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German Pages 71 Year 2007
Nußherger Ende des Rechtsstaats in Russland?
Schriftenreihe der KölnerJuristischen Gesellschaft Band31 herausgegeben vom Vorstand
Ende des Rechtsstaats in Russland? Probleme der rechtsstaatliehen Entwicklung im Spiegel der Rechtsprechung des Russischen Verfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
von
Prof. Dr. Angelika Nußberger, M.A. Universität zu Köln
2007
oUs
Verlag
Dr.OttoSchmidt Köln
Vortrag, gehalten vor der Kölner Juristischen Gesellschaft am 25. Januar 2006
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Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 0221/93738-01, Fax 0221/93738-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-65016-2 ©2007 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfiiltigungen, Bearbeitungen. Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Textformatierung: A.Quednau. Neuss Druckund Verarbeitung: Grosch, Eppelheim Printed in Germany
Vorwort Der Vortrag wurde am 25.1.2006 vor der Kölner Juristischen Gesellschaft gehalten. Ich danke Herrn Professor Dr. Hanns Prütting und der KJG für die ehrenvolle Einladung. Die überarbeitete Schriftfassung gibt die Entwicklungen in Russland bis zum Frühsommer 2007 wieder. Köln, im August 2007
Angelika Nußberger
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Inhaltsverzeichnis Seite
Vorwort ...................................................................................
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I. Einleitung ..........................................................................
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II. Beginn der Rechtsstaatlichkeit in Russland ....................
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1. Deklaration des sozialistischen Rechtsstaats im Jahr 1988 .................................................................
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2. Die erste Entscheidung des russischen Verfassungsgerichts gegen die exekutive Macht im Jahr 1992 ......
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3. Die Normierung des Rechtsstaatsprinzips in der Russischen Verfassung im Jahr 1993 ..........................
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4. Die Aufnahme Russlands in den Europarat im Jahr 1996 .................................................................
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III. Die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in Russland im Licht der russischen Verfassungsrechtsprechung ...... 10 1. Rechtsstaat ohne Rechtsgrundlage – die Entwicklung von 1991 bis 1993 ............................ a) Die rechtliche Ausgangssituation .......................... b) Die Rolle des Verfassungsgerichts ......................... c) Der KPdSU-Prozess .................................................
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2. Lippenbekenntnisse zum Rechtsstaat in der Machtkrise von 1993 ................................................... 19 3. Bewährungsprobe des Rechtsstaats von 1995 bis 2000 ........................................................................ a) Die Thematisierung von Grundrechtsverstößen .. b) Staatsorganisationsrechtliche Entscheidungen ..... c) Die Tschetschenien-Entscheidung ........................
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Inhaltsverzeichnis Seite
4. Ohnmacht des Verfassungsgerichts im starken Staat – die Entwicklung seit 2000 ............................... a) Entscheidungen zum Verhältnis zwischen Zentrum und Republiken ....................................... aa) Entscheidungen zu grundlegenden Reformen bb) Die Gouverneursentscheidung ....................... b) Entscheidungen zu Grundrechtsverstößen ............ 5. Das russische Verfassungsgericht in der Rolle eines untergeordneten Nebendarstellers ..............................
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IV. Die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in Russland im Spiegel der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte .................................... 52 1. Die Aufnahme Russlands in den Europarat – Hoffnungen und Wünsche ........................................... 52 2. Die ersten Verurteilungen Russlands durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ......... a) Der Fall Burdov – eine Anklage gegen das Vollstreckungssystem ............................................. b) Der Fall Kalašnikov – eine Anklage gegen das Gefängnissystem ..................................................... c) Der Fall Ryabkin – eine Anklage gegen das Gerichtssystem ....................................................... 3. Entscheidungen von grundsätzlicher politischer Bedeutung ..................................................................... a) Russland und die Medien – der Fall Gusinskij ...... b) Russland und Transnistrien – der Fall IlaÕcu ........ c) Russland und Tschetschenien – der Fall Isayeva .. 4. Routine der Verurteilungen .........................................
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5. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Hoffnungsträger und Allheilmittel ........................ 61 V. Schlussbemerkung ............................................................ 63
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I. Einleitung Wichtiges ereignet sich in Russland oftmals im Verborgenen. Dem Zuschauer erschließt sich wie bei den orthodoxen Gottesdiensten, bei denen sich das Wesentliche hinter der prächtigen goldenen Ikonostase abspielt, nur ein Teil des Ganzen; vielfach muss er raten und rätseln. Dies scheint ein allgemeines Charakteristikum der von der Orthodoxie geprägten Kulturen zu sein: Positiv gewendet – es haftet den Vorgängen etwas Geheimnisvolles, vielleicht sogar etwas Mystisches an. Negativ gewendet und pragmatisch könnte man auch von fehlender Transparenz sprechen.1 Transparenz aber ist ein grundlegendes Merkmal eines Rechtsstaats. Und Transparenz war auch eine der zentralen Forderungen in der Perestrojka-Zeit nach über 70 Jahren Sowjetherrschaft; der russische Begriff „glasnost“ ist dafür zur Losung geworden.2 Wie steht es mit Transparenz und Rechtsstaatlichkeit knapp zwanzig Jahre später? Wie sind die gegenwärtigen Vorgänge in
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1 Vgl. zur Bedeutung der orthodoxen Religion für die Kultur und zu dem engen Zusammenhang zwischen Religion und Regierungsform in Russland Jenö Szüzs, Die drei historischen Regionen Europas, Frankfurt 1994, S. 58 f. Szüzs sieht Russland als „historische Region Europas“ im Unterschied zu den west- und mitteleuropäischen Staaten von der „unauflöslichen Triade von Autokratie, Orthodoxie und russischem Volk“ charakterisiert. Auch für Samuel Huntington ist die Religion der wesentliche kulturprägende Faktor. Nach seiner Meinung verläuft eine entscheidende kulturelle Trennlinie an der im Jahr 1500 bestehenden östlichen Grenze zwischen Orthodoxie und westlichem Christentum (Samuel Huntington, Clash of Civilizations, Foreign Affairs, 1993, S. 22 ff., 30). 2 Vgl. Michail Gorbatschow, Glasnost: Das neue Denken, Moskau 1989.
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Einleitung
„Putins Russland“3 – man denke an die Chodorkovskij-Entscheidung4, die Einschränkungen der Meinungs- und der Demonstrationsfreiheit, die Entwicklungen in Tschetschenien oder die neue „Rhetorik des Kalten Krieges“ – zu werten? Der russische Staat versteht sich selbst als Rechtsstaat. So heißt es in Art. 1 der Russischen Verfassung von 1993 unmissverständlich: „Die Russische Föderation5 – Russland – ist ein demokratischer, föderativer Rechtsstaat mit einer republikanischen Regierungsform“. Allerdings ist dies ein Stempel, der nicht in Russland geprägt wurde, den Russland nur als passende Form eines neuen Selbstverständnisses übernommen hat. Russland hat keine eigene rechtsstaatliche Tradition; mit Ausnahme der Gerichtsreformen unter Alexander II in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts lassen sich auch vor der russischen Revolution im Zarenreich so gut wie keine rechtsstaatlichen Ansätze finden.6 Im Gegenteil: Die Wirkungsmacht des Rechts wurde, insbesondere angesichts der Erfahrungen mit zu vielen, aber niemals systematisch aufgearbeiteten Regeln bezweifelt. Der ______________
3 Die im Jahr 2006 ermordete russische Journalistin Anna Politkovskaja hat die Formulierung „Putins Russland“, die eine Eigentümerstellung zwischen Präsident und Staat suggeriert, zum Titel eines 2004 auf Englisch und 2005 auf Deutsch erschienenen kritischen Buches über die Rechtswirklichkeit in Russland gewählt. Die Idee, der Staat „gehöre“ dem Herrscher, wird auch verschiedentlich als Charakteristikum der russischen Rechtskultur angesehen (vgl. A. S. Barabaš/A. A. Davletov, Die russische Mentalität und ihr Einfluss auf die Art des Strafprozesses, (russ.), Pravovedenie, 2006, Nr. 2, S. 1 ff. 4 Die russischen Namen und Begriffe werden nach der wissenschaftlichen Transliteration umgeschrieben, Namen von Personen der Zeitgeschichte sind davon ausgenommen. 5 Die russische Formulierung „Rossijskij“ würde korrekt mit „russländisch“ übersetzt. Da sich dieses Wort aber in der deutschen Sprache nicht durchgesetzt hat, wird auf die übliche Bezeichnung „Russische Föderation“ zurückgegriffen. 6 Vgl. dazu Jörg Baberowski, Autokratie und Justiz. Zum Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Rückständigkeit im ausgehenden Zarenreich 1864–1914, Frankfurt 1996; Friedhelm Berthold Kaiser, Die Russische Justizreform von 1864. Zur Geschichte der Russischen Justiz von Katharina II bis 1917, Leiden 1972.
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Einleitung
Rechtsnihilismus zieht sich als roter Faden durch die russische Geschichte.7 Kann unter diesen Voraussetzungen der Verfassungsgrundsatz der Rechtsstaatlichkeit innerhalb von wenigen Jahren mit Leben erfüllt und umgesetzt werden? Um diese Frage zu beantworten, gilt es im Folgenden auf die Entscheidungen des Gerichts, das traditionellerweise als „Krönung des Rechtsstaats“ apostrophiert wird, einen kritischen Blick zu werfen – auf die Entscheidungen des Verfassungsgerichts. Allerdings kann die Analyse der Entscheidungen gerade des russischen Verfassungsgerichts nicht abstrakt erfolgen, sondern muss auch den politischen Meinungskampf einbeziehen, in den das Verfassungsgericht vor allem in seinen ersten Jahren, aber auch später immer wieder hineingezogen wurde. – War das Verbot der KPdSU rechtmäßig? Durfte Jelzin per Dekret einen Krieg in Tschetschenien beginnen? Ist der Straftatbestand „Heimatverrat“ nur ein Überbleibsel des politischen Strafrechts der Sowjetunion oder hat er auch in einem modernen Rechtsstaat seine Berechtigung? Wie weit darf der Präsident die Machtstrukturen auch in den entferntesten Winkeln des Reiches bestimmen? – Es sind spannende und grundsätzliche Fragen, die dem russischen Verfassungsgericht gestellt wurden. Die Antworten gilt es auf die Goldwaage der Rechtsstaatlichkeit zu legen. Die Entscheidungen aus der Il’inka, einer kleinen Straße, die in Moskau unmittelbar vom Roten Platz abzweigt und an der das Verfassungsgericht, nur wenige hundert Meter vom Kreml entfernt liegt, sind den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem fernen Straßburg gegenüber______________
7 V. A. Tumanov, Über den Rechtsnihilismus (russisch), Sozialisti…eskoe Gosudarstvo i Pravo (SGiP) 1989, Nr. 10, S. 20–27; V. A. Tumanov, Der Rechtsnihilismus in historisch-ideologischer Darstellung, Gosudarstvo i Pravo (GiP) 1993, Nr. 8, S. 52–58, Friedrich-Christian Schroeder, 74 Jahre Sowjetrecht, München 1992, S. 8 ff.; Margareta Mommsen/Angelika Nußberger, Das System Putin. Gelenkte Demokratie und politische Justiz, München 2007, S. 15 ff.
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Einleitung
zustellen. Denn die Urteile aus Moskau und aus Straßburg sprechen nicht nur eine unterschiedliche Sprache, werten nicht nur mit unterschiedlichen Maßstäben, sondern offenbaren auch einen unterschiedlichen Blick auf die russische Rechtswirklichkeit.
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II. Beginn der Rechtsstaatlichkeit in Russland Fragt man nach dem „Ende des Rechtsstaats“ in Russland, setzt man gedanklich voraus, es habe einen Anfang gegeben. Bedenkt man, dass Rechtsstaatlichkeit eine Idee, der Rechtsstaat selbst aber ein offener Prozess ist, so lassen sich im Wesentlichen vier Daten für den Beginn der Rechtsstaatlichkeit in Russland nennen: der 1. Juli 1988, der 14. Januar 1992, der 12. Dezember 1993 und der 28. Februar 1996.
1. Deklaration des sozialistischen Rechtsstaats im Jahr 1988 Der 1. Juli 1988 ist als historisches Datum relevant, da an diesem Tag der damalige Generalsekretär der KPdSU Michail Gorbatschow zum ersten Mal auf der XIX. Unionsparteikonferenz der Kommunistischen Partei den Begriff „Rechtsstaat“ nicht nur verwendete, sondern seine Verwirklichung sogar in ein 10-Punkte-Programm aufnahm.8 Zwar handelte es sich nicht um den „Rechtsstaat an sich“, sondern um einen „sozialistischen Rechtsstaat“. Aber auch die Forderung nach einer neu erdachten Variante des Rechtsstaats war eine Revolution, wenn man bedenkt, dass bis zu diesem Zeitpunkt der Rechtsstaat immer mit dem Attribut „bourgeois“ versehen worden und damit tabu gewesen war. Allerdings kann eine programmatische Verlautbarung immer nur einen ersten notwendigen Schritt bedeuten. Entscheidend ist der erste Akt der Umsetzung.
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8 Vgl. Offene Worte. Gorbatschow, Ligatschow, Jelzin und 4991 Delegierte diskutieren über den richtigen Weg. Sämtliche Beiträge und Reden der 19. Gesamtsowjetischen Konferenz der KPdSU in Moskau. Nördlingen 1988.
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Beginn der Rechtsstaatlichkeit in Russland
2. Die erste Entscheidung des russischen Verfassungsgerichts gegen die exekutive Macht im Jahr 1992 Damit rückt der 14. Januar 1992 in den Blick, der Tag, an dem das Verfassungsgericht seine erste und in der Tat bahnbrechende Entscheidung fällte und auf den man so den Beginn der Rechtsstaatlichkeit in Russland datieren kann. Damals hatte das Verfassungsgericht ein Dekret des Präsidenten zur Zusammenlegung zweier Ministerien und zur Bildung eines neuen Ministeriums für Staatssicherheit und innere Angelegenheiten der RSFSR für verfassungswidrig erklärt.9 Dabei zog das Gericht den Grundsatz der Gewaltenteilung heran und argumentierte, jedes Staatsorgan könne nur solche Beschlüsse fassen und nur solche Handlungen vornehmen, die zu seiner in Überstimmung mit der Verfassung festgesetzten Kompetenz gehörten. Die Entscheidung stand zwar auf tönernen Füßen, da der Grundsatz der Gewaltenteilung zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Verfassung, sondern lediglich in der Deklaration über die staatliche Souveränität der RSFSR festgeschrieben war, das Gericht somit einen Maßstab zur Anwendung brachte, der ihm im Grunde nicht zur Verfügung stand. Dennoch wurde zum ersten Mal der Gedanke, dass Macht nur auf der Grundlage von Recht ausgeübt werden könne, verwirklicht.10
3. Die Normierung des Rechtsstaatsprinzips in der Russischen Verfassung im Jahr 1993 Die russische/sowjetische Verfassungstradition ist durch das Paradox charakterisiert, dass „die Verfassungsinhalte immer ______________
9 Entscheidung vom 14.1.1992 in Vedomosti s’ezda narodnych deputatov i Verchovnogo Soveta RF (VSNDiVS) Nr. 6 1992, Pos. 247 zur Verfassungsmäßigkeit des Dekrets des Präsidenten der RSFSR vom 19.12.1991 „Über die Bildung eines Ministeriums für Sicherheit und innere Angelegenheiten der RSFSR“. 10 Vgl. dazu auch Theodor Schweisfurth, Der Start der Verfassungsgerichtsbarkeit in Rußland, EuGRZ 1992, S. 281 ff., der den Beginn der Verfassungsgerichtsbarkeit in Russland gleichermaßen als „herausragendes Datum in der Geschichte des russischen Konstitutionalismus“ ansieht.
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Beginn der Rechtsstaatlichkeit in Russland
schöner wurden und das Paradies auf Erden verhießen“, die Verfassungswirklichkeit sich aber von dem schriftlich fixierten Ideal immer weiter entfernte und sich „in der mittelschrecklichen grauen Eintönigkeit und bleiernen Unbeweglichkeit der Ära Breñnev“ einpendelte.11 Weder in der Verfassung des Zarenreichs aus dem Jahr 1906 noch in den sowjetischen Verfassungen von 1924, 1936 und 1977 war aber Rechtsstaatlichkeit als Staatsziel normiert; selbst in den Präambeln fand der Grundsatz keine Erwähnung, obwohl eine Vielzahl der Bestandteile des Rechtsstaatsmodells – insbesondere die Unabhängigkeit der Justiz sowie die Grund- und Menschenrechte – aufgenommen wurden. Dies war in sowjetischer Zeit kein Zufall, sondern beruhte auf der Doktrin von der revolutionären bzw. sozialistischen Gesetzlichkeit, nach der Recht den Bedürfnissen des revolutionären Kampfes anzupassen ist und Rechtssicherheit keinen Wert darstellt.12 Der Begriff „Rechtsstaat“ war, wie erwähnt, überhaupt erst nach der XIX. Parteikonferenz salonfähig geworden. Er wurde erstmals mit der grundlegenden Verfassungsänderung von 1992 – und damit bereits nach der Auflösung der Sowjetunion – in die Präambel der russischen Verfassung, d. h. der Verfassung der ehemaligen Sowjetrepublik R.S.F.S.R., aufgenommen.13 Auf______________
11 Alexander Blankenagel, Statement: Das russische Verfassungsgericht und der russische Konstitutionalismus – Can the Russian Constitional Court Build the ‚Russia‘ in the Open Sea?, in: Hesse/Schuppert/Harms (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungspolitik in Umbruchsituationen, Baden-Baden 1999, S. 255. 12 Friedrich-Christian Schroeder, Fünfzig Jahre sowjetische Rechtstheorie, in: Maurach/Meissner (Hrsg.), 50 Jahre Sowjetrecht, Stuttgart/Berlin/ Köln/Mainz, 1969, S. 52–77; ders., Rechtsstaat und „sozialistische Gesetzlichkeit“, in: Aus Politik und Zeitgeschehen. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 1980 B 3, 3–15; ders., 74 Jahre Sowjetrecht, München 1992. 13 Änderungen der Verfassung vom 9.12.1992, VSNDiVS RF 1993, Nr. 2, Pos. 55. Im Text der Verfassung selbst findet sich statt des Begriffes „Rechtsstaat“ noch immer der Begriff „Gesetzlichkeit“ (zakonnost’), nunmehr allerdings ohne das Beiwort „sozialistisch“. Unter „Gesetzlichkeit“ wird aber gerade verstanden, dass man Gesetze, gleich wel-
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Beginn der Rechtsstaatlichkeit in Russland
grund dessen lässt sich der Beginn der Rechtsstaatlichkeit auch auf den Tag der Verabschiedung der neuen Russischen Verfassung und damit auf den 12. Dezember 1993 festlegen, da nunmehr erstmals ein in sich konsistentes Modell von Rechtsstaatlichkeit normativ niedergelegt worden war.
4. Die Aufnahme Russlands in den Europarat im Jahr 1996 Schließlich ist es auch möglich, den Beginn der rechtsstaatlichen Entwicklung auf den Zeitpunkt zu datieren, zu dem sich Russland mit dem Beitritt zum Europarat am 28. Februar 1996 völkerrechtlich verpflichtet hat, den „Grundsatz der Vorherrschaft des Rechts und den Grundsatz […], dass jeder, der seiner Hoheitsgewalt unterliegt, der Menschenrechte und Grundfreiheiten teilhaftig werden soll“, anzuerkennen.14 Damit ist Rechtsstaatlichkeit nicht mehr nur ein in der Verfassung niedergelegtes und im innerstaatlichen Recht anerkanntes Postulat. Vielmehr unterwirft sich die Russische Föderation mit der Ratifikation der Europäischen Menschenrechtskonvention einem Gericht, das die Einhaltung des Rechtsstaatsgrundsatzes und der Menschenrechte kontrollieren und Verstöße sanktionieren kann. Der offene Prozess der Verwirklichung des Rechtsstaats wird so nach außen hin abgesichert und kommt in eine vorgefertigte Bahn.15 ______________
chen Inhalts sie sein mögen, immer einzuhalten habe. Der Vorstellung, dass mit einem übergeordneten Konzept von Rechtsstaatlichkeit Gesetze korrigiert werden könnten, steht das Konzept der „zakonnost’“ diamentral entgegen. 14 So der Wortlaut von Art. 3 der Satzung des Europarats. 15 In der wissenschaftlichen Literatur der 90er Jahre ist zu beobachten, dass sowohl aus russischer als auch aus ausländischer Perspektive von Rechtsstaatlichkeit in Russland gesprochen wird, allerdings zumeist mit einem Fragezeichen verbunden oder in Anführungszeichen gesetzt; vgl. z. B. Otto Luchterhandt, „Rechtsstaat Russland“. Beachtliche Fortschritte – schwere Defizite – ungünstige Perspektiven, Internationale Politik 1998, Heft 10, S. 12–22, Alexander Blankenagel, Rechtsstaat UdSSR, Jahrbuch für Ostrecht 1990, Band XXXI/1 S. 9–31.
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Beginn der Rechtsstaatlichkeit in Russland
Wie auch immer man die Frage nach dem Beginn des Rechtsstaats in Russland beantwortet, so ist doch im Wesentlichen unstreitig, dass in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts umfassende rechtsstaatliche Reformen eingeleitet wurden und ein Neuanfang geplant war. Allerdings scheint dieser Prozess spätestens mit dem Beginn der Präsidentschaft Vladimir Putins eine Kehrtwendung genommen zu haben. Russland wird in der westlichen Öffentlichkeit nunmehr als ein Staat wahrgenommen, der im Begriff ist, aufgrund des Ölreichtums wieder Macht und Einfluss zurückzugewinnen, dabei aber die Menschenrechte und rechtstaatlichen Postulate als Strandgut des neuen politischen Kurses zurücklässt. Vor diesem Hintergrund gilt es im Folgenden einerseits die innere Stärkung der Rechtsstaatlichkeit durch die russische Verfassungsgerichtsbarkeit, andererseits aber auch die äußere Einflussnahme auf Russland durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu untersuchen, um die Frage zu beantworten, wie rechtsstaatlich das neue Russland sein will und wie rechtsstaatlich es tatsächlich ist.
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III. Die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in Russland im Licht der russischen Verfassungsrechtsprechung 1. Rechtsstaat ohne Rechtsgrundlage – die Entwicklung von 1991 bis 1993 a) Die rechtliche Ausgangssituation Das russische Paradoxon der Rechtsentwicklung in den frühen 90er Jahren war, dass es, anders als in den meisten mittelosteuropäischen Staaten, ein Verfassungsgericht vor einer zur Kontrolle geeigneten Verfassung gab. Die zu dieser Zeit noch gültige Verfassung stammte aus dem Jahr 1978, war ein von der Ideologie der späten Breschnew-Zeit geprägtes, fast wortgetreues Spiegelbild der sowjetischen Verfassung von 1977. Zwar hatte man an ihr bereits Korrekturen angebracht – die führende Rolle der Partei war gestrichen, das Amt des Präsidenten eingeführt worden – aber viele der abstrakten Begriffe, die man im ersten Teil der Verfassung angefügt hatte wie etwa Gewaltenteilung und Demokratie,16 wurden von den Einzelbestimmungen am Ende der Verfassung, die die Konzentration der Gewalt beim
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16 Vgl. Art. 3 der Russischen Verfassung von 1978 in der Fassung vom 21.4.1992: „(I) Das System der Staatsgewalt in der Russischen Föderation beruht auf den Prinzipien der Teilung der gesetzgebenden, vollziehenden und rechtsprechenden Gewalten wie auch der Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche und der Befugnisse zwischen der Russischen Föderation, den diese bildenden Republiken, Regionen, Gebieten, den autonomen Gebieten, autonomen Bezirken und der örtlichen Selbstverwaltung. (II) Alle Staatsorgane, die in Übereinstimmung mit dem Gesetz durch demokratische Wahlen gebildet werden, und Amtspersonen sind dem Volk rechenschaftspflichtig“.
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Russische Verfassungsrechtsprechung
Obersten Sowjet festlegten,17 Lügen gestraft. Die neu berufenen Hüter der Verfassung hatten so eine Verfassung zu bewahren, die keine bleibenden Werte verkörperte, sondern als Patchwork den Wildwuchs der politischen und verfassungsrechtlichen Ideen der letzten Jahre der Sowjetherrschaft spiegelte und sich beständig änderte. b) Die Rolle des Verfassungsgerichts Auf dieser politisch umstrittenen und rechtlich inkonsistenten Basis galt es nun, für eine im Transformationsprozess zerrissene Gesellschaft akzeptable Grundentscheidungen zu treffen. Das zentrale Postulat des Rechtsstaats, bei Streitfragen in einem fairen Verfahren zu einer auf Recht basierenden und damit im Wesentlichen vorhersehbaren Entscheidung zu kommen, war – von vornherein erkennbar – nicht einlösbar. Aus der Sicht ausländischer Zeitzeugen stellte sich die Frage, ob die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit in Russland „als Ausdruck großen Mutes und staatspolitischer Kühnheit“ oder als „Zeugnis politischer Naivität und fehlenden rechtsstaatlichen Problembewusstseins“ zu verstehen sei;18 aus russisches Sicht wurde die Möglichkeit, Macht am Maßstab des Rechts messen zu können, ganz gleich, wie schwierig sich der Prozess darstellen würde, als Erfolg der Reformer gefeiert. Dem Verfassungsgericht kam vor allem die Funktion zu, den Anschluss Russlands an die rechtsstaatlichen Modelle Westeuropas zu versinnbildlichen; die Satellitenschüssel auf dem Dach sollte als Zeichen der Modernität sichtbar sein, noch bevor es einen Fernseher im Haus gab. Dessen ungeachtet war die erste bereits erwähnte Entscheidung des Gerichts vom 14. Januar 1992 bahnbrechend und zeigte den ______________
17 Vgl. Art. 104 Abs. 2 S. 1 der Russischen Verfassung von 1978 in der Fassung vom 21.4.1992: „Der Kongress der Volksdeputierten der Russischen Föderation ist berechtigt, jede beliebige Frage, die in die Kompetenz der Russischen Föderation fällt, zur Prüfung an sich zu ziehen und zu entscheiden.“ 18 Vgl. Otto Luchterhandt, Vom Verfassungskomitee der UdSSR zum Verfassungsgericht Russlands, JöR 1993, S. 251.
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Russische Verfassungsrechtsprechung
Mut des Gerichts, sich gegen den Präsidenten zu stellen. Dieser akzeptierte das Votum und beharrte nicht auf seiner Verfügung. Die weiteren Entscheidungen des Gerichts in dieser ersten Phase seiner Tätigkeit19 betrafen wichtige Rechtsfragen zu einzelnen Rechtsgebieten wie etwa dem Arbeitsrecht,20 zum Verhältnis Zentrum – Republiken21 und zu allgemeinen staatsorganisationsrechtlichen Fragen22 sowie Grundrechtsfragen.23 Im Mittelpunkt dieser ersten Phase der Verfassungsgerichtsbarkeit stand allerdings die Entscheidung zur verfassungsrechtlichen Bewertung der mit der Suspendierung und Auflösung der russischen kommunistischen Partei verbundenen Rechtsfragen. Mit Sicherheit ist dieser Prozess zu den großen Gerichtsverfahren des 20. Jahrhunderts zu zählen. Zugleich zeigt er anschaulich das Bemühen um einen Rechtsstaat ohne Rechtsgrundlage. c) Der KPdSU-Prozess Unmittelbar nach dem Putsch gegen Gorbatschow im August 1991 hatte Jelzin per Dekret die Tätigkeit der kommunistischen Partei suspendiert.24 Wenige Tage später ließ er das Parteiver-
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19 Vgl. dazu auch Uwe Steingröver, Anfänge der Verfassungsgerichtsbarkeit in Rußland, Frankfurt a. M., 2000, S. 153–248. 20 Vgl. z. B. die Entscheidung zur Kündigung von Arbeitsverträgen vom 4.2.1992, VSNDiVS R.F. 1992, Nr. 13, Pos. 669. 21 Vgl. z. B. die Entscheidung zur Souveränitätserklärung von Tatarstan vom 13.3.1992, Vestnik Konstitucionnogo Suda (VKK) RF 1993, Nr. 1. 22 Vgl. z. B. die Entscheidung zu Zulässigkeit und Umfang eines Referendums vom 21.4.1993, VKS RF 1994, Nr. 2–3, S. 38–44 oder die Entscheidung zur vorzeitigen Abberufung von Abgeordneten vom 26.2.1993, VSNDiVS RF 1993, Nr. 19, Pos. 702. 23 Vgl. die Entscheidung zum Schutz der Meinungsfreiheit in den staatlichen Medien vom 27.5.1993, VSNDiVS RF 1993, Nr. 30, Pos. 1182. 24 Dekret des Präsidenten der RSFSR vom 23.8.1991 abgedruckt in: VSNDiVS RSFSR 1991, Nr. 35, Pos. 1149 („Über die Unterbrechung der Tätigkeit der kommunistischen Partei der RSFSR“).
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Russische Verfassungsrechtsprechung
mögen beschlagnahmen und auf den Staat übertragen.25 Im November desselben Jahres verfügte er, wiederum per Dekret, die endgültige Auflösung der Partei.26 Diese Dekrete sollten aufgrund des Antrags der Parlamentsfraktion „Kommunisten Russlands“ vom Dezember 1991 und damit bereits wenige Tage, nachdem die Verfassungsrichter überhaupt gewählt worden waren, auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft werden. Pikant an der Sache war, dass der Antrag von den Altkommunisten stammte und damit die Idee der rechtlichen Kontrolle exekutiven Handelns gerade von ihnen als ersten anerkannt und zu dem Zweck eingesetzt wurde, eine Partei, die jede Form der Rechtsstaatlichkeit negiert hatte, am Leben zu erhalten. Die Dekrete Jelzins lesen sich nicht wie Rechtstexte, sondern wie Teile einer politischen Abrechnung; hier ist von „Diktatur“, von dem „gegen das Volk und gegen die Verfassung gerichteten Charakter der Partei“ und von der „Unzulässigkeit der Entehrung von Millionen von gewöhnlichen Parteimitgliedern durch Willkür und Gewaltanwendung“ die Rede.27 So außergewöhnlich die Situation, so unerhört das Vorgehen gewesen sein mag, ging es doch um das Verbot einer Partei, die nicht nur über mehr als 70 Jahre die geistige und politische Führerschaft in einem mächtigen Land, sondern letztlich im sozialistischen Block und damit in der halben Welt beansprucht hatte, so wenig spektakulär oder revolutionär war das Dekret, analysiert man es als ein Dokument der russischen Rechtskultur. Zum einen fällt die Überbetonung des Formalen auf: Die Rechtsfolge „Parteiverbot“ wird an die fehlerhafte Registrierung geknüpft und nur daran. So heißt es wörtlich: ______________
25 Dekret vom des Präsidenten der RSFSR vom 25.8.1991 abgedruckt in: VSNDiVS RSFSR 1991, Nr. 35, Pos. 1164 („Über das Vermögen der KPdSU und der kommunistischen Partei der RSFSR“). 26 Dekret vom des Präsidenten der RSFSR vom 6.11.1991, abgedruckt in: VSNDiVS RSFSR 1991, Nr. 45, Pos. 1537 („Über die Tätigkeit der KPdSU und der kommunistischen Partei der RSFSR“). 27 Auch in der russischen Diskussion war streitig, ob die Dekrete als Rechtstexte anzusprechen wären; in der Presse wurde der Prozess gegen die KPdSU mit den Nürnberger Prozessen verglichen.
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Russische Verfassungsrechtsprechung „Berücksichtigend, dass die Kommunistische Partei der RSFSR nicht im vorgesehenen Verfahren registriert war und die Registrierung der KPdSU durch das früher unmittelbar regierende ZK der KPdSU unter grober Verletzung des Gesetzes durchgeführt worden war und für die RSFSR keine präjudizielle Wirkung hat, verfüge ich auf Grundlage und in Ausführung von Art. 7 und Art. 121 Abs. 4 der Verfassung (…) die Tätigkeit der KPdSU und der Kommunistischen Partei der RSFSR auf dem Territorium der RSFSR zu beenden und die organisatorischen Strukturen aufzulösen.“28
Dieses Vorgehen ist als ein sich immer wieder wiederholendes Muster im Umgang mit Recht in Russland anzusehen. Inhaltliche Aspekte – hier der Vorwurf der Usurpation der Macht durch eine Partei – werden nicht direkt angesprochen. Formale Aspekte werden vorgeschützt, aber nicht in nachvollziehbarer Weise erläutert. In Parenthese sei hier angefügt, dass auch das neue, in der westlichen Öffentlichkeit heftig kritisierte Gesetz zur Einschränkung der Tätigkeit der nicht-staatlichen Organisationen versucht, über die Anordnung, sich neu registrieren zu lassen, die missliebigen, insbesondere aus dem Ausland finanzierten nicht-staatlichen Organisationen auszuschalten.29 Dass der russische Präsident seine Macht aber nicht mehr – wie einst der russische Zar – als „selbstherrlich und unumschränkt“ ansah,30 beweist die Tatsache, dass er das Dekret auf zwei Verfassungsnormen, auf Art. 7 und Art. 121 Abs. 4 der Verfassung stützte. Doch eine kompetentielle Grundlage für das Handeln des Präsidenten findet sich darin nicht. Art. 121 Abs. 4 nor______________
28 Dekret des Präsidenten der RSFSR vom 6.11.1991, abgedruckt in: VSNDiVS RSFSR 1991, Nr. 45, Pos. 1537 („Über die Tätigkeit der KPdSU und der kommunistischen Partei der RSFSR“). 29 Gesetz „Über die Eintragung von Änderungen in einige Gesetzesakte der RF, vom 10.1.2006, Sobranie Zakonodatel’stra (SZ) RF 2006, Nr. 3, Pos. 282; vgl. dazu Angelika Nußberger/Carmen Schmidt, Zensur der Zivilgesellschaft in Russland. Die umstrittene Neuregelung zu den Nichtregierungsorganisationen, EuGRZ 2007, Heft 1–5, S. 12–21. 30 Vgl. Art. 1 des Ersten Buches des Svod Zakonov Rossijskoj Imperii aus dem Jahr 1832: „Der Zar von ganz Russland ist ein selbstherrlicher und unumschränkter Herrscher. Gott selbst befiehlt uns, ihm nicht nur aus Furcht, sondern auch aufgrund unseres Gewissens zu gehorchen.“
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miert den Eid des Präsidenten, ist sehr allgemein und enthält nicht einmal andeutungsweise Eingriffsbefugnisse. „Ich schwöre, bei der Ausübung der Befugnisse des Präsidenten der R.F. die Verfassung der Russischen Föderation und die Gesetze der R.F. einzuhalten, die Souveränität zu schützen, die Menschen- und Bürgerrechte und -freiheiten sowie die Rechte der Völker der R.F. zu achten und zu wahren und die mir vom Volk auferlegten Pflichten gewissenhaft zu erfüllen.“31
Und auch Art. 7 der Verfassung, die Regelung zur Vereinigungsfreiheit, nach der verfassungswidrig agierende Organisationen und Parteien unzulässig sind, weist dem Präsidenten keine Kompetenz zu.32 Das bedeutet, dass keine Norm der Verfassung den Präsidenten zu einer derartig weitreichenden Entscheidung wie zu einem Parteiverbot berechtigte. In einem Rechtsstaat ist aber für einen Eingriff der Exekutive in Grundrechte – hier die Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Eigentum – eine rechtliche Grundlage sowie eine kompetentielle Zuweisung conditio sine qua non. Eine derartige Doktrin gab es im russischen Verfassungsrecht allerdings nicht, lediglich die abstrakte Festlegung des Rechtsstaatsprinzips und des damit im Grunde nicht kompatiblen Grundsatzes der sozialistischen Gesetzlichkeit sowie die in sich widersprüchlichen Aussagen zur Gewaltenteilung. Eine weitere Schwierigkeit in dem Verfahren bestand darin, dass noch während des KPdSU-Prozesses, im April 1992, die Verfassung grundlegend revidiert wurde, ohne dass allerdings die Widersprüchlichkeiten beseitigt wurden. Nun galt es für das Verfassungsgericht aber nicht nur, auf dieser unsicheren Basis ______________
31 Art. 121-4 Abs. 2, der Verfassung von 1978 in der Fassung vom 24.5.1991, VSNDiVS RSFSR 1991, Nr. 22, Pos. 778. 32 Art. 7 der Verfassung der R.S.F.S.R. aus dem Jahr 1978 in der Fassung vom 9.12.1992, VSNDiVS R.F. 1993, Nr. 2, Pos. 55. Das Fehlen einer Eingriffsbefugnis ist auch dann ein Problem, wenn man davon ausgeht, dass die kommunistische Partei Russlands aufgrund der Nicht-Registrierung keine Partei und somit allenfalls eine ungesetzliche gesellschaftliche Organisation war; auch in diesem Fall müsste eine Rechtsgrundlage für ein Verbot bestehen.
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das Wirken der Exekutive zu beurteilen. Vielmehr wurde auch die Rechtsgrundlage, auf der das Gericht selbst tätig war, während des Prozesses geändert. Denn während das Gericht im November 1991 noch über nur wenige Kompetenzen verfügte, wurde der Katalog im April 1992 erweitert.33 Insbesondere kam die Kompetenz, die Verfassungswidrigkeit von Parteien zu überprüfen, hinzu.34 Dies führte dazu, dass nunmehr eine andere – nicht den Altkommunisten, sondern den Demokraten zuzurechnende – Gruppe von Abgeordneten Klage mit dem Antrag erhob, festzustellen, dass eben jene von Jelzin aufgelöste kommunistische Partei verfassungswidrig gewesen sei, da sie als Partei in die staatlichen Strukturen übergegriffen und diese fremdbestimmt habe.35 Ein unentwirrbarer Knoten war damit entstanden. Klage und Gegenklage in unterschiedlichen Verfahrensarten, ein Prozess gegen einen Gegner, den es eigentlich nicht mehr gab, den niemand vertreten und niemand finanzieren wollte und konnte, waren doch die Strukturen der Partei aufgelöst und das Vermögen dem Staat übertragen worden. Zudem gab es zwar die neue Kompetenz des Verfassungsgerichts, die Verfassungswidrigkeit von Parteien festzustellen; ausführende prozessuale Vorschriften dazu fehlten aber,36 so dass man sich mit dem Rückgriff auf Analogien und allgemeine Rechtsgrundsätze des Prozessrechts behelfen musste. Es ist evident, dass sich auf dieser Grundlage kein rechtsstaatliches Verfahren durchführen ließ und eine legitime, auf dem Recht beruhende und argumentativ überzeugende Entscheidung, eine Entscheidung, die sich von politischen Entscheidungen abheben würde, nicht möglich war. Das Gericht musste letztlich ex aequo et bono entscheiden, um den gesellschaft______________
33 Eingefügt wurde die Kompetenz zur Entscheidung von Organstreitigkeiten sowie zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Parteien und sonstigen gesellschaftlichen Vereinigungen. 34 Vgl. zu dieser Verfassungsänderung Luchterhandt, a. a.O. Fn. 18, S. 274 ff. 35 Antrag von Oleg Rumjancev und anderen, abgedruckt Konstitucionnyj Vestnik 1992, Nr. 13, S. 226–242. 36 Vgl. zu dem Verfahren im Einzelnen die ausführliche Darstellung bei Otto Luchterhandt, Der „KPdSU-Prozeß“ vor dem Verfassungsgericht Russlands, JöR NF 43 (1995), S. 69–103.
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lichen Frieden wieder herzustellen. Es unterschied zwischen Parteiapparat und Parteibasis, befand die Auflösung von ersterer für rechtsmäßig und von letzterer für rechtswidrig, urteilte auch im Hinblick auf das Parteivermögen salomonisch und entzog das durch die Beiträge der Parteimitglieder gesammelte Vermögen, aber nur dieses, dem Zugriff des Staates.37 Die Frage der Verfassungswidrigkeit der Partei wurde umfassend auf der Grundlage von Zeugenaussagen und Dokumenten überprüft, um letztendlich aufgrund der de facto erfolgten Auflösung der Partei für erledigt erklärt zu werden. Die Öffentlichkeit akzeptierte das Urteil, nicht aber den Anspruch, damit sei eine neue Epoche, eine Epoche der Rechtsstaatlichkeit eingeläutet worden. Das Recht war verworren, in sich unstimmig; es gab mehr Lücken als Recht; die Entscheidung basierte auf den Lücken, nicht auf dem Recht,38 war aber jedenfalls mutig. Das Gericht war am Gesetzgeber bei der Schaffung des Rechtsstaats auf der Überholspur vorbeigestürmt. Wichtig ist, dass die Kompetenz des Präsidenten, gegen die leitenden Organe der Partei vorzugehen und die Tätigkeit der Partei zu suspendieren, anerkannt wurde, obwohl, wie ausgeführt, in der Verfassung keine entsprechende Kompetenznorm zu finden war. Zur Begründung wurde neben den Normen zum Amtseid und zur Einschränkung der Vereinigungsfreiheit, die der Präsident selbst zitiert hatte, noch die Allgemeinklausel des Art. 4 der Verfassung herangezogen, nach der der Sowjetstaat und alle seine Organe auf der Grundlage der sozialistischen Gesetzlichkeit handeln und den Schutz der Rechtsordnung, die Interessen der Gesellschaft sowie die Rechte und Freiheiten der Bürger sicherstellen. ______________
37 Die Partei hatte ein immenses Vermögen angehäuft, über das sie de facto verfügte, auch wenn die Rechtstitel unterschiedlich waren: ein Teil der Vermögenswerte stand in ihrem Eigentum, ein Teil im Eigentum des Staates und bei einem weiteren Teil schließlich waren die Rechtstitel unklar; hier galt es für die ordentlichen Gerichte, die jeweiligen Eigentumsrechte zu definieren. 38 Vgl. dazu die zitierten Stellungnahmen bei Luchterhand, a. a.O. Fn. 36.
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Es lässt sich ein charakteristisches Merkmal des Umgangs mit Recht in Russland festzustellen. Trotz der grundsätzlichen Anerkennung des Gewaltenteilungsprinzips wurde – anders als in der ersten rechtsstaatlichen Verfassungsgerichtsentscheidung – der ungeschriebene Grundsatz „im Zweifel alle Macht der Exekutive“ angewandt.39 Während nach westeuropäischem Rechtsverständnis ein Tätigwerden der Exekutive, zumindest dann, wenn damit in grundrechtlich geschützte Positionen eingegriffen wird, nur auf der Grundlage einer expliziten Ermächtigung möglich ist, ging man hier von der widerlegbaren Vermutung aus, die Exekutive dürfe in Notsituationen aufgrund ihres allgemeinen Auftrags zur Staatsleitung handeln. Nachdem sich keine explizite Verbotsnorm oder eine Norm, die eine Kompetenz einem anderen Organ zugewiesen hätte, fand, wurde die Kompetenz des Präsidenten bejaht. Damit wurde der – bereits nach dem geschriebenen Text der Verfassung äußerst umfangreiche – Kompetenzkatalog nur als beispielhafte Aufzählung verstanden und erweitert. Die strenge Auslegung des Gewaltenteilungsgrundsatzes in der ersten Verfassungsgerichtsentscheidung wurde so nicht weiter entwickelt, konnte dies aber aufgrund der Auflösung staatlicher Strukturen wohl auch kaum. Diese erste Periode der Verfassungsgerichtsbarkeit lässt sich aus rechtsvergleichender Perspektive nicht beurteilen, indem man allgemeine, in westlichen Demokratien über viele Jahre verfeinerte Maßstäbe anlegt. Vielmehr war es in den ersten Jahren aufgrund des Zusammenbruchs der Sowjetunion und des Umbruchs der Gesellschaft für das Gericht wichtig, überhaupt Wegmarken zu setzen. Bedeutend war in diesem Zusammenhang die Stärkung der – in sowjetischer Zeit weitgehend bedeutungslosen und von der Exekutive abhängigen – Judikative. So erkannte das Gericht bei verschiedenen Formen exekutivischen
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39 Vgl. dazu Angelika Nußberger, Rechts- und Verfassungskultur in der Russischen Föderation, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart. Neue Folge, Band 54, 2006, S. 35–55, S. 49 ff.
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Handelns das Recht auf eine gerichtliche Überprüfung an,40 was für das überkommene, auf Unkontrollierbarkeit basierende System eine kleine Revolution bedeutete. Auch Streitfragen, die das Eigentum der Medien betreffen, seien, so das Gericht, nur auf gerichtlichem Wege zu lösen.41 Der Status der Gerichte und Richter als unabhängige Macht wurde ausdrücklich bestätigt.42 – Gerade in dieser ersten Periode der Verfassungsgerichtsbarkeit wurde so ein sehr hoher Prozentsatz der vorgelegten Rechtsakte für verfassungswidrig erklärt und eine erste Bresche für ein rechtsstaatliches Verständnis der Ausübung von Staatsgewalt geschlagen.
2. Lippenbekenntnisse zum Rechtsstaat in der Machtkrise von 1993 Von Anfang an war die Stellung des Verfassungsgerichts als Teil der Judikative definiert worden.43 Obwohl das Gericht einzelne in den politischen Bereich übergreifende Funktionen wie insbesondere das Recht zur Gesetzesinitiative und das Recht, auf eigene Initiative Normenkontrollverfahren einzuleiten, hatte, unterschied sich doch seine Aufgabe von der der Exekutive grundsätzlich dadurch, dass das Gericht nur das geltende Recht zur Anwendung bringen, nicht aber nach politischen Opportunitätsgesichtspunkten handeln durfte. Gegen diese Grundsätze verstieß der erste Vorsitzende des Gerichts, Valerij Zorkin, bei der Zuspitzung der Verfassungskrise im Jahr 1993 aufgrund
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40 Entscheidung vom 5.2.1992 zum Recht auf gerichtliche Überprüfung von durch die Verwaltung mit Einverständnis des Prokurors ausgesprochenen Ausweisungen aus Wohnraum, VKS RF 1994, Nr. 1, S. 2–11; Entscheidung vom 16.4.1993 zum Recht auf gerichtliche Überprüfung von disziplinarischen Maßnahmen gegen Mitarbeiter der Prokuratur (VSNDiVS RF 1993, Nr. 29, Pos. 1141). 41 Entscheidung vom 19.5.1993, VKS RF 1994, Nr. 2–3, S. 60–74. 42 Entscheidung vom 30.9.1993, VKS RF 1994, Nr. 6, S. 26–39. 43 Vgl. Art. 163, 165 der Russischen Verfassung von 1978 in der Version vom 24.5.1991 (VSNDiVS RSFSR 1991, Nr. 22, 776).
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seiner Parteinahme für die Legislative,44 so dass das Gericht als neutrale, außerhalb des politischen Prozesses stehende Instanz seine Glaubwürdigkeit verlor und schließlich seine Tätigkeit einstellen musste. Dabei ist nicht zu monieren, dass mit einzelnen der Entscheidungen des Gerichts, die unmittelbar staatsorganisationsrechtliche Fragen betrafen, insbesondere zur teilweisen Verfassungswidrigkeit des Dekrets des Präsidenten „Über Maßnahmen zum Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung der Russischen Föderation“45 sowie zur Notwendigkeit, den Fragenkatalog für das im April 1993 vorgesehenen Referendum einzuschränken,46 in die politische Auseinandersetzung eingegriffen wurde. Verfassungsrechtsprechung ist „politische Rechtsprechung“, Auswirkungen auf die Träger der Macht und den politischen Prozess sind dem Konzept inhärent. Dagegen gab es keine Rechtsgrundlage dafür, dass sich der Präsident des Russischen Verfassungsgerichts im Februar 1993 für ein Moratorium des von Jelzin gewünschten, vom Obersten Sowjet aber gefürchteten und abgelehnten Referendums einsetzte.47 Dies gilt auch für die ohne Rückendeckung durch das Ver______________
44 Georg Brunner, Die neue Verfassungsgerichtsbarkeit in Osteuropa, ZaöRV 53 (1993), spricht davon, dass die „selbstherrlichen politischen Aktivitäten des Gerichtspräsidenten Zor’kin“ den „Widerstand der liberal gesonnenen Verfassungsrichter herausgefordert und die russische Verfassungskrise um eine Krise des russischen Verfassungsgerichts erweitert“ hätten (S. 819 ff.); vgl. dazu auch W. Slater, Head of Russian Constitutional Court under Fire, RFE/RL Research Report Nr. 26/1993, S. 1 ff.; R. Sharlet, The Russian Constitutional Court: The First Term, Post-Soviet Affairs 1993, Nr. 1, S. 1 ff.: ders., Chief Justice as Judicial Politician, East European Constitutional Review 1993, Nr. 2, S. 32 ff. 45 Entscheidung vom 12.2.1993, VSNDiVS RF 1993, Nr. 9 Pos. 344. 46 Entscheidung vom 21.4.1993, VSNDiVS RF 1993, Nr. 18, 653; vgl. dazu Theodor Schweisfurth, Vom Einheitsstaat (UdSSR) zum Staatenbund (GUS), ZaöRV 52, 541–702 (1992). 47 Vgl die Aussage Zorkins bei einer Pressekonferenz am 10.2.1993, in Zeiten der Hyperinflation dürfe man kein Referendum durchführen (http.//www.cityline.ru/politika/ks/epzor.html, letzter Zugriff: 10.8. 2007).
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fassungsgericht abgegebene Stellungnahme Zorkins zu einem in einer Fernsehansprache des Präsidenten am 20.3.1993 angekündigten Dekret, auf dessen Grundlage Jelzin „eine besondere Regierungsform“ (osobyj porjadok upravlenija) einführen wollte. Nach dem Verfassungsgerichtsgesetz wäre es für den Vorsitzenden des Gerichts lediglich möglich gewesen, in Situationen, die keinen Aufschub dulden, die betreffenden Amtsträger aufzufordern, die Geltung normativer Akte bis zur Prüfung der Sache durch das Verfassungsgericht zu suspendieren.48 Hier hatte Jelzin einen entsprechenden Normativakt nur angekündigt, ihn aber noch nicht erlassen. Stunden später wurde das Verfassungsgericht vom Obersten Sowjet angerufen. Aber auch die vom Gericht um 2.30 Uhr in der Nacht abgegebene Erklärung, einzelne Regelungen des vom Präsidenten angekündigten Dekrets seien verfassungswidrig, entbehrte einer Rechtsgrundlage.49 Richtig wäre es gewesen, wie einzelne Richter vorgeschlagen hatten, abzuwarten, bis der gedruckte und vom Präsidenten unterschriebene Text des Dekrets vorliege und nicht aufgrund einer Ankündigung im Fernsehen zu entscheiden. Als die in der Folge mit Datum vom 22. März 1993 veröffentlichte Version des Dekrets viele der als verfassungswidrig monierten Punkte gar nicht enthielt, war das Verfassungsgericht in den Augen der Öffentlichkeit bloßgestellt.50 In den kritischen Septembertagen vor der blutigen Auseinandersetzung um das weiße Haus schlug der Verfassungsgerichtspräsident vor, dass der Volksdeputiertenkongress vorzeitige Wahlen zum Amt des Präsidenten und des Parlaments ansetzen und ein Wahlgesetz und ein Gesetz über die Machtorgane bis ______________
48 Art. 21 Abs. 1 Punkt 6 des Verfassungsgerichtsgesetzes von 1991. 49 Vgl. das Gutachten zu dieser Frage vom 23.3.1993, nicht veröffentlicht, aber im Internet abrufbar unter http://www.nasledie.ru/oboz/N09_93/ 9_02.htm. Das Sondervotum von Ametistov ist abrufbar über http://www.terralegis.org/terra/amet/11amet04.html (letzter Zugriff: 10.8.2007). 50 Zu den Vorgängen im Einzelnen vgl. M. S. Balutenko/G. V. Belonu…kin/ K. A. Katanjan, Das Verfassungsgericht Russlands, Moskau 1997 (russ.), zitiert nach der elektronischen Version abrufbar unter http://www. cityline.ru/politika/ks/epzor.html (letzter Zugriff: 10.8.2007).
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zum Erlass einer neuen Verfassung ausarbeiten solle. Dabei versuchte er, die Unterstützung der Vertreter der Regionen zu gewinnen. Auch hier spielte er eine äußerst aktive politische Rolle, die mit den Aufgaben des Vorsitzenden eines Verfassungsgerichts nicht vereinbar war. Die Tatsache, dass Zorkin am 21.9.1993 das Gutachten des Verfassungsgerichts, mit dem das Dekret Jelzins zur Auflösung des Obersten Sowjets und des Kongresses der Volksdeputierten der R.F. und zur Durchführung von Neuwahlen51 für verfassungswidrig erklärt und eine Absetzung des Präsidenten befürwortet wurde,52 unterschrieb, ist dagegen von Verfassung und Verfassungsgerichtsgesetz gedeckt.53 Nach dem damaligen Recht konnte das Gericht insoweit auch auf eigene Initiative tätig werden. Dennoch war dieses Gutachten Anlass für Jelzin, das „Experiment Verfassungsgerichtsbarkeit“ in Russland erst einmal zu beenden. Am 7. Oktober 1993 erließ er ein Dekret „Über das Verfassungsgericht der Russischen Föderation“, in dem er ausführte, das Verfassungsgericht befinde sich im „Zustand einer tiefen Krise“ und habe zweimal ______________
51 Dekret des Präsidenten 1400 „Über die stufenweise Verfassungsreform in der Russischen Föderation“ (Sobranie aktov Prezidenta i Pravitel’stva [SAPP] R.F. 1993, Nr. 39, Pos. 3597), in dem zudem auch bestimmt wurde, dass die Verfassung der R.F., die Gesetze der R.F. und der Subjekte der R.F. insoweit weitergelten, als sie dem Dekret des Präsidenten nicht widersprechen. 52 Gutachten des Verfassungsgerichts vom 21.9.1993 (nur im Internet zugänglich http://1993.sovnarkom.ru/TEXT/DOKUMENT/ks21091993. htm, letzter Zugriff: 10.8.2007), in dem festgestellt wurde, dass das Dekret des Präsidenten sowie seine Erklärung an die Bürger Russlands im Widerspruch zu verschiedenen Bestimmungen der Verfassung stehe und „eine Grundlage darstelle für die Absetzung des Präsidenten Jelzin oder die Durchführung anderer besonderer Maßnahmen, um ihn nach Art. 121-10 oder 121-6 der Verfassung zur Verantwortung zu ziehen.“ Die Entscheidung wurde mit 9 gegen 4 Stimmen getroffen; dagegen stimmten die Richter Ametistov, Morš…akova, Vitruk und Kononov. Später war strittig, ob die Erwähnung von Art. 121-6 der Verfassung, der die Beendigung der Vollmachten des Präsidenten mit sofortiger Wirkung vorsieht, von einer Mehrheit der Richter akzeptiert worden war. 53 Art. 165-1 Verfassung RF iVm. Art. 1 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 4, Art. 74, Art. 77 Gesetz über das Verfassungsgericht der RSFSR vom 12. Juli 1991.
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im Jahr 1993 durch seine übereilten Handlungen und Entscheidungen das Land an den Rand eines Bürgerkriegs gebracht. Als die Gefahr eines Bürgerkriegs real wurde, habe das Verfassungsgericht aber nicht gehandelt. Jelzin warf dem Gericht vor, es habe eine negative Rolle gespielt und im Grunde Beihilfe geleistet bei den tragischen Ereignissen am 3. und 4. Oktober 1993, sich in eine „Waffe im politischen Kampf“ verwandelt und eine außergewöhnliche Gefahr für den Staat dargestellt. Das Dekret enthielt die Feststellung, dass eine Fortführung der Tätigkeit des Gerichts ohne die volle Besetzung nicht möglich sei und bis zur Verabschiedung einer neuen Verfassung keine Sitzungen einberufen werden könnten.54 Das Verfassungsgericht hatte die Hoffnungen, die mit der Einrichtung dieser Institution verbunden gewesen waren, nicht einlösen können. Erkennbar hatte es versucht, das Recht zur Durchsetzung von Machtansprüchen einzusetzen und damit die positiven Ansätze, mithilfe des Rechts Macht von neutraler Warte aus einzudämmen, zunichte gemacht. Allerdings entschied man sich dennoch nicht dazu, das Verfassungsgericht wieder abzuschaffen. Vielmehr wurde die Tätigkeit des Gerichts nur für eineinhalb Jahre unterbrochen. Nach der Annahme der neuen Verfassung auf der Grundlage eines Referendums im Dezember 1993 wartete man auf die Ausarbeitung des auf den neuen Verfassungsnormen beruhenden Verfassungsgerichtsgesetzes. Dieses trat 1994 in Kraft55 und spiegelt
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54 Dekret vom 7.10.1993 „Über das Verfassungsgericht der R.F.“, SAPP RF, 1993 Nr. 41, Pos. 3921; zu den Einzelheiten der Auseinandersetzung zwischen Verfassungsgericht und Exekutive vgl. Angelika Nußberger, Das Russische Verfassungsgericht zwischen Recht und Politik, in: Matthes Buhbe, Gabriele Gorzka (Hrsg.), Russland heute. Rezentralisierung des Staates unter Putin, Wiesbaden 2007, S. 215–233. 55 Gesetz „Über das Verfassungsgericht der Russischen Föderation“ vom 21.7.1994, SZ RF 1994, Nr. 13, Pos. 1447; deutsche Übersetzung in EuGRZ 1996, S. 219 ff.
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den Versuch einer Depolitisierung des Gerichts.56 Das Verfassungsgericht nahm erst 1995, nachdem die neuen Richter des nunmehr 19-köpfigen Gerichts gewählt worden waren, seine Arbeit wieder auf, allerdings mit einem neuen Präsidenten, dem Verfassungsrichter Tumanov.57
3. Bewährungsprobe des Rechtsstaats von 1995 bis 2000 Die 90er Jahre werden im Rückblick in Russland als „Zeit der Wirren“ (smutnoe vremja) gesehen. Außen- und Innenpolitik waren durch große Schwankungen, Unsicherheiten und Unruhen gekennzeichnet. Der erste Tschetschenienkrieg ebenso wie die Finanzkrise von 1998 wurden als nationale Traumata empfunden. Die zweite Amtszeit Jelzins stand zwischen „Oligarchie und Anarchie“; die Suche nach nationaler Identität und weltpolitischer Geltung war weitgehend erfolglos.58 Auch wenn das Rechtsstaatsprinzip nunmehr prominenter Bestandteil der neuen Verfassung war und das Verfassungsgericht zu einer Änderung des Bewusstseins, zu einer Anerkennung des Bürgers als Subjekt und nicht mehr als Objekt staatlicher ______________
56 Vgl. die ausführliche Analyse von ð. I. Ovsepjan, Die gerichtliche Verfassungskontrolle in der Russischen Föderation: Probleme einer Depolitisierung, (russ.) GiP 1996, Nr. 1, S. 32–42. Wichtig ist etwa, dass die Vorschrift, das Gericht dürfe keine politischen Fragen behandeln, gestrichen und statt des Verbots positiv festgelegt wurde, dass das Gericht ausschließlich über Rechtsfragen entscheide (Art. 3 des Verfassungsgerichtsgesetzes von 1994). Das Verbot einer Parteimitgliedschaft, aber auch einer Tätigkeit für Parteien geht weiter als in anderen Verfassungsgerichtsgesetzen. Die Richterbestellung, die zuvor ausschließlich der Legislative zukam, wurde nunmehr auf Präsident und Föderationsrat übertragen. Ein Tätigwerden des Gerichts auf eigene Initiative wie auch Stellungnahmen zur allgemeinen politischen Situation sind nicht mehr vorgesehen. 57 Vgl. zur Geschichte des Russischen Verfassungsgerichts Balutenko/ Belonu…kin/Katanjan, a. a. O. Fn. 50. 58 Vgl. dazu im Einzelnen Margareta Mommsen, Wer herrscht in Russland? Der Kreml und die Schatten der Macht, München 2003 S. 17 ff., S. 137 ff.
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Macht beitrug,59 waren doch in der Rechtswirklichkeit für die Bürger kaum Besserungen zu erkennen. Zwar wurden aufgrund der Konzeption zur Reform der Justiz von 199260 Schritt für Schritt Neuerungen – etwa die Einführung von Geschworenengerichten und die Übertragung einer Reihe von Fällen auf Friedensrichter – umgesetzt. Aber der Einzelne war dem Staat gegenüber machtlos; ein Gefühl, das angesichts der krassen sozialen Gegensätze und der damit verbundenen Existenzsorgen wohl noch ausgeprägter war als zu sowjetischer Zeit. Vor diesem Hintergrund ist die Bedeutung der Verfassungsrechtsprechung dieser Jahre zu relativieren. Anders als in Deutschland konnte die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht zu einem „Verfassungspatriotismus“ beitragen. Dennoch ergingen in dieser Zeit über 100 Entscheidungen, die Grundrechtsverstöße, Probleme des Staatsorganisationsrechts und auch völkerrechtlich relevante Fragen gleichermaßen thematisierten. Von herausragender Bedeutung war einerseits die TschetschenienEntscheidung, andererseits die Beutekunst-Entscheidung. a) Die Thematisierung von Grundrechtsverstößen Das Russische Verfassungsgericht hat in diesen Jahren – abseits der politischen Agenda – eine Reihe von grundlegenden Ent______________
59 Vgl. Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 3.5.1995 (Punkt 4 der Begründung), SZ RF 1995, Nr. 19, Pos. 1764: „Im Zusammenhang mit Art. 21 der Verfassung der R.F. ist der Staat verpflichtet, die Würde des Menschen in allen Bereichen zu schützen, wodurch die Vorrangstellung des Einzelnen und seiner Rechte bestätigt wird (…). Daraus folgt, dass der Einzelne in Beziehung zum Staat nicht als Objekt der staatlichen Tätigkeit auftritt, sondern als gleichberechtigtes Subjekt, das seine Rechte mit allen vom Gesetz nicht verbotenen Mitteln verteidigen und mit dem Staat, vertreten durch einzelne seiner Organe, streiten kann. Niemand kann in dem gerichtlichen Schutz seiner Würde sowie den damit verbundenen Rechten beschränkt werden.“ 60 Konzeption der Gerichtsreform vom 21.10.1991, VSNDiVS RSFSR 1991, Nr. 44, Pos. 1435; vgl. dazu Peter H. Solomon/Todd S. Foglesong, Justice in Russia, Boulder 2000, S. 10 ff., Mommsen/Nußberger, a. a.O. Fn. 7, S. 95 ff.
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scheidungen getroffen, die die Grundrechte der Bürger gegenüber der Staatsmacht stärkten. So wurden etwa die von der Verwaltung der Stadt Moskau eingeführten überhöhten Gebühren für die Registrierung für verfassungswidrig erklärt61 und damit der bereits vom sowjetischen Komitee für Verfassungsaufsicht62 begonnene Kampf gegen das Propiska-System63 und damit gegen die willkürliche Einschränkung der Freizügigkeit durch die Verwaltung fortgeführt. Mit Entscheidung vom 2.2.199864 erklärte das Gericht auch das neu eingeführte System zur Registrierung der Bürger aufgrund von Missbrauchsmöglichkeiten für verfassungswidrig und damit nichtig. Die Stellungnahme des Moskauer Bürgermeister Luñkov, die Entscheidung nicht vollziehen zu wollen,65 zeigt, wie sehr diese Entscheidung den Lebensnerv der Moskauer Stadtpolitik, die auf einer Begrenzung der Zuwanderung aufbaut und wohl auch aufbauen muss, trifft. Eine
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61 Entscheidung des Russischen Verfassungsgerichts vom 4.4.1996, SZ RF Nr. 16 1996 Pos. 1909 (Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Reihe von Normativakten der Stadt Moskau, der Region Moskau, des Kreises Stavropol, der Region Woronesch und der Stadt Woronesch, die das Verfahren der Registrierung der Bürger regeln, die sich dauerhaft in den genannten Gebieten niederlassen wollen). 62 Angelika Nußberger, Verfassungskontrolle in der Sowjetunion und in Deutschland – Eine rechtsvergleichende Gegenüberstellung des Komitet Konstitucionnogo Nadzora und des Bundesverfassungsgerichts, BadenBaden 1994. 63 Das Propiska-System (wörtlich: Anmeldesystem) ist eine sowjetische Besonderheit. Danach kann ein Umzug an einen anderen Ort nur erfolgen, wenn eine entsprechende behördliche Genehmigung vorliegt. Vorteil dieses Systems ist, dass eine Binnenwanderung weitgehend kontrolliert und so der Zuzug zu den großen Städten unterbunden werden kann. Nachteil ist die mit diesem System verbundene Unfreiheit, Abhängigkeit von den Behörden und die damit einhergehende Gefahr der Korruption. 64 Entscheidung vom 2.2.1998, SZ RF 1998, Nr. 6, Pos. 783. 65 Vgl. Maxim Ferschtman, Russia, in: Fundamental Rights in Europe. The European Convention on Human Rights and its Member States, 1950– 2000, Oxford 2001, S. 739.
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Registrierung ist notwendig, nur dürfen dafür keine unbezahlbar hohen Gebühren verlangt werden.66 Wesentlich sind vor allem auch die Entscheidungen des Verfassungsgerichts zum Straf- und Strafprozessrecht. In den 90er Jahren galten noch die aus den 60er Jahren stammenden Gesetze,67 die die Durchsetzung des Strafanspruchs des Staates auf Kosten der Rechte des Einzelnen zu sichern bestimmt waren. Das Verfassungsgericht hatte einen wesentlichen Anteil an der Neugestaltung des Rechts mit Blick auf einen elementaren Rechtsschutz des Angeklagten. Eine Vielzahl der vom Verfassungsgericht bestimmten Rechtspositionen (pravovye pozicii)68 dienten als Grundlage für die Ausarbeitung der neuen Strafprozessordnung. Die Tätigkeit des Verfassungsgerichts wurde dabei als „stille Revolution“ bezeichnet.69 Zentral war etwa die Anerkennung eines Rechts auf gerichtliche Beschwerde gegen die Verhaftung70 oder das Recht auf anwaltliche Hilfe.71 Das ______________
66 Vgl. die Neuregelung durch Verordnung vom 31.10.2006, abrufbar unter http://advokatt.us/propiska2.htm. 67 StGB vom 27.10.1960 (VVS RSFSR 1960, Pos. 591); StPO vom 27.10. 1960 (VVS RSFSR 1960, Pos. 592). 68 Die Ausarbeitung von „Rechtspositionen“, die als Grundlage für weitere Entscheidungen des Gerichts dienen, ist von großer Bedeutung für die Konsistenz und Entwicklung der Rechtsprechung des Gerichts; vgl. dazu V. A. Kriañ kov/O.N. Kriañ kova, „Pravovye pozicii Konstitucionnogosuda Rossijskoi Federatsii v ego interpretatsii“, GiP 2005, Nr. 11, S. 13–21; A. Fogelklou, „Interpretation and Accommodation in the Russian Constitutional Court“, Russia, Europe and the Rule of Law, Leiden/ Boston 2007; vgl. auch die Sammlung der Rechtspositionen des Gerichts bei L. V. Lazarev, Rechtspositionen des Verfassungsgerichts Russland (russ.), Moskau 2006. 69 V. Boñ ’ev, Die „stille Revolution“ des Verfassungsgerichts im Strafprozess in der Russischen Föderation (russ.), Rossijskaja Justicija (RJ) 2000 Nr. 10, S. 9–11. 70 Entscheidung vom 3.5.1995, SZ RF 1995, Nr. 19, Pos. 1764; daneben erkannte das Gericht auch ein Beschwerderecht des Angeklagten bei einem höher stehenden Gericht gegen Maßnahmen, die die Freiheit und persönliche Unberührbarkeit beschränken, an (Entscheidung vom 2.7.1998, SZ RF 1998, Nr. 28, Pos. 3393). 71 Entscheidung vom 27.6.2000, SZ RF 2000, Nr. 27, Pos. 2882.
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Gericht erklärte es für unzulässig, dass Gerichte die Funktion der Anklage übernehmen oder selbst Strafverfahren einleiten können.72 Auch die Regelung der Strafprozessordnung, nach der die Zeit, in der Angeklagter und Rechtsanwalt die Gerichtsakten studieren, nicht auf die auf sechs Monate begrenzte Untersuchungshaft angerechnet wird, so dass die Wahrnehmung ureigenster prozessualer Rechte zu einer Verlängerung der Untersuchungshaft führt, wurde für verfassungswidrig erklärt.73 Ebenso wurde der Ausschluss von Rechtsanwälten, die nicht den Status von Geheimnisträgern haben, von der Verteidigung in Hochverratsprozessen als nicht notwendige Grundrechtseinschränkung angesehen.74 In einer Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit einer Regelung der Republik Mordovien wurde festgestellt, dass eine im Rahmen eines Verbrechensbekämpfungsprogramms eingeführte Verwaltungsmaßnahme, mit der diejenigen, die in dem Verdacht stehen, einer kriminellen Gruppe anzugehören, bis zu 30 Tagen festgehalten werden dürfen, gegen die Verfassung der Russischen Föderation verstoße.75 In diesen Entscheidungen berief sich das Verfassungsgericht häufig auch auf Normen des internationalen Rechts sowie das caselaw zur EMRK.76 ______________
72 Entscheidungen vom 20.4.1999, SZ RF 1999, Nr. 17, Pos. 2205 und vom 14.1.2000, SZ RF 2000, Nr. 5, Pos. 611. 73 Entscheidung des Russischen Verfassungsgerichts vom 13.6.1996, VKS RF 1996, Nr. 4, S. 2–13 (Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Art. 97 Abs. 5 StPO R.S.F.S.R.). 74 Entscheidung des Russischen Verfassungsgerichts vom 27.3.1996 zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Art. 1 und 21 des Gesetzes der Russischen Föderation vom 21. Juli 1993 „Über das Staatsgeheimnis“, SZ RF 1996, Nr. 15, Pos. 1768. 75 Entscheidung des Russischen Verfassungsgerichts vom 2.7.1997 zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Art. 1 (Teil 1 Pkt. „b“) des Gesetzes der Republik Mordowien vom 20. Januar 1996 „Über vorübergehende außerordentliche Maßnahmen zum Kampf gegen das Verbrechen“, SZ RF 1997, Nr. 28, Pos. 3498. 76 Vgl. zu dieser Phase der Verfassungsgerichtsbarkeit T. G. Morš…akova, Verfassungsrechtsprechung zwischen den Jahrhunderten (russ.), Moskau 2002.
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Von weitreichender Bedeutung war die Entscheidung zu Geschworenengerichten im Zusammenhang mit der Todesstrafe. Da die Todesstrafe explizit in der Russischen Verfassung vorgesehen ist,77 war es dem Gericht nicht möglich, die Bestimmungen im Strafgesetzbuch, die die Todesstrafe regeln,78 für verfassungswidrig zu erklären. Darauf hatten die Beschwerdeführer allerdings auch nicht abgezielt, ihnen ging es vielmehr um das Recht, vor einem Geschworenengericht gehört zu werden. Das Gericht argumentierte, die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe verstoße gegen den Gleichheitssatz, so lange nicht in allen Subjekten der Russischen Föderation Geschworenengerichte bestünden und damit nicht alle Angeklagten von dem in der Verfassung vorgesehenen Recht, den Fall vor ein Geschworenengericht zu bringen, Gebrauch machen könnten.79 ______________
77 Vgl. Art. 20 der Russischen Verfassung: „Jeder hat ein Recht auf Leben. Die Todesstrafe kann bis zu ihrer Abschaffung durch Föderationsgesetz ausnahmsweise als Form der Bestrafung für besonders schwere Verbrechen gegen das Leben vorgesehen werden, wenn dem Beschuldigten die Möglichkeit des rechtlichen Gehörs vor einem Geschworenengericht gegeben wird.“ 78 Nach dem StGB der RSFSR von 1960 stand die Todesstrafe auf 25 Delikte, darunter auch Vaterlandsverrat (Art. 64), Spionage (Art. 65), Umgehung eines Mobilmachungsbefehls (Art. 81), Herstellung oder Inverkehrbringen von Falschgeld oder von gefälschten Wertpapieren (Art. 87), Verletzung der Vorschriften für Devisengeschäfte (Art. 88) und Entwendung staatlichen oder gesellschaftlichen Vermögens in besonders großem Umfang (Art. 93). Im Strafgesetzbuch von 1996 ist die Todesstrafe nur mehr bei qualifiziertem Totschlag (Art. 105 Ziff. 2 StGB-RF), Anschlag auf das Leben eines Staatsmanns oder einer Persönlichkeit des öffentlichen Lebens (Art. 277 StGB-RF), eines Richters oder Ermittelungsbeamten (Art. 295 StGB-RF) und eines Mitarbeiters einer Strafverfolgungsbehörde (Art. 317 StGB-RF) sowie bei Völkermord (Art. 357 StGB-RF) vorgesehen. Zusätzlich gibt es verschiedene Delikte im Militärstrafrecht, auf die die Todesstrafe steht. 79 Entscheidung des Russischen Verfassungsgerichts vom 2.2.1999, SZ RF 1999, Nr. 6, Pos. 867. Mittlerweile sind in allen Subjekten der Russischen Föderation mit einer Ausnahme Geschworenengerichte eingerichtet worden. In Tschetschenien, dem letzten der Subjekte, in denen Geschworenengerichte eingeführt werden sollen, sollte die entsprechende Neuregelung ursprünglich zum 1.1.2007 in Kraft treten, wurde
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Folgenreich für das Verständnis des Gleichheitssatzes war auch die Gleichstellung der Kinder der politisch Verfolgten mit ihren Eltern im Hinblick auf staatliche Entschädigungsleistungen.80 Mit einer Vielzahl von Entscheidungen zum Steuerrecht versuchte das Gericht in dieser Zeit auch, die Position des Steuerzahlers gegenüber den Behörden zu stärken, insbesondere, indem es die Steuerschuld als mit dem Abzug der geforderten Summe vom Konto des Steuerschuldners als erfüllt ansah und damit das Risiko für den Eingang der Gelder bei der Staatskasse dem Staat aufbürdete. Die Durchsetzung der Entscheidungen wusste die Bürokratie aber zu verhindern.81 Im Gegensatz zu diesen Entscheidungen, die deutliche Fortschritte bei der Umsetzung grundsätzlicher Postulate von Rechtsstaatlichkeit markierten, ist die Smirnov-Entscheidung aus dem Jahr 1995 kritisch zu sehen.82 Dabei ging es um die Frage, ob der Straftatbestand des „Vaterlandsverrats“83 mit den rechtsstaatlichen Anforderungen der Verfassung vereinbar wäre. ______________
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nunmehr aber auf 2010 verschoben; dazu sowie zu den völkerrechtlichen Aspekten der Problematik vgl. Angelika Nußberger, Dmitrij Marenkov, Das „Jein“ zur Todesstrafe in Russland, Osteuropa Recht 2007 Nr. 1–2, S. 9–20. Entscheidung des Russischen Verfassungsgerichts vom 23.5.1995, VKS RF 1995, Nr. 2–3, S. 56 (Rehabilitation von Opfern politischer Unterdrückungen). A. Trochev, „Distrusted Courts: The Impact of State (In)capacity on Judicial Power in Post-Communist Countries“, (unveröffentlichtes Manuskript) abrufbar unter: http://www.cpsa-acsp.ca/papers-2005/ Trochev.pdf (letzter Zugriff: 10.8.2007). Entscheidung des russischen Verfassungsgerichts vom 20.12.1995, VKS 1995 Nr. 6, S. 48–60. Art. 64 StGB der RSFSR von 1960: „Vaterlandsverrat, d. h. eine von einem Bürger der UdSSR zum Schaden der staatlichen Unabhängigkeit, der territorialen Integrität oder der militärischen Macht der UdSSR vorsätzlich begangene Handlung: Übertritt auf die Seite des Feindes, Spionage, Auslieferung von Staats- oder militärischen Geheimnissen an einen fremden Staat, Flucht ins Ausland oder die Weigerung, aus dem Ausland in die UdSSR zurückzukehren, Unterstützung einer ausländische Macht bei der Durchführung feindseliger Tätigkeit gegen die UdSSR sowie Verschwörung mit dem Ziel der Machtergreifung wird
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Zwar urteilte das Verfassungsgericht, dass die sowjetische Variante des Delikts, das in der DDR als „Republikflucht“ bezeichnet wurde, die „Flucht über die Grenze oder Weigerung, in das Gebiet der UdSSR zurückzukommen“, dem neuen Grundrecht der Ausreisefreiheit84 widerspräche. Souveränität und Einheit des Staates würden durch diejenigen, die das Land verlassen, nicht gefährdet. Im Übrigen seien Einschränkungen von Grundrechten eng auszulegen – eine wichtige Feststellung auf dem Weg zum Aufbau einer rechtsstaatlichen Verfassungsjudikatur. Allerdings sah das Verfassungsgericht keinen Widerspruch zwischen der sehr offenen Formulierung der Tatbestandsalternative „Hilfeleistung für einen fremden Staat bei der Durchführung einer gegen die UdSSR gerichteten feindlichen Tätigkeit“ und den Anforderungen des Rechtsstaatsgebots. Die Begründung war denkbar knapp: „Als Bestandteil des Normsetzungsprozesses fällt die Bestimmung des Grades der Formalisierung von Merkmalen des einen oder anderen Verbrechens in die ausschließliche Kompetenz des Gesetzgebers. Die erforderlichen Erläuterungen zu den in der Gerichtspraxis entstehenden Fragen der Anwendung von Normen der Strafgesetzgebung hat gemäß Art. 126 der Verfassung der R.F. das Oberste Gericht der R.F. abzugeben.“85
Hier hätte das Gericht die Möglichkeit gehabt, für den Rechtsstaat Pflöcke einzuschlagen und das Bestimmtheitsgebot zu konkretisieren,86 schwieg aber. Dies ist umso verwunderlicher ______________
mit Freiheitsentziehung von zehn bis fünfzehn Jahren, verbunden mit Vermögenskonfiskation und mit Verbannung von zwei bis zu fünf Jahren oder ohne Verbannung, oder mit dem Tode, verbunden mit Vermögenskonfiskation, bestraft“. 84 Vgl. Art. 27 Abs. 2 der Verfassung: „Jeder kann frei aus dem Bereich der Russischen Föderation ausreisen. Jeder russische Staatsbürger hat das Recht auf ungehinderte Wiedereinreise in die Russische Föderation.“ 85 Entscheidung des Russischen Verfassungsgerichts vom 20.12.1995, VKS 1995 Nr. 6, S. 52. 86 In anderen Entscheidungen hatte das Verfassungsgericht die Unbestimmtheit gesetzlicher Regelungen als Widerspruch zum Rechtsstaatsgebot moniert, vgl. z. B. Entscheidung vom 11.3.1998 (Punkt 4), SZ RF 1998, Nr. 12, Pos. 1458; Entscheidung vom 16.3.1998 (Punkt 6), SZ RF
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als der konkrete Fall durchaus einen Grund zum Nachdenken über Missbrauchsmöglichkeiten derart offener Formulierungen geboten hätte. Der Antragsteller Smirnov war aufgrund eben jenes Straftatbestandes „Heimatverrat“ 1982 zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt worden, da er als leitender Ingenieur in Schweden Asylantrag gestellt, die Namen der Kollegen am Institut für elektronische Steuerungsmaschinen des Unionsministeriums sowie die Namen ausländischer Kontaktpersonen bekannt gegeben und sich zunächst geweigert hatte, wieder in die UdSSR zurückzukehren. Eine „gegen die UdSSR gerichtete feindliche Tätigkeit“ ist allein in der Bekanntgabe von Namen kaum zu erkennen, insbesondere, da dem Betroffenen nicht bekannt war, dass auch die Namen der Kollegen ein Staatsgeheimnis darstellen konnten. Das Verfassungsgericht ist hier so nur einen kleinen Schritt bei der juristischen Aufarbeitung vergangenen Unrechts gegangen, denn, wie der Richter Kononov in seinem Sondervotum ausführte, diente gerade der Straftatbestand „Vaterlandverrat“ als „faktisches Instrument der politischen Repressionen, des Kampfes mit Andersdenkenden, politischen Gegnern, als Methode einer harten Unterdrückung der allgemein anerkannten Menschen- und Bürgerrechte und des Schutzes des Sowjetischen Staates“.87 Hier wäre es notwendig gewesen, rechtsstaatliche Grenzen zu ziehen, auch wenn das Verfassungsgericht davor zurückgeschreckt sein mag, die Büchse der Pandora zu öffnen und einer auch rechtlichen Auseinandersetzung mit vergangenem Unrecht das Wort zu reden.88
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1998, Nr. 12, Pos. 1459; Entscheidung vom 15.6.1998 (Punkt 5), SZ RF 1998, Nr. 25, Pos. 3003; Entscheidung vom 13.12.2001 (Punkt 5), SZ RF 2001, Nr. 52 (Teil II), Pos. 5014; Entscheidung vom 6.4.2004 (Punkt 3 und 4), SZ RF 2004, Nr. 15, Pos. 1519. 87 Vgl. das Sondervotum von Kononov, VKS RF 1995, Nr. 6, S. 59 ff. 88 Vgl. auch Ferdinand Feldbrugge, The Rule of Law in Russia in a European Context, in: ders., Russia, Europe, and the Rule of Law, Leiden/ Boston 2007, S. 203–216, der gerade hier die Schwäche des gegenwärtigen Systems in Russland sieht.
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Auch die Argumentation des Russischen Verfassungsgerichts in der Beutekunstentscheidung89, bei der es gleichermaßen um eine Frage von historischer Bedeutung ging, konnte nicht überzeugen, insbesondere da die wesentlichen Argumente des Präsidenten, der als Beschwerdeführer auftrat,90 nicht zur Kenntnis genommen wurden.91 Im Ergebnis verneinte das Gericht einen Schutz der Rechte der Eigentümer von Gegenständen von künstlerischer und kultureller Bedeutung, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus den so genannten Feindstaaten, vor allem aus Deutschland, nach Russland transportiert worden waren. Die Rechtmäßigkeit der Enteignung begründete das Gericht damit, dass mit der Beutekunst Reparationsforderungen beglichen worden seien. Lediglich die Einschränkung der Eigentumsrechte dritter, nicht aus den Feindstaaten stammender Personen, insbesondere die zu kurze Fristsetzung zur Geltendmachung von Ansprüchen, erklärte das Gericht für teilweise verfassungswidrig.92 – In gewisser Weise betonte das Gericht in dieser Entscheidung, so kritikwürdig sie in der Sache auch sein mag, aber seine Unabhängigkeit gegenüber dem Präsidenten, indem es seinem Antrag nicht nachgab. b) Staatsorganisationsrechtliche Entscheidungen Staatsorganisationsrechtliche Fragen wurden in Organstreitverfahren, Normenkontrollverfahren und Auslegungsverfahren93 zur Sprache gebracht. Dabei gelang es dem Verfassungsgericht im ______________
89 Entscheidung des Russischen Verfassungsgerichts vom 20.7.1999, SZ RF 1999, Nr. 30, Pos. 3989. 90 Der Antrag auf Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit ist auf Deutsch abgedruckt in EuGRZ 1999, 589–600. 91 Matthias Hartwig, Vae Victis – Völkerrechtliche Fragwürdigkeiten in der Argumentation des Russischen Verfassungsgerichts zum BeutekunstGesetz, EuGRZ 1999, 553–563. 92 Zu der Entscheidung vgl. auch Nußberger, a. a.O. Fn. 39, S. 46. 93 Vgl. Angelika Nussberger, Das abstrakte Verfassungsauslegungsverfahren – eine Besonderheit des Verfassungsprozessrechts in verschiedenen Rechtsordnungen Mittel- und Osteuropas, in: Közjogi Intézmények a XXI. Században, Pécs 2004, S. 237–262.
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Allgemeinen besser als in der ersten Phase der Verfassungsgerichtsbarkeit, die Position einer neutralen Entscheidungsinstanz einzunehmen.94 Insbesondere die Vielzahl der Entscheidungen zum Wahlrecht zeigt den Versuch des Gerichts, zu grundrechtsrelevanten Fragen, etwa zu den Voraussetzungen eines Ausschlusses aus dem Wahlregister, Stellung zu nehmen, ohne sich in politische Debatten einzumischen. In der Entscheidung vom 20.11.199595 berief sich das Gericht in diesem Zusammenhang unmittelbar auf die „political questions doctrine“96 und erklärte, das Verfassungsgericht dürfe den Gesetzgeber nicht ersetzen. Da das Wahlsystem in der Verfassung nicht festgelegt sei, habe der Gesetzgeber insoweit ein weites Ermessen.97 In der späten Jelzin-Zeit griff das Gericht dagegen in einer besonders wichtigen Entscheidung zum Verhältnis Legislative – Exekutive wieder die Doktrin „alle Macht im Zweifel für die Exekutive“ auf und mischte sich damit abermals in die Auseinandersetzung um die Macht ein. In den letzten Monaten seiner Präsidentschaft hatte Boris Jelzin die Regierungschefs in schneller Folge berufen und abberufen. Dem Vorschlag des Präsidenten, den völlig unbekannten Kandidaten Kirijenko zu ernennen, widersetzte sich die Duma. In diesem Zusammenhang stellte sich die verfassungsrechtliche Frage nach der Auslegung von Art. 111 Abs. 4 der Verfassung. Nach dieser Vorschrift ernennt der Präsident „nach dreimaliger Ablehnung der vorgeschlagenen Kandidaturen für den Vorsitzenden der Regierung“ den Vorsitzenden der Regierung, löst die Staatsduma auf und ordnet Neuwahlen an. Strittig war, ob der Präsident der Duma drei ______________
94 Angelika Nußberger, a. a.O. Fn. 54, S. 218 f. 95 Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 20.11.1995, SZ RF 1995, Nr. 49, Pos. 4867. 96 So führte das Gericht aus: „Die Wahl dieser oder einer anderen Variante und ihre Festlegung im Wahlgesetz hängt von konkreten sozialen und politischen Umständen ab und ist eine Frage der politischen Zweckmäßigkeit.“ Vgl. zum Problem der „political questions Theorie“ auch oben Fn. 56. 97 Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 20.11.1995, SZ RF 1995, Nr. 49, Pos. 4867.
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verschiedene Kandidaten vorschlagen müsse oder ob es auch ausreichend wäre, wenn er dreimal denselben Kandidaten vorschlüge. Das Verfassungsgericht stärkte die Position des Präsidenten und akzeptierte den dreimaligen Vorschlag desselben Kandidaten, obwohl dies dem Wortlaut98 und dem Sinn und Zweck der Regelung widerspricht. Das Recht der Duma, einen für ungeeignet gehaltenen Kandidaten abzulehnen, besteht damit nur mehr auf dem Papier, da die drohende Auflösung der Duma die Abgeordneten im Zweifelsfall dazu bewegen wird, den – einzigen – Vorschlag des Präsidenten zu akzeptieren.99 Damit ist das Ernennungsrecht der Duma nur mehr Formsache. Problematisch mit Blick auf die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit ist, dass die klassischen Auslegungsregeln des Rechts negiert wurden, um ein politisch gewolltes Ergebnis zu erreichen. Der Vorhersehbarkeit der auf der Grundlage des Rechts gewonnenen Ergebnisse war diese Entscheidung nicht dienlich. Zugleich wurden in dieser Zeit eine Reihe von Rechtsfragen zum Verhältnis Föderation/Subjekte vor dem Verfassungsgericht thematisiert. Die hier entwickelten Grundsätze haben auch große Bedeutung für das Verständnis des Gewaltenteilungsprinzips. Wegweisend war die Altaj-Entscheidung des Verfassungsgerichts, mit der die demokratischen Rechte der Bürger in den Subjekten der Russischen Föderation gestärkt wurden.100 Auch das Recht auf lokale Selbstverwaltung spielt in ______________
98 In der Bestimmung wird von den Kandidaten zum Amt des Vorsitzenden der Regierung im Plural und nicht im Singular gesprochen; allerdings sah das Gericht diesen offensichtlichen Einwand aufgrund einer von ihm in Auftrag gegebenen linguistischen Analyse als widerlegt und die Bestimmung als doppeldeutig an. 99 Vgl. die Entscheidung des Russischen Verfassungsgerichts vom 11.12.1998, SZ RF 1998, Nr. 52, Pos. 6447. 100 Entscheidung vom 18.1.1996, SZ RF 1996, Nr. 4, Pos. 409 (Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Reihe von Bestimmungen des Grundgesetzes des Altaj-Kreises); vgl. zu diesem Problemkreis auch die Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 10.12.1997 (SZ RF 1997, Nr. 51, Pos. 5877), in der das Verfassungsgericht ausführt, die Regelungen in den föderalen Subjekten zu den Kompetenzen des Legislativorgans müssten dem Prinzip der Gewaltenteilung entsprechen.
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dieser Zeit vor dem Verfassungsgericht immer wieder eine wichtige Rolle.101 c) Die Tschetschenien-Entscheidung Besonders strittig und rechtsstaatlich problematisch war in dieser Phase der Verfassungsgerichtsbarkeit die TschetschenienEntscheidung, bei der es um die juristische Bewertung der Rechtmäßigkeit eines unerbittlichen und grausamen Krieges ging. Die Tatsache, dass diese Frage vor ein Gericht gebracht wurde, spricht dafür, dass Rechtsstaatlichkeit ernst genommen wurde. Allerdings wird die Argumentation der Mehrheit des Gerichts nicht den Anforderungen gerecht, die an Entscheidungen in einem Rechtsstaat zu stellen sind. Der zentrale Streitpunkt in der Entscheidung war, ob die Dekrete und Verfügungen des Präsidenten Jelzin und der Regierung der R.F., auf deren Grundlage der Einsatz des Militärs in Tschetschenien beruhte, der russischen Verfassung von 1993 entsprachen. Nach der Verfassung muss für den Einsatz des Militärs entweder der Kriegs- oder der Ausnahmezustand erklärt werden; in beiden Fällen hat der Föderationsrat ein entsprechendes Dekret des Präsidenten zu bestätigen. Der Präsident aber umging den Föderationsrat und ordnete ohne Mitwirkung eines anderen Staatsorgans „die Entwaffnung der illegal bewaffneten Formierungen“ in Tschetschenien an. Die rechtliche Frage in der Verfassungsgerichtsentscheidung war nun, ob es neben dem explizit in der Verfassung geregelten Kriegs- und Ausnahmezustand noch ein Drittes geben könne, eine Situation, in der der Präsident ohne Zustimmung des Föderationsrats den Einsatz des Militärs verfügen kann. Damit stand wieder die Begrenzung der Macht der Exekutive auf dem Prüfstand. Das Gericht argumentierte mit einer pauschalen Verweisung auf sechs Verfassungsbestimmungen, die aber, wie auch in der KPdSU-Entscheidung, den Eingriff in die Grundrechte nicht deckten. Eine Auslegung der Normen erfolgte nicht, vielmehr ______________
101 Vgl. die Entscheidungen des Verfassungsgerichts vom 24.1.1997 (SZ RF 1997, Nr. 5, Pos. 708) und von 15.1.1998 (SZ RF 1998, Nr. 4, Pos. 532).
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ersetzten Behauptungen Argumente.102 Es drängt sich der Eindruck auf, dass vom Ergebnis her argumentiert wurde. Für den Bürger unterscheiden sich so die aus dem Recht abgeleiteten Entscheidungen kaum von allgemeinen Zweckmäßigkeitsentscheidungen. Allerdings ist eine ex-post-Verfassungswidrigerklärung eines kriegerischen Eingriffs nicht nur in Russland, sondern wohl überall mit Blick auf die Konsequenzen kaum vorstellbar. Immerhin hat das Verfassungsgericht verschiedene Formen der Grundrechtsbeschränkungen, etwa bei der Berichterstattung, für verfassungswidrig erklärt, die Einhaltung der Genfer Konventionen auch in innerstaatlichen Konflikten als geboten angesehen und das von den ordentlichen Gerichten zu gewährende Recht auf Schadensersatz einzelner Betroffener betont. Damit ist der erste Tschetschenienkrieg zumindest ansatzweise verrechtlicht worden.
4. Ohnmacht des Verfassungsgerichts im starken Staat – die Entwicklung seit 2000 Auf die 90er Jahre mit ihrer Experimentierfreudigkeit, Unberechenbarkeit, Offenheit, Streitfreudigkeit, mit ihrem Ausloten der Extreme folgte eine nüchtern-pragmatische Rückorientierung auf einen „russischen Weg“, der unter dem Zeichen von Stabilitätssuche und Autoritätsgläubigkeit unverkennbar zu einer umfassenden Rezentralisierung der Macht und Verstaatlichung der Zivilgesellschaft führte. Die verlorenen Grenzen – insbesondere im Verhältnis Staat/Individuum – wurden wieder neu eingezeichnet, das aus dem Lot geratene Gesamtgefüge neu justiert.103 Dabei stellt die Verfassungsgerichtsbarkeit als Institution einen Fremdkörper dar. Hatte zu Beginn der 90er Jahr das Verfassungsgericht den Willen, erfolgreiche Modelle aus dem Ausland ______________
102 Ausführlich zu den Einzelheiten der Argumentation, Nußberger, a. a.O. Fn. 39, S. 42 ff. 103 Zu den neuen Wertsetzungen vgl. Rainer Lindner, Peter und Putin, FAZ vom 15.7.2006, S. 8; Mommsen/Nußberger, a. a.O. Fn. 7, S. 9 ff.
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zu übernehmen, vorgeführt, so fehlt nunmehr aufgrund der im offiziellen Leben dominierenden Besinnung auf russische Traditionen und Werte dafür die Voraussetzung, auch wenn das Gericht von den Bürgern nach wie vor Zuspruch erfährt. Zunehmend treten Kompetenzkonflikte zwischen dem Arbitragegericht, dem Obersten Gericht und dem Verfassungsgericht zu Tage.104 Gravierender noch ist, dass kein allumfassender Konsens mehr darüber besteht, den Einzelnen gegenüber dem Staat zu schützen und Macht durch Recht zu begrenzen.105 Als Maxime setzt sich vielmehr mehr und mehr der „starke Staat“ durch.106 So zeigen die Entscheidungen des Russischen Verfassungsgerichts seit dem Jahr 2000 zumindest teilweise, dass in den 90er Jahren vertretene Positionen umgekehrt und Argumente für eine weitere Ausweitung der Macht der Exekutive gesucht werden. Da die Institutionen Duma, Föderationsrat, Regierung und auch die Republiken weitgehend gleichgeschaltet sind, werden politisch und gesellschaftlich wichtige Fragen nicht mehr von den Teilnehmern des politischen Prozesses, sondern, wenn überhaupt, nur mehr von einzelnen Bürgern oder Bürgervereinigungen dem Verfassungsgericht zur Entscheidung unterbreitet. Wie der Rechtsstaat, so wird auch das Verfassungsgericht zur Nebensache. Dieser Prozess kulminiert in der ______________
104 Vgl. z. B. die vom Obersten Gericht favorisierte, vom Arbitragegericht aber abgelehnte Einführung einer eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit; vgl. Beschluss des Plenums des obersten Gerichtshofs vom 19.9.2000, Nr. 29, nicht veröffentlicht, abrufbar im System Garant. 105 Vgl. zu der Auseinandersetzung mit den Ideen der „neuen Slawophilen“ in Russland, die dem Individualismus und materiellen Streben des Westens die „sobornost’“ gegenüberstellen, die keinen Gesellschaftsvertrag und kein System von Begrenzung und Ausgleich brauche und die damit die Idee der Menschenrechte auf Russland für nicht übertragbar halten bei Sergej Kowaljow, War Isaac Newton ein Westler? Russlands Weg zur Geltung der Menschenrechte, in: Deutsches Institut für Menscherechte, Russland auf dem Weg zum Rechtsstaat? Antworten aus der Zivilgesellschaft, Berlin 2003, S. 42 ff. 106 Vgl. Angelika Nußberger, Der „starke Staat“ als grundlegende Idee der russischen Verfassungsrechtsprechung (russisch), Sravnitel’noe Konstitucionnoe Obozrenie, Nr. 1 (54), 2006, S. 154–160.
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vom Apparat des Präsidenten initiierten Entscheidung, den Sitz des Verfassungsgerichts von Moskau nach Petersburg zu verlegen.107 Dabei finden sich zu Beginn der Präsidentschaft Putins noch eine Reihe von ausgewogenen Entscheidungen im Grundrechtsbereich. Zugleich aber gibt es auch Entscheidungen, mit denen liberale Positionen des Gerichts – etwa mit Blick auf die Stellung des Angeklagten im Strafprozess – korrigiert und rechtsstaatliche Reformen zurückgenommen werden. Der absolute Tiefpunkt wird mit der Gouverneursentscheidung erreicht. Die Verfassungsgerichtsbarkeit hat der politischen Grundtendenz, die liberalen Werte einem abwehrbereiten Staat unterzuordnen, nichts entgegenzusetzen. a) Entscheidungen zum Verhältnis zwischen Zentrum und Republiken aa) Entscheidungen zu grundlegenden Reformen Nach dem Machtantritt Putins vollzog sich auf der politischen Ebene eine Wende, mit der die Zentralisierung der Macht gestärkt und insbesondere die vertikale Gewaltenteilung zwischen Zentrum und Subjekten geschwächt wurde. So wurden die damals 89 Subjekte der Russischen Föderation sieben föderalen Distrikten zugeordnet, die Vertretern des Präsidenten unterstanden108. Die Duma erließ am 19.7.2000 ein Gesetz, nach dem nicht mehr die durch unmittelbare Volkswahl legitimierten und daher sehr mächtigen höchsten Vertreter der Exekutive in den Regionen und die Vorsitzenden der regionalen Parlamente die föderalen Subjekte im Föderationsrat vertraten, sondern ihre Stelle weisungsgebundene ständige Delegierte einnah-
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107 Gesetz vom 5.2.2007, N2-FKZ, Rossijskaja Gazeta (RG) 2007, Nr. 28 vom 9.2.2007. 108 Vgl. A. Heinemann-Grüder, Putins Reform der föderalen Strukturen. Vom Nachtwächterstaat zum Etatismus, Osteuropa 2000, S. 979–990, Mommsen a. a.O. Fn. 58, S. 106 ff.
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men.109 Damit wurde die Rolle des Föderationsrats als selbstständiges und vor allem der föderalen Exekutive gegenüber selbstbewusst auftretendes Kontrollgremium stark eingeschränkt.110 Außerdem wurde gegen den Willen des Föderationsrats ein Gesetz durchgesetzt, das dem Präsidenten die Kompetenz zuerkannte, die Regionalchefs zu entlassen, wenn sie Entscheidungen getroffen hatten, die die Verfassung der R.F. oder die föderalen Gesetze verletzten, wenn sie sich weigerten, föderale Gesetze oder Gerichtsentscheidungen zu implementieren oder wenn sie einer Straftat überführt worden waren.111 Damit waren die Kontrollbefugnisse des Präsidenten gegenüber der Exekutive in den Regionen sehr stark ausgeweitet worden, wohl als Reaktion auf die Situation, dass sich die Exekutivchefs mehr oder weniger als kleine Zaren in ihren Reichen gefühlt hatten und damit die Gefahr eines Zerfallsprozesses im Rahmen der Russischen Föderation – ähnlich dem Zerfallsprozess der Sowjetunion – bestand.112 Außerdem war offensichtlich, dass die Spielregeln der Demokratie in einer Vielzahl von Föde-
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109 Gesetz vom 29.7.2000 „Über Änderungen und Ergänzungen des föderalen Gesetzes ‚Über die allgemeinen Prinzipien der Organisation der gesetzgebenden (repräsentativen) und ausführenden Organe der staatliche Macht in den Subjekten der R.F.‘“, SZ RF 2000, Nr. 31, Pos. 3205. 110 Vgl. Suren Awakjan, Struktur und Funktion des Föderationsrats im Wandel von El’cin zu Putin, in: Georg Brunner, Der russische Föderalismus. Bilanz eines Jahrzehnts, Münster 2004, S. 127 ff.; Angelika Nussberger, Fiktion Rechtsstaat. Zur aktuellen Entwicklung in Russland, in: Höhmann/Pleines/Schröder, (Hrsg.), Nur ein Ölboom? Bestimmungsfaktoren und Perspektiven der russischen Wirtschaftsentwicklung, Münster 2005, S. 211–225, S. 218 ff. 111 Gesetz vom 5.8.2000 „Über das Verfahren der Bildung des Föderationsrats der R.F:“ SZ RF 2000, Nr. 32, Pos. 3336. 112 Vgl. Otto Luchterhandt, Der Ausbau der föderalen Vertikale unter Putin: Das Ende der Dezentralisierung?, in: Georg Brunner (Hrsg.), Der russische Föderalismus. Bilanz eines Jahrzehnts, Münster 2004, S. 241 ff.
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rationssubjekten nicht befolgt wurden oder nicht funktionierten.113 Das Verfassungsgericht wurde im Jahr 2002 mit der Aufgabe konfrontiert, einen wichtigen Schritt dieser Entwicklung, die Gesetzesänderung vom 8.2.2001,114 auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung zu untersuchen. Gegen den Widerstand von vier Richtern, die Sondermeinungen zu der verfassungsrechtlichen Problematik verfassten, sah das Verfassungsgericht die auf eine Zentralisierung der Macht abzielenden Reformen als verfassungsgemäß an.115 Allerdings betonte es, dass Gouverneure nicht nur deshalb, weil sie nicht mehr das Vertrauen genießen, von ihrer Pflicht entbunden werden können. Das Gericht hielt es vielmehr als Voraussetzung für eine Absetzung für notwendig, dass die föderale Verfassung oder föderale Gesetze durch nicht konforme Gesetze des jeweiligen Förderationssubjekts verletzt würden und dies durch das Verfassungsgericht mit Blick auf die Verfassungswidrigkeit und durch die ordentlichen Gerichte mit Blick auf die Nicht-Beseitigung der gerügten Akte bestätigt würde.
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113 Vgl. die anschauliche Sachverhaltsdarstellung in der Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 25.1.2000 (Cherepkov v. Russische Föderation Beschwerde Nr. 51501/99); offensichtlich wurden die Wahlen zum Kommunalrat von Vladivostok von 1994 bis 1996 mehrfach festgelegt und wieder verschoben, 1997, 1998 und 1999 durchgeführt, aber jeweils für ungültig erklärt. 114 Gesetz vom 8.2.2001, SZ RF 2001, Nr. 7, Pos. 608 „Über die allgemeinen Prinzipien der Organisation der gesetzgebenden (repräsentativen) und ausführenden Organe der staatlichen Macht der Subjekte der Russischen Föderation.“ 115 Entscheidung des Russischen Verfassungsgerichts vom 4.4.2002, VKS 2002 Nr. 5, S. 3–37 (Verfassungsmäßigkeit einzelner Bestimmungen des Föderalen Gesetzes „Über die allgemeinen Prinzipien der Organisation der gesetzgebenden (repräsentativen) Organe der staatlichen Macht der Subjekte der R.F.“ im Zusammenhang mit einem Antrag der staatlichen Versammlung von Tjumen, der Republik Sacha (Jakutien) und dem Rat der Republik Adygeja).
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bb) Die Gouverneursentscheidung Bei der Gouverneursentscheidung116 ging es um die verfassungsrechtliche Beurteilung einer vom Präsidenten initiierten und von der Legislative per Gesetz durchgesetzten Grundentscheidung zur Umgestaltung der Machtstrukturen im Staat. Sie stellte eine Lackmusprobe für die Gewaltenteilung nicht nur mit Blick auf das Kräfteverhältnis zwischen Republiken und Zentrum, sondern auch mit Blick auf die Stellung der Judikative im Vergleich zur Exekutive dar. Die Presseberichte in den letzten Wochen und Tagen vor der Entscheidung sowie die Kommentare zu den Interviews des alten und neuen Verfassungsgerichtspräsidenten Zorkin lassen vermuten, dass hinter den Kulissen viel diskutiert und gestritten wurde. Auch fiel die Diskussion über die Verlegung des Gerichts nach Petersburg wohl nicht zufällig in diese Zeit. – Mit dem überaus deutlichen Votum, mit dem das Gericht die von der Verfassung nicht gedeckte Position unterstützte, anerkannte das Gericht nicht nur den Primat der Politik gegenüber dem Recht, sondern – mit Blick auf die rechtsstaatliche Entwicklung noch fataler – die Beliebigkeit rechtlicher Interpretation. Die Bitterkeit, mit der der Richter Kononov in seiner „abweichenden Meinung“ zu der Entscheidung Stellung nimmt, spricht Bände: „Die Argumentation des Verfassungsgerichts, wenn man sie überhaupt als solche bezeichnen kann, verändert die allgemein anerkannten Vorstellungen über den Vorrang der Verfassung, ihre Beziehungen zur Gesetzgebung, die Grenzen der Auslegung und die Rechtspositionen des Verfassungsgerichts, die sich mit dem Zeitgeist frei ändern können, vollständig. Von diesem Gesichtspunkt aus kann man natürlich alles nach Belieben rechtfertigen, aber das wird immer außerhalb des Rechts sein.“117 ______________
116 Entscheidung des Russischen Verfassungsgerichts vom 21.12.2005, SZ RF 2006, Nr. 3, Pos. 336. 117 VKS 2006 Nr. 1, S. 69. Vgl. zu den Sondervoten zur Gouverneursentscheidung auch Angelika Nußberger, Wer zitiert wen? – Zur Funktion von Zitaten bei der Herausbildung gemeineuropäischen Verfassungsrechts, JZ 2006, S. 763–770.
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In der Sache ging es bei der Entscheidung darum, dass die Gouverneure in den Subjekten der Russischen Föderation nicht mehr wie bisher von den Bürgern gewählt, sondern vom Präsidenten vorgeschlagen und von der Volksvertretung des jeweiligen Subjekts durch Wahl bestätigt werden sollten. Offiziell wurde diese Änderung als Maßnahme gegen den Terror ausgeflaggt. Nach einer dreimaligen Ablehnung des vom Präsidenten vorgeschlagenen Kandidaten hat dieser das Recht, die Volksvertretung aufzulösen. Der an keinem objektiven Kriterium zu messende „Verlust des Vertrauens des Präsidenten“ wurde – gerade entgegengesetzt zu den vom Verfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 4.4.2002 erarbeiteten Vorgaben118 – nach dem neuen Gesetz bereits als ein Grund zur Abberufung angesehen. Die Idee des neuen Gesetzes war, der – bis dahin mächtigen – Exekutive in den ethnisch, kulturell, sozial und wirtschaftlich sehr unterschiedlichen Förderationssubjekten den demokratischen Rückhalt bei der Bevölkerung zu entziehen und damit die Macht des Zentrums zu stärken. Die verfassungsrechtliche Frage war, ob die Neuregelung mit dem Demokratieprinzip, mit dem Gewaltenteilungsprinzip und mit dem Grundrecht auf Teilnahme an Wahlen vereinbar wäre. Nun ist es zwar, wie in einer Vielzahl von Diskussionen betont wurde, richtig, dass die russische Verfassung kein explizites Verbot einer derartigen Kompetenzübertragung enthält. Allerdings kann nicht alles, was nach der russischen Verfassung nicht verboten ist, erlaubt sein; dies wäre ein positivistisches Missverständnis. Vielmehr ist hier nach Sinn und Zweck des in der Verfassung niedergelegten Modells von horizontaler und vertikaler Gewaltenteilung zu fragen. Nach der Russischen Verfassung ist der Föderationsrat als eines der wesentlichen Kontrollgremien vorgesehen, das eine Vielzahl von Kompetenzen bei der Ernennung wichtiger Funktionsträger ebenso wie im Bereich der Gesetzgebung wahrnimmt. Damit bildet er ein wesentliches Gegengewicht zu dem mit umfassenden Befugnissen ausgestatteten Präsidenten. Soll dieses System im Sinne der Gewaltenteilungsidee eine Begrenzung der Macht durch gegenseitige ______________
118 A. a.O. Fn. 115.
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Kontrolle ermöglichen, so ist es unverzichtbar, dass die Mitglieder des Föderationsrates dem Präsidenten gegenüber eigenständig sind. Und gerade hier wird das System nunmehr entscheidend gestört. Hat der Präsident gegenüber den Legislativorganen in den föderalen Subjekten das Recht, den von ihm ausgewählten Kandidaten für das Amt des Gouverneurs in jedem Fall durchzusetzen, und kann er ihn zudem noch ohne Begründung abberufen, so entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Mitgliedern des Föderationsrates und dem Präsidenten, das von der Verfassung gerade nicht gewollt ist. Dies ist evident; das Verfassungsgericht sperrt sich dieser Erkenntnis mutwillig.119 Fatal war die Entscheidung des Verfassungsgerichts aber nicht nur wegen der im Ergebnis falschen Auslegung der Verfassung, sondern noch mehr wegen der Relativierung des Werts der Verfassung als solcher. Nach Ansicht des Gerichts sind nicht die Gesetze an der Verfassung zu messen, vielmehr ist die Verfassung im Lichte der jeweils geltenden Gesetzgebung auszulegen. Mit diesem Ausspruch gibt das Gericht seinen Anspruch, der Legislative gegenüber unabhängige Kontrollinstanz zu sein, auf. Zwar ist es richtig, dass Verfassungsrechtsprechung nicht bestimmte Positionen ohne Rücksicht auf die Rechtswirklichkeit zementieren darf und damit unter Umständen eine Korrektur einer bestimmten Auslegung der Verfassung möglich sein muss. Sieht man aber die Verfassungsauslegung als Reflektion der Gesetzgebung an, wird die Interpretation der Verfassung beliebig, ist die Grenze des Rechts- und Verfassungsstaats erreicht.120 ______________
119 Explizit verweist das Gericht darauf, dass es bei einer Beschwerde von Bürgern nicht den gesamten Rechtsakt, sondern nur die potentielle Rechtsverletzung der Bürger überprüfen könne. Damit könne es nur die Einschränkung des Wahlrechts in den Blick nehmen. Diskutiert man aber über das Gewaltenteilungsproblem, ist es nicht möglich, relevante Aspekte auszublenden; vielmehr ist dann die Regelung – auch mit Blick auf die mögliche Verletzung des Wahlrechts – als Ganze zu untersuchen. 120 Vgl. Ausführlich zu der Entscheidung Nußberger, a. a.O. Fn. 54, S. 222 ff.
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b) Entscheidungen zu Grundrechtsverstößen Die Entscheidungen des Russischen Verfassungsgerichts zu Grundrechtsverstößen seit 2000 zeigen ein in sich uneinheitliches Bild auf. Nur wenige Fragen, die die Gemüter bewegen, werden vor Gericht verhandelt. Beispielsweise wird das kontroverse neue Bodenrecht, das Ausländern die Möglichkeit eröffnet, Eigentum an Grund und Boden in der Russischen Föderation zu erwerben, für verfassungskonform erklärt und die dagegen gerichtete Beschwerde der Duma des Gebiets Murmansk, die sich vor allem darauf stützt, mit der neuen gesetzlichen Regelung werde die Souveränität des russischen Staates verletzt, abgewiesen.121 Spektakulär war die Beschwerde der Opfer des Geiseldramas im Musical-Theater Nordost. Sie hatten geltend gemacht, durch die Abweisung ihrer gegen den Staat gerichteten Klagen auf Schmerzensgeld würden sie in ihren Grundrechten auf Gesundheit, Leben und auf Wiedergutmachung im Fall von Amtsmissbrauch und Straftaten122 verletzt. Die Kläger begründeten ihre Ansprüche auf ein über die Pauschalabfindung hinausgehendes Schmerzensgeld insbesondere auch mit dem Fehlverhalten der Behörden bei der für viele tödlich verlaufenen Befreiungsaktion der Geiseln. Das Verfassungsgericht war aber hier in seiner Entscheidungskompetenz eingeschränkt; mit der Frage der Rechtmäßigkeit der Handlung der Behörden konnte es sich nicht auseinandersetzen. Es war lediglich befugt, die Verfassungsmäßigkeit der entsprechenden Vorschrift des Gesetzes „Über den Kampf mit dem Terrorismus“ festzustellen, und diese fand es unangreifbar. Schmerzensgeld, so meinte das Verfassungsgericht, könne nur gegen die Täter selbst, nicht aber gegen den Staat, der nur aus sozialstaatlichen Gesichtspunkten einen Aus______________
121 Entscheidung des Russischen Verfassungsgerichts vom 23.4.2004, SZ RF 2004, Nr. 18, Pos. 1833. 122 Vgl. Art. 52 Russische Verfassung: „Die Rechte der durch Straftaten und Missbrauch im Amt Geschädigten werden durch das Gesetz geschützt. Der Staat gewährleistet den Geschädigten den Zugang zur Rechtsprechung und Kompensation des zugefügten Schadens.“
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gleich zu schaffen verpflichtet sei, gefordert werden. Die konkreten untergerichtlichen Entscheidungen, die eine (Mit)schuld der Behörden verneinten, konnte das Gericht nicht überprüfen. Eine Massenerscheinung des Alltagslebens in Russland betraf die Beschwerde der Jenborisova Praskovja, die geltend machte, sie werde in ihrer Menschenwürde verletzt, da die Rente, die sie aufgrund eines langjährigen Arbeitslebens erhalte, nicht zum Leben ausreiche. Das Gericht bejahte zwar grundsätzlich die Möglichkeit einer Rechtsverletzung durch den Staat, vermag er die existentiellen Grundbedürfnisse der alten Bürger nicht zufrieden zu stellen. Das Gericht war aber der Ansicht, nicht nur die Finanzleistungen in Form einer Rente, sondern auch die sonstigen staatlichen Leistungen etwa bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel seien mit dem Existenzminimum zu vergleichen. Aufgrund dieser Überlegungen konnte das Gericht im konkreten Fall keine Grundrechtsverletzung feststellen.123 Entscheidungen zum Strafprozessrecht fielen auch nach Inkrafttreten der neuen Strafprozessordnung statistisch ins Gewicht. In mehreren Verfahren ging es aber nun nicht mehr, wie bisher, um den Schutz der Rechte des Angeklagten. Vielmehr wurde es für notwendig befunden, die Rechte der Opfer von Straftaten zu stärken. Ein vergleichbarer Ansatz des Opferschutzes ist etwa vom interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte bekannt, wenn er ein Recht der Angehörigen der Opfer „auf Wahrheit“ einfordert, insbesondere wenn politische Verbrechen nicht aufgeklärt werden. Allerdings gibt es kein Grundrecht auf Genugtuung, kein Grundrecht auf Rache.124 Dem Nebenkläger kommt ein Recht auf ein faires Verfahren zu; auch er muss vor Gericht gehört werden, hat aber keinen Anspruch auf Verurteilung des Täters. Einen Strafanspruch hat der Staat; dieser ist aber nicht grundrechtlich abgesichert. Gerade dies wurde aber ______________
123 Beschluss vom 15.2.2005, VKS RF 2005, Nr. 5, S. 13 (Verfassungsbeschwerde der Bürgerin Jenborisova Praskovja Fedorovna über die Verletzung ihrer verfassungsmäßigen Rechte durch Art. 14 Punkt 8 des föderalen Gesetzes „Über die Arbeitsrenten in der R.F.“). 124 Vgl. Andrew Ashworth, The criminal process: an evaluative study, 2. Auflage, Oxford 1998, S. 34.
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implizit vom Russischen Verfassungsgericht postuliert, indem es in mehreren Entscheidungen Bestimmungen der neuen Strafprozessordnung, die dem Schutz der Angeklagten zu dienen bestimmt waren, für verfassungswidrig erklärte, um wieder eine „gerechte Balance zwischen den Rechten von Täter und Opfer“ herzustellen. Dies bedeutete häufig eine Rücknahme der rechtsstaatlichen Reformen und eine Rückführung zu den Regelungen der Sowjetzeit. So wurde etwa die Vorschrift aufgehoben, dass ein rechtskräftiges mildes Urteil oder ein Freispruch nicht zu Lasten des Betroffenen aufgrund eines Protestverfahrens aufgehoben werden kann.125 Innerhalb von einem Jahr nach Rechtskraft eines Urteils kann nunmehr ein Staatsanwalt auf Antrag eines Betroffenen oder auch aus eigenem Ermessen ein Verfahren wieder aufgreifen, ohne dass – wie etwa beim Wiederaufnahmeverfahren – die Erkenntnis neuer Umstände Voraussetzung wäre; es muss lediglich ein schwerer Verfahrensfehler postuliert werden.126 Auch die Rückgabe der Akten vom Gericht an die Staatsanwaltschaft, die berüchtigte „dosledovanie“ (Fortsetzung der Untersuchung), die zu endlosen Verfahren vor Eröffnung der Hauptverhandlung in Form eines Ping-Pong Spiels zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht führen kann, wurde vom Verfassungsgericht wieder zugelassen;127 damit ist das von der neuen Strafprozessordnung intendierte Gleichgewicht zwischen Anklage und Verteidigung erneut gestört. Für die Annahme, der Beschuldigte habe die Tat nicht begangen, besteht wiederum ein erhöhter Rechtfertigungsdruck – gerade dagegen war das Verfassungsgericht in den späten 90er Jahren angetreten.128 Aber mehrere Gerichte hatten in dieser Sache einen Normenkontrollantrag gestellt, Opfer von Straftaten und Hinterbliebene hatten Verfassungsbeschwerde eingelegt, weil sie der Meinung waren, aufgrund der neuen Regelungen, die eine Rückverweisung auch bei Fehlern der Staatsanwaltschaft ausschloss, wären Straftäter ihrer gerechten ______________
125 126 127 128
Urteil vom 11.5.2005, SZ RF 2005, Nr. 22, S. 2194. Vgl. zu dieser Besonderheit des russischen Prozessrechts unten S. 55 ff. Entscheidung vom 8.12.2003, SZ RF 2003, Nr. 51, Pos. 5026. Vgl. die Entscheidungen oben S. 27 ff.
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Bestrafung entgangen.129 All diese Regelungen spiegeln aufgrund eines grundsätzlichen Misstrauens gegenüber der Staatsanwaltschaft und den Gerichten den Versuch, auch zu Lasten des Angeklagten Entscheidungen „offen“ und damit erneuten Überprüfungen zugänglich zu halten. Bemerkenswert ist auch, dass das Verfassungsgericht mit diesen Entscheidungen – wie auch im Staatsorganisationsrecht mit der Gouverneurs-Entscheidung – neue Akzente setzt. Im Jahr 1999 hatten die Antragsteller geltend gemacht, die Rückverweisung einer Strafsache an die Staatsanwaltschaft auf Initiative des Gerichts sei mit einem fairen Verfahren nicht vereinbar. Das Verfassungsgericht hatte sich dieser Ansicht angeschlossen und die Normen der alten Strafprozessordnung aufgrund dessen für verfassungswidrig erklärt.130 Auch die Frage eines Protestverfahrens nach einem Freispruch war bereits einmal Gegenstand einer Verfassungsgerichtsentscheidung gewesen.131 Damals hatte das Verfassungsgericht die nicht den Anforderungen von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 EMRK entsprechende Möglichkeit der Aufhebung – und damit verbunden der reformatio in peius – von rechtskräftigen Strafurteilen für verfassungswidrig erklärt. Nunmehr aber ging dem Verfassungsgericht die liberale Neuregelung des Gesetzgebers zu weit, so dass es eine in die entgegengesetzte Richtung gehende Korrektur für nötig hielt.
5. Das russische Verfassungsgericht in der Rolle eines untergeordneten Nebendarstellers Die Rolle des Russischen Verfassungsgerichts in den fünfzehn Jahren von 1991 bis 2006 hat sich sehr gewandelt. Hatte man zu ______________
129 Für verfassungswidrig erklärt wurde Art. 246 Abs. 9 StPO, der folgenden Wortlaut hatte: „Die Überprüfung von Anordnungen und Beschlüssen des Gerichts über die Einstellung eines Strafverfahrens mit Blick auf die Weigerung des staatlichen Anklägers Anklage zu erheben ist nur dann zulässig, wenn neue oder neue entdeckte Umstände im Zusammenhang mit Art. 49 StPO aufgetaucht sind.“ 130 Entscheidung vom 20.4.1999, SZ RF 1999, Nr. 17, Pos. 2205. 131 Vgl. Entscheidung vom 17.7.2002, SZ RF 2002, Nr. 31, Pos. 3160.
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Beginn der Tätigkeit große Hoffnungen auf diese neue Institution gesetzt, so war die anfängliche Euphorie angesichts der parteiischen politischen Stellungnahmen des Gerichts in der Verfassungskrise von 1993 schnell verflogen. Dennoch bekam das Gericht in den ersten Jahren Gelegenheit, sich zu einer Vielzahl hochbrisanter Fragen sowohl im Grundrechtsbereich wie auch im Staatsorganisationsrecht zu äußern. Insbesondere in der Jelzinzeit war es als Machtfaktor spürbar und stellte ein wichtiges Instrument in den Händen der Opposition dar. Der zunehmenden Zentralisierung der Macht setzte es sich allerdings nicht entgegen. Da mit der Gleichschaltung der politischen Spieler in den Institutionen Duma und Föderationsrat sowie auch in den Föderationssubjekten zunehmend die Antragsteller aus dem politischen Bereich, die strittige Fragen im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens vor das Gericht hätten bringen können, fehlten und die Möglichkeit, über Grundrechtsbeschwerden auf das politische Geschehen Einfluss zu nehmen, marginal ist, verlor das Gericht zunehmend seine politische Bedeutung, auch wenn es für den Rechtsschutz der Bürger weiterhin eine gewisse – im Vergleich zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aber eher untergeordnete – Rolle spielen mag. Wie die Gouverneursentscheidung zeigt, lässt das Gericht aber nicht nur die Entscheidungen der Exekutive bestehen, sondern interpretiert die Verfassung im vorauseilenden Gehorsam als einen Maßstab, der sich der jeweils geltenden Gesetzgebung anpassen kann. Damit ist auch nicht zu erwarten, dass das Gericht bei den 2006 verabschiedeten, äußerst problematischen Reformgesetzen zum Extremismus132 und zu den Non-Governmental Organisations133 die rechtsstaatliche Notbremse ziehen wird. ______________
132 Otto Luchterhandt, „Das neue Terrorbekämpfungsgesetz Russlands vom 10. März 2006“, WGO 2006, S. 106 ff.; Carmen Schmidt, „Der Journalist, ein potentieller „Extremist“ – der russische Extremismusbegriff seit Juli 2006“, OER 2006, Nr. 5–6, S. 409–415. 133 Angelika Nußberger/Carmen Schmidt, Zensur der Zivilgesellschaft. Die umstrittene Neuregelung zu den Non-Governmental Organisations in Russland, EuGRZ 2007, S. 12 ff.
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Konnte das Verfassungsgericht aber dennoch auf den Reformprozess und damit das Rechtssystem seit den 90er Jahren einen gewissen Einfluss ausüben, so gilt dies nicht für die Rechtswirklichkeit. Zwar prüft das Gericht in Verfassungsbeschwerdeverfahren die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, „welches in einem konkreten Verfahren angewendet wurde oder zur Anwendung kommen soll“ (Art. 125 Abs. 4 der Verfassung). Allerdings geht es – im Gegensatz zur Verfassungsbeschwerde nach deutschem Recht – nicht darum, die Anwendung der Normen im konkreten Fall zu kontrollieren; vielmehr handelt es sich um eine Art konkrete Normenkontrolle.134 Das bedeutet, dass die Anwendung des Rechts außerhalb des Gesichtskreises des Verfassungsgerichts bleibt. Damit ist es als Instrument, um die viel beklagte Kluft zwischen Recht und Wirklichkeit zu überbrücken, bereits vom Ansatz her ungeeignet. Die russischen Verfassungsgerichtsentscheidungen sind so ein Zerrspiegel, der an den Rändern manches richtig abbildet, aber das wirklich Abstoßende, das etwa in den Beschwerden der Bürger an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Tage kommt, nicht sieht, und nach der Grundkonzeption auch nicht sehen kann. Ob auch die Kontrolle der Rechtsanwendung durch die Gerichte die Aufgabe eines Verfassungsgerichts ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Kann das Gericht die Rechtsanwendung im Einzelfall überprüfen, ist der Vorwurf, eine „Superrevisionsinstanz“ zu sein, nicht fern. Kann das Gericht aber bei Grundfragen zu Staat und Recht den anderen Gewalten nicht (mehr) die Stirn bieten, wie die Gouverneursentscheidung gezeigt hat, und kann es bei Grundrechtsverletzungen nur an der Spitze des Eisbergs Unebenheiten abtragen, so befindet es sich in einer marginalisierten Stellung, die seiner eigentlichen Berufung als auf dem Recht beruhende Kontrollinstanz nicht entspricht. Die Verfahren des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nehmen dagegen auch die Rechtswirklichkeit in den Blick. Denn hier kann jeder Einzelne mit dem Vortrag, seine in ______________
134 G. Brunner, Der Zugang des Einzelnen zur Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Raum, JöR, Neue Folge/Band 50, 2002, S. 224 ff.
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der Europäischen Konvention für Menschenrechte garantierten Rechte seien verletzt worden, eine Beschwerde erheben. Damit kann nicht nur der Wortlaut der Rechtsnormen, sondern auch ihre Anwendung durch Behörden und Gerichte mit Blick auf mögliche Menschenrechtsverletzungen untersucht werden. Allerdings ist auch hier, wie beim Verfassungsgericht, die Grenze zwischen Recht und Politik manches Mal schwer zu bestimmen. Dies spiegeln nicht nur die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Russland, sondern auch die sowohl in der russischen wissenschaftlichen Literatur wie in der Presse geäußerten kontroversen Stellungnahmen zu Nutzen und Schaden des Gerichtshofs für die Rechtsentwicklung in Russland.
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IV. Die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in Russland im Spiegel der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 1. Die Aufnahme Russlands in den Europarat – Hoffnungen und Wünsche Die Hinwendung Russlands zum Europarat geht bereits auf Gorbatschow zurück, der in seinem Konzept vom „gemeinsamen Haus Europas“ den Europarat als ein Element erwähnt.135 Jelzin verfolgte diese Politik der Öffnung nach Westen weiter. Von einer Mitgliedschaft im Europarat erhoffte sich Russland eine Unterstützung bei der Reform der nationalen Gesetzgebung und eine Stärkung der Demokratie. Das Interesse des Europarats war darauf gerichtet, den Transformationsprozess in Russland zu stabilisieren. Trotz negativer Stellungnahmen von Experten zu der Frage, ob Russland die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft erfülle136 und trotz der vom Europarat kritisierten Fortführung des Tschetschenienkrieges wurde Russland am 28.2.1996 Mitglied des Europarats; es war eine politisch motivierte und von vielen nicht gutgeheißene Entscheidung. Zwar musste sich Russland zu einer Reihe von Zusagen verpflichten.137 Allerdings fehlte ein Mechanismus, der die NichtErfüllung dieser Pflichten hätte effektiv sanktionieren können. So hat Russland etwa bis heute nicht die Verpflichtung einge______________
135 Christine D. Althauser, Rußlands Weg in den Europarat, Heidelberg 1997, S. 28. 136 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Doc. AS/Bur/Russia (1994) 7 of 28 September 1994, Report on the conformity of the legal order of the Russian Federation with Council of Europe standards, prepared by Rudolf Bernhardt, Stefan Trechsel, Albert Weitzel and Felix Ermacora, abgedruckt in: HRLJ 1994, Vol. 15, No. 7, S. 251; Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Doc. 7443 – 2 January 1996, Report of the Political Affairs Committee, Report on Russia’s request for membership of the Council of Europe, rapporteur: Ernst Muehlemann, abgedruckt in: HRLJ 1996, Vol. 17, No. 3–6, S. 187–194. 137 Vgl. HRLJ 1996, Vol 17, No. 3–6, S. 201 ff.
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löst, Protokoll Nr. 6 zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe zu ratifizieren und ins innerstaatliche Recht zu implementieren.138 Aufgrund des zweiten Tschetschenienkrieges sowie der schlechten Zusammenarbeit sowohl bei der Untersuchung von vor den Gerichtshof gebrachten Fällen als auch bei der Implementierung der Urteile hat sich die Beziehung zwischen Russland und dem Europarat weiter verschlechtert.139
2. Die ersten Verurteilungen Russlands durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte a) Der Fall Burdov – eine Anklage gegen das Vollstreckungssystem Der erste vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2002 gegen Russland entschiedene Fall betraf das Recht auf faires Verfahren nach Art. 6 EMRK.140 Der Antragsteller war aufgrund eines Einsatzes nach dem atomaren Störfall in Tschernobyl Invalide und hatte vom Gericht eine Invalidenrente zugesprochen bekommen. Diese wurde aber trotz des rechtskräftigen Urteils über Jahre hin nicht ausgezahlt. Die Behörden beriefen sich darauf, dass kein Geld zur Begleichung der Schuld vorhanden sei. Der Straßburger Gerichtshof befand, dass ein faires Verfahren nicht mit dem Urteilsspruch beendet sei, sondern erst dann, wenn die Forderung des Klägers auch tatsächlich erfüllt wäre. So wertete der Gerichtshof auch die Nicht-Vollstreckung eines Urteils durch die staatlichen Behörden als Verstoß gegen das Gebot des fairen Verfahrens. Diese Entscheidung, die von russischer Seite als grundsätzlich richtig und sinnvoll anerkannt wurde, löste eine Flut von Beschwerden nicht nur aus Russland, sondern auch aus anderen ______________
138 Nußberger/Marenkov, a. a.O. Fn. 79, S. 9–20. 139 Council of Europe, Parliamentary Assembly, Honouring of obligations and commitments by the Russian Federation, Doc. 10568, 3. June 2005, http://assembly.coe.int/Documents/WorkingDocs/Doc05/EDOC10568. htm (letzter Zugriff: 20.5.2007). 140 Burdov v. Russische Föderation (Beschwerde Nr. 59498/00), Urteil vom 7.5.2002, Reports 2002-III.
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Nachfolgestaaten der Sowjetunion aus. Denn auch in der Ukraine oder in Moldau sind es nicht nur Einzelfälle, in denen rechtskräftige Urteile nicht vollstreckt werden; vielmehr handelt es sich um systematische Mängel in den postsowjetischen Rechtssystemen. Eine Vielzahl der über 200 Urteile, die von russischen Bürgern bis 2007 in Straßburg erstritten worden sind, betreffen das „Problem Burdov“ – ein Problem, das in den alten Mitgliedsstaaten des Europarats bis dahin nicht bekannt gewesen war. b) Der Fall Kalašnikov – eine Anklage gegen das Gefängnissystem Das zweite Urteil des Gerichtshofs, das gegen die Russische Föderation erging, betraf gleichermaßen ein strukturelles Problem, das als Erbe des sowjetischen Systems anzusehen ist: die unmenschliche Situation in den Gefängnissen. Kalašnikov war in Sibirien wegen krimineller Handlungen im Wirtschaftsverkehr in Untersuchungshaft genommen worden. Er monierte die Dauer der Untersuchungshaft und des Gerichtsverfahrens und bekam Recht in Straßburg.141 Spektakulär war der Fall aber vor allem insofern, als zusätzlich auch ein Verstoß gegen das Verbot der unmenschlichen Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK gerügt worden war. Die Zustände im Gefängnis waren nachweislich aufgrund zu kleiner, überbelegter Zellen, des Fehlens jedweder medizinischer Versorgung und des Mangels an Hygiene katastrophal. Auch hier verursachte der Gerichtshof mit seiner Entscheidung, mit der er eine Verletzung von Art. 3 EMRK bestätigte und dem Antragssteller eine Kompensationszahlung in Höhe von 5.000 Euro zusprach, einen Dammbruch. Ein Unzahl von identischen Fällen – in Straßburg spricht man von „clone cases“ – wird seither vor den Gerichtshof gebracht.
______________
141 Kalashnikov v. Russische Föderation (Beschwerde Nr. 47095/99), Urteil vom 15.7.2002, Reports 2002-VI.
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c) Der Fall Ryabkin – eine Anklage gegen das Gerichtssystem Ein weiteres grundlegendes Defizit des russischen Rechtssystems wurde mit dem Fall Ryabkin aufgedeckt.142 Seit alters her besteht in Russland ein Misstrauen gegen die Entscheidungen der Gerichte. Aufgrund dessen wurde und wird es für nötig befunden, auch endgültige Entscheidungen – ohne dass neue Umstände vorlägen – wieder aufgreifen zu können. Nach dem so genannten „Nadzor-System“, das in sowjetischer Zeit auch in die Satellitenstaaten exportiert worden war, ist es möglich, dass von offizieller Stelle, in der Regel vom Staatsanwalt, ein „Protest“ gegen eine rechtskräftige Entscheidung eingelegt wird. Bürger, die mit einem endgültigen Urteil nicht zufrieden sind, können einen Antrag an die Behörden auf Überprüfung des rechtskräftigen Urteils stellen, haben aber kein Recht darauf, dass der Staatsanwalt in ihrem Sinn tätig wird. Nach einem Protest kann das gesamte Verfahren noch einmal aufgerollt werden. Diese einseitig dem Staat einen Vorteil zuweisende Möglichkeit hat der Europäische Gerichtshof für unvereinbar mit dem aus Art. 6 EMRK ableitbaren Rechtsstaatsprinzip und insbesondere dem Grundsatz der Rechtssicherheit erachtet. So argumentierte der Straßburger Gerichtshof, eine endgültige Entscheidung eines Gerichts in einer Sache dürfe grundsätzlich nicht mehr in Frage gestellt werden. In Russland war aber, wie der Fall Ryabkin zeigte, ein Protest-Verfahren sowohl zeitlich als auch inhaltlich nahezu unbegrenzt möglich. Zwischenzeitlich sind zwar die entsprechenden Verfahrensordnungen geändert worden; das Nadzor-Verfahren besteht aber im Grundsatz nach wie vor.143 Kritik auch der Parlamentarischen Versammlung des Europarats verhallte bisher ungehört. Gerade das Nadzor-Verfahren führt aber auch dazu, dass sich die Gerichtsverfahren in Russland sehr in die Länge ziehen, so ______________
142 Ryabykh v. Russische Föderation (Beschwerde Nr. 52854/99), Urteil vom 24.7.2003, Reports 2003-IX, para. 51. 143 M. V. Iurin, Die Nadzor-Instanz: die Perspektive des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (russ.), Rossijskoe pravosudie, No. 5 (2006) 75.
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dass auch insofern Verurteilungen aufgrund der überlangen Verfahrensdauer nach Art. 6 EMRK zur Routine geworden sind. Diese ersten mutigen Entscheidungen des Gerichtshofs haben Grundprobleme des russischen Rechtssystems aufgezeigt. Die russische Seite hat die Kritik zunächst offen aufgenommen und verschiedene Maßnahmen eingeleitet, um den mit den Entscheidungen aufgedeckten Defiziten abzuhelfen.
3. Entscheidungen von grundsätzlicher politischer Bedeutung Schwierig wurde die Beziehung zwischen Europarat und Russland aber nach einer Reihe von als politisch motiviert erachteten Entscheidungen. a) Russland und die Medien – der Fall Gusinskij Der erste Fall betraf den ehemaligen „Medienmogul“ Vladimir Gusinskij. Er war Inhaber einer Reihe von zum Teil deutlich regierungskritischen Medien. Zunehmend bekam er Schwierigkeiten mit den russischen Behörden. Im Sommer 2000 wurde er schließlich aufgrund strafrechtlicher Vorwürfe inhaftiert. Während er in Haft war, wurde ihm angeboten, dass die strafrechtlichen Vorwürfe gegen ihn fallengelassen würden, wenn er bereit wäre, sein Unternehmen „Media Most“ zu einem vom Staat vorgegebenen Preis zu verkaufen. Der Straßburger Gerichtshof sah sich nicht in der Lage, die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit der strafrechtlichen Anklage zu überprüfen. Allerdings warf er Russland vor, das Strafrecht zu anderen als den vom Gesetz vorgegebenen Zwecken, als „Teil einer Verkaufsstrategie im Wirtschaftsverkehr“ eingesetzt zu haben. Aufgrund dessen wurde Russland wegen eines Verstoßes gegen Art. 18 EMRK verurteilt.144 In der russischen Presse figurierte ______________
144 Gusinskiy v. Russische Föderation (Beschwerde Nr. 70276/01), Urteil vom 19.5.2004, Reports 2004-IV, Rdnr. 73 ff.; die Vorschrift, auf die sich der Gerichtshof bei seiner Argumentation bezog, lautet: „Die nach dieser Konvention zulässigen Einschränkungen der genannten Rechte und Freiheiten dürfen nur zu den vorgesehenen Zwecken erfolgen.“.
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der Fall Gusinskij, die spektakuläre Verhaftung und der Zwang zum Verkauf des Unternehmens, als „grandioser politischer Skandal“.145 Das juristische Nachspiel in Straßburg wirbelte dagegen in der Öffentlichkeit in Russland nicht allzu viel Staub auf. b) Russland und Transnistrien – der Fall IlaÕÕ cu Als Beginn des Bruchs zwischen dem Gerichtshofs und Russland kann die Entscheidung IlaÕcu146 angesehen werden, die von dem russischen Richter in Straßburg Kovler in seinem Sondervotum als eindeutig politisch motiviert bezeichnet wird. Dabei ging es um ein völkerrechtlich höchst diffiziles Problem – um die Frage, wem eine Menschenrechtsverletzung in der Transnistrischen Moldau, die zwar noch de iure Teil von Moldau ist, sich aber de facto unabhängig gemacht hat, zuzurechnen ist. Historisch-politischer Hintergrund der Auseinandersetzungen zwischen Russland und Moldau ist, dass in diesem Gebiet eine große Zahl von ethnischen Russen lebt, die aufgrund der Unabhängigkeit Moldaus fürchteten und fürchten, als Minderheit von der rumänischsprachigen Mehrheit dominiert zu werden. Russland hat daher ein besonderes Interesse an der Entwicklung in Transnistrien und hat die seit Sowjetzeiten dort stationierten Truppen bis heute nicht zurückgezogen. Bei dem Fall nun ging es um moldawische Politiker, die von transnistrischen Separatisten ins Gefängnis gebracht, von einem Pseudo-Gericht verurteilt und gefoltert wurden. Rechtlich schwierig an diesem Fall war die Frage der Verantwortung für die Menschenrechtsverletzung. Sowohl Moldau als auch Russland bestritten, auf das „faktische Regime“ der Separatisten Einfluss nehmen zu können. Der Gerichtshof ging bei seiner Entscheidung von Art. 1 EMRK aus, nach dem die Ver______________
145 Marina Volkova/Ivan Grigor’ev/Svetlana Rasupkina/Dmitrij Gornostaev, Die Verhaftung Gusinskijs hat ein „zweites Davos“ provoziert. Der Kampf des Kreml mit den Oligarchen bringt Putin in eine ausweglose Situation (russ.), in: Nesawissimaja Gaseta vom 15.6.2000. 146 IlaÕ cu v. Russische Föderation und Moldau (Beschwerde Nr. 48787/99), Urteil (Große Kammer) vom 8.7.2004, Reports 2004-VII.
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tragsparteien der EMRK dazu verpflichtet sind, „allen ihrer Hoheitsgewalt („jurisdiction“) unterstehenden Personen“ die in der EMRK enthaltenen Rechte zuzusichern. Der Begriff der „jurisdiction“ wurde dabei äußerst weit ausgelegt. Hoheitsgewalt, so argumentierte der Gerichtshof wie in dem Fall Loizidou147, hat nicht nur der Staat inne, in dessen Territorium eine Menschenrechtsverletzung stattfindet, sondern auch der Staat, der die effektive Kontrolle über ein bestimmtes Gebiet ausübt. Moldau wurde vorgeworfen, die positive Verpflichtung, auf eine Freilassung der Beschwerdeführer hinzuwirken, nicht mit ausreichender Nachdrücklichkeit erfüllt zu haben. Russland dagegen wurde verurteilt, da der Gerichtshof, gestützt auf eine Vielzahl von Zeugenaussagen, davon ausging, dass Russland aufgrund seiner militärischen Präsenz in dem abtrünnigen Gebiet die Fäden in der Hand gehabt habe und ihm die Menschenrechtsverletzung daher zuzurechnen sei. Die russische Seite dagegen argumentierte, sie müsse geltendes Völkerrecht brechen und in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates intervenieren, wollte sie das Urteil umsetzen. In seinem – äußerst lesenswerten – Sondervotum versuchte der russische Richter Kovler die Unhaltbarkeit und Voreingenommenheit der Argumentation des Gerichtshofs nachzuweisen. Er blieb allerdings alleine mit seiner Meinung – von den 16 Richterkollegen in der Großen Kammer schloss sich ihm niemand an. Ein nicht unwesentliches Detail am Rande war, dass der Gerichtshof Russland neben einer Verletzung von Art. 3 und 5 EMRK auch eine Verletzung von Art. 34 EMRK vorwarf. Nach dieser Vorschrift ist jeder Mitgliedsstaat verpflichtet, die Ausübung des Rechts der Bürger auf Einlegung einer Individualbeschwerde beim Gerichtshof nicht zu behindern. Im konkreten Fall war dem Gerichtshof aber eine diplomatische Note zugespielt worden, nach der Russland Moldau dazu drängte, einen Schriftsatz, in dem die Verantwortung Russlands für die Menschenrechtsverletzungen bestätigt wurde, zurückzuziehen. Dies kommentierte der Gerichtshof mit folgenden Worten: „Der Gerichtshof betrachtet ein derartiges Vorgehen der Regierung der Russi______________
147 Loizidou v. Türkei, (Beschwerde Nr. 15318/89), Urteil vom 18.12.1996, Reports 1996-VI.
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schen Föderation als Verneinung des gemeinsamen Erbes der politischen Traditionen, Ideale, der Freiheit und des Rechtsstaatsprinzips …“148 Der russische Richter konterte in seinem Sondervotum, er sei schockiert über die Verwendung eines gestohlenen Dokuments und halte dies für eines europäischen Rechtsorgans unwürdig.149 Schon die ungewöhnlich scharfe Sprache zeigt den Graben, der hier zwischen Russland und dem Gerichtshof aufbrach. c) Russland und Tschetschenien – der Fall Isayeva Gleichermaßen politisch sensibel sind die Verurteilungen Russlands in den so genannten Tschetschenienfällen. Dabei geht es regelmäßig um Verstöße gegen das Recht auf Leben und gegen das Folterverbot, sei es, dass Russland vorgeworfen wird, es habe bei seinem militärischen Vorgehen jede Rücksichtnahme auf das Leben von Zivilisten außer Acht gelassen, sei es, es habe einzelne Morde der Soldaten an Zivilisten nicht verhindert.150 Bei allen Fällen wird argumentiert, nicht nur das aktive, dem Staat zurechenbare Tun, sondern auch das Unterlassen einer effektiven Aufklärung ziehe eine Verantwortlichkeit des Staates nach sich und stelle eine Verletzung von Art. 2 und Art. 3 EMRK dar.
4. Routine der Verurteilungen Nach den ersten spektakulären Verurteilungen Russlands durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist so etwas ______________
148 IlaÕ cu, a. a.O. Fn. 146, Rd. 481. 149 IlaÕ cu, a. a.O. Fn. 146, Sondervotum des Richters Kovler. 150 Vgl. Isayeva v. Russische Föderation (Beschwerde Nr. 57950/00) Urteil vom 24.2.2005; Isayeva, Yusupova und Bazayeva v. Russische Föderation (Beschwerde Nr. 57947/00, 57948/00 und 57949/00), Urteil vom 24.2.2005; Khashiyev und Akayeva v. Russische Föderation (Beschwerde Nr. 57942/00 und 57945/00), Urteil vom 24.2.2005; vgl. dazu Tobias H. Irmscher, Menschenrechtsverletzungen und bewaffneter Konflikt: die ersten Tschetschenien-Entscheidungen des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, EuGRZ 2006, S. 11 ff.
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wie eine traurige Routine eingetreten. Vor den Gerichtshof werden einerseits eine Vielzahl von Bagatellfällen gebracht, zugleich aber auch eine Vielzahl wirklich gravierenden Menschenrechtsverletzungen, etwa Folter in der Untersuchungshaft151 oder Diskriminierung aufgrund von Rasse und ethnischer Herkunft.152 Wegweisend sind auch Fälle zur Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens aufgrund fehlender Schutzmaßnahmen bei Wohnsiedlungen in der unmittelbaren Umgebung von Industrieanlagen,153 Fälle zur Verletzung der Meinungsfreiheit von Journalisten, die Politiker kritisieren,154Fälle der Verletzung der Vereinigungsfreiheit aufgrund der Nicht-Registrierung von NGO’s – im konkreten Fall ging es um einen Zweig der Heilsarmee155 – Fälle der nicht gerechtfertigten Ausweisung von Ausländern.156 Die Vorwürfe von Menschenrechtsorganisationen, dass Anwälte bei ihrer Arbeit behindert oder willkürlich Dokumente konfisziert werden, werden in der Rechtsprechung der EGMR bestätigt.157
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151 Mikheyev v. Russische Förderation (Beschwerde Nr. 77617/01), Urteil vom 26.1.2006; vgl. auch Menesheva v. Russische Föderation (Beschwerde Nr. 59261/00) Urteil vom 9.3.2006. 152 Gartukayev v. Russische Förderation (Beschwerde Nr. 71933/01), Urteil vom 13.12.2005. 153 Fadeyeva v. Russische Förderation (Beschwerde Nr. 55723/00), Urteil vom 9.6.2005. 154 Krasulya v. Russische Förderation, (Beschwerde Nr. 12365/03), Urteil vom 22.2.2007. 155 Moscow Branch of the Salvation Army v. Russische Förderation (Beschwerde Nr. 72881/01), Urteil vom 5.10.2006; deutsche Übersetzung EuGRZ 2007, Heft 1–5, S. 24 ff.; vgl. dazu Nußberger/Schmidt, a. a.O. Fn. 29, S. 12 ff. 156 Bolat v. Russische Förderation (Beschwerde Nr. 14139/03), Urteil vom 5.10.2006. 157 Smirnov v. Russische Förderation (Beschwerde Nr. 71362/01), Urteil vom 7.6.2007.
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5. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Hoffnungsträger und Allheilmittel Anders als das Russische Verfassungsgericht, dessen Macht und Einfluss – und auch Ansehen – aufgrund seiner Spruchpraxis abgenommen hat, erfreut sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bei den russischen Bürgern – nicht bei den staatlichen Behörden – einer großen Beliebtheit. Mittlerweile kommt jede fünfte Beschwerde, die in Straßburg eingelegt wird, aus Russland. Zu Beginn des Jahres 2007 stapelten sich beim Gerichtshof 19.319 Beschwerden russischer Bürger,158 darunter so berühmte Fälle wie der Fall Chodorkovskij oder auch die Fälle der vermeintlichen Spione Danilov und Sutyagin.159 Georgien hat erstmals von seinem Recht, eine Staatenbeschwerde einzulegen, Gebrauch gemacht und Russland wegen der Deportationen georgischer Bürger aus Russland angeklagt. Problematisch ist, dass der Gerichtshofs somit nicht nur Hoffnungsträger ist für eine Vielzahl russischer Bürger, die von ihrem eigenen Rechtssystem enttäuscht sind, sondern auch als Spaltkeil in innenpolitischen Auseinandersetzungen benutzt wird. Die Diskussion um die politische Rolle des Gerichtshofs, insbesondere um seine Unabhängigkeit oder Indienstnahme durch bestimmte westliche Organisationen, etwa die OSZE, wird in Russland lautstark geführt.160 Vor diesem Hintergrund überrascht es auch nicht, dass sich Russland bisher als einziger Mitgliedsstaat des Europarats geweigert hat, das 14. Zusatzprotokoll, das das Verfahren vor dem Gerichtshof vereinfachen und damit effektiver gestalten soll, zu ratifizieren. Der Versuch des Straßburger Gerichtshofs, in Russland den Rechtsstaat von außen zu stützen, wird mit der aus sowjeti______________
158 Vgl. die statistischen Angaben des Gerichtshofs, abrufbar unter http:// www.echr.coe.int/NR/rdonlyres/69564084-9825-430B-9150-A9137DD 22737/0/Survey_2006.pdf (letzter Zugriff: 10.8.2007). 159 Mommsen/Nußberger, a. a.O. Fn. 7, S. 143 ff. 160 M. N Mar…enko, Juristische Natur und Charakter der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenreche (russ.), GiP 2 (2006), S. 11.
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schen Zeiten bekannten Rhetorik als Einmischung in die inneren Angelegenheiten angesehen. So sehr auf der einen Seite nach wie vor Lippenbekenntnisse der russischen Politiker zu Demokratie und Menschenrechten auf der Tagesordnung stehen, so sehr tritt doch auch wieder die Gegenbewegung, die die Menschenrechte als Spiegel einer westlichen liberalen, russischen Werten entgegengesetzten Ideologie interpretiert, hervor.161 Angesichts der vielen Verurteilungen fürchtet man um die Souveränität des Staates. Diskutiert wird ein neues Gesetz, das Beschwerden gegen die Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention beim Obersten Gericht zulässt. Damit würde eine zusätzliche innerrussische Instanz geschaffen, bevor russische Beschwerdeführer sich an den Straßburger Gerichtshof wenden dürfen. Der Präsident des russischen Verfassungsgerichts Zorkin hat dafür plädiert, die Mängel im russischen Rechtssystem einzugestehen und Gesetze und Praxis zu ändern, um den Exodus nach Straßburg einzudämmen. Nicht zufällig hat Zorkin seine Stellungnahme betitelt: „Gerichtlicher Schutz zwischen Globalisierung und Souveränität“.162
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161 Ebenda. 162 Valerij Zorkin, gerichtlicher Schutz zwischen Globalisierung und Souveränität (russ.), R.G. vom 18.7.2007.
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V. Schlussbemerkung Die Beziehung zwischen Russland und dem Westen ist seit alters her spannungsreich: „Dieser Tanz von Anziehung und Abstoßung dauert jahrhundertelang, und die gerade anstehende Zeit der Abstoßung kann man philosophisch gelassen nehmen.“ So schreibt der russische Publizist Andrei Piontkovskij und reflektiert, allein in postsowjetischer Zeit könne man bereits zwei Zyklen der Annäherung und Entfremdung zwischen dem Westen und Russland erkennen.163 Ein erster Zyklus reiche von Jelzins Außenminister Andrej Kosyrev, dem Flaggschiff der stark nach Westen orientierten Außenpolitik, bis zu Jevgenij Primakov, dem letzten einflussreichen und eigenständigen Regierungsvorsitzenden in Russland; ein zweiter Zyklus beginne mit dem Ruf „Amerikaner, wir stehen euch bei“, mit dem Vladimir Putin spontan auf die Anschläge des 11. September reagiert hatte, und ende bei der Wiederentdeckung alter Feindschaften in der Gegenwart. Dieses politische Wechselspiel wird auch im Recht reflektiert. Zeiten der Öffnung, in denen westliches Gedankengut – manchmal ungeprüft und unkritisch – importiert und übernommen wird, stehen Zeiten, in denen alles, was aus dem Westen kommt, für schlecht befunden wird, unvermittelt gegenüber. Zu Beginn der 90er Jahre ist das Pendel in die eine Richtung ausgeschlagen. Ideen wie Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte wurden als neue Orientierungswerte propagiert. Schon wenig später hat sich das Pendel wieder in die andere Richtung bewegt. Dem Rechtsstaat als Modell steht man wieder kritisch gegenüber, auch wenn es in den nach Westen gerichteten Sonntagsreden manches Mal noch anders klingen mag. Von Transparenz – glasnost’ – ist allerdings nicht mehr die Rede. Ob dies das Ende des Rechtsstaats bedeutet oder aber die Suche nach einem spezifisch „russischen“ Rechtsstaat weitergeht, ist eine offene Frage. ______________
163 Andrei Piontkovskij, Am Fenster nach Europa, Gesamtrussischer bürgerlicher Kongress (russ.), 27.6.2006, http://www.civitas.ru/press. php?code=327&year=2006&month=6 (letzter Zugriff: 10.8.2007).
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