkürlich gleich zu behandeln.145 Vor allem der erste Senat des BVerfG geht inzwischen zu einer neuen Formel über, die den Gleichheitssatz mit dem Übermaßverbot verbindet. Der Gleichheitssatz sei verletzt, wenn zwei verschiedene Gruppen von Normadressaten unterschiedlich behandelt würden, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestünden, daß sie eine ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten.146 In welchem Verhältnis die beiden Formulierungen zueinander stehen und ob sie substantiell verschieden sind, ist noch nicht geklärt, 147 bedarf für die vorliegende Arbeit aber auch keiner näheren Untersuchung. 141 BVerfGE 50,290 (340); 52,1 (32); 70,191 (201); 79,292 (302). Frotscher, VVDStRL 51 (1991), 313 (314f.); Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rz.930ff.; Thormann, Abstufungen, passim. 142 Zum Anteilseigentum an Kapitalgesellschaften s. BVerfGE 50,290; im übrigen Jarass in Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rz. 33; Papier, in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 304; Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rz. 933; Steinberg/Lubberger, Aufopferung, S.223. 143 BVerfGE 21, 73 (82 f.); 52, 1 (32 f.). 144 BVerfGE70,191 (200); 72,66 (78); 79,174 (198); 87,114 (139); 100,226 (24l)\Bryde, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 62; Jarass in Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rz. 36; Steinberg/Lubberger, Aufopferung, S. 225 f.; Wieland, in Dreier (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 121. 145 BVerfGE 1,14(52); 3,58 (135); 4,144 (155); 42,64 (72); 71,255 (271). Die Formel geht zurück auf Arbeiten des späteren Bundesverfassungsrichters Gerhard Leibholz aus der Weimarer Republik. Vgl. Leibholz, Gleichheit, S. 87: „In diesem Sinn kann die Gleichheit aller Deutscher vor dem Gesetz definiert werden als die nach dem jeweiligen Rechtsbewußtsein nicht willkürliche Handhabung des an die Adresse von Rechtssubjekten gerichteten Rechts durch den Gesetzgeber und die Vollziehung (Justiz und Verwaltung)." 146 BVerfGE 55, 72 (88); 60, 123 (133 f.); 74,9 (24), seither häufig. Vgl. die Nachweise bei Heun y in Dreier (Hrsg.), GG, Art. 3 Rz. 19 m. Fn. 102. 147 Geringfügige Unterschiede stellt Heun y in Dreier (Hrsg.), GG, Art. 3 Rz. 20 fest. Ähnlich auch Hesse, FS Lerche, 121 (126); Osterloh, in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 3 Rz. 25 ff.; Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rz. 438 ff. Eine wesentliche Änderung konstatiert dagegen etwa Gubelty in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 3 Rz. 14. Ausführlich Husten JZ 1994,541 ff., der

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§ 3 Verfassungsrechtliche Eigentumsdogmatik

Auffällig häufig formuliert das BVerfG, der Gleichheitssatz sei im Rahmen von Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG zu berücksichtigen 148 oder sei als „sonstiges Verfassungsrecht" zu beachten. Zumindest rhetorisch fehlt es also an einer eigenständigen Grundrechtsprüfung. Demgegenüber ist zu beachten, daß Art. 3 Abs. 1 GG selbständig neben Art. 14 GG steht und sich als Gleichheitsrecht auch strukturell von dem Freiheitsrecht des Art. 14 GG unterscheidet. Daher sollte Art. 3 Abs. 1 GG, wie grundsätzlich bei jedem anderen Freiheitsgrundrecht auch, gesondert geprüft werden. 149 Dies dürfte zwar in der Sache keinen Unterschied machen, ließe aber den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum besonders deutlich werden, der nach einer die gesetzliche Norm verwerfenden Entscheidung des BVerfG eröffnet wird: Denn anerkanntermaßen hat der Gesetzgeber bei Gleichheitsverstößen besonders viele Möglichkeiten, auf eine normverwerfende Entscheidung zu reagieren, da es bei Verstößen gegen Art. 3 Abs. 1 GG in der Regel nur zur Feststellung der Unvereinbarkeit der Norm mit Art. 3 Abs. 1 GG kommt, nicht aber zur Erklärung der Nichtigkeit. 150 Der Prüfungsmaßstab der Institutsgarantie hat als „letzte Bastion" in der Rechtsprechung zu Art. 14 GG gegenüber dem Inhalt und Schranken bestimmenden Gesetzgeber nur eine untergeordnete Rolle gespielt und dient der Durchsetzung der schon oben151 dargestellten Garantie des Instituts Eigentum. Sie bedarf in dem vorliegenden Zusammenhang keiner näheren Behandlung. Die Garantie des Wesensgehalts des Eigentums nach Art. 19 Abs. 2 GG spielt in dem hier behandelten Zusammenhang ebenso kaum eine Rolle. Denn geschützt ist nicht die einzelne Eigentumsposition, sondern der Wesensgehalt der Garantie selbst.152 Auch ein möglicher subjektiv-rechtlicher Gehalt der Wesensgehaltsgarantie hat keine Bedeutung in der Rechtsprechung erlangt. Denn der Entzug einer einzelnen Eigentumsposition im Wege der Enteignung ist ebenso möglich wie der Fortfall eines subjektiven Eigentumsrechts durch Maßnahmen nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG, 153 ohne daß der Wesensgehalt der Eigentumsgarantie berührt würde. Die Garantie des Art. 19 Abs. 2 GG ge-

Ungleichbehandlungen im Dienst der Gerechtigkeit und Ungleichbehandlungen im Dienst von Nutzen- und Zweckmäßigkeitsüberlegungen unterscheiden will. Das BVerfG beschränkt seine neue Formel oft auf die Ungleichbehandlung von Personen, nicht aber auf die von Sachverhalten. Vgl. BVerfGE 78,104 (121); 83,1 (23); 89,15 (22); 89,365 (375); 90,46 (56). S. dazu auch (kritisch) Hesse, FS Lerche, 121 (124 ff., 129). 148 BVerfGE 21,73 (83); 52,1 (29f.); 58,137 (150); 72,66 (78); 79,174 (198); in diesem Sinn auch Jarass, in Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rz. 36; Steinberg! Lubberger y Aufopferung, S. 225. Anders allerdings BVerfGE 87, 114 (139); 89, 1 (13); 90, 226 (239). 149 Wie hier Eschenbach, Jura 1998,401 (402). Auch bei anderen Grundrechten wird allerdings gelegentlich die Prüfung des Freiheitsgrundrechts mit dem Gleichheitssatz verbunden. Vgl. BVerfGE 30, 292 (327); Heun y in Dreier (Hrsg.), GG, Art. 3 Rz. 124. 150 Vgl. BVerfGE 85,191 (211); Osterlohy in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 3 Rz. 130ff.; Kirchhofy HdBStR V,§ 124 Rz.272. 131 S.o. § 3 B I 2 bei Fn.80. 152 Böhmen Der Staat 1985,157 (160 m. Fn. 10); ders.y NJW 1988,2561 (2563). 133 BVerfGE 83, 201 (211).

Β. Grundrechtlicher Aufbau von Art. 14 GG

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winnt freilich dann an Bedeutung, wenn man sie mit dem Übermaßverbot gleichsetzt.154 Inhalts- und Schrankenbestimmungen müssen schließlich formell verfassungsgemäß sein. Insbesondere die Einhaltung der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung hatte das BVerfG in der Vergangenheit zu prüfen. 155 2. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit Verstößt der Gesetzgeber gegen die ihm von Verfassungs wegen obliegenden Bindungen, so ist die fragliche Inhalts- und Schrankenbestimmung verfassungswidrig und daher nichtig. Sie schlägt nicht in eine Enteignung um, ihre Verfassungswidrigkeit kann nicht durch Zubilligung einer Entschädigung geheilt werden. 156 Der Bürger wird in der Regel mit den Konkretisierungsakten zu derartigen Inhaltsund Schrankenbestimmungen konfrontiert werden. Solche Konkretisierungen von Inhalts- und Schrankenbestimmungen sind dem Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG zuzuordnen.157 Sie können aus zwei Gründen rechtswidrig sein. (1) Das Inhalt und Schranken bestimmende Gesetz, auf dem sie beruhen, ist verfassungswidrig. (2) Das Inhalt und Schranken bestimmende Gesetz ist zwar verfassungsgemäß, der Konkretisierungsakt leidet aber an einem „eigenen" Mangel. Bei solchen Konkretisierungsakten ist eine doppelte Prüfung notwendig, die beide Ebenen aus prozessualen Gründen strikt trennen muß. Ist das Gesetz verfassungswidrig, hat das über den Primärrechtsschutz entscheidende Gericht die fragliche Norm nach Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG vorzulegen. Ist nur der Konkretisierungsakt rechtswidrig, muß das Gericht den fraglichen Akt selbst verwerfen. Verstößt der Gesetzgeber nicht gegen die ihm obliegenden Bindungen, so ist das Gesetz verfassungsgemäß. Die Inhalts- und Schrankenbestimmung ist dann kein Eingriff in den Schutzbereich, sondern hat lediglich den Schutzbereich der Eigentumsgarantie gestaltet.158 Ausgleichs- oder Entschädigungsansprüche kommen dann von vornherein nicht in Betracht. 3. Ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmungen Besondere Aufmerksamkeit hat in den letzten Jahren die Figur der „ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmung" erfahren; nicht zuletzt durch die 154 So etwa Hesse, Grundzüge, Rz. 332; ähnlich auch Breuer, Bodennutzung, S. 39 f. Zu dem Streit um Art. 19 Abs. 2 GG etwa Dreier, in ders. (Hrsg.), GG, Art. 19 II Rz. 14; Krebs, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 19 Rz. 24. 155 BVerfGE 24, 367 (384 ff.); 58,137 (145 f.). 156 BVerfGE 52, 1 (27); 58, 137 (145); 58, 300 (320); 79, 174 (192). 157 Dazu oben § 3 Β II 1 bei Fn. 91. 158 Bethge, VVDStRL 57 (1997), 7 (30).

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§ 3 Verfassungsrechtliche Eigentumsdogmatik

Diskussion um das Weiterbestehen des Instituts des enteignenden Eingriffs, vor allem aber wegen der Rechtsprechung zu den salvatorischen Klauseln.159 Als Leitentscheidung für die ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmung wird in der Regel der Beschluß des BVerfG vom 14.07.1981160 („Pflichtexemplar") genannt. Die hessische Landes- und Hochschulbibliothek hatte je ein Exemplar von vier wertvollen und in geringer Auflage hergestellten Büchern nach § 9 hessLPrG i. V. m. § 1 Abs. 1 Pflichtexemplarverordnung einbehalten. Über die unentgeltliche Einbehaltung der Bücher erteilte sie dem betroffenen Verleger einen Bescheid, den dieser nach Abschluß des Widerspruchsverfahrens vor dem Verwaltungsgericht anfocht. Das Gericht setzte das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG aus, da es der Meinung war, die fragliche Regelung verletze den Hersteller in seinem Grundrecht aus Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG. Das BVerfG prüfte zunächst das Vorliegen einer Enteignung nach Art. 14 Abs. 3 GG, lehnte diese jedoch mit der Begründung ab, das Druckwerk, also die Gesamtheit aller Bücher einer Auflage, sei bereits bei seiner Entstehung mit der Abgabepflicht belastet gewesen.161 Diese bestehende Verpflichtung werde durch Abgabe des Exemplars lediglich aktualisiert. 162 Die Regelung über die Pflichtexemplare sei eine objektiv-rechtliche Vorschrift, die den Inhalt des Eigentums am Druckwerk bestimme, mithin eine Inhalts- und Schrankenbestimmung. Diese schlage auch bei übermäßiger Belastung einzelner nicht in eine Enteignung um. 163 Die Regelung sei mit dem Ziel, künftigen Generationen einen vollständigen Überblick über das geistige Schaffen der Zeit zu geben, grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar. 164 Das gelte jedoch nicht, soweit es sich um Druckwerke handele, die unter hohen Kosten bei geringer Auflage hergestellt würden. Für die Verleger solcher Druckwerke führe die Unentgeltlichkeit der Ablieferungspflicht zu einer unzumutbaren Härte. Eine solche Belastung verstoße zudem im Vergleich zu den Herstellern „normaler" Bücher 159

Dazu noch unten § 6 Β III 1 b (1). BVerfGE 58, 137. 161 Der gedankliche Ansatz einer Naturalleistungspflicht in Form einer Abgabe hat zu Zweifeln in der Literatur geführt, ob hier überhaupt der Schutzbereich der Eigentumsgarantie betroffen sei oder nicht vielmehr nur eine Belastung des von Art. 14 GG nicht geschützten Vermögens vorliege. In diesem Fall wäre nur die Institutsgarantie als Prüfungsmaßstab in Betracht gekommen. So Kleinlein, DVB1. 1991, 365 (366). Mit Blick auf das einzelne abgelieferte Exemplar will dagegen Engel, AöR 118 (1993), 169 (176) eine Enteignung bejahen. Ebenfalls für die Annahme von Enteignungen und einer durchgehenden Entschädigungspflicht (mit der veralteten Begründung des Vorliegens eines Sonderopfers) Löffler, FS Faller, 435 (439). Kritik an der Pflichtexemplarentscheidung auch bei Schönfeld, BayVBl. 1996, 673 (676 m. Fn. 35), der die Verpflichtung des Verlegers zur Herstellung eines zusätzlichen (Pflicht-) Exemplars vornehmlich an der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG messen will. Vgl. auch Maurer, DVB1. 1991, 781 (783 m. Fn. 17). 162 BVerfGE 58, 137 (144). 163 BVerfGE 58, 137(143). 164 BVerfGE 58, 137(148). 160

Β. Grundrechtlicher Aufbau von Art. 14 GG

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gegen den Gleichheitssatz.165 Das BVerfG erklärte § 9 hessLPrG daher insoweit für verfassungswidrig, als es sich um Bücher handele, die mit großem Aufwand, aber in kleiner Auflage hergestellt würden. 166 Der Gesetzgeber habe das Pflichtexemplarrecht im ganzen neu zu ordnen oder in bezug auf derartige „Härtefälle" anzupassen.167 Die Entscheidung hat inzwischen eine Vielzahl literarischer Stellungnahmen hervorgerufen. Sie gilt - zusammen mit der Naßauskiesungsentscheidung vom folgenden Tag - als Leitentscheidung der „neuen" Eigentumsdogmatik. Man wird allerdings davon ausgehen müssen, daß das BVerfG dem Beschluß einen geringeren Stellenwert beimaß: Formal fällt die Kürze der Entscheidung auf, die in der Amtlichen Sammlung gerade 16 Seiten in Anspruch nimmt 168 und sich bei der materiell-rechtlichen Würdigung auf 5 Seiten beschränkt. In der Naßauskiesungsentscheidung fehlt jeder Verweis auf die am Vortag ergangene Entscheidung. Schließlich taucht der Begriff der „ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmung" an keiner Stelle der Entscheidung auf. Das BVerfG sah in dem Beschluß offenbar nichts substantiell Neues.169 Schon deshalb muß die Annahme Zweifel auslösen, in dieser Entscheidung sei ein grundsätzlich neues „Rechtsinstitut" geschaffen worden. Tatsächlich hatte das BVerfG bereits in einigen Urteilen zuvor Abfederungen übermäßiger Beeinträchtigungen durch gesetzlich geregelte finanzielle Ausgleichsansprüche für möglich gehalten. Im Bereich des Privatrechts hatte das BVerfG schon in seinem Urteil vom 07.08.1962 bei Erlöschen von Rechten im Rahmen von Art. 14 Abs. 1 GG eine Vergütung in den Blick genommen:170 Die durch § 15 des Gesetzes über die Umwandlung von Kapitalgesellschaften und bergrechtlichen Gewerkschaften 171 geschaffene Möglichkeit der vollen Übertragung einer Aktiengesellschaft auf eine 3ä der Aktien haltende Aktiengesellschaft hatte das BVerfG als verfassungsgemäß eingestuft, wenn die aus der Aktiengesellschaft* verdrängten Inhaber von Aktien-das verbleibende Viertel - wirtschaftlich voll entschädigt würden. 172 In der Entscheidung vom 07.07.1971 nahm das BVerfG erneut in einer privatrechtlichen 165

BVerfGE 58, 137 (149 f.). 166 Verfassungsprozessual sprach das BVerfG also eine sog. Teilnichtigerklärung aus. In der Literatur wird eine solche Teilnichtigerklärung zum Teil für bedenklich gehalten, da das BVerfG zu weit in die Kompetenzen des Gesetzgebers eingreife. Zur Kritik Sachs, DVB1.1979, 389 (389f.); Schiaich, Bundesverfassungsgericht, Rz. 351 ff.; BK-Stern, Art. 93 Rz. 305 f. 167

BVerfGE 58, 137(152). Zum Vergleich: BVerfGE 24,367 („Hamburger Deichordnung"): 58 Seiten; BVerfGE 45, 297 („Hamburger U-Bahn"): 50 Seiten; BVerfGE 52,1 („Kleingarten"): 42 Seiten; BVerfGE 56, 349 („Dürkheimer Gondelbahn"): 48 Seiten (inkl. Sondervotum); BVerfGE 58,300 („Naßauskiesung"): 53 Seiten. 169 Ähnlich Maurer, DVB1. 1991,781 (783 m. Fn. 15); Schönfeld, BayVBl. 1996,673 (677); Schwabe, JZ 1983, 273 (276); Thormann, Abstufungen, S. 108. 170 BVerfGE 14,263. 171 Vom 12.11.1956 (BGBl. I S. 844). 172 BVerfGE 14, 263 (283). 168

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§ 3 Verfassungsrechtliche Eigentumsdogmatik

Fallgestaltung an, daß auch im Bereich des Art. 14 Abs. 1 GG ein finanzieller Ausgleich verfassungsrechtlich geboten sein könnte. § 46 UrhG a. F. 173 regelte eine Durchbrechung des Alleinverwertungsrechts des Urhebers eines Werkes nach § 15 Abs. 1 UrhG, wenn Teile von Werken nach ihrem Erscheinen in Sammlungen aufgenommen wurden, die Werke verschiedener Urheber vereinigten und die nach ihrer Beschaffenheit für den Kirchen-, Schul- oder Unterrichtsgebrauch bestimmt waren. Diese Durchbrechung sei, so das BVerfG, zwar grundsätzlich verfassungsgemäß, insbesondere diene sie dem gegenwartsnahen Unterricht der Jugend.174 Es sei aber nicht mehr verfassungsgemäß, wenn diese Durchbrechung vergütungsfrei erfolge, da diese Beeinträchtigung nicht mehr angemessen sei.175 Hergeleitet wurde die Vergütungspflicht also aus der Angemessenheit (= Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn). 176 In dem ebenfalls das Urheberrecht betreffenden Beschluß vom 25.10.1978 erklärte das BVerfG die Regelung des § 52 Abs. 1 Nr. 2 UrhG a. F. 177 für nicht mehr verfassungsgemäß, soweit Komponisten bei der Aufführung ihrer Werke im Rahmen kirchlicher Veranstaltungen keine Vergütung erhielten. 178 Sogar Ausgleichsansprüche gegen die öffentliche Hand im Rahmen von Art. 14 Abs. 1 GG hatte das BVerfG schon vor dem Pflichtexemplar-Beschluß in der Entscheidung vom 29.04.1981 über die Entschädigungsregelung des § 49 BSeuchG a. F. 179 erwogen. 180 Personen, die als Kranke, Krankheitsverdächtige, Ausscheider oder Ausscheidungsverdächtige einem Berufsausübungsverbot nach § 38 BSeuchG unterliegen, könnten in ihren Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1 GG oder Art. 14 Abs. 1 GG beeinträchtigt sein. Diese Beeinträchtigung sei zwar zulässig, bedürfe aber eventuell zur Wahrung der Angemessenheit einer Ausgleichsregelung. 181 Allein vor dem Hintergrund der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist die große Aufmerksamkeit, die die Entscheidung zum Pflichtexemplarrecht erfahren hat, also nicht zu verstehen. Bemerkenswert ist die Entscheidung allein vor dem Hintergrund der Umschlagtheorie des BGH: Eine Einordnung als Inhalts- und Schrankenbestimmung hatte ja nach dieser Theorie zwingend die Verneinung eines finan-

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Vom 09.09.1965 (BGB1.I S. 1273). BVerfGE 31,229 (242). 175 BVerfGE 31,229 (243). 176 Der Gesetzgeber besserte mit dem Gesetz vom 10.11.1972 (BGBl. IS. 2081) nach. 177 Vom 09.09.1965 (BGB1.I S. 1273). 178 BVerfGE 49, 382 (398). 179 In der Fassung des Zweiten Änderungsgesetzes vom 25.08.1971 (BGBl. IS. 1401). 180 BVerfGE 57,107. 181 BVerfGE 57, 107 (117). Hier sprach das BVerfG allerdings (noch fälschlich, s. u. § 3 Β III 3 a (1) bei Fn. 183) von einer Entschädigung. Auf diese Entscheidung als „Geburtsstunde44 der ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmung weisen auch Steinberg/Lubberger, Aufopferung, S. 152 m. Fn. 453 hin. Schmitt-Kammler, JuS 1995,473 (475 Fn. 23) spricht in diesem Zusammenhang von einer Billigkeitsentschädigung, da nur das Vermögen betroffen sei. 174

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ziellen Ausgleichs zur Folge, da die fehlende Entschädigungsbedürftigkeit die dogmatische Einordnung bestimmte. Im folgenden wird zunächst der Begriff der ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmung definiert, es folgt eine verfassungsrechtliche Einordnung und Bewertung. a) Was sind ausgleichspflichtige

Inhalts- und Schrankenbestimmungen?

Weitgehende Klarheit herrscht über das Merkmal der Inhaltsbestimmung. Auch sog. ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmungen sind Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Eigentums, also abstrakt-generelle Regelungen des Eigentumsinhalts, und damit dem Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG zuzuordnen. Sie sind auch bei Fehlen einer Ausgleichsregelung keine Enteignungen. Dies muß bei konsequenter Durchführung der Trennungstheorie auch dann gelten, wenn derartige Bestimmungen zu einer völligen Entwertung des Eigentumsrechts führen. 182 Da es sich also in keinem Fall um Enteignungen handelt, ist die Rede von „entschädigungspfiichtigen" Inhaltsbestimmungen von vornherein verfehlt, 183 da das Grundgesetz den Begriff der Entschädigung dem Art. 14 Abs. 3 GG vorbehält. 184 Klärungsbedürftig sind Inhalt und Ursprung der Ausgleichspflicht. Dabei verleitet die Terminologie zu Mißdeutungen: (1) Inhalt der sog. Ausgleichspflicht Dem Gesetzgeber obliegt keine Ausgleichspflicht, sondern lediglich eine Regelungspflicht: 185 Verfehlt die von ihm vorgenommene Ausgestaltung der Eigentumsordnung die verfassungsrechtlichen Anforderungen, so wird er nach einem die Norm 182

Offen gelassen in BVerfGE 79,174 (192); inzwischen deutlicher BVerfGE 100,226 (240): Die Einordnung einer Norm als Inhalts- und Schrankenbestimmung sei „von der Intensität der den Rechtsinhaber treffenden Belastung unabhängig"; in diesem Sinne auch Lege, Zwangskontrakt, S. 30. 183 So aber ein verbreiteter Sprachgebrauch, s. etwa Battis , NVwZ 1982, 585 (589); Hösch, JA 1998,727 (730); Knauber, NVwZ 1984,753 (756); Lege, Zwangskontrakt, S. 30; Pietzcker, JuS 1991,369 (370f.); Rüfner, in Erichsen (Hrsg.), AllgVerwR, § 49 vor Rz. 40; ders., FS Boujong, 643 (644); Sass, Entschädigungserfordernis, S. 315; Schiette, JuS 1996,204 (205); Schulze-Osterloh, NJW 1981,2537; Schwabe,1Z 1983,273 (277); ders., Jura 1994,529 (530); unklar Ossenbühl, Entwicklungen, S. 25 m. Fn. 88, richtig aber ders., FS Friauf, 391. Falsch daher die Formulierung von BVerfGE 83,201 (213), wo das BVerfG von „Entschädigungsregeln" spricht, obwohl es eine Einordnung der fraglichen Maßnahmen als Enteignung kurz zuvor abgelehnt hatte (auf S. 212). 184 Zutreffend Dieterich, Grundwasserschutz, S. 39; Schmitt-Kammler, FS E. Wolf, 595 (599 m. Fn. 21); ders., FS Uni Köln, 821 (838); Thormann, Abstufungen, S. 112. 185 Böhmer, NJW 1988,2561 (2563) (zu BVerfGE 31,229); Pietzcker, JuS 1991, 369 (371); ganz deutlich auch Lege, Zwangskontrakt, S. 24 m. Fn. 31.

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§ 3 Verfassungsrechtliche Eigentumsdogmatik

verwerfenden Urteil des BVerfG eine Neuregelung vornehmen. Bei dieser Neuregelung wird er sich um eine verfassungsgemäße Lösung bemühen und daher die Begründung des BVerfG berücksichtigen. Mahnt das Verfassungsgericht Ausgleichsregelungen an, so wird der Gesetzgeber dies in die Tat umsetzen, sofern er an der Ausgangsregelung festhält. Es bleibt dem Gesetzgeber natürlich ebenso unbenommen, die Inhalts- und Schrankenbestimmung so zu verändern, daß die verfassungsgerichtlichen Bedenken ihren Anhaltspunkt von vornherein verlieren: So hätte etwa der hessische Gesetzgeber nach dem Pflichtexemplar-Beschluß das Pflichtexemplarrecht ganz oder teilweise beseitigen können. Bei der Ausgestaltung der Eigentumsordnung ist der weite Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu berücksichtigen. 186 Daher wird in aller Regel die Gewährung einesfinanziellen Ausgleichs nur eine, aber nicht die einzig mögliche Reaktion des Gesetzgebers sein. Ausdrücklich verwies das BVerfG im Pflichtexemplar-Beschluß auf die Fülle verschiedener, im Pflichtexemplarrecht der Bundesrepublik Deutschland bestehenden Regelungsmodelle.187 Die Verpflichtung zum Ausgleich ist daher allgemein als Pflicht zur Schaffung von Abfederungsmaßnahmen zu verstehen, handele es sich nun um zeitliche Übergangsregeln, finanzielle Ausgleichsregelungen, Dispense im Härtefall oder andere Abfederungen. 188 Derartige Abfederungsmaßnahmen können zudem besser geeignet sein, den Eigentumsbestand zu sichern als die Zahlung eines finanziellen Ausgleichs.189 Ebenso wie bei der Frage nach dem „Ob", hat der Gesetzgeber auch bei dem „Wie" eines finanziellen Ausgleichs einen weiten Gestaltungsspielraum. Verpflichtet werden kann auch ein Privater. 190 Die Höhe des Ausgleichs muß mindestens so bestimmt werden, daß die Verfassungsgemäßheit der Regelung, insb. ihre Angemessenheit (= Verhältnismäßigkeit i. e. S.), „gerade noch" gewahrt bleibt; voller Wertersatz ist nicht geschuldet. Wegen der Trennung von Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 14 Abs. 3 GG scheidet auch eine Prüfung an Art. 14 Abs. 3 S. 3 GG 191 aus. Im Ergebnis wird ein Ausgleichsanspruch unter Berücksichtigung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit und der Entscheidung des Grundgesetzes für entschädigungslose Inhalts· und Schrankenbestimmungen niedriger ausfallen können als eine Enteignungsentschädigung. Schließlich ist es dem Gesetzgeber auch nicht verwehrt, andere Abfederungsmaßnahmen (wie etwa zeitliche Übergangsregelungen) mit einem fi186

BVerfGE 52, 1 (41). BVerfGE 58, 137 (152). 188 Diese anderen Möglichkeiten werden oft übersehen, vgl. Hendler, DVB1.1983,873 (880); Knauber, NVwZ 1984,753 (756); Rinne, DVB1.1994,23 (26). Richtig dagegen ζ. B. BVerwGE 94,1 (7); Ossenbühl, FS Friauf, 391 (393); Schoch, FS Boujong, 655 (662; 670); ders., JZ 1995, 768 (770). 189 Ähnlich BVerfGE 100,226 (244 ff.); Schoch, FS Boujong, 655 (670). 190 BVerfGE 14,263 (283); 31,229 (243); 57,107 (117); D.Ehlers, VVDStRL 51 (1991), 211 (233 m. Fn. 118); Papier, in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 343; Steinberg/Lubberger, Aufopferung, S. 218 f.; Schmitt-Kammler, FS Uni Köln, 821 (839). 191 So auch Lege, NJW 1995, 2745 (2748). 187

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nanziellen Ausgleich zu kombinieren, so daß die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Höhe des finanziellen Ausgleichs weiter sinken. Entscheidet sich der Gesetzgeber für einen Anspruch auf Ausgleich in Geld gegen die öffentliche Hand, so ist diese Norm Anspruchsgrundlage zugunsten des in seinem Eigentum beeinträchtigten Bürgers. Eine Zahlungspflicht ohne gesetzliche Regelung scheidet demgegenüber aus. Die Rede von »Ansprüchen aus Art. 1412" 193 ist daher, auch wenn nur ein vereinfachter Sprachgebrauch erreicht werden sollte, grundsätzlich verfehlt. 194 Die Zuerkennung eines Anspruchs ohne eine gesetzliche Regelung ist nicht möglich, 195 selbst das BVerfG hat sich zur Gewährung eines finanziellen Ausgleichs im Pflichtexemplar-Beschluß gerade nicht als befugt angesehen. 196

(2) Ursprung der Ausgleichsregelungspflicht Ihren Ursprung hat die angenommene Ausgleichsregelungspflicht in den verfassungsrechtlichen Bindungen, denen auch der Inhalt und Schranken bestimmende Gesetzgeber unterliegt. Bestimmten, aber durchaus nicht allen verfassungsrechtlichen Anforderungen kann der Gesetzgeber durch Regelung eines Ausgleichs genügen. Verstöße gegen die Kompetenzordnung, Verfahrens- oder Formvorschriften scheiden zur Begründung von Ausgleichsregelungspflichten von vornherein aus: So wird etwa ein vom unzuständigen Gesetzgeber erlassenes, Inhalt und Schranken bestimmendes Gesetz durch die Regelung eines Ausgleichs ebensowenig verfassungsgemäß wie ein Verfahrens- oder formfehlerhaft erlassenes Gesetz. Auch Verstöße gegen die Institutsgarantie kommen in diesem Zusammenhang nicht in Betracht: 197 Denn diese objektiv-rechtliche Garantie kann nicht dadurch gesichert werden, daß den Eigentümern ein subjektiv-rechtlicher Ausgleichsanspruch zuerkannt wird. Aus demselben Grund können auch Verstöße gegen die Wesensgehaltsgarantie des 192

BVerfGE 83, 201 (213). So aber Maurer, DVB1. 1991, 781 (786). Fehlerhaft auch Badura, VVDStRL 51 (1991), 289 (290). 194 In diese Richtung auch BVerfGE 100,226 (245). Die genannte Formulierung verrät eine große sprachliche (auch gedankliche?) Nähe zu den sog. „Ansprüchen aus Art. 14 Abs. 3", also an die - vom BVerfG verworfene Vorstellung - Art. 14 Abs. 3 GG sei eine Anspruchsgrundlage. (BVerfGE 4,219,228 ff., seitdem st. Rspr., vgl. etwa BVerfGE 24,367 [418]; 58,300 [319]). 195 Anders aber etwa Schwerdtfeger, Struktur, S. 37; in diese Richtung auch früher Ossenbühl, Staatshaftungsrecht4, S. 153. Richtig dagegen BVerfGE 100, 226 (245); BVerwGE 94, 1 (8); Haas, System, S. 25 f.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 187; Schoch, JZ 1995, 768 (771). 196 BVerwGE 94, 1 (8); Kempen, Eingriff, Rz. 251, 259; Ossenbühl, FS Friauf, 391 (401); ders., Staatshaftungsrecht, S. 187f.; Rinne, DVB1. 1994, 23 (26); Schmitt-Kammler, FS Uni Köln, 821 (841). 197 So auch Melchinger, NJW 1991, 2524 (2529). 193

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§ 3 Verfassungsrechtliche Eigentumsdogmatik

Art. 19 Abs. 2 GG nicht durch Ausgleichsregelungen geheilt werden, soweit man diese Garantie als absoluten, objektiv-rechtlichen Schutz versteht. 198 Art. 19 Abs. 2 GG kann allerdings dann ins Spiel gebracht werden, wenn man ihn mit dem Übermaßverbot gleichsetzt. Denn Verstöße gegen dieses Prinzip wie gegen den Gleichheitssatz können durch Ausgleichsregelungen aufgefangen werden. Der Fall von BVerfGE 58,137 („Pflichtexemplar") hat solche Fälle ins Bewußtsein gerückt, in denen einzelne Eigentümer durch eine generell unbedenkliche Inhaltsund Schrankenbestimmung unverhältnismäßig belastet werden, weil die Regelung sie unangemessen trifft. In diesen Fällen kann eine Abfederungsregelung verfassungsrechtlich geboten sein.199 Ob darüber hinaus eine Ausgleichsregelung eine generell unverhältnismäßige Regelung verfassungsrechtlich absichern kann, ist bisher noch wenig erörtert. 200 Der Ausgleich in Geld ist nur eine mögliche Variante der Abfederung, die gleichwertig neben anderen Varianten steht, d i e - w i e etwa zeitliche Übergangsfristen - zur verfassungsgemäßen Ausgestaltung einer (sonst generell übermäßigen) Inhalts- und Schrankenbestimmung herangezogen werden können. Daher liegt es nahe, eine Abfederung durch Geldausgleich bei einem sonst vorliegenden generellen Verstoß gegen das Übermaßverbot anzuerkennen. In diesem Sinn läßt sich zudem die Entscheidung des BVerfG vom 09.01.1991 („bergrechtliches Vorkaufsrecht") deuten: Das BVerfG hat es in dieser Entscheidung abgelehnt, den Wegfall von Altrechten im Zuge der Neugestaltung eines Rechtsgebietes als Enteignungen anzusehen, hatte aber angemahnt, daß in einem solchen Fall durchaus Übergangs- und Entschädigungsregeln notwendig sein könnten.201 Bei einer solchen Neugestaltung eines Rechtsgebietes wird allerdings in aller Regel eine große Zahl von Miteigentümern" betroffen und für diese eine generelle Abfederung zur Sicherung der Angemessenheit (= Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn) notwendig sein. Durch die Annahme, auch generell unangemessene Regelungen könnten durch Ausgleichszahlungen abgesichert werden, droht schließlich keine übermäßige finanzielle Belastung der öffentlichen Hand. Der Gesetzgeber kann ja einenfinanziellen Ausgleich durch begünstigte Private oder andere, weniger kostenintensive Abfederungsmaßnahmen - wie etwa Übergangsregelungen oder Härtefalldispense - vorsehen. 202 198

Wie dies etwa bei Jarass in Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rz. 7 geschieht. Zu den einzelnen Tatbestandsmerkmalen noch unten § 3 Β III 3 b. 200 S. Ossenbühl JZ 1994,263 (264); Thormann, Abstufungen, S. 112 f. (für eine Beschränkung auf Einzelfälle); für einen allgemeinen Ausgleich D. Ehlers, VVDStRL 51 (1991), 211 (232 f.); Schmitt-Kammler, FS Uni Köln, 821 (837 m. Fn. 54, 839). 201 BVerfGE 83, 201 (211 ff.). Hinsichtlich der Notwendigkeit von Übergangsregeln ist das Urteil sehr undeutlich: „Der Gesetzgeber muß danach die Umgestaltung oder Beseitigung eines Rechts zwar nicht durchweg mit einer Entschädigungs- oder Übergangsregelung abmildern. Die völlige, Übergangs- und ersatzlose Beseitigung einer Rechtsposition kann jedoch nur unter besonderen Voraussetzungen in Betracht kommen" (BVerfGE 83,201 [213]). 202 So wohl auch BVerfGE 100,226 (244 f.). Die Beschränkung von »Ausgleichsregelungen" auf einzelne Härtefälle betrifft wohl nur Regelungen einesfinanziellen Ausgleichs, nicht aber andere kompensatorische Maßnahmen. 199

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Daß der Verstoß gegen den Gleichheitssatz durch eine Ausgleichsregelung beseitigt werden kann, zeigt sinnfällig der Pflichtexemplar-Beschluß. Der Gleichheitssatz verbietet in seiner Ursprungsfassung Gleiches willkürlich ungleich, Ungleiches willkürlich gleich zu behandeln.203 In der Entscheidung zum Pflichtexemplarrecht waren ungleiche Gruppen die Hersteller bibliophiler Kostbarkeiten auf der einen, die Produzenten „normaler" Bücher auf der anderen Seite. Die für beide Gruppen gleiche, unentgeltliche Ablieferungspflicht entbehrte - folgt man im Ergebnis dem BVerfG - der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, da die Gruppen durch die Unentgeltlichkeit der Ablieferung willkürlich ungleich belastet wurden. 204 Bezugspunkt für den angenommenen Verstoß gegen den Gleichheitssatz ist also nicht die Ablieferungspflicht als solche, sondern deren Unentgeltlichkeit. Daß ein solcher Verstoß durch einen finanziellen Ausgleich geheilt werden kann, ist augenfällig. (Diese Lösung lag auch deshalb nahe, weil vergleichbare Regelungen in anderen Bundesländern und im Bund einen derartigen Ausgleich für Härtefälle vorsahen. 205)

(3) Terminologie Ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmungen sind also solche Inhalts· und Schrankenbestimmungen, die der Regelung eines (nicht zwingend finanziellen!) Ausgleichs bedürfen, um den verfassungsrechtlichen Anforderungen standzuhalten. Es handelt sich nicht um ein besonderes Rechtsinstitut, sondern lediglich um eine besondere (und eher in die Irre führende) Bezeichnung für Inhalts- und Schrankenbestimmungen, die auf einem bestimmten Weg verfassungsrechtlich abzusichern sind. Ware es nicht sprachlich verunglückt, müßte man von „abfederungsregelungspflichtigen Inhaltsbestimmungen" sprechen. Selbst dies wäre freilich ungewöhnlich: Denn bei einem wegen Unzuständigkeit des erlassenden Gesetzgebers verfassungswidrigen Gesetz ist bisher auch noch niemand darauf verfallen, von einer „Kompetenz-Wahrungspflichtigen Inhaltsbestimmung" zu sprechen.206

203 204 205 206

Vgl. oben § 3 Β III 1 bei Fn. 145. Vgl. auch Schmitt-Kammler, FS Uni Köln, 821 (843). Vgl. dazu die in BVerfGE 58,137 (138) nachgewiesenen Regelungen. Ähnliches Argument bei Schmitt-Kammler, FS Uni Köln, 821 (842).

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§ 3 Verfassungsrechtliche Eigentumsdogmatik

b) Verfassungsrechtliche

Bewertung

Trotz der überwiegenden Anerkennung „ausgleichspflichtiger Inhaltsbestimmungen" 207 sind verfassungsrechtliche Bedenken gegen diese Figur bis heute nicht verstummt. Von vornherein unbeachtlich sind in dieser Diskussion allerdings solche Argumente, deren gedankliche Basis noch das Umschlagen einer Inhalts- und Schrankenbestimmung in eine Enteignung ist. Folgt man dem BVerfG, hat dieser Ansatz in der verfassungsrechtlichen Dogmatik keinen Raum mehr. Die ausgleichspflichtige Inhalts· und Schrankenbestimmung läßt sich also weder mit dem Argument angreifen, die Eingriffe im „Vorfeld der Enteignung"208 müßten entschädigungsfrei bleiben, noch mit dem Argument verteidigen, wenn schon die schwerere Enteignung durch Geldzahlung verfassungsmäßig werde, dann doch erst recht die Inhaltsbestimmung. 209 Bedenken gegen die ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmung werden von einem Teil des Schrifttums zunächst mit Blick auf den Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG erhoben. Dieser schütze den Bestand des Eigentums, diese Bestandsgarantie sei streng von der Eigentumswertgarantie des Art. 14 Abs. 3 zu unterscheiden. Wenn die ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmung dem Staat die Möglichkeit gebe, die Bestandsgarantie in eine Wertgarantie umzuwandeln, so könne er dem Bürger im Ergebnis den Bestandsschutz des Art. 14 Abs. 1 GG „abkaufen". Diese Konsequenz sei weder mit Art. 14 Abs. 1 GG noch mit allgemeinen Grundrechtsregeln vereinbar. 210 Eine solche, die Eigentümer begünstigende Argumentation verfängt jedoch nicht, da sie die Normprägung des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs verkennt: Die (durch die Ausgleichsregelung) verfassungsgemäß ausgestaltete Eigentumsposition umfaßt das fragliche Recht nicht, es muß dem Bürger daher nicht „abgekauft" werden. 211 Am Beispiel: Nach der „Ausbesserung" des hessischen Pflichtexemplar207

Etwa bei Battis, NVwZ 1982,585 (589 f.); Bryde, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 65; D. Ehlers, VVDStRL 51 (1991), 211 (232); Hendler, DVB1.1983,873 (879); BK-Kimminich, Art. 14 Rz. 201; Knauber, NVwZ 1984,753 (756); Maurer, FS Dürig, 291 (310); ders. DVB1.1991,781 (782f.); Nüßgens/Boujong, Eigentum, Rz. 339f.; Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rz. 936 f.; Schink, DVB1.1990,1375 (1383); Schoch, Jura 1989,113 (1191); Schulze-Osterloh, NJW 1981, 2537 (2543); Steinberg/Lubberger, Aufopferung, S. 227ff.; Wendt, in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 81; unklar Hösch, JA 1998, 727 (731). 208 So aber Papier, in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 338. Vgl. auch Maiwald, BayVBl. 1991, 101 (104), die grundsätzlich von einer „Umschlagtheorie" aus argumentiert. 209 So aber Jaschinski, Fortbestand, S. 153 f. 2,0 So insb. Kempen, Eingriff, Rz. 252; Lubberger, Eigentumsdogmatik, S. 216ff.; der Sache nach auch Krohn, ZfBR 1994,5 (7); Stöhr, Aspekte, S. 148. Für einen Teilbereich (generell unverhältnismäßige Inhaltsbestimmungen) auch Thormann, Abstufungen S. 112 f. 211 In diese Richtung auch Breuer, in Schrödter (Hrsg.), BauGB, § 39 Rz. 17; D. Ehlers, VVDStRL 51 (1991), 211 (232); Kimminich, NuR 1985,1 (7);Ow^w7i/,FSFriauf,391 (399).

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rechts umfaßte der eigentumsrechtliche Bestandsschutz eben nur das Eigentum an dem Druckwerk, vermindert um ein noch auszusonderndes und abzulieferndes Buch; weiter reichte auch der Bestandsschutz des Art. 14 Abs. 1 GG nicht. Gewichtigere Argumente gegen die Figur der ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmung ergeben sich aus der Befürchtung, der Gestaltungsspielraum des Inhalt und Schranken bestimmenden Gesetzgebers könnte durch die drohende Gefahr einer großen Zahl von Ausgleichsforderungen wesentlich eingeschränkt werden.212 Schon der Wortlaut von Art. 14 GG zeige, daß die Zahlung von Entschädigungen auf den Fall der Enteignung beschränkt bleiben solle.213 Art. 14 Abs. 1 GG mache deutlich, daß auch entschädigungslose Wertminderungen im Rahmen der Gestaltung der Eigentumsordnung durch den Gesetzgeber zulässig sein sollten, zumal Art. 14 GG keinen Schutz für das Vermögen als Ganzes biete.214 Diese Regelung des Art. 14 Abs. 1 GG werde unterlaufen, wenn das Übermaßverbot zur Begründung von Ausgleichspflichten herangezogen werde: Die Umgestaltung von Rechten ohne Ausgleich könnte gegenüber der Umgestaltung mit Ausgleich immer als der weniger schwere Eingriff angesehen werden - dies würde zu einer generellen Ausgleichspflicht von Inhalts- und Schrankenbestimmungen führen. 215 Ebenso könnte jede Beschränkung von gruppenspezifischen Eigentumsrechten als willkürlich und damit als gleichheitswidrig und ausgleichspflichtig begriffen werden. Die so beschriebene Gefahr einer Einschränkung des gesetzgeberischen Spielraums durch weitreichende Ausgleichsforderungen hat sich bis heute nicht realisiert, 216 ist bei richtiger Anwendung des Übermaßverbotes auch zu bannen: Die Umgestaltung der Eigentumsordnung mit finanziellem Ausgleich kann als das gegenüber der ausgleichslosen Umgestaltung mildere Mittel begriffen werden. Diese Umgestaltung mit Ausgleich stellt sich aber aus der Sicht der öffentlichen Hand nicht als gleich geeignet dar. 217 Zudem wäre eine solche Herleitung der Ausgleichspflicht aus dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit außerstande, eine Höchstgrenze für den finanziellen Ausgleich anzugeben, da die Regelung eines jeweils noch höheren Ausgleichs sich für den Betroffenen als das jeweils noch mildere Mittel darstellte. Daher 212

Lubberger, Eigentumsdogmatik, S. 213 ff.; Wieland, in Dreier (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 126. In der Tendenz ähnlich Pietzcker, NVwZ 1991,418 (419). 2.3 Kimminich, NuR 1994, 261 (265); Lubber ger, Eigentumsdogmatik, S. 213; Maiwald, BayVBl. 1991, 101 (104). 2.4 Papier, in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 336,339; Stöhr, Aspekte, S. 144; Thormann, Abstufungen, S. 113; Wieland, in Dreier (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 126. 2.5 Breuer, in Schrödter (Hrsg.), BauGB, § 39 Rz. 17; Eschenbach, Jura 1998, 401 (402), Kempen, Eingriff, Rz. 259; Kimminich, NuR 1985, 1 (2); Papier, in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 338; Stöhr, Aspekte, S. 143 f. Gegen ein solches Verständnis bereits Schulze Osterloh, NJW 1981,2537 (2542), die mit ihrer Arbeit „Das Prinzip der Eigentumsopferentschädigung im Zivilrecht und im öffentlichen Recht" (1980) wesentliche Vorarbeiten zur Figur der ausgleichspflichtigen Inhaltsbestimmung geleistet hat. 2.6 Ossenbühl, FS Friauf, 391 (399). 2.7 Papier, in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 340. 9 Külpmann

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§ 3 Verfassungsrechtliche Eigentumsdogmatik

wird man die Notwendigkeit von Ausgleichsregelungen nie mit dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit begründen können. Von der Prüfung des Obermaßverbotes wird daher nur die Prüfung der Angemessenheit (= Verhältnismäßigkeit i. e. S.) verbleiben. Diese kann bei Beachtung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums und der lediglich groben verfassungsgerichtlichen Abwägungskontrolle nur in Ausnahmefällen eine Ausgleichspflicht begründen. Auch der Gleichheitssatz gebietet keinen generellen Ausgleich von Gruppenbelastungen, wenn die Prüfung der „Willkür" einer gesetzgeberischen Maßnahme nicht überspannt wird, insbesondere darf der Gleichheitssatz nicht im Sinn der alten „Sonderopfer"-Rechtsprechung des BGH mißdeutet werden. Gegen zu weitreichende Regelungspflichten von Ausgleichsansprüchen in Härtefällen spricht zudem die Rechtsnatur von Inhalts- und Schrankenbestimmungen als abstrakt-generelle Regelungen. Abstrakt-generelle Regelungen führen in Einzelfällen „am Rande" ihres Anwendungsbereichs regelmäßig zu Gerechtigkeitsverlusten.218 Die Härte im Einzelfall ist die Kehrseite der Allgemeinheit des Gesetzes. Mit Blick auf den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum und die notwendige Typisierung von Tatbeständen hat das BVerfG wiederholt entschieden, daß auch Härten im Einzelfall nicht zur Verfassungswidrigkeit eines allgemeinen Gesetzes führen. 219 So hatte das BVerfG in dem Beschluß über die Entschädigungsregelung des § 49 BSeuchG a. F. darüber zu entscheiden, ob es gerechtfertigt sei, daß Selbständige, die einer Absonderung unterlägen, ihre weiterlaufenden Betriebsausgaben ersetzt bekämen, während Selbständige, die lediglich einem Berufsausübungsverbot unterlägen, diese Ausgaben selbst tragen müßten. Für die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Ungleichbehandlung - so das BVerfG - sei es aber ausreichend, daß die Absonderung „normalerweise" schwerer wiege als ein Berufsausübungsverbot. 220 (Unter diesem Gesichtspunkt ließe sich auch der Pflichtexemplarbeschluß angreifen. 221)

218

Vgl. zu diesem Problemkreis Weyreuther, DÖV 1997,521 (524). Vgl. die Nachweise bei Jarass, in Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rz. 21. Vgl. auch die Rechtsprechung des BVerfG zu den unbeabsichtigten Nebenfolgen bei Regelungen im Bereich des Art. 6 Abs. 1 GG: BVerfGE 6, 55 (77); 11, 50 (60); 12, 169 (176); 23, 74 (84), dazu SchmittKammler, in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 6 Rz. 34. 220 BVerfGE 57,107(116). 221 Vor dem Pflichtexemplarbeschluß des BVerfG war im Schrifttum auch weit überwiegend die Verfassungsgemäßheit der unentgeltlichen Ablieferungspflicht angenommen worden. Vgl. die Nachweise bei Haas-Traeger, DÖV 1980,16 bei Fn. 6. Auch das VG Braunschweig hatte in seinem (unveröffentlichtem) Urteil vom 27.10.1977 (I A 106/75) die Verfassungsgemäßheit der unentgeltlichen Heranziehung bejaht. S. dazu auch den Aufsatz von Haas-Traeger, DÖV 1980, 16, die als Richterin an dem Urteil des VG Braunschweig beteiligt war: Die Frage, ob die Ablieferungspflicht noch Sozialbindung oder schon Enteignung sei, verneint die Autorin mit Blick auf die besondere Stellung der Verleger als Gruppe und auf die geringe Intensität der Belastung, da weder ein Gleicheitsverstoß (Sonderopfer) noch eine intensive Belastung (Sonderopfer) vorliege. Dies gelte auch bei Luxusausgaben (ebd., S. 20 m. Fn. 53) Diese Argumentation ist mit der verfassungsgerichtlichen Eigentumsdogmatik nicht vereinbar. 219

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IV. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Enteignungen Die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen einer Enteignung regelt das Grundgesetz in Art. 14 Abs. 3 GG; daneben gilt insbesondere auch für Enteignungen das Übermaßverbot. 222 Im vorliegenden Zusammenhang kann nur ein kurzer Überblick über die Voraussetzungen einer rechtmäßigen Enteignung gegeben werden, für Einzelheiten ist auf das weiterführende Schrifttum zu verweisen. 223 Die Enteignung ist nach Art. 14 Abs. 3 S. 1 GG nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Daher sind Enteignungen allein im Privatinteresse ebenso unzulässig224 wie Enteignungen zur Mehrung des Vermögens des Fiskus.225 Auch Enteignungen zur Verwirklichung eines rechtswidrigen Projekts dienen nicht dem Wohl der Allgemeinheit.226 Schwierigkeiten wirft die Enteignung zugunsten eines privaten Unternehmens auf. Seit dem Urteil vom 24.03.1987 („Boxberg") 227 läßt das BVerfG auch Enteignungen zugunsten Privater zu, soweit ausreichend sichergestellt ist, daß der angestrebte Gemeinwohlzweck (etwa: Verbesserung der Wirtschaftslage in einem strukturschwachen Gebiet) „erreicht und dauerhaft gesichert wird". 228 Zu dieser Sicherung können besondere gesetzgeberische Maßnahmen notwendig sein. Im übrigen obliegt es dem Gesetzgeber, den Begriff des Wohls der Allgemeinheit zu konkretisieren; die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte ist bei einer solchen, weitestgehend politisch auszufüllenden Leerformel eher niedrig. 229 Wird der angestrebte Gemeinwohlzweck nicht erreicht oder entfällt er später, so hat der Bürger ein Rückerwerbsrecht aus Art. 14 Abs. 1 GG. 230 Nach der Junktimklausel des Art. 14 Abs. 3 S. 2 darf die Enteignung nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Diese Regelung schützt den Bürger, indem sie eine gesetzlich verankerte Anspruchsgrundlage fordert und ihm Klarheit über das Bestehen von Entschädigungs222

BVerfGE 24, 367 (404f.); 45,297 (335); 56,249 (264). Vgl. Bryde, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 80ff.; Jarass, in Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rz. 57 ff.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 207 ff.; Papier, in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 555 ff.; Pieroth/Schlink, StaatsR II, Rz. 938 ff.; Rüfner, in Erichsen (Hrsg.), AllgVerwR, § 48 Rz. 18 ff.; Schmidt-Bleibtreu in ders./Klein, GG, Art. 14 Rz. 12ff.; Wendt, in Sachs (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 160ff.; Wieland, in Dreier (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 84 ff. 224 Böhmer, abw. Meinung BVerfGE 56,266 (284 ff.); Wie land, in Dreier (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 95. 225 BVerfGE 38,175 (180). 226 BVerwGE 77, 86 (91); Jarass, in Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rz. 59. 227 BVerfGE 74,264. 228 BVerfGE 74,264 (286); Jarass, in Jarass/Pieroth, GG, Art. 14 Rz. 59; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 204; Papier, in Maunz/Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 586. 229 Wieland, in Dreier (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 93 ff. 230 BVerfGE 38,175 (181). Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 153; kritisch Wieland, in Dreier (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 99 ff. (gesetzliches Rückerwerbsrecht notwendig). 223

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§3 Verfassungsrechtliche Eigentumsdogmatik

anspriichen verschafft. 231 Zugleich zwingt sie den Gesetzgeber, sich zu entscheiden, ob eine intendierte Regelung eine Enteignungsregelung sei. So soll Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG den Gesetzgeber warnen, da er sich Rechenschaft hinsichtlich der Auswirkungen von Enteignungsentschädigungen auf den Staatshaushalt geben muß. 232 Schließlich sichert die Junktimklausel die Kompetenzen des Parlaments, namentlich sein Budgetrecht, ebenso wie die Kompetenzen des BVerfG, das bei fehlender Entschädigungsregelung die Norm verwerfen muß, während den Fachgerichten die Zubilligung einer Entschädigung zur „Heilung" der Verfassungswidrigkeit verwehrt wird. Im Verhältnis von Legal- und Administrativenteignung ist eine Vermischung unzulässig.233 Aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes genießt die Administrativenteignung grundsätzlich den Vorrang vor der Legalenteignung.234 Eine Legalenteignung kann allerdings dann verfassungsrechtlich Bestand haben, wenn triftige Gründe für die Annahme bestehen, daß eine Administrativenteignung mit erheblichen Nachteilen für das Gemeinwohl verbunden wäre - das Vorliegen einer solchen Situation hat das BVerfG unlängst für den Ausbau der Infastruktur in den fünf neuen Ländern angenommen.235 Die Entschädigung ist nach Art. 14 Abs. 3 GG unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Hier besteht inzwischen Einigkeit, daß eine nominelle Entschädigung nicht ausreicht, aber auch keine Entschädigung in Höhe des vollen Verkehrswertes notwendig ist. 236 Letzteres ergibt sich bereits aus der Pflicht zur Vornahme einer gesetzgeberischen Abwägung, die einen gewissen Freiraum des Gesetzgebers voraussetzt, der auch vom Parlamentarischen Rat gewollt war. 237

231

Wieland, in Dreier (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 100. BVerfGE 46, 268 (287); Wieland, in Dreier (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 100. 233 BVerfGE 45,297 (330). 234 BVerfGE 24, 367 (398); 45, 297 (333). 235 BVerfGE 95, 1 (22ff.). 236 BGHZ 67, 190 (192); BVerfGE 24, 367 (421); 41, 126 (161); 46, 268 (285); Nüßgens/Boujong, Eigentum, Rz. 384 ff.; anders dagegen noch W. Weber, Grundrechte II, 331 (390). Darstellung des früheren Streits bei Bryde, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 92; umfangreiche Nachweise bei Breuer, Bodennutzung, S. 82 Fn. 301. 237 JöR Bd. 1 (1951), S. 152; zu den Beratungen des Parlamentarischen Rates allgemein Rittstieg, Eigentum, S. 275 ff.; zur Frage der Entschädigungshöhe ebd., S. 284 f.; im übrigen Bryde, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 92; Wieland, in Dreier (Hrsg.), GG, Art. 14 Rz. 104; mit einschränkender Tendenz Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 208 f. 232

§ 4 Entwicklungen nach dem Naßauskiesungsbeschluß A. Enteignender Eingriff und Enteignungen Die Entscheidung BVerfGE 58,300 („Naßauskiesung") rief eine Vielzahl von Stellungnahmen hervor, die sich mit der Frage nach dem Fortbestand der Institute des enteignungsgleichen und des enteignenden Eingriffs beschäftigten. Wahrend dieser Diskussion trat am 01.01.1982 das Staatshaftungsgesetz des Bundes in Kraft, das eine Haftung für die bisherigen enteignungsgleichen Eingriffe (§ 2 Abs. 2 i. V. m. § 1 Abs. 1 StHG) ebenso wie eine Haftung für enteignende Eingriffe (§ 14 Abs. 3 StHG)1 vorsah, vom BVerfG aber wegen fehlender Bundeskompetenz am 19.10.1982 für verfassungswidrig und daher nichtig erklärt wurde.2 Eine Beruhigung der Diskussion trat erst ein, als der BGH in seinen Urteilen vom 26.01.19843 und vom 29.03.19844 erklärte, an den Instituten des enteignungsgleichen und enteignenden Eingriffs festhalten zu wollen.

I. Literatur 1. Zweifel Die ersten, meist sehr beiläufigen Erwägungen zu den Folgen der Naßauskiesungsentscheidung sind zu einem Teil von einer deutlichen Verunsicherung 5, zu ei1 Schäfer /Bonk, StHG, § 14 Rz. 20. Zu diesem Gesetz auch Schwerdtfeger, JuS 1982, 1 m. w. Nw. in Fn. 1. Zum enteignenden Eingriff oben § 2 D12. 2 BVerfGE 61, 149 (161). In Reaktion auf dieses Urteil ist inzwischen durch Gesetz vom 27.10.1994 (BGBl. IS. 3146) im Zuge der Verfassungsreform in der Folge der deutschen Einheit dem Bundesgesetzgeber eine (konkurrierende) Kompetenz für die Staatshaftung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 25 GG eingeräumt worden. Zur Sicherung der Länderinteressen bedürfte ein Gesetz über die Staatshaftung der Zustimmung des Bundesrates (Art. 74 Abs. 2 GG). S. dazu auch den Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission vom 05.11.1993, BT-Drucks. 12/6000 S.34f. 3 BGHZ 90, 17. 4 BGHZ 91, 20. 5 Zum enteigenden Eingriff etwa Battis/ Felkl-Brentano, JA 1983,494 (498). Beschränkt auf den enteignungsgleichen Eingriff Kreft, NJW 1982,1577 (1578) („bis zu einem gewissen Grade in Frage gestellt"); Leisner, Waldsterben, S. 88 f.; Sendler, DVB1.1982,812 (816) („wohl zu einem großen Teil der Boden entzogen"); auch Dolde, NJW 1982, 1785 (1797 in Fn. 202).

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§4 Entwicklungen nach dem Naßauskiesungsbeschluß

nem anderen Teil indes von einer verblüffenden Gewißheit geprägt, der enteignungsgleiche, aber auch der enteignende Eingriff hätten sich erledigt. 6 Ganz im Vordergrund der Diskussionsbeiträge stand dabei die Haftung wegen des enteignungsgleichen Eingriffs, während auf das Schicksal der Figur des enteignenden Eingriffs entweder nicht eingegangen wurde oder jedenfalls eine gesonderte Begründung unterblieb. Zwei Grundsätze des BVerfG wurden als geeignet angesehen, den Instituten des enteignungsgleichen und des enteignenden Eingriffs den Boden zu entziehen: Zum einen der Vorrang des Primärrechtsschutzes und die Absage an ein Wahlrecht des Betroffenen, den Eingriff in sein Eigentum abzuwehren oder eine Entschädigung zu liquidieren. Zum anderen die Ablehnung einer Enteignungsentschädigung ohne gesetzliche Grundlage. Die richterrechtlichen Entschädigungsinstitute sollten durch diese Aussagen zur Enteignung obsolet geworden sein. Ihr Fortbestehen wurde also von ihrem Verhältnis zur Enteignung aus betrachtet, in der Regel aber nicht mit Blick auf ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmungen. Der Eigentümer müßte sich, so die verbreitete Vorstellung, gegen jeden Eigentumseingriff vor den Verwaltungsgerichten zur Wehr setzen, während eine Klage auf Entschädigung vor den Zivilgerichten ausgeschlossen sein sollte. Zudem könnten die ordentlichen Gerichte ohne gesetzliche Grundlage keine Entschädigung aus den richterrechtlich geschaffenen Entschädigungsinstituten gewähren.7 Dieser zweite Aspekt legt nahe, daß bei vielen Autoren, die nicht explizit auf die Figur des enteignenden Eingriff eingingen, diesen jedenfalls auch im Sinn hatten: Auch beim enteignenden Eingriff wird ja Entschädigung ohne gesetzliche Grundlage gewährt.8 Zudem war das Bewußtsein, man habe es hier mit einer eigenständigen Figur zu tun, noch nicht besonders ausgeprägt.9

6 Insb. Scholz, NVwZ 1982,337 (347) („schlicht erledigt"); Weber, JuS 1982,852 (855); beschränkt auf den enteignungsgleichen Eingriff aber auch LG München I, NVwZ 1983,635; Berkemann, EuGRZ 1979, 594 (595); ders., JR 1982, 229 (232); Schroedter, DVB1. 1982, 323 (328). 7 Das Entfallen des enteignungsgleichen und des enteignenden Eingriffs nahmen etwa an: F. Baur, NJW 1982,1734 (1735 f.) (F. Baur nahm an, damit könnte auch die gesetzliche Regelung der enteignenden Eingriffe in § 14 Abs. 3 StHG nicht aufrecht erhalten werden. Warum die Aussage des BVerfG, es könne keine Entschädigung ohne Gesetz gewährt werden, einem den Ausgleich regelnden Gesetz den Boden entziehen sollte, ist allerdings unerfindlich.); Scholz, NVwZ 1982, 337 (347); Weber, JuS 1982, 852 (855), später noch v. Brünneck, Eigentumsgarantie, S.414ff.; Bull, AllgVerwR, 1982,402ff.; Schwer, NJW 1984,1864; deutliche Unsicherheit bei Battis /Felkl-Brentano, JA 1983,494 (498). Nur auf den enteignungsgleichen Eingriff bezogen sich LG München I, NVwZ 1983,635; Berkemann, EuGRZ 1979,594 (595); ders., JR 1982, 229 (232); Dolde, NJW 1982, 1785 (1797 in Fn. 202); Kreft, NJW 1982, 1577 (1578); Rupp, NJW 1982,1731 (1733); Schroedter, DVB1. 1982,323 (328); Sendler, DVB1. 1982,812

(816). 8 9

Ganz deutlich etwa bei Schwer, NJW 1984, 1864 (1865). Dazu oben § 2 D I 1.

Α. Enteignender Eingriff und Enteignungen

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Diese Argumentation hat sich nicht durchsetzen können. Ihr entscheidender Fehler lag in der Verbindung der Aussagen des BVerfG mit dem Enteignungsbegriff des BGH. 10 Besonders deutlich wird dies in einem immer wieder zitierten Beitrag von R. Scholz11. Dieser Autor sah ganz im Banne der Rechtsprechung des BGH die Sozialbindung des Eigentums bei Vorliegen einer hinreichenden Schwere oder eines Sonderopfers in eine Enteignung umschlagen.12 Wenn bei jeder Überschreitung der Sozialbindung bzw. jedem Vorliegen eines Sonderopfers eine Enteignung gegeben wäre, wären die Entschädigungsinstitute des enteignenden und enteignungsgleichen Eingriffs tatsächlich nicht zu halten gewesen: Diese sollten ja gerade derartige Sonderopferlagen (= Enteignungslagen im Verständnis des BGH) ausgleichen, ohne daß für den finanziellen Ausgleich eine Entschädigungsregelung bestanden hat.13 Unter Geltung dieses Enteignungsbegriffs wäre für eine richterrechtliche Gewährung von Ausgleichsansprüchen kein Raum gewesen. Die Aussagen des BVerfG hätten aber vor dessen Enteignungsbegriff 14 gewürdigt werden müssen. Es hätte also die Frage gestellt werden müssen, welche Form der Eigentumsbeeinträchtigungen, die als enteignend oder enteignungsgleich ausgeglichen wurden, Enteignungen im Sinne des Enteignungsbegriffs des BVerfG seien und deshalb dem Entschädigungsjunktim des Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG unterlägen. Eine Sonderstellung nehmen einige Beiträge G. Schwerdtfegers ein. Er behandelte als erster den enteignenden Eingriff nicht nur in Abgrenzung zur Enteignung, sondern auch und vor allem in Abgrenzung zur ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmung. Er ging davon aus, daß die Fälle des enteignenden Eingriffs in ihrer großen Mehrzahl schon formal keine Enteignungen seien.15 Statt dessen müßte, soweit die Hinnahme solcher Eingriffe gesetzlich angeordnet sei, die Regelung des § 14 Abs. 3 StHG dem Bereich der Inhalts- und Schrankenbestimmungen zugeordnet werden. 16 § 14 Abs. 3 StHG sei eine Ausgleichsregelung für diese möglicherweise ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmungen, also „ein Ventil, durch welches rechtstaatswidriger Überdruck in der Inhaltsbestimmung vom Eigentum ohne Bindung an die strengeren Anforderungen der Junktim-Klausel automatisch in Entschädigungsansprüche abgeleitet wird" 17 . 10 Heute allgemeine Meinung. Vgl. Battis , NVwZ 1982, 585 (587); Bender, VB1BW 1984, 225 (226); ders., JZ 1986,888 (889); Götz, AgrarR 1984,1 ;/. lpsen, DVB1.1983,1029 (1033); Knauber, NVwZ 1984, 753 (756); Nüßgens/Boujong, Eigentum, Rz. 429; Ossenbühl, NJW 1983, 1 (3); ders., Entwicklungen, S. 19; Papier, NVwZ 1983, 258 (259); ders., HdBStR VI, § 157 Rz. 57; Schwerdtfeger, JuS 1982,1 (6); ders., JuS 1983,104 (110); ders., Struktur, S. 39; Schmitt-Kammler, FS E. Wolf, 595 (612); Steinberg! Lubberger, Aufopferung; S. 336ff. M NVwZ 1982, 337. 12 Scholz, NVwZ 1982,337 (340,345, wörtlich S. 341). 13 S. dazu oben § 2 A. 14 S. dazu oben § 3 Β II 2. 15 Schwerdtfeger, Öffentliches Recht6, Rz.427; ders., JuS 1982,1 (6). 16 Schwerdtfeger, Öffentliches Recht6, Rz.430; ders., JuS 1982, 1 (7). 17 Schwerdtfeger, Öffentliches Recht6, Rz.430; ders., JuS 1982, 1 (7).

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§ 4 Entwicklungen nach dem Naßauskiesungsbeschluß

Dabei blieben allerdings zwei Fragen offen: Sollte es unter den enteignenden Eingriffen zumindest auch Beeinträchtigungen geben, die als Enteignungen einer gesetzlichen Entschädigungsregelung nach Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG bedürfen? 18 Ferner: Wie war in den Fällen zu verfahren, für die nunmehr eine gesetzliche Entschädigungsregelung getroffen worden war, für die es an einer gesetzlichen Duldungsanordnung jedoch fehlte? 19 Nachdem das Staatshaftungsgesetz als verfassungswidrig verworfen worden war, es also an dem (notwendigen?) Ventil einer gesetzlichen Regelung fehlte, wollte G. Schwerdtfeger von seinem Ansatz nichts mehr wissen, ohne dies näher zu begründen.20 Insbesondere hätte er sich wohl der Frage gegenübergesehen, inwieweit enteignende Eingriffe beim Fehlen der gesetzlichen Ausgleichsregelung im Primärrechtsweg abzuwehren wären. Trotz des schnellen Rückzugs ist diese Ansicht immerhin der erste Versuch, enteignende Eingriffe und ausgleichspflichtige Inhaltsund Schrankenbestimmungen zusammenzuführen und damit Vorläufer einer Diskussion, die Anfang der 90er Jahre erneut einsetzte.21 2. Neue Gewißheiten Daß die rechtswissenschaftliche Diskussion um den Fortbestand der Figuren des enteignungsgleichen und enteignenden Eingriffs zunächst eher beiläufig, zum Teil nur in Fußnoten und Buchbesprechungen, gleichsam in Gestalt literarischer obiter dicta geführt wurde, und ausführlich begründete Beiträge zur Rettung der Entschädigungsinstitute erst mit einer gewissen Verzögerung veröffentlicht wurden, hat seinen Grund im Inkrafttreten des Staatshaftungsgesetzes (StHG) am 01.01.1982. Dieses Gesetz führte in § 1 Abs. 1 StHG eine unmittelbare verschuldensunabhängige Staatshaftung ein, die in Verbindung mit § 2 Abs. 2 StHG an die Stelle der Haftung wegen enteignungsgleichen Eingriffs hätte treten können.22 Die Fälle des enteignenden Eingriffs sollten von § 14 Abs. 3 StHG erfaßt werden. Der Fortfall der Institute des enteignungsgleichen und des enteignenden Eingriffs hätte also nur noch wenige Altfälle betroffen, so daß man grundsätzlich getrost auf die Institute verzichten konn-

18

§ 14 Abs. 3 StHG sollte solche Fälle nicht erfassen, vgl. oben § 2 D12 bei Fn. 462. Kritik auch bei Schwabe, JZ 1983,273 (278 m. Fn.43). 20 Schwerdtfeger, JuS 1983, 104 (109 m. Fn. 63); in ders., Struktur, S. 26ff. taucht zwar die Anbindung an Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG auf, Schwerdtfeger sieht nun aber die Zuerkennung richterrechtlicher Entschädigungsansprüche für ausreichend an. (Warum es allerdings eine verfassungspolitische Frage sein soll, ob enteignende Eingriffe der Junktimklausel unterfallen sollen [ebd., S. 29], ist unerfindlich: Ob enteignende Eingriffe eine Enteignung sind oder nicht, ist eine Frage des Verfassungsrechts, keine Frage der Verfassungspolitik, wenn man an der Normativität der Verfassung festhält.) 21 Dazu sogleich § 4 Β I . 22 Vgl. Schäfer/Bonk, StHG, Einl. §§ 1-13 Rz. 2. 19

Α. Enteignender Eingriff und Enteignungen

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te. Die Phase ihrer Verteidigung begann, als das StHG vom BVerfG am 19.10.1982 verworfen wurde. 23 Der Wegfall des enteignenden und des enteignungsgleichen Eingriffs und das Scheitern des Staatshaftungsgesetzes hätte das Staatshaftungsrecht auf den Stand von 1945 zurückgeworfen. 24 Die Rechtswissenschaft reagierte in der Folgezeit mit einer Vielzahl von Beiträgen, die (mit Unterschieden i m einzelnen) den Fortbestand der Institute des enteignenden Eingriffs, mit geringen Veränderungen auch des enteignungsgleichen Eingriffs propagierten. 25 Namhafte Unterstützung fand diese Entwicklung schließlich auch bei dem zuständigen Berichterstatter des Ersten Senats des BVerfG, W. Böhmer, der betonte, die Naßauskiesungsentscheidung enthalte keine Aussage „zum sogenannten enteignungsgleichen Eingriff". 2 6 A m Institut des enteignungsgleichen Eingriffs, der i m Zentrum der Diskussion gestanden hatte, hielt ein Großteil der Literatur fest, mahnte aber verschiedene Korrekturen an, die von der Rechtsprechung zum Teil aufgegriffen wurden. 2 7 Die Verteidigung setzte bei den verschiedenen Begriffen der Enteignung an: 2 8 Die Fälle des enteignungsgleichen Eingriffs umfaßten vielfältige verschiedenartige Beeinträchtigungen, die sich auch beim Hinzudenken ihrer Rechtmäßigkeit nicht als finaler Entzug einer konkret-individuellen Rechtsposition zur Erfüllung bestimmter öffentlicher 23

BVerfGE 61, 149. So Rüfner, in Erichsen (Hrsg.), AllgVerwR, § 49 Rz. 55. Ähnlich Götz, AgrarR 1984,1 (2) („Kahlschlag"). 25 Zu verweisen ist etwa auf Bender, BauR 1983, Uders., VB1BW 1984,225; Boujong, UPR 1984,137;Götz, AgrarR 1984, l;