EMRK und Gewaltenteilung.: Menschenrechtliche Vorgaben an das Organisationsrecht der Konventionsstaaten. 342818825X, 9783428188253


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EMRK und Gewaltenteilung.: Menschenrechtliche Vorgaben an das Organisationsrecht der Konventionsstaaten.
 342818825X, 9783428188253

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Schriften zum Europäischen Recht Band 213

EMRK und Gewaltenteilung Menschenrechtliche Vorgaben an das Organisationsrecht der Konventionsstaaten

Von Christina Kamm

Duncker & Humblot · Berlin

CHRISTINA KAMM

EMRK und Gewaltenteilung

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera · Detlef Merten Matthias Niedobitek · Karl-Peter Sommermann

Band 213

EMRK und Gewaltenteilung Menschenrechtliche Vorgaben an das Organisationsrecht der Konventionsstaaten

Von Christina Kamm

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaften der Universität Osnabrück hat diese Arbeit im Jahr 2022 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2023 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 978-3-428-18825-3 (Print) ISBN 978-3-428-58825-1 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meiner Familie

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2022 vom Fachbereich Rechtswissenschaften der Universität als Promotion angenommen. Rechtsprechung und Literatur befinden sich auf dem Stand von März 2022. Die Arbeit entstand zum großen Teil während meiner Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl meines Doktorvaters Prof. Dr. Oliver Dörr, LL. M. (Lond.) am European Legal Studies Institute. Ihm danke ich sehr herzlich für die hervorragende Betreuung, die stete Unterstützung, insbesondere am Ende der Promotionsphase, die angenehme Arbeitsatmosphäre und die Möglichkeit, mich durch vielfältige Projekte während meiner Jahre am Lehrstuhl weiterentwickeln zu können. Prof. Dr. Thomas Groß danke ich nicht nur für die überaus zügige Erstellung des Zweitgutachtens, sondern auch für hilfreiche Hinweise während der Entstehungsphase der Arbeit, insbesondere im Rahmen der Doktorandenwerkstatt. Meine ehemaligen Kolleg*innen in der dritten Etage des ELSI haben durch konstruktive Gespräche, regen Austausch besonders in den Doktorandenrunden, ein freundliches, hilfsbereites Miteinander und regelmäßige Kaffeepausen ebenfalls positiv zur Entstehung dieser Arbeit beigetragen. Hierfür danke ich Ihnen allen. Stellvertretend seien an dieser Stelle Dr. Marco Athen, Dr. Hendrik Burke, Zahra Wendlandt, Jörn Simme und Marja Villmer erwähnt. Prof. Dr. Bernhard Kempen und Eva Frackowiak danke ich dafür, in den letzten Monaten der Manuskripterstellung die Räumlichkeiten und die Bibliothek des Hauses des Internationalen Rechts der Universität zu Köln nutzen zu dürfen. Dies war in schwierigen Zeiten der Corona-Pandemie eine unschätzbare Hilfe beim Abschluss meiner Arbeit. Der große Rückhalt aus meinem privaten Umfeld hat mir entscheidend beim Schreiben meiner Arbeit geholfen. Herzlich danke ich Mathias Tergeist, AnnChristine Benjamins und Pia Niederau, welche die Promotionszeit durch zahlreiche Gespräche begleitet haben. Peter und Sabine Kamm verschafften mir durch fürsorgliche Kinderbetreuung Zeit, das Manuskript fertig zu stellen. Besonders danke ich außerdem Andreas Berger und Nikola Lindberg, die in kurzer Zeit lange Passagen der Arbeit akribisch Korrektur lasen. Der Unterstützung meiner Mutter, Angela Bockrath, kann und konnte ich mir immer sicher sein – hierfür bin ich ihr zutiefst dankbar. Zur Fertigstellung dieser Arbeit hat sie in vielfacher Hinsicht entscheidend beigetragen. Sie hat die gesamte

8

Vorwort

Arbeit Korrektur gelesen und mir in den letzten zwei Jahren durch liebevolle Kinderbetreuung viele Stunden Zeit zur Fertigstellung der Arbeit verschafft. Mein Mann Kristof Kamm hat mich während der gesamten Promotionszeit dauerhaft und enorm unterstützt. Ohne seine Geduld, seinen ständigen Ansporn, seinen Optimismus und seine Kraftanstrengung hätte ich die Arbeit nicht fertigstellen können. Die herausfordernden Zeiten, in denen gemeinsame Freizeit, Erholungszeit und Familienzeit zur Arbeitszeit wurde, hat er ohne Vorbehalte ausgehalten und mitgetragen und damit mein Projekt zu unserem Projekt gemacht. Wir sind das beste Team! Hierfür kann ich ihm nicht genug danken. Meiner Familie – meinem Mann, unserer Tochter Ronja sowie meiner Mutter – ist diese Arbeit gewidmet. Die erste Seite ist für Euch. Köln, November 2022

Christina Kamm

Inhaltsübersicht Einleitung: Die EMRK – Mehr als eine Teilverfassung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 A. Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 B. Methodisches Vorgehen und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 C. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 D. Eingrenzung der Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

Kapitel 1

Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 44

A. Vorbemerkung: Gewaltenteilung im terminologischen Dschungel . . . . . . . . . . . . . . . 46 B. Verfassungstheoretische Konzepte und verfassungsdogmatische Erscheinungsbilder . 47 C. Hoheitsgewalt als Objekt der Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 D. Aufgaben von Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 E. Einordnung in den Gesamtkontext der staatlichen Ordnung: Gewaltenteilung als Mittel zur Freiheitsverwirklichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 F. Überblick über verschiedene Elemente der Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 G. Fazit und Ausgangspunkt der Untersuchung: Gewaltenteilung als ausgestaltungsbedürftiges Organisationsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

Kapitel 2

Der Begriff der Gewaltenteilung (the notion of separation of powers) in der Rechtsprechung des EGMR 105

A. Erstmals: Stafford v Vereinigtes Königreich und A v Vereinigtes Königreich . . . . . . . 106 B. Verhältnis zwischen Exekutive und Judikative    . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 C. Verhältnis zwischen Legislative und Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 D. Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 E. Background Paper: „The Authority of the Judiciary“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 F. Analyse: Das Grundverständnis von Gewaltenteilung in der EGMR-Rechtsprechung   125 G. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

10

Inhaltsübersicht Kapitel 3



Die gesetzgebende Gewalt  133

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 B. Die gesetzgebende Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 C. Schutz der Funktionsfähigkeit des Parlaments über den rechtlichen Status der Abgeordneten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 D. Ergebnis: Konventionsrechtliche Anforderungen an die legislative Gewalt . . . . . . . . 377

Kapitel 4

Die rechtsprechende Gewalt 381

A. Normative Anknüpfungspunkte und ihre staatsorganisatorische Bedeutung . . . . . . . 382 B. Die Merkmale des Gerichtsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 D. Verfahrensrechtliche und materielle Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 E. Die richterlichen Statusrechte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 F. Die persönlichen richterlichen Freiheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639 G. Das innerstaatliche Gerichtssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693 H. Ergebnis: Konventionsrechtliche Anforderungen an die judikative Gewalt . . . . . . . . 754

Kapitel 5 Synthese 757 A. Minimalanforderungen der EMRK an die innerstaatliche Gewaltenteilung . . . . . . . . 758 B. Mechanismen zur Ableitung staatsorganisatorischer Vorgaben aus den subjektiven Rechten der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 794 C. Gesamtergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 802 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 825

Inhaltsverzeichnis Einleitung: Die EMRK – Mehr als eine Teilverfassung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 A. Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 B. Methodisches Vorgehen und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 C. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 D. Eingrenzung der Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 I.

Nichtberücksichtigung innerstaatlicher Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

II.

Eingrenzung der Gewaltenteilung als Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . 40

III. Fokussierung auf Legislative und Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

Kapitel 1

Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 44

A. Vorbemerkung: Gewaltenteilung im terminologischen Dschungel . . . . . . . . . . . . . . . 46 B. Verfassungstheoretische Konzepte und verfassungsdogmatische Erscheinungsbilder

47

I.

Verfassungstheorie und Verfassungsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

II.

Konzept und Erscheinungsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

III. Untauglichkeit eines umfassenden Gewaltenteilungskonzepts als Untersuchungs­ gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 IV. Dekonstruktion des Gewaltenteilungsgedankens in einzelne Parameter . . . . . . 54 C. Hoheitsgewalt als Objekt der Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 I.

Begriffsbestimmung Hoheitsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

II.

Einheitlichkeit und Aufteilbarkeit der Ausübung von Hoheitsgewalt . . . . . . . . 57

III. Abgrenzung von gesellschaftlicher Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 IV. Fazit und Bezug zur EMRK als Forschungsobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 D. Aufgaben von Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 I.

Begrenzung, Mäßigung und Kontrolle der Ausübung von Hoheitsgewalt . . . . . 62

II.

Teilhabe an und Repräsentation bei der Ausübung von Hoheitsgewalt . . . . . . . 63

III. Effektive und sachgemäße Ausübung von Hoheitsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

12

Inhaltsverzeichnis

E. Einordnung in den Gesamtkontext der staatlichen Ordnung: Gewaltenteilung als Mittel zur Freiheitsverwirklichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 I.

Staatszweck Freiheit und grundrechtliche Gewährleistungen . . . . . . . . . . . . . . 69

II.

Freiheitsverwirklichung als mittelbare Aufgabe der Gewaltenteilung . . . . . . . . 70

III. Fazit und Bezug zur EMRK als Forschungsobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 F. Überblick über verschiedene Elemente der Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 I.

Funktionenunterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 1. Notwendigkeit der Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 2. Drei Funktionen als Grundkonsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 3. Funktionen als typisierte Grundformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 4. Trennscharfe Unterscheidungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 a) Subtraktionsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 b) Legitimationstheoretische Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 5. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

II.

Institutionelle Pluralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

III. Zuordnung der hoheitlichen Tätigkeit zum Organ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 1. Zuständigkeitsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 a) Aufgabenverteilung als einzige Aussage der Gewaltenteilung . . . . . . . 87 b) Die funktionsadäquate Zuordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 c) Die ausgleichende Zuordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 d) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 2. Zuordnungsobjekt: Kompetenzen, Aufgaben oder Funktionen . . . . . . . . . . 89 3. Mögliche Ausgestaltungen einer institutionellen Interaktion . . . . . . . . . . . 92 a) Trennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 b) Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 c) Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 IV. Status von Organwaltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 1. Inkompatibilitätsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2. Statusrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 3. Besetzungs- und Ernennungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 G. Fazit und Ausgangspunkt der Untersuchung: Gewaltenteilung als ausgestaltungsbedürftiges Organisationsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

Inhaltsverzeichnis

13

Kapitel 2 Der Begriff der Gewaltenteilung (the notion of separation of powers) in der Rechtsprechung des EGMR 105



A. Erstmals: Stafford v Vereinigtes Königreich und A v Vereinigtes Königreich . . . . . . . 106 I.

Stafford v Vereinigtes Königreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

II.

Der Rückgriff des EGMR auf das Incal-Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

III. A v Vereinigtes Königreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 B. Verhältnis zwischen Exekutive und Judikative    . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 I.

Kleyn v Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

II.

Die Bestätigung der Kleyn-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

III. Alparslan Altan v Türkei und Bilgen v Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 IV. Guðmundur Andri Ástráðsson v Island . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 V.

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

C. Verhältnis zwischen Legislative und Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 D. Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 E. Background Paper: „The Authority of the Judiciary“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 F. Analyse: Das Grundverständnis von Gewaltenteilung in der EGMR-Rechtsprechung   125 I.

Gewaltenteilung als gefestigtes Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

II.

Typisiertes Funktionsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

III. Institutionelle Pluralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 IV. Zuordnung hoheitlicher Tätigkeiten zu Organen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 V.

Status von Organwaltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

G. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

Kapitel 3

Die gesetzgebende Gewalt  133

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 I.

Das Wahlrecht aus staatsorganisatorischer Perspektive: Mitwirkungsrecht und objektive staatliche Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 1. Demokratie als die von der EMRK vorgegebene Staatsform . . . . . . . . . . . 134 2. Das Wahlrecht als politisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 3. Die subjektiv-rechtlichen Gewährleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

14

Inhaltsverzeichnis 4. (Objektive) Staatliche Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 a) Primäre Verpflichtung zur Durchführung von Wahlen . . . . . . . . . . . . . . 141 b) Einrichtungsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 c) Unparteiliche Wahlorganisation und Wahlprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5. Weiter staatlicher Gestaltungsspielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 a) Ausgestaltung des Wahlsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 b) Eingriffe in das aktive und in das passive Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . 145 c) Besonderheit: Kontextabhängige Maßstäbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 d) Grenzen des Gestaltungsspielraums: Begründete Individualbeschwerden 147 6. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 II.

Fallgruppen zur legislature . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 1. Ausgangspunkt: Das nationale Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 2. Die zweite Kammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 a) EKMR: W, X, Y und Z v Belgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 b) Entstehungsgeschichte und Mathieu-Mohin v Belgien . . . . . . . . . . . . . 152 c) Zhermal v Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 d) Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 e) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 3. Das Staatsoberhaupt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 a) Erste Rechtsprechungslinie: Boškoski v Mazedonien . . . . . . . . . . . . . . . 156 b) Zweite Rechtsprechungslinie: Niedźwiedź v Polen . . . . . . . . . . . . . . . . 159 c) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 4. Regierungsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 5. Das Europäische Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 a) Die Entscheidungen der EKMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 b) Matthews v Vereinigtes Königreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 c) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 6. Föderale und regionale Parlamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 a) Parlamente föderaler Untereinheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 b) Regionalräte und Regionalversammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 c) Versammlungen von spanischen Autonomen Gemeinschaften . . . . . . . 170 d) Der Neu-Kaledonische Kongress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 e) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 7. Kommunale Versammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 a) EKMR: Booth-Clibborn v Vereinigtes Königreich . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 b) EGMR: Cherepkov v Russland und Folgeurteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 c) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 8. Professionelle und beratende Körperschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176

Inhaltsverzeichnis

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9. Referendum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 10. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 III. Merkmale der gesetzgebenden Körperschaft gemäß Art. 3 ZP . . . . . . . . . . . . . 180 1. Organisationsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 a) Gewähltes Organ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 b) Unbeachtlich: Kollegialorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 c) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 2. Kompetenzen der gesetzgebenden Körperschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 a) Organkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 (1) Gesetzgebung: Entscheidende Rolle im Gesetzgebungsverfahren . 188 (a) Zustimmungsbedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 (b) Initiativrecht, Vetorecht, Ausfertigung, Kontrollrechte . . . . . . . 191 (2) Weitere typische parlamentarische Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 (3) Kein kompetenzieller Kernbereich der Gesetzgebung . . . . . . . . . . 193 (4) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 b) Unbeachtlich: Umfang der Verbundkompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 3. Kompetenzgrundlage: Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 4. Das Besetzungsverfahren: Die Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 a) Unmittelbare Wahl der monokameralen Parlamente und der ersten Kammern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 b) Abweichende Maßstäbe für die Besetzung der zweiten Kammer . . . . . 200 (1) Veränderte Maßstäbe im Falle einer direkten Wahl . . . . . . . . . . . . 201 (2) Keine Pflicht zur Wahl einer zweiten Kammer . . . . . . . . . . . . . . . 201 c) Zwischenfazit und Übertragung auf weitere Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 5. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 B. Die gesetzgebende Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 I.

Weitgehend einheitliches Gesetzesverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 1. Einschränkungsvorbehalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 a) Art. 8–11 Abs. 2 EMRK, Art. 2 Abs. 3, 4 ZP 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 b) Art. 11 Abs. 2 S. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 c) Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 d) Art. 1 Abs. 1 S. 1, 2 und Abs. 2 ZP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 e) Art. 1 Abs. 1 ZP 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 f) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 2. Ausgestaltungsvorbehalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 a) Art. 7 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 b) Art. 5 Abs. 4 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

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Inhaltsverzeichnis c) Art. 6 Abs. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 d) Art. 12 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 e) Art. 2 Abs. 1 ZP 4 und Art. 1 Abs. 1 ZP 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 f) Art. 3 ZP 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 g) Art. 4 Abs. 1, 2 ZP 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 h) Art. 1 ZP 12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 i) Sonderfall: Art. 2 Abs. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 j) Sonderfall: Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 k) Sonderfall: Art. 5 Abs. 3 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 l) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 3. Die impliziten Beschränkungen (implied limitations) . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 a) Der Belgische Sprachenfall und der Golder-Fall als Anfänge einer einheitlichen Rechtsprechungslinie zu Art. 6 Abs. 1, Art. 5 Abs. 4 EMRK, Art. 2 und 3 ZP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 b) Dogmatische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 c) Gesetzliche Grundlage als Bestandteil der implied limitations . . . . . . . 232 d) Sonderfall: Art. 2 Abs. 1, 2 ZP 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 e) Sonderfall: Art. 13 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 f) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 4. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 II.

Merkmale des Eingriffs- und Ausgestaltungsvorbehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 1. Normstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 a) Verbindlicher Rechtsakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 b) Abstrakt-generelle Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 c) Außenwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 d) Rechtmäßigkeit der rechtlichen Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 e) Geschriebene oder ungeschriebene Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 f) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 2. Normgeber: Innerstaatliche Rechtsetzungsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 a) Parlamentarische Rechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 b) Verfassungsgebende beziehungsweise -ändernde Rechtsetzung . . . . . . 248 c) Exekutive Rechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 d) Gerichtliche Rechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 (1) Ausgangspunkt: Sonderfall des common law . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 (2) Einbeziehung des Richterrechts auch in Rechtsordnungen kontinentaleuropäischer Prägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 (3) Die Rolle der Gerichte bei der Auslegung und Fortentwicklung der gesetzlichen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 (4) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260

Inhaltsverzeichnis

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e) Rechtsetzung selbstständiger Verbände und Körperschaften . . . . . . . . . 261 f) Internationales und europäisches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 g) Gewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 h) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 3. Normqualität: Rechtsstaatlichkeit als Leitgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 a) Zugänglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 (1) Grundsatz: Zumutbare Möglichkeit zur Kenntnisnahme durch Veröffentlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 (2) Sonderfall: Richterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 (3) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 b) Vorhersehbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 (1) Inhaltliche Anforderungen an die rechtliche Grundlage: Bindung der rechtsanwendenden Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 (a) Allgemeine Bestimmtheitsanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . 271 (b) Einschränkung des exekutiven Ermessens bei der Anwendung des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 (c) Adäquate Verfahrensgarantien und Rechtsschutzmöglichkeiten 276 (d) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 (2) Auslegung und Anwendung des Gesetzes als Element der Unsicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 (a) Erstmalige Auslegung einer Norm und erstmalige Anwendung auf einen neuen Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 (b) Änderung einer etablierten Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . 284 (c) Uneinheitliche Auslegung einer Norm durch die Gerichte . . . . 288 (d) Analoge Anwendung und Anwendung einer Norm außerhalb ihres ursprünglichen Anwendungsbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . 290 (e) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 c) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 4. Analyse: Keine Übertragung der Wesentlichkeitstheorie auf den rechtsstaatlich begründeten materiellen Gesetzesbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 a) Die herrschende Ansicht im deutschen Schrifttum: Rückführbarkeit auf eine parlamentarische Entscheidung erforderlich . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 b) Stellungnahme: Keine Rückführbarkeit auf eine parlamentarische Beteiligung erforderlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 (1) Wortlaut und Wille der Vertragsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 (2) Rechtsstaatsprinzip und Willkürverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 (3) Demokratieprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 c) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 5. Rechtsfolge: Pflicht zur rechtmäßigen und konventionskonformen Anwendung des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302

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Inhaltsverzeichnis 6. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 III. Merkmale des Organisationsvorbehalts gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . 304 1. Parlamentarischer Organisationsvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 2. Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 3. Zulässige gerichtliche Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 4. Rechtmäßige Anwendung der gesetzlichen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . 312 a) Anwendung des allgemeinen Rechtmäßigkeitsprinzips . . . . . . . . . . . . . 312 b) Schwellen-Test bei Fehlern im Ernennungsverfahren der Richter . . . . . 313 (1) Guðmundur Andri Ástráðsson v Island . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 (2) Xero Flor w Polsce sp. z o. o. v Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 (3) Reczkowicz v Polen und Folgeurteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 (4) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 5. Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 a) Unterschiede zum materiellen Gesetzesbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 b) Übertragbarkeit des formellen Gesetzesvorbehalts auf andere Normen der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 c) Einfallstor für institutionelle Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 6. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331

C. Schutz der Funktionsfähigkeit des Parlaments über den rechtlichen Status der Abgeordneten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 I. II.

Inkompatibilitäten und Unwählbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Recht, das Mandat bis zum Ende der Amtszeit auszuüben, gemäß Art. 3 ZP . . 338 1. Sadak u. a. v Türkei Nr. 2: Mandatsverlust nach Parteiverbot . . . . . . . . . . . 338 2. Lykourezos v Griechenland und Paschalidis u. a. v Griechenland: Nachträgliche Änderungen der rechtlichen Grundlagen des Mandatsverhältnisses . . 339 3. Selahattin Demirtaş v Türkei Nr. 2: Untersuchungshaft eines Abgeordneten 340 4. Zulässigkeit von und Anforderungen an Rücktrittserklärungen . . . . . . . . . 341 5. Analyse: Schutz der demokratischen Repräsentation der Bevölkerung . . . 343

III. Parlamentarische Immunität als Grundrechtseinschränkung . . . . . . . . . . . . . . . 344 1. A v Vereinigtes Königreich: Äußerungen in der parlamentarischen Debatte 345 2. Cordova v Italien Nr. 1 und Nr. 2: Äußerungen außerhalb des Parlaments . 347 3. Tsalkitzis v Griechenland und Syngelidis v Griechenland: Sonstige Gerichtsverfahren gegen Abgeordnete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 4. Kart v Türkei: Freiwilliger Verzicht des Abgeordneten auf parlamentarische Immunität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 5. Sonderfall: Einschränkung der Meinungsfreiheit von Dritten bei Äußerungen über Abgeordnete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 6. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354

Inhaltsverzeichnis

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IV. Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 1. Allgemeine Freiheit des politischen Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 2. Meinungsfreiheit im parlamentarischen Betrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 a) Karácsony v Ungarn: Äußerungen außerhalb des Rederechts . . . . . . . . 361 b) Pastörs v Deutschland: Ausübung des Rederechts im Parlament . . . . . 363 c) Szanyi v Ungarn: Ausübung parlamentarischer Kontrollrechte . . . . . . . 363 d) Analyse: Parlamentarische Tätigkeiten im Anwendungsbereich der Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 V.

Parlamentarische Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 1. Kart v Türkei: Aufhebung der parlamentarischen Immunität . . . . . . . . . . . 369 2. Karácsony v Türkei: Ordnung des parlamentarischen Prozesses und Verhängung disziplinarischer Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 3. G. K. v Belgien: Annahme eines Rücktritts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 4. Mugemangango v Belgien: Überprüfung des Wahlergebnisses . . . . . . . . . 373 5. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374

VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 D. Ergebnis: Konventionsrechtliche Anforderungen an die legislative Gewalt . . . . . . . . 377

Kapitel 4

Die rechtsprechende Gewalt 381

A. Normative Anknüpfungspunkte und ihre staatsorganisatorische Bedeutung . . . . . . . 382 I.

Das (allgemeine) Recht auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK . 383 1. Die subjektiv-rechtlichen Gewährleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 2. (Objektive) Staatliche Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 3. Art. 6 Abs. 1 EMRK als Ausprägung der rule of law . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 4. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389

II.

Das Recht auf Haftprüfung gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389

III. Das Recht auf Zugang zu einer Rechtsmittelinstanz im Strafverfahren gemäß Art. 2 ZP 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 IV. Recht auf richterliche Vorführung gemäß Art. 5 Abs. 3 EMRK . . . . . . . . . . . . . 392 1. Die subjektiv-rechtlichen Gewährleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 2. (Objektive) Staatliche Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 a) Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 b) Amtsperson mit richterlichen Befugnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397

20

Inhaltsverzeichnis V.

Verurteilungen als Anwendungsvoraussetzung des Art. 7 EMRK sowie der Art. 2, 3 und 4 ZP 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397

VI. Gerichtliche Entscheidungen als Rechtfertigungsgrund in Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a)–b) EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 VII. Die Autorität und Unparteilichkeit der Gerichtsbarkeit als Rechtfertigungsgrund gemäß Art. 10 Abs. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 VIII. Die innerstaatliche Beschwerdeinstanz gemäß Art. 13 EMRK . . . . . . . . . . . . . 401 1. Die subjektiv-rechtlichen Gewährleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 2. (Objektive) Staatliche Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 IX. Persönliche Freiheitsrechte der Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 X.

Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406

B. Die Merkmale des Gerichtsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 I.

Durch Gesetz eingerichtet: Formeller Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . 409

II.

Tribunal: Hoheitliches Organ der verbindlichen tatsächlichen und rechtlichen Streitentscheidung am Maßstab des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 1. Hoheitliches Organ der verbindlichen tatsächlichen und rechtlichen Streitentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 2. Bindung an das Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 a) Bindung an das anwendbare Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 b) Änderung einer etablierten Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 c) Uneinheitliche gerichtliche Auslegungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . 414 d) Rückwirkende Gesetzesänderung nach Beginn des Verfahrens . . . . . . . 416 (1) Absolutes Rückwirkungsverbot im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . 417 (2) Abwägung in zivilgerichtlichen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 e) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422

III. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit: Die Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 1. Unabhängigkeit: Institutioneller und struktureller Schutz . . . . . . . . . . . . . 424 2. Unparteilichkeit: Persönliche Unbefangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 3. Unklare Abgrenzbarkeit beider Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 I.

Inhalte der gerichtlichen Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 1. Entscheidungen über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 a) Streitentscheidung über Rechte und Pflichten zwischen den Prozessbeteiligten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433

Inhaltsverzeichnis

21

b) Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 c) Verhängung und Kontrolle von Disziplinarmaßnahmen . . . . . . . . . . . . 440 (1) Eröffnung des Anwendungsbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 (2) Gewährleistungsgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 d) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 2. Entscheidungen über strafrechtliche Anklagen im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 a) Verurteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 b) Insbesondere: Festlegung des Strafmaßes bei einer Freiheitsstrafe . . . . 453 c) Freisprüche und weitere verfahrensbeendende Entscheidungen . . . . . . 455 d) Kontrolle einer durch die Verwaltungsbehörden verhängten Sanktion . 456 e) Verhängung gerichtlicher Ordnungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 f) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 3. Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehungen gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 4. Kontrolle einer Untersuchungs- oder Präventivhaft gemäß Art. 5 Abs. 3 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 5. Streitigkeiten außerhalb der gerichtlichen Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . 465 6. Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 a) Erscheinungsformen gerichtlicher Kontroll- und Gestaltungsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 b) Exklusive gerichtliche Zuständigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 c) Keine gerichtliche Kontrolle im Kernbereich bei der Ausübung staatsbürgerlicher Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 7. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474 II.

Prüfungsbefugnis (full jurisdiction) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 1. Das Konzept der full jurisdiction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 2. Flexiblere Interpretation in verwaltungsrechtlichen Konstellationen . . . . . 477 a) Keine Prüfungskompetenz für zentrale Fragen der Streitigkeit . . . . . . 478 b) Spezialisierte Rechtsgebiete und komplexe Entscheidungen . . . . . . . . . 480 c) Ernennung von Richtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 d) Disziplinarmaßnahmen gegen Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 e) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 3. Prüfungsbefugnis im Rahmen der Haftprüfung gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK 485 4. Prüfungsbefugnis im Rahmen der Vorführung gemäß Art. 5 Abs. 3 EMRK 487 5. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488

III. Bindungswirkung gerichtlicher Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 1. Verbindlichkeit gerichtlicher Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 2. Unanfechtbarkeit und Unaufhebbarkeit rechtskräftiger Urteile . . . . . . . . . 490

22

Inhaltsverzeichnis 3. Umsetzungspflicht der implementierenden Behörde . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 a) Allgemeine Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 b) Besondere, vom Streitgegenstand abhängige Anforderungen . . . . . . . . 496 (1) Zivilrechtliche Streitigkeiten im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . 496 (2) Verwaltungsrechtliche Streitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 (3) Strafrechtliche Anklagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 (4) Freiheitsentziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 c) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 4. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 IV. Ausschluss der gerichtlichen Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 1. Immunität von Amtsträgern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 2. Überprüfung von Regierungsakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 V.

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506

D. Verfahrensrechtliche und materielle Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 I.

Persönliche Qualifikation und richterliche Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 1. Berufsrichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 2. Laienrichter und Experten in Streitigkeiten zivilrechtlichen Charakters . . . 511 3. Schöffen und Jurys im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 4. Militärangehörige als Experten in Angelegenheiten der nationalen Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 5. Politische Amtsträger in richterlichen Disziplinarorganen . . . . . . . . . . . . . 519 6. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520

II.

Richterauswahl und Richterernennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 1. Die an Ernennung und Auswahl beteiligten Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 a) Exekutive und legislative Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 b) Richterräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 c) Berufliche Selbstverwaltungskörperschaften und Interessenverbände . 529 d) Militärangehörige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 e) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530 2. Ernennungskriterien und -verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 3. Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532 a) Weiter Gestaltungsspielraum für die Konventionsstaaten . . . . . . . . . . . 532 b) Zulässigkeit einer Wahl durch die Bevölkerung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533

III. Die Bestimmung des Spruchkörpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534 1. Zuweisung einer Streitigkeit an einen Spruchkörper . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534

Inhaltsverzeichnis

23

2. Austausch des ursprünglichen Spruchkörpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 IV. Die Zusammensetzung der Spruchkörper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540 1. Zuständige Organe und Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 a) Entscheidung über Zusammensetzung des Spruchkörpers durch beteiligte Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 b) Auswahl von Schöffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546 c) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 2. Inhaltliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548 a) Verwaltungs- oder Disziplinarkammern mit Beteiligung von Experten 549 b) Beteiligung von Prozessparteien oder Mitgliedern von Interessenverbänden oder -vertretern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 (1) Ausbalancierte Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 (2) Beziehung der Richter zu ihrem Ernennungsorgan . . . . . . . . . . . . . 554 (3) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556 V.

Die Eignung einzelner Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 1. Vorbefassung in hoheitlicher Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 a) Im Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558 (1) Als Mitglied des Parlaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 (2) Als Mitglied eines Staatsrates oder Beratungsorgans . . . . . . . . . . . 562 (3) Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 (a) Keine strenge Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 (b) Der „gleiche Fall“ und die „gleiche Entscheidung“ . . . . . . . . . 566 (c) Die Qualität der vorherigen Befassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568 b) Im Ermittlungs- oder Anklageverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570 (1) Als Mitglied der Anklagebehörde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570 (2) Als Untersuchungs- oder Haftrichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 (3) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572 c) Im Gerichtsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 d) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574 2. Richterliche Voreingenommenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576 a) Richter als Partei des Rechtsstreits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576 (1) Richter als Antragsteller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576 (2) Richter als geschädigte Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576 (3) Contempt of Court-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 (4) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 b) Potenzielle Betroffenheit wegen gleicher Gefahrenlage . . . . . . . . . . . . 579

24

Inhaltsverzeichnis c) Polizisten als Schöffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580 d) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 VI. Austausch von Richtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582 1. Aus organisatorischen Gründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582 2. Wegen richterlicher Vorbefassung oder Voreingenommenheit . . . . . . . . . . 585 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586 VII. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587

E. Die richterlichen Statusrechte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 I.

Freiheit von Weisungen und gezielter Einflussnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 1. Freiheit vor Beeinflussung durch exekutive und legislative Organe . . . . . . 590 a) Inhaltliche Aufforderung, ein Urteil mit bestimmtem Inhalt zu sprechen 591 (1) Direkte Aufforderung an die Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 (2) Öffentliche Äußerungen von Regierungsmitgliedern zu laufenden Prozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594 (3) Aufforderung an die zuständige Behörde, das Urteil nicht umzu­ setzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596 (4) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 b) Weisungs- und Abhängigkeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 (1) Zwischen Richter und Ernennungs- beziehungsweise Disziplinarorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 (a) Berufsrichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 (b) Laienrichter, insbesondere Beamte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600 (2) Zwischen Richter und Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 (3) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606 c) Prozessuale Absprachen von Gerichten mit verfahrensbeteiligten Ministerien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 d) Wahrnehmung der parlamentarischen Kontrollfunktion . . . . . . . . . . . . 609 e) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610 2. Freiheit vor Anordnungen durch judikative Organe und interne Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613

II.

Ausübung des Amtes für die Dauer der vorgesehenen Amtszeit . . . . . . . . . . . . 614 1. Dauer der Amtszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614 a) Bis zum Erreichen der Altersgrenze oder auf Lebenszeit . . . . . . . . . . . 614 b) Für eine bestimmte Dauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 c) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 2. Unabsetzbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620

Inhaltsverzeichnis

25

a) Keine grundlose vorzeitige Absetzung oder Entlassung . . . . . . . . . . . . 620 b) Verkürzung der aktuellen Amtszeit durch Gesetzesänderung . . . . . . . . 624 c) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 3. Unversetzbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626 4. Absetzbarkeit von Richtern auf Probe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629 5. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630 III. Vergütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 IV. Richterliche Immunität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633 1. Gegen zivilrechtliche Klagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 634 2. Gegen strafrechtliche Anklagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 V.

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638

F. Die persönlichen richterlichen Freiheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639 I. II.

Kein Recht auf Zugang zu öffentlichen Ämtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640 Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 1. Anwendungsbereich und Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 a) Persönlicher Anwendungsbereich: Richter als Berechtigte der Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 b) Sachlicher Anwendungsbereich: Abgrenzung zwischen Meinungsfreiheit und dem Recht auf Zugang zu öffentlichen Ämtern . . . . . . . . . . . . . . . 643 c) Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 2. Rechtfertigungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 648 a) Legitimer Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 b) Abwägungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 650 c) Verengter margin of appreciation für die Konventionsstaaten . . . . . . . . 654 3. Auswirkungen auf die Garantie der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656 4. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657

III. Vereinigungsfreiheit gemäß Art. 11 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659 1. Mitgliedschaft von Richtern in einer Vereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 660 2. Auswirkungen auf die Garantie der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 662 a) Mitgliedschaft bei den Freimaurern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 662 b) Mitgliedschaft in einer Richtervereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663 c) Mitgliedschaft in einer politischen Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664 3. Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 666 IV. Religionsfreiheit gemäß Art. 9 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667

26

Inhaltsverzeichnis V.

Recht auf ein ungestörtes Privatleben gemäß Art. 8 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . 669 1. Anwendungsbereich und Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669 2. Rechtfertigungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677

VI. Recht auf gerichtliche Prüfung statusrelevanter Maßnahmen gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677 1. Überprüfung von Disziplinarmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677 2. Überprüfung von Ernennungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 682 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683 VII. Persönliche Freiheit, Art. 5 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683 VIII. Eigentumsfreiheit, Art. 1 ZP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685 IX. Passives Wahlrecht, Art. 3 ZP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687 X.

Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687 1. Besonderheiten in der Grundrechtsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688 2. Kohärenz mit dem Schutz der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 690 3. Indirekte Geltendmachung richterlicher Statusrechte durch persönliche Freiheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691

XI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692 G. Das innerstaatliche Gerichtssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693 I.

Gerichtliches Mehrebenensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 694 1. Eine gerichtliche Instanz verpflichtend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695 2. Rechtsmittel-Instanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695 a) Zivilrechtliche Streitigkeiten: Keine Verpflichtung zur Einrichtung einer zweiten Instanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695 b) Strafrechtliche Verurteilung: Zweite Instanz verpflichtend . . . . . . . . . . 697 (1) Anwendungsvoraussetzungen des Art. 2 ZP 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . 697 (2) Institutionelle Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 698 (3) Beschränkungsmöglichkeiten mit institutioneller Relevanz . . . . . . 699 c) Haftprüfung gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701 d) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701 3. Heilung von Konventionsverstößen der ersten Instanz durch das Rechtsmittelgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 702 a) Im Zivilverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 702 b) Im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703 c) Bei der Haftprüfung gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707 d) Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707 4. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 708

Inhaltsverzeichnis II.

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Als Gerichte anerkannte Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 709 1. Spezial- und Sondergerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710 2. Insbesondere: Staatlich eingerichtete Schiedsgerichte und nicht-staatliche obligatorische Schlichtungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 712 3. Insbesondere: Militärgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715 a) Bei zivil- und verwaltungsgerichtlichen Verfahren von Militärangehörigen 717 b) Bei Disziplinar- und Strafverfahren gegen Soldaten . . . . . . . . . . . . . . . 718 (1) Die britischen Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 719 (2) Die türkischen Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721 (3) Die rumänischen Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 722 (4) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 722 c) Bei Strafverfahren gegen zivile Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723 d) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 728 4. Verfassungsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 729 5. Berufsständische Disziplinarorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 731 6. Richterräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 732 7. Verwaltungsspruchkörper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 736 8. Staatsräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 737 9. Supervisionsorgane der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 740 10. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741

III. Organe ohne Gerichtsqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741 1. Parlamente und parlamentarische Kammern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741 2. Regierungen und Regierungsmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745 3. Staatsoberhäupter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 746 4. Organe der Strafverfolgung und Anklagevertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747 a) Staatsanwaltschaft als Partei des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747 b) Abwesenheit des Staatsanwalts bei der gerichtlichen Verhandlung . . . . 749 c) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751 5. Rechnungshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 752 6. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 754 H. Ergebnis: Konventionsrechtliche Anforderungen an die judikative Gewalt . . . . . . . . 754

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Inhaltsverzeichnis Kapitel 5

Synthese 757 A. Minimalanforderungen der EMRK an die innerstaatliche Gewaltenteilung . . . . . . . . 758 I. II.

Traditionelles Funktionsverständnis: Drei Gewalten als Grundkonsens . . . . . . 758 Institutionelle Pluralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 759 1. Die gesetzgebende Körperschaft im Sinne des Art. 3 ZP . . . . . . . . . . . . . . 759 2. Die judikativen Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 762 a) Gerichte im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 762 (1) Institutionelle Bedeutung der einzelnen Gerichtsmerkmale . . . . . . 762 (2) Gerichtssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763 (3) Gerichtliche Zuständigkeitsverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 764 (4) Zusammensetzung der Spruchkörper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 764 b) Weitere judikative Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 766 3. Keine expliziten Anforderungen an die exekutiven Organe . . . . . . . . . . . . 767

III. Zuordnung der hoheitlichen Tätigkeiten zu den Organen . . . . . . . . . . . . . . . . . 768 1. Verpflichtende Zuordnungen einzelner hoheitlicher Tätigkeiten . . . . . . . . 768 a) Gesetzgebende Körperschaften gemäß Art. 3 ZP . . . . . . . . . . . . . . . . . 768 (1) Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 768 (2) Erlass der gesetzlichen Grundlagen für die Gerichtsbarkeit . . . . . . 770 b) Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 770 (1) Letztverbindliche Entscheidung über Streitigkeiten zivilrechtlicher Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 770 (2) Verurteilungen und Freiheitsentziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 771 (3) Kontrolle und Aufhebung gerichtlicher Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . 772 (4) Haftprüfung und richterliche Vorführung von Untersuchungs- und Präventivgefangenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 772 (5) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 772 c) Beschwerdeinstanzen nach Art. 13 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773 d) Strafverfolgungsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773 2. Anerkannte Zuordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773 a) Gesetzgebende Körperschaft gemäß Art. 3 ZP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773 b) Gerichte gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 774 (1) Verhängung von Disziplinar- und Ordnungsmaßnahmen . . . . . . . . 774 (2) Rechtsauslegung und Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 774 c) Gerichtspräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 776 d) Exekutive Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 776 (1) Exekutive Rechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 776 (2) Konkret-individuelle Rechtsanwendungsentscheidungen . . . . . . . . 777

Inhaltsverzeichnis

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(3) Streitentscheidung und Verhängung von Sanktionen . . . . . . . . . . . 777 (4) Freiheitsentziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777 (5) Umsetzung gerichtlicher Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 778 3. Formen institutioneller Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 778 a) Relative Trennung der Gerichte von anderen Organen . . . . . . . . . . . . . 778 (1) Wirksame und verbindliche gerichtliche Entscheidung ohne Beteiligung anderer hoheitlicher Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779 (2) Gerichtliche Entscheidung frei von tatsächlichen Einflüssen . . . . . 779 (3) Rückwirkende Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 780 b) Formen der Zusammenarbeit und des Zusammenwirkens . . . . . . . . . . . 780 (1) Zusammenarbeit im Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . 781 (2) Zusammenarbeit bei der Strafverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781 (3) Zusammenwirken bei Fragen der gerichtlichen Prozessökonomie . 781 (4) Zusammenwirken bei der Ausgestaltung der innerstaatlichen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 782 c) Gerichte als Kontrollorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 782 (1) Kontrolle exekutiver Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783 (a) Kontrollgegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783 (b) Reichweite der Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 784 (c) Abhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 784 (2) Kontrolle gerichtlicher Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 785 (3) Eingeschränkte Kontrolle legislativer Entscheidungen . . . . . . . . . . 786 IV. Rechtlicher Status von Organwaltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 786 1. Inkompatibilitätsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 787 2. Statusrechte und -pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 787 a) Abgeordnete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 787 b) Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 788 c) Organwalter der Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 790 3. Besetzungs- und Ernennungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 791 a) Abgeordnete der gesetzgebenden Körperschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 791 b) Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 791 c) Keine Vorgaben für exekutive Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 792 4. Disziplinarverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793 a) Abgeordnete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793 b) Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793 c) Organwalter der Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 794 V.

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 794

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Inhaltsverzeichnis

B. Mechanismen zur Ableitung staatsorganisatorischer Vorgaben aus den subjektiven Rechten der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 794 I.

Autonomes und funktionales Begriffsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 795

II.

Objektive und strukturelle Wirkungen der subjektiven Konventionsrechte . . . . 796

III. Rückgriff auf staatsorganisatorische Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 798 IV. Anwendbarkeit der persönlichen Freiheitsrechte der Richter in hoheitlichen Zusammenhängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 800 C. Gesamtergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 802 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 825

Einleitung: Die EMRK – Mehr als eine Teilverfassung? Die Europäische Menschenrechtskonvention ist als Instrument des wirksamen Menschenrechtsschutzes aus dem europäischen Rechtsraum nicht mehr wegzudenken. Die inzwischen nur noch 461 Konventionsstaaten haben die EMRK ratifiziert und sich zu einem allgemeinen europäischen Standard des Menschenrechtsschutzes verpflichtet. Diese Staaten akzeptieren damit die Jurisdiktion des EGMR, welcher sie wegen eines Verstoßes gegen das Konventionsrecht verurteilen kann. Um dies zu verhindern, passen die Konventionsstaaten ihre Rechtsordnung schrittweise an die Vorgaben der EMRK an.2 Die EMRK und der EGMR werden nicht selten in einen verfassungsrecht­ lichen Kontext gestellt. Der EGMR selbst bezeichnet die EMRK als Verfassungsinstrument eines gemeineuropäischen ordre public (constitutional instrument of European public order).3 Die Konvention wird Menschenrechteverfassung4 oder 1 Nach dem Ausschluss aus dem Europarat (Ministerkomitee, CM / Res(2022)2, Resolution on the cessation of the membership of the Russian Federation to the Council of Europe, 16.02.2022) ist Russland seit dem 16.09.2022 kein Vertragsstaat der EMRK, mehr, Resolution of the European Court of Human Rights on the consequences of the cessation of membership of the Russian Federation to the Council of Europe in light of Article 58 of the European Convention on Human Rights, 22.03.2022, https://echr.coe.int/Documents/Resolution_ ECHR_cessation_membership_Russia_CoE_ENG.pdf, zuletzt abgerufen am 09.04.2022. 2 Exemplarisch: In Deutschland wurde ein Rechtsbehelf gegen überlange Verfahrensdauer eingerichtet, nachdem der EGMR ein strukturelles Problem ausgemacht und dessen Behebung angemahnt hatte, EGMR Nr. 46344/09, Rumpf v Deutschland, 02.09.2010, §§ 64, 70, 73; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 209; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 118. In Belgien, Portugal, den Niederlanden und Frankreich wurde die Rolle des Generalanwalts in Gerichtsverfahren und in Großbritannien das System der Militärgerichtsbarkeit reformiert, die Türkei musste ihre State Security Courts abschaffen und auch die Doppelfunktion der Staatsräte in frankophonen Ländern wurde entsprechend der Anforderungen des Art. 6 EMRK angepasst, siehe diese Beispiele bei Kosař, Utrecht LR 13 (2017), S. 112 (112–113); Popović, ECtHR and the Concept of Separation of Powers, in: Prabhakar, The Separation of Powers, S. 194 ff.; Leloup, HRLR 2020, S. 480 (483). Siehe für weitere Nachweise zum Schrifttum, das sich mit den Auswirkungen der EGMR-Rechtsprechung auf die nationale Rechtsordnung auseinandersetzt Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33 (35 Fn. 14); Kosař, Utrecht LR 13 (2017), S. 112 (120–121). 3 Grundlegend EGMR Nr. 15318/89, Loizidou v Türkei (Preliminary Objections) (GK), 23.03.1995, § 75; dem folgend aktuell etwa EGMR Nr. 5809/08, Al-Dulimi und Montana Management Inc. v Schweiz (GK), 21.06.2016, § 145; Nr. 8675/15 und 8697/15, N. D. und N. T. v Spanien (GK), 13.02.2020, § 110. 4 Uerpmann-Wittzack, JURA 2014, S. 916 (916); Hoffmeister, Der Staat 40 (2001), S. 350 (363).

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Einleitung: Die EMRK – Mehr als eine Teilverfassung? 

Teilverfassung5 genannt,6 der EGMR mit einem Verfassungsgericht verglichen7. Ob der EMRK Verfassungsqualität beziehungsweise dem EGMR Verfassungsgerichtsqualität zugesprochen wird,8 hängt nicht zuletzt davon ab, welches Verfassungsverständnis der Untersuchung zugrunde gelegt wird. Eine Vergleichbarkeit mit einer staatlichen Verfassung scheitert bereits daran, dass die EMRK keine eigenständigen organisatorischen Normen enthält.9 Andererseits enthält die EMRK neben menschenrechtlichen Verpflichtungen auch ein Bekenntnis zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Die Demokratie ist die einzige mit der EMRK vereinbare Staatsform.10 Die rule of law wird vom EGMR zur Auslegung der Konventionsrechte, insbesondere des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK herangezogen.11 Die EMRK verpflichtet die Konventionsstaaten also nicht nur dazu, die menschenrechtlichen Gewährleistungen einzuhalten, sie verpflichtet sie auch zur Etablierung und Aufrechterhaltung einer demokratischen und rechtsstaatlichen Grundordnung.12

5

Gerards, Die EMRK im Konstitutionalisierungsprozess, S. 175; Frowein, in: Kaufmann /  Mestmäcker / Zacher, FS Maihofer, S. 149 (149, 152); Walter, ZaöRV 59 (1999), S. 961 (964). 6 Siehe für weitere Nachweise zur Verfassungsrhetorik im Zusammenhang mit der EMRK Gerards, Die EMRK im Konstitutionalisierungsprozess, S. 151–152; Hoffmeister, Der Staat 40 (2001), S. 349 (353–354). 7 So z. B. Walter, ZaöRV 75 (2015), S. 753 (764); Greer, HRQ 30 (2008), S. 680 (701); Zupančič, Annuaire international de justice constitutionnelle 2000, S. 11 (14). Keller / Kühne, ZaöRV 76 (2016), S. 245–307 kommen zu dem Ergebnis, dass der EGMR am treffendsten als „Quasi-Verfassungsgericht“ oder als „Gerichtshof mit ergänzender verfassungsgerichtlicher Funktion“ zu bezeichnen sei (S. 306); Susi, GYIL 57 (2014), S. 353–374 attestiert dem EGMR eine implizite verfassungsrechtliche Kompetenz. Siehe für weitere Nachweise Kosař, ­EuConst 8 (2012), S. 33 (60–61, Fn. 135 und 136). 8 Diese Frage erörtert von Nußberger, JZ 2019, S. 421–428, welche die Verfassungsqualität im Ergebnis ablehnt und die EMRK als „Schattenverfassung“ (S. 427) bezeichnet. Ebenfalls bereits ausführlich Gerards, Die EMRK im Konstitutionalisierungsprozess, S. 151–175; Hoffmeister, Der Staat 40 (2001), S. 349 (353–363). 9 Hoffmeister, Der Staat 40 (2001), S. 350 (354). Vgl. auch Nußberger, JZ 2019, S. 421 (425). 10 EGMR Nr. 19392/92, United Communist Party of Turkey u. a. v Türkei (GK), 30.01.1998, § 45; Nr. 41340/98 u. a., Refah Partisi (The Welfare Party) u. a. v Türkei (GK), 13.02.2003, § 86; Nr. 44158/98, Gorzelik u. a. v Polen (GK), 17.12.2004, § 89; Nr. 58278/00, Ždanoka v Lettland (GK), 16.03.2006, § 98. Siehe ausführlicher zur Bedeutung des Demokratieprinzips in der EMRK unten ab S. 134. 11 Zur Begründung des Rechts auf Zugang zum Gericht als Aspekt der Rechtsstaatlichkeit EGMR Nr. 4451/70, Golder v Vereinigtes Königreich (Pl.), 21.02.1975, § 34. Dem folgend beispielsweise EGMR Nr. 1398/03, Markovic u. a. v Italien (GK), 14.12.2006, § 92; Nr. 40160/12, Zubac v Kroatien (GK), 05.04.2018, § 76. Die Rechtssicherheit als Aspekt der rule of law dient dazu, die Bindungswirkung gerichtlicher Urteile als Bestandteil des Gerichtsbegriffs gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK zu begründen, EGMR Nr. 28324/95, Brumărescu v Rumänien (GK), 28.10.1999, § 61. 12 Gerards, Die EMRK im Konstitutionalisierungsprozess, S. 154–158; Nußberger, JZ 2019, S. 421 (426); Wojtyczek, ERPL 32 (2020), S. 185 (195–196); Ress, Separation of Powers and the Function of the Judiciary, in: Barcellona / Carrino, I diritti umani, S. 187 (191).

A. Erkenntnisinteresse

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Daneben zieht der Gerichtshof der Europäischen Union die EMRK regelmäßig als Rechtserkenntnisquelle heran, Art. 6 Abs. 3 EMRK.13 Nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh dürfen die unionalen Grundrechte keine geringere Bedeutung oder Tragweite haben als die Konventionsrechte. Hierdurch wird der konventionsrechtliche Schutzstandard für die EU und ihre Mitgliedstaaten verpflichtend, soweit sich die Rechte in EMRK und GRCh entsprechen.14 So werden insbesondere die Wertungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK zum Maßstab in Urteilen, die sich mit Angriffen auf die Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn auseinander setzen.15 Über Art. 47 GRCh wird der Gewährleistungsgehalt des Art. 6 Abs. 1 EMRK somit zu unmittelbar geltendem Unionsrecht für alle EU-Mitgliedstaaten.

A. Erkenntnisinteresse Diese Arbeit untersucht, welche strukturellen, staatsorganisatorischen Vorgaben die demokratische und rechtsstaatliche Konventionsrechtsordnung für die Konventionsstaaten enthält. Untersuchungsgegenstand ist das Verfassungsprinzip der Gewaltenteilung. Anders als die Rechtsstaatlichkeit und das Demokratieprinzip ist die Gewaltenteilung nicht ausdrücklich im Konventionstext genannt, wird aber seit 2002 regelmäßig vom EGMR in seinen Erwägungsgründen herangezogen.16 Aus verfassungstheoretischer Perspektive dient Gewaltenteilung der Erhaltung einer rechtsstaatlichen und demokratischen Grundordnung,17 welcher sich auch die Konventionsstaaten verpflichtet haben. Der genaue Inhalt des – ausfüllungsbedürftigen – Gewaltenteilungskonzepts ist jeweils vom Verfassungssystem und den einzelnen Verfassungsnormen abhängig. Stets dient die Gewaltenteilung aber dazu, die bürgerliche Freiheit zu sichern.18 Die EMRK hat die gleiche Intention. Mangels eigenständiger 13

Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 6; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 4 Rn. 11–12; Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 2 Rn. 54. 14 Jarass, GRCh, Art. 52 Rn. 63; Lenaerts, EuR 2013, S. 3 (12–13). Für eine Übersicht der sich entsprechenden Rechte Kotzur, in: Geiger / K han / Kotzur, EUV / A EUV, Art.  52 GRCh Rn. 6–7. 15 EuGH C–585/18, C–624/18 und C–625/18, A. K. v Krajowa Rada Sądownictwa und CO, und DO v Sąd Najwyższy (GK), 19.11.2019, §§ 118, 126–130, 133, 137, 145; C–791/19, Kommission v Polen (GK), 15.07.2021, §§ 83, 168–173; C–487/19, W. Ż. (GK), 06.10.2021, §§ 116–126. 16 Erstmals EGMR Nr. 46295/99, Stafford v Vereinigtes Königreich (GK), 28.05.2002, § 78. 17 Grzeszick, Die Teilung staatlicher Gewalt, S. 58; Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 405–406. Vgl. die Bezeichnung als „Grundordnung“ auch bei Stern, Staatsrecht, Bd. 1, S. 74–75; Schöbener / Knauff, Allgemeine Staatslehre, § 1 Rn. 9; Sodan /  Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, § 4 Rn. 9; Haller / Kölz / Gächter, Allgemeines Staatsrecht, Rn. 323. 18 Möllers, Gewaltengliederung, S. 68; Seiler, Gewaltenteilung, S. 206–209. Ausführlich zum Zusammenhang zwischen Freiheit und Gewaltenteilung Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 27–42.

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Einleitung: Die EMRK – Mehr als eine Teilverfassung? 

staatsorganisatorischer Normen können sich strukturelle Vorgaben jedoch nur aus den subjektiven Konventionsrechten ableiten lassen. Die EMRK nennt explizit die gesetzgebende Körperschaft und das Gericht als Verfassungsorgane. Hätte ein Konventionsstaat keine gesetzgebende Körperschaft, könnte er keine regelmäßigen Wahlen zu deren Besetzung durchführen; jeder wahlberechtigte Bürger wäre in seinem Wahlrecht aus Art. 3 ZP verletzt. Gäbe es kein Gericht, wäre die Durchführung eines fairen Verfahrens gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK unmöglich. Die EMRK sieht nicht nur vor, dass es diese Organe gibt, der EGMR definiert sie auch. Hieraus ergeben sich Vorgaben für die institutionelle Ausgestaltung, etwa die Besetzung, das Besetzungsverfahren, mögliche Disziplinarverfahren gegen Organwalter, aber auch für die den Organen zugewiesenen Aufgaben, die Kompetenzgrundlagen und die Bindungswirkung der vom Organ erlassenen Rechtsakte.19 Art. 6 Abs. 1 EMRK macht nicht nur Vorgaben für das gerichtliche Organ, sondern auch für die gerichtliche Tätigkeit. Soweit der Anwendungsbereich eröffnet ist, müssen die Konventionsstaaten einen Zugang zum Gericht ermöglichen. In den Anwendungsbereich fallende Streitigkeiten müssen also durch Gerichte entschieden werden. Davon ausgehend stellt sich die Frage, ob andere Organe möglicherweise vor einer gerichtlichen Entscheidung beteiligt sein können. Außerdem wird untersucht, welche Prüfungs- und Entscheidungsbefugnisse die Gerichte im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK haben müssen. Gleichfalls stellt sich die Frage, ob Gesetze der Konventionsstaaten im Rahmen der grundrechtseinschränkenden und -ausgestaltenden Gesetzesvorbehalte zwingend von der gesetzgebenden Körperschaft im Sinne des Art. 3 ZP erlassen werden müssen. Schließlich können sich auch Organwalter auf ihre Rechte aus der EMRK berufen. Die Gewährleistungsgehalte der Konventionsrechte können in die hoheitliche Tätigkeit hineinwirken. Hieraus können Rückschlüsse auf die Statusrechte der Abgeordneten und der Richter gezogen werden. Ziel der Arbeit ist es, die EGMR-Rechtsprechung zu institutionellen und staatsorganisatorischen Fragen zu einem Gesamtbild zusammenzuführen, gleichsam einer Schablone, welche über alle konventionsstaatlichen Verfassungsordnungen gelegt werden kann und anhand der geprüft werden kann, ob die innerstaatlichen Regelungen konventionskonform sind.

19 Vgl. Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33 (38–39): „[C]ertain rights guaranteed in ECHR […] have an intrinsic separation of powers aspect.“; Wojtyczek, ERPL 32 (2020), S. 185 (186): „[C]ertain rights protected by the Convention have a clear institutional dimension, require a certain shaping of certain State organs and therefore affect directly the constitutional structure of the State.“; Altwicker, Convention Rights as Minimum Constitutional Guarantuees?, in: von Bogdandy / Sonnevend, Constitutional Crisis, S. 331 (340): „[T]he ECHR […] [lays] claims on the organisational design of the State and its institutions, which has implications for the structure and functioning of the judiciary, law enforcement agencies and the legislature.“

B. Methodisches Vorgehen und Gang der Untersuchung

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B. Methodisches Vorgehen und Gang der Untersuchung Zunächst ist die Gewaltenteilung als Untersuchungsgegenstand zu definieren. Ein verfassungstheoretisches Vorgehen ermöglicht die Formulierung eines Gewaltenteilungsbegriffs, der vom Verständnis einzelner Staaten unabhängig ist. Genauso wie das Rechtsstaatsprinzip und das Demokratieprinzip ist die Gewaltenteilung ein Sammelbegriff für verschiedene Aspekte eines Grundgedanken. Durch die Dekonstruktion des konturlosen allgemeinen Gewaltenteilungsbegriffs in einzelne Aspekte entsteht ein brauchbarer Untersuchungsgegenstand. Das erste Kapitel identifiziert verschiedene Gewaltenteilungselemente, welche in der anschließenden Rechtsprechungsanalyse als Parameter dienen, anhand der die EGMR-Rechtsprechung nach einzelnen Aspekten der Gewaltenteilung durchsucht werden kann. Das zweite Kapitel untersucht, bei welchen Sachverhalten der EGMR den Begriff der Gewaltenteilung selbst in den Erwägungsgründen verwendet. Aus dieser Zusammenschau zeigt sich, in welchem inhaltlichen Kontext der EGMR selbst den Begriff der Gewaltenteilung verwendet. Den Hauptteil der Arbeit bildet die Rechtsprechungsdarstellung und -analyse im dritten und vierten Kapitel. Anhand der im ersten Kapitel ermittelten Gewaltenteilungselemente werden die Vorgaben an die Legislative und an die Judikative untersucht. Verstößt eine innerstaatliche organisatorische Regelung gegen ein subjektives Konventionsrecht, liegt eine Konventionsverletzung vor: In diesem Einzelfall wurde der konventionsrechtliche Mindeststandard unterschritten. Oberhalb des vom EGMR formulierten Mindeststandards verfügen die Staaten über einen uneingeschränkten Gestaltungsspielraum, vgl. Art. 53 EMRK.20 Dies gilt für alle sich aus der EMRK ergebenden Verpflichtungen, somit auch für institutionelle Vorgaben. Aus der Zusammenschau der Urteile ergibt sich ein Überblick der vom EGMR formulierten gewaltenteiligen Mindeststandards,21 der keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann und sich durch die zukünftige Rechtsprechung verändern und vervollständigen wird. Daneben kann der Rechtsprechungsüberblick zeigen, welche Ausgestaltungen der Gewaltenteilung der EGMR als konventionskonform anerkannt hat. Im Zentrum des dritten Kapitels steht die Rechtsprechung zum Wahlrecht und zur gesetzgebenden Körperschaft gemäß Art. 3 ZP, zum materiellen Gesetzesvor 20

Die EMRK definiert Mindeststandards im Bereich der Menschenrechte, Meyer-Ladewig /  Renger, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 53 Rn. 1; Grabenwarter, Nationale Grundrechte und Rechte der EMRK, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/2, § 169 Rn. 24; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 2 Rn. 14; ohne Bezug zu Art. 53 EMRK Zupančič, Annuaire international de justice constitutionnelle 2000, S. 11 (16). 21 Mit dieser Formulierung im Kontext institutioneller Vorgaben durch die EMRK auch ­Altwicker, Convention Rights as Minimum Constitutional Guarantuees?, in: von Bogdandy /  Sonnevend, Constitutional Crisis, S. 331 (342).

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Einleitung: Die EMRK – Mehr als eine Teilverfassung? 

behalt, welcher üblicherweise an den Art. 8–11 Abs. 2 EMRK festgemacht wird, zum formellen Gesetzesvorbehalt aus Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie zu den Statusrechten der Abgeordneten. Das vierte Kapitel analysiert den Gesetzesbegriff des Art. 6 Abs. 1 EMRK, aus dem sich Vorgaben für gerichtliche Kontroll- und Entscheidungsbefugnisse sowie die Gerichtsorganisation ableiten lassen. Aus den Grundsätzen der gerichtlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit ergeben sich Anforderungen an Ernennung und Auswahl sowie an die Statusrechte der Richter. Disziplinarische sowie andere repressive Maßnahmen kontrolliert der EGMR aufgrund der Individualbeschwerden von Richtern, die ihre persönlichen Freiheitsrechte geltend machen. Die in der Rechtsprechungsanalyse herausgearbeiteten Vorgaben an die innerstaatliche gewaltenteilige Zuständigkeitsordnung werden in der Synthese schließlich den im ersten Kapitel herausgearbeiteten verfassungstheoretischen Elementen der Gewaltenteilung zugeordnet. Die Arbeit schließt mit einem Überblick über die dogmatischen Instrumente und Methoden, mit denen der EGMR die staatsorganisatorischen Vorgaben entwickelt. Das Vorgehen dieser Arbeit sieht sich der methodischen Kritik ausgesetzt, dass der Charakter der EGMR-Urteile als Einzelfallentscheidungen, die sich allein auf den individuellen zugrunde liegenden Sachverhalt beziehen, verkannt wird. Die Aufgabe des EGMR besteht tatsächlich nicht darin, abstrakt das nationale Recht und dessen Anwendung zu kontrollieren, sondern im konkreten Fall eine Verletzung der Konventionsrechte zu prüfen.22 Es darf auch nicht davon ausgegangen werden, dass sich aus der Gesamtschau aller Urteile eine widerspruchslose Rechtsordnung ergibt, die der Gerichtshof planvoll etabliert. Bei seinen Urteilen hat der EGMR den Einzelfall, nicht die Kohärenz der gesamten Konventionsrechtsordnung im Blick.23 Darüber hinaus ist die Frage, worüber der EGMR entscheidet, abhängig davon, welche Beschwerden vorgebracht werden. Die Arbeit macht jedoch auch nicht den Versuch, ein vom EGMR planvoll entwickeltes abstraktes, abschließendes Gewaltenteilungskonzept aus dessen Einzelfallentscheidungen zusammenzusetzen. Aus einer Einzelfallentscheidung darf nicht automatisch eine generelle Vorgabe für alle 46 Konventionsstaaten abgeleitet werden. Besonderheiten des Einzelfalls können stets dazu führen, dass der EGMR in einem ähnlichen Sachverhalt anders entscheidet. Liegt hingegen eine gefestigte Rechtsprechungslinie vor, welche wiederholt die gleiche Anforderung gegenüber

22 Siehe jüngst etwa EGMR Nr. 47143/06, Roman Zakharov v Russland (GK), 04.12.2015, § 164; Nr. 27803/16, Piras v San Marino (Zul.), 27.06.2017, § 61; Nr. 14727/11, N. T. v Russland, 02.06.2020, § 42; Nr. 20649/18, R. R. und R. D. v Slowakei, 01.09.2020, § 125; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 112; Milano, Le droit à un tribunal, Rn. 45; sehr deutlich auch Szwed / Wiśniewska, Strasbourg  – A new destination on the road towards the rule of law?, S. 12. 23 So Wojtyczek, ERPL 32 (2020), S. 185 (193).

C. Forschungsstand

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verschiedenen Staaten formuliert, lässt dies darauf schließen, dass diese Anforderung verallgemeinerungsfähig ist. Gleiches gilt für die vom EGMR zu Beginn der Erwägungsgründe aufgeführten allgemeinen Rechtsprechungsprinzipien zu einem konkreten Konventionsrecht oder einer konkreten Auslegungsfrage, wenn diese regelmäßig wiederholt werden. Hierbei handelt es sich allerdings um Definitionen der konventionsrechtlichen Schutzbereiche oder Prinzipien der Eingriffs- und Verhältnismäßigkeitsprüfung, unter die die Einzelfälle noch subsumiert werden. Die Arbeit erarbeitet aus einzelnen Urteilen, Rechtsprechungsfallgruppen und gefestigter Rechtsprechung institutionelle Vorgaben, die für die Staaten verpflichtend sind, um die grundrechtlichen Gewährleistungen einhalten können. Hierbei werden Urteile zu allen geltenden Konventionsrechten inklusive der Rechte aus den Zusatzprotokollen einbezogen, unabhängig davon, wie viele oder welche Konventionsstaaten die einzelnen Zusatzprotokolle bereits ratifiziert haben. Das über die Kommentarliteratur hinausgehende Schrifttum wird insbesondere in Fällen einer unklaren oder lückenhaften Rechtsprechungslage ergänzend herangezogen, in Anbetracht der Fülle an Urteilen jedoch nicht abschließend ausgewertet. Schließlich wird das Untersuchungsvorhaben dadurch begrenzt, dass der EGMR in den allermeisten Fällen über Individualbeschwerden entscheidet, die nach Art. 34 EMRK nur von Beschwerdeführern eingelegt werden dürfen, die von den von ihnen angegriffenen Maßnahmen selbst betroffen sind. Institutionelle Vorgaben kann der EGMR also nur dann machen, wenn diese an den Gewährleistungsgehalt oder die Schranke eines Konventionsrechts anknüpfen. Dies ist entweder möglich, wenn ein Organ oder eine hoheitliche Tätigkeit wie im Fall der Art. 3 ZP oder Art. 6 EMRK im Gewährleistungsgehalt einer Norm ausdrücklich genannt wird, wenn ein Amtsträger ein persönliches Recht geltend machen kann, welches in Zusammenhang mit einer hoheitlichen Tätigkeit steht oder wenn ein verfassungsrechtliches Prinzip ein Konventionsrecht eines Bürgers einschränkt. Fragen der Gewaltenteilung, die nicht in eine dieser drei Konstellationen fallen, liegen außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des EGMR.

C. Forschungsstand Die Rechtsprechung des EGMR zur Gewaltenteilung hat in den vergangenen Jahren zunehmende Beachtung erhalten.24 Die nicht-monographischen Veröffentlichungen betrachten ausgewählte Fallgruppen der Rechtsprechung oder unternehmen einen kursorischen Überblick über verschiedene institutionelle Vorga-

24

Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33 (35) sowie Altwicker, Convention Rights as Minimum Constitutional Guarantuees?, in: von Bogdandy / Sonnevend, Constitutional Crisis, S. 331 (340) bemerkten noch das fehlende Interesse der Wissenschaft an dieser neuen Rechtsprechungslinie.

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Einleitung: Die EMRK – Mehr als eine Teilverfassung? 

ben.25 Meist steht das Verhältnis zwischen Judikative und Exekutive im Fokus. Diese Beiträge bieten einen guten Ausgangspunkt für das vorliegende Vorhaben, stellen die aus der EMRK abzuleitenden Minimalanforderungen an die innerstaatliche institutionelle Ausgestaltung der Gewaltenteilung jedoch nicht erschöpfend dar. Die, soweit ersichtlich, einzige monographische Bearbeitung zum Thema in englischer, französischer oder deutscher Sprache lieferte Aikaterini Tsampi mit dem Titel Le principe de séparation des pouvoirs dans la jurisprudence de la Cour européenne des droits de l’homme aus dem Jahr 2019. Im Zentrum von Tsampis Rechtsprechungsanalyse stehen die Beziehungen zwischen den einzelnen Gewalten.26 Die vorliegende Arbeit unterscheidet sich von Tsampis hinsichtlich der Perspektive. Sie lässt zwar die Beziehungen zwischen den einzelnen Gewalten nicht außer Acht, nimmt aber vorrangig die Eigenschaften der hoheitlichen Organe, die Zuordnung staatlicher Tätigkeiten zu bestimmten Organen, sowie die Statusrechte und die persönlichen Rechte der Organwalter in den Blick.

D. Eingrenzung der Fragestellung I. Nichtberücksichtigung innerstaatlicher Entwicklungen Diese Arbeit untersucht die konventionsrechtlichen Vorgaben für institutionelle Strukturen in den Konventionsstaaten. Wie diese in den Konventionsstaaten umgesetzt werden, beziehungsweise welche institutionellen Reformen in den Staaten erfolgten, um den Anforderungen an die Gewaltenteilung zu genügen, wird nicht betrachtet.27 Genauso werden die aktuellen besorgniserregenden Entwicklungen der Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung in verschiedenen europäischen Ländern28 nur insofern eingearbeitet, als sie bereits Gegenstand einer Entscheidung des EGMR 25

Bausback, Menschenrechtliche Anforderungen an die Struktur und Organisation von Legislative, Exekutive und Judikative, in: Klein, Gewaltenteilung und Menschenrechte, S. 175– 201; Ress, Separation of Powers and the Function of the Judiciary, in: Barcellona / Carrino, I diritti humani, S. 187–247; Popović, ECtHR and the Concept of Separation of Powers, in: Prabhakar, The Separation of Powers, S. 194 ff.; Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33–62; Kosař /  Lixinski, AJIL 109 (2015), S. 713–760; Kosař, Utrecht LR 13 (2017), S. 112–123; Altwicker, Convention Rights as Minimum Constitutional Guarantuees?, in: von Bogdandy / Sonnevend, Constitutional Crisis, S. 331–350; Wojtyczek, ERPL 32 (2020), S. 185–219. 26 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 43–44. 27 Siehe jedoch die Nachweise in Fn. 2 als Beleg dafür, dass die Umsetzung der konventionsrechtlichen Vorgaben durchaus zu institutionellen Umstrukturierungen in den Konventionsstaaten führen kann. 28 Gemeint sind hier nicht nur die Entwicklungen in Polen und Ungarn, welche auch die Europäische Union stark beschäftigen, sondern auch die Verfassungsreformen in Russland und der Türkei, welche das Gewaltengefüge stark zugunsten der Präsidenten verschoben haben.

D. Eingrenzung der Fragestellung

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waren.29 Eine darüber hinaus gehende Beurteilung einzelner institutioneller Ausgestaltungen in einzelnen Staaten anhand der in dieser Arbeit erarbeiteten Maßstäbe erfolgt nicht. Auch eine – über die gestellte Forschungsfrage hinausgehende – Auseinandersetzung mit den diesbezüglichen Reaktionen der Europäischen Union, also der Anwendung des Rechtsstaatsmechanismus gemäß Art. 7 EUV und den Urteilen des EuGH30 oder auch den Stellungnahmen der Venedig-Kommission des Europarates31 bleibt einer Erörterung an anderer Stelle vorbehalten. 29 Zur Absetzung des Präsidenten des Obersten Gerichts im Zuge einer Gerichtsreform EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016; zur Festnahme und Entlassung von Richtern als Folge des versuchten Staatsstreichs in der Türkei am 15. und 16.07.2016 EGMR Nr. 12778/17, Alparslan Altan v Türkei, 16.04.2019; Nr. 66448/17, Baş v Türkei, 03.03.2020; im gleichen Zusammenhang zur Festnahme von Abgeordneten EGMR Nr. 14305/17, Selahattin Demirtaş v Türkei Nr. 2 (GK), 22.12.2020. Viele anhängige Beschwerden haben die Gerichtsreform in Polen zum Gegenstand, der EGMR hat diesen Fällen Priorität eingeräumt. Die Fälle betreffen die Frage, ob das polnische Verfassungsgericht angesichts von Unregelmäßigkeiten bei der Richterwahl als Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK eingeordnet werden kann, die vorzeitige Beendigung der Amtszeit von Gerichtspräsidenten durch den Justizminister ohne Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle und der Amtszeit von Mitgliedern des Richterrates, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit verschiedener Kammern des Obersten Gerichts, disziplinarische Maßnahmen gegen Richter, welche die Justizreform kritisierten, die fehlende Anhördung durch ein unabhängiges und unparteiliches durch Gesetz eingerichtetes Gericht im Zusammenhang mit Disziplinarentscheidungen über die Aufhebung der richterlichen Immunität und die Herabsetzung des Pensionsalters für Richter, siehe diese Zusammenfassung in der Pressemitteilung des EGMR Nr. 066(2021) zum Verfahren EGMR Nr. 43572/18, Grzęda v Polen, 18.02.2021. 30 EuGH, C–216/18 PPU, Celmer, 25.07.2018; C–619/18, Kommission v Polen (GK), 26.06.2019; C–791/19 R, Kommission v Polen, 08.04.2020; C–585/18, C–624/18 und C–625/18, A. K. v Krajowa Rada Sądownictwa und CO und DO v Sąd Najwyższy (GK), 19.11.2019; C–824/19, A. B. u. a. v Krajowa Rada Sądownictwa, 02.03.2021; C–83/19 u. a., Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ v Inspecţia Judiciară u. a., 18.02.2021; C–791/19, Kommission v Polen (GK), 15.07.2021; C–487/19, W. Ż. (GK), 06.10.2021. 31 Siehe allgemeine Anforderungen an die Rechtsstaatlichkeit in der rule of law-Checkliste, Venedig-Kommission, CDL-AD(2016)007, Rule of law Checklist, angenommen am 11.–12.03.2016; zu speziellen Anforderungen an die Gerichtsbarkeit Venedig-Kommission, CDL-AD(2010)004, Report on the Independence of the Judicial System, Part I: The Independence of Judges, angenommen am 12.–13.03.2010; CDL-AD(2007)028, Judicial Appointments, angenommen am 16.–17.03.2007; zu den Entwicklungen in Ungarn etwa VenedigKommission, CDL-AD(2011)016, Opinion on the new Constitution of Hungary, angenommen am 17.–18.2011; CDL-AD(2012)001, Opinion on Act CLXII of 2011 on the Legal Status and Remuneration of Judges and Act CLXI of 2011 on the Organisation and Administration of Courts of Hungary, angenommen am 16.–17.03.2012; CDL-AD(2012)020, Opinion on the Cardinal Acts on the Judiciary that were amended following the adoption of Opinion CDLAD(2012)001 on Hungary, angenommen am 12.–13.10.2012; CDL-AD(2019)004, Hungary – Opinion on the Law on Administrative Courts and on the Law on the Entry into Force of the Law on Administrative Courts and Certain Transitional Rules, angenommen am 15.– 16.03.2019; zu den Entwicklungen in Polen etwa Venedig-Kommission, CDL-AD(2016)001, Opinion on Amendments to the Act of 25 June 2015 on the Constitutional Tribunal of Poland, 11.–12.03.2016; CDL-AD(2017)031, Poland – Opinion on the Draft Act amending the Act on

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Einleitung: Die EMRK – Mehr als eine Teilverfassung? 

II. Eingrenzung der Gewaltenteilung als Untersuchungsgegenstand Gewaltenteilung ist ein weiter Begriff, der auf unterschiedliche Weise verstanden werden kann und zu einer Vielzahl von Forschungsvorhaben einlädt. Ziel der hiesigen verfassungstheoretischen Auseinandersetzung mit dem Gewaltenteilungsbegriff ist die Erarbeitung verschiedener Parameter, anhand der die Rechtsprechungsanalyse erfolgen kann. Eine ideengeschichtliche Aufarbeitung der Gewaltenteilungslehre von ihren Ursprüngen bis in die Gegenwart erfolgt nicht.32 Die verfassungstheoretische Herangehensweise vermeidet außerdem die  – für das Forschungsvorhaben nicht relevante – Auseinandersetzung mit der konkreten dogmatischen Ausgestaltung der grundgesetzlichen oder einer anderen innerstaatlichen Gewaltenteilung. Zudem liegt der Fokus auf den institutionellen Vorgaben der EMRK an die horizontale Gewaltenteilung zwischen den innerstaatlichen staatlichen Organen. Die Ausgestaltung der vertikalen Gewaltenteilung zwischen den Konventionsstaaten und der EMRK33 wird hingegen nicht untersucht.

III. Fokussierung auf Legislative und Judikative Die EMRK enthält ein Wahlrecht zu einer gesetzgebenden Körperschaft gemäß Art. 3 ZP, ein allgemeines Recht auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK sowie weitere gerichtliche Zugangsrechte in Art. 5 Abs. 3 und 4 EMRK und the National Council of the Judiciary, on the Draft Act amending the Act on the Supreme Court, proposed by the President of Poland, and on the act on the Organisation of Ordinary Courts, angenommen am 08.–09.12.2017; CDL-AD(2016)026, Poland – Opinion on the Act on the Constitutional Tribunals, 14.–15.10.2016. 32 Siehe stattdessen Tsatsos, Zur Geschichte und Kritik der Lehre von der Gewaltenteilung; Kägi, Von der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung, in: Rausch, Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, S. 286 ff.; Seiler, Gewaltenteilung, S. 13–65; Goeters, Institutionelles Gleichgewicht, S. 90–137; Becker, Gewaltenteilung im Gruppenstaat, S. 23 ff.; Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzips; von Hippel, Gewaltenteilung im modernen Staate; Fenske, Gewaltenteilung, in: Brunner / Conze / Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, S. 923 ff.; Möllers, Die drei Gewalten, S. 19–40; Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, S. 8–105, der allerdings nur bis ins 19. Jahrhundert zurückgeht. Bognetti, Dividing Powers, S. 13–33 geht ebenfalls nicht bis Montesquieu zurück, arbeitet aber dennoch die Entwicklung der Gewaltenteilungsmodelle von der klassischen bis zur aktuellen Idee auf. 33 Anerkannt bei Ress, Separation of Powers and the Function of the Judiciary, in: Barcellona / Carrino, I diritti umani, S. 187 (192–193); Dumermuth, SJZ 110 (2014), S. 597 (600); Kamm, Machtbegrenzung durch Gewaltenteilung, in: Hein / Petersen / von Steinsdorff, Die Grenzen der Verfassung, S. 233 (246); Häberle / Kotzur, Europäische Verfassungslehre, Rn. 1075 sehen immerhin eine fragmentarische Gewaltenteilung, ausgestaltet vor allem durch den EGMR.

D. Eingrenzung der Fragestellung

41

Art. 2 ZP 7. Die institutionellen Vorgaben aus diesen Normen sind für den Gewährleistungsgehalt der subjektiven Rechte auf Teilnahme an Wahlen und auf Zugang zum Gericht ausschlaggebend. Die vom EGMR formulierten Anforderungen an den grundrechtseinschränkenden und -ausgestaltenden Gesetzesbegriff betreffen die Rechtfertigungsvoraussetzungen für Eingriffe in Konventionsrechte. Die Bedeutung der legislativen und judikativen Tätigkeiten und Organe hängt also unmittelbar mit dem Schutzgehalt der Konventionsrechte zusammen. Die exekutive Gewalt ist zwar häufig, aber weniger prominent als die anderen Gewalten in der EMRK erwähnt. Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. d) EMRK erlaubt eine Freiheitsentziehung bei Minderjährigen zur Vorführung vor eine zuständige Behörde (competent legal authority / l’autorité compétente).34 Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK darf eine Behörde (public authority / une autorité publique) unter bestimmten Voraussetzungen in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens eingreifen. Art. 10 Abs. 1 EMRK schützt das Recht, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe (without interference by public authority / sans qu’il puisse y avoir ingérence d’autorités publiques) zu empfangen und weiterzugeben. Art. 13 EMRK gewährt ein Beschwerderecht vor einer nicht weiter spezifizierten innerstaatlichen Instanz (national authority / une instance nationale). Art. 1 Abs. 1 lit. c) ZP 7 verpflichtet die Konventionsstaaten, dass sich ausländischen Personen im Falle einer Ausweisung vor der zuständigen Behörde (competent authority / l’autorité compétente) vertreten lassen dürfen. Art. 1 Abs. 2 ZP 12 verbietet Behörden (any public authority / une autorité publique) Diskriminierung. Anders als für die anderen Gewalten stellt die EGMR-Rechtsprechung bei keiner dieser Normen Anforderungen an die Ausgestaltung der exekutiven Organe oder definiert die Merkmale der exekutiven Tätigkeit. Bereits die Formulierungen in der EMRK zeigen, dass keine bestimmte Gewalt und kein bestimmtes Organ angesprochen werden. Bezugspunkt ist das nach dem innerstaatlichen Recht zuständige Organ, welches der Exekutive angehören kann, aber nicht muss.35 Weitergehende Anforderungen an die institutionelle Organisation der Exekutive lassen sich aus den genannten Normen nicht ableiten.36

34 Auch der Rechtfertigungsgrund aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. c) EMRK im Falle einer rechtmäßigen Festnahme oder Freiheitsentziehung zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde verwendet im englischen den Wortlaut competent legal authority, wie im Fall des Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. d) EMRK. Im französischen Wortlaut (l’autorité judiciaire compétente) wird allerdings klargestellt, dass hier eine judikative und keine exekutive Stelle gemeint ist. 35 Frowein, in: Frowein / Peukert, EMRK, Art. 1 ZP 7 Rn. 4 geht davon aus, dass sowohl Verwaltungsbehörden als auch Gerichte gemeint sein können; ebenso Peters / Altwicker, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 21 Rn. 132 bezogen auf Art. 8 Abs. 2, 10 Abs. 1 EMRK sowie Art. 1 ZP 12. Nach Gerards, General Principles of the ECHR, S. 138–141 dient der Begriff der public authority zur Bestimmung, ob eine hoheitliche und keine private Einschränkung der Menschenrechte vorliegt. 36 Einzige Ausnahme ist die von Art. 13 EMRK garantierte Beschwerdeinstanz, die zwar nicht gerichtlicher Natur, aber gleichwohl unabhängig sein muss, siehe hierzu ab S. 404.

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Einleitung: Die EMRK – Mehr als eine Teilverfassung? 

Art. 11 Abs. 2 S. 2 EMRK erlaubt schließlich Eingriffe in die Versammlungsund Vereinigungsfreiheit von Angehörigen der Streitkräfte, der Polizei und der Staatsverwaltung (members of the armed forces, of the police or of the administration of the State / les membres des forces armées, de la police ou de l’administration de l’Etat). Damit eine Einschränkung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit auf Art. 11 Abs. 2 S. 2 EMRK gestützt werden kann, muss die betroffene Person tatsächlich mit der Staatsverwaltung befasst sein, also Hoheitsgewalt ausüben und deswegen zu besonderer Loyalität gegenüber dem Staat verpflichtet sein. Allein der Status als Beamter ist nicht ausreichend.37 Die wenige38 Rechtsprechung zum Einschränkungsvorbehalt des Art. 11 Abs. 2 S. 2 EMRK macht ebenfalls keine organisatorischen Vorgaben. Aus diesem Grund konzentriert sich die Arbeit auf die Legislative und die Judikative. Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass der EGMR sich durchaus zu Fragen geäußert hat, die für die Exekutive in den Konventionsstaaten wichtig sind. Seit der Entscheidung Vilho Eskelinen v Finnland ist es Beamten möglich, das Recht auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK in Disziplinarstreitigkeiten geltend zu machen, es sei denn, das nationale Recht schließt einen solchen Rechtsbehelf explizit aus und dies ist aus objektiven Gründen im staatlichen Interesse gerechtfertigt.39 Da diese Rechtsprechungslinie den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK nicht nur für Beamte der Exekutive, sondern auch für Richter eröffnet, wird sie im vierten Kapitel dargestellt.40 Außerdem können Beamte – genauso wie Richter und Abgeordnete – ihre persönlichen Freiheitsrechte geltend machen, wenn Einschränkungen ihrer hoheit­ lichen Tätigkeit vorliegen oder Disziplinarmaßnahmen gegen sie getroffen wurden.41 Als Grundlage der Rechtsprechung zu richterlichen Freiheitsrechten finden diese Urteile im vierten Kapitel Erwähnung. Darüber hinaus wird die Exekutive auch im Verhältnis zu den anderen beiden Gewalten relevant. So fordert beispielsweise die richterliche Unabhängigkeit, dass 37

EGMR Nr. 34503/97, Demir und Baykara v Türkei (GK), 12.11.2008, § 97; Nr. 7152/08, Doğan Altun v Türkei, 26.05.2015, § 26; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 23 Rn. 86; ­Peters /  Altwicker, EMRK, § 15 Rn. 10; Tomuschat, Freedom of Association, in: Macdonald / Matscher /  Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 493 (512). Siehe ­Daiber, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 11 Rn. 56–59 zum unklaren Verhältnis zwischen S. 1 und S. 2. 38 Eine geringe Bedeutung in der Rechtsprechung sieht Blanke, Kommunikative und politische Rechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 142 Rn. 43. 39 EGMR Nr. 63235/00, Vilho Eskelinen u. a. v Finnland (GK), 19.04.2007, § 62. 40 Siehe ausführlich zu der Vilho Eskelinen-Formel unten ab S. 442. 41 Zu Art. 10 EMRK etwa EGMR Nr. 22954/93,  Ahmed u. a. v Vereinigtes Königreich, 02.09.1998; Nr. 25390/94, Rekvényi v Ungarn (GK), 20.05.1999; Nr. 14464/11,  Langner v Deutschland, 17.09.2015; zu Art. 11 EMRK EGMR Nr. 17851/91, Vogt v Deutschland (GK), 26.09.1995.

D. Eingrenzung der Fragestellung

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Richter und Gerichte frei von exekutiver Einflussnahme agieren können.42 Und aus dem Matthews-Urteil, in welchem der EGMR das Europäische Parlament als gesetzgebende Körperschaft im Sinne des Art. 3 ZP einordnete, ergibt sich, dass der EGMR die Frage, welche Organe an der Gesetzgebung beteiligt sind beziehungsweise sein dürfen, auch als Frage der Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive betrachtet.43 Soweit die EMRK Vorgaben zum Verhältnis der Exekutive zu den anderen beiden Gewalten macht, werden diese aus dem Blickwinkel der Legislative beziehungsweise Judikative in den jeweiligen Kapiteln dargestellt.

42 43

Siehe dazu ausführlich ab S. 590. EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 48.

Kapitel 1

Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept Gewaltenteilung, die Verteilung der Ausübung der Hoheitsgewalt auf verschiedene staatliche Organe entsprechend der Kompetenzverteilungs- und Kompetenzausübungsregeln der jeweiligen Verfassungsordnung,44 ist Bestandteil jeder demokratischen und rechtsstaatlichen Verfassungsordnung.45 Sie fungiert als Bindeglied zwischen dem Demokratieprinzip und dem Rechtsstaatsprinzip:46 Einerseits stellt Gewaltenteilung eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips dar. Die Verteilung hoheitlicher Gewalt auf mehrere Organe und damit einhergehend deren Begrenzung in der Ausübung von Hoheitsgewalt sowie deren Möglichkeit der gegenseitigen Kontrolle stellt sicher, dass die Organe entsprechend dem geltenden Recht handeln.47 Andererseits steht die Gewaltenteilung in unmittelbarer Beziehung zum Demokratieprinzip.48 Gewaltenteilung bewirkt die Teilhabe verschiedener Organe an staatlichen Entscheidungen und dadurch die Repräsentation unterschiedlicher Interessen im Entscheidungsprozess.49 Sowohl das Rechtsstaatsprinzip als auch

44 Nach Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 65, der ein rein formales Gewaltenteilungsprinzip entwickelt. Ähnlich bereits Bäumlin, Zeitschrift des bernischen Juristenvereins 101 (1965), S. 81 (94–95); Kirchhof, Gewaltenbalance zwischen europäischen und mitgliedstaatlichen Organen, in: Isensee, Gewaltenteilung heute, S. 99 (106). 45 Grzeszick, Die Teilung der staatlichen Gewalt, S. 59, 64; Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 2; Horn, AöR 127 (2002), S. 427 (428); Ossenbühl, DÖV 1980, S. 545 (545) m. w. N.; Kägi, Von der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung, in: Rausch, Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, S. 286 (286–287). 46 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 499; Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 800–802. Vgl. auch Grzeszick, Die Teilung der staatlichen Gewalt, S. 58–62; di Fabio, Gewaltenteilung, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 2, § 27 Rn. 11. 47 Seiler, Gewaltenteilung, S. 232–237; Grzeszick, Die Teilung der staatlichen Gewalt, S. 59–60; Hofmann, Die Bindung staatlicher Macht, in: Hofmann u. a., Rechtsstaatlichkeit in Europa, S. 3 (11). 48 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 496; Grzeszick, Die Teilung staatlicher Gewalt, S. 27, 60–61; Seiler, Gewaltenteilung, S. 253; Imboden, Gewaltentrennung als Grundproblem unserer Zeit, in: Rausch, Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, S. 487 (494). 49 Maurer, Staatsrecht I, § 12 Rn. 3. Vgl. auch Imboden, Gewaltentrennung als Grundproblem unserer Zeit, in: Rausch, Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, S. 487 (494): „Mitbeteiligung des Einzelnen an staatlichen Grundentscheidungen“.

Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept

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das Demokratieprinzip erfordern eine nach dem Leitbild der Gewaltenteilung geformte Struktur staatlicher Organisation.50 Die 46 Mitgliedstaaten der EMRK bekennen sich in der Präambel der Europarats-Satzung sowie in der Präambel der EMRK zur Einhaltung demokratischer und rechtsstaatlicher Standards.51 Sie verpflichten sich durch Art. 3 ZP EMRK zur regelmäßigen Durchführung freier Wahlen sowie zur Gewährleistung der für den demokratischen Diskurs der Bevölkerung notwendigen Kommunikationsgrundrechte wie der Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK), der Versammlungs- und der Vereinigungsfreiheit (Art. 11 EMRK). Schließlich taucht der Begriff der „demokratischen Gesellschaft“ (democratic society / société démocratique) im Rahmen der Grundrechtsschranken in Art. 6 Abs. 1, Art. 8 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2, Art. 10 Abs. 2, Art. 11 Abs. 2 EMRK, Art. 2 Abs. 3 und 4 ZP 4 auf.52 Rechtsverbindliche Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzip finden sich in der Gewährleistung eines Rechts auf Zugang zum Gericht und auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK, dem Recht auf eine wirksame Beschwerde gemäß Art. 13 EMRK sowie dem Rechtmäßigkeitsprinzip,53 wonach ein Eingriff in die Konventionsrechte nicht gegen innerstaatliches Recht verstoßen darf. Unter der Prämisse, dass die 46 Konventionsstaaten sich nicht nur zum Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip bekennen, sondern diese auch in ihren Verfassungen umsetzen, kann davon ausgegangen werden, dass die Staaten ihre Verfassungsordnungen – natürlich auf unterschiedliche Art und Weise aber dennoch – gewaltenteilig organisiert haben.54 Einige Staaten nennen das Gewaltenteilungs 50

Grzeszick, Die Teilung der staatlichen Gewalt, S. 60–61. Präambel des Europarat-Statuts: „[…] Reaffirming their devotion to the spiritual and moral values which are common heritage of their peoples and the true source of individual freedom, political liberty and the rule of law, principles which form the basis of all genuine democracy […]“; Präambel der EMRK: „[…] Reaffirming their profound belief in those fundamental freedoms which are the foundation of justice and peace in the world and are best maintained on the one hand by an effective political democracy and on the other by a common understanding and observance of the Human Rights upon which they depend; Being resolved, as the governments of European countries which are likeminded and have a common heritage of political traditions, ideals, freedom and the rule of law, to take the first steps for the collective enforcement of certain of the rights stated in the Universal Declaration, Have agreed as follows:“ Zum Verständnis und zur Rolle des Rechtsstaatsprinzips im Europarat ausführlich Wittinger, Der Europarat, S. 244–315; Breuer, Establishing Common Standards and Securing the Rule of Law, in: Schmahl / Breuer, The Council of Europe, S. 639–670. 52 Zur Bedeutung der Schranke im Allgemeinen und zu dieser Formulierung im Besonderen siehe monographisch Hoffmann-Remy, Grundrechtseinschränkung nach den Art. 8–11 Abs. 2 EMRK; Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK; Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis, S. 56–102. 53 Siehe nur beispielhaft die Rechtfertigungsgründe für einen Eingriff in das Recht auf Freiheit und Sicherheit gem. Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK, welche jeweils eine rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung fordern. 54 Laut Grzeszick, Die Teilung staatlicher Gewalt, S. 34 greifen „alle demokratischen Verfassungsordnungen westlicher Prägung auf einen Grundsatz der Gewaltenteilung zurück […]“; so 51

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

prinzip in ihren Verfassungen ausdrücklich.55 Die meisten Verfassungen erwähnen zwar das Prinzip nicht explizit, wohl aber die drei Funktionen hoheitlicher Tätigkeit, die gesetzgebende, ausführende und rechtsprechende Gewalt.56 Diese Ausgangslage lädt dazu ein, die Anforderungen der EMRK an die gewaltenteilige Staatsorganisation der Mitgliedstaaten systematisch zu untersuchen. Das erste Kapitel legt die Grundlagen für das Unterfangen, indem zunächst die Gewaltenteilung als verfassungstheoretischer Untersuchungsgegenstand umrissen wird. Anhand dieses Untersuchungsgegenstandes kann in den folgenden Kapiteln die EGMR-Rechtsprechung analysiert werden.

A. Vorbemerkung: Gewaltenteilung im terminologischen Dschungel Eine typische Form des Umgangs mit Gewaltenteilungskonzepten oder -erscheinungsformen ist die Entwicklung einer neuen Bezeichnung der „Gewaltenteilung“, die semantisch besser zu dem gefundenen Ergebnis passt.57 So finden sich neben auch Becker, Gewaltenteilung im Gruppenstaat, S. 68 und Möllers, Gewaltengliederung, S. 7. Von einer gewaltenteiligen Staatsorganisation der EU-Staaten ausgehend Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 8 Rn. 17; Kirchhof, Gewaltenbalance zwischen europäischen und mitgliedstaatlichen Organen, in: Isensee, Gewaltenteilung heute, S. 99 (100); Haratsch, Der Grundsatz der Gewaltenteilung als rechtsordnungsübergreifender Rechtssatz, in: Demel u. a., Funktionen und Kontrolle der Gewalten, S. 199 (207) sowie di Fabio, Gewaltenteilung, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 2, § 27 Rn. 80. Siehe für einen Überblick über Gewaltenteilung in verschiedenen Rechtsordnungen Seiler, Gewaltenteilung, S. 139–178. 55 § 4 estnische Verfassung, Art. 2 portugiesische Verfassung, Art. 3 Abs. 2 slowenische Verfassung. Es wurden die Verfassungen in deutscher Sprache auf www.verfassungen.net verwendet, zuletzt abgerufen am 09.04.2022. 56 Art. 36, 37, 40 der belgischen Verfassung; Art. 8 der bulgarischen Verfassung; § 3 des dänischen Grundgesetzes; Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG (hier werden nicht nur die drei Gewalten benannt, hieraus geht auch hervor, dass sich jede Ausübung von Hoheitsgewalt in eine der drei Gewalten einordnen lässt); §§ 4, 59, 86, 147 estnische Verfassung; § 3 der finnischen Verfassung (ausführende Gewalt wird dort als „Regierungsgewalt“ beschrieben); § 26 der griechischen Verfassung; Art. 6 Abs. 1 der irischen Verfassung; Art. 4 der kroatischen Verfassung; Art. 10 Abs. 1 der polnischen Verfassung; Art. 3 der slowenischen Verfassung; Art. 66 Abs. 2, 97, 117 Abs. 1 der spanischen Verfassung (die ausführende Gewalt wird dort als „Exekutivfunktion und Verordnungsgewalt“ beschrieben); Art. 2 Abs. 1 der Verfassung der Tschechischen Republik; Art. 46, 61, 152 Abs. 1 der zypriotischen Verfassung; Art. 2 der isländischen Verfassung; Art. 6 der ukrainischen Verfassung; Art. 10 der russischen Verfassung; Art. 5 der armenischen Verfassung. Die slowakische Verfassung nennt die drei Gewalten als Überschriften dreier „Hauptstücke“ (Kapitel). Die schwedische Verfassung nennt diese drei Gewalten nicht, dafür aber eine „Finanzgewalt“ in Kapitel 9 und eine „Kontrollgewalt“ in Kapitel 12. Es wurden die Verfassungen in deutscher Sprache auf www.verfassungen.net (vgl. Fn. 55) verwendet. Siehe auch die Übersicht bei Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 8 Rn. 15–16. 57 Siehe für eine lange Aufzählung verschiedener Begriffe Seiler, Gewaltenteilung, S. 197; Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, S. 108–109; Lange, Der Staat 19 (1980), S. 213 (214); ausführlich auch Stettner, JöR n. F. 35 (1986), S. 57 (60–62).

B. Verfassungstheoretische Konzepte  

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der Bezeichnung der Gewaltenteilung auch die „Gewaltentrennung“,58 die „Gewaltengliederung“59, „Funktionenteilung“60 oder die „Funktionenordnung“.61 Hinter diesem Vorgehen scheint sich die Hoffnung zu verbergen, dass die neue Wortschöpfung besser zu dem gefundenen Konzept beziehungsweise der beschriebenen Erscheinungsform passt. Die terminologische Vielfalt ist solange sinnvoll, wie sie unterschiedliche Ausprägungen der gleichen Grundidee zu differenzieren hilft. Das Bestreben sollte jedoch nicht dahin gehen, den Begriff der Gewaltenteilung gänzlich zu ersetzen. Der Wert dieses etablierten Begriffs liegt gerade darin, dass jeder Rezipient ihn sofort einordnen kann. Diese Arbeit verwendet daher prinzipiell den Begriff der Gewaltenteilung.

B. Verfassungstheoretische Konzepte und verfassungsdogmatische Erscheinungsbilder Gewaltenteilung ist ein schillernder Begriff – er wird auf sehr unterschiedliche, zum Teil gar widersprüchliche Weise verstanden.62 Soll – wie in dieser Arbeit – die Gewaltenteilung Untersuchungsgegenstand sein, muss dieser zunächst definiert werden.63 Die Wahl der wissenschaftlichen Disziplin und Methodik, abhängig von Zielsetzung und Erkenntnisinteresse der Untersuchung, ist hierfür die zuerst zu stellende Weiche.64 Die Gewaltenteilung ist in der Rechtswissenschaft genauso wie in der Politikwissenschaft ein beliebter Forschungsgegenstand.65 Innerhalb der Rechtswissenschaft ist eine weitere Präzisierung des Zugriffs erforderlich. 58

Giacometti, Allgemeine Lehren des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts, S. 9. Viele weitere Nachweise zum Begriff bei Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, S. 108 Fn. 3. 59 Möllers, Gewaltengliederung, S. 66–93, der das von ihm entwickelte Konzept als „Gewaltengliederung in Selbstbestimmung“ bezeichnet; zuvor auch schon Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 13; weitere Nachweise zum Begriff der Gewaltengliederung bei Grzeszick, Die Teilung der staatlichen Gewalt, S. 29 und Fn. 37 sowie bei Achterberg, Pro­ bleme der Funktionenlehre, S. 108 Fn. 4. 60 Stern, Staatsrecht, Bd. 2, S. 522. 61 Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, S. 112; Zimmer, Funktion  – Kompetenz  – Legitimation, S. 30; Groß, Der Staat 55 (2016), S. 489 (500). 62 Seiler, Gewaltenteilung, S. 186–187; Grzeszick, Die Teilung staatlicher Gewalt, S. 35–36; vgl. auch Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 2. 63 So auch Seiler, Gewaltenteilung, S. 186–187. 64 Jestaedt, Verfassungstheorie als Disziplin, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 1 Rn. 1. 65 Grundlegend für die Politikwissenschaft etwa Steffani,  Gewaltenteilung im demokratisch-pluralistischen Rechtsstaat, in: Rausch, Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, S. 313–352.

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

I. Verfassungstheorie und Verfassungsdogmatik Gewaltenteilung kann Gegenstand verfassungsdogmatischer sowie verfassungstheoretischer Forschung sein. Die Verfassungstheorie66  – Nachfolgerin der allgemeinen Staatslehre67  – wird als „Reflexionsdisziplin“ und als „Integrationswissenschaft“ beschrieben:68 Während in der Dogmatik die Anwendung und Interpretation bestehender Rechtsnormen im Fokus stehen,69 beschäftigt sich die Verfassungstheorie mit Fragen „hinter der Verfassungsanwendung“, die somit nicht Gegenstand verfassungsdogmatischer Überlegungen sein können.70 Sie erklärt und hinterfragt die Grundentscheidungen, die für die Ausgestaltung der Verfassung maßgeblich sind, aber nicht zwingend ausdrücklich im Normtext erwähnt wurden, und zeigt Alternativen mit dem Ziel auf, vorhandene Verfassungen weiterzuentwickeln.71 Auf einer gegenüber dem Verfassungsrecht abstrakteren Ebene wird ein Vorverständnis für Verfassungen oder einzelne Verfassungsprinzipien geschaffen („applikatives Vorverständnis“),72 welches „Bedingung, aber nicht Methode der Rechtserkenntnis ist.“73 Es gibt eine Schnittstelle von Verfassungstheorie und Verfassungsdogmatik, wo ein verfassungstheoretischer Begriff als Untersuchungsgegenstand eines konkreten Verfassungssystems oder einer bestimmten Staatsorganisation dient. Bereits Georg Jellinek betonte, dass „bei aller durch das Bedürfnis der Orientierung gebotenen begrifflichen Scheidung“ wegen des „in der Natur der Objekte begründete[n] Zusammenhang[s] der verschiedenen

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Der Begriff der Verfassungslehre wird überwiegend synonym verwendet, z. B. Volkmann, Der Staat 51 (2015), S. 601 (609, 614); Haverkate, Verfassungslehre, S. 1; Badura, Verfassung und Verfassungsgesetz, in: Ehmke u. a., FS Scheuner, S. 19 (19, 20, 21, 24). Die Verfassungslehre und die allgemeine Staatslehre gleichsetzend Schöbener / Knauff, Allgemeine Staatslehre, § 1 Rn. 10; Leisner, JZ 1998, S. 861 (863). Anders hingegen Unruh, Der Verfassungsbegriff des GG, S. 27–28, welcher davon ausgeht, dass die (gebundene) Verfassungstheorie sich mit einer konkreten Verfassungsordnung beschäftigt, während die allgemeine Verfassungslehre die Verfassungen als solche untersucht. 67 Für die Verfassungslehre: Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 691. Für die Verfassungstheorie: Jestaedt, Verfassungstheorie als Disziplin, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 1 Rn. 5; Möllers, Staatslehre, allgemeine, in: Heun u. a., Evangelisches Staatslexikon, Sp. 2318 (2320). 68 Jestaedt, Verfassungstheorie als Disziplin, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 1 Rn. 26, 50. 69 Honsell, Rechtswissenschaft, S. 12; Horn, Einführung in die Rechtswissenschaft, Rn. 40, 163; Jestaedt, Verfassungstheorie als Disziplin, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 1 Rn. 20. 70 Jestaedt, Verfassungstheorie als Disziplin, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 1 Rn. 11–12, 77; Morlok, Verfassungstheorie, S. 43. 71 Haverkate, Verfassungslehre, S. 1; Voßkuhle, JuS 2004, S. 2 (3–4) für die allgemeine Staatslehre. 72 Morlok, Verfassungstheorie, S. 22–23; Volkmann, Der Staat 54 (2015), S. 35 (35); Pern­ thaler, Allgemeine Staatslehre, S. 24–25. 73 Jestaedt, Verfassungstheorie als Disziplin, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 1 Rn. 64, 79.

B. Verfassungstheoretische Konzepte  

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wissenschaftlichen Positionen“ keine völlige Trennung der einzelnen staatswissenschaftlichen Disziplinen möglich ist.74 Gleichzeitig darf aber nicht unterschlagen werden, dass sich Verfassungsdogmatik und Verfassungstheorie trotz ihrer „Nachbarschaft“ auf der Landkarte wissenschaftlicher Disziplinen darin unterscheiden, dass sie unterschiedliche wissenschaftliche Erkenntnisse ermöglichen.

II. Konzept und Erscheinungsform Der unterschiedliche Erkenntnishorizont von Verfassungstheorie und Verfassungsdogmatik zeigt sich bei der Gewaltenteilung in der Unterscheidung von Gewaltenteilungskonzept und Erscheinungsform der Gewaltenteilung.75 Jeder Staat weist abhängig von Staatsform, nationalen Gegebenheiten und historischer Entwicklung eine eigene Erscheinungsform der Gewaltenteilung auf.76 Diese ergibt sich aus den geltenden Verfassungsnormen und ist damit Gegenstand verfassungsdogmatischer Untersuchungen. Davon abzugrenzen sind verfassungstheoretische Gewaltenteilungskonzepte, welche entweder eine Idealvorstellung von Gewaltenteilung darstellen oder eine Schablone skizzieren, die geeignet ist, staatliche Erscheinungsformen anhand bestimmter Kriterien abzugleichen.77 Weil ein verfassungstheoretisches Vorverständnis häufig mit anschließenden verfassungsdogmatischen Untersuchungen verknüpft wird, besteht die Gefahr, Konzepte und Erscheinungsbilder gedanklich und sprachlich nicht ausreichend streng auseinanderzuhalten und somit die Ergebnisse zu verfälschen.78 Verfassungstheoretische Gewaltenteilungskonzepte werden oft skeptisch betrachtet. Gezweifelt wird an ihrer Aussagekraft allgemein und an ihrer Relevanz 74

Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 8. Diese Unterscheidung – teils mit abweichenden Bezeichnungen – auch bei Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 8 Rn. 5 zum Konzept und Rn. 6–17 zu den Erscheinungsformen; Möllers, Gewaltengliederung, S. 67; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 481; Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 5–6. 76 Häberle / Kotzur, Europäische Verfassungslehre, Rn. 1081; Möllers, Gewaltengliederung, S. 7; Ossenbühl, DÖV 1980, S. 545 (546); Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 8 Rn. 6–17 zu den Ausprägungen in den europäischen Verfassungen. Siehe zum historischen Einfluss auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 481–482. Seiler, Gewaltenteilung zeigt ab S. 139–170 die unterschiedlichen Ausgestaltungen der Gewaltenteilung in den europäischen Ländern und den USA. 77 Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 5–7; Seiler, Gewaltenteilung, S. 189. Ossenbühl, DÖV 1980, S. 545 (546) unterscheidet zwischen Gewaltenteilung als „überzeitliches Phänomen“ einerseits und andererseits den wandelbaren Elementen der Gewaltenteilung. 78 Seiler, Gewaltenteilung, S. 2. Die Gefahr der Verwechslung verfassungstheoretischer und verfassungsdogmatischer Begriffe sieht auch Jestaedt, Verfassungstheorie als Disziplin, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 1 Rn. 54–57 vor allem bei Verfassungsprinzipien. 75

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

für verfassungsdogmatische Fragen im Besonderen79 – gerade in Anbetracht der Vielzahl inzwischen entwickelter theoretischer Konzepte,80 die sich zum Teil wider­sprechen. Konsequenz ist das „summative Verständnis“,81 wonach Gewaltenteilung nicht mehr ist als ein Oberbegriff für die Gesamtheit aller Einzel­ bestimmungen einer Verfassungsordnung, die die Zuordnung von Aufgaben oder Funktionen zu Organen regeln.82 Wollte man dem folgen, wäre die Disziplin der Verfassungstheorie für die Gewaltenteilungslehre überflüssig. Senkt man jedoch die Erwartungen an die Erkenntnisse aus der verfassungstheoretischen Gewaltenteilungslehre, gibt es weniger Grund für Skepsis. Spezifische Ableitungen oder Vorgaben zur Ausgestaltung einer Staatsorganisation sind von einem Konzept, welches nicht auf einer konkreten Verfassungsordnung gründet, nicht zu erwarten.83 Genauso wenig sollte davon ausgegangen werden, dass es das eine allgemeingültige Gewaltenteilungskonzept gibt.84 Jedes einzelne Gewaltenteilungskonzept kann für sich genommen – auch wenn es anderen Konzepten widerspricht – neue Erkenntnisse bringen.85 Und jedes Gewaltenteilungskonzept kann mit verfassungsdogmatischen Erscheinungsbildern abgeglichen werden, etwa um zu prüfen, ob eine staatliche Gewaltenteilung bestimmten verfassungstheoretischen Idealen entspricht.86

79 Grzeszick, Die Teilung der staatlichen Gewalt, S. 13–15; Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 1, 3; Ossenbühl, DÖV 1980, S. 545 (545). Differenzierend Möllers, Gewaltengliederung, S. 79–80. 80 Siehe diese im Überblick bei Grzeszick, Die Teilung der staatlichen Gewalt, S. 35 ff. 81 Mit dieser Bezeichnung Möllers, Gewaltengliederung, S. 2–3 m. w. N.; ihm folgend ­Grzeszick, Die Teilung der staatlichen Gewalt, S. 32–33. 82 So etwa Horn, AöR 127 (2002), S. 427 (455 ff.). Weitere Nachweise bei Möllers, AöR 132 (2007), S. 493 (495). 83 Seiler, Gewaltenteilung, S. 188 m. w. N. 84 Seiler, Gewaltenteilung, S. 187. Vgl. auch Carolan, The New Separation of Powers, S. 18; Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 1; ihm folgend Groß, Der Staat 55 (2016), S. 489 (498); Grzeszick, Die Teilung der staatlichen Gewalt, S. 14. 85 Vgl. Grzeszick, Die Teilung der staatlichen Gewalt, S. 15–16, der eine „theoretische Reflexion des Grundsatzes der Gewaltenteilung und der mit ihm verbundenen Vorstellungen“ anstellt, weil dadurch den „Methoden und Möglichkeiten der Verfassungstheorie […] besser entsprochen wird als mit dem Streben nach dem einen, alles erklärenden geschlossenen Ansatz.“ Siehe dort im Folgenden auch ab S. 35 für einen Überblick über die wesentlichen Gewaltenteilungskonzepte. Weitgehend parallel Grzeszick, in: Dürig / Herzog / Scholz, GG, Art.  20 (Gewaltenteilung) Rn. 28–75. 86 Waldron, Boston College LR 54 (2013), S. 433 (433).

B. Verfassungstheoretische Konzepte  

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III. Untauglichkeit eines umfassenden Gewaltenteilungskonzepts als Untersuchungsgegenstand Um den Untersuchungsgegenstand für diese Arbeit zu definieren, muss eine abstrakte Beschreibung von Gewaltenteilung gefunden werden, anhand der eine Untersuchung der Vorgaben der EMRK möglich ist. Es wäre grundsätzlich denkbar, ein bereits existierendes umfassendes verfassungstheoretisches Gewaltenteilungskonzept heranzuziehen.87 Dass ein solches Vorgehen für die vorliegende Forschungsfrage zielführend wäre, ist zu bezweifeln. Dies sei exemplarisch am Beispiel des klassischen Gewaltenteilungskonzepts dargelegt. Die klassische Gewaltenteilung88 ist die dogmatischste und denkbar strengste Ausprägung der Grundidee, also der Verteilung von Hoheitsgewalt auf unterschiedliche Organe: Jedem Organ wird eine Funktion der Ausübung von Hoheitsgewalt zugeordnet.89 Es gibt also rein legislative, rein exekutive und rein judikative Organe. Ein Organ darf keine Aufgaben ausführen, die einer anderen als der „eigenen“ Staatsfunktion zugeschrieben werden.90 Insgesamt liegt eine strenge organisatorische, funktionale und personelle Gewaltenteilung vor.91 Diese vereinfachte Form der Gewaltenteilung hat die Popularität und Durchsetzungskraft der Idee gefördert.92 Ursprünglich wurde sie als Rezeption von Montesquieus L’Esprit

87 So etwa geht Möllers, Gewaltengliederung vor. Zunächst (S. 66–93, v. a. ab S. 81) entwickelt er sein Konzept von Gewaltenteilung, um anschließend die gewaltengeteilten Strukturen der EU (S. 253–287), der ILO (S. 287–311) und der WTO (S. 311–330) zu beschreiben. Ähnliche Vorgehensweise bei Goeters, Institutionelles Gleichgewicht, insb. S. 248–275, die das institutionelle Gleichgewicht mit den theoretischen Wirkungsrichtungen der Gewaltenteilung abgleicht. 88 Als solche bezeichnet etwa bei Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 264; Grewe / Ruiz Fabri, Droits constitutionnels européens, Rn. 275. Die Vielfalt unterschiedlicher Bezeichnungen ist reichhaltig, das dahinter stehende Konzept das gleiche: „Das Dogma der Dreiteilung der Gewalten“ bei Kägi, Von der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung, in: Rausch, Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, S. 286 (294); mit der gleichen Bezeichnung Becker, Gewaltenteilung im Gruppenstaat, S. 67–68. Bei Seiler, Gewaltenteilung, S. 58 ff. geht es um die „populäre Gewaltenteilungslehre“; ebenso Horn, AöR 127 (2002), S. 427 (437); Kyritsis, Where Our Protection Lies, S. 36 spricht von „the traditional conception of separation of powers“; Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers, S. 14 sowie Carolan, The New Separation of Powers, S. 18: „the pure doctrine“. 89 Grundlegend Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers, S. 14; Giacometti, Allgemeine Lehren des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts, S. 9–10; Becker, Gewaltenteilung im Gruppenstaat, S. 68; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 264. 90 Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers, S. 14; Becker, Gewaltenteilung im Gruppenstaat, S. 68; Kyritsis, Where Our Protection Lies, S. 36. 91 Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers, S. 14–19; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 264; Giacometti, Allgemeine Lehren des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts, S. 9–10. 92 Carolan, The New Separation of Powers, S. 22; Kägi, Von der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung, in: Rausch, Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, S. 286 (294, 296).

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

des Lois verstanden.93 Inzwischen hat sich aber die Erkenntnis durchgesetzt, dass Montesquieu bereits differenzierter vorging und keine komplette Trennung der Gewalten vorsah.94 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert wurde vor allem im deutschen Sprachraum der Versuch unternommen, die klassische Gewaltenteilung um die Lehre von der Funktionenordnung zu ergänzen, indem sie die einzelnen Funktionen versuchte zu bestimmen und zu definieren.95 Damit lag der Fokus nicht mehr so stark auf der Zuordnung einer Funktion zu einem Organ, sondern auf der Vorfrage, eine definitorische Unterscheidung zwischen den drei Funktionen zu finden.96 Der Wert des klassischen Gewaltenteilungskonzepts besteht in der leichten Vermittelbarkeit.97 Dies darf aber nicht über die Schwächen dieses Konzepts hinwegtäuschen.98 Zwar galt die Einhaltung des klassischen Gewaltenteilungskonzepts für die Gestaltung eines Verfassungssystems als erstrebenswertes Ideal.99 Es findet sich jedoch keine Verfassungsordnung, die diese strenge Gewaltenteilung tatsächlich verwirklicht.100 Die Umsetzung dieses Konzepts ist also wohl unmöglich. Notwendig wäre dafür, dass dem Konzept eine trennscharfe Abgrenzung der Funktionen von Hoheitsgewalt gelänge. Dies ist aber nicht der Fall, sofern nicht eine Funktion (die Exekutive) negativ definiert wird.101 Außerdem finden sich in jeder Verfassungsordnung mehr als drei Organe – eine Eins-zu-Eins-Zuordnung von Funktion zu Organ funktioniert also auch aus diesem Grund nicht. Schließlich sieht die klas 93

Seiler, Gewaltenteilung, S. 62 m. w. N. Becker, Gewaltenteilung im Gruppenstaat, S. 68; Heun, Staatshaushalt und Staatsleitung, S. 87; Kägi, Von der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung, in: Rausch, Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, S. 286 (295–296); Horn, AöR 127 (2002), S. 427 (432) m. w. N.; Draht, Die Gewaltenteilung im heutigen deutschen Staatsrecht, in: Rausch, Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, S. 21 (S. 21–33); Lange, Der Staat 19 (1980), S. 213 (220–221). 95 Vgl. Seiler, Gewaltenteilung, S. 61; Brunner, Kontrolle in Deutschland, S. 38–39. Grundlegend zur Funktionenlehre in der deutschen Verfassungsordnung Achterberg, Probleme der Funktionenlehre; Zimmer, Funktion – Kompetenz – Legitimation. 96 Zusammenfassend Seiler, Gewaltenteilung, S. 61–62. 97 Carolan, The New Separation of Powers, S. 22. 98 Ausführlich und kritisch Kyritsis, Where Our Protection Lies, S. 36–39. 99 Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers, S. 14; Seiler, Gewaltenteilung, S. 62. Siehe auch Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, S. 178–179, der davon ausgeht, dass Funktionenverschränkungen rechtfertigungsbedürftig sind. 100 Becker, Gewaltenteilung im Gruppenstaat, S. 68; Seiler, Gewaltenteilung, S. 62 m. w. N.; Carolan, The New Separation of Powers, S. 18; Goeters, Institutionelles Gleichgewicht, S. 64; Grewe / Ruiz Fabri, Droits constitutionnels européens, Rn. 275; Horn, AöR 127 (2002), S. 427 (438–439). Vgl. auch Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers, S. 14, 349; Giacometti, Allgemeine Lehren des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts, S. 12 und bereits Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 608. 101 Die in allen Fällen eindeutige Abgrenzung der Funktionen voneinander wird auch als unmöglich beschrieben: Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers, S. 349–351; Carolan, The New Separation of Powers, S. 19; Seiler, Gewaltenteilung, S. 138. Siehe zur Subtraktionsmethode sogleich ab S. 80. 94

B. Verfassungstheoretische Konzepte  

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sische Gewaltenteilung zwar eine strikte Zuordnung von Funktionen zu Organen und dadurch eine Begrenzung der jeweiligen Gewalt vor, nicht aber eine aktive gegenseitige Rechtmäßigkeitskontrolle – denn eine aktive Kontrolle eines Organs durch ein anderes Organ würde in dessen Vorrecht auf Ausübung der Hoheits­ gewalt einer Funktion eingreifen.102 Gegenseitige Kontrollen sind somit nicht vorgesehen.103 Damit liegt auch kein Verfahren vor, mit dem einer tatsächlichen Kompetenzüberschreitung begegnet werden könnte.104 Realistisch muss ein System der Gewaltenteilung aber auch Möglichkeiten vorsehen, Rechtsbrüche sanktionieren oder jedenfalls beenden zu können, denn es wäre utopisch zu hoffen, dass Rechtsverletzungen ausbleiben. Weil die tatsächliche Umsetzung des klassischen Gewaltenteilungskonzepts unmöglich ist, ist es als Untersuchungsgegenstand nicht geeignet. Das Ergebnis dieser Untersuchung müsste mit hoher Wahrscheinlichkeit lauten, dass die EMRK keine Vorgaben im Sinne einer klassischen Gewaltenteilung macht. Dies würde die Möglichkeiten weiterer Erkenntnisse bereits durch den Zuschnitt der Untersuchung unnötig einschränken. Am Beispiel des klassischen Gewaltenteilungskonzepts zeigen sich die Schwierigkeiten, die ein umfassendes Gewaltenteilungskonzept als Untersuchungsgegenstand mit sich bringen würde. Durch die Beschränkung des Untersuchungsgegenstands auf ein Konzept würde sich die Erkenntnis der Arbeit darauf beschränken, ob die Anforderungen der EMRK an die Gewaltenteilung in den Konventionsstaaten diesem Konzept entsprechen oder nicht. Darüber hinaus würde der Untersuchung stets die Kritik anhaften, welche das jeweilige Gewaltenteilungskonzept hervorruft. Das Ziel dieser Untersuchung ist aber vielmehr, unabhängig von einem bestimmten Konzept die Anforderungen der EMRK an die konventionsstaatliche Gewaltenteilung als institutionelles Organisationsprinzip so zu beschreiben, wie sie sich objektiv darstellt. Umfassende Gewaltenteilungskonzepte sind somit für die vorliegende Arbeit kein tauglicher Untersuchungsgegenstand.

102

Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers, S. 19. Vgl. auch Seiler, Gewaltenteilung, S. 125; Carolan, The New Separation of Powers, S. 19. 103 Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers, S. 19. Ein anderes Verständnis hingegen bei Heun, Staatshaushalt und Staatsleitung, S. 88, der von gegenseitigen Kontrollen ausgeht. 104 Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers, S. 14, 19. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 24, der die machtbegrenzende Wirkung der Funktionentrennung allein in Frage stellt.

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

IV. Dekonstruktion des Gewaltenteilungsgedankens in einzelne Parameter Eine verfassungstheoretische Befassung mit der Gewaltenteilung ist jedoch nicht darauf beschränkt, abgeschlossene Konzepte zu entwickeln: Es ist auch möglich, sich verfassungstheoretisch mit einzelnen Elementen und Aspekten des Gewaltenteilungsgedanken auseinanderzusetzen, welche sich nicht zu einem abschließenden Gesamtkonzept zusammenfügen. So erlaubt die Verfassungstheorie etwa, die Aufgaben der Gewaltenteilung, ihre verfolgten Ziele, das Verhältnis zu anderen Verfassungsprinzipien auf einer theoretischen Ebene zu beschreiben. Zudem kann die Gewaltenteilung als Grundgedanke in verschiedene Parameter dekonstruiert werden. Ähnlich wie auch beim Demokratie- und beim Rechtsstaatsprinzip die jeweiligen Ableitungen das Gesamtkonzept erst konkretisieren, kann eine solche Dekonstruktion den Grundgedanken der Gewaltenteilung leichter handhabbar machen. Gleicht man verfassungstheoretische Parameter mit konkreten Verfassungssystemen ab, kann untersucht werden, ob ein Verfassungssystem überhaupt eine gewaltenteilige Struktur aufweist, wie diese genau ausgestaltet ist und welche Begründungen es für konkrete Ausgestaltungen gibt.105 Ziel dieses ersten Kapitels ist somit die Erarbeitung eines applikativen Vorverständnisses verschiedener einzelner Aspekte von Gewaltenteilung, auf deren Grundlage anschließend die EGMR-Rechtsprechung ausgewertet wird.

C. Hoheitsgewalt als Objekt der Gewaltenteilung Die „Gewalt“ ist das Objekt der Gewaltenteilung. Laut Duden ist Gewalt die „Macht, Befugnis, das Recht und die Mittel, über jemanden, etwas zu bestimmen, zu herrschen“ oder eine „(gehobene) elementare Kraft von zwingender Wirkung“.106 Denkbar ist eine Begrenzung der Gewaltenteilungslehre allein auf hoheitliche Gewalt oder aber eine Erstreckung auch auf gesellschaftliche Gewalt.107 Das Verständnis des Gewaltbegriffs bestimmt die Reichweite jedes Gewaltenteilungskonzepts und steht daher notwendig am Beginn der Erarbeitung eines Grundverständnisses von Gewaltenteilung.

105 So, mit einem Fokus auf die Aufgaben der Gewaltenteilung, bereits Kamm, Machtbegrenzung durch Gewaltenteilung, in: Hein / Petersen / von Steinsdorff, Die Grenzen der Verfassung, S. 233–248. 106 https://www.duden.de/rechtschreibung/Gewalt, zuletzt abgerufen am 09.04.2022. Zur ursprünglichen wörtlichen Bedeutung siehe Fenske, Gewaltenteilung, in: Brunner / Conze /  Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, S. 923 (924). 107 Zur Uneindeutigkeit des Gewaltbegriffs Seiler, Gewaltenteilung, S. 196–197.

C. Hoheitsgewalt als Objekt der Gewaltenteilung  

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I. Begriffsbestimmung Hoheitsgewalt Ursprünglich bezog sich die Idee der Gewaltenteilung auf die souveräne staatliche Gewalt, durch welche einseitig verbindliche Regeln erlassen und gegebenenfalls mit Zwang durchgesetzt werden können.108 Diese Staatsgewalt wird einseitig ausgeübt, ist von keiner anderen Quelle abgeleitet und nach dem traditionellen Verständnis gibt es keine andere höhere Gewalt, der gegenüber sich die Staats­ gewalt verantworten muss.109 Präziser formuliert ist aber nicht die einseitige Gewaltausübung, sondern eher die einseitige Rechtserzeugung das charakteristische Merkmal staatlicher Gewalt.110 Denn der Staat ist nicht die einzige Institution, die faktisch Gewalt ausüben kann. Insbesondere physischer Zwang kann auch von nicht-staatlicher Seite ausgeübt werden.111 Der Staat ist aber die einzige Institution, die die Ausübung von Gewalt als rechtmäßig oder rechtswidrig einordnen kann.112 Die Gewaltausübung als solche ist also kein staatliches Alleinstellungsmerkmal, die Rechtserzeugung, welche die Gesamtheit der Ausübung von Hoheitsgewalt durch staatliche Organe, also legislatives, exekutives und judikatives Handeln, umfasst,113 aber sehr wohl. Der Begriff der hoheitlichen Gewalt umfasst neben der Staatsgewalt auch solche Gewalt, die von internationalen und supranationalen Organisationen ausgeübt wird.114 Wesentlicher Unterschied zwischen beiden Gewaltbegriffen ist das Attribut der Souveränität, welches nur der Staatsgewalt, nicht aber der hoheitlichen Gewalt

108 Becker, Gewaltenteilung im Gruppenstaat, S. 103–104; Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 37; Schöbener / Knauff, Allgemeine Staatslehre, § 3 Rn. 23–24; Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 838. Historisch Fenske, Gewaltenteilung, in: Brunner / Conze / Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, S.  923 (924–925). 109 Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 37; Schöbener / Knauff, Allgemeine Staatslehre, § 3 Rn. 23, 34; Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 847 ff. 110 Möllers, Gewaltengliederung, S. 83; ausführlich Möllers, Staat als Argument, S. 276–277, der sich auf Troper (Fn. 112) bezieht. Bei Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 147: einseitige Rechtsetzungs- und Rechtsdurchsetzungsbefugnis; ebenso schon Randelzhofer, Staatsgewalt und Souveränität, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 2, § 17 Rn. 39. 111 Siehe sogleich ab S. 58 knapp zur Abgrenzung hoheitlicher Gewalt von der gesellschaftlichen Gewalt von Verbänden und Parteien. 112 Troper, Le monopole de la contrainte légitime, in: Haller u. a., FS Winkler, S. 1195 (1200). 113 Ausführlich Möllers, Gewaltengliederung, S. 84–86. Möllers grenzt die Erzeugung von Recht von der Ausübung von Gewalt ab, geht also wohl davon aus, dass beide Formulierungen nicht synonym verwendet werden können. Begründung ist, dass Ausübung von Gewalt nicht staatsspezifisch sei, weil auch nicht staatliche Akteure Gewalt ausüben könnten (Möllers, Gewaltengliederung, S. 83 Fn. 95). 114 Ebenfalls mit der Annahme, dass hoheitliche Gewalt von supra- und internationalen Organisationen ausgeübt wird: Möllers, Gewaltengliederung, S. 83–84; Haratsch, Der Grundsatz der Gewaltenteilung als rechtsordnungsübergreifender Rechtssatz, in: Demel u. a., Funktionen und Kontrolle der Gewalten, S. 199 (206).

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

zugeschrieben wird.115 Nur staatliche Gewalt ist unabgeleitet und begründet sich aus sich selbst heraus, während internationalen oder supranationalen Organisationen die Gewalt erst übertragen werden muss, damit sie diese ausüben können.116 Nicht-staatliche Hoheitsträger sind in ihrem Bestand, aber auch hinsichtlich der Wirksamkeit ihrer Entscheidungen auf die Staaten angewiesen. So fehlt der EU etwa die Möglichkeit, ihr Recht mit Zwang durchzusetzen.117 Hierfür muss sie sich in den meisten Fällen auf die mitgliedstaatlichen Organe verlassen.118 Andererseits stellt das durch die Unionsorgane gesetzte Recht das höchste Recht auch in den Mitgliedstaaten dar. Im integrierten Staat ist die staatliche Gewalt somit nicht mehr zwingend die höchste Gewalt. Sie kann der Hoheitsgewalt einer internationalen Organisation untergeordnet sein. Der Begriff der Souveränität wurde unter dem Einfluss der Europäisierung somit neu definiert.119 Solange der Staat die Letztentscheidungsbefugnis über Kompetenzübertragungen hat, die gegebenenfalls zur Setzung höherrangigen Rechts führen können, ist die staatliche Gewalt immer noch souverän.120 Die Aufgaben der Gewaltenteilung121 sowie der zugrunde liegende Zweck der Freiheitsverwirklichung des Bürgers122 bestehen gleichermaßen bei staatlicher und nicht-staatlicher Ausübung von Hoheitsgewalt. Durch die zunehmende nicht-staatliche Ausübung von Hoheitsgewalt rückt diese – und damit auch die institutionelle Ausgestaltung internationaler Organisationen – immer stärker in den Fokus der Gewaltenteilungsforschung, welche damit häufig nicht mehr auf staatliche Gewalt begrenzt ist, sondern jegliche Hoheitsgewalt umfasst.123

115

Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 62. Ausführlich Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 126 ff., die allerdings in der Folge dieses Unterscheidungskriterium dekonstruiert. Souveränität versteht sie als „rechtlich höchste, unabgeleitete, unabhängige, einheitliche und ausschließliche Kompetenz zur Regelung eines Grundbestands an Inhalten in Verbindung mit der tatsächlichen Macht, diese auch durchzusetzen“ (S. 126). Siehe auch Oeter, Föderalismus und Demokratie, in: von Bogdandy / Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 72 (96), der allerdings davon ausgeht, dass durch die unionale Integration eines Staates die Hoheitsgewalt partiell übertragen wurde. 116 Vergleiche etwa das Prinzip der begrenzten Ermächtigung in Art. 5 Abs. 2 EUV. Dazu Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 151–153; Oeter, Föderalismus und Demokratie, in: von Bogdandy / Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 72 (96). 117 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 156–157; ausführlich von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, S. 35–38. 118 Möllers, Gewaltengliederung, S. 83–84. 119 Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 143–144. 120 Randelzhofer, Staatsgewalt und Souveränität, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 2, § 17 Rn. 33, 34; grundlegend bereits Koppensteiner, Die Europäische Integration und das Souveränitätsproblem, S. 46–48, 70. 121 Siehe hierzu sogleich ab S. 62. 122 Siehe dazu ab S. 68. 123 So ausdrücklich auch Ossenbühl, Schlußwort, in: Isensee, Gewaltenteilung heute, S. 123 (124).

C. Hoheitsgewalt als Objekt der Gewaltenteilung  

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II. Einheitlichkeit und Aufteilbarkeit der Ausübung von Hoheitsgewalt Anders als nach Montesquieus Modell bezieht sich in der modernen rechtsstaatlichen Demokratie die Idee der Teilung nicht mehr auf die Hoheitsgewalt an sich, die einzelnen Trägern – dem Monarchen, dem Adel und dem Volk – zugeordnet wurde.124 Nach dem modernen Verständnis bestimmt die Staatsform, wer Träger der Staatsgewalt ist und wie die Ausübung der Staatsgewalt legitimiert wird.125 In einer Demokratie ist das Volk als Ganzes Träger der Hoheitsgewalt (Volkssouveränität).126 Die Staatsfunktionen werden also nicht mehr unterschiedlichen Trägern, sondern nunmehr unterschiedlichen Organen zugeordnet, die die Hoheitsgewalt ausüben, während das Volk der einzige originäre Träger von Hoheitsgewalt ist.127 Das neue Objekt der Gewaltenteilung ist daher die Ausübung der Hoheitsgewalt in all ihren denkbaren Formen.128 Die Einheit der Staatsgewalt als Souveränitätsmerkmal wird dadurch nicht beeinträchtigt.129 Das Demokratieprinzip macht Vorgaben für die demokratische Legitimation der die Hoheitsgewalt ausübenden Stellen.130 Demokratie und Gewaltenteilung stehen daher heute in einem engen Zusammenhang.131 Ausübung von Hoheitsgewalt ist jede Rechtserzeugung, also jedes rechtswirksame Handeln hoheitlicher Stellen, unabhängig von angewendetem Verfahren und Organisationsstruktur.132 Sollen diese Rechtserzeugungsprozesse auf mehrere Stel 124

Übersichtlich zusammenfassend und mit weiteren Nachweisen Horn, AöR 127 (2002), S. 427 (431–433); außerdem Ossenbühl, DÖV 1980, S. 545 (547); knapp Kirchhof, Gewaltenbalance zwischen europäischen und mitgliedstaatlichen Organen, in: Isensee, Gewaltenteilung heute, S. 99 (104); Fastenrath, JuS 1986, S. 194 (196). Siehe eine ausführliche und sehr eingängige Aufarbeitung von Montesquieus Idee auch bei Draht, Die Gewaltenteilung im heutigen deutschen Staatsrecht, in: Rausch, Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, S. 21 (S. 21–33). 125 Ermacora, Allgemeine Staatslehre, S. 418; Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 197, insb. Fn. 16; Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 829. 126 Becker, Gewaltenteilung im Gruppenstaat, S. 65; Grzeszick, in: Dürig / Herzog / Scholz, GG, Art. 20 (Demokratie) Rn. 61; Sodan / Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, § 6 Rn. 2. 127 Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, S. 110; Grzeszick, Die Teilung der staatlichen Gewalt, S. 26–27; Stern, Staatsrecht, Bd. 2, S. 529; Starck, Der demokratische Verfassungsstaat, S. 11–12; Oeter, Föderalismus und Demokratie, in: von Bogdandy / Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 73 (90–91). 128 Horn, AöR 127 (2002), S. 427 (433). Möllers, Gewaltengliederung, S. 84 spricht in diesem Zusammenhang von „Rechtserzeugung“. 129 Randelzhofer, Staatsgewalt und Souveränität, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 2, § 17 Rn. 38; Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 146. 130 Vgl. Maurer, Staatsrecht I, § 7 Rn. 26–28. 131 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 496; Grzeszick, Die Teilung der staatlichen Gewalt, S. 27, 60–61; Seiler, Gewaltenteilung, S. 253; Imboden, Gewaltentrennung als Grundproblem unserer Zeit, in: Rausch, Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, S. 487 (494). So auch bereits oben auf S. 44–45. 132 Siehe dazu bereits die Nachweise in Fn. 110–113. Zum Begriff der Rechtserzeugung instruktiv Möllers, Gewaltengliederung, S. 84–86.

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

len verteilt werden, setzt dies logisch mehrere Organe voraus.133 Gewaltenteilung ist also ein Organisationsprinzip,134 welches einen Leitfaden für die Zusammensetzung, das anzuwendende Verfahren und die Kompetenzen und Aufgabenverteilung der Organe formuliert.

III. Abgrenzung von gesellschaftlicher Gewalt Nicht umfasst von dem vorliegenden Verständnis des Gewaltbegriffs ist die nicht-hoheitliche Gewalt, die etwa durch Verbände, politische Parteien oder die Medien ausgeübt wird.135 Gleichwohl war auch deren gesellschaftlicher Einfluss – als Träger gesellschaftlicher Gewalt – schon Gegenstand von GewaltenteilungsForschung.136 Die gesellschaftliche Gewalt der Verbände und vor allem der poli­ tischen Parteien ist geeignet, die „herkömmliche“ Gewaltenteilung zu überlagern, so dass die Entscheidungsfindung nicht mehr durch die institutionellen Vorschriften der Verfassung abgebildet wird.137 Zum Teil wird vertreten, die Gewaltenteilungslehre solle jede Gewalt ausklammern, die nicht von Hoheitsträgern ausgeübt wird.138 Folgt man aber der hier vertre 133

Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 62. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 13; Becker, Gewaltenteilung im Gruppenstaat, S. 71; Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 87; Möllers, Die drei Gewalten, S. 44. So für die Gewaltenteilung des deutschen Grundgesetzes auch erstmals BVerfG 3, 225 (247). Diese Einschätzung wurde vom Schrifttum übernommen, siehe etwa Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 497; Horn, AöR 127 (2002), S. 427 (429). 135 Diese Abgrenzung auch bei Becker, Gewaltenteilung im Gruppenstaat, S. 65. Vgl. auch Möllers, Gewaltengliederung, S. 83; Seiler, Gewaltenteilung, S. 196, der allerdings dafür plädiert, nicht-staatliche Einflüsse dennoch zu beachten (S. 221–224). 136 Becker, Gewaltenteilung im Gruppenstaat, erkennt zwar an, dass Gruppenmacht keine öffentliche Gewalt darstellt (S. 65), untersucht aber dennoch die Teilung der Gruppenmacht (S. 177). Seiler, Gewaltenteilung, S. 133–137 erläutert, dass die „intermediären Gewalten“ die staatliche Gewaltenteilung überlagert und daher in die Betrachtung einbezogen werden solle. Siehe auch Möllers, Gewaltengliederung, S. 83 Fn. 92 für weitere Nachweise. Darüber hinaus siehe auch die politikwissenschaftlichen Veröffentlichungen, grundlegend Steffani, Gewaltenteilung im demokratisch-pluralistischen Rechtsstaat, in: Rausch, Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, S. 313 (besonders S. 343 ff.). 137 Erläuternd Seiler, Gewaltenteilung, S. 133–135; Herzog, Verfassungsrechtliche Grundlagen des Parteienstaates, S. 10; Weber, Die Teilung der Gewalten als Gegenwartsproblem, in: Rausch, Zur Problematik der heutigen Gewaltentrennung, S.185 (194–196); Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 2, § 24 Rn. 91; Fastenrath, JuS 1986, S. 194 (201). 138 Möllers, Gewaltengliederung, S. 83; di Fabio, Gewaltenteilung, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 2, § 27 Rn. 14; Poscher, Funktionenordnung des Grundgesetzes, in: HoffmannRiem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, § 8 Rn. 18. Horn, AöR 127 (2002), S. 427 (436) begründet dies damit, dass in die Gewaltenteilung nur diejenigen staatlichen Organe einbezogen werden dürfen, welche das Volk in seiner Gesamtheit repräsentieren, nicht aber solche Mächte, die im Dienste eines partikularen Interesses agieren. 134

C. Hoheitsgewalt als Objekt der Gewaltenteilung  

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tenen Auffassung, dass nicht das eine richtige Gewaltenteilungskonzept existiert, sondern dass unterschiedliche Gewaltenteilungskonzepte jeweils neue Erkenntnisse bringen können,139 so scheint es zu streng, die Ausübung gesellschaftlicher Gewalt von vornherein als Objekt der Gewaltenteilungslehren auszuschließen. Gerade Einflüsse politischer Parteien können sich letztlich auch auf die Be- und Zusammensetzung der staatlichen Organe auswirken, indem – wie üblicherweise in den Parlamenten – die Organwalter selbst Kandidaten der Partei sind. In einer parlamentarischen Demokratie kann ein Kontrollverhältnis zwischen dem legislativen Parlament und der exekutiven Regierung etwa dadurch überlagert werden, dass das Parlament mehrheitlich die Regierung stützt. In diesem Fall übernimmt vor allem die parlamentarische Minderheit die Kontrollfunktion.140 Andererseits kann eine Verfassung auch Mechanismen wie zum Beispiel erhöhte Mehrheitserfordernisse vorsehen, um parteipolitischen Einfluss zu begrenzen. In solchen Fällen wird die Verfassungsordnung indes nicht durch gesellschaftliche Einflüsse überlagert, vielmehr nehmen die institutionellen Vorschriften diese Einflüsse auf.

IV. Fazit und Bezug zur EMRK als Forschungsobjekt Das Forschungsanliegen, staatsorganisatorische Vorgaben der EMRK für die Gewaltenteilung in den Konventionsstaaten zu ermitteln, setzt – genauso wie jede andere Form der Gewaltenteilungslehre – voraus, dass zunächst der Gewaltbegriff als Objekt der Gewaltenteilung bestimmt wird. Einen ersten Anknüpfungspunkt bietet der Vertragstext. In Art. 1 EMRK, der Rahmenregelung für den persönlichen, sachlichen und territorialen Geltungs­ bereich der EMRK,141 sichern die Hohen Vertragsparteien allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen (everyone within their jurisdiction / à toute personne relevant de leur juridiction) die Rechte und Freiheiten der EMRK zu.142 Ungeachtet anderer Auslegungsstreitigkeiten143 verpflichtet diese Norm jedenfalls alle konventionsstaatlichen Organe dazu, die Rechte und Pflichten der Konvention bei all 139

Siehe ab S. 50. Seiler, Gewaltenteilung, S. 133; Herzog, Verfassungsrechtliche Grundlagen des Parteienstaates, S. 10; Loewenstein, Verfassungslehre, S. 423. 141 Johann, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 1 Rn. 1; Meyer-Ladewig / Nettesheim, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 1 Rn. 1. 142 Die verbindlichen Sprachfassungen verwenden statt „Hoheitsgewalt“ die Formulierung jurisdiction / juridiction. Die deutsche Übersetzung ist somit enger als der authentische Text, siehe hierzu Peters, AVR 48 (2010), S. 1 (3). Kritisch ebenfalls Papp, Extraterritoriale Schutzpflichten, S. 63. Ausführlich zum Jurisdiktionsbegriff, dessen Bedeutung im Kontext der EMRK umstritten ist, Papp, Extraterritoriale Schutzpflichten, S. 63 ff.; Milanović, HRLR 8 (2008), S. 411 ff. 143 Relevanz erlangt die Norm vor allem bei extraterritorialem staatlichem Handeln, dazu etwa Jankowska-Gilberg, Extraterritorialität der Menschenrechte; Röben, in: Dörr / Grote /  Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 5 Rn. 100–124, 129–131; Peters, AVR 48 (2010), S. 1 ff. 140

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

ihren hoheitlichen Handlungen, unabhängig davon, welches Organ im konkreten Fall handelt, zu beachten.144 Der Staat wird als Ganzes durch den völkerrecht­lichen Vertrag der EMRK verpflichtet, seine Verantwortlichkeit kann sich aus jeder konventionswidrigen Handlung eines einzelnen staatlichen Organs begründen.145 Gleichzeitig wirkt Art. 1 EMRK damit nicht auf die nationalen Kompetenzverteilungen ein, weil hieraus keine Verpflichtungen hervorgehen, welches staatliche Organ in welchem Fall handeln muss.146 Aus zwei Gründen sollte für diese Untersuchung jedoch nicht allein die staatliche Gewalt, sondern die Hoheitsgewalt als Objekt der Gewaltenteilung festgelegt werden. Zum einen wurde durch die Ergänzung des Art. 59 EMRK um einen neuen Absatz 2 durch das 14. Zusatzprotokoll147 seitens der EMRK die rechtliche Möglichkeit eines Beitritts der EU als erstes nicht-staatliches Mitglied geschaffen. Trotz der in Art. 6 Abs. 2 EUV formulierten Beitrittspflicht ist dieser aktuell politisch nicht in Sicht.148 Gleichwohl zeigt der neue Art. 59 Abs. 2 EMRK, dass im Anwendungsbereich der EMRK nicht nur staatliche, sondern auch nicht-staatliche, aber hoheitliche Gewalt durch die EU ausgeübt werden könnte. Träte die EU der EMRK bei, müsste sich auch die institutionelle Organisation der EU an den Anforderungen der EMRK an die Gewaltenteilung messen lassen. Daneben ist die Ausübung von Hoheitsgewalt durch Organe der EU auch bereits nach der aktuellen Rechtslage – jedenfalls mittelbar – Prüfungsgegenstand des EGMR. Denn die Konventionsstaaten können sich ihrer Verpflichtung zur Einhaltung der Konvention nicht dadurch entledigen, dass sie einen Teil ihrer Gewalt auf supranationale oder internationale Organisationen übertragen.149 So sind 144 EGMR Nr. 55707/00, Andrejeva v Lettland (GK), 18.02.2009, § 56. Vorher bereits EGMR Nr. 28396/95, Wille v Liechtenstein (GK), 28.10.1999, § 46; Jankowska-Gilberg, Extraterritorialität der Menschenrechte, S. 27; Meyer-Ladewig / Nettesheim, in: Meyer-Ladewig /  Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 1 Rn. 6; Peters, AVR 48 (2010), S. 1 (3–5). 145 Die Bindung staatlicher Organe an die Konvention ergibt sich aus dem innerstaatlichen Recht, in Deutschland etwa aus Art. 20 Abs. 3 GG, Johann, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 1 Rn. 10. 146 Krieger, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  6 Rn.  64– 65; Frowein, in: Frowein / Peukert, EMRK, Art. 1 Rn. 11; Wiesbrock, Internationaler Schutz der Menschenrechte, S. 160–161. 147 Das 14. Zusatzprotokoll ist am 01.06.2010 in Kraft getreten und wurde von allen 46 Konventionsstaaten ratifiziert. 148 Siehe für eine übersichtliche Darstellung des Verhandlungsprozesses bis zum ersten Entwurf eines Beitrittsvertrages Kraus, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 3 Rn. 47–51. Der EuGH erklärte den ausgehandelten Entwurf des Beitrittsvertrages für unionsrechtswidrig, EuGH Gutachten 2/13, 18.12.2014, ECLI:EU:C:2014:2454. Der ehemalige EU-Kommissions-Präsident Juncker erklärte den Beitritt der EU zur EMRK 2016 zur „politischen Priorität“, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/SPEECH_16_ 1487, zuletzt abgerufen am 09.04.2022. Tatsächliche Fortschritte sind aber nicht erkennbar. 149 EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, §§ 33–35; Nr. 45036/98, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim Şirketi v Irland (GK), 30.06.2005, § 153.

C. Hoheitsgewalt als Objekt der Gewaltenteilung  

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die Staaten etwa auch dann für eine Konventionsverletzung verantwortlich, wenn nationale Organe einen nationalen Umsetzungsakt beschließen, welcher der zugrunde liegenden unionalen Richtlinie im Wortlaut genau entspricht.150 Auch die Bosphorus-Vermutung, dass Eingriffe in die Konventionsrechte durch Staaten, die in Erfüllung einer Verpflichtung handeln, die sich aus der Mitgliedschaft in einer internationalen Organisation ergibt, gerechtfertigt sind, solange die internationale Organisation einen gleichwertigen Grundrechtsschutz etabliert hat,151 entbindet die Staaten nicht von ihrer Bindung an die EMRK.152 Gleichfalls können sich Staaten ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der EMRK nicht dadurch entziehen, dass sie Private mit der Ausübung hoheitlicher Gewalt beauftragen.153 Hingegen sieht die EMRK keine unmittelbare Verpflichtung von Privaten, also keine unmittelbare Drittwirkung der Menschenrechte etwa gegenüber Verbänden, Parteien oder Medien vor.154 Dies spricht dafür, diese Untersuchung auf Gewalt im Sinne von Hoheitsgewalt zu beschränken und rein gesellschaftliche Einflussfaktoren, welche sich nicht in einer institutionellen Ausgestaltung eines Organs niederschlagen, auszuklammern. Bei Fragen der Be- oder Zusammensetzung von Organen kann aber – etwa im Sinne möglichst pluralistischer Repräsentation verschiedener Meinungen der Bevölkerung – die Parteizugehörigkeit eines Organwalters relevant werden. Die EMRK begrenzt also die Ausübung von Hoheitsgewalt, aber nicht von rein gesellschaftlicher Gewalt. Daher wird für diese Untersuchung die Hoheitsgewalt als Objekt der Gewaltenteilung festgelegt.

150

EGMR Nr. 17862/91, Cantoni v Frankreich (GK), 15.11.1996, §§ 29–30. Für staatliche Handlungen in Umsetzung internationaler Verpflichtungen mit Gestaltungsspielraum besteht die Verantwortlichkeit der Staaten selbstredend ebenfalls, so klarstellend EGMR Nr. 45036/98, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim Şirketi v Irland (GK), 30.05.2005, § 157; Meyer-Ladewig / Nettesheim, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 1 Rn. 14. 151 EGMR Nr. 45036/98, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim Şirketi v Irland (GK), 30.06.2005, §§ 155–156. 152 Zusammenfassend Meyer-Ladewig / Nettesheim, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 1 Rn. 10–14; Röben, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  5 Rn.  132–145. 153 Meyer-Ladewig / Nettesheim, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 1 Rn. 8; Röben, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  5 Rn.  96. 154 Meyer-Ladewig / Nettesheim, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 1 Rn. 19–20; Röben, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  5 Rn. 147.

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

D. Aufgaben von Gewaltenteilung Das Organisationsprinzip der Gewaltenteilung erfüllt in einem Verfassungssystem verschiedene Aufgaben,155 die sich alle auf Erfordernisse des Rechtsstaatsoder Demokratieprinzips zurückführen lassen.156 Vorliegend wird zwischen drei157 Aufgaben der Gewaltenteilung unterschieden.

I. Begrenzung, Mäßigung und Kontrolle der Ausübung von Hoheitsgewalt Die üblicherweise als erste angeführte Aufgabe von Gewaltenteilung ist die Machtbegrenzung und gegenseitige Machtkontrolle.158 Bereits Montesquieu er 155

Die Terminologie im Schrifttum ist uneinheitlich. Seiler, Gewaltenteilung, S. 203 ff. zählt „gewaltenteilige Grundanliegen“ auf, bezieht diese aber auf einen weiteren Gewaltenteilungsbegriff, der auch nicht-staatliche Gewalt einbezieht (S. 218–221); Goeters, Institutionelles Gleichgewicht, S. 63–90 nennt „Begründungen für die Notwendigkeit einer Gewaltenteilung“; Möllers, Gewaltengliederung, S. 68 spricht von der „Rechtfertigung des Gewaltenteilungsprinzips“; Maurer, Staatsrecht I, § 12 Rn. 2 von „Zielen“; ebenso Carolan, The New Separation of Powers, S. 27. Es wird auch von Funktionen der Gewaltenteilung gesprochen, z. B. bei Kirchhof, Gewaltenbalance zwischen europäischen und mitgliedstaatlichen Organen, in: Isensee, Gewaltenteilung heute, S. 99 (100); Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 405–406; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 67–69. Diese Terminologie ist im Grunde gut gewählt, geht es doch im Kern um die Rolle der Gewaltenteilung im Verfassungssystem, um ihre Aufgabe innerhalb eines größeren Zusammenhangs (vgl. die Definitionen von „Funktion“ unter https://www.duden.de/rechtschreibung/ Funktion, zuletzt abgerufen am 09.04.2022). Der Begriff „Funktion“ wird im Kontext von Gewaltenteilung jedoch auch verwendet, um die unterschiedlichen Funktionen von Hoheitsgewalt, also Legislative, Exekutive und Judikative, voneinander abzugrenzen. Im Sinne einer größtmöglichen Klarheit wird der Begriff der Funktion in dieser Arbeit für die Funktion von Hoheitsgewalt verwendet und an dieser Stelle daher lieber von Aufgaben der Gewaltenteilung gesprochen. So wie hier auch Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 801. 156 Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 800–801; Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 405–406; Grzeszick, Die Teilung staatlicher Gewalt, S. 60; Poscher, Funktionenordnung des Grundgesetzes, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, § 8 Rn. 20–21. Siehe zum Zusammenhang zwischen Gewaltenteilung, Rechtsstaatsprinzip und Demokratieprinzip bereits oben ab S. 44. 157 Genauso wie bei der Terminologie gibt es auch bei der Kategorisierung der Aufgaben unterschiedliche Vorgehensweisen. Möllers, Gewaltengliederung, S. 68–69 verweist auf zwei Rechtfertigungsgründe; ebenso von zwei Aufgaben schreibend Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 801; Kirchhof, Gewaltenbalance zwischen europäischen und mitgliedstaatlichen Organen, in: Isensee, Gewaltenteilung heute, S. 99 (100–101) nennt vier Funktionen, Seiler, Gewaltenteilung, S. 225–259 gar sechs gewaltenteilige Grundanliegen. Wie hier Maurer, Staatsrecht I, § 12 Rn. 2–4; ähnlich auch Heun, Staatshaushalt und Staatsleitung, S. 97; Goeters, Institutionelles Gleichgewicht, S. 65–88, die als vierten gleichberechtigten Grund die Freiheit des Einzelnen, welche hier als mittelbares Ziel der Gewaltenteilung eingeordnet wird (hierzu sogleich ab S. 68), anführt. Carolan, The New Separation of Powers, S. 27 m. w. N. zu Kategorisierungen aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum. 158 Möllers, Gewaltengliederung, S. 68; Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 801; Grzeszick, Die Teilung staatlicher Gewalt, S. 20; Goeters, Institutionelles Gleichgewicht, S. 65–72; Doeh-

D. Aufgaben von Gewaltenteilung  

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läuterte, dass die Gefahr eines Machtmissbrauchs größer wird, wenn die Macht in der Hand eines Einzelnen gebündelt ist.159 Die Organe dürfen nur im Rahmen ihrer Organkompetenzen handeln und müssen die ihnen nicht zustehenden Aufgaben anderen Organen überlassen. Außerdem besteht die Möglichkeit, dass die Organe ihre Handlungen gegenseitig auf Rechtmäßigkeit überprüfen. Diese Aufgabe der Gewaltenteilung steht in einem engen Zusammenhang mit dem Rechtsstaatsprinzip,160 welches die recht- und verfassungsmäßige Handlung aller Organe und deren Bindung an bestehendes Recht verlangt.

II. Teilhabe an und Repräsentation bei der Ausübung von Hoheitsgewalt Die zweite Aufgabe der Gewaltenteilung entstammt ebenfalls dem Geist der Gesetze Montesquieus,161 wird aber im modernen Schrifttum nur noch selten ausgeführt. Die Teilhabe und Repräsentation des Volkes bei der Ausübung von Hoheitsgewalt ist immer noch ein wichtiges Anliegen der modernen Gewaltenteilung,162 wenn auch – als Verfassungsprinzip einer inzwischen demokratischen Ordnung – unter deutlich veränderten Vorzeichen im Vergleich zum früheren Verständnis. Montesquieu verfolgte das Ziel, dass alle gesellschaftlichen Gruppen, denen originär Hoheitsgewalt zustand, an der Ausübung hoheitlicher Gewalt bering, Allgemeine Staatslehre, Rn. 391; Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 10; di Fabio, Gewaltenteilung, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 2, § 27 Rn. 9; Kirchhof, Gewaltenbalance zwischen europäischen und mitgliedstaatlichen Organen, in: Isensee, Gewaltenteilung heute, S. 99 (101); Hofmann, Die Bindung staatlicher Macht, in: Hofmann u. a., Rechtsstaatlichkeit in Europa, S. 3 (11); Weber, Die Teilung der Gewalt als Gegenwartsproblem, in: Rausch, Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, S. 185 (187–188). 159 Montesquieu, L’esprit des lois, Livre XI, Chapitre VI; siehe dazu (und auch zu entsprechenden Äußerungen John Lockes) Goeters, Institutionelles Gleichgewicht, S. 65–68. 160 Seiler, Gewaltenteilung, S. 232–237; Grzeszick, Die Teilung der staatlichen Gewalt, S. 59–60. Für die Gewaltenteilung nach dem GG Horn, AöR 127 (2002), S. 427 (438). Vgl. auch Kirchhof, Gewaltenbalance zwischen europäischen und mitgliedstaatlichen Organen, in: Isensee, Gewaltenteilung heute, S. 99 (101): „Schließlich gewährt der Rechtsstaat durch die Einrichtung einer dritten – rechtsprechenden – Gewalt dem Bürger Waffengleichheit gegenüber den anderen Staatsgewalten.“ 161 Seiler, Gewaltenteilung, S. 229; Verhoeven, The EU in search of a democratic and constitutional theory, S. 209; Klein, Einführung, in: Klein, Gewaltenteilung und Menschenrechte, S. 9 (10); Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 9; knapp Weber, Die Teilung der Gewalten als Gegenwartsproblem, in: Rausch, Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, S. 185 (186), der im Folgenden die Entwicklung dieser Gewaltenteilungsaufgabe bis nach dem zweiten Weltkrieg nachzeichnet. Siehe ebenfalls den historischen Abriss vor allem bezogen auf den englischen Sprachraum bei Craig, ELJ 3 (1997), S. 105 (114–115). 162 Seiler, Gewaltenteilung, S. 241–242, 253 m. w. N. (nur für den Aspekt der Teilhabe); ­Maurer, Staatsrecht I, § 12 Rn. 3; Grzeszick, Die Teilung staatlicher Gewalt, S. 21–22; Ossenbühl, DÖV 1980, S. 545 (546).

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

teiligt werden.163 Dem Adel und den Bürgern kam die Aufgabe der Legislative zu, dem Monarchen die Exekutive.164 Nach dem heutigen Prinzip der Volkssouveränität ist das Volk der einzige originäre Träger von Hoheitsgewalt und legitimiert durch Wahlen die staatlichen Organe, die Hoheitsgewalt auszuüben.165 Es gibt also nur noch einen Ursprung von Hoheitsgewalt, wohl aber noch mehrere ausübende Institutionen.166 Während die – unmittelbare oder mittelbare – demokratische Legitimation der Organe an sich bereits durch das Demokratieprinzip verbrieft ist, ergänzt die Gewaltenteilung die Idee der pluralistisch besetzten Organe: Eine gegenseitige Kontrolle und Begrenzung durch die Kontrolle ist nur dann möglich, wenn die Organe oder deren Amtsträger nicht die gleichen Ziele verfolgen.167 Gewaltenteilung muss daher durch verschiedene Modi der Be- und Zusammensetzung der Organe für eine Pluralität in der Herrschaftsordnung sorgen.168 Zunächst kann die Zuständigkeitsordnung den Organen unterschiedliche Ausrichtungen und Ziele zuweisen: So repräsentiert etwa die erste parlamentarische Kammer nach einer unmittelbaren Wahl das Volk als solches, die zweite Kammer wird nicht selten durch die Repräsentanten der territorialen Untereinheiten der Staaten besetzt.169 Damit werden die Entscheidungsträger in den zweiten Kammern stets notwendig die besonderen Bedürfnisse der sie entsendenden Körperschaften

163 Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 231; Goeters, Institutionelles Gleichgewicht, S. 137; Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 9; Lange, Der Staat 19 (1980), S. 213 (221); Korioth, Der Staat 1998, S. 27 (33–34, 54). 164 Die Judikative war keiner einzelnen Gruppe zugeordnet, denn die Besetzung der Gerichte sollte ständig wechseln, Draht, Die Gewaltenteilung im heutigen deutschen Staatsrecht, in: Rausch, Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, S. 21 (26); Korioth, Der Staat 1998, S. 27 (33). 165 Grzeszick, Die Teilung staatlicher Gewalt, S. 25; Poscher, Funktionenordnung des Grundgesetzes, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, § 8 Rn. 11. 166 Grzeszick, Die Teilung staatlicher Gewalt, S. 27; Kuhl, Der Kernbereich der Exekutive, S. 133–134; Poscher, Funktionenordnung des Grundgesetzes, in: Hoffmann-Riem / SchmidtAßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, § 8 Rn. 11; Ossenbühl, DÖV 1980, S. 545 (547). 167 Vgl. Ossenbühl, Schlusswort, in: Isensee, Gewaltenteilung heute, S. 123 (125): „[Die] Gewaltenteilung soll auch verhindern, daß [sic] die geteilten Funktionen sich wieder in einer Hand vereinigen oder einem einzigen, womöglich dirigierten Machtzentrum unterworfen sind.“ Laut Goeters, Institutionelles Gleichgewicht, S. 252 ist „die Einbindung verschiedenster Interessen im Rahmen der Entscheidungsfindung […] eine wichtige Vorbedingung für die erfolgreiche Verhinderung eines Machtmissbrauchs durch nur eine gesellschaftliche Gruppe.“ 168 Maurer, Staatsrecht I, § 12 Rn. 3; Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 406 Fn. 519. 169 Classen, Nationales Verfassungsrecht in der EU, Rn. 332, 367; Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 9 Rn. 153; Grewe / Ruiz Fabri, Droits constitutionnels européens, Rn. 381.

D. Aufgaben von Gewaltenteilung  

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im Blick haben, während die Abgeordneten der ersten Kammer grundsätzlich ihre Wiederwahl durch das Volk an sich vor Augen haben. Als weiteres Beispiel mag die unpolitische Besetzung von Gerichten gelten: Während Parlamente genauso wie Regierungen als politische Organe von der Meinung des Volkes oder anderer Organe abhängig sind, sind die Positionen der Richter idealerweise derart ausgestaltet, dass die Amtszeit der Richter sowie der Inhalt der Entscheidungen von politischen Einflüssen unabhängig ist.170 Auch die Verfahrens- und Besetzungsvorschriften innerhalb eines einzelnen Organs können von dem Pluralitätsgedanken gesteuert sein. Hohe Mehrheitserfordernisse für bestimmte Entscheidungen führen dazu, dass in den Entscheidungsprozess möglichst viele Amtsträger aktiv eingebunden sind.171 Schließlich müssen auch die Verfahren zur Vermittlung von demokratischer Legitimation an nicht unmittelbar gewählte Organe derart ausgestaltet sein, dass nicht in allen Organen nur Vertreter beziehungsweise Anhänger der parlamentarischen Mehrheit zu finden sind, sondern Repräsentanten unterschiedlicher sozialer oder gesellschaftlicher Gruppen beziehungsweise Parteien; dies gilt insbesondere für das unmittelbar gewählte Parlament.172 Generell muss die Verfassungsordnung Instrumente des Minderheitenschutzes vorsehen, damit auch eine andere als die Mehrheitsmeinung im politischen Prozess Gehör finden kann.173 Durch solche und andere Maßnahmen wird mittels des Prinzips der Gewaltenteilung erreicht, dass die unterschiedlichen in der Gesellschaft vorhandenen Meinungsströme durch ihre Repräsentation in den verschiedenen Organen bei der Ausübung von Hoheitsgewalt repräsentiert werden.174 Nur weil den Anforderungen dieser Aufgabe aktuell in den rechtsstaatlichen Demokratien Europas jedenfalls nach dem Verfassungstext entsprochen werden mag, heißt dies aber nicht, dass die Aufgabe als solche nicht mehr relevant

170 Vergleichend zur persönlichen und sachlichen Unabhängigkeit von Richtern Classen, Nationales Verfassungsrecht in der EU, Rn. 643–647; Haller / Kölz / Gächter, Allgemeines Staatsrecht, Rn. 941–946; Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 12, Rn. 26–33. 171 Bezogen auf das GG Weber, Die Teilung der Gewalten als Gegenwartsproblem, in: Rausch, Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, S. 185 (202). 172 Seiler, Gewaltenteilung, S. 230–231; Weber, Die Teilung der Gewalten als Gegenwartsproblem, in: Rausch, Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, S. 185 (200) spricht von einem Pluralismus gesellschaftlicher Machtträger und meint damit insbesondere Parteien, aber auch andere Verbände. 173 Seiler, Gewaltenteilung, S. 242–243; Maurer, Staatsrecht I, § 12 Rn. 3; vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 495–496. 174 Imboden, Gewaltentrennung als Grundproblem unserer Zeit, in: Rausch, Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, S. 487 (494). Vgl. auch Stremler, The Separation of Powers and Constitutional Scholarship, in: ten Napel / Voermans, The Powers That Be, S. 33 (42), der dafür plädiert, die soziale Dimension der Gewaltenteilung nicht zu übersehen, welche immer noch existiert, auch wenn die einzelnen Gewalten als solche keine unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen mehr repräsentieren.

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

ist.175 Die Idee der Gewaltenteilung muss sich stets an neue Entwicklungen anpassen. Es ist jederzeit denkbar, dass Fragen der Teilhabe und Repräsentation wieder relevanter werden. Dies wurde durch die Diskussion um das sogenannte institutionelle Gleichgewicht der Europäischen Union bewiesen, in welcher diese Aufgabe eine größere Rolle spielte.176

III. Effektive und sachgemäße Ausübung von Hoheitsgewalt Die dritte Aufgabe der Gewaltenteilung setzt zunächst voraus, dass die Machtbegrenzung und Machtkontrolle sowie die gesellschaftliche Teilhabe durch das System der Gewaltenteilung bereits sichergestellt sind. Daher wurde diese Aufgabe auch erst prominent, als sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein grundsätzliches Vertrauen in den Grundrechtsschutz und die Rechtsstaatlichkeit etabliert hatte.177 Unter anderem auf Konrad Hesse geht die Forderung zurück, dass die Verfassungsordnung die Kompetenzen zwischen den Organen nicht nur so verteilen muss, dass eine Begrenzung und Kontrolle sichergestellt ist, sondern auch eine möglichst „sachgemäße“ Zuordnung der Funktionen zu den Organen. „Gegenstand der Gewaltenteilung ist vielmehr positiv eine Ordnung menschlichen Zusammenwirkens, die die einzelnen Gewalten konstituiert, ihre Kompetenzen bestimmt und begrenzt, ihre Zusammenarbeit regelt und auf diese Weise zur Einheit  – begrenzter – staatlicher Gewalt hinführen soll. Diese Aufgabe erfordert nicht nur eine Hemmung und Balancierung der realen Machtfaktoren, sondern sie ist auch vor allem eine Frage sachgemäßer Bestimmung und Zuordnung der staatlichen Funktionen, der Organe, denen die Wahrnehmung dieser Funktionen anvertraut wird, sowie der realen Kräfte, die sich in diesen Organen verkörpern.“178

175

Andere Ansicht Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 9, der davon ausgeht, dass sich dieser Aspekt der Gewaltenteilung aufgrund der geänderten Ausgangslage erledigt habe. Ebenso Korioth, Der Staat 1998, S. 27 (54). 176 Goeters, Institutionelles Gleichgewicht, S. 251–252 m. w. N.; Verhoeven, The EU in search of a democratic and constitutional theory, S. 208–210; Craig, ELJ 3 (1997), S. 105 (116); ­Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht, § 5 Rn. 20 (bezogen auf die Teilhabe der Mitgliedstaaten an den unionalen Entscheidungen). 177 Möllers, Gewaltengliederung, S. 16; Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 36. Ossenbühl, Schlußwort, in: Isensee, Gewaltenteilung heute, S. 123 (127) zusammenfassend zum „Umschwenken“ eines rechtsstaatlichen Verständnisses der Gewaltenteilung zu einem (auch) demokratischen. 178 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 482. Sinemus, Der Grundsatz der Gewaltenteilung in der Rechtsprechung des BVerfG, S. 60 betont zutreffend, dass Hesses Ansatz ein verfassungsrechtlicher (und eben kein verfassungstheoretischer) ist. Die grundsätzlichen Überlegungen sind allerdings so abstrakt, dass sie – auch wenn sie später auf die deutsche Rechtsordnung bezogen werden – als theoretische Grundlagen herangezogen werden können. Hierzu zusammenfassend und mit weiteren Nachweisen Lerche, Gewaltenteilung – deutsche Sicht, in: Isensee, Gewaltenteilung heute, S. 75 (75–87).

D. Aufgaben von Gewaltenteilung  

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Dafür müssen jeweils die Organe eine konkrete Aufgabe übernehmen, die nach Zusammensetzung, Organisation und Verfahren am besten dafür geeignet sind.179 Otto Küster nannte dies erstmals eine „funktionsgerechte Organstruktur“.180 Auch diese Aufgabe steht in engem Zusammenhang mit dem Demokratieprinzip, denn die demokratische Legitimation wird den Organen jeweils für die Aufgaben vermittelt, die diese sinnvoll ausüben können.181 Außerdem macht auch das Demokratieprinzip, etwa in Form der Wesentlichkeitslehre, Vorgaben dafür, welche Entscheidungen von welchem Organ getroffen werden sollen.182

IV. Fazit Die Aufgaben der Gewaltenteilung haben sich seit Montesquieu aktualisiert und erweitert. Sowohl das Demokratieprinzip als auch das Rechtsstaatsprinzip stellen Anforderungen an die Ausgestaltung der Staatsorganisation. Ein umfassendes Gewaltenteilungssystem zeichnet sich dadurch aus, dass die Erfordernisse aller drei Aufgaben in einen gerechten Ausgleich gebracht werden, auch wenn sie auf den ersten Blick gegenläufige Interessen verfolgen.183 Es besteht insbesondere ein Spannungsverhältnis zwischen der Aufgabe der Begrenzung und Mäßigung der Gewalt, welche von einer grundsätzlich beschränkten und kontrollierten Ho 179 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 488; ihm folgend Horn, AöR 127 (2002), S. 427 (448); ebenfalls in diese Richtung Kirchhof, Gewaltenbalance zwischen europäischen und mitgliedstaatlichen Organen, in: Isensee, Gewaltenteilung heute, S. 99 (101–102). 180 Küster, AöR 75 (1949), S. 397 (404 ff.); ihm folgend Ossenbühl, DÖV 1980, S. 545 ­(548–549); Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 90; anders formuliert auch bei Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 10; Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, S. 11 Fn. 49 und S. 49–50 m. w. N. und Rekurs auf Hesse; Horn, AöR 127 (2002), S. 427 (448) m. w. N. zur Rezeption und Weiterentwicklung dieses Begriffs: Es ist auch von „Organadäquanz“ oder „Funktionsadäquanz“ die Rede. 181 Möllers, Gewaltengliederung, S. 69; Horn, AöR 127 (2002), S. 427 (449–450). Vgl. auch Ossenbühl, DÖV 1980, S. 545 (549); Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 2, § 24 Rn. 87–88: „Der Sinn der Gewaltenteilung […] liegt darin, […] eine demokratisch konstituierte und legitimierte Staatsgewalt in einer bestimmten Weise zu organisieren und zu balancieren“. 182 Bezogen auf das GG Horn, AöR 128 (2002), S. 427 (449–450). 183 Ähnlich wie hier auch Heun, Staatshaushalt und Staatsleitung, S. 97, der die hier bezeichneten Aufgaben als „Legitimitätsmaßstäbe“ bezeichnet und in das gewaltenteilige Prinzip der Funktionengerechtigkeit einordnet. Vgl. auch Möllers, Gewaltengliederung, S. 70, der allerdings die seinem Modell zugrunde liegenden unterschiedlichen Legitimationsvorstellungen ausdifferenzieren möchte. Siebe ebenfalls Ossenbühl, Schlußwort, in: Isensee, Gewaltenteilung heute, S. 123 (128): „Was soll für die Zuteilung staatlicher Macht entscheidend sein? […] Die immer noch dominierende Antwort beharrt zuallererst auf der Erfüllung demokratischer Legitimation, achtet aber auch auf die Funktionsfähigkeit des Organs und die Sachrichtigkeit der Entscheidung.“ Nicht zu folgen ist daher der verengenden Ansicht, dass jeder Aufgabe ein unterschiedliches Gewaltenteilungsverständnis zugrunde liegt, so etwa für das GG Horn, Die grundrechtsunmittelbare Verwaltung, S. 252, 267.

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

heitsgewalt ausgeht, und der Aufgabe der sachgemäßen Ausübung von Hoheitsgewalt, die gerade eine effektive (und damit tendenziell unbeschränkte) Hoheitsgewalt erfordert. Hieraus ergibt sich das häufig im Schrifttum gefundene Credo, Gewaltenteilung bedeute Begrenzung und Ermöglichung der Ausübung von Hoheitsgewalt.184 Die Aufgabe der Repräsentation des Volkes bei der Ausübung von Hoheitsgewalt fungiert gleichermaßen als Verbindungsstück zwischen den beiden anderen Aufgaben. Pluralistisch besetzte Organe sind mithilfe von Instrumenten des Minderheitenschutzes einerseits in der Lage, Machtmissbrauch durch eine Gruppe innerhalb eines Organs oder Machtmissbrauch durch ein anderes Organ zu verhindern.185 Andererseits kann die Synthese unterschiedlicher Interessen gerade in der Rechtsetzung zu einer effektiven und vor allem sachgemäßen Tätigkeit führen.186 Trotz des angestrebten – institutionellen – Pluralismus bleibt Gewaltenteilung im hier verstandenen Sinne ein organisatorisches Prinzip,187 welches rein gesellschaftliche Einflüsse etwa von Parteien oder Verbänden, die sich nicht in der organisatorischen Ausgestaltung niederschlagen, außer Acht lässt.

E. Einordnung in den Gesamtkontext der staatlichen Ordnung: Gewaltenteilung als Mittel zur Freiheitsverwirklichung Die Aufgaben der Gewaltenteilung dürfen nicht isoliert von der Begründung für die Existenz des Staates selbst, also den Staatszwecken, betrachtet werden. Gewaltenteilung ist ein „dienendes“ Prinzip, es dient dem Staatszweck eines demokratischen Rechtsstaats, die persönliche Freiheit der Bürger zu verwirklichen.188 Alle drei vorgestellten Aufgaben von Gewaltenteilung lassen sich auf das gemeinsame Ziel zurückführen, den Staatszweck zu erfüllen, die persönliche Freiheit der Bürger zu garantieren.

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Möllers, Gewaltengliederung, S. 3 m. w. N., 16, 68–69; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 482; Horn, Die grundrechtsunmittelbare Verwaltung, S. 252–253; di Fabio, Gewaltenteilung, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 2, § 27 Rn. 11; siehe auch Grzeszick, Die Teilung staatlicher Gewalt, S. 58–62. 185 Bezogen auf die EU Goeters, Institutionelles Gleichgewicht, S. 252. 186 Vergleiche dazu die auf die EG bezogenen Ausführungen von Craig, ELJ 3 (1997), S. 105 (116–119), der die von den verschiedenen Organen verfolgten Interessen und die Effektivität in Beziehung setzt. 187 Für die Gewaltenteilung des GG auch Stettner, JöR n. F. 35 (1986), S. 57 (76). 188 Horn, Die grundrechtsunmittelbare Verwaltung, S. 266–267.

E. Einordnung in den Gesamtkontext der staatlichen Ordnung  

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I. Staatszweck Freiheit und grundrechtliche Gewährleistungen Staatszwecke sind die „legitimierenden und begrenzenden Konstanten der staatlichen Tätigkeit“189 und damit keine normative Kategorie, sondern eine staatstheoretische190. Sie geben Auskunft über die vorpositive Begründung der Herrschaft.191 Ohne zu tief in die Wirrungen der Staatszwecklehre einzutauchen,192 können als wesentliche Staatszwecke die innere und äußere Sicherheit, das Gemeinwohl, die Wohlfahrt und die Freiheit der Menschen aufgezählt werden.193 Der menschlichen Freiheit kommt in dieser Aufzählung eine besondere Bedeutung zu, hilft sie doch zwischen dem autoritären und dem demokratischen Rechtsstaat zu unterscheiden.194 Wie ist es nun um das Verhältnis zwischen der menschlichen Freiheit und den Grund- beziehungsweise Menschenrechten bestellt? Freiheit als Staatszweck umfasst die persönliche Freiheit zur Entfaltung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht – gänzlich unabhängig von konkreten grundrechtlichen Gewährleistungen – sowie die Freiheit zur demokratischen Selbstbestimmung.195 Die menschliche Freiheit ist ein rechtstheoretischer Begriff, während Grundrechte und Menschenrechte rechtsverbindliche Normen darstellen. Die Freiheit im Sinne des Staatszwecks ist weiter zu fassen als die Summe aller verbindlichen Grund- und Menschenrechte, die einem Individuum seitens des Staates gewährleistet werden,196 189

Link, VVDStRL 48 (1990), S. 7 (17). Siehe dazu m. w. N. auch Ress, VVDStRL 48 (1990), S. 56 (62); Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 626 spricht von „Herrschaftszwecken“; Isensee, Staatsaufgaben, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 4, § 73 Rn. 6–7. 190 Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 185–186; Seiler, Gewaltenteilung, S. 206–209. 191 Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 184; Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 626. 192 Siehe dazu etwa Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 183–210; Möllers, Staat als Argument, S. 192–213; Link, VVDStRL 48 (1990), S. 7 ff.; Ress, VVDStRL 48 (1990), S. 56 ff.; Brugger, NJW 1989, S. 2425 ff. 193 Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 198 ff.; Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 626; Link, VVDStRL 48 (1990), S. 7 (18). Wie so häufig, entbehrt die Kategorisierung nicht einer gewissen Willkür. Etwa wird das Gemeinwohl teils auch als Überbegriff für alle Staatszwecke betrachtet (Brugger, NJW 1989, S. 2425 (2434)), oder die Freiheit als ein Aspekt des „inneren Friedens“ (Herzog, Ziele, Vorbehalte und Grenzen der Staatstätigkeit, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 4, § 72 Rn. 26). 194 Link, VVDStRL 48 (1990), S. 7 (42); Brugger, NJW 1989, S. 2425 (2433); Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, S. 627; vgl. ebenfalls Bethge, DVBl. 1989, S. 841 (842–843). 195 Seiler, Gewaltenteilung, S. 207; Horn, Demokratie, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 22 Rn. 46; Brugger, NJW 1989 S. 2425 (2433). Brugger, ebd., S. 2434 bezeichnet als den „Endzweck des staatlichen Handeln“ die „Sicherung einer eigenständigen, sinnhaften und verantwortlichen Lebensführung für jeden Bürger“. Ihm folgend Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 200. Siehe auch Ress, VVDStRL 48 (1990), S. 56 (98). 196 Link, VVDStRL 48 (1990), S. 7 (45): „Grundrechte [bilden] selbst kein geschlossenes System […], sondern geronnene Erfahrung typischer historischer Gefährdungslagen“; vgl. in diese Richtung auch Scheuner, VVDStRL 22 (1965), S. 1 (42 ff., insb. 46).

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

denn die menschliche Freiheit als humanistischer Wert darf nicht von der Reichweite der dem Individuum zugestandenen subjektiven Gewährleistungen abhängen. Die durchsetzbaren Grundrechte und Menschenrechte dienen aber – genauso wie die Gewaltenteilung – dazu, die Freiheit der Menschen wirksam abzusichern. Um dem Staatszweck „Freiheitsverwirklichung“ zu entsprechen, ist vom Staat nicht ausschließlich das Unterlassen grundrechtsverletzender Handlungen im Sinne von Abwehrrechten gefordert. Der Staat muss auch aktiv tätig werden, etwa um den Bürger vor Beeinträchtigungen durch andere Bürger zu schützen.197

II. Freiheitsverwirklichung als mittelbare Aufgabe der Gewaltenteilung Die freie Entfaltung jedes Einzelnen ist primäres Ziel des modernen rechtsstaatlichen und demokratischen Verfassungsstaates. Um diesem Zweck zu entsprechen, bedient sich der Staat – neben der Gewährleistung von Grundrechten und anderer Staatsprinzipien wie des Rechtsstaatsprinzips198 – des Organisationsprinzips der Gewaltenteilung.199 Die individuelle Freiheit des Einzelnen wird bisweilen als eine eigenständige Aufgabe der Gewaltenteilung eingeordnet.200 Auch Montesquieu hatte bereits die Freiheit im Blick, die er als Freiheit zu tun, was das Gesetz erlaubt (liberté politique), verstand.201 Es zeigt sich aber, dass jede der drei angesprochenen Gewalten 197 Seiler, Gewaltenteilung, S. 211–212; vgl. auch Link, VVDStRL 48 (1990), S. 7 (43–45); Herzog, Ziele, Vorbehalte und Grenzen der Staatstätigkeit, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 4, § 72 Rn. 74–80. 198 Herzog, Ziele, Vorbehalte und Grenzen der Staatstätigkeit, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 4, § 72 Rn. 75. 199 Eindrücklich Starck, Der demokratische Verfassungsstaat, S. 12: „Gewaltenteilung ist das organisatorische Rückgrat der Menschenrechtsidee. Deshalb kommt es für einen effektiven Freiheitsschutz stärker auf eine gewaltenteilige Staatsorganisation als auf Grundrechtskataloge an.“ Außerdem Seiler, Gewaltenteilung, S. 211; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 32; Unruh, Der Verfassungsbegriff des GG, S. 473–474; Ress, VVDStRL 48 (1990), S. 56 (98); Ossenbühl, Schlusswort, in: Isensee, Gewaltenteilung heute, S. 123 (126); ihm folgend Klein, Einführung, in: Klein, Gewaltenteilung und Menschenrechte, S. 9 (9–10). Die Verbindung zwischen Staatszweck und Gewaltenteilung stellt auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 485–486 her, der allerdings nicht explizit auf den Staatszweck der Verwirklichung persönlicher Freiheit eingeht. Link, VVDStRL 48 (1990), S. 7 (45): „Der alte Graben zwischen Grundrechten und Organisationsrecht […] ist im Staatszweck der Freiheit weitgehend eingeebnet.“ 200 Bognetti, Dividing Powers, S. 3, 9–10; Seiler, Gewaltenteilung, S. 206–209; Horn, Die grundrechtsunmittelbare Verwaltung, S. 252 m. w. N.; Ossenbühl, DÖV 1980, S. 545 (546); Stettner, JöR n. F. 35 (1986), S. 57 (78–79); Küster, AöR 75 (1949), S. 397 (402); ihm folgend von Danwitz, Der Staat 35 (1996), S. 329 (337). Ebenso Möllers, Gewaltengliederung, S. 69–70, der sein Gewaltenteilungsmodell auf der Spannungslage der individuellen Freiheit zur demokratischen Selbstbestimmung aufbaut. 201 Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzips, S. 50–51; Lange, Der Staat 19 (1980), S. 213 (216–218); Korioth, Der Staat 1998, S. 27 (32).

E. Einordnung in den Gesamtkontext der staatlichen Ordnung  

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teilungsaufgaben Mittel ist, um das Ziel zu verwirklichen, die persönliche Freiheit der Bürger zu garantieren beziehungsweise zu fördern. Die Aufgabe, die Macht einzelner Organe zu begrenzen, zu mäßigen und so kontrollieren, wird häufig im Sinne einer Zweck-Mittel-Relation mit dem Ziel der Verwirklichung persönlicher Freiheit verknüpft: Die Ausübung der Staatsgewalt durch einzelne Organe soll begrenzt werden, um die Freiheit des Einzelnen zu schützen.202 Die anderen beiden Aufgaben der Gewaltenteilung stehen ebenfalls im Auftrag der persönlichen Freiheit. Die sachgemäße und funktionsadäquate Ausübung von Hoheitsgewalt ist unter anderem notwendig, damit die staatlichen Organe in der Lage sind, die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, um die persönliche Freiheit jedes Einzelnen auch wirksam herstellen oder sichern zu können.203 Die Möglichkeit der Teilhabe an demokratischen Entscheidungen deckt den Aspekt der politischen Selbstbestimmung ab.204 Den unterschiedlichen Aufgaben der Gewaltenteilung liegen also unterschiedliche Freiheits-Verständnisse zugrunde.205 Die Ambition einer gewaltenteiligen Staatsorganisation muss es sein, Schutz für alle Aspekte dieses umfassenden Freiheitsbegriffs zu bieten – sei es durch Schutz vor staatlichen Handlungen, Schutz durch staatliche Handlungen oder die Einrichtung von Mitbestimmungsund Teilhabemöglichkeiten.206 Somit ist die menschliche Freiheitsverwirklichung keine unmittelbare Aufgabe des Organisationsprinzips der Gewaltenteilung, sondern das Metaziel, welches niemals aus dem Blick geraten sollte, aber nur durch Zwischenschritte und eine Kombination unterschiedlicher Maßnahmen erreicht werden kann. Freiheitsverwirklichung ist also eine mittelbare Aufgabe der Gewaltenteilung: Der Bürger selbst spielt in Gewaltenteilungskonzepten keine aktive Rolle, es geht dabei ausschließlich um die Verteilung von hoheitlichen Aufgaben auf staatliche Organe und Institutionen. Dennoch kommen alle Errungenschaften der Gewaltenteilung mittelbar am Ende der bürgerlichen „Freiheit durch und vor der Staatsgewalt“207 zu Gute. 202

Jarass, Politik und Bürokratie als Elemente der Gewaltenteilung, S. 6; Starck, Der demokratische Verfassungsstaat, S. 11; Möllers, Gewaltengliederung, S. 68; Giacometti, Allgemeine Lehren des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts, S. 15; Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 800–801; Stern, Staatsrecht, Bd. 2, S. 530; Volkmann, Grundzüge einer Verfassungslehre, S. 266; Sommermann, in: von Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 20 Rn. 200; Horn, AöR 127 (2002), S. 427 (438). 203 Kuhl, Der Kernbereich der Exekutive, S. 135; von Danwitz, Der Staat 35 (1996), S. 329 (337). 204 Dieser Aspekt der demokratischen Freiheit wird auch angesprochen bei Horn, AöR 127 (2002), S. 427 (451). 205 Horn, Die grundrechtsunmittelbare Verwaltung, S. 252; Möllers, Gewaltengliederung, S. 16, 69: „Das Prinzip der Gewaltenteilung wird […] mit zwei zueinander in Spannung stehenden Legitimationsvorstellungen gerechtfertigt: demokratische Machteffektuierung und individualschützende Machtbeschränkung.“ Ihm folgend von Arnauld, Rechtsstaat, in: Depenheuer /  Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 21 Rn. 27. 206 Vgl. Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers, S. 15. 207 Horn, Demokratie, in: Depenheuer / G rabenwarter, Verfassungstheorie, § 22 Rn. 53; ­Möllers, Gewaltengliederung, S. 16. Zur passiven und aktiven Freiheitsgewährleistung durch den Staat auch Kirchhof, DVBl. 1999, S. 637 (651–652); Isensee, JZ 1999, S. 265 (271).

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

III. Fazit und Bezug zur EMRK als Forschungsobjekt Während grund- und menschenrechtliche Gewährleistungen das subjektiv-rechtliche Mittel zur Erfüllung des Staatszwecks sind, ist Gewaltenteilung die dazugehörige staatsorganisatorische Leitlinie – Grundrechte und Gewaltenteilung sind also zwei Seiten einer Medaille. Die folgenden Kapitel werden zeigen, inwiefern allein die in der EMRK gewährleisteten subjektiven Rechte ohne eigenständige institutionelle Vorschriften ausreichen, um Vorgaben für die Gewaltenteilung und die Staatsorganisation machen zu können. Nicht in Frage gestellt wird hierbei das Bekenntnis der Konventionsstaaten zur persönlichen Freiheit als Staatszweck.208 Hinweis genug ist bereits die Präambel der EMRK: Die Staaten besitzen „ein gemeinsames Erbe an […] Achtung der Rechtsstaatlichkeit und der Freiheit“. Auch wenn der Begriff der persönlichen Freiheit nicht absolut deckungsgleich ist mit grund- oder menschenrechtlichen Gewährleistungen, kann jedenfalls davon ausgegangen werden, dass diese Gewährleistungen gerade der Herstellung und dem Erhalt der persönlichen Freiheit dienen sollen. Die Staaten erfüllen ihren Staatszweck (jedenfalls auch), indem sie sich gegenüber anderen Staaten zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichten.

F. Überblick über verschiedene Elemente der Gewaltenteilung Die Suche nach Vorgaben der EMRK für die konventionsstaatliche Gewaltenteilung ist eine Suche nach Vorgaben für die konkrete Ausgestaltung, die konkrete Erscheinungsform von Gewaltenteilung. Welche institutionellen Anforderungen der EMRK der Gewaltenteilung zuzurechnen sind, hängt davon ab, wie der Begriff der Gewaltenteilung verstanden wird. Da für die vorliegende Arbeit ein Abgleich der EMRK-Vorgaben mit einem umfassenden theoretischen Konzept nicht zu der gewünschten Erkenntnis führen würde,209 muss Gewaltenteilung anders umschrieben werden. Ausgehend von einem typisierten Gewaltenteilungsverständnis, wonach mittels einer Verfassungsordnung hoheitliche Tätigkeiten hoheitlichen Organen mit dem Ziel der Freiheitsverwirklichung und zur Erfüllung der bereits ermittelten Aufgaben210 zugewiesen werden, ergeben sich vier einzelne Elemente, anhand der sich einzelne Erscheinungsformen kategorisiert beschreiben lassen.211 Zunächst werden die Funktionen von Hoheitsgewalt, also die hoheitlichen Tätigkeiten oder Handlungsformen, unterschieden. Zweitens muss die Verfassungs 208

Vgl. Ress, VVDStRL 48 (1990), S. 56 (67–68, 71). Siehe hierzu bereits ab S. 51. 210 Siehe hierzu oben ab S. 62. 211 Ähnliche Vorgehensweise, allerdings bezogen auf die US-amerikanische Verfassung und mit abweichenden Elementen, auch bei Waldron, Boston College LR 54 (2013), S. 433 (438). 209

F. Überblick über verschiedene Elemente der Gewaltenteilung  

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ordnung mehrere Hoheitsgewalt ausübende Organe und Funktionsträger vorsehen. Drittens werden die ersten beiden Elemente dadurch in Beziehung gesetzt, dass die Verfassungsordnung Funktionen oder hoheitliche Tätigkeiten den nach unterschiedlichen Vorgaben besetzten Organen zuordnet. Und viertens kann die Besetzung der Organe durch einzelne Organwalter von Vorgaben der Gewaltenteilung bestimmt werden.212 Nicht immer sind alle Elemente für ein konkretes gewaltenteiliges System von Bedeutung. Gleichzeitig bauen die Elemente gelegentlich, aber nicht notwendig aufeinander auf. Eine besondere Herausforderung liegt im Umgang mit dem dritten Element, der Zuordnung einer hoheitlichen Tätigkeit zum Organ, weil viele Möglichkeiten der Zuordnung denkbar sind.213 Einerseits kann die Verfassungsordnung den Organen konkret definierte Kompetenzen zuordnen, ohne dass diese in eine Gewalt, also eine hoheitliche Funktion eingeordnet werden. Die Möglichkeiten der Zuordnung vervielfältigen sich jedoch, wenn die einzelnen Funktionen als Kategorisierung verschiedener hoheitlicher Tätigkeiten ihrerseits definiert werden.214 Auf der Zuordnung hoheitlicher Tätigkeiten zu Organen und der Definition der einzelnen Funktionen lag seit jeher auch der Schwerpunkt der Forschung.215 Die Elemente der institutionellen Pluralität genauso wie der personellen Besetzung der Organe sind gleichwohl – unabhängig von ihrer konkreten Ausgestaltung – notwendige Voraussetzungen für eine gewaltenteilige Organisation. Existierten nicht mehrere, sich in Struktur und Verfahrensweise unterscheidende Organe, stellte sich die Frage 212

Vgl. Heringa / Kiiver, Constitutions Compared, S. 22, welche die institutionelle Pluralität nicht explizit nennen, aber voraussetzen. „Durch die Blume“ ist diese Aufteilung auch bei Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts zu erkennen (allerdings bezogen auf das deutsche Verfassungsrecht): Rn. 486–487 zur Funktionenunterscheidung, Rn. 488 zur Pluralität staatlicher Organe, Rn. 489 zu Inkompatibilitäten, ab Rn. 490 zur Zuordnung der Funktionen zu Organen. Siehe dazu auch Fn. 213. Vgl. ebenfalls Häberle / Kotzur, Europäische Verfassungslehre, Rn. 1088. Küster, AöR 75 (1949), S. 397 (401, 412) sieht jedenfalls drei Elemente (er geht nicht auf die personelle Gewaltenteilung ein) und weist zutreffend darauf hin, dass man die Funktionen und die Träger (also die Organe) auch sprachlich auseinander halten muss; es sei nicht zielführend, von „Gewalten“ zu sprechen, da dieser Begriff sowohl Funktionen als auch Träger beträfe. Ähnlich Jarass, Politik und Bürokratie als Elemente der Gewaltenteilung, S. 13–14. Siehe auch Seiler, Gewaltenteilung, S. 180–181 mit einer in einigen Punkten abweichenden Kategorisierungsmöglichkeit – Seiler sieht aber keinen Vorteil einer Kategorisierung und geht anders vor. 213 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 482 bezeichnet die Zuordnung der staatlichen Funktionen zu den Organen als das „Grundthema“ der Gewaltenteilung, bezieht dies aber auf das deutsche Verfassungssystem. 214 Auf die Unterscheidung der Funktionen verwendet etwa Möllers, Gewaltengliederung, S. 94–134 viele Gedanken. Der Versuch der Definition aller Staatsgewalten fungierte auch unter dem Stichwort der „Funktionenlehre“, hierzu etwa (für die deutsche Rechtsordnung) Zimmer, Funktion – Kompetenz – Legitimation. 215 Siehe etwa Ossenbühl, DÖV 1980, S. 545 (546), der erläutert, dass die Einteilung der Staatsfunktionen sowie deren Verteilung auf Staatsorgane eine „zeit- und situationsunabhängig […] Erkenntnis“ der Gewaltenteilung sei, nach dem Sprachgebrauch dieser Arbeit also zum theoretischen Konzept von Gewaltenteilung gehöre.

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

der Zuordnung von Funktionen nicht. Die personelle Gewaltenteilung vollendet schließlich die institutionelle Gewaltenteilung, indem sie sicherstellt, dass die vorgesehene Pluralität der Organe nicht durch deren homogene Besetzung unterlaufen wird. Die personelle Gewaltenteilung ist damit letztlich eine Ausprägung der institutionellen Gewaltenteilung. Durch diese Dekonstruktion des Oberbegriffs der Gewaltenteilung wird dieser handhabbar gemacht, sodass die EGMR-Rechtsprechung anhand der vier Elemente dargestellt werden kann. Die Schwierigkeit im Umgang mit der Gewaltenteilungslehre – sowohl sprachlich als auch in der Darstellung – ergibt sich im Besonderen daraus, diese Elemente auseinanderzuhalten.

I. Funktionenunterscheidung Das erste Element der Gewaltenteilung ist die Unterscheidung hoheitlicher Funktionen. Sofern in der Gewaltenteilung nach einer konkreten Verfassungsordnung eine Funktionenunterscheidung überhaupt notwendig ist, stellen sich die Folgefragen, zwischen wie vielen Funktionen unterschieden und nach welchen Modellen diese voneinander abgegrenzt werden. 1. Notwendigkeit der Unterscheidung Nicht alle Gewaltenteilungskonzepte unterscheiden die hoheitlichen Funktionen. Montesquieu sprach zwar von den unterschiedlichen Gewalten, er sah aber keine Notwendigkeit, diese genauer zu definieren,216 weil sein Konzept einen anderen Ausgangspunkt und einen anderen Fokus hatte:217 Er wollte die drei Repräsentationsmächte Monarch, Adel und Bürger, denen jeweils eine originäre Hoheitsgewalt zustand, bei der Ausübung der exekutiven und legislativen Gewalt in einen Ausgleich bringen, während die Judikative keiner Repräsentationsmacht zugeordnet wurde, sondern von wechselnden Trägern ausgeübt werden sollte.218 216

Draht, Die Gewaltenteilung im heutigen deutschen Staatsrecht, in: Rausch, Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, S. 21 (24); Lange, Der Staat 19 (1980), S. 213 (218). Dieser Linie folgend und m. w. N. auch Goeters, Institutionelles Gleichgewicht, S. 124. Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzips, S. 54 spricht von einer Unterscheidung nach politischen, nicht wissenschaftlichen Gesichtspunkten; Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 605 von einem „dürftigen Ansatz“ einer Unterscheidung der drei Gewalten; Brunner, Kontrolle in Deutschland, S. 37 von rudimentären Ansätzen einer Funktionenlehre bei Montesquieu. 217 Siehe zu den unterschiedlichen Ausgangssituationen damals und heute bereits S. 57. 218 Draht, Die Gewaltenteilung im heutigen deutschen Staatsrecht, in: Rausch, Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, S. 21 (23 ff., zusammenfassend S. 30–31); ihm folgend Horn, AöR 2002, S. 427 (440–441). Becker, Gewaltenteilung im Gruppenstaat, S. 68 spricht davon, dass die Funktionenlehre „mit dem Prinzip der Gewaltenteilung so eng verknüpft ist, daß [sic] sich beide nicht mehr voneinander trennen lassen.“

F. Überblick über verschiedene Elemente der Gewaltenteilung  

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In der deutschen Staatslehre des 20. Jahrhunderts verfestigte sich der Eindruck, dass die Funktionen vor ihrer Zuordnung zu einzelnen Organen unterschieden werden mussten.219 Fortan fokussierte sich die Forschung auf die Funktionenlehre und damit weniger auf Fragen der Zuordnung.220 Es wurde zwischen formellen und materiellen Gewalten differenziert.221 Während die formelle Gewalt Rechtsakte nach „Quelle und Gestalt“ bestimmte, also insbesondere nach den sie erlassenden oder beschließenden Organen, bezog sich die materielle Unterscheidung auf den Inhalt der Rechtsakte, also ihren Regelungsgehalt.222 Als Funktionen wurden223 – und werden auch in dieser Arbeit – die materiellen hoheitlichen Tätigkeiten bezeichnet. Inzwischen ist das Meinungsbild divers. Es finden sich neue Ansätze zu einer definitorischen Unterscheidung.224 Denkbar ist nach wie vor auch eine Bestimmung der Funktionen über die sie ausübenden Organe und deren Handlungsformen.225 Gleichzeitig verzichten andere theoretische Modelle ganz auf die Funktionen und ordnen den Organen stattdessen spezifische Kompetenzen zu.226 Ob den Funktionen in einem konkreten gewaltenteiligen Verfassungssystem ein eigenständiger Gehalt zukommt, hängt von der konkreten Verfassungsordnung ab. Dies ist nur dann der Fall, wenn sich die Kompetenzen eines Organs, das einer Funktion zugeschrieben wird, nicht erschöpfend aus den konkretisierenden Vorschriften ergeben.227 Ansonsten reicht auch eine formale Definition anhand der agierenden Organe und Verfahrensweisen aus. Ob die Bestimmung materieller Funktionen für die Vorgaben der EMRK an die institutionelle Ordnung der Konventionsstaaten relevant ist oder nicht, kann zu 219

Seiler, Gewaltenteilung, S. 60–61, 66 m. w. N.; Stern, Staatsrecht, Bd. 2, S. 522; Horn, AöR 2002, S. 427 (444). Siehe zur Funktionslehre auch monographisch (bezogen auf die grundgesetzliche Verfassungsordnung) Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, zur Notwendigkeit der Funktionsbestimmung insb. S. 4–5; Zimmer, Funktion – Kompetenz – Legitimation. Außerdem Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 14. 220 Es ist die Rede von der „Herrschaft der Funktionenlehre über die Gewaltenteilung“, so jeweils m. w. N. Seiler, Gewaltenteilung, S. 61; Horn, AöR 2002, S. 427 (441). Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzips, S. 158 bezeichnet 1937 die Funktionentheorie als „herrschende Lehre“. 221 Aus dieser Zeit stammt auch die heute noch geläufige Unterscheidung zwischen formellen und materiellen Gesetzen. Siehe dazu Zimmer, Funktion – Kompetenz – Legitimation, S. 38–41 sowie ausführlich Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 226 ff. 222 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 609–610; Thoma, in: Anschütz / T homa, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, § 71, S. 124; Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzips, S. 159. Vgl. auch Seiler, Gewaltenteilung, S. 66. 223 Brunner, Kontrolle in Deutschland, S. 33 m. w. N. 224 Insbesondere bei Möllers, Gewaltengliederung, S. 88–134 oder bei Bognetti, Dividing Powers, S. 49–60. 225 So etwa bei Kuhl, Der Kernbereich der Exekutive, S. 133–138. Siehe auch Grzeszick, Die Teilung staatlicher Gewalt, S. 47. 226 Bestes Beispiel dafür Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 61–66. 227 Vgl. Seiler, Gewaltenteilung, S. 66.

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

diesem Zeitpunkt noch nicht beurteilt werden. Daher werden die Möglichkeiten zur Bestimmung materieller Funktionen kurz vorgestellt. 2. Drei Funktionen als Grundkonsens Bereits die Festlegung auf eine triadische Funktionsstruktur ist – wenn auch historisch gewachsen – nicht gänzlich unangefochten. Die Unterscheidung zwischen der legislativen, also rechtsetzenden Gewalt, der exekutiven, also der anwendenden Gewalt und der judikativen, also der streitentscheidenden Gewalt geht auf Montesquieu zurück.228 Noch Locke hatte die judikative Gewalt nicht ausdrücklich vorgesehen, sondern war von einer Zweiteilung in Legislative und Exekutive ausgegangen, wobei die Exekutive erneut aufgeteilt wurde in die ausführende und die auswärtige Gewalt.229 Der Montesquieu’schen Aufteilung wird heute noch weitgehend gefolgt. Sie hat sich – wohl auch durch das daraus abgeleitete eingängige Dogma der klassischen Gewaltenteilung230 – als eine Grundannahme der Staatslehre beziehungsweise der Verfassungstheorie eingebrannt, die nur selten in Frage gestellt wird. Dennoch lässt sich nicht bestreiten, dass die Unterscheidung der drei Funktionen, mag sie auch schlagwortartig eingängig und einleuchtend sein, in ihren Feinheiten gelegentlich Schwierigkeiten bereitet.231 So kann nicht jede hoheitliche Tätigkeit eindeutig einer Funktion zugeordnet werden: Gehören durch die Regierung erlassene Verordnungen zur Exekutive oder Legislative?232 Entspricht die verfassungsgerichtliche Überprüfung von formellen Gesetzen tatsächlich dem typischen Verständnis der Judikative?233 Fallen die militärische Verteidigung eines Staates 228

Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 603; ihm folgend Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzips, S. 159; Stern, Staatsrecht, Bd. 2, S. 517; von Hippel, Gewaltenteilung im modernen Staate, S. 11; Stettner, JöR n. F. 35 (1986), S. 57 (63). 229 Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzips, S. 46– 47; Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 13; Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 8 Rn. 2; Goeters, Institutionelles Gleichgewicht, S. 63. Ausführlich Becker, Gewaltenteilung im Gruppenstaat, S. 27–29. Anders Stern, Staatsrecht, Bd. 2, S. 517, der direkt von vier Gewalten bei Locke ausgeht: der legislativen, exekutiven, föderativen und prärogativen Gewalt. Ebenso wohl Tsatsos, Zur Geschichte und Kritik der Lehre von der Gewaltenteilung, S. 28–30, wobei die Prärogative und die Föderative von den exekutiven Organen ausgeübt würden. 230 Siehe hierzu oben ab S. 51. 231 Goeters, Institutionelles Gleichgewicht, S. 125; deutlich Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers, S. 348–351; ebenfalls kritisch Brunner, Kontrolle in Deutschland, S. 42–46; siehe ebd. im Folgenden auch eine Zusammenstellung weiterer Funktionenlehren. Siehe auch die folgenden Fußnoten. 232 Dazu etwa Möllers, Gewaltengliederung, S. 178–207 für das deutsche und das US-amerikanische Recht. 233 Möllers, Gewaltengliederung, S. 136–156 bezogen auf das deutsche und das US-amerikanische Verfassungsrecht. Knapp dazu auch Seiler, Gewaltenteilung, S. 99–100.

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oder die Planung überhaupt unter eine der drei Funktionen?234 Daher finden sich Stimmen, die schlicht zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung unterscheiden wollen, mithin also die Unterscheidung zwischen der jeweils einzelfallbezogenen exekutiven Verwaltung und der Judikative genauso wie die Unterscheidung zwischen Gesetzgebung und nicht-parlamentarischer abstrakt-genereller Rechtsetzung dahinstehen lassen.235 Andererseits wird dafür plädiert, mehr als drei Funktionen anzuerkennen.236 Darüber hinaus finden sich Ansätze, die zwar bei einer Dreiteilung bleiben, diese aber anders ausgestalten.237 Trotz aller sachlichen Kritik und aller Schwierigkeiten, die Funktionen zu bestimmen, hat sich die dreiteilige Struktur als Grundverständnis rechtsordnungsübergreifend durchgesetzt.238 Nicht nur das Grundgesetz unterscheidet ausdrücklich zwischen den drei Funktionen der Gesetzgebung, der Ausführung der Gesetze beziehungsweise der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG sowie die Überschriften der Abschnitte VII, VIII und IX des GG). Auch in vielen anderen europäischen Verfassungen findet sich diese Unterscheidung wieder.239 Für diese Arbeit kann die Frage offen bleiben, ob die Dreiteilung der Hoheitsfunktionen in Legislative, Exekutive und Judikative die einzig denkbare ist, denn diese Einteilung hat sich in der übergreifenden Verfassungsrealität 234

Stern, Staatsrecht, Bd. 2, S. 523; zusammenfassend Seiler, Gewaltenteilung, S. 101–105. Auf Planung und Regierung bezogen auch Mastronardi, Verfassungslehre, Rn. 798. 235 Goeters, Institutionelles Gleichgewicht, S. 125; Tsatsos, Zur Geschichte und Kritik der Lehre von der Gewaltenteilung, S. 76–77. Die Schwierigkeiten in der Abgrenzung auch deutlich bei Stern, Staatsrecht, Bd. 2, S. 524–525; Kägi, Zur Entscheidung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsgrundsatzes, S. 161; Jahrreiß, Die Wesensverschiedenheit der Akte des Herrschens, in: Maunz, FS Nawiasky, S. 119 (129). Siehe auch die ausführliche Darstellung der Forschung bei Seiler, Gewaltenteilung, S. 285–303. Abweichend Schneider, AöR 82 (1957), S. 1 (12–21), der stattdessen eine Aufteilung zwischen gestaltender (Legislative und Exekutive) und bewahrender (Judikative) Funktion vorschlägt. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 338–339 differenziert gleich zwischen zwei Möglichkeiten der nur dualen Aufteilung der Funktionen: einerseits die Unterscheidung zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung, andererseits zwischen Gesetzgebung und Vollziehung. 236 Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers, S. 357–361 präsentiert eine vierteilige Funktionsunterscheidung: „rule-making, discretionary function, rule application, and authoritative rule-interpretation.“ Bognetti, Dividing Powers, S. 49–60 beschreibt mindestens fünf Funktionen: die regierende oder staatsleitende, die gesetzgebende, die verwaltende, die rechtsprechende Funktion und den „Wächter der Verfassung“. Stettner, JöR n. F. 35 (1986), S. 57 (66–67) zählt weitere Versuche aus dem deutschsprachigen Raum auf, neue Funktionen zu begründen; Seiler, Gewaltenteilung, S. 67–73 zur Erweiterung des Dreier-Schemas um eine Regierungsfunktion. 237 Loewenstein, Verfassungslehre, S. 40 unterscheidet zwischen der „politischen Gestaltungs- oder Grundentscheidung (policy determination), [der] Aus- oder Durchführung der Grundentscheidung (policy execution) und [der] politische[n] Kontrolle (policy control)“. Brunner, Kontrolle in Deutschland, S. 63–83 entwickelt eine Lehre von den zwei Hauptfunktionen „Grundentscheidung“ und „Durchführung“ sowie von der Nebenfunktion der Kontrolle. 238 Vgl. Stern, Staatsrecht, Bd. 2, S. 523–525, der aber auch die Kritik an der Dreiteilung und die Schwierigkeiten im Umgang mit dem Begriff der Exekutive beschreibt. 239 Siehe dazu bereits die Nachweise in Fn. 56.

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

tatsächlich durchgesetzt240. So liegt – betrachtet man die Bezüge zur Gewaltenteilung in den Verfassungen der Konventionsstaaten – die Vermutung nahe, dass auch die EMRK von dieser Einteilung nicht abweichen wird. Die folgenden Ausführungen zur Funktionenunterscheidung beziehen sich daher ausschließlich auf solche Vorgehensweisen, die mit den drei traditionellen Funktionen der Legislative, Exekutive und Judikative arbeiten. 3. Funktionen als typisierte Grundformen Um der Schwierigkeit einer exakten Unterscheidung und Abgrenzung der Funktionen aus dem Weg zu gehen, vertritt Hesse, dass es sich bei den drei Funktionen der Ausübung von Hoheitsgewalt lediglich um „Grundtypen“ handelt, die sich einer abschließenden Beschreibung entziehen und auch nicht ausschließen, dass weitere Funktionen hoheitlicher Hoheitsgewalt anerkannt werden.241 Hesse begründet dies vor allem damit, dass eine starre Funktioneneinteilung dem Ziel einer sach­ gemäßen Erfüllung aller staatlichen Aufgaben nicht förderlich sei.242 Auch Jellinek beschreibt alle Tätigkeiten positiv: „Die Gesetzgebung stellt abstrakte, eine Vielheit von Fällen oder auch einen individuellen Tatbestand regelnde Rechtsnormen auf. Die Rechtsprechung stellt für den einzelnen Fall ungewisses oder bestrittenes Recht oder rechtliche Zustände und Interessen fest. Die Verwaltung löst konkrete Aufgaben gemäß den Rechtsnormen oder innerhalb deren Schranken durch Mittel, die nähere Untersuchung als ein reichgegliedertes System erkennen lehrt. Neben diesen normalen Funktionen gibt es aber noch außerordentliche Staatstätigkeiten, die in keine der drei Kategorien passen. Das ist in erster Linie der Krieg.“243

Durch die Einbeziehung „außerordentlicher Staatstätigkeiten“ anerkennt Jellinek, dass nicht jedes staatliche beziehungsweise hoheitliche Handeln unter die von ihm präsentierten Beschreibungen von Legislative, Exekutive und Judikative passt.244 Eine typisierende Beschreibung der Funktionen wird in dogmatischen Zweifelsfällen selten eine ausschlaggebende Auslegungshilfe darstellen, sondern lediglich ein Grundverständnis vermitteln. Sofern eine Zuständigkeitsordnung den Organen 240

Stern, Staatsrecht, Bd. 2, S. 525 m. w. N. zum Schrifttum; Möllers, Gewaltengliederung, S. 70. 241 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 486–487. So auch bereits Bäumlin, Zeitschrift des bernischen Juristenvereins 101 (1965), S. 81 (96). Hesse folgend Stern, Staatsrecht, Bd. 2, S. 537. 242 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 487. 243 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 610. 244 Anschließend definiert Jellinek aber die Verwaltung negativ in Abgrenzung zur Gesetzgebung und zur Rechtsprechung – ganz klar wird also nicht, ob er davon ausgeht, die drei Staatsfunktionen seien allumfassend.

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jedoch nicht nur jeweils eine Funktion, sondern darüber hinaus – konkretisierend – einzelne Befugnisse und Kompetenzen zuweist, ist mehr als eine typisierende Beschreibung nicht notwendig, um das Erscheinungsbild der Gewaltenteilung in der Verfassungsordnung zu skizzieren. 4. Trennscharfe Unterscheidungsmethoden Ambitionierter als die Beschreibung der Funktionen als Grundtypen ist der Versuch, eine trennscharfe Unterscheidung aller drei Funktionen zu erreichen. Die Idee einer dreifach unterscheidbaren, gleichsam einheitlichen Hoheitsgewalt legt nahe, dass alle hoheitlichen Tätigkeiten tatsächlich einer der drei Funktionen zugeordnet werden können. Die Notwendigkeit einer trennscharfen Unterscheidung der drei Funktionen besteht etwa im Rahmen der klassischen Gewaltenteilungslehre,245 welche von drei Funktionen ausgeht, die auf drei Organe zu verteilen sind.246 Für hoheitliche Tätigkeiten außerhalb dieser drei Funktionen ist hier kein Raum. Der Wortlaut von Art. 20 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 sowie Art. 1 Abs. 3 GG impliziert ebenfalls den Schluss, dass die staatliche Gewalt restlos in Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung aufgeteilt werden könne247 – ansonsten gäbe es eine Hoheitsgewalt, die nicht an die Grundrechte respektive an das Rechtsstaatsprinzip gebunden wäre.248 Folgt man dieser Annahme, müsste es möglich sein, die drei Funktionen derart zu definieren, dass alle drei Funktionen zusammen jede denkbare hoheitliche Tätigkeit abdecken.249 Das Grundgesetz und auch die anderen europäischen Verfassungen enthalten aber, selbst wenn sie die materiellen Funktionen erwähnen, keine Definitionen für ebenjene.250

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Hierzu bereits ab S. 51. Seiler, Gewaltenteilung, S. 66. 247 Ähnliche Argumentation bezogen auf deutsche Landesverfassungen bei Poscher, Funktionenordnung des Grundgesetzes, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, § 8 Rn. 35. 248 Dies gilt auch für Normen anderer Verfassungen, die die Hoheitsgewalt in genau drei Funktionen aufteilen, etwa Art. 8 der bulgarischen Verfassung; Art. 6 Abs. 1 der irischen Verfassung; Art. 10 Abs. 1, 2 der polnischen Verfassung; Art. 3 der slowenischen Verfassung; Art. 2 Abs. 1 der Verfassung der Tschechischen Republik. 249 Es sei angemerkt, dass die Erarbeitung umfassender Funktionenlehren auch auf einer konkreten Verfassungsordnung basieren kann, siehe etwa für die deutsche Verfassungsordnung Zimmer, Funktion – Kompetenz – Legitimation, S. 60–195. Die verfassungstheoretische Herangehensweise findet sich bei Möllers, Gewaltengliederung, der seine legitimationstheoretische Funktionenbestimmung anschließend (ab S. 403) auch auf die deutschen Verfassungsorgane anwendet. Konzepte, die von den traditionellen drei Funktionen abweichen, etwa Loewenstein, Verfassungslehre, S. 39–49; Brunner, Kontrolle in Deutschland, S. 63–102 sind häufiger verfassungstheoretisch angelegt. Diese haben auch dadurch, dass sie von den tradierten drei Funktionen abweichen, seltener verfassungspositive Anknüpfungspunkte. 250 Für das GG Horn, AöR 2002, S. 427 (440). 246

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

a) Subtraktionsmethode Die sogenannte Subtraktionsmethode251 umgeht die Schwierigkeit, drei positive Definitionen für alle drei Gewalten finden zu müssen.252 Sie definiert zunächst die Legislative und die Judikative inhaltlich. Die gesetzgebende Gewalt setzt abstrakt-generelle Rechtsnormen, die für die rechtsanwendende hoheitliche Gewalt verbindlich sind.253 Die Judikative entscheidet über Streitigkeiten und Sanktionen nach Verfehlungen der Bürger.254 Sie wendet somit das von der Legislative gesetzte Recht im Konfliktfall an. Hierbei kann es sich um Konflikte zwischen Privaten über das Bestehen eines Anspruchs handeln, um Konflikte zwischen Bürger und Staat zum Beispiel über die Rechtmäßigkeit einer hoheitlichen Handlung oder auch um Konflikte zwischen verschiedenen hoheitlichen Stellen.255 Die Judikative kontrolliert insbesondere die Rechtsanwendung anderer – exekutiver – Organe und ist hierbei auf die Kontrolle der Einhaltung des Rechts beschränkt.256 Im Rahmen der Verfassungsgerichtsbarkeit kann die judikative Gewalt jedoch auch legislative Rechtsakte kontrollieren und, abhängig von der konkreten Verfassungsordnung, auch aufheben.257 Eine Streitentscheidung kann denklogisch erst erfolgen, wenn eine Streitigkeit bereits entstanden ist. Die Judikative stellt also nachträglich die Rechtslage fest.258 Jede hoheitliche Tätigkeit, die nicht einer dieser beiden Funktionen zuzuordnen ist, gilt als Exekutive.259 Die Funktion der Exekutive wird somit negativ in Abgrenzung zu den anderen Funktionen definiert, ohne einen positiven eigenständigen Ge 251

Diese Bezeichnung etwa bei Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 330; Seiler, Gewaltenteilung, S. 66; Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 51; Fastenrath, JuS 1986, S. 194 (196); Voßkuhle / Kaufhold, JuS 2012, S. 314 (315). 252 Dass dies überhaupt möglich ist, wird weitläufig bezweifelt, Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers, S. 349–351; Carolan, The New Separation of Powers, S. 19; Seiler, Gewaltenteilung, S. 138. 253 Herdegen, in: Dürig / Herzog / Scholz, GG, Art.  79 Rn.  148; Brunner, Kontrolle in Deutschland, S. 43; Thoma, in: Anschütz / T homa, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, § 71, S. 124–125; Voßkuhle / Kaufhold, Der Grundsatz der Gewaltenteilung, JuS 2012, S. 314 (315); Karpen, JuS 2016, S. 577 (577) 254 Herdegen, in: Dürig / Herzog / Scholz, GG, Art.  79 Rn.  148; Fastenrath, JuS 1986, S. 194 (196); Voßkuhle / Kaufhold, JuS 2012, S. 314 (315–316). 255 Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 334–335. 256 Brunner, Kontrolle in Deutschland, S. 43; Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzips, S. 160; Möllers, Gewaltengliederung, S. 95. 257 Grzeszick, in: Dürig / Herzog / Scholz, GG, Art. 20 (Gewaltenteilung) Rn. 17; siehe rechtsvergleichend zur Normenkontrollkompetenz der Verfassungsgerichte für osteuropäische Staaten Luchterhandt, Generalbericht, in: Luchterhandt / Starck / Weber, Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und Osteuropa, S. 295 (313–320); für westeuropäische Staaten Weber, General­ bericht, in: Starck / Weber, Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, S. 313 (329–343). 258 Möllers, Gewaltengliederung, S. 97; Hofmann, Recht des Rechts, S. 43–44. 259 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 612; Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 330; Brunner, Kontrolle in Deutschland, S. 43; Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzips, S. 160; Helfritz, Allgemeines Staatsrecht, S. 117; Magiera, Parlament und

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halt zu haben.260 Die Exekutive wird in einer hybriden Rolle zwischen Legislative und Judikative beschrieben:261 Sie wird – wie die Legislative – rechtsetzend tätig, wenn auch die exekutiven abstrakt-generellen Normen von anderer Rechtsqualität sind als die legislativen Normen.262 Die Exekutive wird ebenso rechtsanwendend tätig, wenn auch zu einem früheren Zeitpunkt als die Judikative.263 Die Rechtsanwendung der Exekutive kann zu der Streitigkeit führen, welche von der Judikative zu entscheiden ist. Um dem Begriff der Exekutive mehr Substanz zu geben, wird häufig – typisierend und ohne Anspruch auf Vollständigkeit – zwischen regierender und verwaltender Tätigkeit unterschieden.264 Während der Regierung primär die Aufgaben der Staatsleitung, die abstrakt-generelle Normgebung sowie die Gestaltung internationaler Beziehungen zukommen, übernimmt die Verwaltung die einzelfallbezogene Ausführung der Gesetze.265 Vorteil dieses Vorgehens ist es, dass jede hoheitliche Tätigkeit einer der Funktionen zuzuordnen ist.266 Gleichwohl bietet die Subtraktionsmethode keine weiterführende Erkenntnis als die typisierende Betrachtungsweise, weil eine Funktion immer noch nur kasuistisch und in Abgrenzung zu den anderen Funktionen beschrieben, nicht aber aus sich heraus definiert werden kann.267 b) Legitimationstheoretische Unterscheidung Christoph Möllers möchte mit seinem Konzept der „Gewaltengliederung in Selbstbestimmung“ den Widerspruch zwischen individueller und demokratischer Selbstbestimmung in Ausgleich bringen.268 Er stellt einen Zusammenhang zwischen der individuellen Selbstbestimmung, also dem Schutz der individuellen Staatsleitung, S. 51–52; Thoma, in: Anschütz / T homa, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, § 71, S. 109, 160; Ossenbühl, DÖV 1980, S. 545 (548); Voßkuhle / Kaufhold, JuS 2012, S. 314 (315). Ausführlich Seiler, Gewaltenteilung, S. 66–98, der allerdings neben den drei traditionellen auch noch weitere Funktionen beschreibt, wie die Verfassungsgerichtsbarkeit, die Finanzgewalt oder die auswärtige Gewalt (S. 99–112). 260 Seiler, Gewaltenteilung, S. 67; Groß, Der Staat 55 (2016), S. 489 (505). 261 Groß, Der Staat 55 (2016), S. 489 (506) sieht die Exekutive in einer „Mittelstellung“ zwischen den anderen beiden Funktionen. Ausführlich Möllers, Gewaltengliederung, S. 112–117. 262 Siehe jeweils zu Rechtsverordnungen als Frage der Gewaltenteilung nach dem GG ­Zimmer, Funktion – Kompetenz – Legitimation, S. 329–435; Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, S. 131–136. 263 Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 331. 264 Diese Unterscheidung findet sich bisweilen auch in den Verfassungen selbst, für Nachweise siehe Seiler, Gewaltenteilung, S. 70 Fn. 20. 265 Seiler, Gewaltenteilung, S. 68–73; Brunner, Kontrolle in Deutschland, S. 44–45; Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 618–619. Zur Regierungsfunktion auch Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 689 ff. 266 Vgl. auch Thoma, in: Anschütz / T homa, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, § 71, S. 160. 267 Siehe auch die Kritik bei Brunner, Kontrolle in Deutschland, S. 44–45. 268 Möllers, Gewaltengliederung, S. 88.

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Freiheit vor dem und durch den Staat, welche insbesondere durch Machtmäßigung erreicht wird, und der demokratischen Mitbestimmung her.269 Möllers möchte unklare Fälle der Zuordnung einer Funktion zu einem Organ dadurch lösen, dass er neue legitimationsbezogene Kriterien entwickelt, anhand der er eine Rechts­ erzeugung, also eine hoheitliche Ausübung von Hoheitsgewalt, eindeutig als eine der drei Funktionen einordnen kann, die dann wiederum einem konkreten Organ und dessen Organisations- und Verfahrensformen zugeordnet werden kann.270 Die Funktionen könnten mittels dreier legitimationsbezogener Kriterien unterschieden werden: der Reichweite des Rechts beziehungsweise der Entscheidungsteilhabe, der Zeitorientierung hoheitlicher Tätigkeit in Zukunft, Gegenwart oder Vergangenheit271 und dem Grad rechtlicher Determiniertheit des erzeugten Rechts.272 Anhand dieser Kriterien gelingt es ihm wiederum unproblematisch, die Legislative als auf die Zukunft bezogene Rechtserzeugung mit hoher, viele Personen betreffender Reichweite zu beschreiben, deren Verfahren sich nur geringen rechtlichen Regeln unterwerfen muss.273 Die judikativen Rechtserzeugungsprozesse betreffen hingegen jeweils nur einen begrenzten Personenkreis und regeln einen in der Vergangenheit liegenden Sachverhalt. Die judikative Rechtserzeugung ist an die geltenden Gesetze gebunden und dadurch sehr stark rechtlich determiniert.274 Die legitimationstheoretischen Kriterien für die Exekutive sind hingegen nicht so einfach zu bestimmen. Die Exekutive soll zwischen den beiden Polen der Rechtserzeugung, der Judikative und der Legislative vermitteln.275 Bei allen drei legitimationstheoretischen Kriterien können sich exekutive Handlungsformen auf der ganzen Breite der Skala zwischen der individual-fokussierten Judikative und der die demokratische Selbstbestimmung in den Vordergrund rückenden Legislative bewegen.276 Damit ist Möllers’ Ansatz in letzter Konsequenz eine Variante der Subtraktionsmethode, da auch in seinem Konzept die Exekutive nicht eindeu-

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Möllers, Gewaltengliederung, S. 56–58, 68–70. Möllers, Gewaltengliederung, S. 88. Diese legitimationsbezogene Theorie ergänzt weitere Formen der Zuordnung des Rechtserzeugungsvorgangs zu einer Funktion, insbesondere die Zuordnung über das handelnde Organ oder die angewendete Rechtsform. 271 Die Zeitorientierung hoheitlicher Tätigkeit als alleiniges Abgrenzungskriterium findet sich auch bei Kirchhof, Gewaltenbalance zwischen europäischen und mitgliedstaatlichen Organen, in: Isensee, Gewaltenteilung heute, S. 99 (102): Während die Gesetzgebung abstrahierend und generalisierend die Zukunft gestalte, regele die Verwaltung die Anwendung im Einzelfall für die Gegenwart, die Rechtsprechung kläre die Rechtslage für in der Vergangenheit liegende Sachverhalte und die Regierung lasse sich keiner Zeit eindeutig zuordnen und fungiere als Bindeglied zwischen allen Gewalten. 272 Möllers, Gewaltengliederung, S. 88–93. Möllers unterscheidet aber zwischen den geringen rechtlichen Bindungen für die Rechtserzeugung selbst und der deutlich strengeren Verrechtlichung der Bildung und Zusammensetzung des Legislativorgans. 273 Möllers, Gewaltengliederung, S. 105–107. 274 Möllers, Gewaltengliederung, S. 95–97. 275 Möllers, Gewaltengliederung, S. 112, 117. 276 Möllers, Gewaltengliederung, S. 112–117. 270

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tig positiv zu bestimmen ist.277 Zugute zu halten ist dieser Theorie, dass sie durch die drei entwickelten Kriterien die Abgrenzung der Funktionen anhand der drei Kriterien deutlich vereinfacht. Die Kriterien mögen hilfreich sein, um anhand der drei Funktionen den Rechtserzeugungsprozess stufenhaft darzustellen.278 Geht es hingegen um eine Zuordnung der Funktionen zu einzelnen Organen im Rahmen der Gewaltenteilung, ist die Direktionskraft dieses Modells gering.279 Dies liegt einerseits daran, dass die Exekutive nach wie vor nicht eindeutig definiert werden kann. Andererseits wird die Grundannahme, dass die Judikative vor allem individualschützend ist, die Legislative im Allgemeininteresse handelt, in Frage gestellt: Im Gesetzgebungsverfahren stehen auch, gerade wegen der zu beachtenden Grundrechte, Individualinteressen im Vordergrund, genauso wie die Judikative bei den Einzelfallentscheidungen auch die Auswirkung ihrer Normauslegung auf die allgemeine Rechtslage beachtet.280 Möllers selbst geht davon aus, dass die legitimationstheoretische Funktionsbestimmung die bisherige Zuordnung von Funktionen zu Organen ergänzt.281 Als alleiniges Zuordnungsobjekt können die legitimationstheoretischen Funktionen also nicht dienen. 5. Zwischenfazit Eine eindeutige Funktionenunterscheidung mittels einer positiven und trennscharfen Funktionsbestimmung aller drei Funktionen, die gemeinsam die Gesamtheit der ausgeübten Hoheitsgewalt abbilden, ist verfassungstheoretisch bisher nicht gelungen – man kommt nicht um eine „Auffangfunktion“ herum, die alle nicht eindeutig zuzuordnenden Tätigkeiten umfasst. Auch die Subtraktionsmethode muss für eine positive Beschreibung der Exekutive letztlich auf eine Typisierung zurückgreifen. Grundsätzlich setzt die Legislative abstrakt-generelle Rechtsnormen, welche die rechtsanwendenden Organe binden. Die Exekutive wendet einer-

277 Möllers, Gewaltengliederung, S. 112, 117 stellt selbst die Verbindung zur Subtraktionsmethode her. 278 Grzeszick, Die Teilung staatlicher Gewalt, S. 70–71. Ähnlich Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 46. 279 Grzeszick, Die Teilung staatlicher Gewalt, S. 66. 280 Grzeszick, Die Teilung staatlicher Gewalt, S. 68–70; Cornils Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 43–44. 281 Möllers, Gewaltengliederung, S. 88: „Die drei Gewalten oder Funktionen bezeichnen demnach unterschiedliche Formen von erzeugtem Recht, unterschiedliche Eigenschaften rechtswirksamer Entscheidungen. Die Gewaltengliederung stiftet einen wechselseitigen Zuordnungszusammenhang zwischen Rechtserzeugungsfunktionen und bestimmten Organisations- und Verfahrensformen, die sich in Organen verdichten. Die Rechtsordnung bestimmt die Funktionen über die Zuordnung eines Rechtserzeugungsvorgangs, über die Zurechnung zu einem Organ oder zu einer Rechtsform, aber diese Zuordnung ist nicht vollständig. Eine legitimationsbezogene Theorie der Funktionen hat sie systematisch zu ergänzen.“

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

seits die abstrakt-generellen Normen im Einzelfall an, andererseits obliegt ihr auch die Staatsleitung. Die Judikative entscheidet schließlich über Streitigkeiten, die in Anwendung der Gesetze entstanden sind. Ob für die Umsetzung eines Gewaltenteilungskonzeptes in einer konkreten Verfassungsordnung eine abschließende Definition der Funktionen tatsächlich notwendig ist oder ob nicht eine typisierende Unterscheidung ausreicht, ist zweifelhaft.282 Als Zuordnungsobjekt für die Verfassungsorgane kommen neben den materiellen Funktionen auch in der Zuständigkeitsordnung vorgesehene konkrete Aufgaben oder Kompetenzen in Betracht. Damit wäre eine materielle Funktionszuweisung mit all ihren praktischen Schwierigkeiten entbehrlich.

II. Institutionelle Pluralität Soll die Ausübung von Hoheitsgewalt auf unterschiedliche Träger verteilt werden, setzt dies voraus, dass die Zuständigkeitsordnung mehrere Organe vorsieht.283 Die Gewaltenteilung dient auch dazu, eine effektive und sachgemäße Ausübung von Hoheitsgewalt durch die für eine Aufgabe am besten geeigneten Organe sowie eine Teilhabe der Bürger an der Ausübung von Hoheitsgewalt sicherzustellen. Daher müssen sich die Organe in Struktur, Zusammensetzung, Besetzungsverfahren und in den jeweils anwendbaren Verfahren unterscheiden.284 Damit ist das zweite Element der Gewaltenteilung zusammengefasst. Keine Staatsorganisation gleicht der anderen. Gleichwohl finden sich einige Konstanten in den Verfassungsordnungen der in dieser Arbeit betrachteten rechtsstaatlichen und demokratischen Verfassungsstaaten. Eine repräsentative Demokratie erfordert zunächst ein pluralistisch besetztes, von den Bürgern gewähltes Parlament, welches an Stelle der Bürger die wesentlichen Entscheidungen trifft.285 Darüber hinaus gibt es eine Regierung, die dem Parlament verantwortlich ist.286 Schließlich gibt es Verwaltungen, die die parlamentarischen Gesetze umsetzen und anwenden, sowie Gerichte, die nach Maßgabe der Gesetze Einzelstreitigkeiten entscheiden. 282 Zweifel an der Notwendigkeit einer Funktionenlehre als Grundlage eines Gewaltenteilungskonzepts zeigt auch Brunner, Kontrolle in Deutschland, S. 45. 283 Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers, S. 369; Seiler, Gewaltenteilung, S. 182: „Mehrzahl der Staatsorgane ist […] der unbestrittene kleinste gemeinsame Nenner aller Gewaltenteilungskonzeptionen.“; Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 62. 284 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 488. 285 Grewe / Ruiz Fabri, Droits constitutionnels européens, Rn. 149; Classen, Nationales Verfassungsrecht in der EU, Rn. 326–327; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 156 ff.; Ermacora, Allgemeine Staatslehre, S. 579. 286 Classen, Nationales Verfassungsrecht in der EU, Rn. 95, 144, 492–495; Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 9 Rn. 115; Grewe / Ruiz Fabri, Droits constitutionnels européens, Rn. 286.

F. Überblick über verschiedene Elemente der Gewaltenteilung  

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Abgesehen davon finden sich viele unterschiedliche organisatorische Ausgestaltungsmöglichkeiten:287 mono- und bikamerale Parlamente; Präsident oder Monarch als Staatsoberhaupt; Einrichtung eines Verfassungsgerichtes oder Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit einzelner Regelungen durch andere Gerichte, um nur einige Varianten zu nennen. Es gibt auch Organe, die sich nicht ohne Weiteres in die klassische Dreiteilung einordnen lassen, etwa weil sie unabhängig agieren sollen, wie zum Beispiel Rechnungshöfe oder unabhängige Verwaltungsbehörden. Und schließlich kann es mehrere Organe desselben Typs geben, etwa verschiedene Gerichte in einem mehrinstanzlichen Gerichtssystem oder verschiedene Parlamente in einem föderal organisierten Staat. In diesem Fall werden die hoheitlichen Aufgaben innerhalb einer Funktion auf unterschiedliche Organe aufgeteilt. Dadurch entsteht bereits vor dem Erlass eines wirksamen Rechtsakts eine innerfunktionale Zusammenarbeit und gegenseitige Kontrolle. Die institutionelle Ausgestaltung einer bestimmten Verfassungsordnung ergibt sich aus den jeweiligen Verfassungsnormen zur Zusammensetzung, zum Besetzungsverfahren, zum anwendbaren Verfahren für den Erlass von Rechtsakten und zur Amtszeit sowie den konkretisierenden Vorschriften im einfachen Recht. Es reicht also nicht aus, wenn eine Verfassung sich zur Gewaltenteilung bekennt. Um diese umzusetzen, muss sie ergänzend organisatorische Verfassungsnormen enthalten. Damit ist das Verständnis dieses Elements nicht so sehr wie die Funktionenunterscheidung auf ein vorkonstitutionelles theoretisches Verständnis angewiesen.288 Die durch die jeweilige Rechtsordnung ausgestaltete institutionelle Pluralität ist notwendige Voraussetzung für eine gewaltenteilige Ordnung. Wie viele Organe mindestens notwendig sind oder maximal vorliegen dürfen, um ein gewaltenteiliges System entsprechend seiner Aufgaben auszugestalten, ist bisher, soweit ersichtlich, nicht umfassend thematisiert worden. Die Aufteilung von hoheitlicher Gewalt auf verschiedene Träger setzt logisch mindestens zwei Organe voraus. Folgt man dem Grundgedanken der klassischen Gewaltenteilung, der eine Zuordnung einer Grundform von Hoheitsfunktion zu einem bestimmten Organ vorsieht, müssen mindestens drei Organe vorliegen: ein Parlament, ein Organ der Exekutive, das Regierung und Verwaltung umfasst, und ein Gericht. Es ist indessen gängige Verfassungsrealität, dass es mehr als drei Organe gibt.289 Nicht jedes Organ kann einer von drei den materiellen Funktionen entsprechen 287

Seiler, Gewaltenteilung, S. 182: „Das Vorhandensein mehrerer Organe sagt […] somit nichts aus über die konkrete Gewaltenteilungsorganisation.“ 288 Jarass, Politik und Bürokratie als Element der Gewaltenteilung, S. 37. Das ist vermutlich auch der Grund dafür, dass die Ausgestaltung institutioneller Pluralität im Vergleich zur funktionalen Gewaltenteilung ein „Schattendasein“ führt, so jedenfalls Jarass, Politik und Bürokratie als Element der Gewaltenteilung, S. 36. 289 Seiler, Gewaltenteilung, S. 264. Stern, Staatsrecht, Bd. 2, S. 522–523, 525 geht davon aus, dass man in diesem Fall die Organe zu Organgruppen zusammenfassen müsse, damit diese im Sinne der Dreiteilung gemeinsam Träger bestimmter Funktionen seien; Hofmann, Die Bindung staatlicher Macht, in: Hofmann u. a., Rechtsstaatlichkeit in Europa, S. 3 (11) spricht von „Sub-Gewalten“.

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

den Organgruppen zugeordnet werden.290 Cornils weist zutreffend darauf hin, dass Gewaltenteilung nicht eine Aufteilung der Hoheitsgewalt auf eine maximal große Anzahl von Organen fordert. Zu viele Träger von Hoheitsgewalt können eine zu geringe Rechtssicherheit, umständliche Verfahren oder gegenseitige Blockaden der Organe nach sich ziehen und sind intransparent.291 Das Vorliegen unterschiedlich zusammengesetzter Verfassungsorgane, die ihrerseits auf unterschiedliche Art und Weise funktionieren, sagt noch nichts über das Verhältnis der Organe zueinander aus. Sie können getrennt oder zusammen agieren und sich gegenseitig kontrollieren. Dieses Verhältnis wird durch das dritte Element, die Zuordnung der hoheitlichen Tätigkeit zu einem Organ, ausgestaltet.292

III. Zuordnung der hoheitlichen Tätigkeit zum Organ Die hoheitliche Tätigkeit und die Organe müssen für ein gewaltenteiliges System zueinander in Beziehung gesetzt werden. Die Zuständigkeitsordnung weist den sich in Zusammensetzung und Verfahren unterscheidenden Organen ihre Aufgaben, Kompetenzen oder Funktionen zu.293 Diese Zuordnung ist Grundlage für die Interaktion der hoheitlichen Organe miteinander. 1. Zuständigkeitsordnung Die verfassungsrechtliche Zuständigkeitsordnung vollzieht den Übergang vom theoretischen Konzept zum konkreten Erscheinungsbild: Das Bekenntnis einer Verfassungsordnung zur „Gewaltenteilung“ oder eine Norm im Sinne des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG, welche die drei staatlichen Funktionen und die ausführenden Organe anerkennt, reicht nicht aus, um die Idee der Gewaltenteilung umzusetzen. Notwendig sind darüber hinaus Vorschriften, die einzelnen Organen Aufgaben und Kompetenzen zuweisen und die Interaktionen der Organe oder ihre gegenseitigen Kontrollen regeln.294 In einigen europäischen Verfassungen finden sich auch 290

Vgl. auch Seiler, Gewaltenteilung, S. 270. Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 62. 292 Vgl. mit einer ähnlichen Herangehensweise Jarass, Politik und Bürokratie als Element der Gewaltenteilung, S. 36–37: Er bezieht in das zweite Element (bei ihm in die zweite Stufe) auch Abhängigkeiten bzw. Unabhängigkeiten zwischen den Organen verschiedener Gewalten mit ein, klammert aber die Kompetenzausstattung der Organe aus, aus denen sich ebenfalls möglicherweise Abhängigkeiten ergeben. 293 Jarass, Politik und Bürokratie als Elemente der Gewaltenteilung, S. 13–14; Classen, Nationales Verfassungsrecht in der EU, Rn. 144; Möllers, Gewaltengliederung, S. 70. 294 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 482, der sich beruft auf Bäumlin, Zeitschrift des bernischen Juristenvereins 101 (1965), S. 81 (94–95); für das GG Kuhl, Der Kernbereich der Exekutive, S. 118; Stettner, JöR n. F. 35 (1986), S. 57 (76). Vgl. auch Kirchhof, Gewaltenbalance zwischen europäischen und mitgliedstaatlichen Organen, in: Isensee, Gewaltenteilung heute, S. 99 (106); von Danwitz, Der Staat 35 (1996), S. 329 (332). 291

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Vorschriften, in denen eine Funktion allgemein einem Organ zugewiesen wird.295 Es gibt unterschiedliche Ansichten darüber, ob die Zuständigkeitsordnung in der Verfassung einer bestimmten Ratio folgen muss, um als Gewaltenteilung eingeordnet werden zu können. a) Aufgabenverteilung als einzige Aussage der Gewaltenteilung Nach Cornils besteht die einzige Aussage der Gewaltenteilung darin, dass den Organen bestimmte Handlungsformen und deren zum Beschluss beziehungsweise Erlass notwendige Verfahren zugeordnet werden, ohne dass dahinter eine Zielrichtung steht.296 Anstatt den materiellen Inhalt der drei Funktionen zu definieren, formuliert er den Aussagegehalt des Gewaltenteilungsprinzips rein formal: Gewaltenteilung fordere eine Pluralität von Machtträgern, die jeweils eigene, durch eine strenge Zuständigkeitsordnung vorgegebene Handlungsbefugnisse zum Zwecke der Rechtserzeugung haben.297 Durch die Verteilung von Aufgaben auf verschiedene Organe entsprechend einer Zuständigkeitsordnung wird zumindest einer Machtkonzentration entgegen gewirkt.298 Die Kritik an seinem Ansatz liegt indes auf der Hand: Ergibt sich die Gewaltenteilung ausschließlich aus den konkreten Kompetenznormen, haben Normen wie Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG oder ausdrückliche Bekenntnisse zur Gewaltenteilung keinen eigenständigen Gehalt mehr.299 Dies würde der der Gewaltenteilung stets zugeschriebenen, herausragenden Bedeutung für die Sicherung einer rechtsstaatlichen und demokratischen Verfassungsordnung nicht gerecht, denn eine Zuständigkeitsordnung ergibt sich automatisch aus der Verfassung – auch ohne Einfluss der Gewaltenteilung.300 Es gehört rechtsordnungsübergreifend zu den typischen Bestandteilen einer Verfassung, dass sie Vorschriften zu Organisation, Zusammensetzung, Aufgaben, Kompetenzen, Verfahrensweisen und Handlungsformen einzelner Organe enthält.301 295

Art. 36, 37, 40 der belgischen Verfassung; § 3 des dänischen Grundgesetzes, §§ 59, 86, 147 der estnischen Verfassung; § 26 der griechischen Verfassung; Art. 70, 107, 115 der kroatischen Verfassung; Art. 10 Abs. 2 der polnischen Verfassung; Art. 66 Abs. 2, 97, 117 Abs. 1 der spanischen Verfassung (die ausführende Gewalt wird dort als „Exekutivfunktion und Verordnungsgewalt“ beschrieben); Art. 15 Abs. 1, 67 Abs. 1, 81 der Verfassung der Tschechischen Republik (ermittelt auf www.verfassungen.net, siehe Fn. 55). 296 Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 65. 297 Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 61–66. 298 Grzeszick, Die Teilung staatlicher Gewalt, S. 74. 299 Grzeszick, Die Teilung staatlicher Gewalt, S. 73, der darüber hinaus von einer „geringen Direktionskraft“ spricht. 300 Ähnlich auch Horn, AöR 2002, S. 427 (445), der sich allerdings noch nicht auf Cornils bezieht. Vgl. auch Grzeszick, Die Teilung staatlicher Gewalt, S. 75, der von einer Reduzierung des „Reflexions- und Kritikpotentials“ spricht. 301 Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 44–45; Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 2 Rn. 13; Isensee, Staat und Verfassung, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 2, § 15 Rn. 185.

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Eine gewaltenteilige Ordnung kann nicht ohne Zuständigkeitsordnung umgesetzt werden. Damit die Gewaltenteilung eine eigenständige Aussage erhält, müssen zur reinen Zuständigkeitsordnung jedoch weitere Aspekte hinzukommen. Die Relevanz des Gewaltenteilungsprinzips für eine Zuständigkeitsordnung ergibt sich daraus, dass die Gewaltenteilung Kriterien für deren Ausgestaltung vorgibt.302 b) Die funktionsadäquate Zuordnung Ein weiterer Ansatz ist die funktionsadäquate Aufgabenzuordnung. Jedem Organ werden die Aufgaben zugewiesen, für welche es nach Zusammensetzung, Organisation und anwendbarem Verfahren am besten geeignet ist. Der Unterschied zu Cornils’ Ansatz ist, dass hinter der Zuständigkeitsverteilung die Ratio der effektiven Ausübung von Hoheitsgewalt steht.303 Die Idee der „funktionsgerechten Aufgabenstruktur“304 priorisiert die Aufgabe der Gewaltenteilung, eine möglichst effektive und sachgemäße Aufgabenerfüllung der Organe sicherzustellen, vor den anderen beiden Aufgaben,305 also der Begrenzung und Mäßigung von Hoheitsgewalt und der Teilhabe der Bürger an der Ausübung von Hoheitsgewalt.306 Dies zeigt ein größeres Vertrauen in die Ausübung hoheitlicher Gewalt, vor welcher der Bürger nicht mehr ausschließlich geschützt werden muss.307 Die Idee der funktionsadäquaten Zuordnung wurde in Bezug auf die deutsche Gewaltenteilungsordnung entwickelt. Es ist jedoch kein Grund ersichtlich, warum diese Idee nicht auf theoretische Überlegungen übertragen werden sollte. Auf der Suche nach einem sinnvollen Zuordnungsmodus von Tätigkeit zu Organ gibt der Ansatz der funktionsadäquaten Zuordnung den wegweisenden Hinweis, die Gestaltung der Zuständigkeitsordnung mit den theoretischen Aufgaben der Gewaltenteilung zu verbinden. Die Vorgehensweise, die Zuständigkeitsordnung nur an einer von drei Aufgaben auszurichten, kann jedoch nicht überzeugen. Dadurch

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Carolan, The New Separation of Powers, S. 121. Grundlegend Küster, AöR 75 (1949), S. 392 (404 ff.); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 482, 488–491. Dieses Konzept aufgreifend Stern, Staatsrecht, Bd. 2, Rn. 530–531; Horn, AöR 2002, S. 427 (447–448); von Danwitz, Der Grundsatz funktionsgerechter Organstruktur, Der Staat 35 (1996), S. 329 (334–335). So auch bezogen auf Art. 20 Abs. 2 GG BVerfGE 68, 1 (86). Plastisch auch Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers, S. 371: „Certainly most Western theorists have agreed, […] that all decisions should not be made by a single man whose word is law, and that all the tasks of government should not be performed by a representative assembly.“ 304 Siehe zu diesem Begriff bereits die Nachweise in Fn. 180. 305 Vgl. Horn, AöR 127 (2002), S. 427 (450–451) m. w. N. 306 Siehe zu den drei Aufgaben der Gewaltenteilung oben ab S. 62. 307 Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 36, der von einem „teleologischen Wandel“ spricht. Mit dieser Formulierung auch Grzeszick, Die Teilung staatlicher Gewalt, S. 56. 303

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würde sie nicht alle sich aus der Verbindung mit dem Rechtsstaats- und dem Demokratieprinzip ergebenden Anforderungen erfüllen. c) Die ausgleichende Zuordnung Überzeugender ist es daher, Gewaltenteilung als eine Zuständigkeitsordnung zu verstehen, die nicht nur die Aufgabe der effektiven und sachgemäßen Ausübung von Hoheitsgewalt umsetzt, sondern auch die anderen zwei Aufgaben, die gegenseitige Machtbegrenzung, -mäßigung und -kontrolle sowie die Teilhabe der Bürger an und ihre Repräsentation bei der Ausübung von Hoheitsgewalt.308 Denn ihre besondere Aussagekraft erhält die Gewaltenteilung erst, indem sie eine Zuständigkeitsordnung fordert, die all diese drei Aufgaben in Einklang bringt.309 Dies ist angesichts der unterschiedlichen Zielrichtungen der Aufgaben nicht immer einfach. Gerade diese Spannungslage zwischen den drei Aufgaben, die der Stellung der Gewaltenteilung zwischen dem Rechtsstaats- und dem Demokratieprinzip entspricht, macht die Gewaltenteilung aus. d) Zwischenfazit Hinter der von der Gewaltenteilung verlangten Zuständigkeitsordnung steht also die Ratio, die drei Aufgaben in Einklang zu bringen. Hieraus ergibt sich eine größere Direktionswirkung als von der formalen Gewaltenteilung oder der reinen funktionsadäquaten Zuordnung. 2. Zuordnungsobjekt: Kompetenzen, Aufgaben oder Funktionen Neben der hinter einer Zuständigkeitsverteilung stehenden Ratio kann das konkrete Erscheinungsbild der Gewaltenteilung innerhalb einer Zuständigkeitsordnung auch verschiedene Zuordnungsobjekte haben. Das erste denkbare Zuordnungsobjekt sind die Kompetenzen und Aufgaben, welche die Zuständigkeitsordnung verschiedenen Organen zuweist.310 Daneben sind auch die hoheitlichen Funktionen als Zuordnungsobjekt denkbar. Dies setzt allerdings voraus, dass eine

308 Kamm, Machtbegrenzung durch Gewaltenteilung, in: Hein / Petersen / von Steinsdorff, Die Grenzen der Verfassung, S. 233 (237–238). Für eine stets notwendige Beachtung der den „Begründungen der Gewaltenteilung“ zugrunde liegenden Forderungen auch Goeters, Institutionelles Gleichgewicht, S. 64, 88–89. 309 Siehe dazu bereits die Nachweise in Fn. 183. 310 Vgl. etwa Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 65.

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

Definition der hoheitlichen Funktionen gelingt.311 Die um die Funktionenlehre ergänzte klassische Gewaltenteilung312 ging von einer Zuordnung der Funktionen zum Organ aus.313 Wie genau die Zuordnung erfolgt, ergibt sich aus der jeweiligen Zuständigkeitsordnung und dem darin enthaltenen Gewaltenteilungsverständnis. Die Zuständigkeitsordnung stattet Organe mit konkreten Aufgaben und Funktionen aus, ohne dass eine Einordnung dieser Kompetenzen und Aufgaben in eine der drei Funktionen erforderlich würde. In diesem Zusammenhang spielt die triadische Funktionenteilung keine Rolle.314 Die sich aus einer Funktion ergebenden Kompetenzen können mehreren Organen zugeordnet werden.315 Genauso können einem Organ Kompetenzen übertragen werden, die sich in zwei unterschiedliche Funktionen einordnen lassen.316 Die Vorschriften der Zuordnung sind von den die institutionelle Pluralität ausgestaltenden Vorschriften zu unterscheiden. Während letztere die Konstituierung und Zusammensetzung der Organe sowie die von diesem Organ allgemein anzuwendenden Verfahren regeln, bestimmen die Kompetenzvorschriften, in welchen Fällen ein Organ agieren darf und welche Handlungsformen angewendet werden dürfen.317 Kompetenzen sind wiederum von Aufgaben zu unterscheiden. Aufgabennormen bestimmen sachliche Handlungsbereiche und das Ziel staatlichen Handelns, während Kompetenzen Tätigkeitsbereiche und Handlungsformen definieren.318 Eine Aufgaben- oder Zielbestimmung sagt noch nichts darüber aus, ob auch die Kom-

311

Siehe hierzu bereits oben ab S. 78. Siehe zu diesem Gewaltenteilungskonzept bereits oben ab S. 51. 313 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 614: „Damit ist aber die Bedeutung des Unterschiedes zwischen materiellen und formellen Funktionen von höchstem praktischen Wert geworden, weil erst die Erkenntnis des Inhaltes der materiellen Funktionen den Weg weist für das, was den formellen Funktionen, d. h. genauer der Tat der Organe einer bestimmten Klasse, zuzuweisen ist.“ Siehe auch Horn, AöR 127 (2002), S. 427 (440), der die Notwendigkeit der Funktionendefinition als Voraussetzung der Kernbereichslehre postuliert. 314 Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 34. 315 Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 47 bezeichnet dies als „intrafunktionale Gewaltenteilung“. 316 Nur ein einprägsames Beispiel ist die Rolle der Regierung nach dem GG. Einerseits hat die Bundesregierung gem. Art. 83 ff. GG weitreichende – exekutive – Befugnis bei der Ausführung von Bundesgesetzen, andererseits ist die Bundesregierung ein Gesetzgebungsorgan, weil sie gem. Art. 76 Abs. 1 GG ein Gesetzgebungs-Initiativrecht hat. In der Praxis bringt die Bundesregierung im Vergleich zu dem ebenfalls initiativberechtigten Bundestag und dem Bundesrat auch die meisten Gesetzesvorlagen in den Bundestag ein – in der 18. Wahlperiode stammten 67,3 % der eingebrachten Gesetzesvorhaben von der Bundesregierung, https://www. bundestag.de/blob/196202/ee30d500ea94ebf8146d0ed7b12a8972/kapitel_10_01_statistik_zur_ gesetzgebung-data.pdf, zuletzt abgerufen am 09.04.2022. 317 Dies schließt natürlich nicht aus, dass die Rechtsordnung daneben besondere Verfahrensvorschriften für einzelne Entscheidungen oder Handlungsformen vorsieht. Diese sind jedoch für die Gewaltenteilung unerheblich. 318 Kirchhof, in: Dürig / Herzog / Scholz, GG, Art.  3 Rn.  158; Korioth, in: Dürig / Herzog /  Scholz, GG, Art. 30 Rn. 8. 312

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petenz für ein bestimmtes Organ vorliegt319 und definiert anders als Funktionen und Kompetenzen keine hoheitliche Tätigkeit. Aufgabennormen sind anders als Kompetenznormen somit kein taugliches Zuordnungsobjekt. Kompetenzen dienen der Aufgabenerfüllung und setzen eine Aufgabenordnung voraus.320 Sie gestalten die Zuständigkeitsordnung zwischen verschiedenen Entscheidungsträgern aus und sind daher für die Gewaltenteilung relevant.321 Jede Zuständigkeitsordnung enthält Kompetenznormen, durch welche die Zuordnung einzelner staatlicher Tätigkeiten zu bestimmten Organen erfolgt. Kompetenzen sind somit das primäre Zuordnungsobjekt in der Gewaltenteilung. Eine Kompetenzverteilung kann durch ein materielles Funktionsverständnis ergänzt werden. Viele europäische Verfassungen lassen erkennen, dass ihnen der Gedanke der triadischen Funktionenteilung zugrunde liegt.322 Im Grundgesetz sind die drei Staatsfunktionen etwa in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG ausdrücklich genannt, jedoch nicht weiter definiert. Bei Kompetenzkonflikten oder Auslegungsschwierigkeiten können die drei Funktionen auch in konkreten verfassungsdogmatischen Fragen herangezogen werden. In solchen Fällen muss die Verfassungsdogmatik auf verfassungstheoretische Erkenntnisse über den jeweiligen Funktionsinhalt zurückgreifen. Die Kernbereichslehre aus dem deutschen Verfassungsrecht ist ein Beispiel, bei dem den Organen tatsächlich Funktionen und nicht Kompetenzen zugeordnet wurden.323 Einem Organ wird nicht zwingend die gesamte entsprechende Funktion, jedenfalls aber ihr Kernbereich zugeordnet. Eine Tätigkeit, die nicht zum Kernbereich einer Funktion zählt, kann auch von einem anderen Organ ausgeübt werden.324 Damit stellt die Kernbereichslehre eine abgeschwächte Form der klassischen Gewaltenteilung dar.325 Die Schwierigkeit der materiellen Funktionsbestimmung verschwindet jedoch nicht, da die Bestimmung eines funktionalen Kernbereichs die – jedenfalls annäherungsweise – Kenntnis der Funktion voraussetzt.326 Das Bei-

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So für Kompetenzen und Aufgaben der EU Ruffert, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Art. 3 EUV Rn. 12; Terhechte, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Recht der EU, Art. 3 EUV Rn. 8 (2014). 320 Korioth, in: Dürig / Herzog / Scholz, GG, Art.  30 Rn.  8; Isensee, Staatsaufgaben, in: Isensee /  Kirchhof, HStR, Bd. 4, § 73 Rn. 19–20. 321 Vgl. Isensee, Staatsaufgaben, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 4, § 73 Rn. 19. Bezogen auf die vertikale Gewaltenteilung Korioth, in: Dürig / Herzog / Scholz, GG, Art.  30 Rn.  8. 322 Siehe dazu die Nachweise in Fn. 56. 323 Zusammenfassend zur Kernbereichslehre Möllers, Gewaltengliederung, S. 74. Monographisch Kuhl, Der Kernbereich der Exekutive. Die Kernbereichslehre ist auch in der Rechtsprechung des BVerfG gefestigt, erstmalig BVerfGE 9, 268 (279); anschließend BVerfGE 30, 1 (28); 34, 52 (59), 95, 1 (15–16). 324 Stern, Staatsrecht, Bd. 2, S. 541–542; Horn, AöR 127 (2002), S. 427 (439). 325 Ähnlich Horn, AöR 127 (2002), S. 427 (439). 326 Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, S. 201; Heun, Staatshaushalt und Staatsleitung, S. 90; Horn, AöR 127 (2002), S. 427 (440); Groß, Der Staat 55 (2016), S. 489 (494).

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

spiel der Kernbereichslehre zeigt, dass sich die Zuordnung von einer Funktion zu einem Organ nicht zwingend auf die gesamte Funktion beziehen muss. Es besteht also Variationsmöglichkeit in der Konsequenz der Zuordnung. Es kann wie in der Kernbereichslehre nur ein Teil der Funktion zugeordnet werden oder es kann wie in der (unerreichbaren) klassischen Gewaltenteilungslehre die Zuordnung einer kompletten Funktion angestrebt werden. Zusammenfassend ist also nicht nur zwischen zwei verschiedenen Zuordnungsobjekten  – Funktionen oder Kompetenzen  – zu unterscheiden. Die Zuordnung einer Funktion zu einem Organ kann auch unterschiedlich konsequent durchgeführt werden. 3. Mögliche Ausgestaltungen einer institutionellen Interaktion Die Beziehungen einzelner Organe zueinander ergeben sich aus der verfassungsrechtlichen Zuordnung von Kompetenzen oder Funktionen zu diesen Organen durch die jeweilige Zuständigkeitsordnung als Grundlage der institutionellen Interaktion. Jede Zuständigkeitsordnung sieht nicht nur die Trennung und Eigenständigkeit der Organe bei der Erfüllung bestimmter Aufgaben vor, sondern auch deren Zusammenarbeit oder gegenseitige Kontrolle, welche bisweilen als „Durchbrechungen der Gewaltenteilung“ eingeordnet werden.327 Da diese Interaktion aber durch die Zuständigkeitsordnung vorgesehen ist, überzeugt diese Unterscheidung nicht – es handelt sich schlicht um gleichwertige Formen der Gewaltenteilung.328 Selbst wenn nicht von Durchbrechungen der Gewaltenteilung gesprochen wird, findet sich häufig eine zweischrittige Systematisierung der institutionellen Interaktion, die zwischen einerseits „Trennung“ und andererseits „Verschränkung“ beziehungsweise „gegenseitiger Ausbalancierung“ der Organe unterscheidet.329 Unklar bleibt dabei häufig, was mit diesen Zuschreibungen gemeint ist.330 Für das vorliegende Forschungsvorhaben ist es aber erforderlich, dass die Formen institu-

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Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 268. Diese Formulierung bezogen auf das GG bei Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 2, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 75 sowie BVerfGE 18, 52 (59). 328 Vgl. Bognetti, Dividing Powers, S. 14; Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Graben­ warter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 55. Kritisch ebenfalls Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 478, 493; Stern, Staatsrecht, Bd. 2, S. 530. 329 So etwa bei Unruh, Der Verfassungsbegriff des GG, S. 473; Jarass, Politik und Bürokratie als Elemente der Gewaltenteilung, S. 3–4; Häberle / Kotzur, Europäische Verfassungslehre, Rn. 1081; Waldron, Boston College LR 54 (2013), S. 433 (433, 438–443); Magill, Virginia LR 86 (2000), S. 1127 (1130). Siehe auch Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 55. Für das GG Haratsch, Der Grundsatz der Gewaltenteilung als rechtsordnungsübergreifender Rechtssatz, in: Demel u. a., Funktionen und Kontrolle der Gewalten, S. 199 (202–203); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 476–479; di Fabio, Gewaltenteilung, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 2, § 27 Rn. 31. 330 Magill, Virginia LR 86 (2000), S. 1127 (1130).

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tioneller Interaktion so klar definiert sind, dass entsprechende Erscheinungsformen in der EMRK und der EGMR-Rechtsprechung ausfindig gemacht werden können. Abweichend von der zweischrittigen Darstellung geht diese Arbeit daher von drei Fallgruppen zur Ausgestaltung der interorganschaftlichen Beziehungen aus.331 1. Ein Organ kann eigenständig handeln, muss sich dabei aber an zuvor ergangene inhaltliche oder personelle Entscheidungen anderer Organe halten oder zumindest hieran orientieren – die Trennung von anderen Organen ist also nur relativ zu verstehen. 2. Die Organe können bei dem Erlass oder Beschluss eines Rechtsaktes oder einer anderen Entscheidung zusammenwirken. 3. Die Entscheidung eines hoheitlichen Organs kann im Nachhinein durch ein anderes Organ kontrolliert werden.332 Die Fallgruppen interorganschaftlicher Interaktion beschreiben stets das Verhältnis zweier Organe zueinander im Hinblick auf eine konkrete hoheitliche Tätigkeit. Somit bauen die Fallgruppen maßgeblich auf dem zweiten Element, dem Erfordernis institutioneller Pluralität, auf. In einer gewaltenteiligen Verfassungsorganisation finden sich typischerweise alle drei Formen der institutionellen Interaktion, um die drei Aufgaben der Gewaltenteilung zu beachten und umzusetzen. Die Beziehung zweier Organe zueinander ist jeweils nur im Hinblick auf eine konkrete hoheitliche Tätigkeit zu beschreiben. Eine gewaltenteilige Verfassungsorganisation kann (und muss) diese drei Interaktionsmöglichkeiten unterschiedlich kombinieren, um die drei Aufgaben der Gewaltenteilung zu beachten und umzusetzen. Die Beziehung zweier Organe zueinander ist jeweils nur im Hinblick auf eine konkrete hoheitliche Tätigkeit zu beschreiben. a) Trennung Die erste Fallgruppe, die Trennung, enthält das geringste Maß an institutioneller Interaktion: Ein Organ erledigt die ihm von der Zuständigkeitsordnung übertragene Aufgabe eigenständig, ohne Mithilfe oder Einmischung eines anderen Organs und möglicherweise – aber nicht notwendigerweise – ohne anschließende Kontrolle.333 331

Siehe für einen anderen dreiteiligen Systematisierungsansatz auch Möllers, Gewaltengliederung, S. 70–78, der zwischen dem Gebot der Organtrennung, dem Verbot organfremder Gewaltenusurpation und dem Gebot wechselseitiger Kontrolle und Balance unterscheidet. Bezogen auf das GG ebenfalls von drei Fallgruppen (Teilung; Hemmung; Balancierung und Kontrolle) ausgehend Stern, Staatsrecht, Bd. 2, S. 529–530. 332 Ähnlich Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 39–42. 333 Möllers, Gewaltengliederung, S. 71 bezeichnet dies als „Gebot der Organtrennung“.

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

Tauscht man das Zuordnungsobjekt aus, kann die Fallgruppe der Trennung auch davon ausgehen, dass Organe die ihnen zugewiesene hoheitliche Funktion – jedenfalls im Kernbereich – ohne Einmischung anderer Organe ausüben.334 Wie streng aber kann – in einer modernen Gewaltenteilungslehre – die inhalt­liche, institutionelle und personelle Abgrenzung eines Organs bei der Erfüllung einer Aufgabe oder auch der Wahrnehmung seiner Funktion von den anderen Organen tatsächlich ausgestaltet sein? Für die Antwort auf diese Frage hilft zunächst noch einmal ein Blick zurück auf das klassische Dogma der strengen Gewaltenteilung und damit die denkbar strengste Trennung: Danach sollen die Organe in keinerlei formellen oder informellen Austausch miteinander treten. Es besteht die Vorstellung, dass alle Organe gleichsam parallel nebeneinander bestehen und ihren Aufgaben respektive Funktionen nachkommen. Bereits dadurch soll die notwendige Machtbegrenzung erreicht werden. Eine gegenseitige retrospektive Kontrolle ist ebenfalls nicht vorgesehen. Das Modell geht vielmehr davon aus, dass Rechtsbrüche nicht vorkommen, weil die Kompetenzen des Organs dafür nicht vorliegen.335 Dieses Modell wurde nicht nur niemals komplett in einem Staat verwirklicht,336 eine derart strikte Trennung lässt sich nicht einmal für ein einziges Organ in einer demokratischen und rechtsstaatlichen Verfassungsordnung durchsetzen.337 Denn einerseits unterliegt die Mehrzahl der staatlichen Entscheidungen einer retrospektiven Kontrolle. Dies ergibt sich schon allein aus der rechtsstaatlichen Notwendigkeit, Rechtsbrüche zu sanktionieren – denn darauf zu hoffen, dass diese nicht auftreten, ist illusorisch. Andererseits können auch im Vorfeld der Entscheidung inhaltliche und personelle Einflüsse anderer Organe ausgemacht werden338 – selbst wenn das in Rede stehende Organ autonom ohne Eingreifen anderer Organe eine konkrete Entscheidung trifft. Eine Einwirkung eines Organs auf ein anderes Organ im Vorfeld der konkreten Entscheidung ergibt sich zunächst aus dem Erfordernis der personellen demokratischen Legitimation im Sinne einer durchgängigen Legitimationskette.339 Abgesehen von den unmittelbar demokratisch legitimierten Organen (dem Parlament 334

Bei Möllers, Gewaltengliederung, S. 73 eine eigenständige Form: das „Verbot organfremder Gewaltenusurpation“. 335 Siehe dazu bereits die Darstellung ab S. 52. 336 Siehe hierfür die Nachweise in Fn. 100. 337 Seiler, Gewaltenteilung, S. 125–127. Möllers, Gewaltengliederung, S. 72–73 sieht ebenfalls eine geringe Wirkung des Teilungsgebots, einziger Aussagegehalt sei die praktische Unterscheidbarkeit der Organe, ausgedrückt durch das Verbot von Inkompatibilitäten. Nach der hier vertretenen Auffassung sind beide Aspekte keine Ausprägungen der Zuordnung von Aufgaben zu Organen. 338 Vgl. Kirchhof, Gewaltenbalance zwischen europäischen und mitgliedstaatlichen Organen, in: Isensee, Gewaltenteilung heute, S. 99 (102–103). 339 Maurer, Staatsrecht I, § 7 Rn. 28; Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 212–214; Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 2, § 24 Rn. 16. Vgl. auch Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 92.

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beziehungsweise der ersten Kammer des Parlaments sowie in präsidentiellen Systemen dem Staatspräsidenten) sind die Organe mittelbar demokratisch legitimiert.340 Ein anderes Organ entscheidet also über die personelle Besetzung dieses Organs und kann damit auf die inhaltliche Ausgestaltung späterer Entscheidungen maßgeblichen Einfluss nehmen. Besonders stark ausgeprägt ist diese Einflussnahme dann, wenn eine zweite Amtszeit eines Organwalters möglich ist341 oder wenn ein Organ dauerhaft von der Unterstützung eines anderen Organs abhängig ist, so etwa eine Regierung, die ohne eine hinter ihr stehende parlamentarische Mehrheit wenig Handlungsspielraum hat. Aber auch wenn keine anschließende Verantwortlichkeitsbeziehung zwischen dem konstituierenden und dem konstituierten Organ besteht, bestimmt (außer bei den unmittelbar gewählten Organen) ein Organ über die Besetzung eines anderen Organs und kann geeignete Organwalter auswählen. Dadurch wird eine Beziehung zwischen dem ernennenden Organ und dem Organwalter hergestellt; es findet eine Interaktion statt, bevor der Organwalter erstmalig selbst Hoheitsgewalt ausübt. Organe sind bei einer eigenständigen Aufgabenerfüllung darüber hinaus auch durch vorhergegangene inhaltliche Entscheidungen anderer Organe beeinflusst.342 Einerseits kann diese vorherige Entscheidung die Möglichkeit des agierenden Organs begrenzen (etwa im Sinne der Gesetzesbindung der Verwaltung), andererseits kann ein Organ ein anderes Organ auch erst für eine Aufgabe ermächtigen. Beispiel hierfür ist die delegierte Rechtsetzung, in Deutschland gemäß Art. 80 GG. Danach kann die Regierung oder ein Minister zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigt werden durch eine Entscheidung des parlamentarischen Gesetzgebers und nur in den Grenzen dieser Ermächtigung. Auch der parlamentarische Gesetzgeber ist nicht völlig unabhängig von inhaltlichen Vorgaben. Er wird sich bei der Gesetzgebung an der bisherigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung orientieren, da er sonst die Unwirksamkeit seiner Gesetze riskiert. Eine institutionelle Trennung kann also aus Erfordernissen des Demokratiegebots nur relativ sein – die Organe sind während des Verfahrens, welches zum Erlass eines neuen Rechtsaktes führt, von anderen Organen unabhängig, sie sind aber an inhaltliche oder personelle Vorentscheidungen anderer Organe gebunden. Hinsichtlich der Konstituierung der Organe und deren inhaltlichen Gestaltungsspielraums ist eine absolute Trennung eines Organs von anderen Organen unmöglich. Eine relative institutionelle Trennung eines Organs liegt also vor, wenn im Verfahren der Entscheidungsfindung kein anderes Organ im Rahmen des vorgesehe 340

Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 2, § 24 Rn. 16; vgl. außerdem Maurer, Staatsrecht I, § 7 Rn. 28–29. 341 Vgl. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 12 Rn. 41. Aus diesem Grund werden Richter häufig auf Lebenszeit ernannt, vgl. die Nachweise bei Classen, Nationales Verfassungsrecht in der EU, Rn. 645. Auch deutsche Verfassungsrichter können nach ihrer 12-jährigen Amtszeit nicht wiedergewählt werden, § 4 Abs. 1, 2 BVerfGG. 342 Siehe mit weiteren Beispielen Seiler, Gewaltenteilung, S. 275–276, 279.

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nen Verfahrens oder informell interveniert.343 Um allen Aufgaben der Gewaltenteilung gerecht zu werden, darf eine Zuständigkeitsordnung allerdings nicht nur eine Rechtserzeugung durch relativ voneinander getrennte Organe vorsehen. Die sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ableitende Aufgabe der Begrenzung und Mäßigung hoheitlicher Gewalt verlangt grundsätzlich, dass Formen der präventiven oder retrospektiven Kontrolle der Ausübung von Hoheitsgewalt möglich sind.344 Eine Zuständigkeitsordnung, die nur aus voneinander getrennten Organen bestünde und keine anderen Formen der institutionellen Interaktion vorsähe, könnte nicht die für die bürgerliche Freiheitsverwirklichung notwendige Begrenzung und Mäßigung der Gewalt erreichen. Eine getrennte Tätigkeit der Organe erlaubte keine präventive oder retrospektive Kontrolle durch andere Organe. Die relative Trennung von Organen bei den ihnen zugewiesenen hoheitlichen Tätigkeiten muss daher durch weitere Formen institutioneller Interaktion ergänzt werden. b) Zusammenarbeit Die Zusammenarbeit zweier Organe bei einer hoheitlichen Tätigkeit stellt die zweite Fallgruppe der institutionellen Interaktion dar. Zusammenarbeit meint die in der Zuständigkeitsordnung vorgesehene notwendige Beteiligung mehrerer Organe an dem zu einem Rechtsakt führenden Verfahren.345 Die Fallgruppen der Trennung und der Zusammenarbeit schließen sich gegenseitig aus. Die Zusammenarbeit der Organe und damit auch eine mögliche gegenseitige inhaltliche Einflussnahme finden während des Verfahrens statt, welches zum Beschluss oder Erlass eines Rechtsakts führt. Somit müssen die Organe bereits zu einem frühen Zeitpunkt zu einem Kompromiss finden und begrenzen sich dabei gegenseitig.346 Zur Verdeutlichung ein Beispiel:347 An der Gesetzgebung nach dem GG wirken mindestens drei, wenn die Gesetzesinitiative von der Bundesregierung eingebracht wird, sogar vier, Organe zusammen, bis ein Gesetz wirksam zustande gekommen ist und in Kraft tritt: Der Bundestag beschließt, der Bundesrat wird beteiligt und der Bundespräsident fertigt aus (Art. 77–78, 82 GG). Die Beteiligung jedes Organs ist konstitutiv für das Inkrafttreten eines Gesetzes. 343

Möllers, Gewaltengliederung, S. 409–410 leitet als Trennungsaspekt aus Art. 20 Abs. 2 GG die Organisationsautonomie der Organe ab, welche den Prozess der internen Entscheidungsfindung schützt. Ihm folgend Poscher, Funktionenordnung des Grundgesetzes, in: HoffmannRiem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, § 8 Rn. 38. 344 Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, S. 42–43; ausführlich Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 24–31. 345 Ähnlich di Fabio, Gewaltenteilung, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 2, § 27 Rn. 31. 346 Loewenstein, Verfassungslehre, S. 46–47 sieht dies als Unterfall der Kontrolle. Auch ­Seiler, Gewaltenteilung, S. 126 verbindet Zusammenarbeit und Kontrolle unter dem Oberbegriff des kooperativen Zusammenwirkens der Organe. 347 Siehe zur Gesetzgebung als Kooperationsmöglichkeit der Organe Seiler, Gewaltenteilung, S. 125.

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Der Vergleich des deutschen Gesetzgebungsverfahrens mit dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren der Europäischen Union gemäß Art. 294 AEUV macht auf unterschiedliche Kräfteverhältnisse der jeweils zentralen Organe aufmerksam. Das Europäische Parlament und der Rat sind – nach der Initiative durch die Kommission, Art. 294 Abs. 2 AEUV – gleichberechtigt an dem Beschluss eines Rechtsakts mit Gesetzescharakter beteiligt.348 Beide Organe haben die Möglichkeit, Änderungsvorschläge einzubringen und müssen schließlich dem Entwurf zustimmen, sodass kein Organ das andere überstimmen kann.349 In der deutschen Verfassungsordnung hingegen ist der Bundesrat nicht einmal bei Zustimmungs­gesetzen gemäß Art. 77 Abs. 2a GG gleichberechtigt. Er ist im Fall einer Ablehnung eines Entwurfs durch den Bundestag – ungeachtet einer eventuellen vorherigen Befassung gemäß Art. 76 Abs. 2 GG bei von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzesinitiativen – mit diesem gar nicht befasst und kann somit auch nicht auf einen Beschluss hinwirken, etwa durch Erarbeitung eines gemeinsamen Kompromisses. Änderungsvorschläge nach einer Zustimmung des Bundestages zu einem Entwurf sind nur im Vermittlungsverfahren gemäß Art. 77 Abs. 2 GG möglich, nicht aber im ordentlichen Verfahren. Diese zwei Beispiele illustrieren unterschiedliche Unterfälle der institutionellen Zusammenarbeit: Organe können inhaltlich oder rein prozessual an der Verabschiedung eines Rechtsakts beteiligt sein; im Rahmen der inhaltlichen Einflussnahme können zwei Organe gleichberechtigte oder unterschiedlich stark ausgeprägte Beteiligungsrechte haben; es kann vom beteiligten Organ eine konstitutive Zustimmung oder auch nur eine anderweitige Beteiligung, wie etwa eine Stellungnahme, erforderlich sein. Darüber hinaus ist zu unterscheiden zwischen Organen, die ein Verfahren in Gang setzen können, solchen, die es abschließen können, und solchen, deren Beteiligung für das ordnungsgemäße Verfahren erforderlich ist. In parlamentarischen Systemen ist die Zusammenarbeit zwischen Regierung und Parlament besonders stark ausgeprägt. Sowohl im Rahmen der Gesetzgebung als auch in Fragen der Staatsleitung müssen die parlamentarische Mehrheit und die Regierung zusammen agieren.350 Institutionelle Zusammenarbeit verschiedener Organe kann zu einer gegenseitigen inhaltlichen Korrektur vor dem Beschluss eines Rechtsaktes führen. Die Organe mäßigen und begrenzen sich also durch die verschiedenen Möglichkeiten der Zusammenarbeit gegenseitig.351 Arbeiten Organe zusammen, die der gleichen 348

Krajewski / Rösslein, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 294 AEUV, Rn. 10 (2017). 349 Krajewski / Rösslein, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 294 AEUV, Rn. 27, 36–37, 45, 48, 51–52 (2017); Kluth, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Art.  294 AEUV Rn. 17–19. 350 Hierzu instruktiv Seiler, Gewaltenteilung, S. 126, 273–274; Haller / Kölz / Gächter, Allgemeines Staatsrecht, Rn. 665–702; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 356. 351 Grzeszick, Die Teilung staatlicher Gewalt, S. 39–40, der diese Zusammenarbeit aber als eine Form der Kontrolle (siehe unten) einordnet.

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

Gewalt zugeordnet werden, liegt hierin eine Form der innerfunktionalen Gewaltenteilung. Andererseits ermöglicht die Zusammenarbeit auch, dass die Organe in einem gemeinsamen Verfahren jeweils in dem Abschnitt beteiligt sind, für welchen sie besonders gut geeignet sind,352 sodass eine effektive Ausübung hoheitlicher Gewalt erreicht werden kann. c) Kontrolle Die letzte Fallgruppe institutioneller Interaktion ist die Kontrolle,353 also die nachträgliche Überprüfung einer Entscheidung oder Handlung eines anderen Organs an einem durch die Zuständigkeitsordnung bestimmten Maßstab. Nicht vom Konzept der Gewaltenteilung umfasst ist die demokratische Kontrolle durch das Volk, etwa durch Wahlen. Diese Kontrolle betrifft die Gewaltenteilung, wie sie in dieser Arbeit verstanden wird, als Zuständigkeitsordnung der Konstituierung und Begrenzung hoheitlicher Organe, nicht.354 Die Fallgruppen der institutionellen Trennung und der Zusammenarbeit beziehen sich beide auf das Verhältnis der Organe vor einer Rechtserzeugung, die Kontrolle beschreibt hingegen eine nachträgliche Einflussnahme auf das zuvor agierende Organ. Gegenstand der Kontrolle ist typischerweise eine in der Vergangenheit getroffene Entscheidung oder Handlung.355 Kontrolle findet somit statt, nachdem ein Organ eigenständig oder mehrere Organe in Zusammenarbeit neues Recht erzeugt haben. Während sich die Fallgruppe der Zusammenarbeit und der Trennung gegenseitig ausschließen, kann die Kontrolle in beiden Fällen nachträg-

352

So auch bei Seiler, Gewaltenteilung, S. 126 m. w. N., der allerdings die Fallgruppen „Kontrolle“ und „Zusammenarbeit“ nicht auseinander hält. 353 Sehr ausführlich zum Begriff der Kontrolle im Kontext der Gewaltenteilung bei Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, S. 4–12, 44. Siehe auch Poscher, Funktionenordnung des Grundgesetzes, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, § 8 Rn. 24–26. Nach Möllers, Gewaltengliederung, S. 77 sind Kontrollen „institutionalisierte Einflußnahmen [sic] zwischen den Organen“. Von dieser Definition wäre aber auch die Fallgruppe der Zusammenarbeit umfasst. Siehe weiterhin ­L oewenstein, Verfassungslehre, S. 47, der allerdings nur die politische, nicht aber die gerichtliche Kontrolle benennt. 354 Seiler, Gewaltenteilung, S. 115; Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers, S. 362–364 mit der Begründung, warum neben der demokratischen Kontrolle durch das Volk weitere institutionelle Kontrollmöglichkeinen vorgesehen sein müssen. 355 Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, S. 16–17; ihm folgend Möllers, Gewaltengliederung, S. 78. Siehe auch Poscher, Funktionenordnung des Grundgesetzes, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, § 8 Rn. 26, der ebenfalls betont, dass zunächst ein Kontrollgegenstand vorliegen muss, den das kontrollierte Organ geschaffen hat. Ein sowohl pro- als auch retrospektives Kontrollverständnis findet sich bei Seiler, Gewaltenteilung, S. 126, der nicht deutlich zwischen Zusammenarbeit und Kontrolle trennt, sowie bei Brunner, Kontrolle in Deutschland, S. 79, der zwischen vorherigen, begleitenden und nachträglichen Kontrollen unterscheidet.

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lich erfolgen, sie erfolgt aber nicht in jedem Fall. Es kann auch Rechtsakte geben, die anschließend keiner erneuten Kontrolle unterliegen. Genauso wie die ersten beiden Fallgruppen ist auch die Kontrolle eine Form der institutionellen Interaktion, die nicht nur auf eine bestimmte Funktion von Hoheitsgewalt beschränkt ist. Neben der gerichtlichen Kontrolle356 ist auch eine verwaltungsinterne Kontrolle durch höhere Instanzen oder eine politische Kontrolle der Regierung durch das Parlament von dieser Fallgruppe der Interaktion umfasst.357 Wie bereits bei der Zusammenarbeit gibt es unterschiedliche Erscheinungsformen der Kontrolle. Sowohl die Reichweite358 der jeweiligen Kontrolle als auch ihre Rechtsfolgen können variieren. Die Reichweite der Kontrolle ist abhängig vom Kontrollmaßstab:359 Denkbar ist eine alleinige Verfassungsmäßigkeits­kontrolle, eine Rechtmäßigkeitskontrolle, eine Zweckmäßigkeitskontrolle oder eine rein politische Kontrolle. Schließlich kann die Kontrollbefugnis dadurch eingeschränkt werden, dass für die Überprüfung ein Anlass vorliegen muss: Gerichte etwa dürfen in aller Regel nicht selbstständig tätig werden,360 sie müssen darauf warten, angerufen zu werden, während das Parlament aus eigenem Antrieb die Regierung kontrollieren kann.361 Stellt das kontrollierende Organ einen Verstoß gegen den anzulegenden Kontrollmaßstab fest, kann die Zuständigkeitsordnung unterschiedliche Rechtsfolgen festlegen.362 Als mildeste Folge ist schlicht die Feststellung der Zweck-, Rechts 356

Auch Staaten, die kein eigenständiges Verfassungsgericht haben, haben die Aufgabe der Verfassungsmäßigkeitskontrolle üblicherweise einem Organ zugewiesen. Verfassungsgerichte werden hier mit Möllers, Gewaltengliederung, S. 136 als solche Gerichte bezeichnet, die die Befugnis haben, höchstrangiges Verfassungsrecht auszulegen und dem Verfassungsrecht widersprechende Gesetzgebungsentscheidungen aufzuheben. 357 Cornils, Gewaltenteilung, in: Depenheuer / Grabenwarter, Verfassungstheorie, § 20 Rn. 53. Seiler, Gewaltenteilung, S. 280–281 weist auch auf die Möglichkeit des Gesetzgebers hin, höchstgerichtliche Entscheidungen zu kontrollieren, indem er neues Recht setzt, wenn die bisherige Rechtsprechungslinie unerwünscht war; ebenso Poscher, Funktionenordnung des Grundgesetzes, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, § 8 Rn. 24. Siehe auch Brunner, Kontrolle in Deutschland, ab S. 139, der für die deutsche Rechtsordnung Kontrollen ausgehend von zehn verschiedenen Organen oder Institutionen untersucht. 358 Siehe auch die Vergleichsparameter, die Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, ab Kapitel 2 an die Instrumente der gerichtlichen und parlamentarischen Kontrollen sowie an die Kontrollen durch die Rechnungshöfe anlegt. 359 Poscher, Funktionenordnung des Grundgesetzes, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann /  Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, § 8 Rn. 24; Brunner, Kontrolle in Deutschland, S. 77–79. 360 Möllers, Gewaltengliederung, S. 97; Zimmer, Funktion  – Kompetenz  – Legitimation, S. 307. 361 Vgl. Loewenstein, Verfassungslehre, S. 47; Brunner, Kontrolle in Deutschland, S. 79. Brunner unterscheidet zwischen passiven, also extern veranlassten, und aktiven, vom zuständigen Organ selbst initiierten, Kontrollen und weist außerdem darauf hin, dass manche Kontrollvorgänge vom Vorliegen bestimmter Voraussetzungen abhängen. 362 Brunner, Kontrolle in Deutschland, S. 75, 82–83.

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oder Verfassungswidrigkeit denkbar. Das kontrollierende Organ könnte aber auch die Befugnis haben, den Rechtsakt selbst aufzuheben oder abzuändern. Und schließlich wirkt sich die Kontrolle indirekt auch auf zukünftige Rechtsgestaltung aus, wenn sich das kontrollierte Organ bei späteren Entscheidungen an den durch das kontrollierende Organ formulierten Maßgaben orientiert. Die Möglichkeit der Kontrolle trägt also maßgeblich dazu bei, dass eine Zuständigkeitsordnung der Aufgabe der Mäßigung und Machtbegrenzung einzelner Organe nachkommt.363 In eine Zuständigkeitsordnung eingebaute Kontrollmechanismen führen nicht zwangsläufig zu einer „Kontrollhierarchie“.364 Das in einer Situation kontrollierende Organ kann in einem anderen Kontext selbst zum kontrollierten werden. Während das Parlament etwa die staatsleitende Regierung kontrolliert, können die vom Parlament beschlossenen Gesetze wiederum vom Verfassungsgericht auf ihre Verfassungsmäßigkeit kontrolliert werden; das kontrollierende Urteil eines Verwaltungsgerichts wird selbst in der zweiten Instanz zum Objekt der Kontrolle.365 4. Zwischenfazit Die Zuordnung einer hoheitlichen Tätigkeit zu einem Organ ist das zentrale Element der Gewaltenteilung. Sie erfolgt durch die Zuständigkeitsordnung, welche grundsätzlich den Organen konkrete Kompetenzen zuweist. Ergänzend möglich, aber nicht zwingend ist auch eine Zuordnung der hoheitlichen Funktionen zu bestimmten Organen. Die Zuordnung wirkt sich auf die institutionelle Interaktion aus, die mit den Fallgruppen Trennung, Zusammenarbeit und Kontrolle beschrieben werden kann. Die Zuständigkeitsordnung kann die verschiedenen institutionellen Interaktionen in beliebiger Form kombinieren, sofern sie die drei Aufgaben der Gewaltenteilung in einen Ausgleich bringt.

IV. Status von Organwaltern Letztlich dürfen bei allen organisatorischen Überlegungen nicht die Personen außer Acht gelassen werden, die die Entscheidungen tatsächlich treffen, die Organwalter.366 Dieses vierte Element schließt die Darstellung der Elemente der Gewaltenteilung ab. Während die institutionelle Pluralität, das zweite Element, an 363

Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, S. 41–43; Loewenstein, Verfassungslehre, S. 46. 364 Grzeszick, Die Teilung staatlicher Gewalt, S. 38; Goeters, Das institutionelle Gleichgewicht, S. 135; Poscher, Funktionenordnung des Grundgesetzes, in: Hoffmann-Riem / SchmidtAßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, § 8 Rn. 24. Differenzierend zum Verhältnis Regierung – Parlament Seiler, Gewaltenteilung, S. 275–279. 365 Zur Kontrollbedürftigkeit der Rechtsprechung allgemein Seiler, Gewaltenteilung, S. 280. 366 Vgl. die Definition bei Gröpl, Staatsrecht I, Rn. 88, 895.

F. Überblick über verschiedene Elemente der Gewaltenteilung  

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die Organisationsstruktur und die anwendbaren Verfahren der Organe selbst anknüpft, bezieht sich das vierte Element auf die einzelnen Personen, die die Organe besetzen.367 Machte die Gewaltenteilung nicht auch Vorgaben für die Besetzung der Organe durch die Organwalter, könnte die Idee des pluralen institutionellen Systems ad absurdum geführt werden, wenn zwar zwischen Organen unterschieden würde, diese aber nicht durch unterschiedliche Personen besetzt würden368 beziehungsweise die Organwalter ihren Aufgaben nicht sinnvoll nachkommen könnten. Die personelle Gewaltenteilung ist somit eine notwendige Ergänzung der institutionellen Gewaltenteilung. 1. Inkompatibilitätsvorschriften Ein wichtiger Aspekt eines gewaltengeteilten Systems sind Inkompatibilitätsvorschriften, welche die gleichzeitige Mitgliedschaft in zwei unterschiedlichen Organen verbieten. Sinn von Inkompatibilitätsvorschriften ist es, die vorgesehene Kontrolle nicht dadurch zu verhindern, dass die Gewalt letztlich doch in der Hand einer Person liegt.369 Die Gewaltenteilung verbietet nicht grundsätzlich die Mitgliedschaft in zwei Organen. Maßgeblich ist, ob die Zuständigkeitsordnung mit ihren individuellen Regelungen in der Lage ist, die Aufgaben der Gewaltenteilung zu erfüllen. Dies hängt vom Verhältnis der Organe zueinander und der in der Zuständigkeitsordnung vorgesehenen institutionellen Interaktion ab.370 Die rechtsordnungsübergreifende richterliche Unabhängigkeit führt beispielsweise häufig zu Inkompatibilitätsregeln für Richter,371 weil diese ihre Entscheidungen allein auf Grundlage des Gesetzes und nicht etwa unter politischem Einfluss treffen sollen. Sehr unterschiedlich sind hingegen im europäischen Vergleich die Regelungen über die gleichzeitige Mitgliedschaft in Parlament und Regierung – während diese in einigen Ländern explizit notwendig ist, ist sie andernorts verboten; in einigen Fällen gibt es, wie in Deutschland, keine Regelung.372

367

Vgl. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 88; Maurer, Staatsrecht I, § 12 Rn. 25. Seiler, Gewaltenteilung, S. 381. 369 Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 264; Maurer, Staatsrecht I, § 12 Rn. 1; Seiler, Gewaltenteilung, S. 381. 370 Seiler, Gewaltenteilung, S. 382–383. 371 Haller / Kölz / Gächter, Allgemeines Staatsrecht, Rn. 958; Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 12 Rn. 41; zusammenfassend für die Verfassungsrichter mittel- und osteuropäischer Staaten Luchterhandt, Generalbericht, in: Luchterhandt / Starck / Weber, Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und Osteuropa, S. 295 (306); für westeuropäische Staaten Weber, Generalbericht, in: Starck / Weber, Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, S. 313 (324). 372 Classen, Nationales Verfassungsrecht in der EU, Rn. 485–486. 368

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

2. Statusrechte Der Bereich der personellen Gewaltenteilung sollte nicht auf Inkompatibilitätsvorschriften begrenzt werden. Auch die Statusrechte der Organwalter sind als Teil der Zuständigkeitsordnung für die Gewaltenteilung zu beachten. So sichert beispielsweise die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter die Möglichkeit der unvoreingenommenen Kontrolle durch die Gerichte ab.373 Müssten die Richter persönliche Nachteile aufgrund ihrer Entscheidungen befürchten, könnten die Gerichte ihrer Kontrollfunktion nicht mehr nachkommen. Gleichfalls bewirkt die Weisungsfreiheit der Abgeordneten, etwa Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG, dass die Parlamente mit ihren Entscheidungen tatsächlich eine Repräsentationsfunktion übernehmen. Der Status der Organwalter definiert deren institutionelle Rolle und damit mittelbar die Rolle des Organs, dem sie angehören. Statusrechte wie die Weisungsfreiheit und Immunität der Abgeordneten sowie die Unabsetzbarkeit der Richter dienen außerdem der institutionellen Absicherung der Organwalter, sodass diese die ihnen qua Zuständigkeitsordnung zugeschriebene Aufgabe erfüllen können, ohne sich dabei Sorge um ihren eigenen Status und die Auswirkungen ihrer Entscheidung auf ihre persönlichen Verhältnisse machen zu müssen. 3. Besetzungs- und Ernennungsverfahren Schließlich regelt eine Zuständigkeitsordnung auch, wie die ihr angehörenden Organe besetzt und die Organwalter ernannt werden. Sofern ein Organ nicht unmittelbar vom Volk gewählt wird – und dies ist in der Regel bei den Parlamenten374 und möglicherweise bei den Staatspräsidenten375 der Fall –, sind an dem Besetzungsverfahren andere hoheitliche Organe beteiligt. Die für die Besetzung und Ernennung zuständigen Organe werden hierzu durch die Zuständigkeitsordnung ermächtigt. Durch die personelle Auswahlentscheidung können die Organe inhaltlichen Einfluss auf die zukünftigen Entscheidungen des neu besetzten Organs nehmen. Dies zeigt sich insbesondere bei der Wahl oder Bestätigung einer Regierung oder eines Regierungschefs durch das Parlament.376 Die von der Mehrheit gewählte Regierung wird in der Regel auch inhaltliche Entscheidungen treffen, welche mehrheitsfähig 373

Haller / Kölz / Gächter, Allgemeines Staatsrecht, Rn. 935–946. Classen, Nationales Verfassungsrecht in der EU, Rn. 327; Grewe / Ruiz Fabri, Droits constitutionnels européens, Rn. 305; Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 7 Rn. 34. 375 Siehe für einen Überblick der europäischen Staaten, in denen das Staatsoberhaupt direkt gewählt wird Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 10 Rn. 5; Classen, Nationales Verfassungsrecht in der EU, Rn. 517. 376 Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 266–267. Für einen Überblick der verschiedenen Möglichkeiten zur Bestellung einer Regierung Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 9 Rn. 106–113. 374

G. Fazit und Ausgangspunkt der Untersuchung  

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sind. Die Regierung bleibt auf die Unterstützung des Parlaments angewiesen und unterliegt gleichzeitig dessen Kontrolle.377 Soll hingegen die spätere Tätigkeit eines Organwalters, etwa eines Richters, unabhängig sein, so muss die Zuständigkeitsordnung einen Besetzungsmodus finden, welcher nicht derart nachwirkt, dass der Organwalter in seinen inhaltlichen Entscheidungen durch das Besetzungsorgan beeinflusst wird.378 In diesem Fall muss das Besetzungs- und Ernennungsverfahren die relative Trennung des Besetzungsorgans vom Entscheidungsorgan gewährleisten.

G. Fazit und Ausgangspunkt der Untersuchung: Gewaltenteilung als ausgestaltungsbedürftiges Organisationsprinzip Die Rechtsprechungsanalyse in den folgenden Kapiteln zielt darauf ab, aus den Normen der EMRK Vorgaben für die Staatsorganisation in den Konventionsstaaten zu ermitteln. Das Ergebnis der Analyse beruht also auf positivem, die Konventionsstaaten verpflichtendem Recht, folglich wird hier verfassungsdogmatisch vorgegangen. Gleichwohl wird das Ergebnis weniger konkret sein müssen als bei der typischen verfassungsdogmatischen Untersuchung im Rahmen der Gewaltenteilungslehre, der Analyse eines staatlichen Gewaltenteilungssystems. Denn die EMRK macht Vorgaben für die Verfassungsordnungen aller Konventionsstaaten, unter welchen präsidiale und parlamentarische Demokratien, Monarchien und Republiken, mono- und bikamerale Systeme, mit oder ohne separatem Verfassungsgericht vertreten sind und die ihrerseits jeweils individuelle Erscheinungsformen der Gewaltenteilung aufweisen. Diese Vorgaben ermittelt der EGMR, indem er subjektive Menschenrechte auslegt, nicht aus Organisationsnormen. Die Vorgaben der EMRK leiten sich also aus subjektiven Menschenrechten ab, nicht aus ausdifferenzierten institutionellen Vorschriften. Die EMRK kann daher nicht mehr vorgeben als einen institutionellen Rahmen, innerhalb dessen alle – rechtsstaatlichen und demokratischen – Konventionsstaaten ihre individuellen Verfassungsordnungen ausgestalten und erhalten können. Um diesen Rahmen beschreiben zu können, muss ein verfassungstheoretisches Vorverständnis der Gewaltenteilung geschaffen werden. Ein an einem konkreten 377

Zum Verhältnis zwischen Parlament und Regierung in der parlamentarischen Demokratie Stern, Staatsrecht, Bd. 1, S. 956, 959, 966–967; Classen, Nationales Verfassungsrecht in der EU, Rn. 485–497; bezogen auf das GG Maurer, Staatsrecht I, § 12 Rn. 19; Badura, Das parlamentarische Regierungssystem, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 2, § 25 Rn. 10–19. 378 Siehe zum schwierigen Zusammenhang zwischen Ernennungsverfahren und anschließender richterlicher Unabhängigkeit CCJE, Opinion No. 1 on Standards concerning the Independence of the Judiciary and the Irremovability of Judges, 23.11.2001, §§ 17–45; ein Überblick über verschiedene Ernennungsverfahren bei Venedig-Kommission, CDL-AD(2007)028, ­Report on Judicial Appointments, angenommen am 16.–17.03.2007, §§ 4–26.

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Kap. 1: Der Untersuchungsgegenstand: Gewaltenteilung als Konzept 

Verfassungssystem orientiertes verfassungsdogmatisches Verständnis würde im Fortgang der Arbeit nur den Abgleich der Gewaltenteilung nach der EMRK mit dem konkreten System erlauben. Genauso wenig wird jedoch der Abgleich mit einem umfassenden theoretischen Gewaltenteilungskonzept zur gewünschten Erkenntnis führen, denn auch hier könnte die Untersuchung lediglich feststellen, ob die Vorgaben der EMRK dem theoretischen Konzept entsprechen. Zielführender ist es daher, den Grundgedanken der Gewaltenteilung anhand verschiedener Parameter zu umschreiben und zu dekonstruieren. Für diese Arbeit wird Gewaltenteilung verstanden als ein Verfassungsprinzip, welches mittels einer Zuständigkeitsordnung konkretisiert wird und drei in einem Spannungsverhältnis zueinander stehende Aufgaben in Einklang bringt: Begrenzung, Mäßigung und Kontrolle von Hoheitsgewalt, die Teilnahme der Bürger an und ihre Repräsentation bei der Ausübung von Hoheitsgewalt sowie die effektive und sachgemäße Ausübung von Hoheitsgewalt. Diese drei Aufgaben dienen wiederum der persönlichen Freiheitsverwirklichung der Bürger, dem die moderne Staatslehre prägenden Staatszweck. Dem Grundgedanken der Gewaltenteilung können vier Elemente entnommen werden: Die Funktionenunterscheidung, die institutionelle Pluralität, die Zuordnung hoheitlicher Tätigkeiten zu den verschiedenen Organen sowie der Status der Organwalter. Die Unterscheidung dieser Elemente erleichtert es, einzelne Erscheinungsformen der Gewaltenteilung ausfindig zu machen, die jeweils an eines der Elemente anknüpfen. Die bisherige Forschung zeigt, dass vor allem die trennscharfe Abgrenzung der drei Funktionen von Hoheitsgewalt Schwierigkeiten bereitet. Weil eine typisierte Funktionenunterscheidung allein nicht aussagekräftig ist und daher höchstens herangezogen werden dürfte, wenn die Zuständigkeitsordnung uneindeutig ist, muss Gewaltenteilung daher vorrangig als Zuordnung von einzelnen Kompetenzen zu unterschiedlichen Organen verstanden werden. Die Ratio der Zuordnung orientiert sich an den vorher ausgemachten Aufgaben der Gewaltenteilung. Die Beziehungen zwischen zwei Organen bei der Ausübung einer hoheitlichen Tätigkeit sind entweder als Trennung, Zusammenarbeit oder (üblicherweise nachträgliche) Kontrolle ausgestaltet. Die organisatorische Gewaltenteilung (welche nicht nur mehrere Organe vorsieht, sondern auch eine Pluralität der Organe bei der Besetzung, Zusammensetzung und den anwendbaren Verfahren) und die Zuordnung von Kompetenz zu Organ werden durch die personelle Gewaltenteilung ergänzt. Die Aufspaltung des Prinzips in vier Elemente macht die Suche nach konkreten Ausprägungen „der Gewaltenteilung“ handhabbar. Eine umfassende Analyse der in der Rechtsprechung formulierten Vorgaben der EMRK für die Gewaltenteilung in den Konventionsstaaten bezieht alle vier theoretischen Elemente ein. Gesucht werden kann einerseits nach der Erwähnung der drei Funktionen, andererseits nach in der EMRK oder der Rechtsprechung erwähnten staatlichen Organen und schließlich nach deren Tätigkeiten und personeller Besetzung.

Kapitel 2

Der Begriff der Gewaltenteilung (the notion of separation of powers) in der Rechtsprechung des EGMR Zu Beginn der Rechtsprechungsanalyse anhand der verschiedenen Gewaltenteilungselemente steht jedoch ein Überblick darüber, in welchen Urteilen der EGMR selbst die Gewaltenteilung als Argument heranzieht, um einen ersten Eindruck davon zu erhalten, wie der EGMR diesen Begriff versteht. Anders als das Demokratieprinzip und die rule of law wird die Gewaltenteilung weder in den Normen der EMRK noch in ihrer Präambel erwähnt. Der EGMR sprach dennoch in mehreren Urteilen  – ohne ausdrückliche Anknüpfung am Wortlaut der Konvention – the notion of separation of powers an, sodass das Gewaltenteilungsprinzip in gesicherter Rechtsprechung anerkannt ist.379 Der EGMR verwendete den Begriff der Gewaltenteilung bereits im Rahmen einer Prüfung von Art. 5 Abs. 1 EMRK,380 Art. 6 Abs. 1 EMRK,381 Art. 8 EMRK,382 Art. 10 EMRK383 und Art. 3 ZP384. Allein aus der Erwähnung dieses Verfassungsprinzips geht noch nicht hervor, was der EGMR unter Gewaltenteilung versteht. Gleichwohl dient die Zusammenschau aller auf die Gewaltenteilung Bezug nehmenden Urteile und Beschlüsse als erste Annäherung an das Gewaltenteilungsverständnis des EGMR und gibt einen Überblick über die Reichweite des Begriffs.385

379

Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33 (33). Vgl. auch Popović, ECtHR and the Concept of Separation of Powers, in: Prabhakar, The Separation of Powers, S. 194: „[T]he concept of separation of powers […] found a particular place in the case-law of the ECHR.“ 380 EGMR Nr. 46295/99, Stafford v Vereinigtes Königreich (GK), 28.05.2002, § 78; Nr. 12778/17, Alparslan Altan v Türkei, 16.04.2019, § 102; Nr. 66448/17, Baş v Türkei, 03.03.2020, § 144. 381 Siehe u. a. EGMR Nr. 35373/97, A v Vereinigtes Königreich, 17.12.2002, § 77; Nr. 39343/98 u. a., Kleyn u. a. v Niederlande (GK), 06.05.2003, § 193; Nr. 65411/01, Sacilor Lormines v Frankreich, 09.11.2006, § 59. 382 EGMR Nr. 14832/11, Hoon v Vereinigtes Königreich (Zul.), 13.11.2014, § 36. 383 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 165; Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 138. 384 EGMR Nr. 35584/02, Guliyev v Aserbaidschan (Zul.), 27.05.2004; Nr. 38707/04, Krivobokov v Ukraine (Zul.), 19.02.2013. Bei EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 48 wird von division of powers gesprochen. 385 Im Folgenden werden alle Urteile und Beschlüsse aufgeführt, in denen der EGMR selbst in seinen materiell-rechtlichen Urteilsbegründungen (The Law) von Gewaltenteilung spricht.

106

Kap. 2: Der Begriff der Gewaltenteilung in der Rechtsprechung des EGMR

A. Erstmals: Stafford v Vereinigtes Königreich und A v Vereinigtes Königreich I. Stafford v Vereinigtes Königreich Im Urteil Stafford v Vereinigtes Königreich verwendete der EGMR den Begriff der Gewaltenteilung erstmals in seinen Entscheidungsgründen.386 Gegenstand des Verfahrens war die Weigerung des Innenministers (Home Secretary), eine lebenslange Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers (erneut) zur Bewährung auszusetzen, nachdem dieser eine zweite Haftstrafe wegen Fälschung von Bankschecks und Ausweisdokumenten verbüßt hatte. Der Beschwerdeführer machte eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK geltend.387 Der EGMR stellte eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK fest,388 weil ein ausreichender kausaler Zusammenhang zwischen dem auslösenden Delikt und der Strafe fehlte, den Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a) EMRK verlangt.389 Im Zentrum des Falls stand die Frage, ob es sich bei der Entscheidung des Home Secretary um die Festlegung einer Strafe handelte, die gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a) EMRK allein von Gerichten getroffen werden darf: „[W]ith the wider recognition of the need to develop and apply, in relation to mandatory life prisoners, judicial procedures reflecting standards of independence, fairness and openness, the continuing role of the Secretary of State in fixing the tariff and in deciding on a prisoner’s release following its expiry has become increasingly difficult to reconcile with the notion of separation of powers between the executive and the judiciary, a notion which has assumed growing importance in the case-law of the Court (see, mutatis mutandis, Incal v. Turkey […]).“390 Es wird hingegen nicht weiter auf solche gerichtlichen Entscheidungen eingegangen, in denen der Begriff der Gewaltenteilung allein in den relevanten Normen genannt ist, in denen eine Partei sich auf die Gewaltententeilung beruft oder ein Richter in einem Sondervotum auf die Gewaltenteilung eingeht. 386 Ausführlich hierzu Le Bonniec, RFDC 106 (2016), S. 335 (340–341); Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33 (33) sowie ab S. 39 ausführlich zu diesem Urteil. 387 Zum Sachverhalt und dem relevanten nationalen Recht EGMR Nr. 46295/99, Stafford v Vereinigtes Königreich (GK), 28.05.2002, §§ 10–49. Der Beschwerdeführer war zunächst zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes verurteilt worden. Entsprechend dem britischen Recht legt der zur Regierung gehörige Home Secretary einen „Tarif“ fest, wie lange der Verurteilte mindestens zwecks Vergeltung und Abschreckungseffekt im Gefängnis bleiben muss. Anschließend kann eine lebenslange Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn nicht der Schutz der Bevölkerung eine Haft weiterhin rechtfertigt. Nachdem der Beschwerdeführer aufgrund dieser Regelung aus dem Gefängnis entlassen worden war, wurde er zu zwei weiteren Haftstrafen verurteilt. Nach dem Ende dieser Haftstrafen stellte er erneut einen Antrag auf Freilassung auf Bewährung. Die Erlaubnis wurde ihm vom Home Secretary versagt, obwohl das Parole Board eine Freilassung befürwortet hatte. 388 EGMR Nr. 46295/99, Stafford v Vereinigtes Königreich (GK), 28.05.2002, § 83. 389 EGMR Nr. 46295/99, Stafford v Vereinigtes Königreich (GK), 28.05.2002, §§ 64, 81. 390 EGMR Nr. 46295/99, Stafford v Vereinigtes Königreich (GK), 28.05.2002, § 78 (Hervorhebungen durch Verfasserin). Dem mit anderen Formulierungen, aber gleichfalls mit Rückgriff auf die Gewaltenteilung folgend EGMR Nr. 28212/95, Benjamin und Wilson v Vereinigtes König­ reich, 26.09.2002, § 36; Nr. 48015/99, Easterbrook v Vereinigtes Königreich, 12.06.2003, § 28.

A. Stafford v Vereinigtes Königreich und A v Vereinigtes Königreich

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Das Gericht erkannte im Stafford-Urteil also erstmals ausdrücklich eine Gewaltenteilung zwischen Judikative und Exekutive als Verfassungsprinzip sowie dessen Verbindung zur Rechtsstaatlichkeit und zum Schutz vor willkürlichen Entscheidungen an. Im konkreten Fall nahm der Innenminister als Organ der Exekutive eine nach der EMRK allein den Gerichten zustehende Aufgabe wahr, die Feststellung des Strafmaßes. Der Hinweis auf die steigende Bedeutung des Verfassungsprinzips mag für den Rezipienten missverständlich so klingen, als füge sich das StaffordUrteil in eine lange Rechtsprechungslinie, welche die Gewaltenteilung schon in früheren Urteilen adressiert hatte. Dies war aber nicht der Fall. In den früheren Urteilen, die das tariff fixing durch den Home Secretary zum Gegenstand hatten, entschied der EGMR ohne ausdrücklichen Rückgriff auf die Gewaltenteilung.391

II. Der Rückgriff des EGMR auf das Incal-Urteil Das Urteil Incal v Türkei392 war der einzige Nachweis des EGMR in Stafford v Vereinigtes Königreich für die steigende Bedeutung der Gewaltenteilung – mutatis mutandis und ohne eine genaue Randnummer.393 Der Beschwerdeführer Incal machte eine Verletzung von Art. 10 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend, nachdem ihm und seiner Partei die Veröffentlichung eines Flugblattes untersagt worden war und er sich wegen des Inhalts des Flugblatts strafrechtlich verantworten musste.394 Der EGMR stellte eine Verletzung des Rechts auf ein faires gerichtliches Verfahren aus Art. 6 Abs. 1 EMRK fest, weil der zuständige National Security Court neben ordentlichen Richtern auch mit einem Militärrichter besetzt war. Dieser wurde der Exekutive zugeordnet und war daher weisungsgebunden, unterstand der Militärdisziplin und hatte eine vierjährige Amtszeit, die verlängert werden konnte. Daher konnte der Beschwerdeführer aus legitimen Gründen befürchten, dass das Gericht nicht unabhängig und unparteilich besetzt war.395 Außerdem lag eine Verletzung von Art. 10 Abs. 1 EMRK vor, weil die Behörde aufgrund des Genehmigungsverfahrens für Flugblätter vor der Anklage des Beschwerdeführers die Möglichkeit gehabt hätte, Änderungen des Flugblatt-Inhalts zu verlangen, statt die Verbreitung des Flugblatts zu untersagen.396 Durch die Globalverweisung des Stafford-Urteils auf das Incal-Urteil stellte der EGMR nicht eindeutig klar, auf welche der beiden Fallgestaltungen er sich stützte. Vieles spricht aber dafür, dass der Gerichtshof sich auf die unzulässige Beteiligung 391 EGMR Nr. 24724/94, T v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.1999; Nr. 24888/94, V v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.1999; ausführlich zu dieser Rechtsprechungslinie unten ab S. 453. 392 EGMR Nr. 22678/93, Incal v Türkei (GK), 09.06.1998. 393 Siehe das Zitat zu Fn. 390. 394 EGMR Nr. 22678/93, Incal v Türkei (GK), 09.06.1998, §§ 13–14. 395 EGMR Nr. 22678/93, Incal v Türkei (GK), 09.06.1998, §§ 68–73. 396 EGMR Nr. 22678/93, Incal v Türkei (GK), 09.06.1998, §§ 55, 59.

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Kap. 2: Der Begriff der Gewaltenteilung in der Rechtsprechung des EGMR

von Militärrichtern an der strafgerichtlichen Entscheidung bezog. Entscheidungen über die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von Militärrichtern hatte der EGMR bereits häufiger getroffen.397 Dies könnte den Hinweis auf die steigende Bedeutung des Konzepts erklären. Die inhaltliche Parallele zum Stafford-Urteil liegt in der fehlenden Unabhängigkeit des Gerichts, weil weisungsgebundene und damit nicht unabhängige Amtsträger der Exekutive judikative Entscheidungen trafen. Die erste vom EGMR identifizierte Fallgruppe der Gewaltenteilung war also die Unvereinbarkeit von weisungsgebundenen, dem militärischen Befehl unterstehenden Militärrichtern mit der nach Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährleisteten Unabhängigkeit eines Gerichts.398

III. A v Vereinigtes Königreich Im gleichen Jahr des Stafford-Urteils 2002 entschied der Gerichtshof auch die Sache A v Vereinigtes Königreich, in welcher er die parlamentarische Immunität von Abgeordneten als Aspekt der Gewaltenteilung im Verhältnis zwischen der Legislative und der Judikative klassifizierte, dabei aber nicht ausdrücklich auf das Stafford-Urteil Bezug nahm.399 In einer parlamentarischen Debatte hatte ein Abgeordneter die Beschwerdeführerin, unter Nennung ihres Namens und ihrer genauen Adresse, als neighbour from hell bezeichnet und sie des Drogenkonsums, Vandalismus und der Gewalttätigkeit bezichtigt. Wegen seiner parlamentarischen Immunität stand der Beschwerdeführerin kein Weg zu einem innerstaatlichen Gericht offen.400 Die parlamentarische Immunität diente dem legitimen Ziel, die freie Meinungsäußerung im Parlament zu schützen und die Gewaltenteilung zwischen der Legislative und der Judikative zu erhalten.401 Insgesamt acht Staaten nutzten die Möglichkeit der Stellungnahme gemäß Art. 36 Abs. 2 EMRK im Verfahren vor dem EGMR.402 Dies deutet bereits darauf hin, dass die Staaten Auswirkungen auf ihre eigene Regelung der parlamentarischen Immunität befürchteten. Im Ergebnis war die Individualbeschwerde unbegründet. Durch das Urteil erweiterte sich das Spektrum der Sachverhalte, die das Konzept der Gewaltenteilung betreffen, und umfasste nicht mehr ausschließlich die gerichtliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit.

397

EGMR Nr. 19601/92, Çıraklar v Türkei, 28.10.1998, §§ 37–41; Nr. 29279/95, Şahiner v Türkei, 25.09.2001, §§ 33–47. 398 Siehe hierzu ausführlich ab S. 723. 399 EGMR Nr. 35373/97, A v Vereinigtes Königreich, 17.12.2002, § 77. 400 EGMR Nr. 35373/97, A v Vereinigtes Königreich, 17.12.2002, §§ 11–20. 401 EGMR Nr. 35373/97, A v Vereinigtes Königreich, 17.12.2002, § 77; Masterman, Separation of Powers, S. 60–61; Le Bonniec, RFDC 106 (2016), S. 335 (341–342). 402 EGMR Nr. 35373/97, A v Vereinigtes Königreich, 17.12.2002, §§ 37–58.

B. Verhältnis zwischen Exekutive und Judikative    

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IV. Fazit In zwei voneinander unabhängigen Urteilen innerhalb des gleichen Jahres verwendete der EGMR erstmalig den Begriff der Gewaltenteilung in seinen Erwägungsgründen. In beiden Fällen setzte der EGMR die judikative Gewalt zu einer politischen Gewalt in Beziehung. In der Sache Stafford v Vereinigtes Königreich schützte der EGMR eine allein der Judikative zustehende Entscheidung, die Festlegung einer Strafe, vor exekutivem Einfluss. In A v Vereinigtes Königreich begrenzte der EGMR die Zuständigkeit der Gerichte, indem ihnen eine Entscheidung über die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines Abgeordneten für eine Äußerung im Parlament entzogen wurde. In beiden Fällen durfte sich eine Gewalt nicht in die Kerntätigkeit einer anderen Gewalt einmischen.403

B. Verhältnis zwischen Exekutive und Judikative    Da der EGMR die Gewaltenteilung als Konzept einführte, welches das Verhältnis verschiedener Gewalten zueinander ausgestaltet, wird die übrige Rechtsprechung, in denen der Gerichtshof diesen Begriff erwähnt, anhand der Verhältnisse zwischen den einzelnen Funktionen Legislative, Exekutive und Judikative dargestellt. Was der EGMR unter diesen Begriffen versteht, definiert er genauso wenig wie die Gewaltenteilung an sich. In der Regel erwähnt der EGMR jedoch, um welches Verhältnis es sich handelt. Ist dies nicht der Fall, wird für die Einordnung der einzelnen Urteile vorliegend von einem typisierten Funktionsverständnis ausgegangen:404 Die Legislative ist die gesetzgebende, die Exekutive die rechtsanwendende und staatsleitende und die Judikative die rechtsprechende Gewalt. Die meisten bisher entschiedenen Sachverhaltsvarianten betrafen das Verhältnis zwischen der Judikative und der Exekutive. Die Aussagen des EGMR ähnelten sich dabei zunächst stark und stützten sich sowohl auf das Stafford-Urteil als auch auf das Urteil in der Sache Kleyn v Niederlande. Seit 2019 verändert sich die Bedeutung der Gewaltenteilung in der EGMR-Rechtsprechung.

I. Kleyn v Niederlande In der Sache Kleyn war der niederländische Staatsrat (Raad van State) zunächst beratend im Gesetzgebungsverfahren des Transport-Infrastruktur-Planungsgesetzes (Transport Infrastructure Planning Bill) tätig geworden und hatte Verbesserungsvorschläge geäußert. Anschließend wurde er in seiner Funktion als Ver 403 Siehe ausführlich zu den beiden sich aus den Urteilen ergebenden Rechtsprechungslinien Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33 (39–56). 404 Siehe hierzu oben ab S. 78.

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Kap. 2: Der Begriff der Gewaltenteilung in der Rechtsprechung des EGMR

waltungsgericht angerufen, um über die Rechtmäßigkeit einer auf Grundlage des Gesetzes ergangenen Planungsentscheidungen zu urteilen.405 Trotz seiner beratenden Rolle im Gesetzgebungsverfahren ordnete der EGMR den Staatsrat im konkreten Fall als unabhängiges und unparteiliches Gericht ein, weil die gerichtliche Entscheidung und die beratende Stellungnahme nicht „den gleichen Fall“ beziehungsweise „die gleiche Entscheidung“ betrafen  – die Stellungnahme im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses war nicht auf die konkrete Streckenführung eingegangen, welche von den Beschwerdeführern angegriffen wurde.406 Der Gerichtshof leitete seine Erwägungen mit dem aus dem StaffordUrteil bekannten Zitat ein und ergänzte: „Although the notion of the separation of powers between the political organs of government and the judiciary has assumed growing importance in the Court’s case-law […], neither Article  6 nor any other provision of the Convention requires States to comply with any theoretical constitutional concept regarding the permissible limits of the powers interaction. The question is always, whether, in any given case, the requirements of the Convention are met.“407

Der EGMR erläuterte nicht, warum er die beratende Funktion des Staatsrates im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens als exekutive und nicht als legislative Funktion einordnete.408 Grund könnte das Ernennungsverfahren gewesen sein: Die Mitglieder wurden durch königlichen Erlass nach einem Vorschlag des Innenministers bei Zustimmung des Justizministers ernannt.409 Unter ihnen befanden sich Politiker, hohe Beamte, Richter und Akademiker.410 Trotz ihrer steigenden Bedeutung ist der Gerichtshof also grundsätzlich zurückhaltend, aus der Gewaltenteilung Vorgaben an die Konventionsstaaten abzuleiten. Ausschlaggebend für seine Entscheidungen sind nach diesem Zitat nicht die Gewaltenteilung als solche, sondern die Anforderungen aus den jeweils einschlägigen Konventionsrechten. Gleichzeitig zeigt das Zitat, dass der EGMR keine strikte Gewaltentrennung verlangt, da er institutionelle Interaktion jedenfalls in Grenzen (permissible limits of the powers interaction) für zulässig hält.

405

EGMR Nr. 39343/98 u. a., Kleyn u. a. v Niederlande (GK), 06.05.2003, §§ 20–31, 60–88. EGMR Nr. 39343/98 u. a., Kleyn u. a. v Niederlande (GK), 06.05.2003, §§ 199–202. 407 EGMR Nr. 39343/98 u. a., Kleyn u. a. v Niederlande (GK), 06.05.2003, § 193, der sich orientiert an EGMR Nr. 28488/95, McGonnell v Vereinigtes Königreich, 08.02.2000, § 51. 408 Dass dies trotz der offenen Formulierung political organs of government aber der Fall ist, zeigt ein Blick in die französische Übersetzung des Urteils, die von pouvoir exécutif spricht. Die beratende Funktion (§ 198) muss also vom EGMR als exekutive Tätigkeit eingeordnet werden. 409 EGMR Nr. 39343/98 u. a., Kleyn u. a. v Niederlande (GK), 06.05.2003, § 126. 410 EGMR Nr. 39343/98 u. a., Kleyn u. a. v Niederlande (GK), 06.05.2003, § 128. 406

B. Verhältnis zwischen Exekutive und Judikative    

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II. Die Bestätigung der Kleyn-Rechtsprechung Die zitierte Formulierung aus dem Kleyn-Urteil wiederholte der EGMR mehrfach in Abgrenzungsfragen zwischen Exekutive und Judikative. – Sacilor Lormines v Frankreich betraf eine mit der Sache Kleyn v Niederlande vergleichbare Fallgestaltung, diesmal bezogen auf den französischen Conseil d’État. Trotz doppelter Beteiligung des Staatsrates im Gesetzgebungsverfahren und als Gericht lag keine Verletzung des Rechts aus Art. 6 Abs. 1 EMRK vor, weil die zu entscheidenden Fragen nicht den gleichen Fall beziehungsweise die gleiche Entscheidung betrafen.411 In den Sachen Union fédérale des Consommateurs Que Choisir de Côte d’Or v Frankreich sowie Escoffier v Frankreich waren die Beschwerden offensichtlich unbegründet, weil es keine personellen Überschneidungen zwischen der für die gerichtliche Entscheidung zuständigen Kammer und den an der Stellungnahme beteiligten Personen gab.412 – Ebenfalls in der Sache Sacilor Lormines v Frankreich erkannte der EGMR mit Verweis auf die Gewaltenteilung413, dass die gerichtliche Kammer des Staatsrats kein unabhängiges Erscheinungsbild aufwies: Eines der Mitglieder des Conseil d’État wechselte kurz nach Ende des gerichtlichen Verfahrens als Generalsekretär in das französische Wirtschaftsministerium, welches als Klagegegner am Verfahren beteiligt gewesen war. Es konnte davon ausgegangen werden, dass die Verhandlungen über den Wechsel noch während des laufenden Gerichtsverfahrens begonnen hatten.414 Der EGMR ordnete den Conseil d’État innerhalb der französischen Institutionen ohne nähere Begründung als ein exekutives Organ ein.415 – In der Sache Urban v Polen lehnte der EGMR die Unabhängigkeit einer Richterin auf Probe ab, die jederzeit und ohne weitere Voraussetzungen vom Justizminister abberufen werden konnte. Ein Rechtsweg gegen eine Abberufung stand ihr nicht offen.416 – Im Urteil Fruni v Slowakei stellte der EGMR fest, dass die Richter eines gesetzlich eingerichteten Spezialgerichts unabhängig waren, obwohl sie unter bestimm 411 EGMR Nr. 65411/01, Sacilor Lormines v Frankreich, 09.11.2006, §§ 71–74; ausführlich zur richterlichen Vorbefassung im Rahmen der Staatsräte ab S. 562 sowie zur Gerichtsqualität von Staatsräten ab S. 737. 412 EGMR Nr. 39699/03, Union fédérale des Consommateurs Que Choisir de Côte d’Or v Frankreich (Zul.), 30.06.2009; Nr. 8615/08, Escoffier v Frankreich (Zul.), 08.03.2011. 413 EGMR Nr. 65411/01, Sacilor Lormines v Frankreich, 09.11.2006, § 64. 414 EGMR Nr. 65411/01, Sacilor Lormines v Frankreich, 09.11.2006, §§ 68–70; näher zur Frage, ob ein ehemaliger Organwalter der Exekutive in die Richterschaft wechseln darf S. 604. 415 EGMR Nr. 65411/01, Sacilor Lormines v Frankreich, 09.11.2006, § 66. 416 EGMR Nr. 23614/08, Henryk Urban and Ryszard Urban v Polen, 30.11.2010, § 53; zur Unabsetzbarkeit von Richtern ab S. 620 sowie zum Sonderfall des Richters auf Probe ab S. 629.

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Kap. 2: Der Begriff der Gewaltenteilung in der Rechtsprechung des EGMR

ten Voraussetzungen von exekutiven Organen abberufen werden konnten. Den Richtern stand gegen ihre Abberufung ein Rechtsbehelf zur Verfügung und die Urteile des Spezialgerichts konnten in weiteren Instanzen überprüft werden.417 – In der Sache Agrokompleks v Ukraine lag eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor, weil ein Gerichtspräsident nach mehreren Briefen von verschiedenen Mitgliedern der Regierung und des Parlaments der zuständigen Kammer seines Gerichts die Anweisung gab, ein Urteil zu überdenken.418 – Im Volkov-Urteil entsprachen die für die Entlassung eines Richters zuständigen Organe – der mehrheitlich politisch und nicht richterlich besetzte High Council of Justice sowie das Parlamentarische Komitee beziehungsweise das parlamentarische Plenum – nicht den Anforderungen eines unabhängigen und unparteilichen Gerichts.419 Ebenso entschied der EGMR in der Sache Saghatelyan v Armenien. Hier konnte die Beschwerdeführerin gegen die Entscheidung des Justizrates über ihre Entlassung keinen gerichtlichen Rechtsbehelf einlegen und war daher in ihrem Recht aus Art. 6 Abs. 1 EGMR verletzt.420 Auch der portugiesische Justizrat wurde im Leiturteil der Großen Kammer Ramos Nunes v Portugal nicht als Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK eingeordnet. Problematisch war in diesem Fall nicht die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Obersten Gerichts,421 sondern dessen Kontrollbefugnis über die Disziplinarentscheidung des Justizrates.422 – Durch die Sache Maktouf und Damjanović v Bosnien und Herzegowina bezog der EGMR den Modus der Richterernennung in die Gewaltenteilung ein: Die Beteiligung zweier vom Hohen Repräsentanten auf zwei Jahre ernannten Richter an der Entscheidung in der Kammer für Kriegsverbrechen im Staatsgerichtshof beeinträchtigte die Unabhängigkeit des Gerichts nicht.423 – In Thiam v Frankreich war der ehemalige französische Staatspräsident Sarkozy während seiner Amtszeit Prozesspartei in einem Zivilprozess. Als französischer Staatspräsident hatte er die Aufgabe, die Richter des zuständigen Gerichts zu ernennen und war zu Beginn des Prozesses außerdem Vorsitzender des für Disziplinarentscheidungen zuständigen Obersten Richterrates (Conseil supérieur de la magistrature). Der EGMR stellte keine Verletzung der richterlichen Unab 417

EGMR Nr. 8014/07, Fruni v Slowakei, 21.06.2011, §§ 139–149. EGMR Nr. 23465/03, Agrokompleks v Ukraine, 06.10.2011, § 138; zum Schutz vor äußerer Einflussnahme durch politische Organe ab S. 591. 419 EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, §§ 109–122; zu Richterräten als Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK unten ab S. 732. 420 EGMR Nr. 7984/06, Saghatelyan v Armenien, 20.10.2015, §§ 43–51. 421 EGMR Nr. 55391/13, 57728/13 und 74041/13, Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, §§ 144–165. 422 EGMR Nr. 55391/13, 57728/13 und 74041/13, Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, §§ 176–186, 193–215; siehe hierzu ausführlich ab S. 482. 423 EGMR Nr. 2312/08 und 34179/08, Maktouf und Damjanović v Bosnien und Herzegowina (GK), 18.07.2013, §§ 49–53; zur Richterernennung ab S. 520. 418

B. Verhältnis zwischen Exekutive und Judikative    

113

hängigkeit gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK fest, weil die Statusrechte die richterliche Unabhängigkeit ausreichend schützten.424 – Im Fall Anželika Šimaitienė v Litauen klagte die Beschwerdeführerin gegen ein präsidentielles Dekret, das ihre Entlassung anordnete.425 Der EGMR bestätigte die Linie aus Thiam v Frankreich auch in Fällen, in denen keine privaten Streitigkeiten mit dem Staatspräsidenten anhängig gemacht, sondern dessen hoheitliche Entscheidungen angegriffen werden. Obwohl der Staatspräsident die Richter ernannte und als Prozesspartei am Verfahren beteiligt war, war das zuständige Gericht unabhängig im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Auch die Tatsache, dass zwei der Richter, nachdem sie eine Entscheidung zugunsten des Staatspräsidenten getroffen hatten, anschließend mit dessen Beteiligung an das Oberste Gericht befördert wurden, verhinderten die richterliche Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit nicht, weil weitere Organe diese Beförderung vorschlugen und unterstützten, sodass eine Gefälligkeit ausgeschlossen werden konnte.426 – In der Sache Cosmos Maritime Trading and Shipping Agency v Ukraine ließ der EGMR offen, ob die gerichtliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dadurch verletzt war, dass der Präsident des zuständigen Gerichts Briefe an Transportminister, Premierministerin und Staatspräsident schrieb, um die rechtmäßige Abwicklung eines Insolvenzverfahrens, in welchem der Beschwerdeführer als Kläger auftrat, zu gewährleisten. Weil das Gerichtsverfahren in einem Gebäude stattfand, das kurz vor Beginn des Insolvenzverfahrens noch dem Schuldner gehört hatte, lag ein parteiliches Erscheinungsbild vor.427 Es ist bedeutungslos, dass der EGMR teils von der Gewaltenteilung zwischen executive and judiciary428 und teils von der Gewaltenteilung zwischen political organs of government and the judiciary429 sprach. Ein Blick in die französischen 424

EGMR Nr. 80018/12, Thiam v Frankreich, 18.10.2018, §§ 72–85. In diesem Fall sprach der EGMR zwar von der wachsenden Bedeutung der Gewaltenteilung, jedoch wiederholte der Gerichtshof den Zusatz aus dem Kleyn-Urteil, dass der EGMR den Staaten kein theoretisches Konzept vorgebe, nicht mehr. Dies entspricht der aktuellen Entwicklung der Gewaltenteilungsrechtsprechung, welche sogleich dargestellt wird. Wegen des engen inhaltlichen Zusammenhangs zur Sache Thiam v Frankreich wird das Urteil jedoch an dieser Stelle aufgeführt. 426 EGMR Nr. 36093/13, Anželika Šimaitienė v Litauen, 21.04.2020, §§ 81–84. 427 EGMR Nr. 53427/09, Cosmos Maritime Trading and Shipping Agency v  Ukraine, 27.06.2019, §§ 76–82. 428 EGMR Nr. 65411/01, Sacilor Lormines v Frankreich, 09.11.2006, § 59; Nr. 23465/03, Agrokompleks v Ukraine, 06.10.2011, § 131; Nr. 57774/13, Miracle Europe KFT v Ungarn, 12.01.2016, § 52. 429 EGMR Nr. 39343/98 u. a., Kleyn u. a. v Niederlande (GK), 06.05.2003, § 193; so auch z. B. EGMR Nr. 47221/99, Pabla Ky v Finnland, 22.06.2004, § 29; Nr. 23614/08, Henryk Urban and Ryszard Urban v Polen, 30.11.2010, § 46; Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 103; Nr. 8017/07, Fruni v Slowakei, 21.06.2011, § 139; Nr. 2312/08 und 34179/08, Maktouf und Damjanović v Bosnien und Herzegowina (GK), 18.07.2013, § 49; Nr. 80018/12, Thiam v Frankreich, 18.10.2018, § 62. 425

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Kap. 2: Der Begriff der Gewaltenteilung in der Rechtsprechung des EGMR

Fassungen der Urteile zeigt, dass die political organs of government mit pouvoir exécutif übersetzt wurden, sodass es sich hier um eine sprachliche Ungenauigkeit in den englischsprachigen Urteilen handelt. Im Ergebnis sprach der EGMR von der Gewaltenteilung zwischen Judikative und Exekutive, wenn er die Judikative vor unzulässigen Einflüssen und Einflussnahmen schützen wollte. In fast allen Fällen wurden Beeinträchtigungen der richterlichen Unabhängigkeit geprüft, die von Organen der Exekutive ausgingen.430 Das Vorgehen des Gerichtshofs war in allen Urteilen vergleichbar: Er erwähnte die Gewaltenteilung, relativierte aber gleichzeitig ihre Bedeutung, weil er kein theoretisches Konzept zugrunde legte beziehungsweise legen wollte. Ausschlaggebend für die Entscheidungen in der Sache waren stets die Wertungen des geprüften Konventionsrechts, in der Regel des Rechts auf ein unabhängiges Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK.

III. Alparslan Altan v Türkei und Bilgen v Türkei In neuester Zeit fand die Gewaltenteilung in mehreren Urteilen gegen die Türkei bezüglich ihres Umgangs mit Richtern nach dem Putschversuch 2016 Erwähnung. Die Beschwerdeführer – Richter türkischer Gerichte, in einem Fall der ehemalige Vizepräsident des türkischen Verfassungsgerichts – wurden unmittelbar nach den Ausschreitungen suspendiert und in Untersuchungshaft genommen, weil ihnen die Mitgliedschaft in der für den Putschversuch verantwortlich gemachten Gülen-­ Bewegung vorgeworfen wurde.431 Erstmals seit Stafford v Vereinigtes Königreich war die Gewaltenteilung wieder im Kontext des Art. 5 Abs. 1 EMRK relevant. Im Vergleich zu den früheren Urteilen räumte der EGMR der Gewaltenteilung in Alparslan Altan v Türkei und Baş v Türkei eine größere Bedeutung ein.

430

Eine Ausnahme ist Agrokompleks v Ukraine. Dort ging es neben der Einflussnahme durch Organe der Exekutive auch um die Einflussnahme von Mitgliedern des Parlaments auf die gerichtlichen Entscheidungen. In der Sache Ramos Nunes v Portugal ging es um das Verhältnis zwischen dem Richterrat und dem Obersten Gericht, insbesondere vor dem Hintergrund, dass auch die Richter des Obersten Gericht der vom Justizrat ausgeübten Disziplinargewalt unterworfen waren. Der EGMR spezifizierte nicht, welches für die Gewaltenteilung relevante funktionale Verhältnis er zwischen dem Justizrat und dem Obersten Gericht sah. Somit bleibt unklar, ob der EGMR den Justizrat als Organ der Exekutive oder der Judikative einordnet – in letzterem Fall handelte es sich hier um einen Aspekt der innerfunktionalen Gewaltenteilung innerhalb der Judikative. In Cosmos Maritime Trading and Shipping Agency v Ukraine wurde die Gewaltenteilung zwar in den generellen Prinzipien als Aspekt der richterlichen Unabhängigkeit erwähnt, anschließend prüfte der Gerichtshof allerdings einen Verstoß gegen die richterliche Unparteilichkeit; hierbei spielte die Gewaltenteilung keine Rolle. 431 EGMR Nr. 12778/17, Alparslan Altan v Türkei, 16.04.2019, §§ 6, 14, 16–17; Nr. 66448/17, Baş v Türkei, 03.03.2020, §§ 16, 21, 23; Nr. 75805/16 u. a., Turan u. a. v Türkei, 23.11.2021, §§ 2, 19–20.

B. Verhältnis zwischen Exekutive und Judikative    

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„The Court has on many occasions emphasised the special role in society of the judiciary, which, as the guarantor of justice, a fundamental value in a State governed by the rule of law, must enjoy public confidence if it is to be successful in carrying out its duties […]. This consideration, set out in particular in cases concerning the right of judges to freedom of expression, is equally relevant in relation to the adoption of a measure affecting the right to liberty of a member of the judiciary. In particular, where domestic law has granted judicial protection to members of the judiciary in order to safeguard the independent exercise of their functions, it is essential that such arrangements should be properly complied with. Given the prominent place that the judiciary occupies among State organs in a democratic society and the growing importance attached to the separation of powers and to the necessity of safeguarding the independence of the judiciary […], the Court must be particularly attentive to the protection of members of the judiciary when reviewing the manner in which a detention order was implemented from the standpoint of the provisions of the Convention.“432

Der EGMR wies nicht mehr darauf hin, dass der Konvention kein abstraktes Gewaltenteilungskonzept zugrunde liegt. Stattdessen betonte der EGMR, wie wichtig die Gewaltenteilung für die unabhängige Gerichtsbarkeit und den Schutz der Richter als Organwalter ist. Hierfür bediente sich der EGMR im konkreten Fall des Rechts der persönlichen Freiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 EMRK433, in anderen Fällen aber auch der Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 Abs. 1 EMRK434 und dem Recht auf Zugang zum einem unabhängigen und unparteilichen Gericht aus Art. 6 Abs. 1 EMRK435.436 Seit dem Urteil Bilgen v Türkei erwähnt der EGMR die Gewaltenteilung auch, wenn Richter vor dem EGMR ein Recht auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK einfordern, um sich gegen Disziplinarmaßnahmen zur Wehr zu setzen. Die Gewaltenteilung wurde sowohl im Rahmen der Eröffnung des Anwendungsbereichs als auch bei der Rechtfertigung eines Eingriffs in das Recht auf Zugang zum Gericht relevant. Der EGMR baute auf seiner Formulierung aus Alparslan Altan v Türkei auf und präzisierte die besondere Schutzbedürftigkeit der Mitglieder der Gerichtsbarkeit: „Given the prominent place that the judiciary occupies among State organs in a democratic society and the growing importance attached to the separation of powers and to the necessity

432

EGMR Nr. 12778/17, Alparslan Altan v Türkei, 16.04.2019, § 102; Nr. 66448/17, Baş v Türkei, 03.03.2020, § 144; inhaltsgleich EGMR Nr. 75805/16 u. a., Turan u. a. v Türkei, 23.11.2021, § 82. 433 Zum Schutz der persönlichen Freiheit von Richtern und der Relevanz für die innerstaatliche Gewaltenteilung ab S. 683. 434 Siehe hierzu bezogen auf das Verhältnis zwischen Legislative und Judikative das Urteil EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016; im Rahmen eines richterlichen Disziplinarverfahrens EGMR Nr. 965/12, Guz v Polen, 15.10.2020, § 84; ausführlich zum Schutz der richterlichen Meinungsfreiheit ab S. 641. 435 EGMR Nr. 50104/10 u. a., Svilengaćanin u. a. v Serbien, 12.01.2021, § 64; Nr. 1571/07, Bilgen v Türkei, 09.03.2021, §§ 58, 96; Nr. 11423/19, Gumenyuk u. a. v Ukraine, 22.07.2021, § 52. 436 Zusammenfassend EGMR Nr. 43572/18, Grzęda v Polen (GK), 15.03.2022, § 302.

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Kap. 2: Der Begriff der Gewaltenteilung in der Rechtsprechung des EGMR

of safeguarding the independence of the judiciary […], the Court must be particularly attentive to the protection of members of the judiciary against measures affecting their status or career that can threaten their judicial independence and autonomy.“437

Durch diese neue Entwicklung in der konventionsrechtlichen Gewaltenteilungsrechtsprechung rückte der EGMR die Richter als gerichtliche Organwalter in den Fokus staatsorganisatorischer Vorgaben. Die Unabhängigkeit und Funktionsfähigkeit der innerstaatlichen Gerichtsbarkeit hängt auch davon ab, ob Richter gegen rechtswidrige Disziplinarmaßnahmen oder andere statusverändernde Entscheidungen gerichtlich vorgehen können. An allen Urteilen dieser Fallgruppe zeigt sich, dass der EGMR auf die rechtsstaatsfeindlichen Gerichtsreformen und die exekutiv gesteuerten Angriffe auf die unabhängige Gerichtsbarkeit in verschiedenen europäischen Staaten reagieren können möchte. Er stellt den Schutz der einzelnen gerichtlichen Organwalter, der Richter, auf verschiedene dogmatische Füße – sie können einerseits ihre persönlichen Freiheitsrechte geltend machen und andererseits das Rechtsschutzgrundrecht aus Art. 6 Abs. 1 EMRK. Dadurch kann sich der EGMR mittelbar zu dem jeweiligen konventionsstaatlichen Gerichtssystem äußern.

IV. Guðmundur Andri Ástráðsson v Island Das Urteil der Großen Kammer in der Sache Guðmundur Andri Ástráðsson v Island aus dem Dezember 2020 stellt den bisherigen Höhepunkt der Gewaltenteilungs-Rechtsprechung dar und erhärtete den Eindruck, dass der Gerichtshof seine seit dem Kleyn-Urteil geübte Zurückhaltung in institutionellen Fragen aufgegeben hat. Der Beschwerdeführer machte eine Verletzung des Rechts auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend. Er begründete seine Beschwerde mit Fehlern im richterlichen Ernennungsverfahren des neu gegründeten und in seinem Fall zuständigen Court of Appeal. Die Justizministerin hatte rechtswidrig Kandidaten auf der Vorschlagsliste eines Evaluierungskomitees ausgetauscht und diese Entscheidung nicht begründet. Anschließend hatte das Parlament die Kandidaten nicht, wie gesetzlich vorgesehen, einzeln gewählt, sondern en bloc.438 Obwohl das Oberste Gericht das Verfahren als rechtswidrig beurteilte, zog es keine Konsequenzen für die Besetzung des Gerichts, weil es einerseits den Verfahrensverstoß nicht für bedeutsam hielt und andererseits alle betroffenen Richter die Voraus-

437

EGMR Nr. 1571/07, Bilgen v Türkei, 09.03.2021, § 58; Nr. 11423/19, Gumenyuk u. a. v Ukraine, 22.07.2021, §§ 52, 71; Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, § 227; Nr. 43572/18, Grzęda v Polen (GK), 15.03.2022, § 302. 438 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, §§ 17–18, 52, 80, 105, 115, 154.

B. Verhältnis zwischen Exekutive und Judikative    

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setzungen für das Richteramt erfüllten und das Ernennungsverfahren nicht für nichtig erklärt werden könne.439 Der EGMR musste beurteilen, ob die rechtswidrige Ernennung der Richter, die den Beschwerdeführer strafrechtlich verurteilten, das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzte.440 „The Grand Chamber is […] not called upon to review the judicial appointment system that is in place in Iceland. […] The Court reiterates in this connection that although the notion of the separation of powers between the political organs of government and the judiciary has assumed growing importance in its case-law, appointment of judges by the executive or the legislature is permissible under the Convention, provided that appointees are free from influence or pressure when carrying out their adjudicatory role […]. The question is always whether, in a given case, the requirements of the Convention are met […].“441

Bei dieser neuen Sachverhaltskonstellation musste der Gerichtshof über eine institutionelle Frage mit großer Tragweite entscheiden. Er nutzte diese Gelegenheit, um seine Rechtsprechung zum „durch Gesetz eingerichteten Gericht“ weiterzuentwickeln und klarzustellen (refine and clarify).442 So wurde nach der – von der Großen Kammer grundsätzlich bestätigten erstinstanzlichen Entscheidung – befürchtet, der EGMR habe die „Büchse der Pandora“ geöffnet.443 Wenn wegen eines Verfahrensverstoßes bei der Richterernennung eine Konventionsverletzung geltend gemacht werden kann, kann dies Auswirkungen auf alle jemals von dem Richter gesprochenen Urteile haben: Die innerstaatlichen Gerichte müssten auch den richterlichen Ernennungsprozess der zuständigen Richter prüfen.444 Durch Guðmundur Andri Ástráðsson v Island hat die Rechtsprechung zum Gesetzesvorbehalt des Art. 6 Abs. 1 EMRK also eine institutionelle Dimension bekommen.445

439 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, §§ 90, 274. 440 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, § 210. 441 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, § 207. 442 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, § 218. 443 Bosek / Ż mij, EuR 2019, S. 522 (546). Die Richter Lemmens und Griţco bezeichneten die Konsequenzen in ihrer abweichenden Meinung zum erstinstanzlichen Urteil EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island, 12.03.2019 als „overkill“. Siehe ebenfalls die Rezeption des Urteils von Steinbeis, Straßburg und das Anti-Richter-Dilemma, VerfBlog, 14.03.2019. 444 Kukava, Guðmundur Andri Ástráðsson v. Iceland, https://www.echrblog.com/2021/01/ guest-post-on-gumundur-andri-astrasson.html sowie Leloup, Guðmundur Andri Ástráðsson, https://strasbourgobservers.com/2020/12/18/gudmundur-andri-astradsson-the-right-to-a-tribunalestablished-by-law-expanded-to-the-appointment-of-judges/. 445 Siehe zum genauen Inhalt der Entscheidung unten ab S. 313.

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Kap. 2: Der Begriff der Gewaltenteilung in der Rechtsprechung des EGMR

V. Fazit Der EGMR hat Gewaltenteilung als Begriff in vielen Fallgestaltungen bemüht, die das Verhältnis zwischen der Judikative und der Exekutive betreffen. Entscheidend war meistens die richterliche Unabhängigkeit, sodass die Gewaltenteilung keine eigenständige Bedeutung für das Urteil in der Sache hatte. Gleichwohl zeigt ihre häufige Erwähnung, dass der EGMR den Grundgedanken der Gewaltenteilung in die EMRK hineinliest. Auf der anderen Seite betonte der EGMR regelmäßig, den Staaten keine abstrakten Vorgaben machen zu wollen. Letztlich handelt es sich um eine Selbstverständlichkeit, dass der EGMR entsprechend seiner Kompetenz im Rahmen der Individualbeschwerde nur entscheiden kann, ob eine Verletzung von Konventionsrechten vorliegt und keine darüber hinausgehenden abstrakten Forderungen machen darf. Seit 2019 gibt der EGMR seine Zurückhaltung im Umgang mit dem Gewaltenteilungskonzept auf. Im Rahmen der Prüfung verschiedener Konventionsrechte soll die Gewaltenteilung die unabhängige Gerichtsbarkeit vor exekutiver Einflussnahme und Politisierung zu schützen. Diese Entwicklung muss vor dem Hintergrund der Rechtsstaatlichkeitskrise in verschiedenen europäischen Staaten gesehen werden: Der EGMR schafft sich die Voraussetzungen, um diese Entwicklung beurteilen zu können. Die Möglichkeit des EGMR, sich zu institutionellen Fragen zu äußern, vergrößert sich auch dadurch, dass zunehmend Richter als Beschwerdeführer auftreten und ihre persönlichen Rechte geltend machen.446

C. Verhältnis zwischen Legislative und Judikative Parallel zu Stafford / K leyn entwickelte der EGMR eine weitere Rechtsprechungslinie zur Gewaltenteilung zwischen Judikative und Legislative. Hierbei spielten Urteile zur Einschränkung des Zugangs zum Gericht wegen der parlamentarischen Immunität von Abgeordneten auch nach dem Urteil A v Vereinigtes Königreich447 eine große Rolle.448

446

EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013; Nr. 7984/06, Saghatelyan v Armenien, 20.10.2015; Nr. 55391/13, 57728/13 und 74041/13, Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018; Nr. 12778/17, Alparslan Altan v Türkei, 16.04.2019; Nr. 66448/17, Baş v Türkei, 03.03.2020; Nr. 36093/13, Anželika Šimaitienė v Litauen, 21.04.2020. 447 Siehe hierzu oben ab S. 108. 448 EGMR Nr. 40877/98, Cordova v Italien Nr. 1 03.01.2003, § 55; EGMR Nr. 45649/99, Cordova v Italien Nr. 2, 03.01.2003, § 56; Nr. 73936/01, De Jorio v Italien, 03.06.2004, § 49; Nr. 10180/04, Patrono, Cascini und Stefanelli v Italien, 20.4.2006, § 59; Nr. 46967/07, C. G. I. L. und Cofferati v Italien Nr. 1, 24.02.2009, § 69; Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, § 81 – in diesem Fall begehrte der Abgeordnete selbst die Aufhebung seiner Immunität, um die Vorwürfe gegen ihn gerichtlich aufklären zu können; Nr. 2/08, C. G. I. L. und Cofferati v Italien Nr. 2, 06.04.2010, § 44; Nr. 14832/11, Hoon v Vereinigtes Königreich (Zul.),

C. Verhältnis zwischen Legislative und Judikative  

119

Auch Regelungen zur personellen Inkompatibilität betreffen das Verhältnis zwischen Legislative und Judikative. In der Sache Pabla Ky machten die Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend, weil das für ihren Rechtsstreit zuständige Gericht mit drei Berufsrichtern und zwei Experten besetzt war und einer der Experten zur Zeit des gerichtlichen Verfahrens gleichzeitig Abgeordneter des finnischen Parlaments war.449 Der EGMR übertrug seine bisherige Gewaltenteilungs-Rechtsprechung aus Kleyn v Niederlande auf das Verhältnis zwischen legislativen und judikativen Organen: „This case also raises issues concerning the role of a member of the legislature in a judicial context. Although the notion of the separation of powers between the political organs of government and the judiciary has assumed growing importance in the Court’s case-law […], neither Article 6 nor any other provision of the Convention requires States to comply with any theoretical constitutional concepts regarding the permissible limits of the powers’ interaction. The question is always whether, in  a given case, the requirements of the Convention are met.“450

Nur auf den ersten Blick verwundert es, dass der EGMR auf die Gewaltenteilung zwischen political organs of government und der Judikative abstellt, da er diese Formulierung eigentlich für exekutive Organe verwendet.451 Der erste Satz des Zitats macht aber deutlich, dass der EGMR die Situation tatsächlich als eine Frage des Verhältnisses zwischen Legislative und Judikative einordnet. Da der gerichtliche Experte nicht am Beschluss des streitentscheidenden Gesetzes beteiligt war und keine anderweitige Voreingenommenheit des Abgeordneten festzustellen war, war die Unabhängigkeit des Gerichts nach dem EGMR gewährleistet.452 Im Jahr 2016 entschied der EGMR schließlich zwei weitere Fälle der Gewaltenteilung zwischen Judikative und Legislative. In der Sache Karácsony u. a. v Ungarn wurden disziplinarische Maßnahmen gegen Abgeordnete als Verstoß gegen die Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 Abs. 1 EMRK gewertet, weil die Abgeordneten vor der Festsetzung der Sanktion nicht angehört worden waren.453 Der

13.11.2014, § 36  – der Beschwerdeführer machte eine Verletzung von Art. 8 Abs. 1 EMRK geltend, der EGMR verweist aber auf die bisherige Rechtsprechung zur parlamentarischen Immunität im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Siehe zur parlamentarischen Immunität unten ab S. 344. 449 EGMR Nr. 47221/99, Pabla Ky v Finnland, 22.06.2004, § 20. 450 EGMR Nr. 47221/99, Pabla Ky v Finnland, 22.06.2004, § 29. 451 Ebenfalls für das Verhältnis Judikative – Legislative verwendet aber das Urteil EGMR Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 295 die Formulierung der political organs of government. 452 EGMR Nr. 47221/99, Pabla Ky v Finnland, 22.06.2004, §§ 31–35. 453 EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, §§ 158–160; zum Sachverhalt insb. §§ 12–23 (die Abgeordneten hatten im Rahmen einer parlamentarischen Debatte Banner mit politischen Botschaften ausgerollt und Durchsagen über ein Megaphon gemacht); zur Meinungsfreiheit von Abgeordneten im parlamentarischen Prozess ab S. 359.

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Kap. 2: Der Begriff der Gewaltenteilung in der Rechtsprechung des EGMR

EGMR stützte sich in seinen Erwägungsgründen auf die Rechtsprechung zur parlamentarischen Immunität.454 Auch in der Sache Baka v Ungarn stand die Meinungsfreiheit von Richtern im Fokus. Der Präsident des obersten ungarischen Gerichts, in dieser Funktion gleichzeitig Vorsitzender des nationalen Justizrats (National Council of Justice), wurde durch eine Gesetzesänderung vor Ende seiner Amtszeit abgesetzt, nachdem er sich mehrfach kritisch in der Zeitung, in Briefen und im Parlament zu geplanten, das Gerichtssystem betreffende Verfassungsänderungen geäußert hatte.455 Der EGMR sah darin einen Verstoß gegen Art. 10 Abs. 1 EMRK. „[The] Court has also stressed that having regard in particular to the growing importance attached to the separation of powers and the importance of safeguarding the independence of the judiciary, any interference with the freedom of expression of a judge in a position such as the applicant’s calls for close scrutiny on the part of the Court […].“456

Wie anschließend in weiteren aktuellen Urteilen457 präzisierte der EGMR nicht, welches funktionale Verhältnis in der Sache betroffen war, sondern setzte die Gewaltenteilung lediglich in einen engen Zusammenhang mit der unabhängigen Gerichtsbarkeit. Gleichwohl konnte hier nur das Verhältnis der Rechtsprechung zur Gesetzgebung angesprochen sein: Ursächlich für den Verlust des Amtes ist die Änderung der Übergangsvorschriften für die ungarische Verfassungsänderung, die vom Parlament beschlossen wurde. Durch die Urteile Karácsony und Baka haben sich die Fallgruppen der Gewaltenteilung im Verhältnis zwischen Legislative und Judikative erweitert. Durch das Urteil Xhoxhaj v Albanien bezog der EGMR schließlich auch den richterlichen Ernennungsprozess durch das Parlament als Aspekt der Gewaltenteilung zwischen der Judikative und der Legislative ein.458 Anders als im Verhältnis zwischen Exekutive und Judikative ist in der Beziehung zwischen Legislative und Judikative keine Funktion gegenüber der anderen eindeutig vorrangig schützenswert. Ob die Judikative vor Einflüssen der Legislative (etwa im Fall der Absetzung kritischer Gerichtspräsidenten) oder die Legislative vor Einmischungen der Judikative (in Fällen parlamentarischer Immunität) geschützt werden muss, kommt ganz auf den Einzelfall an.

454

EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, §§ 138–140. 455 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, §§ 32–33. 456 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 165. 457 EGMR Nr. 12778/17, Alparslan Altan v Türkei, 16.04.2019, § 102; Nr. 66448/17, Baş v Türkei, 03.03.2020, § 144; Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, § 215; Nr. 26691/18 und 27367/18, Broda und Bojara v Polen, 29.06.2021, § 143. 458 EGMR Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 295; näher zur Ernennung von Richtern durch politische Organe ab S. 523. 

D. Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive  

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D. Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive Äußerungen des EGMR zur Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive finden sich selten. Im Matthews-Urteil sprach der EGMR – bereits vor dem Stafford-Urteil – von einer division of powers in der Europäischen Gemeinschaft: „In determining whether the European Parliament falls to be considered as the ‚legislature‘, or part of it, in Gibraltar for the purposes of Article  3 of Protocol No. 1, the Court must bear in mind the sui generis nature of the European Community, which does not follow in every respect the pattern common in many States of a more or less strict division of powers between the executive and the legislature. Rather, the legislative process in the EC involves the participation of the European Parliament, the Council and the European Commission.“459

Anders als in den bisher angesprochenen Urteilen ging der EGMR hier nicht auf die Gewaltenteilung ein, wie sie in der EMRK zum Ausdruck kommt, sondern beschrieb das Erscheinungsbild der Gewaltenteilung der (damaligen) Europäischen Gemeinschaft.460 Auch in der Guliyev- und der Krivobokov-Entscheidung bezogen sich die Äußerungen des EGMR auf die innerstaatliche Gewaltenteilung. „As such, whereas the Azerbaijani Constitution clearly provides for a separation of powers between the branches of the Government, the President’s powers accessory to the Parliament’s legislative power must be construed as being necessary and strictly limited to the system of the ‚checks and balances‘ of Azerbaijan’s republican governmental structure.“461

In beiden Zulässigkeitsentscheidungen ging es darum, ob die Staatsoberhäupter als gesetzgebende Körperschaft im Sinne des Art. 3 Abs. 1 ZP EMRK eingeordnet wurden462 und somit die Gewährleistungen des aktiven und passiven Wahlrechts anwendbar waren.463 Sowohl im Matthews-Urteil als auch in den Entscheidungen Guliyev und Krivobokov legte der EGMR den Begriff der legislature, also den Anwendungsbereich des Wahlrechts aus Art. 3 ZP aus. Die Urteile zeigen, dass die Auslegung des Art. 3 ZP für das Verhältnis zwischen der Legislative und der Exekutive relevant ist.

459

EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 48; ausführlich zur Einordnung des Europäischen Parlaments als gesetzgebende Körperschaft ab S. 162. 460 Aus diesem Grund wird die Matthews-Entscheidung auch nicht als erstes, die Gewaltenteilung adressierendes Urteil genannt, obwohl es chronologisch vor dem Stafford-Urteil steht. 461 EGMR Nr. 35584/02, Guliyev v Aserbaidschan (Zul.), 27.05.2004. Ähnlich EGMR Nr. 38707/04, Krivobokov v Ukraine (Zul.), 19.02.2013: „Therefore, though the Ukrainian Constitution provides for a separation of powers between the branches of Government, the President’s powers are accessory to Parliament’s legislative power […]. Accordingly, the Court considers that the President’s power to issue decrees and orders, as well as to sign or veto the legislative acts adopted by Parliament, is to be distinguished from the legislative power itself.“ 462 Siehe hierzu unten ab S. 156. 463 EGMR Nr. 35584/02, Guliyev v Aserbaidschan (Zul.), 27.05.2004; Nr. 38707/04, Krivobokov v Ukraine (Zul.), 19.02.2013.

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Kap. 2: Der Begriff der Gewaltenteilung in der Rechtsprechung des EGMR

E. Background Paper: „The Authority of the Judiciary“ Das Richter-Seminar zur Eröffnung jedes Gerichtsjahres des EGMR trug im Januar 2018 den Titel The Authority of the Judiciary. Das hierzu vom EGMR veröffentlichte Hintergrundpapier ist zwar kein verbindlicher Rechtsakt, es zeigte aber dennoch, dass der Gerichtshof den Grundsatz der Gewaltenteilung als Bestandteil seiner Rechtsprechung anerkannt hat: „The special and fundamental role of the judiciary as an independent branch of State power, in accordance with the principles of the separation of powers and the rule of law is recognized within the Court’s case-law, both implicitly and explicitly.“464

Die Zusammenschau zeigt, welche Sachverhalte aus der Sicht des EGMR die Gewaltenteilung betreffen, auch wenn the notion of separation of powers in den Erwägungsgründen nicht ausdrücklich erwähnt wurde: – Neben dem die Richterernennung betreffenden Urteil Maktouf und Damjanović v Bosnien und Herzegowina erwähnte das Dokument die Sache Gurov v Moldawien. Danach war ein Gericht nicht „durch Gesetz eingerichtet“, wenn ein Richter nach dem Ende seiner Amtszeit ohne rechtlichen Grund weiterhin Urteile sprach.465 – Die Ausübung von direktem oder (durch Stellungnahmen in den Medien oder offene Briefe) indirektem Druck politischer Organe auf Richter eines Verfahrens ordnete das Hintergrundpapier ebenfalls als Aspekt der Gewaltenteilung ein.466 – Gleiches galt für gegen Art. 6 Abs. 2 EMRK verstoßende öffentliche Vorverurtei­ lungen eines Angeklagten vor dem gerichtlichen Urteilsspruch durch Amtsträger.467 464 Judicial Seminar 2018: The Authority of the Judiciary, Background Document, S. 2, abrufbar unter https://www.echr.coe.int/Documents/Seminar_background_paper_2018_ENG. pdf, zuletzt abgerufen am 09.04.2022. 465 Background paper for the Judicial Seminar 2018: The Authority of the Judiciary (Fn. 464), S. 3–4 zitiert EGMR Nr. 36455/02, Gurov v Moldawien, 11.07.2006, §§ 34–38. 466 Background paper for the Judicial Seminar 2018: The Authority of the Judiciary (Fn. 464), S. 4–5. Das Paper nennt folgende Urteile in dieser Fallgruppe: EGMR Nr. 48553/99, Sovtransavto Holding v Ukraine, 25.07.2002, § 80 (Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK wegen Einflussnahme der Exekutive, insbesondere des Staatspräsidenten, auf gerichtliche Verfahren; damit ist die Sache Sovtransavto der Vorgänger der Sache Agrokompleks, siehe Fn. 418); Nr. 42856/06, Kinský v Tschechien, 09.02.2012, §§ 89–95 (Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK nach Äußerungen von Mitgliedern der Regierung sowie des Parlaments in der Presse im Zusammenhang einer Reihe gerichtlicher Verfahren des Beschwerdeführers sowie der Entscheidung der Richter); Nr. 29908/11, Ivanovski v Mazedonien, 21.01.2016, §§ 146–147 (Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK, weil der Premierminister (in seiner Funktion als Parteivorsitzender) sich in einem offenen Brief zu einem Verfahren äußert, welches zur Entlassung des Präsidenten des Verfassungsgerichts führte). In allen drei Fällen durften die Beschwerdeführer legitimerweise befürchten, dass die entscheidenden Gerichte nicht unparteilich sein würden; die konkreten Auswirkungen der Äußerungen auf die Verfahren untersuchte der EGMR daher nicht. 467 Background paper for the Judicial Seminar 2018: The Authority of the Judiciary (Fn. 464), S. 5. Das Paper nennt das Urteil EGMR Nr. 37124/10, Tony Kostadinov v Bulgarien, 27.01.2015. Beschwerdegegenstand war eine Äußerung des Innenministers auf einer Pressekonferenz, die in einer Weise formuliert war, dass keine Zweifel an der Schuld des Angeklagten vorlagen.

E. Background Paper: „The Authority of the Judiciary“ 

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– Im Broniowski-Urteil lag eine Verletzung des Eigentumsrechts aus Art. 1 ZP vor, weil Behörden und Ministerien sich weigerten, ein Urteil umzusetzen, das dem Kläger als Kompensation für den Verlust seines Grundstücks wegen einer Verschiebung von Grenzen ein anderes Grundstück zuschrieb.468 – Auch die vorzeitige Beendigung der Amtszeit des Präsidenten des ungarischen Supreme Courts Baka betraf die Gewaltenteilung.469 – Besonders betonte der EGMR die Fallgruppe der Disziplinarverfahren und -maßnahmen gegen Richter nach öffentlichen Meinungsäußerungen. Die Angst der Richter vor Sanktionen könnte zu einem chilling effect führen.470 – Der Status der Richter wird auch prozessual geschützt, denn der Anwendungsbereich des Rechts auf ein faires Verfahren Art. 6 Abs. 1 EMRK ist auch eröffnet, wenn die Streitigkeit Entlassungen von oder Disziplinarmaßnahmen gegen Richter zum Gegenstand hat.471 468

Background paper for the Judicial Seminar 2018: The Authority of the Judiciary (Fn. 464), S. 6 nennt EGMR Nr. 31443/96, Broniowski v Polen (GK), 22.06.2004, § 175. Die Rechtsprechung zu Art. 1 ZP wurde für diese Arbeit nicht untersucht. Siehe aber zur Rechtskraft gerichtlicher Urteile und der sich hieraus ergebenden Umsetzungsverpflichtung ab S. 488. 469 Background paper for the Judicial Seminar 2018: The Authority of the Judiciary (Fn. 464), S. 6. 470 Background paper for the Judicial Seminar 2018: The Authority of the Judiciary (Fn. 464), S. 6–8. Das Paper zitiert EGMR Nr. 28396/95, Wille v Liechtenstein (GK), 28.10.1999, §§ 50, 70 (der Präsident des Liechtensteiner Verwaltungsgerichts wurde nach einer nicht abwegigen Auslegung einiger Verfassungsvorschriften durch den Prinzen von Liechtenstein erst in einem Brief gerügt und anschließend nicht für eine weitere Amtszeit ernannt); Nr. 29492/05, Kudeshkina v Russland, 26.02.2009, §§ 88, 98, 102 (die Beschwerdeführerin, eine Richterin, war in ihrem Recht aus Art. 10 Abs. 1 EMRK verletzt, nachdem die Disziplinarmaßnahmen, die auf ein öffentliches Interview der Richterin über die Unzulänglichkeiten des russischen Gerichtssystems folgten, beschlossen wurden, ohne die prozessualen Rechte der Beschwerdeführerin sicherzustellen); Nr. 58688/11, Harabin v Slowakei, 20.11.2012, §§ 150–153 (hier lag keine Verletzung von Art. 10 Abs. 1 EMRK vor, weil die Disziplinarmaßnahmen am professionellen Verhalten des Beschwerdeführers anknüpften und nicht an öffentlichen Äußerungen); Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016 (der Beschwerdeführer war in seiner Meinungsfreiheit verletzt, weil er seinen Posten als Gerichtspräsident verlor, nachdem er sich kritisch zu einer geplanten Justizreform geäußert hatte). Im Fall EGMR Nr. 38406/97, Albayrak v Türkei, 31.01.2008, § 48 lag eine Verletzung von Art. 10 Abs. 1 EMRK vor, weil für die Disziplinarmaßnahmen keine ausreichenden Nachweise einer verfassungsfeindlichen Handlung des Beschwerdeführers vorlagen. Ihm war zur Last gelegt worden, verbotene Veröffentlichungen zu lesen und verbotene Fernsehsender zu schauen – es fehlte hierbei somit sogar an der öffentlichen Äußerung. Diese Urteile werden im Rahmen der persönlichen Freiheitsrechte der Richter behandelt, ab S. 639. 471 Background paper for the Judicial Seminar 2018: The Authority of the Judiciary (Fn. 464), S. 8. Das Paper zitiert EGMR Nr. 63235/00, Vilho Eskelinen u. a. v Finnland (GK), 19.04.2007, § 62 (der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK im Rahmen einer zivilrechtlichen Streitigkeit ist für Angestellte des Staates und Beamte nur dann nicht eröffnet, wenn das nationale Recht den Rechtsweg ausdrücklich ausgeschlossen hat und es dafür objektive Gründe im staatlichen Interesse gibt); Nr. 22330/05, Olujić v Kroatien, 05.02.2009, § 36 (in diesem Fall war der Ausschluss des Rechtsschutzes bei Disziplinarmaßnahmen gegen Richter nicht absolut,

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Kap. 2: Der Begriff der Gewaltenteilung in der Rechtsprechung des EGMR

– Auch die weiteren Garantien des Art. 6 EMRK, insbesondere die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts, wurden im Kontext richterlicher Disziplinarmaßnahmen relevant.472 Der EGMR nannte in seinem Background Paper einzelne Präzedenzfälle, keine Rechtsprechungslinien. Das Dokument dient damit als Indikator dafür, welche Fallgruppen für das konventionsrechtliche Gewaltenteilungsverständnis relevant sind. Das im Background Paper vermittelte Verständnis der Gewaltenteilung ist weit und umfasst die formelle und informelle Interaktion der Gerichte mit anderen Organen und den Schutz des richterlichen Status. Neben den Urteilen zur Gewaltenteilung im engeren Sinne enthielt das Background Paper auch Ausführungen zur Verantwortlichkeit der Richter, sich zurückhaltend zu verhalten (Responsibility requires a duty of discretion and restraint). Das Dokument ging unter anderem auf die den Richtern persönlich zustehenden Konventionsrechte ein, die ihre Handlungen oder ihr Verhalten zum Teil auch dann schützen, wenn diese im Zusammenhang mit der hoheitlichen richterlichen Tätigkeit stehen. Die richterliche Verantwortlichkeit zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit kann allerdings dazu führen, dass der Gewährleistungsumfang der Rechte eingeschränkt wird. Deswegen sind auch die Urteile zur richterlichen Verantwortlichkeit, selbst wenn das Hintergrundpapier sie nicht als Fälle der Gewaltenteilung einsortiert, für die Forschungsfrage dieser Arbeit relevant. – Wenn Richter ihr Recht auf Meinungsäußerung aus Art. 10 Abs. 1 EMRK ausüben, müssen sie sich mit Kritik an anderen Richtern zurückhalten. Disziplinarmaßnahmen im Anschluss an eine (vermeintlich) unzulässige Meinungsäußerung müssen jedoch mit ausreichend prozeduralen Garantien ausgestattet sein, um einen chilling effect bei Richtern zu vermeiden, welche öffentlich an einer Debatte über die Wirksamkeit gerichtlicher Institutionen teilnehmen wollen.473

weil nur der Weg zu den ordentlichen Gerichten, nicht aber zum National Judicial Council versperrt war und damit die erste Voraussetzung des Eskelinen-Test bereits nicht erfüllt); Nr. 33392/12, Paluda v Slowakei, 23.05.2017 (dem Beschwerdeführer stand kein Rechtsbehelf zur Verfügung, um seine Suspendierung kontrollieren zu lassen). Siehe hierzu ab S. 440. 472 Background paper for the Judicial Seminar 2018: The Authority of the Judiciary (Fn. 464), S. 9. Das Paper nennt die Urteile EGMR Nr. 6899/12, Mitrinovski v Mazedonien, 30.04.2015, §§ 43–46 (das über die Disziplinarmaßnahmen eines Richters entscheidende Organ war nicht unparteilich, weil der Richter, welcher das Verfahren initiiert hatte und somit Partei des Verfahrens war, in der Sache mitentscheiden durfte); mit ähnlicher Fallgestaltung Nr. 48783/07, Gerovska Popčevska v Mazedonien, 07.01.2016; Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013 (siehe dazu bereits Fn. 419). 473 Background paper for the Judicial Seminar 2018: The Authority of the Judiciary (Fn. 464), S. 11–12. Das Hintergrundpapier nennt die Urteile EGMR Nr. 51160/06, di Giovanni v Italien, 09.07.2013; Nr. 75255/10, Simić v Bosnien und Herzegowina (Zul.), 15.11.2016 für die von den Richtern geforderte Zurückhaltung sowie EGMR Nr. 29492/05, Kudeshkina v Russland, 26.02.2009 zum befürchteten chilling effect. Siehe für eine Sachverhaltsdarstellung von Kudeshkina bereits Fn. 470.

F. Analyse: Das Grundverständnis von Gewaltenteilung  

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– Werden Richter entlassen, ist ihr Recht auf Schutz des Privatlebens gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK betroffen. Liegen die Gründe im privaten Bereich, kann eine Entlassung gerechtfertigt sein, um das Ansehen der Gerichtsbarkeit zu schützen.474 – Wurde eine Entlassung jedoch damit begründet, dass eine Richterin im Gerichtsverfahren Druck auf die Parteien ausgeübt hat, ihrer Glaubensgemeinschaft beizutreten, liegt hierin keine Verletzung der Religionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 1 EMRK.475 Entsprechend dem Zuschnitt des Dokuments, welches die richterliche und gerichtliche Autorität (Authority of the Judiciary) in den Fokus nahm, fanden sich keine Fälle zum Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive. Anhand des Beispiels der Judikative wurde aber deutlich, in welchen Fällen die Gewaltenteilung betroffen ist: die Verfahren zur Besetzung hoheitlicher Organe, deren Amtszeit und Regelungen für die vorzeitige Beendigung des Mandats, insbesondere durch Einmischung anderer Organe. Außerdem sind die Statusrechte der Richter, die diese schützen sollen, ihre Funktion ordnungsgemäß ausüben zu können, relevant. Die Fälle zur richterlichen Verantwortlichkeit zeigen einerseits, dass Richter sich auch im Zusammenhang mit ihren hoheitlichen Tätigkeiten auf die privaten Freiheitsrechte berufen dürfen, andererseits, dass der Gewährleistungsumfang in diesen Fällen zum Teil modifiziert werden kann.

F. Analyse: Das Grundverständnis von Gewaltenteilung in der EGMR-Rechtsprechung   Aus dem dargestellten Fallmaterial ergibt sich das konventionsrechtliche Grundverständnis der Gewaltenteilung.

I. Gewaltenteilung als gefestigtes Prinzip Gewaltenteilung ist eine Vorgabe der EMRK an die Konventionsstaaten. Die Betonung ihrer „wachsenden Bedeutung“ in den Urteilen476 zeigt, dass Gewaltenteilung schon vor dem Stafford-Urteil in der Konventionsordnung angelegt war,

474

Background paper for the Judicial Seminar 2018: The Authority of the Judiciary (Fn. 464), S. 12 unter anderem mit Verweis auf EGMR Nr. 20999/04, Özpınar v Türkei, 19.10.2010. Siehe ausführlich zum Schutz von Richtern durch Art. 8 Abs. 1 EMRK ab S. 669. 475 Background paper for the Judicial Seminar 2018: The Authority of the Judiciary (Fn. 464), S. 12. Das Background Paper zitiert EGMR Nr. 47936/99, Pitkevich v Russland (Zul.), 08.02.2001. Siehe näher hierzu ab S. 667. 476 EGMR Nr. 46295/99, Stafford v Vereinigtes Königreich (GK), 28.05.2002, § 78 sowie die Folgeurteile.

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Kap. 2: Der Begriff der Gewaltenteilung in der Rechtsprechung des EGMR

aber seitdem größeren Raum in der Rechtsprechung einnimmt. Seit 2002 ist das Verfassungsprinzip ein fester Bestandteil der EGMR-Urteile geworden.477 Wollen die Staaten ihren konventionsrechtlichen Verpflichtungen nachkommen, müssen sie den Anforderungen an die Gewaltenteilung, die der EGMR im Rahmen verschiedener Konventionsrechte formuliert, entsprechen. Die Konventionsstaaten sind wegen ihrer völkerrechtlichen Bindung an die EMRK auch an deren organisatorische Vorgaben gebunden, die notwendig sind, damit die Konventionsstaaten die menschenrechtlichen Gewährleistungen sicherstellen können. Eine Analyse des konventionsrechtlichen Gewaltenteilungsprinzips darf nicht auf die Urteile begrenzt sein, welche die Gewaltenteilung ausdrücklich erwähnen. Die Formulierung der „wachsenden Bedeutung“ der Gewaltenteilung und der Verweis in Stafford v Vereinigtes Königreich auf das Incal-Urteil,478 das seinerseits nicht von Gewaltenteilung sprach, aber einen weisungsabhängigen und in die Militärdisziplin eingeordneten Militärrichter in einem ordentlichen Gericht für konventionswidrig erklärte,479 deuten darauf hin, dass der EGMR den Kreis der für die Gewaltenteilung relevanten Urteile weiter zieht. Auch das Background Paper unterstützt diese Interpretation, denn auch dort werden Urteile als Beispiel für die Gewaltenteilung aufgeführt, die den Begriff nicht explizit erwähnen. Die Gewaltenteilung ist also ein Grundgedanke, der sich durch die Auslegung der EMRK zieht und in vielen Sachverhaltskonstellationen relevant wird. Das Untersuchungsmaterial für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit umfasst alle Urteile, welche staatsorganisatorische Vorgaben für die Konventionsstaaten machen oder sich mit der Zuordnung hoheitlicher Tätigkeiten zu Organen auseinandersetzen. Um den Kreis der relevanten Urteile zu definieren, wird auf die vier im ersten Kapitel dargestellten Gewaltenteilungselemente zurückgegriffen.480

II. Typisiertes Funktionsverständnis Als erstes Element der Gewaltenteilung wurde die Funktionenunterscheidung identifiziert.481 Der EGMR folgt der anerkannten Dreiteilung482 in Legislative, Exekutive und Judikative, ohne die hoheitlichen Funktionen zu definieren. Den aufgeführten Urteilen lässt sich jedoch entnehmen, dass er Parlamente als legislative Organe, Gerichte als judikative Organe und Regierungen, einzelne Minister, Premierminister, Staatsoberhäupter und das Militär als Organe der Exekutive ein 477 Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33 (33): „[T]his principle has become firmly anchored in the ECtHR’s case-law.“ 478 EGMR Nr. 46295/99, Stafford v Vereinigtes Königreich (GK), 28.05.2002, § 78. 479 EGMR Nr. 22678/93, Incal v Türkei (GK), 09.06.1998, §§ 68–73. 480 Siehe hierzu oben ab S. 72. 481 Siehe hierzu ab S. 74. 482 Siehe für diese Definition oben S. 76.

F. Analyse: Das Grundverständnis von Gewaltenteilung  

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ordnet.483 Werden die Funktionen anhand der einzelnen Organe und nicht anhand der hoheitlichen Tätigkeiten bestimmt, spricht dies gegen eine trennscharfe und für eine typisierende Funktionenunterscheidung durch den EGMR.484 Zu Beginn seiner Gewaltenteilungsrechtsprechung sprach der EGMR stets von dem Verhältnis zweier Gewalten.485 Im Vordergrund standen die Verhältnisse der Judikative zur Exekutive und zur Legislative. Das Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative erfuhr kaum Beachtung. Der EGMR formulierte keine Anforderungen, sondern erkannte lediglich an, dass die nationalen Verfassungsordnungen das Verhältnis zwischen diesen beiden Gewalten regeln können.486 In jüngeren Urteilen sprach der EGMR vermehrt von der Gewaltenteilung und dem Schutz der unabhängigen Gerichtsbarkeit (separation of powers and the importance /  necessity of safeguarding the independence of the judiciary)487 und stellte damit die Schutzbedürftigkeit der Judikative noch stärker in den Vordergrund. Das Recht auf Zugang zum Gericht und auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK bietet dem EGMR die Gelegenheit, umfassende Anforderungen an die Judikative zu formulieren.488 Der EGMR verwendet die typisierenden Funktionsbezeichnungen, um darauf aufmerksam zu machen, dass der Grundgedanke der Gewaltenteilung im jeweiligen Urteil eine Rolle spielt. Die konkreten Anforderungen an die Konventionsstaaten ergeben sich nicht aus der Funktionenunterscheidung, sondern aus den anderen drei Elementen der Gewaltenteilung.

483 In Stafford v Vereinigtes Königreich legte der Secretary of State, der Innenminister, die Strafe fest; die Staatsoberhäupter in den Entscheidungen Guliyev und Krivobokov wurden als Exekutive eingeordnet; in Kleyn v Niederlande ordnete der EGMR den Staatsrat trotz seiner im Gesetzgebungsverfahren beratenden Rolle als exekutives Organ ein; in Incal v Türkei stand die Weisungsabhängigkeit des Gerichts in Rede. 484 Siehe zum typisierten Funktionsverständnis bereits oben ab S. 78. 485 Siehe die Nachweise in Fn. 448, Fn. 450 sowie die Urteile ab S. 111. 486 EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 48; Nr. 35584/02, Guliyev v Aserbaidschan (Zul.), 27.05.2004; ähnlich EGMR Nr. 38707/04, ­Krivobokov v Ukraine (Zul.), 19.02.2013. 487 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 165; Nr. 55391/13, 57728/13 und 74041/13, Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 196; Nr. 12778/17, Alparslan Altan v Türkei, 16.04.2019, § 102; Nr. 66448/17, Baş v Türkei, 03.03.2020, § 144; Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, § 215. 488 Zwar erstreckt sich die Rechtsprechung des EGMR zur Gewaltenteilung auch auf andere Normen, die meisten Urteile allerdings betreffen Art. 6 Abs. 1 EMRK, siehe nur beispielsweise EGMR Nr. 39343/98 u. a., Kleyn u. a. v Niederlande (GK), 06.05.2003; Nr. 23614/08, Henryk Urban and Ryszard Urban v Polen, 30.11.2010; Nr. 23465/03, Agrokompleks v Ukraine, 06.10.2011; Nr. 55391/13, 57728/13 und 74041/13, Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018; Nr. 80018/12, Thiam v Frankreich, 18.10.2018; Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020. Auch die Fälle zur parlamentarischen Immunität, etwa EGMR Nr. 35373/97, A v Vereinigtes Königreich, 17.12.2002, betreffen Art. 6 Abs. 1 EMRK, allerdings geht es hierbei nicht um den Schutz der Gerichtsbarkeit, sondern der Funktionsfähigkeit des Parlaments.

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Kap. 2: Der Begriff der Gewaltenteilung in der Rechtsprechung des EGMR

III. Institutionelle Pluralität Das zweite Element der Gewaltenteilung, die institutionelle Pluralität, steht dafür, dass es verschiedene Organe gibt, auf welche die Hoheitsgewalt verteilt werden kann.489 Anhaltspunkte für die von der EMRK vorgegebene institutionelle Pluralität ergeben sich aus den EMRK-Normen, welche hoheitliche Institutionen erwähnen.490 Art. 6 Abs. 1 EMRK verlangt, dass die Bürger Zugang zu einem unabhängigen und unparteilichen, durch Gesetz eingerichteten Gericht haben. Gleiches gilt in spezieller Form für Art. 5 Abs. 3 und 4 EMRK sowie Art. 2 ZP 7.491 Einige EGMRUrteile mit ausdrücklichem Gewaltenteilungsbezug formulierten institutionelle Anforderungen an das Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1: Die gerichtliche Unabhängigkeit verlangt, dass ein Gericht Entscheidungen ohne inhaltliche Weisungen oder Einflussnahmen durch Abgeordnete, Regierungsmitglieder oder Staatpräsidenten treffen kann.492 Der Gesetzesvorbehalt (established by law / établi par la loi) und das Rechtmäßigkeitsprinzip beziehen sich nicht nur auf die Einrichtung des Gerichts, sondern auch auf das richterliche Ernennungsverfahren.493 Das Urteil Ramos Nunes v Portugal verdeutlichte, welche rechtlichen und tatsächlichen Prüfungs- und Entscheidungskompetenzen ein Organ haben muss, um als Gericht eingeordnet zu werden.494 Urteile entfalten auch für andere hoheitliche Organe Bindungswirkung und müssen von den zuständigen – in der Regel exekutiven – Organen umgesetzt werden.495 Die einzelnen Gerichtsmerkmale sind auch für die Prüfung relevant, welche hoheitliche Organe, die sich nicht in die ordentliche Gerichtsstruktur einfügen, als Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK eingeordnet werden können: In Volkov v Ukraine prüfte der EGMR die Gerichtsqualität des Hohen Richterrates, der den beschwerdeführenden Richter aus dem Amt entließ.496 Im konkreten Fall verlangte der EGMR, dass entweder der über die Disziplinarmaßnahme entscheidende Richterrat oder aber das zuständige Rechtsmittelgericht, das die Rechtmäßigkeit der Entlassung überprüfen konnte, alle Gerichtsmerkmale inklusive der vollen tatsächlichen und rechtlichen Prüfungskompetenz, aufweisen. Dies zeigt, dass die aus der EMRK ableitbaren Anforderungen nicht immer ab 489

Siehe hierzu oben ab S. 84. Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 46; Ress, Separation of Powers and the Function of the Judiciary, in: Barcellona / Carrino, I diritti umani, S. 187 (190–191); Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33 (39) spricht von einem „intrinsic separation of powers aspect“. 491 Siehe zu diesen Normen näher ab S. 389. 492 EGMR Nr. 23465/03, Agrokompleks v Ukraine, 06.10.2011, §§ 125–141. 493 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, §§ 213, 227. 494 EGMR Nr. 55391/13, 57728/13 und 74041/13, Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, §§ 176–186; 193–215. 495 Vgl. EGMR Nr. 31443/96, Broniowski v Polen (GK), 22.06.2004, § 175 im Rahmen des Eigentumsrechts aus Art. 1 ZP. 496 EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, §§ 109–117. 490

F. Analyse: Das Grundverständnis von Gewaltenteilung  

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soluter Natur sein müssen. Ausreichend ist, wenn ein Organ im Instanzenzug alle Gerichtsmerkmale erfüllt. Art. 3 ZP fordert, dass es eine gesetzgebende Körperschaft gibt, sodass die Bürger ihr aktives und passives Wahlrecht ausüben können. Der EGMR entschied unter Erwähnung des Gewaltenteilungsprinzips darüber, ob Staatsoberhäupter und das Europäische Parlament als gesetzgebende Körperschaft eingeordnet wurden.497 Für die vorliegende Untersuchung genauso relevant sind – auch ohne ausdrück­liche Erwähnung der Gewaltenteilung – alle anderen Urteile zum Begriff der legislature, um die Merkmale der gesetzgebenden Körperschaft ermitteln zu können. Die Gewaltenteilungs-Rechtsprechung des EGMR betrifft also zwei Organe, die gesetzgebende Körperschaft und das Gericht, die sich in Zusammensetzung, Struktur, Handlungsformen und -inhalten unterscheiden.

IV. Zuordnung hoheitlicher Tätigkeiten zu Organen Das dritte, für die Gewaltenteilung zentrale, Element ist die Zuordnung hoheitlicher Tätigkeiten zu Organen durch die jeweilige Zuständigkeitsordnung.498 Die Zuordnung setzt voraus, dass zunächst die verschiedenen hoheitlichen Tätigkeiten und Handlungsformen identifiziert und beschrieben werden. Das Urteil Guðmundur Andri Ástráðsson v Island legte das Gerichtsmerkmal „durch Gesetz eingerichtet“ aus. Im konkreten Fall ging es um die Frage, ob ein Verstoß gegen die Ernennungsvorschriften zu einer Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK führte.499 Für die Definition des Gesetzesbegriffs ist zu klären, ob die EMRK Vorgaben macht, welches Organ gesetzgebend tätig werden muss. Anders formuliert: Muss das Gesetz im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK von einer gesetzgebenden Körperschaft gemäß Art. 3 ZP erlassen werden? Die gleiche Frage stellt sich für die anderen Gesetzesvorbehalte und Rechtmäßigkeitsanforderungen in der EMRK, zum Beispiel in Art. 7, 8–11 Abs. 2 EMRK beziehungsweise Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK.500 Deutlichere Anhaltspunkte für eine Zuordnung bestimmter hoheitlicher Tätigkeiten zum Gericht bietet Art. 6 Abs. 1 EMRK. Die hoheitliche Tätigkeit der Streitentscheidung ist ein konstitutives Merkmal des Gerichtsbegriffs.501 Somit ordnet 497

EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, §§ 48–54 (zum Europäischen Parlament); Nr. 35584/02, Guliyev v Aserbaidschan (Zul.), 27.05.2004; EGMR Nr. 38707/04, Krivobokov v Ukraine (Zul.), 19.02.2013 (jeweils zu Staatsoberhäuptern). 498 Siehe näher zu diesem dritten Element ab S. 86. 499 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, §§ ­218–234. 500 Siehe hierzu näher ab S. 294. 501 EGMR Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, § 139; Nr. 30226/10 und 5506/16, Ali Riza u. a. v Türkei, 28.01.2020, § 195.

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Kap. 2: Der Begriff der Gewaltenteilung in der Rechtsprechung des EGMR

die EMRK die Streitentscheidung den Gerichten zu. Fraglich ist, wie der EGMR den Begriff der Streitentscheidung versteht, beziehungsweise ob die EMRK den Gerichten darüber hinaus weitere hoheitliche Tätigkeiten zuweist. In der Sache Stafford v Vereinigtes Königreich lag eine Verletzung des Art. 5 Abs. 1 EMRK vor, weil nicht das Gericht, sondern der Innenminister den tariff und damit faktisch die Länge der Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers bestimmte.502 Auch die Urteile Kleyn und Sacilor Lormines betrafen Zuordnungsfragen: Der EGMR musste entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Gericht weitere hoheitliche Aufgaben ausüben darf, im konkreten Fall also Stellungnahmen im Gesetzgebungsverfahren abgeben durfte.503 Für die Zuordnung einer hoheitlichen Tätigkeit zu einem Organ ist außerdem relevant, in welchen Fällen das Organ tätig werden muss beziehungsweise darf. Im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK wird dies über den Anwendungsbereich der Norm bestimmt. Seit dem Leiturteil Vilho Eskelinen v Finnland fallen Disziplinarmaßnahmen gegen Beamte und Richter bis auf wenige Ausnahmen in den zivilrechtlichen Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK.504 Dadurch verlangt die EMRK, dass die Konventionsstaaten ihren innerstaatlichen Gerichten die Kompetenz zuweisen, über beamtenrechtliche Disziplinarstreitigkeiten zu entscheiden. Die EMRK macht also Vorgaben dazu, welche hoheitlichen Tätigkeiten von Gerichten ausgeübt werden müssen und wie Gerichte mit anderen Organen interagieren. Diese Vorgaben werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit dargestellt. Für die gesetzgebende Körperschaft sind diese Zusammenhänge nicht vergleichbar offenkundig. Dies liegt daran, dass die EMRK in Art. 3 ZP lediglich die Wahl, also das Besetzungsverfahren regelt, während Art. 6 Abs. 1 EMRK konkrete Vorgaben für die gerichtliche Tätigkeit, die Streitentscheidung, macht. Für die Legislative muss daher zunächst untersucht werden, ob die EMRK überhaupt einen Zuordnungszusammenhang zwischen gesetzgebender Körperschaft und Gesetzgebung als hoheitlicher Tätigkeit herstellt.

V. Status von Organwaltern Das vierte Gewaltenteilungselement betrifft den rechtlichen Status der Organwalter, welche für die verschiedenen Organe handeln.505 Fragen der Inkompatibilität des Richteramtes mit späteren exekutiven Tätigkeiten betreffen die Gewalten 502

EGMR Nr. 46295/99, Stafford v Vereinigtes Königreich (GK), 28.05.2002, § 82. EGMR Nr. 39343/98 u. a., Kleyn u. a. v Niederlande (GK), 06.05.2003, §§ 196–202; Nr. 65411/01, Sacilor Lormines v Frankreich, 09.11.2006, §§ 70–74. In beiden Fällen verletzte die konsekutive Doppelfunktion der Staatsräte das Recht aus Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht. 504 EGMR Nr. 63235/00, Vilho Eskelinen u. a. v Finnland (GK), 19.04.2007, § 62. Ausnahmen hiervon bestehen nur, wenn der Staat den Zugang zum Gericht im nationalen Recht explizit ausgeschlossen hat und dies durch objektive Gründe im staatlichen Interesse gerechtfertigt ist. 505 Siehe hierzu ab S. 100. 503

F. Analyse: Das Grundverständnis von Gewaltenteilung  

131

teilung.506 Gleiches gilt für die Situation, in der ein Richter vor dem gerichtlichen Verfahren bereits in beratender Funktion mit demselben Fall beziehungsweise derselben Entscheidung befasst war.507 Darüber hinaus machte der EGMR auch Vorgaben zu den richterlichen Statusrechten. Richter müssen unabsetzbar sein und für den Fall, dass sie dennoch entlassen wurden muss ihnen eine Rechtsschutzmöglichkeit zustehen.508 Über die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK können Prozessparteien die Statusrechte geltend machen. Es mehren sich außerdem die Fälle, in denen Richter selbst Beschwerde vor dem EGMR einlegen, um ihre Freiheits- dadurch mittelbar ihre Statusrechte zu schützen. So lag im Fall Baka v Ungarn eine Verletzung der Meinungsfreiheit aus Art. 10 Abs. 1 EMRK vor, als die Amtszeit des Präsidenten des Obersten Gerichts durch ein Gesetz beendet wurde, nachdem dieser sich kritisch zu den ungarischen Justizreformen geäußert hatte. In der Verhältnismäßigkeitsprüfung spielte der Grundsatz der richterlichen Unabsetzbarkeit eine ausschlaggebende Rolle.509 Entlassungen, die an ein privates Verhalten anknüpfen, eröffnen den Schutzbereich des Rechts auf ein ungestörtes Privatleben gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK.510 Schließlich zog der EGMR die Schutzbedürftigkeit der unabhängigen Gerichtsbarkeit auch heran, als er eine Konventionsverletzung des Rechts der persönlichen Freiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 EMRK prüfte, nachdem Richter in Untersuchungshaft genommen wurden.511 Die EMRK macht außerdem Vorgaben zur Richterernennung. Eine Ernennung durch das Parlament befand der EGMR solange für unproblematisch, wie die Richter ihrer Aufgabe anschließend frei von Druck oder Einflussnahme nachkommen konnten.512 Auch die Ernennung von Richtern durch den Hohen Repräsentanten in Bosnien und Herzegowina verstieß nicht gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK.513 Die Beziehung zwischen den Organen wird nicht nur durch die Ernennung, sondern auch durch das Folgeverhältnis ausgestaltet.

506

EGMR Nr. 65411/01, Sacilor Lormines v Frankreich, 09.11.2006, §§ 68–69. EGMR Nr. 39699/03, Union fédérale des Consommateurs Que Choisir de Côte d’Or v Frankreich (Zul.), 30.06.2009; Nr. 8615/08, Escoffier v Frankreich (Zul.), 08.03.2011. In beiden Fällen lag keine Vorbefassung der Richter vor, sodass die Beschwerden offensichtlich unbegründet waren. Diese Fallgruppe ist zu unterscheiden von dem Fall, indem nicht ein Richter mehrfach mit einer Sache befasst ist, sondern die Rechtsordnung dem Organ selbst mehrere Funktionen zuweist, hierzu oben die Urteile Kleyn und Sacilor Lormines. 508 Vgl. EGMR Nr. 23614/08, Henryk Urban and Ryszard Urban v Polen, 30.11.2010, § 53; Nr. 8017/07, Fruni v Slowakei, 21.06.2011, §§ 145–147. 509 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, §§ 140–176. 510 EGMR Nr. 20999/04, Özpınar v Türkei, 19.10.2010, §§ 43–79. 511 EGMR Nr. 12778/17, Alparslan Altan v Türkei, 16.04.2019, §§ 102, 113; Nr. 66448/17, Baş v Türkei, 03.03.2020, §§ 144, 154. 512 EGMR Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 295. 513 EGMR Nr. 2312/08 und 34179/08, Maktouf und Damjanović v Bosnien und Herzegowina (GK), 18.07.2013, §§ 49–53. 507

132

Kap. 2: Der Begriff der Gewaltenteilung in der Rechtsprechung des EGMR

Die EMRK schützt auch den Status von Abgeordneten. Der EGMR akzeptierte die parlamentarische Immunität als gerechtfertigte Einschränkung des Rechts auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK, wenn hierdurch Äußerungen oder Handlungen von einer gerichtlichen Überprüfung ausgeschlossen werden, die im Zusammenhang mit der parlamentarischen Tätigkeit gemacht wurden.514 Das Urteil Karácsony v Ungarn zeigte außerdem, dass die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen wegen Äußerungen im Parlament einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in die Meinungsfreiheit darstellen.515

G. Fazit Seit 2002 hat der EGMR in vielen unterschiedlichen Fällen auf den Grundgedanken der Gewaltenteilung zurückgegriffen. Der Gerichtshof verwendet die Funktionsbezeichnungen lediglich in einer typisierten Form, sodass sich hieraus wenige Schlüsse für die Gewaltenteilung in den Konventionsstaaten ziehen lassen. Darüber hinaus zeigen die Urteile zur Gewaltenteilung, dass der EGMR sowohl eine institutionelle Pluralität voraussetzt, als auch Vorgaben zur Zuordnung hoheitlicher Tätigkeiten zu diesen Organen sowie zum Status der Organwalter macht. Aufgabe der weiterführenden Rechtsprechungsanalyse ist es, anhand dieser Elemente die Mindestvorgaben der EMRK an die institutionelle Struktur der Konventionsstaaten zu ermitteln.516 Diese dienen den Mitgliedsstaaten als Schablone, innerhalb derer sie ihre Organisation frei ausgestalten können. Ausgehend von den bisherigen Ergebnissen werden die Anforderungen der EMRK an das Gericht und die gesetzgebende Körperschaft, an verschiedene hoheitliche Tätigkeiten, an deren Zuordnung zu einzelnen Organen sowie an den Status der Organwalter untersucht.

514

EGMR Nr. 35373/97, A v Vereinigtes Königreich, 17.12.2002, §§ 83–84. EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, §§ ­120–162. 516 Kosař / Lixinski, AJIL 109 (2015), S. 713 (755) gehen sogar davon aus, dass der EGMR eine Vorstellung davon hat, „on what the ‚optimal judiciary‘ should look like“. 515

Kapitel 3

Die gesetzgebende Gewalt  Die Legislative hat die Funktion der abstrakt-generellen Rechtsetzung,517 welche in demokratischen Staaten zuvörderst den Parlamenten zugewiesen ist.518 Dieses Verständnis legt auch die EMRK zugrunde. Die Konvention enthält normative Anknüpfungspunkte sowohl für institutionelle Vorgaben an gesetzgebende Organe als auch an die gesetzgebende Tätigkeit und für die Zuweisung der gesetzgebenden Tätigkeit zu bestimmten hoheitlichen Organen: Das Wahlrecht gemäß Art. 3 ZP verlangt, dass eine gesetzgebende Körperschaft existiert, die in regelmäßigen Abständen gewählt wird. Daneben können Konventionsrechte nur auf Grundlage eines Gesetzes eingeschränkt werden. Insbesondere aus der Rechtsprechung zu den Gesetzesvorbehalte aus Art. 8–11 Abs. 2 EMRK ergeben sich die Merkmale des konventionsrechtlichen Gesetzesbegriffs. Der Gesetzesvorbehalt für die Einrichtung eines Gerichts gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK verpflichtet die Konventionsstaaten schließlich, die Grundlagen der Gerichtsorganisation von den Parlamenten entscheiden zu lassen. Darüber hinaus hat der EGMR sich im Rahmen des Rechts aus Art. 3 ZP, das Mandat ausüben zu können, sowie im Rahmen der Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 Abs. 1 EMRK zum rechtlichen Status der Abgeordneten geäußert. Daneben kann der Schutz der parlamentarischen Funktionsfähigkeit Eingriffe in das Recht Dritter auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK rechtfertigen. Und schließlich äußerte sich der EGMR jüngst zur parlamentarischen Autonomie, die in der Abwägung im Rahmen der Rechtfertigung von Eingriffen in Art. 6 Abs. 1 und Art. 10 EMRK sowie Art. 3 ZP relevant wird.

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP Art. 3 ZP schützt das aktive und passive Wahlrecht zur gesetzgebenden Körperschaft. Es setzt voraus, dass die Konventionsstaaten ein Organ haben, welches den Anforderungen der gesetzgebenden Körperschaft entspricht. Die Beschreibung des Organs anhand seiner strukturellen Merkmale betrifft das Gewaltenteilungselement der institutionellen Pluralität. 517

Siehe die Nachweise in Fn. 253. Ermacora, Allgemeine Staatslehre, S. 571; Classen, Nationales Verfassungsrecht in der EU, Rn. 326; Haller / Kölz / Gächter, Allgemeines Staatsrecht, Rn. 864. 518

134

Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

I. Das Wahlrecht aus staatsorganisatorischer Perspektive: Mitwirkungsrecht und objektive staatliche Verpflichtungen Das Wahlrecht aus Art. 3 ZP ist die normative Anknüpfung für staatsorganisatorische Anforderungen an die gesetzgebende(n) Körperschaft(en) der Konventionsstaaten. Außerdem prägt Art. 3 ZP maßgeblich das der EMRK zugrunde liegende Demokratieprinzip. Das Wahlrecht verfügt nicht nur über eine abwehrrechtliche Dimension, sondern verlangt vom Staat aktiv tätig zu werden, damit die Rechtsträger ihr Teilnahmerecht überhaupt ausüben können. Die Konventionsstaaten müssen Wahlen durchführen und eine gesetzgebende Körperschaft einrichten, die den Anforderungen des Art. 3 ZP entspricht. 1. Demokratie als die von der EMRK vorgegebene Staatsform Die theoretische Idee der Gewaltenteilung im modernen Verfassungsstaat leitet sich (auch) aus dem Demokratieprinzip ab.519 Eine Untersuchung der Gewaltenteilung in der EMRK darf daher das konventionsrechtliche Demokratieverständnis520 nicht außer Acht lassen.521 „The Court has consistently emphasised the importance of Article 3 of Protocol No. 1 in an effective democracy and, as a consequence, its prime importance in the Convention system. […] [I]t reiterated that the rights guaranteed under Article 3 of Protocol No. 1 are crucial to establishing and maintaining the foundations of an effective and meaningful democracy governed by the rule of law. […] [F]ree elections and freedom of expression, and particularly freedom of political debate, formed the foundation of any democracy.“522

519

Siehe hierzu oben auf S. 44. Insgesamt zum demokratischen Konzept des EGMR ten Napel, EuConst 5 (2009), S. 464 (465–473); Marks, BYIL 65 (1995), S. 209–238; Zand, University of Baltimore JIL 5 (2017), S. 195–228; Vidmar, CJICL 3 (2014), S. 532–555; Graziadei, EuConst 12 (2016), S. 54–84; Mowbray, EPL 2014, S. 469–498; Mowbray, Public Law 1999, S. 703–725. 521 Siehe auch Ress, Separation of Powers and the Function of the Judiciary, in: Barcellona /  Carrino, I diritti umani, S. 187 (194–195), der in seiner Darstellung ebenfalls das Demokratieprinzip einbezieht. 522 EGMR Nr. 7/08, Tănase v Moldawien (GK), 27.04.2010, § 154. Knapper schon EGMR Nr. 9267/81, Mathieu-Mohin und Clerfayt v Belgien (Pl.), 02.03.1987, § 47. Siehe zur Bedeutung des Demokratieprinzips im Konventionssystem auch EGMR Nr. 25144/94 u. a., Sadak u. a. v Türkei Nr. 2, 11.06.2002, § 32; Nr. 42202/07, Sitaropoulos und Giakoumopoulos v Griechenland (GK), 15.03.2012, § 63; Nr. 28508/11, 37602/11 und 43776/11, Abdalov u. a. v Aserbaidschan, 11.07.2019, § 89; zusammenfassend Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 25 Rn. 21. Zur Etablierung und Erhaltung einer effektiven und bedeutsamen rechtsstaatlichen Demokratie auch Nr. 19392/92, United Communist Party of Turkey u. a. v Türkei, 30.01.1998, § 45; Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 42; Nr. 11676/04, Boškoski v Mazedonien (Zul.), 02.09.2004; Nr. 10226/03, Yumak und Sadak v Türkei (GK), 08.07.2008, § 105; Nr. 310/15, Mugemangango v Belgien (GK), 10.07.2020, § 67; Nr. 14305/17, Selahattin Demirtaş v Türkei Nr. 2 (GK), 22.12.2020, § 382. 520

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP  

135

Das Wahlrecht aus Art. 3 ZP stellt eine wesentliche, aber nicht die einzige normative Anknüpfung für das konventionsrechtliche Demokratieprinzip dar. Anders als das Gewaltenteilungsprinzip ist das Demokratieprinzip bereits im Wortlaut der EMRK enthalten. In der Präambel findet sich das Bekenntnis zu einer demokra­ tischen Staatsform: Grundfreiheiten als „Grundlage von Gerechtigkeit und Frieden in der Welt [können] am besten durch eine wahrhaft demokratische politische Ordnung“ gesichert werden. Eingriffe in die Rechte aus Art. 6 Abs. 1 S. 2, Art. 8–11 Abs. 2 EMRK sowie Art. 2 Abs. 3 und 4 ZP 4 können nur gerechtfertigt werden, wenn sie „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ (necessary in a democratic society / nécessaire dans la societé démocratique) sind.523 Schließlich schützt die EMRK gemäß Art. 10 und 11 EMRK die Kommunikationsgrundrechte der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Die Präambel kann zwar als Auslegungshilfe herangezogen werden, hat aber keine normative Verbindlichkeit. „[T]he Preamble to the Convention […] establishes  a very clear connection between the Convention and democracy by stating that the maintenance and further realisation of human rights and fundamental freedoms are best ensured on the one hand by an effective political democracy and on the other by a common understanding and observance of human rights […]. The Preamble goes on to affirm that European countries have a common heritage of political tradition, ideals, freedom and the rule of law. The Court has observed that in that common heritage are to be found the underlying values of the Convention […].“524

Menschenrechtsschutz und Demokratie gehen in der EMRK Hand in Hand.525 Die Formulierung necessary in a democratic society wird konventionseinheitlich als Umschreibung des Verhältnismäßigkeitsprinzips verstanden.526 Das Leitbild der „demokratischen Gesellschaft“ begrenzt den Zweck und das Erfordernis einer grundrechtlichen Einschränkung:527 Die Konventionsrechte dürfen nur

523 Leicht abweichender Wortlaut bei Art. 6 Abs. 1 S. 2 EMRK: „im Interesse […] der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft“ (in the interests of […] national security in a democratic society / dans l’intérêt […] de la sécurité nationale dans une société démocratique). Ebenso bei Art. 2 Abs. 4 ZP 4: „in einer demokratischen Gesellschaft durch das öffentliche Interesse gerechtfertigt“ (justified by the public interest in a democratic society / justifiées par l’intérêt public dans une société démocratique.). 524 EGMR Nr. 19392/92, United Communist Party of Turkey u. a. v Türkei, 30.01.1998, § 45; dem folgend EGMR Nr. 17707/02, Melnychenko v Ukraine, 19.10.2004, § 54; inhaltsgleich EGMR Nr. 58278/00, Ždanoka v Lettland (GK), 16.03.2006, § 98. 525 Zand, University of Baltimore JIL 5 (2017), S. 195 (200). 526 Marauhn / Merhof, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  7 Rn. 43; Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 126–137; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 18 Rn. 14; Schilling, AVR 2006, S. 57 (60). 527 EGMR Nr. 19392/92, United Communist Party of Turkey u. a. v Türkei, 30.01.1998, § 45; dazu ausführlich Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 37–38, 126–137; Hoffmann-Remy, Grundrechtseinschränkung nach den Art. 8–11 Abs. 2 EMRK, S. 54–81; außerdem Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 147 Rn. 28.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

aus Gründen der demokratischen Gesellschaft eingeschränkt werden.528 Der Begriff der demokratischen Gesellschaft verlangt von den Konventionsstaaten nicht, ihr parlamentarisches System auf eine bestimmte Weise nach den Vorgaben der EMRK zu organisieren.529 Vielmehr müssen die Konventionsstaaten die Grundwerte von Pluralismus, Toleranz und Offenheit (broadmindedness) beachten.530 „In view of the very clear link between the Convention and democracy […], no one must be authorised to rely on the Convention’s provisions in order to weaken or destroy the ideals and values of a democratic society. Pluralism and democracy are based on a compromise that requires various concessions by individuals or groups of individuals, who must sometimes agree to limit some of the freedoms they enjoy in order to guarantee greater stability of the country as a whole […].“531

Im Ergebnis werden also die Interessen des Einzelnen an der Ausübung seines Grundrechts und die Interessen der demokratischen Gesellschaft abgewogen.532 Die Meinungs-, die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit aus Art. 10 und 11 EMRK zählt der EGMR ebenfalls zu den Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft.533 Sie sind für das Demokratieverständnis der EMRK auch über ihre Schrankenregelungen hinaus bedeutsam. Die Vereinigungsfreiheit schützt auch politische Vereinigungen, also Parteien.534 Allgemein sichern die kommunikativen

528

EGMR Nr. 19392/92, United Communist Party of Turkey u. a. v Türkei (GK), 30.01.1998, § 45; dem folgend EGMR Nr. 41340/98 u. a., Refah Partisi (the Welfare Party) u. a. v Türkei (GK), 13.02.2003, § 86; Zand, University of Baltimore JIL 5 (2017), S. 195 (202). 529 Marauhn / Merhof, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  7 Rn. 53. 530 Grundlegend EGMR Nr. 5493/72, Handyside v Vereinigtes Königreich (Pl.), 07.12.1976, § 49; Nr. 7601/76 und 7806/77, Young, James und Webster v Vereinigtes Königreich (Pl.), 13.08.1981, § 63; Nr. 44158/98, Gorzelik u. a. v Polen (GK), 17.02.2004, § 90; aktuell etwa EGMR Nr. 29580/12 u. a., Navalnyy v Russland (GK), 15.11.2018, § 175; Nr. 63571/16 u. a., Ibrahimov und Mammadov v Aserbaidschan, 13.02.2020, § 164; Nr. 41288/15, Beizaras und Levickas v Litauen, 14.01.2020, § 106; Nr. 46712/15, Berkman v Russland, 01.12.2020, § 45; Marauhn / Merhof, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / G G, Kap.  7 Rn. 53; Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 147 Rn. 28; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 18 Rn. 18; Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 291–293. 531 EGMR Nr. 41340/98 u. a., Refah Partisi (the Welfare Party) u. a. v Türkei (GK), 13.02.2003, § 99; dem folgend EGMR Nr. 58278/00, Ždanoka v Lettland (GK), 16.03.2006, § 100. 532 EGMR Nr. 19392/92, United Communist Party of Turkey u. a. v Türkei, 30.01.1998, § 32; Nr. 58278/00, Ždanoka v Lettland (GK), 16.03.2006, § 100; vgl. auch Marks, BYIL 65 (1995), S. 209 (216). 533 EGMR Nr. 25390/94, Rekvényi v Ungarn (GK), 20.05.1999, § 42 (zur Meinungsfreiheit); Nr. 44158/98, Gorzelik u. a. v Polen (GK), 17.02.2004, §§ 92–93; Nr. 37553/05, Kudrevičius u. a. v Litauen (GK), 15.10.2015, § 91 (zur Versammlungsfreiheit); Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 132 (zur Meinungsfreiheit); Nr. 29580/12 u. a., Navalnyy v Russland (GK), 15.11.2018, § 98 (zur Versammlungsfreiheit). 534 EGMR Nr. 19392/92, United Communist Party of Turkey u. a. v Türkei, 30.01.1998, §§ 24–25; Blanke, Kommunikative und politische Grundrechte, in: Merten / Papier, HbGR,

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP  

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Grundrechte den freien politischen Diskurs und schützen dabei in der Abwägung zwischen Individualinteressen und Interessen der demokratischen Gesellschaft auch Minderheitsmeinungen: „[A]lthough individual interests must on occasion be subordinated to those of  a group, democracy does not simply mean that the views of the majority must always prevail: a balance must be achieved which ensures the fair and proper treatment of minorities and avoids any abuse of a dominant position […].“535

Die kommunikativen Konventionsrechte tragen dazu bei, die demokratische Gesellschaft als tolerante, offene und pluralistische Gesellschaft zu verwirklichen. Art. 3 ZP verlangt schließlich von den Konventionsstaaten, dass eine gesetzgebende Körperschaft existiert und dass diese durch Wahlen demokratisch legitimiert ist.536 Die Konventionsstaaten sind verpflichtet, regelmäßig Wahlen zu dieser gesetzgebenden Körperschaft durchzuführen537 und hierbei die Grundsätze der allgemeinen, freien, geheimen und gleichen Wahl zu beachten.538 Hierdurch wird die demokratische Legitimation der gesetzgebenden Körperschaft regelmäßig aktualisiert.539 Demokratie ist die einzige Staatsform, die mit der EMRK vereinbar ist.540 Bei der Ausgestaltung des Wahlsystems steht den Konventionsstaaten ein großer Ge-

Bd. VI/1, § 142 Rn. 38; Bröhmer, in: Dörr / G rote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  19 Rn.  95. 535 EGMR Nr. 7601/76 und 7806/77, Young, James und Webster v Vereinigtes Königreich (Pl.), 13.08.1981, § 63; Nr. 44158/98, Gorzelik u. a. v Polen (GK), 17.02.2004, § 90; Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 147; Nr. 29580/12 u. a., Navalnyy v Russland (GK), 15.11.2018, § 175; Nr. 41288/15, Beizaras und Levickas v Litauen, 14.01.2020, § 106. 536 Peters / Altwicker, EMRK, § 17 Rn. 1; Arndt, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 3 ZP 1 Rn. 3; Meyer-Ladewig / Nettesheim, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 3 ZP  Rn.  4; Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 25 Rn. 43. 537 Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  25 Rn.  55. 538 Der Wortlaut des Art. 3 ZP nennt lediglich die Wahlrechtsgrundsätze der freien und geheimen Wahl. Die Zählwertgleichheit jeder Stimme ist ebenfalls anerkannt. Da der EGMR jedoch auch Mehrheitswahlsysteme und Sperrklauseln akzeptiert, wird keine Erfolgswertgleichheit gewährleistet. Die Allgemeinheit der Wahl ist ebenfalls nicht explizit geschützt, gleichwohl vom EGMR aber vom EGMR anerkannt, obwohl sie nicht im Wortlaut des Art. 3 ZP enthalten ist, Meyer-Ladewig / Nettesheim, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 3 ZP Rn. 13–19; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 23 Rn. 113; Peters / Altwicker, EMRK, § 17 Rn. 4. 539 Vgl. Cremona, The Right to free elections in the ECHR, in: Mahoney, GS Ryssdal, S. 309 (314). 540 EGMR Nr. 19392/92, United Communist Party of Turkey u. a. v Türkei (GK), 30.01.1998, § 45; Nr. 44158/98, Gorzelik u. a. v Polen (GK), 17.02.2004, § 89; Nr. 58278/00, Ždanoka v Lettland (GK), 16.03.2006, § 98; Peters / Altwicker, EMRK, § 17 Rn. 1; Zand, University of Baltimore JIL 5 (2017), S. 195 (201); ten Napel, EuConst 5 (2009), S. 464 (465). Vgl. auch Schilling, AVR 2006, S. 57 (61).

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

staltungsspielraum zu, bis zu dem Punkt, ab dem die freie Meinungsäußerung des Volkes nicht mehr gesichert ist.541 In diesem Fall hätte die gesetzgebende Körperschaft keine Repräsentationsfunktion mehr. Zusammenfassend setzt sich das konventionsrechtliche Demokratieprinzip aus verschiedenen Aspekten zusammen: Als repräsentative parlamentarische Demokratie müssen die Konventionsstaaten regelmäßig Wahlen zur gesetzgebenden Körperschaft durchführen, welche den Willen des Volkes repräsentiert. Der inner- und außerparlamentarische demokratische Prozess wird durch die Kommunikationsfreiheiten geschützt, sodass Meinungen frei geäußert und Interessen frei vertreten werden können.542 Die Schrankenregelungen, dass ein Eingriff in Konventionsrechte in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein muss, umschreibt das Verhältnismäßigkeitsprinzip sowie die Abwägung zwischen Individual- und Allgemeininteressen. 2. Das Wahlrecht als politisches Recht Durch die Bezeichnung als „politisches Recht“543 machte der EGMR eine Aussage über die Grundrechtsfunktion des Wahlrechts. Politische Rechte schützen die „Mitwirkung an den institutionalisierten Formen demokratischer Willensbildung“ sowie an der Ausübung der Hoheitsgewalt.544 Sie setzen voraus, dass der Staat aktive Maßnahmen ergreift, damit die Bürger an der demokratischen Willensbildung teilnehmen oder mitwirken können. Im Ždanoka-Urteil grenzte der EGMR das Wahlrecht von weiteren politischen Rechten wie der Meinungs- oder der Vereinigungsfreiheit ab. Zwar tragen alle diese Rechte dazu bei, einen Meinungspluralismus in einer demokratischen Gesellschaft zu ermöglichen.545 Aber: „Because of the relevance of Article 3 of Protocol No. 1 to the institutional order of the State, this provision is cast in very different terms from Articles 8 to 11 of the Convention. Article 3 of Protocol No. 1 is phrased in collective and general terms, although it has been interpreted by the Court as also implying specific individual rights. The standards to be applied for

541

Rainey / McCormick / O vey, Jacobs, White, and Ovey, S. 610; ausführlich dazu ab S. 144. Vgl. Lécuyer, RTDH 2014, S. 127 (132–133). 543 EGMR Nr. 9267/81, Mathieu-Mohin und Clerfayt v Belgien (Pl.), 02.03.1987, §§ 49–50 (für den genauen Wortlaut siehe Zitat zu Fußnote 564); Nr. 58278/00, Ždanoka v Lettland (GK), 16.03.2006, § 105; im Schrifttum Antonopoulos, La jurisprudence des organs de la CEDH, S. 210; Lécuyer, RTDH 2014, S. 127 (131). 544 Nowak, Politische Grundrechte, S. 10 für die von ihm als „politische Rechte im engeren Sinne“ bezeichneten Rechte. Siehe außerdem Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 137: „Recht auf Teilnahme am Staat“; dem folgend Starck, Teilnahmerechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. II, § 41 Rn. 1–2. 545 EGMR Nr. 58278/00, Ždanoka v Lettland (GK), 16.03.2006, § 115 a. 542

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establishing compliance with Article 3 of Protocol No. 1 must therefore be considered to be less stringent than those applied under Articles 8 to 11 of the Convention.“546

Präziser als die Bezeichnung „politisches Recht“ ist also die Bezeichnung als Mitwirkungs- beziehungsweise Teilnahmerecht,547 denn dieser Begriff hebt in Abgrenzung zu den anderen politischen Rechten die Garantie der aktiven Mitwirkung an der institutionellen Willensbildung hervor. Die Formulierung subjective rights of participation verwendete auch der EGMR in dem Grundlagenurteil Mathieu-Mohin.548 3. Die subjektiv-rechtlichen Gewährleistungen Sowohl der Standort des Wahlrechts im ersten Zusatzprotokoll der Konvention als auch der Wortlaut der Norm deuten auf die Kontroversen hin, die der Verabschiedung dieses politischen Rechts vorausgingen.549 Einzigartig im System der Konvention enthält der Wortlaut der Norm eine objektive Verpflichtung der Staaten, kein subjektives Recht (The High Contracting Parties undertake to hold elections). Einige Konventionsstaaten sorgten sich vor einer zu großen Einmischung in ihre Wahlsysteme und in staatsorganisatorische Fragen.550 Nach Inkrafttreten des ersten Zusatzprotokolls dauerte es noch über dreißig Jahre, bis der EGMR in der Sache Mathieu-Mohin v Belgien erstmalig mit einer Beschwerde zum Wahlrecht befasst wurde und klarstellte, dass das Wahlrecht aus Art. 3 ZP trotz seines Wortlauts ein subjektives Recht ist.551 Das Gericht erkannte das aktive und das passive

546

EGMR Nr. 58278/00, Ždanoka v Lettland (GK), 16.03.2006, § 115 a. Beide Begriffe können synonym verwendet werden, Starck, Teilnahmerechte, in: Merten /  Papier, HbGR, Bd. II, § 41 Rn. 1. Vgl. für die Einordnung des Wahlrechts als Mitwirkungsrecht (in den deutschen allgemeinen Grundrechtslehren) Jarass, Funktionen und Dimensionen der Grundrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. II, § 38 Rn. 14; Peters / Altwicker,  EMRK, § 17 Rn. 1 bezeichnen das Wahlrecht als Partizipationsrecht. Das Wahlrecht ungenau als Teilhaberecht einordnend Arndt, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 3 ZP 1 Rn. 3. 548 EGMR Nr. 9267/81, Mathieu-Mohin und Clerfayt v Belgien (Pl.), 02.03.1987, § 51. Mit der Formulierung subjective rights of participation ansonsten nur noch EGMR Nr. 63849/09, Kulinski und Sabev v Bulgarien, 21.07.2016, § 44. 549 Ausführlich zur Entstehungsgeschichte Nowak, Politische Grundrechte, S. 142–149; ­Schabas, ECHR, Art. 3 ZP, S. 1012–1018; Golubok, NQHR 2009, S. 361 (364–366); Goy, Revue du Droit Public 1986, S. 1275 (1278–1290). 550 Schabas, ECHR, Art. 3 ZP, S. 1012–1018; Wildhaber, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 3 ZP Rn. 3 (1986) m. w. N. zu den Sitzungsprotokollen; O’Boyle, HRLJ 30 (2009–2010), S. 1 (1). Vgl. auch Goy, Revue du Droit Public 1986, S. 1275 (1289). 551 EGMR Nr. 9267/81, Mathieu-Mohin und Clerfayt v Belgien (Pl.), 02.03.1987, §§ 47–50; Nr. 75947/11, Davydov u. a. v Russland, 30.05.2017, § 271. Die EKMR hatte zu Beginn subjektive Qualität des Wahlrechts abgelehnt. Im Jahr 1975 erkannte die EKMR das Wahlrecht als subjektives Recht an, EKMR Nr. 7096/75, X v Vereinigtes Königreich (Zul.), 03.10.1975, DR 3, S. 165 (166). Zusammenfassend zu den EKMR-Entscheidungen Herndl, The Right to Participate in Elections, in: Benedek u. a., FS Ginther, S. 557 ff.; Golubok, NQHR 2009, S. 361 (366–367); Goy, Revue du Droit Public 1986, S. 1275 (1308–1315). 547

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Wahlrecht und später auch das Recht der gewählten Abgeordneten, ihr Mandat auszuüben (sit as a member of parliament) an.552 Art. 3 ZP schützt also auch das Mandat der gewählten Abgeordneten.553 Der EGMR hat zur Rechtfertigung eines Eingriffs in das Wahlrecht eine differenzierte Rechtsprechung entwickelt.554 Anders als im Falle der Art. 8–11 Abs. 2 EMRK enthält das Wahlrecht keine ausdrückliche Schranke und keine Aufzählung möglicher Eingriffszwecke.555 Jedoch ermöglichen implizite Schranken (implied limitations) einen Eingriff in das Wahlrecht.556 Das legitime Ziel eines Eingriffs muss mit der rule of law vereinbar sein und darf den allgemeinen Zielen der Konvention nicht widersprechen.557 Eine Maßnahme muss verhältnismäßig sein und darf die Effektivität und Integrität des Wahlprozesses nicht aufheben, der darauf abzielt, den Willen des Volkes zu ermitteln.558 Das Wahlrecht darf also nicht derart eingeschränkt werden, dass den Grundsätzen des Demokratieprinzips nicht mehr entsprochen wird. 552

EGMR Nr. 9267/81, Mathieu-Mohin und Clerfayt v Belgien (Pl.), 02.03.1987, § 51. Die Terminologie des „sogenannten aktiven und passiven Aspekts“ des Rechts aus Art. 3 ZP taucht so erstmals auf in EGMR Nr. 58278/00, Ždanoka v Lettland (GK), 16.03.2006, §§ 105–106. Speziell zum Recht, das Mandat auszuüben EGMR Nr. 25144/94 u. a., Sadak u. a. v Türkei Nr. 2, 11. 06. 2002, § 33; Nr. 33554/03, Lykourezos v Griechenland, 15.06.2006, § 50; Nr. 71907/01, Kavakçı v Türkei, 05.04.2007, § 41; Nr. 15394/02, Ilıcak v Türkei, 05.04.2007, § 30; Nr. 39424/02, Kovach v Ukraine, 07.02.2008, § 48; Nr. 27863/05, 28422/05 und 28028/05, Paschalidis, Koutmeridis und Zaharakis v Griechenland, 10.04.2008, § 25; Nr. 4517/04 u. a., Kılıçgedik u. a. v Türkei, 14.12.2010, § 46; Nr. 48555/10 und 48377/10, Riza u. a. v Bulgarien, 13.10.2015, § 141; Nr. 3840/10 u. a., Parti pour une société démocratique (DTP) u. a. v Türkei, 12.01.2016, § 118; Nr. 41683/06, Paunović und Milivojević v Serbien, 24.05.2016, § 58. 553 Siehe hierzu ausführlich ab S. 338. 554 Siehe für eine Darstellung nach Fallgruppen Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 25 Rn. 72–113. Eine ausführliche Darstellung zu den jeweiligen Eingriffen in das aktive und passive Wahlrecht auch bei O’Boyle, HRLJ 30 (2009–2010), S. 1 (3–9); Natale, RTDH 68 (2006), S. 939 (955–971). 555 Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  25 Rn.  114; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 23 Rn. 118. 556 Grundlegend EGMR Nr. 9267/81, Mathieu-Mohin und Clerfayt v Belgien (Pl.), 02.03.1987, § 52; dem folgend Nr. 58278/00, Ždanoka v Lettland (GK), 16.03.2006, § 103; Nr. 75947/11, Davydov u. a. v Russland, 30.05.2017, § 272; Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 25 Rn. 114; zum Begriff der impliziten Schranke ausführlich ab S. 228. 557 EGMR Nr. 58278/00, Ždanoka v Lettland (GK), 16.03.2006, § 115 b; Nr. 10226/03, Yumak und Sadak v Türkei (GK), 08.07.2008, § 109 iii; Nr. 34932/04, Paksas v Litauen (GK), 06.01.2011, § 100. Ähnlich bereits EGMR Nr. 74025/01, Hirst v Vereinigtes Königreich Nr. 2 (GK), 06.10.2005, § 74; zusammenfassend Golubok, NQHR 2009, S. 361 (371–376). 558 EGMR Nr. 9267/81, Mathieu-Mohin und Clerfayt v Belgien (Pl.), 02.03.1987, § 52; Nr. 74025/01, Hirst v Vereinigtes Königreich Nr. 2 (GK), 06.10.2005, § 61; Nr. 58278/00, Ždanoka v Lettland (GK), 16.03.2006, § 104; Nr. 10226/03, Yumak und Sadak v Türkei (GK), 08.07.2008, §§ 109iv; Nr. 12535/06, Karimov v Aserbaidschan, 25.09.2014, § 36; Nr. 41683/06, Paunović und Milivojević v Serbien, 24.05.2016, § 60; Nr. 75947/11, Davydov u. a. v Russland, 30.05.2017, § 272; Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 25 Rn. 116; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 23 Rn. 113.

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Die Wahl bestimmt die Besetzung der gesetzgebenden Körperschaft. Die Besetzungs- und Ernennungsverfahren sind ein Aspekt der personellen Gewaltenteilung.559 Für die institutionelle Rolle der gesetzgebenden Körperschaften und ihr Verhältnis zu anderen hoheitlichen Organen ist vor allem relevant, dass eine Wahl stattfand, nicht in welchem Verfahren. Denn die Wahl durch das Volk bedeutet, dass kein anderes Organ über die Besetzung der gesetzgebenden Körperschaft entscheidet. Die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 3 ZP gestalten hingegen vorrangig das Demokratieprinzip aus, da sie gewährleisten sollen, dass die Meinung des Volkes möglichst unverfälscht in der Besetzung des Parlaments abgebildet wird. Wegen ihrer nachgeordneten Bedeutung für die Gewaltenteilung als institutionelle Zuständigkeitsordnung wird an dieser Stelle auf eine nähere Auseinandersetzung mit dem Gewährleistungsgehalt der Wahlrechtsgrundsätze verzichtet. 4. (Objektive) Staatliche Verpflichtungen Das aktive und das passive Wahlrecht enthalten objektive Verpflichtungen für die Konventionsstaaten,560 welche aus dem subjektiven Gewährleistungsgehalt des Wahlrechts abgeleitet werden.561 Dies entspricht dem Charakter des Wahlrechts als Mitwirkungsrecht. Neben dem abwehrrechtlichen Aspekt des Wahlrechts, also der Unterlassung einer staatlichen Beeinflussung der Wahl, enthält Art. 3 ZP eine Einrichtungsgarantie genauso wie staatliche Verfahrens- und Organisationspflichten. a) Primäre Verpflichtung zur Durchführung von Wahlen Den Bürgern steht durch das Wahlrecht ein Recht auf Mitwirkung an der institutionalisierten demokratischen Willensbildung zu.562 Die Konventionsstaaten müssen dafür sorgen, dass die Bürger in regelmäßigen Abständen als Kandidaten oder Wähler an Wahlen teilnehmen und damit ihr aktives und passives Wahlrecht ausüben können. Dafür müssen die Konventionsstaaten Wahlen organisieren und durchführen:563 559 Siehe zur personellen Gewaltenteilung als viertem Element der Gewaltenteilung ab S. 100. 560 EGMR Nr. 12525/06, Karimov v Aserbaidschan, 25.09.2014, § 42; Nr. 8513/11, Abil v Aserbaidschan Nr. 2, 05.12.2019, § 66 m. w. N. 561 Holoubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten, S. 139–142; Krieger, in: Dörr /  Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  6 Rn.  10. 562 EGMR Nr. 9267/81, Mathieu-Mohin und Clerfayt v Belgien (Pl.), 02.03.1987, § 51; Nr. 63849/09, Kulinski und Sabev v Bulgarien, 21.07.2016, § 44. 563 EGMR Nr. 10226/03, Yumak und Sadak v Türkei (GK), 08.07.2008, § 106; Nr. 42202/07, Sitaropoulos und Giakoumopoulos v Griechenland (GK), 15.03.2012, § 67; Nr. 48555/10 und 48377/10, Riza u. a. v Bulgarien, 13.10.2015, § 136; Nr. 310/15, Mugemangango v Belgien (GK), 10.07.2020, § 68; Meyer-Ladewig / Nettesheim, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 3 ZP Rn. 2; Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

„[T]he inter-State colouring of the wording of Article 3 […] does not reflect any difference of substance from the other substantive clauses in the Convention and Protocols. The reason for it would seem to lie rather in the desire to give greater solemnity to the commitment undertaken and in the fact that the primary obligation in the field concerned is not one of abstention or non-interference, as with the majority of the civil and political rights, but one of adoption by the State of positive measures to ‚hold‘ democratic elections.“564

Aus der Einordnung des Wahlrechts als Mitwirkungsrecht und aus dem Wortlaut der Vorschrift565 folgt also die verfahrens- und organisationsrechtliche Handlungspflicht, Wahlen nach einem Art. 3 ZP entsprechenden Verfahren zu organisieren und durchzuführen. b) Einrichtungsgarantie Art. 3  ZP setzt außerdem voraus, dass es in jedem Staat eine gesetzgebende Körperschaft gibt, denn sonst können die Bürger ihr Wahlrecht nicht ausüben.566 Art. 3 ZP enthält also eine Einrichtungsgarantie, genauer eine institutionelle Garantie, für eine direkt gewählte gesetzgebende Körperschaft.567 Gäbe es in einem Konventionsstaat kein einziges Organ mit den Merkmalen einer gesetzgebenden Körperschaft im Sinne des Art. 3 ZP, so würde der Staat gegenüber allen wahlberechtigten Bürgern Art. 3 ZP verletzen. Ein solcher Fall gegen einen der 46 demokratisch organisierten Konventionsstaaten ist bislang nicht anhängig geworden. Der EGMR musste aber bereits darüber entscheiden, ob hoheitliche Organe neben dem nationalen Parlament als gesetzgebende Körperschaft eingeordnet werden konnten und ob die Wahlen zu diesen Organen in den Anwendungsbereich des Art. 3 ZP fielen.568 Der EGMR hätte also die Möglichkeit, auf Grundlage von Art. 3 ZP starken Einfluss auf die Ausgestaltung des gesetzgebenden Organs und

EMRK / GG, Kap.  25 Rn.  68; Blanke, Kommunikative und politische Rechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 142 Rn. 4; Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 859 spricht von der „Schaffung einer rechtlichen und tatsächlichen ‚Infrastruktur‘“; Antonopoulos, La jurisprudence des organes de la CEDH, S. 211: „[C]haque Etat Contractant doit prendre toutes les mesures nécessaires en vue de respecter cette obligation.“ 564 EGMR Nr. 9267/81, Mathieu-Mohin und Clerfayt v Belgien (Pl.), 02.03.1987, §§ 49–50 (Hervorhebung durch die Verfasserin). 565 Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 859; Wiesbrock, Internationaler Schutz der Menschenrechte, S. 102–104. Anders Dröge, Positive Verpflichtungen, S. 7–8, der Art. 3 ZP zu den materiellen Rechten zählt, denen die Verfahrensgarantien erst interpretativ zugeordnet wurden, nicht aber wie Art. 6 Abs. 1 oder Art. 13 EMRK den ausdrücklichen Verfahrensrechten. 566 Arndt, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 3 ZP 1 Rn. 3; Meyer-Ladewig / Nettesheim, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 3 ZP  Rn.  4; Richter, in: Dörr /  Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  25 Rn.  43; Goy, Revue du Droit Public 1986, S. 1275 (1299); vgl. auch Peters / Altwicker, EMRK, § 17 Rn. 1. 567 Tian, Objektive Grundrechtsfunktionen S. 97–98. 568 Siehe dazu sogleich ab S. 149.

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damit einen zentralen Teil der Staatsorganisation zu nehmen.569 Bis jetzt hielt sich der Gerichtshof damit aber zurück.570 c) Unparteiliche Wahlorganisation und Wahlprüfung Die Wahl muss von Organen organisiert und durchgeführt werden, die ausreichend unparteilich sind, um einen ordnungsgemäßen Ablauf der Wahl und eine anschließende Wahlprüfung garantieren. Der EGMR sieht hierin ein wichtiges Instrument, um das Vertrauen in die Durchführung der Wahl sicherzustellen.571 Indem sie Kandidaten zur Wahl zulassen,572 Wahlergebnisse feststellen573 und den Wahlvorgang kontrollieren,574 nehmen die Wahlorgane weitreichenden Einfluss auf den konventionskonformen Ablauf der Wahl. Der EGMR macht nicht nur Vorgaben ihrer Besetzung, sondern auch zum Entscheidungsspielraum und zum Verfahren. „[I]t is important for the authorities in charge of electoral administration to function in a transparent manner and to maintain impartiality and independence from political manipulation […] and that their decisions must be sufficiently reasoned […].“575 „[T]he decision-making process concerning challenges to election results must be accompanied by adequate and sufficient safeguards ensuring, in particular, that any arbitrariness can be avoided. In particular, the decisions in question must be taken by a body which can provide sufficient guarantees of its impartiality. Similarly, the discretion enjoyed by the body concerned must not be excessive; it must be circumscribed with sufficient precision by the provisions of domestic law. Lastly, the procedure must be such as to guarantee a fair, objective and sufficiently reasoned decision […].“576

569

Wojtyczek, ERPL 32 (2020), S. 185 (197). Die Sorge einer zu starken Einflussnahme hatten auch einige Konventionsstaaten bei den Verhandlungen zum ersten Zusatzprotokoll, siehe hierzu die Nachweise in Fn. 550. 570 Wojtyczek, ERPL 32 (2020), S. 185 (197); vgl. auch Golubok, NQHR 2009, S. 361 (390). 571 EGMR Nr. 75947/11, Davydov u. a. v Russland, 30.05.2017, § 274; Nr. 310/15, Mugemangango v Belgien (GK), 10.07.2020, §§ 87, 96. 572 EGMR Nr. 46726/99, Podkolzina v Lettland, 09.04.2002, § 25 (Name der Beschwerdeführerin wurde von der Kandidatenliste gestrichen); Nr. 31953/11, Tahirov v Aserbaidschan, 11.06.2015, § 43 (Registrierung als Kandidat wurde abgelehnt); ebenso EGMR Nr. 28508/11, 37602/11 und 43776/11, Abdalov u. a. v Aserbaidschan, 11.07.2019, § 82. 573 In EGMR Nr. 78039/01, Grosaru v Rumänien, 02.03.2010, § 46 ging es um die Zuweisung eines Parlamentssitzes. In EGMR Nr. 75947/11, Davydov u. a. v Russland, 30.05.2017, § 280 machten die Beschwerdeführer geltend, dass die offiziellen veröffentlichten Ergebnisse nicht dem Ergebnis der Auszählungen entsprachen. 574 EGMR Nr. 310/15, Mugemangango v Belgien (GK), 01.07.2020, § 75. 575 EGMR Nr. 31953/11, Tahirov v Aserbaidschan, 11.06.2015, § 57; inhaltsgleich EGMR Nr. 75947/11, Davydov u. a. v Russland, 30.05.2017, § 275; knapper EGMR Nr. 9103/04, Georgian Labour Party v Georgien, 08.07.2008, § 101. 576 EGMR Nr. 310/15, Mugemangango v Belgien (GK), 10.07.2020, § 70; inhaltsgleich schon EGMR Nr. 46726/99, Podkolzina v Lettland, 09.04.2002, § 35; Nr. 78039/01, Grosaru v Rumänien, 02.03.2010, § 47.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Diese Voraussetzungen werden allerdings nur dann relevant, wenn ein ernsthafter Verstoß gegen die Wahlgesetze vorliegt: Eine Unregelmäßigkeit im Ablauf der Wahl allein führt nicht automatisch dazu, die Wahl als unfair einzustufen.577 Um die Unparteilichkeit der Wahlkommissionen und Wahlprüfungsorgane zu beurteilen, knüpft der EGMR an die zu Art. 6 Abs. 1 EMRK entwickelten Grundsätze an.578 Entscheiden gewählte Abgeordnete über eine Beschwerde eines Gegenkandidaten, deren Begründetheit dazu führen würde, dass sie ihren Sitz im Parlament verlieren, ist die Unparteilichkeit nicht gewahrt.579 5. Weiter staatlicher Gestaltungsspielraum Trotz der ursprünglichen Befürchtungen der Konventionsstaaten580 machte der EGMR den Konventionsstaaten bislang keine strengen Vorgaben für deren Wahlsysteme. Vielmehr räumte der EGMR den Konventionsstaaten einen weiten Entscheidungsspielraum (margin of appreciation) ein. a) Ausgestaltung des Wahlsystems Der Gestaltungsspielraum für die Ausgestaltung des Wahlsystems geht bereits auf das Urteil Mathieu-Mohin v Belgien zurück. „[T]he Contracting States have a wide margin of appreciation, given that their legislation on the matter varies from place to place and from time to time. Electoral systems seek to fulfil objectives which are sometimes scarcely compatible with each other: on the one hand, to reflect fairly faithfully the opinions of the people, and on the other, to channel currents of thought so as to promote the emergence of a sufficiently clear and coherent political will.“581

Im Urteil Hirst v Vereinigtes Königreich Nr. 2 konkretisierte der EGMR: „There are numerous ways of organising and running electoral systems and  a wealth of differences, inter alia, in historical development, cultural diversity and political thought within Europe which it is for each Contracting State to mould into their own democratic vision.“582 577

EGMR Nr. 75947/11, Davydov u. a. v Russland, 30.05.2017, §§ 276, 289–311; Nr. 310/15, Mugemangango v Belgien (GK), 10.07.2020, §§ 72, 80–86. 578 EGMR Nr. 310/15, Mugemangango v Belgien (GK), 10.07.2020, §§ 94–96. Siehe genauer zur gerichtlichen Unparteilichkeit ab S. 426. 579 EGMR Nr. 310/15, Mugemangango v Belgien (GK), 10.07.2020, §§ 106–108. 580 Siehe hierzu die Nachweise in Fn. 550. 581 EGMR Nr. 9267/81, Mathieu-Mohin und Clerfayt v Belgien (Pl.), 02.03.1987, § 54; dem folgend EGMR Nr. 10226/03, Yumak und Sadak v Türkei (GK), 08.07.2008, §§ 110, 112; Nr. 42202/07, Sitaropoulos und Giakoumopoulos v Griechenland (GK), 15.03.2012, § 65. 582 EGMR Nr. 74025/01, Hirst v Vereinigtes Königreich Nr. 2 (GK), 06.10.2005, § 61; dem folgend EGMR Nr. 58278/00, Ždanoka v Lettland (GK), 16.03.2006, § 103; Nr. 42202/07, Sitaropoulos und Giakoumopoulos v Griechenland (GK), 15.03.2012, § 66; Nr. 310/15, ­Mugemangango v Belgien (GK), 10.07.2020, § 73.

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Der EGMR hat zwar – über den Wortlaut hinaus – den Grundsatz der Gleichheit der Wahl anerkannt. Gleichzeitig akzeptierte der Gerichtshof sowohl Systeme der Verhältniswahl als auch der Mehrheitswahl,583 sodass die Erfolgswertgleichheit nicht garantiert ist.584 In der Sache Yumak und Sadak erklärte der EGMR sogar Sperrklauseln in Höhe von 10 % der abgegebenen Stimmen für konventionskonform.585 b) Eingriffe in das aktive und in das passive Wahlrecht Die Möglichkeit, einen Eingriff in das Wahlrecht zu rechtfertigen, wird den Konventionsstaaten auf zwei Ebenen erleichtert: einerseits durch die vom EGMR entwickelte Doktrin der impliziten Beschränkungen (implied limitations), nach der sich eine Rechtfertigung – anders als bei den ausdrücklichen Schranken des Art. 8–11 Abs. 2 EMRK – nicht an festgeschriebenen legitimen Zielen orientieren muss,586 und andererseits durch den weiten margin of appreciation.587 Im Ždanoka-Urteil erläuterte der EGMR die unterschiedlichen Rechtfertigungsmöglichkeiten eines Eingriffs in das Wahlrecht aus Art. 3 ZP einerseits und in die politischen Rechte im weiteren Sinne aus Art. 8–11 EMRK andererseits: „Given that Article 3 of Protocol No. 1 is not limited by a specific list of ‚legitimate aims‘ such as those enumerated in Articles 8 to 11 of the Convention, the Contracting States are therefore free to rely on an aim not contained in that list to justify a restriction, provided that the compatibility of that aim with the principle of the rule of law and the general objectives of the Convention is proved in the particular circumstances of a case. […] In examining compliance with Article 3 of Protocol No. 1, the Court has focused mainly on two criteria: whether there has been arbitrariness or a lack of proportionality, and 583

EGMR Nr. 53180/99, Gorizdra v Moldawien (Zul.), 02.07.2002; Nr. 10226/03, Yumak und Sadak v Türkei (GK), 08.07.2008, § 110; Nr. 42202/07, Sitaropoulos und Giakoumopoulos v Griechenland (GK), 15.03.2012, § 65; siehe auch schon EKMR Nr. 11123/84, Tête v Frankreich (Zul.), 09.12.1987, DR 54, S. 62. 584 EGMR Nr. 9267/81, Mathieu-Mohin und Clerfayt v Belgien (Pl.), 02.03.1987, § 54; Nr. 44081/02, Bompard v Frankreich (Zul.), 04.04.2006; Nr. 39424/02, Kovach v Ukraine, 07.02.2008, § 49; Nr. 10226/03, Yumak und Sadak v Türkei (GK), 08.07.2008, § 112. 585 EGMR Nr. 10226/03, Yumak und Sadak v Türkei, 08.07.2008, §§ 112–115 mit einem Überblick zur bisherigen Rechtsprechung des EGMR zu Sperrklauseln, §§ 116–147. Siehe hierzu auch Golubok, NQHR 2009, S. 361 (376–378). 586 EGMR Nr. 58278/00, Ždanoka v Lettland (GK), 16.03.2006, § 115 a–b (siehe auch das wörtliche Zitat zu Fn. 546). 587 EGMR Nr. 9267/81, Mathieu-Mohin und Clerfayt v Belgien (Pl.), 02.03.1987, § 52 als Beginn einer ständigen Rechtsprechung; dem folgend unter vielen EGMR Nr. 24833/94, Mat­ thews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 63; Nr. 46726/99, Podkolzina v Lettland, 09.04.2002, § 33; Nr. 17707/02, Melnychenko v Ukraine, 19.10.2004, § 54; Nr. 74025/01, Hirst v Vereinigtes Königreich Nr. 2 (GK), 06.10.2005, § 60; Nr. 33554/03, Lykourezos v Griechenland, 15.06.2006, § 52; Nr. 34932/04, Paksas v Litauen (GK), 06.01.2011, § 96; Nr. 41683/06, Paunović und Milivojević v Serbien, 24.05.2016, § 59.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

whether the restriction has interfered with the free expression of the opinion of the people. In this connection, the wide margin of appreciation enjoyed by the Contracting States has always been underlined. […].“588

Wird in das passive Wahlrecht eingegriffen, etwa durch die Inkompatibilität eines Abgeordnetenmandats mit anderen hoheitlichen Ämtern,589 ist der Gestaltungsspielraum der Konventionsstaaten noch größer als bei den Einschränkungen des aktiven Wahlrechts.590 Der EGMR hält sich also bei Fragen des passiven Wahlrechts, die sich noch stärker auf die Staatsorganisation auswirken, besonders zurück. c) Besonderheit: Kontextabhängige Maßstäbe Die Konventionskonformität des Wahlsystems und möglicher Einschränkungen des passiven Wahlrechts hängt nicht allein von den Vorgaben der EMRK ab. Der EGMR bezieht in seine Beurteilung auch die verfassungsgeschichtliche Entwicklung des jeweiligen Staates ein. „[T]he Contracting States enjoy considerable latitude in establishing constitutional rules on the status of members of parliament, including criteria governing eligibility to stand for election. Although they have a common origin in the need to ensure both the independence of elected representatives and the freedom of choice of electors, these criteria vary in accordance with the historical and political factors specific to each State. […] [A]ny electoral legislation must be assessed in the light of the political evolution of the country concerned […].“591

Regelungen, die in einem staatlichen System konventionswidrig sind, können in einem anderen Kontext gerechtfertigt sein, solange die Mindestvoraussetzung, dass durch die Wahlen die Meinung des Volkes abgebildet wird, erfüllt bleibt.592 Beson-

588

EGMR Nr. 58278/00, Ždanoka v Lettland (GK), 16.03.2006, § 115 b–c. Dem folgend etwa EGMR Nr. 10226/03, Yumak und Sadak v Türkei (GK), 08.07.2008, § 109 iii; Nr. 42202/07, Sitaropoulos und Giakoumopoulos v Griechenland (GK), 15.03.2012, §§ 63–64. 589 Siehe dazu genauer unten ab S. 344. 590 EGMR Nr. 17707/02, Melnychenko v Ukraine, 19.10.2004, § 55; Nr. 13716/02, Sukhovetskyy v Ukraine, 28.03.2006, § 51; Nr. 58278/00, Ždanoka v Lettland (GK), 16.03.2006, § 115 e; Nr. 10226/03, Yumak und Sadak v Türkei (GK), 08.07.2008, § 109 v; Nr. 7/08, Tănase v Moldawien (GK), 27.04.2010, § 156; Nr. 34932/04, Paksas v Litauen (GK), 06.01.2011, § 96; ten Napel, EuConst 5 (2009), S. 464 (472). 591 EGMR Nr. 58278/00, Ždanoka v Lettland (GK), 16.03.2006, § 106; ähnlich EGMR Nr. 10226/03, Yumak und Sadak v Türkei (GK), 08.07.2008, § 111; Nr. 42202/07, Sitaropoulos und Giakoumopoulos v Griechenland (GK), 15.03.2012, § 66; Nr. 310/15, Mugemangango v Belgien (GK), 10.07.2020, § 73; ten Napel, EuConst 5 (2009), S. 464 (470). 592 EGMR Nr. 9267/81, Mathieu-Mohin und Clerfayt v Belgien (Pl.), 02.03.1987, § 54; dem folgend EGMR Nr. 46726/99, Podkolzina v Lettland, 09.04.2002, § 33; Nr. 10226/03, Yumak und Sadak v Türkei (GK), 08.07.2008, § 111; Nr. 42202/07, Sitaropoulos und Giakoumopoulos v Griechenland (GK), 15.03.2012, § 66; Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 25 Rn. 128 nimmt eine Aufgabe dieser Rechtsprechung an.

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dere Rücksicht nahm der EGMR auf die Entwicklung der jüngeren Demokratien, die ihr demokratisches System noch festigen mussten.593 Neben der Verfassungsgeschichte ist auch die aktuelle Verfassungsstruktur des jeweiligen Staates ausschlaggebend für die Einschätzung des EGMR.594 Diese Relativierungen erschweren es, allgemeingültige Vorgaben für den Begriff der legislature zu ermitteln. d) Grenzen des Gestaltungsspielraums: Begründete Individualbeschwerden Trotz aller Zurückhaltung bei der Kontrolldichte nimmt der EGMR für sich in Anspruch, letztverbindlich über die Konventionswidrigkeit einer staatlichen Maßnahme zu entscheiden.595 Bisher erklärte er allerdings nur selten eine auf Art. 3 ZP gestützte Beschwerde für begründet.596 Viele Individualbeschwerden scheiterten entweder in der Zulässigkeit, weil die Beschwerdeführer ein Wahlrecht zu staatlichen Organ geltend machten, das keine gesetzgebende Körperschaft war,597 oder in der Begründetheit, weil der Eingriff gerechtfertigt war.598 Die bisherigen vom EGMR festgestellten Verletzungen betrafen Fälle, in denen eine pauschale Verweigerung (blanket denial) des Wahlrechts für eine bestimmte Personengruppe vorlag, die von den Konventionsstaaten über längere Zeit verleugnet oder hingenommen wurde. Beispiele sind die Urteile Matthews, Aziz, Hirst Nr. 2 sowie Sejdić und Finci.599 Im Matthews-Fall wurden die gibraltarischen Bürger von der Wahl zum Europäischen Parlament ausgeschlossen,600 in Hirst Nr. 2 erklärte der EGMR einen generellen Ausschluss der Strafgefangenen vom

593

Vgl. z. B. EGMR Nr. 58278/00, Ždanoka v Lettland (GK), 16.03.2006, §§ 132–136. EGMR Nr. 9267/81, Mathieu-Mohin und Clerfayt v Belgien (Pl.), 02.03.1987, § 53; Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 40; Nr. 51501/99, Cherepkov v Russland (Zul.), 20.01.2000; Nr. 36681/97, Vito Sante Santoro v Italien, 01.07.2004, § 50. 595 EGMR Nr. 9267/81, Mathieu-Mohin und Clerfayt v Belgien (Pl.), 02.03.1987, § 52; dem folgend auch statt aller EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich, 18.02.1999, § 63; Nr. 58278/00, Ždanoka v Lettland (GK), 16.03.2006, § 104; Nr. 10226/03, Yumak und Sadak v Türkei (GK), 08.07.2008, § 109 iv; Nr. 7/08, Tănase v Moldawien (GK), 27.04.2010, § 161; Nr. 42202/07, Sitaropoulos und Giakoumopoulos v Griechenland (GK), 15.03.2012, § 64; Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  25 Rn.  34. 596 ten Napel, EuConst 5 (2009), S. 464 (472). Arai-Takahashi, The Margin of Appreciation Doctrine, S. 211 geht davon aus, dass der EGMR eine Konfrontation mit den Konventionsstaaten meidet. 597 Siehe dazu sogleich ab S. 149. 598 Einen Überblick über Rechtfertigung bei Eingriffen in das aktive und das passive Wahlrecht auch bei Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  25 Rn. 66–95; Cremona, The Right to free elections in the ECHR, in: Mahoney, GS Ryssdal, S. 309 (314–318); Natale, RTDH 68 (2006), S. 939 (955–971). 599 Zusammenfassend EGMR Nr. 13716/02, Sukhovetskyy v Ukraine, 28.03.2006, § 64. 600 EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich, 18.02.1999, § 65. 594

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Wahlrecht unabhängig von der Schwere der Straftat für konventionswidrig601 und im Aziz-Urteil war die Beschwerde begründet, weil sich der Beschwerdeführer türkisch-zypriotischer Herkunft nicht im griechisch-zypriotischen Wählerverzeichnis registrieren durfte, obwohl es seit über dreißig Jahren kein eigenes Wählerverzeichnis für die türkisch-zypriotischen Bürger gab.602 Einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 14 EMRK i. V. m. Art. 3 ZP EMRK stellte der EGMR im Fall Sejdić und Finci fest, weil Bürger, die sich keiner der drei in Bosnien und Herzegowina anerkannten ethnischen Gruppen zuordneten, keine rechtliche Möglichkeit hatten, in der zweiten parlamentarischen Kammer repräsentiert zu sein.603 Um den konventionswidrigen Zustand abzuändern, müsste Bosnien und Herzegowina seine Verfassung ändern.604 Dies ist bislang nicht passiert.605 Außerdem wurden Beschwerden für begründet erklärt, weil eine Wahlkommission beziehungsweise eine Wahlprüfungskommission nicht unparteilich war,606 weil die Kandidatur eines Beschwerdeführers willkürlich abgelehnt wurde607 oder weil die Beschwerde, dass die offiziell verkündeten Wahlergebnisse nicht korrekt waren, nicht auf transparente Weise untersucht wurde.608 Der EGMR verurteilte die Staaten insgesamt häufiger wegen einer konventionswidrigen Durchführung der Wahl als wegen konventionswidriger Wahlsysteme.

601 EGMR Nr. 74025/01, Hirst v Vereinigtes Königreich Nr. 2 (GK), 06.10.2005, § 82. In EGMR Nr. 126/05, Scoppola v Italien Nr. 3 (GK), 22.05.2012 entschied der EGMR jedoch, dass eine gesetzliche Regelung, die für den Fall einer bestimmten Mindest-Strafdauer bzw. für bestimmte Straftaten automatisch den zeitweisen oder sogar dauerhaften Entzug des Wahlrechts anordnet, so lange konventionskonform ist, wie sie erkennbar nach der Schwere des Vergehens differenziert. Neben der Entscheidung über die Strafbarkeit sei eine separate richterliche Entscheidung über den Entzug des Wahlrechts nicht notwendig (§ 102). 602 EGMR Nr. 69949/01, Aziz v Zypern, 22.06.2004, § 30. 603 EGMR Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, § 50. 604 Teilweise zustimmendes und teilweise abweichendes Sondervotum von Richterin Mijović zu EGMR Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009. 605 Ministerkomitee, CM / Del / Dec(2017)1288/H46–6, Supervision of the execution of the European Court’s judgments, 07.06.2017. 606 EGMR Nr. 46726/99, Podkolzina v Lettland, 09.04.2002, §§ 35–38; Nr. 78039/01, Grosaru v Rumänien, 02.03.2010, § 57; Nr. 310/15, Mugemangango v Belgien (GK), 10.07.2020, § 126. 607 EGMR Nr. 31953/11, Tahirov v Aserbaidschan, 11.06.2015, § 71; ähnlicher Sachverhalt und vergleichbares Ergebnis auch bei Nr. 28508/11 37602/11 und 43776/11, Abdalov u. a. v Aserbaidschan, 11.07.2019, § 103. 608 EGMR Nr. 75947/11, Davydov u. a. v Russland, 30.05.2017, §§ 335–336.

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP  

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6. Zwischenfazit Das Wahlrecht aus Art. 3 ZP ist ein unverzichtbarer Bestandteil des konventionsrechtlichen Demokratieprinzips. Es gewährleistet die regelmäßige Durchführung von Wahlen, verpflichtet die Konventionsstaaten, ihre repräsentativen Demokratien beizubehalten, und setzt die Existenz mindestens einer vom Volk gewählten gesetzgebenden Körperschaft in jedem Konventionsstaat voraus. Die Einrichtungsgarantie, dass alle Staaten eine gesetzgebende Körperschaft haben müssen, hat bislang noch nicht zu einer Verurteilung nach Art. 3 ZP geführt. Der EGMR gesteht den Konventionsstaaten einen weiten Gestaltungsspielraum zu. Die Staaten können ihre institutionelle Struktur sowie ihr Wahlsystem weitgehend frei gestalten. Im Falle einer Verurteilung besteht jedoch die Möglichkeit, dass die Staaten hierdurch zu Veränderungen ihrer staatlichen Organisation oder ihrer Wahlgesetze gezwungen werden – dies zeigte das Urteil Sejdić und Finci. Gleichzeitig veranschaulichte dieses Urteil auch, dass gerade strukturelle konventionsrechtliche Verpflichtungen besonders schwierig umzusetzen sind. Eine Änderung der Wahlgesetze war bislang ebenfalls nur selten und vor allem in solchen Fällen erforderlich, in denen einer Person oder einer Personengruppe pauschal das Wahlrecht verweigert wurde.

II. Fallgruppen zur legislature Die Einrichtungsgarantie verlangt, dass die Konventionsstaaten eine gesetzgebende Körperschaft haben, deren Besetzung durch Wahlen bestimmt wird. Darüber wird über den Begriff der gesetzgebenden Körperschaft der Anwendungsbereich des Art. 3 ZP bestimmt.609 Bei der Wahl zu einem Organ, das keine gesetzgebende Körperschaft ist, können sich die Bürger nicht auf das Wahlrecht berufen. Äußerungen des EGMR zur legislature finden sich daher häufig in Unzulässigkeitsentscheidungen, wenn die Beschwerde gemäß Art. 35 Abs. 3 EMRK ratione materiae mit der Konvention unvereinbar war.610 Die EGMR-Rechtsprechung lässt sich nach Fallgruppen bestimmter Organe oder Organtypen kategorisieren, deren Einordnung als gesetzgebende Körperschaft der EGMR entweder einheitlich bestätigte oder ablehnte.

609

EGMR Nr. 27996/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, § 40. Vgl. Arndt, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 3 ZP Rn. 5–6; Rainey / McCormick / Ovey, Jacobs, White, and Ovey, S. 612; Harris u. a., Law of the ECHR, S. 914. 610 Z. B. für die Fallgruppe der Staatsoberhäupter EGMR Nr. 11676/04, Boškoski v Maze­ donien (Zul.), 02.09.2004; für die Fallgruppe der kommunalen Körperschaften EGMR Nr. 51501/99, Cherepkov v Russland (Zul.), 20.01.2000.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

1. Ausgangspunkt: Das nationale Parlament Nationale Parlamente sind der Prototyp der gesetzgebenden Körperschaft. „The word ‚legislature‘ does not necessarily mean only the national parliament, however; it has to be interpreted in the light of the constitutional structure of the State in question.“611

Aus dem Umkehrschluss dieses Zitates ergibt sich, dass nationale Parlamente als gesetzgebende Körperschaft gelten. Betraf eine Beschwerde die Wahl zum nationalen Parlament, prüfte der EGMR die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Art. 3 ZP nicht.612 Er setzte stillschweigend voraus, dass die nationalen Parlamente der Konventionsstaaten gesetzgebende Körperschaften im Sinne des Art. 3 ZP sind und untersuchte daher die einzelnen Merkmale nicht. In dem Leiturteil Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina ging es um die Einordnung der zweiten parlamentarischen Kammer als gesetzgebende Kör­ perschaft. „[Article 3 of Protocol No. 1] applies only to elections of a ‚legislature‘, or at least of one of its chambers if it has two or more. […] [I]t is clear that Article 3 of Protocol No. 1 applies to any of a parliament’s chambers to be filled through direct elections.“613

Alle direkt gewählten parlamentarischen Kammern sind also gesetzgebende Körperschaften im Sinne des Art. 3 ZP. Vor dem Hintergrund, dass alle Konventionsstaaten repräsentative Demokratien sind und diese Staatsform voraussetzt, dass das Volk durch direkte Wahlen ein Parlament wählt,614 ist davon auszugehen, dass jeder Konventionsstaat mindestens eine gesetzgebende Körperschaft hat.

611

EGMR Nr. 9267/81, Mathieu-Mohin und Clerfayt v Belgien (Pl.), 02.03.1987, § 53; fast wortgleich EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 40; Nr. 51501/99, Cherepkov v Russland (Zul.), 20.01.2000; Nr. 36681/97, Vito Sante Santoro v Italien, 01.07.2004, § 50; Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, § 40; Nr. 4692/09, Uçar v Türkei (Zul.), 24.06.2014, § 29; Nr. 75947/11, Davydov u. a. v Russland, 30.05.2017, § 278; siehe auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 220. 612 So etwa im Fall EGMR Nr. 46726/99, Podkolzina v Lettland, 09.04.2002; Nr. 74025/01, Hirst v Vereinigtes Königreich Nr. 2 (GK), 06.10.2005; Nr. 13716/02, Sukhovetskyy v Ukraine, 28.03.2006; ausdrücklich sogar EGMR Nr. 36681/97, Vito Sante Santoro v Italien, 01.07.2004 § 51: „In the present case, there is no doubt that the national parliament is a legislative body within the meaning of Article 3 of Protocol No. 1“. 613 EGMR Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, § 40. Für den ersten Teil des Zitats auch schon EGMR Nr. 9267/81, Mathieu-­Mohin und Clerfayt v Belgien (Pl.), 02.03.1987, § 53. 614 Siehe zu den demokratischen Grundprinzipien der EMRK bereits ab S. 134.

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP  

151

2. Die zweite Kammer In vielen europäischen Staaten setzt sich das Parlament aus zwei Kammern zusammen, die beide – teils gleichberechtigt, teils mit unterschiedlichen Mitwirkungsformen  – am Gesetzgebungsverfahren beteiligt sind.615 In solchen Fällen stellt sich die Frage, ob der Anwendungsbereich des Wahlrechts auch für eine Wahl zur zweiten Kammer eröffnet ist. Im Folgenden wird der Begriff der „ersten Kammer“ für die direkt gewählte parlamentarische Vertretung des gesamten Volkes verwendet. Die „zweiten Kammern“ werden nicht notwendigerweise (direkt) gewählt – es finden sich unterschiedliche Besetzungsmodi.616 a) EKMR: W, X, Y und Z v Belgien In einer Entscheidung aus dem Jahr 1976 untersuchte die EKMR die Wählbarkeitsvoraussetzungen zu beiden Kammern des belgischen Parlaments auf ihre Konventionsmäßigkeit. Die Beschwerdeführer machten eine Verletzung des passiven Wahlrechts geltend: Ihnen war es verwehrt worden, sich zur Wahl zu stellen, weil sie das Mindestalter von 25 Jahren für die Wahl in die Abgeordnetenkammer und von 40 Jahren für die Wahl in den Senat noch nicht erreicht hatten.617 Für die Wahl zum Senat, der zweiten Kammer, legte die EKMR weniger strenge Maßstäbe an als für die Wahl zur Abgeordnetenkammer: „As for the minimum age required for candidates to the Senate (40) the Commission notes that, under a bicameral system like that in Belgium, the condition affects only one part of the Parliament; those aged under 40 are therefore not prevented from entering Parliament, since they may be elected to the House of Representatives which has the same powers as the Senate and exercises these powers jointly with the latter (Article 26 of the Belgian Constitution). Again, in a bicameral system it is not arbitrary to arrange things so that one house is composed of those who by virtue of their age have acquired greater political experience.“618

Die EKMR schloss die Anwendbarkeit des Art. 3 ZP für die Wahl zur zweiten Kammer nicht aus. In der Abwägung zur Einschränkung des Wahlrechts zum Senat bezog die Kommission die Wahl zur ersten Kammer mit ein. Dadurch reduzierten sich die Anforderungen an die Rechtfertigung eines Eingriffs in das 615 Für einen Überblick anhand der EU-Mitgliedstaaten Groß, ZaöRV 63 (2003), S. 29 (40–41). 616 Vgl. Classen, Nationales Verfassungsrecht in der EU, Rn. 362–370; Haller / Kölz / Gächter, Allgemeines Staatsrecht, Rn. 843; Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, S. 242–246; Schüttemeyer / Sturm, ZParl 1992, S. 517 (518); Groß, ZaöRV 63 (2003), S. 29 (31) zur Definition sowie S. 36–39 zur Darstellung verschiedener Repräsentationsmodi anhand der EU-Mitgliedstaaten. 617 EKMR Nr. 6745/74 und 6746/74, W, X, Y und Z v Belgien (Zul.), 30.05.1975, DR 2, S. 114 (114–115); hierzu Goy, Revue du Droit Public 1986, S. 1275 (1293). 618 EKMR Nr. 6745/74 und 6746/74, W, X, Y und Z v Belgien (Zul.), 30.05.1975, DR 2, S. 114 (117).

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Wahlrecht zur zweiten Kammer auf eine Willkürkontrolle: Belgien durfte sein Wahlsystem in einem bikameralen System gerade für die Besetzung der zweiten Kammer nach anderen Maßstäben als der allgemeinen Wahl gestalten. Nach dieser EKMR-Entscheidung ist also eine in der Gesetzgebung gleichberechtigte, direkt gewählte zweite Kammer eine gesetzgebende Körperschaft im Sinne des Art. 3 ZP. Ihre Wahl unterliegt aber einer weniger strengen Kontrolle als die Wahl zur ersten Kammer. b) Entstehungsgeschichte und Mathieu-Mohin v Belgien In den politischen Systemen Europas und insbesondere in den Systemen der verhandelnden Staaten waren Zwei-Kammer-Systeme zur Zeit der Verhandlungen verbreitet. Auf die Entstehungsgeschichte verweisend, wonach das Ministerkomitee sich gegen die Anwendbarkeit für Wahlen zur zweiten Kammer positionierte,619 entschied der EGMR im Mathieu-Mohin-Urteil, dass Art. 3 ZP im Falle von Zwei-Kammer-Systemen jedenfalls auf eine von zwei Kammern anwendbar sei, obwohl es in der Sache gar nicht um die zwei parlamentarischen Kammern ging.620 c) Zhermal v Russland Der EGMR thematisierte das Wahlrecht in Zwei-Kammer-Systemen bisher zweimal. Weitgehend unbeachtet blieb die Zulässigkeitsentscheidung Zhermal v Russland. Der Beschwerdeführer machte Mängel bei der Gouverneurswahl der Oblast (i. e. des Gebiets) Sachalin geltend. Zwar wies der EGMR die Beschwerde als offensichtlich unbegründet zurück – allerdings nicht, ohne vorher den Anwendungsbereich des Art. 3 ZP für eröffnet zu erklären. Der Gouverneur, der Chef des Exekutivorgans der Oblast, war ex officio Mitglied des russischen Oberhauses, des Föderationsrates. Die russische Verfassung wies der Duma und dem Föderationsrat gemeinsam, wenn auch nicht gleichberechtigt, die legislative Gewalt zu: Nachdem die Duma ein Gesetz beschlossen hatte, konnte der Föderationsrat diesem zustimmen, sodass das Gesetz nach anschließender Ausfertigung in Kraft treten konnte. Alternativ konnte der Föderationsrat das Gesetz ablehnen. In diesem Fall hatte die Duma die Möglichkeit, die Entscheidung des Föderationsrats zu überstimmen.621 619

Dazu Goy, Revue du Droit Public 1986, S. 1275 (1292); vgl. auch Wildhaber, in: Pabel /  Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 3 ZP Rn. 61 (1986); de Meyer, Electoral Rights, in: MacDonald / Matscher / Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 553 (555). 620 EGMR Nr. 9267/81, Mathieu-Mohin und Clerfayt v Belgien (Pl.), 02.03.1987, § 53; ebenso EGMR Nr. 58278/00, Ždanoka v Lettland (Zul.), 06.03.2003; Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, § 40. 621 EGMR Nr. 60983/00, Zhermal v Russland (Zul.), 28.02.2008; siehe zum russischen Parlament Dost, Das russische Verfassungsrecht, S. 309–310, 317.

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP  

153

Maßgeblich für die Einordnung des Föderationsrates als legislature war damit die dem Organ durch die Verfassung zugeschriebene legislative Gewalt. Der EGMR ging nicht darauf ein, dass eine Ablehnung des Gesetzes durch den Föderationsrat von der Duma überstimmt werden konnte. Ob der Gerichtshof diesem Umstand bewusst oder unbewusst keine Bedeutung zugemessen hat, ist unklar. d) Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina Deutlich mehr Aufmerksamkeit erhielt das Urteil Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina. Die Beschwerdeführer machten einen Verstoß gegen Art. 14 EMRK i. V. m. Art. 3 ZP geltend, weil sie ihr passives Wahlrecht für die Kammer der Völker, der zweiten parlamentarischen Kammer, nicht ausüben konnten.622 Die Kammer der Völker wurde zu zwei Drittel besetzt durch die Legislative der Föderation Bosnien und Herzegowina (für die ethnischen Gruppen der Bosniaken und der Kroaten) sowie zu einem Drittel durch die Legislative der Republik Srpska (für die ethnische Gruppe der Serben). Ordnete sich ein Bürger nicht einer dieser drei Gruppen zu, konnte er nicht durch eines der Parlamente als Abgeordneter in der Kammer der Völker ernannt werden.623 Folgt man der Mehrheitsentscheidung der Großen Kammer, handelte es sich um indirekte Wahlen:624 Die Bürger wählten die Legislative der einzelnen Entitäten, welche wiederum die Mitglieder der Kammer der Völker ernannten. Richterin Mijović vertrat in ihrer abweichenden Meinung zum Sejdić und Finci-Urteil hingegen, dass die Besetzung der Kammer der Völker keine Wahl darstellte: „The composition of the House of Peoples is not the result of an electoral process. The members of the House of Peoples are to be designated / selected by a majority in the Republika Srpska National Assembly or  a majority in the Clubs of Bosniacs and Croats in the Parliament of the Federation of Bosnia and Herzegovina. Given that the original version of the Constitution was written in English, even a linguistic approach confirms that we are not in the presence of elections, but of appointments. In particular, Article IV of the Constitution reads that House of Peoples ‚shall comprise 15 delegates‘, and that ‚the designated delegates shall be selected‘ by the respective Entity Parliaments.“625

622 EGMR Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, §§ 32, 38. Siehe für einen Überblick über das politische System in Bosnien und Herzegowina Bardutzky, EuConst 6 (2010), S. 309 (310–316). 623 EGMR Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, § 45 (die Beschwerdeführer waren Roma, die sich keiner der drei in Bosnien und Herzegowina anerkannten Ethnien zugeordnet hatten). 624 EGMR Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, § 41. 625 Teilweise zustimmendes und teilweise abweichendes Sondervotum von Richterin Mijović zu EGMR Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009 (Fußnoten ausgespart).

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Jedoch ist der Begriff der Wahl nicht auf die Entscheidung des Volkes über die Besetzung des Parlaments begrenzt.626 Auch ein kollegial besetztes staatliches Organ kann eine Personalentscheidung über die Besetzung eines anderen staatlichen Organs treffen.627 Indem sich die Abgeordneten der gesetzgebenden Körperschaft der Föderation Bosnien und Herzegowina einerseits und der Republik Srpska andererseits mehrheitlich für oder gegen einen Kandidaten für die Kammer der Völker aussprachen, lag eine Entscheidung über eine personelle Besetzung und damit eine Wahl vor. Diese Wahl war aus Perspektive der Wähler eine indirekte,628 denn zwischen der Entscheidung der Wähler und der Bestimmung der Abgeordneten stand eine weitere Entscheidung, nämlich die Personalentscheidung der gesetzgebenden Körperschaften der Föderation Bosnien und Herzegowina sowie der Republik Srpska. Dennoch war der Anwendungsbereich von Art. 3 ZP – im konkreten Fall als Anwendungsvoraussetzung des akzessorischen Diskriminierungsverbots nach Art. 14 EMRK – eröffnet. Hierfür war die Reichweite der gesetzgebenden Befugnisse der Kammer entscheidend: Um ein Gesetz zu beschließen, mussten neben dem direkt gewählte Repräsentantenhaus auch die Kammer der Völker zustimmen. Gleiches galt für völkerrechtliche Verträge. Außerdem hatte die Kammer weitreichende Haushaltsbefugnisse.629 Somit erfüllte ein nicht direkt gewähltes Organ die Voraussetzungen der gesetzgebenden Körperschaft, sodass der Anwendungsbereich des Wahlrechts eröffnet war. Das Wahlsystem zur Kammer der Völker war konventionswidrig, weil es für die systematische Diskriminierung von Personen, die sich zu keiner der drei konstituierenden Volksgruppen (constituent peoples) zuordnen wollten, keine Rechtfertigung gab.630 Um dieses Urteil umzusetzen und nicht weitere Konventionsrechts-

626

Eine Wahl liegt dann vor, wenn eine Personalentscheidung mittels Abstimmung der Wahlberechtigten getroffen wird, vgl. Meyer, Demokratische Wahl und Wahlsystem, in: Isensee /  Kirchhof, HStR, Bd. 3, § 45 Rn. 6–9. 627 So wird etwa der deutsche Bundeskanzler vom Bundestag gewählt (Art. 63 Abs. 1 GG) oder der Präsident der Europäischen Kommission vom Europäischen Parlament (Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 S. 2 EUV) 628 Bardutzky, EuConst 6 (2010), S. 309 (312). Genauer wäre es, die Wahl der Abgeordneten durch das Parlament der Republik Bosnien und Herzegowina sogar als „doppelt indirekt“ zu bezeichnen, denn die kantonalen Versammlungen wählen die Abgeordneten eben jener Kammer, die wiederum die Abgeordneten für die Kammer der Völker wählen, so Hodžić / Stojanović, New / old constitutional engineering?, S. 115 m. w. N. 629 EGMR Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, § 41. In den Folgeurteilen EGMR Nr. 3681/06, Zornić v Bosnien und Herzegowina, 15.07.2014, § 29 sowie Nr. 56666/12, Šlaku v Bosnien und Herzegowina, 26.05.2016, § 27 verwies der EGMR in dieser Frage ohne weitere Begründung auf das Urteil Sejdić und Finci. 630 EGMR Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, § 50. Der Ausschluss vom passiven Wahlrecht konnte zum Zeitpunkt der Beschwerde nicht mehr durch das legitime Ziel, den Frieden wiederherzustellen, gerechtfertigt werden (§§ 45–46).

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP  

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verletzungen zu begehen, ist Bosnien und Herzegowina verpflichtet, strukturelle Verfassungsänderungen vorzunehmen und z. B. das Ernennungs- beziehungsweise Wahlverfahren zur Kammer der Völker oder die Kompetenzverteilung zu ändern.631 Dies ist bislang noch nicht geschehen.632 e) Zwischenfazit In Zwei-Kammer-Systemen muss jedenfalls die direkt gewählte erste Kammer den Anforderungen des Art. 3 ZP entsprechen.633 Auch die Wahl zur zweiten Kammer kann in den Anwendungsbereich des Wahlrechts fallen, wenn ihre Rolle im Gesetzgebungsprozess ausreichend einflussreich ist.634 Sowohl in der Zhermal-Entscheidung als auch in Sejdić und Finci zog der EGMR in den Erwägungsgründen die verfassungsrechtlichen Kompetenzen der relevanten Organe heran. Während die Kammer der Völker Bosnien und Herzegowinas jedem Gesetzesbeschluss zustimmen musste, reichte es dem EGMR in der Zhermal-Entscheidung wohl aus, dass der Föderationsrat an der Gesetzgebung zwar beteiligt war, aber nicht in jedem Fall zustimmen musste. Das wirft die Frage auf, welche Art von Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren ausreichend ist, um ein Organ als gesetzgebende Körperschaft einzusortieren. Die Einordnung einer zweiten Kammer als gesetzgebende Körperschaft sagt allerdings noch nichts darüber aus, ob die Wahlrechtsgrundsätze aus Art. 3 ZP für die Wahl der zweiten Kammer die gleichen Anforderungen stellen wie für die Wahl der ersten Kammer. Die Entscheidung der EKMR W, X, Y und Z v Belgien zeigte, dass die Konventionskonformität der Wahlen zur zweiten Kammer nach anderen Maßstäben bestimmt wird als die Wahl zur ersten Kammer.635 Der EGMR hat sich hierzu noch nicht geäußert.

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Teilweise zustimmendes und teilweise abweichendes Sondervotum von Richterin Mijović zu EGMR Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009: „[… ] this is the very first case of its kind in the Court’s case-law, in the sense that it might result in serious constitutional turmoil and rearrangements in one of the Council of Europe member States […]“. 632 Ministerkomitee, CM / Del / Dec(2017)1288/H46–6, Supervision of the execution of the European Court’s judgments, 07.06.2017. 633 Mit diesem Verständnis auch Schabas, ECHR, Art. 3 ZP, S. 1020; Richter, in: Dörr / Grote /  Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 25 Rn. 45 geht davon aus, dass (nur) eine von zwei Kammern den Anforderungen entsprechen muss; so auch Meyer-Ladewig / Nettesheim, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 3 ZP Rn. 5 und Broeksteeg, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 909 (914). 634 So für eine indirekt gewählte Kammer auch Schabas, ECHR, Art. 3, S. 1020. 635 So in Interpretation des Sejdić und Finci-Urteils auch Arndt, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 3 ZP Rn. 4; Schabas, ECHR, Art. 3 ZP, S. 1020. Vorher auch schon Natale, RTDH 68 (2006), S. 939 (946); Goy, Revue du Droit Public 1986, S. 1275 (1293).

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

3. Das Staatsoberhaupt In der EGMR-Rechtsprechung zur Frage, ob Staatsoberhäupter als legislature eingeordnet werden können, finden sich zwei unterschiedliche Lösungsansätze. a) Erste Rechtsprechungslinie: Boškoski v Mazedonien In den Urteilen der ersten Rechtsprechungslinie lehnte der EGMR die Einordnung der Staatsoberhäupter als legislature ab, weil deren Rolle im Gesetzgebungsprozess nicht ausreichend ausgeprägt war. In Boškoski v Mazedonien äußerte sich der EGMR erstmalig zur Anwendbarkeit des Wahlrechts auf Präsidentschaftswahlen. Der Gerichtshof wich ausdrücklich von der bisherigen Linie der EKMR ab,636 welche die Anwendbarkeit von Art. 3 ZP auf Präsidentschaftswahlen kategorisch und ohne weitere Begründung ausgeschlossen hatte.637 „The Court does not exclude, however, the possibility of applying Article  3 of Protocol No. 1 to presidential elections. It reiterates that this provision enshrines a characteristic of an ‚effective political democracy‘, for the ensuring of which regard must not solely be had to the strictly legislative powers which a body has, but also to that body’s role in the overall legislative process […]. Should it be established that the office of the Head of the State had been given the power to initiate and adopt legislation or enjoyed wide powers to control the passage of legislation or the power to censure the principal legislation-setting authorities, then it could arguably be considered to be a ‚legislature‘ within the meaning of Article 3 of Protocol No 1.“638

Die Kompetenzen des mazedonischen Staatspräsidenten reichten nicht aus, um ihn als legislature einzuordnen. Der Präsident Mazedoniens hatte in der Gesetzgebung weder ein eigenes Initiativrecht noch konnte er vom Parlament beschlossene Gesetze dauerhaft verhindern. Er verfügte lediglich über ein aufschiebendes Veto, welches vom Parlament wieder überstimmt werden konnte. Auch sein Einfluss auf und seine Kontrollmöglichkeiten über das Parlament waren begrenzt: Der Präsident konnte das Parlament nicht auf eigene Initiative auflösen und hatte bei

636

EGMR Nr. 11676/04, Boškoski v Mazedonien (Zul.), 02.09.2004. EKMR Nr. 15344/89, Habsburg-Lothringen v Österreich (Zul.), 14.12.1989; Nr. 41090/98, Baškauskaitė v Litauen (Zul.), 21.10.1998. 638 EGMR Nr. 11676/04, Boškoski v Mazedonien (Zul.), 02.09.2004; dem folgend EGMR Nr. 26712/06 und 26720/06,  Brito da Silva Guerra und Sousa Magno v Portugal (Zul.), 17.06.2008, (in diesem Fall ließ der EGMR die Frage der Frage der Einordnung von Präsidentschaftswahlen im Ergebnis offen, weil die angegriffene Regelung gerechtfertigt war). Ähnlich auch EGMR Nr. 9103/04, Georgian Labour Party v Georgien (Zul.), 22.05.2007, wo die Entscheidung ebenfalls offen gelassen wurde. Aktuell EGMR Nr. 13105/15, 16707/15 und 34381/15, Çalışkan und Erdem v Türkei (Zul.), 01.12.2020, § 25. 637

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP  

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der Regierungsbildung nur ein Vorschlagsrecht, während das Parlament die Regierung wählte und die Regierung dem Parlament gegenüber verantwortlich war.639 Kurz vor der Boškoski-Entscheidung hatte der EGMR bereits in der Sache ­ uliyev v Aserbaidschan eine Anwendbarkeit von Art. 3  ZP auf die Wahl des G Staatspräsidenten abgelehnt.640 Allerdings verzichtete der Gerichtshof in dieser Entscheidung noch darauf, abstrakte Leitlinien für die Einordnung festzulegen, wie sie einige Monate später in der Boškoski-Entscheidung und anschließend in weiteren Entscheidungen zu finden waren. Der EGMR begründete anhand des Einzelfalls, dass die rechtsetzenden Kompetenzen des aserbaidschanischen Präsidenten nicht ausreichten, um ihn als legislature einzuordnen: „As such, whereas the Azerbaijani Constitution clearly provides for a separation of powers between the branches of the Government, the President’s powers accessory to the Parliament’s legislative power must be construed as being necessary and strictly limited to the system of the ‚checks and balances‘ of Azerbaijan’s republican governmental structure. Accordingly, the Court considers that the President’s power to issue decrees and orders, as well as to sign or veto the legislative acts adopted by the Parliament, is to be distinguished from the legislative power.“641

Das Vetorecht des Präsidenten konnte mit einer qualifizierten Mehrheit vom Parlament überstimmt werden. Die vom Präsidenten erlassenen Verfügungen und Dekrete durften nicht gegen die formellen Gesetze verstoßen.642 Trotz des fehlenden abstrakt formulierten Prüfungsmaßstabes sind der Begründungsansatz und die Einordnung der präsidentiellen Kompetenzen mit dem Vorgehen in der BoškoskiEntscheidung vergleichbar.643 In der Zulässigkeitsentscheidung Krivobokov v Ukraine setzte sich der EGMR mit den Kompetenzen des ukrainischen Staatspräsidenten auseinander,644 die sich nicht wesentlich von denen des mazedonischen Präsidenten unterschieden. Für die Entscheidung des EGMR war nicht relevant, dass die ukrainische Verfassung nur das Parlament, nicht aber den Staatspräsidenten als legislative Gewalt bezeichnete.645 Wie schon in der Guliyev-Entscheidung ging der EGMR in der Krivobokov 639

EGMR Nr. 11676/04, Boškoski v Mazedonien (Zul.), 02.09.2004. EGMR Nr. 35584/02, Guliyev v Aserbaidschan (Zul.), 27.05.2004. 641 EGMR Nr. 35584/02, Guliyev v Aserbaidschan (Zul.), 27.05.2004. 642 EGMR Nr. 35584/02, Guliyev v Aserbaidschan (Zul.), 27.05.2004. 643 Schokkenbroek, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, 4. Aufl., S. 911 (929) sieht in der Guliyev-Entscheidung ebenfalls eine Abweichung von der bisherigen Linie der EKMR. Anders Rainey / McCormick / O vey, Jacobs, White, and Ovey, S. 612 sowie Golubok, NQHR 2009, S. 361 (369), die die Guliyev-Entscheidung als einen Beleg dafür verwenden, dass Präsidentschaftswahlen prinzipiell nicht in den Anwendungsbereich des Art. 3 ZP fallen. Dies vermag angesichts der ausführlichen Prüfung der Kompetenzen des Staatsoberhauptes nicht zu überzeugen. 644 EGMR Nr. 38707/04, Krivobokov v Ukraine (Zul.), 19.02.2013. 645 EGMR Nr. 38707/04, Krivobokov v Ukraine (Zul.), 19.02.2013. Ebenso bereits EGMR Nr. 9103/04, Georgian Labour Party v Georgien (Zul.), 22.05.2007. 640

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Entscheidung auf die Möglichkeit der Gewaltenverschränkung ein: Er erkannte an, dass das Staatsoberhaupt, das eigentlich der Exekutive zugerechnet wurde, in begrenztem Umfang Aufgaben übernehmen durfte, die akzessorisch zu der legislativen Aufgabe des Parlaments waren.646 Der EGMR unterschied zwischen der originären gesetzgebenden Gewalt des Parlaments (the legislative power itself) und der dazu akzessorischen gesetzgebenden Gewalt im weiteren Sinne, die auch von exekutiven Organen ausgeübt werden durfte. Unklar blieb, ob beziehungsweise wie diese Einordnung des EGMR mit der Leitlinie aus der Boškoski-Entscheidung vereinbar ist, dass für die Einordnung eines Organs als gesetzgebende Körperschaft dessen Rolle im overall legislative process – inklusive nicht unmittelbar gesetzgebender Tätigkeiten wie die Kontrolle der gesetzgebenden Organe – maßgeblich ist.647 Auch das Amt des türkischen Staatspräsidenten zum Zeitpunkt der Präsidentschaftswahl 2014 entsprach in der Zulässigkeitsentscheidung Çalışkan und Erdem v Türkei mangels ausreichender Kompetenzen nicht den Merkmalen einer gesetzgebenden Körperschaft. Die türkische Verfassung wies die gesetzgebende Gewalt dem nationalen Parlament zu. Der Staatspräsident fertigte die beschlossenen Gesetze aus und verkündete sie. Er besaß kein Vetorecht gegen die beschlossenen Gesetze und er hatte keine Kompetenzen, das Parlament aufzulösen oder die Regierung zu kontrollieren. Zudem mussten fast alle seiner Entscheidungen von der Regierung gegengezeichnet werden.648 Der EGMR betonte mehrfach, dass sich diese Entscheidung auf die Rechtslage vor der Verfassungsänderung im Jahr 2017 bezog, durch welche die Kompetenzen des Präsidenten ausgeweitet wurden.649 Seit 2017 verfügt der türkische Staatspräsident unter anderem über die Möglichkeit, das Parlament aufzulösen, sein Veto gegen parlamentarische Gesetze einzulegen, die Sicherheitspolitik zu bestimmen und den Haushalt vorzubereiten.650 Der Verweis auf die geänderte Rechtslage lässt vermuten, dass das Amt des türkischen Staatspräsidenten nach der Verfassungsänderung als legislature eingeordnet werden könnte, auch wenn der EGMR auf diese Frage nicht einging. Klarheit könnte eine Entscheidung des EGMR über die veränderte Rechtslage bringen, welche allerdings eine zulässige Beschwerde voraussetzt.

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EGMR Nr. 38707/04, Krivobokov v Ukraine (Zul.), 19.02.2013: „[T]hough the Ukrainian Constitution provides for a separation of powers between the branches of Government, the President’s powers are accessory to Parliament’s legislative power […]. Accordingly, the Court considers that the President’s power to issue decrees and orders, as well as to sign or veto the legislative acts adopted by Parliament, is to be distinguished from the legislative power itself.“ 647 Siehe dazu das Zitat zu Fn. 638. 648 EGMR Nr. 13105/15, 16707/15 und 34381/15, Çalışkan und Erdem v Türkei (Zul.), 01.12.2020, § 29. 649 EGMR Nr. 13105/15, 16707/15 und 34381/15, Çalışkan und Erdem v Türkei (Zul.), 01.12.2020, §§ 27, 30. 650 EGMR Nr. 13105/15, 16707/15 und 34381/15, Çalışkan und Erdem v Türkei (Zul.), 01.12.2020, § 16.

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP  

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Nach dieser ersten Rechtsprechungslinie ist für die Einordnung eines Organs als legislature nicht dessen Struktur oder dessen generelle Zuordnung zu einer hoheitlichen Funktion ausschlaggebend, sondern dessen Kompetenzen im gesamten Gesetzgebungsprozess (overall legislative process). Den Begriff des overall legislative process verstand der EGMR als die Gesamtheit des Gesetzgebungsverfahrens im engeren Sinne, inklusive aller notwendigen Schritte von der Gesetzesinitiative über das Beschlussverfahren bis zum Inkrafttreten des Gesetzes sowie die Kontrollmöglichkeiten der mit der Gesetzgebung im engeren Sinne befassten Organe. Nach dieser weiten Formulierung scheint es nicht ausgeschlossen, dass ein Organ ohne Zustimmungsrecht bei der Gesetzgebung, aber mit ausgeprägten Kontrollrechten über die beschlussfassenden Organe, zum Beispiel mit einem absoluten Veto oder einem Auflösungsrecht des Parlaments, als gesetzgebende Körperschaft gilt. b) Zweite Rechtsprechungslinie: Niedźwiedź v Polen Im Jahr 2008 lehnte der EGMR erstmals die Zulässigkeit einer Beschwerde zum aktuellen Wahlrecht bei einer Präsidentschaftswahl allein mit der Begründung ab, dass Art. 3 ZP für Wahlen des Staatsoberhaupts nicht anwendbar sei. Dies war der Beginn der zweiten Rechtsprechungslinie. „[T]he obligations imposed on the Contracting States by Article  3 of Protocol No. 1 are limited to ‚the choice of legislature‘ and do not apply to the election of a Head of State […].“651

Hiernach waren nicht die verfassungsrechtlichen Kompetenzen des Staatsoberhaupts ausschlaggebend, sondern formelle Gründe wie die Zusammensetzung des Organs und dessen Bezeichnung als Staatsoberhaupt. Das Gericht schwenkte damit zurück auf die Linie der EKMR.652 Der EGMR lieferte in keiner der zur zweiten Rechtsprechungslinie zählenden Entscheidungen eine Begründung, warum er die Kompetenzen der jeweiligen Staatspräsidenten nicht untersuchte. Damit besteht ein offener Widerspruch zur sich zeitlich parallel entwickelnden ersten Rechtsprechungslinie. Gleichwohl zitierte der EGMR als Beleg für sein Vorgehen auch die Guliyev- und die BoškoskiEntscheidungen,653 welche die Wahl zum Staatspräsidenten gerade nicht kategorisch aus dem Anwendungsbereich des Art. 3 ZP ausgeschlossen hatten, sondern

651 EGMR Nr. 1345/06, Niedźwiedź v Polen (Zul.), 11.03.2008; die gleiche knappe Vorgehensweise auch in EGMR Nr. 11157/04 und 15162/05, Anchugov und Gladkov v Russland, 04.07.2013, § 55; Nr. 34932/04, Paksas v Litauen (GK), 06.01.2011, § 72. 652 EKMR Nr. 15344/89, Habsburg-Lothringen v Österreich (Zul.), 14.12.1989; Nr. 41090/98, Baškauskaitė v Litauen (Zul.), 21.10.1998. 653 EGMR Nr. 1345/06, Niedźwiedź v Polen (Zul.), 11.03.2008; Nr. 11157/04 und 15162/05, Anchugov und Gladkov v Russland, 04.07.2013, § 55.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

nur in den vorliegenden Fällen mangels ausreichender Kompetenzen der Präsidenten im Gesetzgebungsprozess.654 Bis jetzt gibt es kein Urteil, in dem Art. 3 ZP bei Präsidentschaftswahlen tatsächlich anwendbar war. Daher ist die unterschiedliche Begründungsstruktur der beiden Rechtsprechungslinien bislang irrelevant geblieben. Der EGMR könnte in den Urteilen der zweiten Rechtsprechungslinie schlicht auf eine vermeintlich offensichtliche Argumentation verzichtet haben.655 Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass die beiden Rechtsprechungslinien zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, wenn ein Staatspräsident über besonders weitreichende Kompetenzen bei der Gesetzgebung oder der Kontrolle der gesetzgebenden Organe verfügt. Die Zulässigkeitsentscheidung Çalışkan und Erdem v Türkei gab aktuell Anlass zu der Frage, ob es in den 46 Konventionsstaaten nicht doch Verfassungsgestaltungen gibt, in welchen das Staatsoberhaupt einen so starken Einfluss auf die Gesetzgebung hat, dass das Wahlrecht des Art. 3 ZP auch auf dessen Wahl anwendbar sein müssten.656 Im Schrifttum finden sich – vor der Entscheidung Çalışkan und Erdem v Türkei – unterschiedliche Deutungen der Rechtsprechung. Teils wird der Widerspruch in der Rechtsprechung aufgezeigt,657 teils eine Einordnung als gesetzgebende Körperschaft für möglich gehalten.658 Andere schließen entsprechend der zweiten Rechtsprechungslinie die Anwendbarkeit des Wahlrechts auf Präsidentschaftswahlen kategorisch aus.659 Häufig wird diese Auffassung nicht mit den fehlenden Kompetenzen des Staatsoberhauptes begründet, sondern mit dem Argument, dass 654

Siehe Zitat zu Fn. 638. Hierauf deutet die Darstellung dieser Rechtsprechung im EGMR Guide on Article 3 of Protocol No. 1 to the European Convention on Human Rights – Right to free elections, Stand 31.12.2021, https://www.echr.coe.int/Documents/Guide_Art_3_Protocol_1_ENG.pdf, zuletzt abgerufen am 09.04.2022, Rn. 6 hin: Hier geht der EGMR davon aus, dass es grundsätzlich nicht ausgeschlossen ist, dass ein Staatsoberhaupt als legislature eingeordnet werden kann. Mit Verweis auf Paksas v Litauen und Anchugov und Gladkov v Russland stellt der Case law Guide fest: „This possibility has never been used, however, and has not even been mentioned in subsequent cases […].“ Die Case law Guides sind Zusammenstellungen der EGMR-Rechtsprechungslage des Jurisconsult des EGMR und binden den EGMR nicht. 656 EGMR Nr. 13105/15, 16707/15 und 34381/15, Çalışkan und Erdem v Türkei (Zul.), 01.12.2020, §§ 27, 30: Der EGMR verwies auf die Rechtslage nach der Verfassungsänderung 2017, welche nicht Gegenstand der eigentlichen Entscheidung war. 657 Schokkenbroek, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, 4. Aufl., S. 911 (929) und Bardutzky, EuConst 6 (2010), S. 309 (330) zeigen auf, dass der EGMR die Frage noch nicht abschließend geklärt hat; relativierend auch Golubok, NQHR 2009, S. 361 (369). 658 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 221; Duarte, RFDC 79 (2009), S. 477 (482). 659 Meyer-Ladewig / Nettesheim, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  3 ZP  Rn.  5; Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn (Hrsg.), Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 25 Rn. 45 (mit der Begründung, dass das Staatsoberhaupt zur Exekutive gehört); Grabenwarter, ECHR, Art. 3 ZP Rn. 4; Rainey / McCormick / O vey, Jacobs, White, and Ovey, S. 612; Broeksteeg, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 909 (915); Harris u. a., Law of the ECHR, S. 914. 655

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP  

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es sich bei gesetzgebenden Organen um eine Körperschaft, also ein Kollegialorgan (im französischen: corps) handeln muss.660 Dies hat der EGMR so deutlich bis jetzt aber nicht formuliert. c) Zwischenfazit Die beiden Rechtsprechungslinien unterscheiden sich darin, ob sie jedenfalls theoretisch zulassen, dass ein Staatsoberhaupt eine gesetzgebende Körperschaft im Sinne des Art. 3 ZP ist. Bislang ordnete der EGMR unabhängig von den zwei sich widersprechenden Rechtsprechungslinien kein Staatsoberhaupt als gesetz­gebende Körperschaft ein. Die Entscheidung Çalışkan und Erdem v Türkei zeigte jedoch, dass die Frage, aus welchem Grund Staatsoberhäupter bislang nicht als gesetz­ gebende Körperschaft eingeordnet wurden, relevant werden kann. 4. Regierungsorgane Die Vertragsstaaten wollten das Wahlrecht nicht auf das Besetzungsverfahren von Regierungen erstrecken.661 In der Zulässigkeitsentscheidung Barski und Święczkowski v Polen stellte der EGMR im Rahmen einer Prüfung von Art. 14 i. V. m. Art. 3 ZP ohne Begründung fest, dass das Wahlrecht nicht auf die Ernennung eines Ministers (appointment to a post of a minister) anwendbar ist.662 In der Zulässigkeitsentscheidung Zhermal v Russland ließ der EGMR die Frage offen, ob die Aufgaben des Gouverneurs in der Region als gesetzgebende Aufgaben einzuordnen gewesen wären, weil der Anwendungsbereich des Wahlrechts bereits aus anderen Gründen eröffnet war.663 Dennoch nannte er die Kompetenzen des Gouverneurs in der regionalen Gesetzgebung: das Initiativrecht, die inhalt­liche Kontrolle der verabschiedeten Gesetze und der gesetzgebenden Organe, beratende – allerdings nicht abstimmende – Teilnahme an den Arbeiten des regionalen Parlaments.664 Dies deutet darauf hin, dass der EGMR staatsleitende Organe jedenfalls nicht per se aus dem Anwendungsbereich ausschließt.

660 So vor der Boškoski-Entscheidung Goy, Revue du Droit Public 1986, S. 1275 (1297); Kaiser, in: Mélanges Pierre Lambert, S. 435 (440). Die Boškoski-Entscheidung kritisierend Schokkenbroek, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, 4. Aufl., S. 911 (930). 661 Mit Hinweisen zu den Travaux Préparatoires de Meyer, Electoral Rights, in: MacDonald / Matscher / Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 553 (557); Wildhaber, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 3 ZP Rn. 58 (1986). 662 EGMR Nr. 13523/12 und 14030/12, Barski und Święczkowski v Polen (Zul.), 02.02.2016, § 53. 663 Siehe hierzu S. 152. 664 EGMR Nr. 60983/00, Zhermal v Russland (Zul.), 28.02.2008.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Das unterschiedliche Vorgehen des EGMR in den Zulässigkeitsentscheidungen Zhermal und Barski und Święczkowski entspricht den beiden Rechtsprechungs­ linien zu Staatsoberhäuptern und wirft somit die gleichen Fragen auf. 5. Das Europäische Parlament Durch die Übertragung von Hoheitsgewalt der Mitgliedstaaten auf die EU sind die Unionsorgane in der Lage, Recht zu setzen, das unmittelbar in den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten anwendbar ist und die Rechte und Pflichten der Bürger verändert. Die Unionsorgane haben teilweise die Aufgabe der nationalen gesetzgebenden Körperschaften übernommen. a) Die Entscheidungen der EKMR Die EKMR entschied mehrfach über die Einordnung des Europäischen Parlaments als gesetzgebende Körperschaft. Dabei veränderten sich nicht nur die Argumentationslinie der EKMR, sondern durch die fortschreitende europäische Integration auch die Kompetenzen des Europäischen Parlaments. In den frühesten Entscheidungen argumentierte die EKMR sowohl mit historischen Argumenten als auch mit fehlenden gesetzgeberischen Kompetenzen (no legislative power in the strict sense)  gegen die Einbeziehung der Wahlen zum Europäischen Parlament in den Schutzbereich des Art. 3 ZP. Zu diesem Zeitpunkt war das Europäische Parlament vornehmlich ein Beratungsorgan und verfügte über eingeschränkte Haushalts- und Kontrollbefugnisse.665 Einige Jahre später begründete die EKMR die Unzulässigkeit zweier Beschwerden nicht mehr mit einer historischen Auslegung, sondern nur noch über die Kompetenzen des Europäischen Parlaments. Dies sei – trotz Erweiterung seiner Befugnisse – immer noch nicht als Gesetzgebung im eigentlichen Sinne des Wortes (legislature within the ordinary meaning of the term) einzuordnen.666 In allen Fällen lehnte die EKMR die Zulässigkeit der Beschwerde zusätzlich noch aus anderen Gründen ab,667 sodass 665 EKMR Nr. 8364/78, Lindsay u. a. v Vereinigtes Königreich (Zul.), 08.03.1979, DR 15, S. 247 (250–251); Nr. 8612/79, Alliance des Belges v Belgien (Zul.), 10.05.1979, DR 15, S. 262 (263). Das Europäische Parlament verfügte über ein Anhörungsrecht vor dem Beschluss des Haushalts (Art. 201 EWG-Vertrag) sowie bei der Gesetzgebung durch den Rat, welcher zu diesem Zeitpunkt das einzige anerkannte Gesetzgebungsorgan war. Darüber hinaus durfte das Europäische Parlament den jährlichen Gesamtbericht erörtern (Art. 143 EWG-Vertrag) sowie über das Misstrauensvotum gegenüber der Kommission abstimmen (Art. 144 EWG-Vertrag). 666 EKMR Nr. 11123/84, Tête v Frankreich (Zul.), 09.12.1987, DR 54, S. 62 (67–68); Nr. 11406/85, Fournir v Frankreich (Zul.), 10.03.1988, DR 55, S. 136 (139–140). 667 EKMR Nr. 8364/78, Lindsay u. a. v Vereinigtes Königreich (Zul.), 03.03.1979, DR 15, S. 247 (251) (weil Art. 3 ZP keine Vorgaben für das Wahlsystem macht); Nr. 8612/79, Alliance des Belges v Belgien (Zul.), 10.05.1979, DR 15, S. 262 (264) (weil die Wohnsitzerfordernisse

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP  

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die Einordnung des Europäischen Parlaments nicht entscheidend war. Gleichzeitig schloss die EKMR in den Entscheidungen der ersten und zweiten Phase nicht aus, dass der Schutz des Art. 3 ZP auch neuen (i. e. supranationalen) repräsentativen Organen gewährt werden müsste, wenn diese die Funktionen und Kompetenzen nationaler gesetzgebender Körperschaften übernehmen.668 Nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht konnte die EKMR die Frage der Einordnung des Europäischen Parlaments als gesetzgebende Körperschaft umgehen, weil die Beschwerde in der Sache André v Frankreich aus anderen Gründen offensichtlich unbegründet war.669 Der Report zur Sache Matthews v Vereinigtes Königreich erklärte schließlich, warum der EKMR in ihren früheren Entscheidungen die fehlenden Gesetzgebungskompetenzen des Europäischen Parlaments nicht ausgereicht hatten, um die Beschwerde abzuweisen: „Although […] the Commission has in several previous decisions examined the powers and functions of the European Parliament in the context of a complaint under Article 3 of Protocol No. 1, it has never finally decided the question whether the expression ‚the legislature‘ in that Article is capable of extending beyond national legislative bodies to include supranational bodies which exercise functions in a legislative process having a direct impact within the State concerned.“670

Im Matthews-Report lehnte die EKMR die Einordnung als gesetzgebende Körperschaft aufgrund des supranationalen Charakters des Parlamentes ab.671 Eine Anwendung auf die Wahl supranationaler Organe ginge über den Anwendungsbereich des Art. 3 ZP hinaus, wie ihn die Konventionsstaaten bei den Vertragsverhandlungen verstanden hätten.672 Die EKMR äußerte sich nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht also nicht zur Ausstattung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments. Auch vor Inkrafttreten des Vertrags war die untergeordnete Rolle des Europäischen Parlaments im Gesetzgebungsprozess nicht alleine für die Abweisung der Beschwerden ausschlaggebend. Die Anerkenntnis in den frühen Entscheidungen der EKMR, dass die Rolle des Europäischen Parlaments im Gesetzgebungsprozess irgendwann für eine gesetzgebende Körperschaft ausreichen könnte, kann als Wegbereiter für die EGMR-Rechtsprechung gesehen werden. mit Art. 3 ZP vereinbar sind); Nr. 11123/84, Tête v Frankreich (Zul.), 09.12.1987, DR 54, S. 62 (68–69) (weil die angegriffene Sperrklausel in den Entscheidungsspielraum des Staates fiel); Nr. 11406/85, Fournier v Frankreich (Zul.), 10.3.1988, DR 55, S. 136 (140–141) (weil die angegriffene Sperrklausel in den Entscheidungsspielraum des Staates fiel). 668 EKMR Nr. 8364/78, Lindsay u. a. v Vereinigtes Königreich (Zul.), 03.03.1979, DR 15, S. 247 (250–251); Nr. 8612/79, Alliance des Belges v Belgien (Zul.), 10.05.1979, DR 15, S. 262 (263); Nr. 11123/84, Tête v Frankreich (Zul.), 09.12.1987, DR 54, S. 62 (67–68); Nr. 11406/85, Fournir v Frankreich (Zul.), 10.03.1988, DR 55, S. 136 (139–140). 669 EKMR Nr. 27759/95, André v Frankreich (Zul.), 18.10.1995. 670 EKMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (Report), 29.10.1997, §§ 60–63. 671 EKMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (Report), 29.10.1997, §§ 60, 63. 672 EKMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (Report), 29.10.1997, § 62.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

b) Matthews v Vereinigtes Königreich Der EGMR schob die Einordnung des Europäischen Parlaments als gesetzgebende Körperschaft so lange auf,673 bis er im Fall Matthews eine Entscheidung nicht mehr umgehen konnte, weil die grundsätzliche Existenz des Wahlrechts und nicht eine konkrete Ausgestaltung in Frage stand.674 Die Bürger aus Gibraltar waren von der Wahl zum Europäischen Parlament ausgeschlossen, obwohl große Teile des Gemeinschaftsrechts in Gibraltar angewendet wurden.675 Der Gerichtshof entschied, dass die gibraltarischen Beschwerdeführer (und damit auch alle anderen gibraltarischen Bürger) für die Wahl zum Parlament der Europäischen Union aktiv wahlberechtigt waren.676 Hiermit wich der EGMR vom Report der EKMR ab und erstreckte den Anwendungsbereich des Wahlrechts auch auf supranationale Organe.677 Nur durch die Wahl zum Europäischen Parlament konnte sichergestellt werden, dass die Bevölkerung Gibraltars auch im Europäischen Parlament repräsentiert ist. Dies war eine Notwendigkeit einer effektiven politischen Demokratie.678 In einem weiteren Prüfungsschritt setzte sich der EGMR mit den Kompetenzen des Europäischen Parlaments auseinander. Erstmals formulierte der EGMR den Maßstab, dass die allgemeine Rolle des Organs im gesamten Gesetzgebungsprozess (the body’s role in the overall legislative process) entscheidend sei und es nicht allein auf die Gesetzgebungskompetenzen im strengen Sinne ankomme.679 Die aus dem Maastricht-Vertrag gestrichene Beschreibung der Rolle des Parlaments als advisory and supervisory war für den EGMR ein Indikator für die Einordnung des Europäischen Parlaments als gesetzgebende Körperschaft. Aber: „Only on examination of the European Parliament’s actual powers in the context of the European Community legislative process as a whole can the Court determine whether the European Parliament acts as the ‚legislature‘, or part of it, in Gibraltar.“680

673

In EGMR Nr. 22954/93, Ahmed u. a. v Vereinigtes Königreich, 02.09.1998, § 75 prüfte der EGMR direkt die Rechtfertigung eines (möglichen) Eingriffs und ließ in § 76 ausdrücklich die Einordnung des Europäischen Parlaments offen. 674 Vgl. EKMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (Report), 29.10.1997, § 61. 675 EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, §§ 7–14. 676 EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 65. 677 EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, §§ 40–44. Siehe hierzu Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  25 Rn. 49; Bröhmer, ZEuS 1999, S. 197–217; Lenz, EuGRZ 1999, S. 311–313; Muylle, EPL 6 (2000), S. 243–252; Reid, EHRLR 1999, S. 420–426; Winkler, EuGRZ 2001, S. 18–27. 678 EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, §§ 42–43. 679 EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 49. Die EKMR hatte stets auf the legislative power in the strict sense abgestellt, EKMR Nr. 8364/78, Lindsay u. a. v Vereinigtes Königreich (Zul.), 03.03.1979, DR 15, S. 247 (250–251); Nr. 8612/79, Alliance des Belges v Belgien (Zul.), 10.05.1979, DR 15, S. 262 (263). 680 EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 50.

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Der Vertrag von Maastricht hatte zu einer Erweiterung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments geführt, insbesondere durch das Zustimmungsverfahren gemäß Art. 198b EG-Vertrag, in dem der Rat sich im Gesetzgebungsverfahren nicht über das Europäische Parlament hinwegsetzen konnte, sowie durch das Zustimmungsrecht zur der Ernennung der Kommission.681 Der EGMR zählte neben diesen beiden Befugnissen das Konsultationsverfahren (Art. 189c EG-Vertrag) sowie die Kontrolle der Kommission durch das Misstrauensvotum (Art. 144 EGV) auf. Schließlich musste das Parlament der Verabschiedung des Haushalts zustimmen (Art. 203 EGV) und die Kommission entlasten (Art. 206 EGV). Der EGMR ging auch auf das fehlende direkte und das vorgesehene indirekte Initiativrecht des Parlaments (Art. 138b EGV) ein.682 Neben der interorganschaftlichen Kompetenzverteilung innerhalb der EG waren für den EGMR die direkten Auswirkungen der europäischen Gesetzgebung auf die Rechtslage in Gibraltar sowie die Bedeutung des Europäischen Parlaments für die Herstellung demokratischer Legitimation und Verantwortlichkeit des gemeinschaftlichen Handelns bedeutsam.683 Das Europäische Parlament sei der Teil der Struktur der Europäischen Gemeinschaft, der die Belange einer wahrhaft poli­ tischen Demokratie am besten widerspiegelt.684 Um das Vorliegen einer gesetzgebenden Körperschaft anzunehmen, musste der EGMR alle Voraussetzungen dieses Merkmals prüfen. Anders als in Fällen, in denen der EGMR das Vorliegen einer gesetzgebenden Körperschaft ablehnte, reichte es nicht aus, sich lediglich mit einem Merkmal der gesetzgebenden Körperschaft auseinanderzusetzen, das im konkreten Fall nicht vorlag. Daher ist das Matthews-Urteil von besonderer Bedeutung, um die Merkmale der gesetzgebenden Körperschaft zu analysieren. Die Staatlichkeit des Organs ist keines dieser Merkmale, sofern der Einfluss der Entscheidung eines nicht-staatlichen Organs mit dem eines staatlichen Organs vergleichbar ist.685 Ausschlaggebend waren die kompetenzielle Ausstattung des Europäischen Parlaments, der Einfluss von dessen Entscheidungen auf die nationale Rechtslage sowie die Funktion des Organs bei der Verwirklichung der demokratischen Ordnung. Der EGMR stellte diese drei Kriterien in eine Gesamtbetrachtung ein.686 Die Hauptrolle des Europäischen Parlaments bei der Vermittlung demokratischer Legitimation konnte die im Vergleich zum Ministerrat nachgeordnete Rolle des Parlaments bei der Gesetzgebung ausgleichen.

681

EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 51. EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 51. 683 EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, §§ 52–53. Siehe bereits § 34 zu den Auswirkungen der EP-Gesetzgebung auf die Bürger – hier allerdings noch im Zusammenhang mit der Verantwortlichkeit des Vereinigten Königreichs für die Konventionsverletzung der Bürger aus Gibraltar. 684 EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 52. 685 EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, §§ 39–41. 686 Bröhmer, ZEuS 1999, S. 197 (205). 682

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Seit dem Leiturteil Matthews ist die Anerkennung des Europäischen Parlaments als gesetzgebende Körperschaft gefestigte Rechtsprechung, die der EGMR nicht mehr begründet.687 Eine Konkretisierung der Voraussetzungen der gesetzgebenden Körperschaft unterblieb daher. Im Schrifttum wurde bezweifelt, dass die Aspekte, die zur Qualifikation des Europäischen Parlaments als gesetzgebende Körperschaft führten, insbesondere die Einbeziehung der Rolle des Organs im gesamten Gesetzgebungsprozess (the body’s role in the overall legislative process), auf innerstaatliche Sachverhalte übertragen werden sollten. Diese Argumentation stützte sich auf die sui generis-­Natur der Europäischen Gemeinschaft,688 die auch der EGMR nicht außer Acht ließ: „[T]he Court must bear in mind the sui generis nature of the European Community, which does not follow in every respect the pattern common in many States of a more or less strict division of powers between the executive and the legislature. Rather, the legislative process in the EC involves the participation of the European Parliament, the Council and the European Commission.“689

Die weniger strenge Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive führe dazu, dass das Europäische Parlament auch ohne Letztentscheidungsbefugnis als gesetzgebende Körperschaft eingeordnet werden könne.690 Danach wäre das ­Matthews-Urteil für die Ermittlung der Merkmale einer staatlichen gesetzgebenden Körperschaft unverwertbar. Die Annahme, dass das institutionelle Gleichgewicht der EU sich strukturell von der Gewaltenteilung in den Staaten unterscheidet, überzeugt allerdings nicht, weil auch in den Staaten kein einheitliches Erscheinungsbild der Gewaltenteilung exis-

687 Verweise auf das Matthews-Urteil finden sich noch in EGMR Nr. 36681/97, Vito Sante Santoro v Italien, 01.07.2004, § 50; Nr. 14507/07, Occhetto v Italien (Zul.), 12.11.2013, § 42; Nr. 66345/09, Mihaela Mihai Neagu v Rumänien (Zul.), 06.03.2014, § 29. Etwas ausführlicher in EGMR Nr. 28811/12 und 50303/12, Strack und Richter v Deutschland (Zul.), 05.07.2016, § 22: „Given the manner in which the European Parliament is constituted – direct elections by universal suffrage – and the powers exercised by that parliament following successive amendments of the Treaty on European Union and the Treaty on the Functioning of the European Union, there is clearly no reason to alter this conclusion.“ Die Eröffnung des Anwendungsbereichs bei Wahlen zum Europäischen Parlament wird ohne Begründung vorausgesetzt in EGMR Nr. 60041/08 und 60054/08, Greens und M. T. v Vereinigtes Königreich, 23.11.2010, §§ 76–79; Nr. 51987/08 u. a., McHugh u. a. v Vereinigtes Königreich, 10.02.2015, §§ 10–11; Nr. 47784/09 u. a., Firth u. a. v Vereinigtes Königreich, 12.08.2014, §§ 14–15; Nr. 63849/09, Kulinski und Sabev v Bulgarien, 21.07.2016, §§ 32–42. 688 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 228: Lenz, EuGRZ 1999, S. 311 (312); Wolf, ZEuS 2003, S. 379 (391); Winkler, EuGRZ 2001, S. 18 (20). 689 EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 48. 690 Schokkenbroek, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, 4. Aufl., S. 911 (930); Lenz, EuGRZ 1999, S. 311 (312); Wolf, ZEuS 2003, S. 379 (391). Ähnlich auch Winkler, EuGRZ 2001, S. 18 (20).

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tiert.691 Darüber hinaus erfüllte der Hinweis des EGMR auf die sui generis-Natur der EG und die daraus resultierende abweichende Vorstellung von Gewaltenteilung eine andere Funktion: Der EGMR wies darauf hin, dass er bei der Einordnung des Europäischen Parlaments als gesetzgebende Körperschaft die Besonderheiten des institutionellen Systems der EG beachtete. Die Besonderheiten des supranationalen Verfassungssystems wurden vom EGMR genauso beachtet wie die Besonderheiten jedes nationalen Systems.692 Die vom EGMR untersuchten Merkmale, die Rolle des Organs für das demokratische System, die materiellen Kompetenzen sowie die Aufgaben im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses sind jedoch dieselben wie in anderen Urteilen auch. Das Matthews-Urteil fügte sich in die Rechtsprechung des EGMR zur gesetzgebenden Körperschaft ein. Die im Matthews-Urteil entwickelten Maßstäbe können daher auch an andere Organe angelegt werden. c) Zwischenfazit Auch nicht-staatliche Organe können als gesetzgebende Körperschaft klassifiziert werden. Außerdem spricht Matthews v Vereinigtes Königreich dafür, dass das Zustimmungsrecht im Gesetzgebungsverfahren, welches das Europäische Parlament erst im Laufe der Zeit erlangte, ein wesentliches Kriterium für eine ausreichende Beteiligung am Gesetzgebungsprozess ist, um das Organ als legislature einzuordnen. 6. Föderale und regionale Parlamente Unterschiedliche – föderale oder regionale – Parlamente oder Kollegialorgane, insbesondere in nicht zentralistisch-organisierten Staaten, wurden von den Konventionsorganen als gesetzgebende Körperschaft eingeordnet.693 a) Parlamente föderaler Untereinheiten Im Fall Timke v Deutschland verwies die EKMR auf die föderale Struktur Deutschlands als Begründung dafür, dass Landesparlamente gesetzgebende Kör 691

Das institutionelle Gleichgewicht unterscheidet sich damit nicht grundlegend von den verschiedenen nationalstaatlichen Konzepten, Goeters, Das institutionelle Gleichgewicht, S. 138 ff.; insb. S. 248 ff.; Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Art. 13 EUV Rn. 17; Kamm, Machtbegrenzung durch Gewaltenteilung, in: Hein / Petersen / von Steinsdorff u. a., Grenzen der Verfassung, S. 233 (239–241). 692 Hierbei handelt es sich um die typische Rücksichtnahme auf die Besonderheiten der jeweiligen Verfassungssysteme, die der EGMR auch in anderen Kontexten zeigt, siehe etwa zur Einbeziehung der Verfassungsentwicklung besonders bei jüngeren Demokratien oben ab S. 146. 693 Hierzu zusammenfassend Golubok, NQHR 2009, S. 361 (368).

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

perschaften im Sinne des Art. 3 ZP sind.694 Auf diese Entscheidung stützte sich der EGMR mehrfach, um föderale und regionale Parlamente in den Anwendungsbereich des Art. 3 ZP einzubeziehen.695 Im Jahr 2017 prüfte der EGMR in Davydov v Russland erstmals ausführlich die Einordnung von Parlamenten föderaler Untereinheiten als gesetzgebende Körperschaft. „Under Article 73 of the Constitution of the Russian Federation, subjects of the Federation possess the full authority of the Russian State in all matters other than those that come within the sole jurisdiction of the federal government or within the shared jurisdiction of federal subjects and the federal government to the degree of the latter’s scope of authority. The St Petersburg Legislative Assembly is a democratic government body of one of the subjects of the Russian Federation, vested with a wide range of powers in the constituent territory, based on the constitutional separation of powers between the regions and the Federation. The Court confirms that, as such, it falls under the definition of ‚legislature‘ in the meaning of Article 3 of Protocol No. 1 to the Convention.“696

Der EGMR argumentierte also vorrangig mit den Kompetenzen der Versammlung, ohne auf deren Quantität oder Qualität einzugehen. Außerdem stellte er die verfassungsrechtlich garantierte Eigenständigkeit und die verfassungsrechtlich verankerte Hoheitsgewalt des Föderationssubjekts St. Petersburg heraus. Der Gerichtshof stützte sich auf die nationale Verfassung, welche die vertikale Gewaltenteilung zwischen Föderationssubjektiven und Gesamtstaat sowie die Kompetenzen der Föderationssubjekte regelte, ohne die Verfassungswirklichkeit einzubeziehen.697 b) Regionalräte und Regionalversammlungen Im Urteil Mathieu-Mohin v Belgien ging es um die Einordnung des Flämischen Rates, eines belgischen Regionalrates.698 Nachdem die relevanten nationalen Rege 694

EKMR Nr. 27311/95, Timke v Deutschland (Zul.), 11.09.1995; bereits in der Entscheidung EKMR Nr. 7008/75, X v Österreich (Zul.), 12.07.1976, DR 6, S. 120 (121) kann eine (implizite) Anerkennung der Länderparlamente Österreichs als gesetzgebende Körperschaft gesehen werden (so Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  25 Rn.  47; Cremona, The Right to free elections in the ECHR, in: Mahoney, GS Ryssdal, S. 309 (320)). In diesem Fall wurde die Eröffnung des Schutzbereichs für die Frage, ob ein Wahlvorschlag für die Landtagswahl von den zuständigen Behörden abgelehnt werden darf, vorausgesetzt. 695 So z. B. in EGMR Nr. 56618/00, Federación Nacionalista Canaria v Spanien (Zul.), 07.06.2001; Nr. 66289/01, Py v Frankreich, 11.01.2005, § 36; Nr. 65480/10, Partei die Friesen v Deutschland, 28.01.2016, § 32. 696 EGMR Nr. 75947/11, Davydov u. a. v Russland, 30.05.2017, § 279. 697 Gleiche Vorgehensweise schon in EGMR Nr. 51501/99, Cherepkov v Russland (Zul.), 20.01.2000. Tatsächlich wird Russland als ein Grenzfall eines föderalen Staats eingeordnet: Haller / Kölz / Gächter, Allgemeines Staatsrecht, Rn. 501. Schlage, Die Verteilung der Staatsmacht zwischen der Russländischen Föderation und ihren Subjekten, S. 13–14 erläutert, dass eine große Diskrepanz zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit besteht. 698 EGMR Nr. 9267/81, Mathieu-Mohin und Clerfayt v Belgien (Pl.), 02.03.1987.

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lungen zum parlamentarischen System Belgiens ausführlich im Abschnitt des für das Urteil relevanten Rechts dargestellt wurden, beschränkte sich der EGMR in den Erwägungsgründen auf die Feststellung, dass der flämische Rat ausreichend Kompetenzen und Einfluss (competences and powers wide enough) hatte, um neben den anderen Regionalräten, dem Repräsentantenhaus und dem Senat als legislature zu gelten.699 Der flämische Regionalrat hatte weitgehende inhaltliche Kompetenzen, z. B. für die Umwelt, die ländliche Umgebung, das Bau- und das Wasserrecht, war aber territorial auf die flämischen Gebiete beschränkt.700 Der Gerichtshof ging nicht auf die Kompetenzgrundlage der Regionalräte ein. Zwar wurde die Existenz der Gemeinschaften und ihrer Organe verfassungsrechtlich garantiert. Wie die Zulässigkeitsentscheidung der EKMR zeigte, enthielt die belgische Verfassung aber eine Ausgestaltungsbefugnis des einfachen Gesetzgebers.701 „[T]he organisation of territorial entities such as Regions, or the States which compose a federation, is entirely  a matter for the discretionary power of the State bodies of each Contracting Party. It also follows that the organisation of legislative power, when apportioned between parliament and the different territorial entities, is exclusively a matter for those same organs.“702

Hiernach wäre es unerheblich, ob die Kompetenzgrundlagen für regionale Körperschaften verfassungsrechtlicher oder einfacher Natur sind. Ein paar Jahre später legte die EKMR hingegen mehr Wert auf eine verfassungsrechtliche Kompetenzgrundlage einer gesetzlichen Körperschaft: Maßstab sei das Vorliegen einer inherent rule making-power.703 Die EKMR grenzte mit dieser Be-

699

EGMR Nr. 9267/81, Mathieu-Mohin und Clerfayt v Belgien (Pl.), 02.03.1987, § 53. Eine ausführliche Begründung war entbehrlich, weil sich die Parteien in diesem Punkt einig waren. 700 EGMR Nr. 9267/81, Mathieu-Mohin und Clerfayt v Belgien (Pl.), 02.03.1987, §§ 24, 27. Sowohl vom Vorgehen des EGMR als auch von der Kompetenzverteilung ähnlich zeigte sich der Fall EGMR Nr. 36681/97, Vito Sante Santoro v Italien, 01.07.2004, § 52: „The Court notes that, under Articles 117 and 121 § 2 of the Constitution, the regional councils are competent to enact, within the territory of the region to which they belong, laws in a number of pivotal areas in a democratic society, such as administrative planning, local policy, public health, education, town planning and agriculture […]. The Court therefore considers that the Constitution vested competence and powers in the regional councils that are wide enough to make them a constituent part of the legislature in addition to the parliament. This has not been contested by the Government.“ 701 EKMR Nr. 9267/81, Moreaux u. a. v Belgien (Zul.), 12.07.1983, § 3. 702 EKMR Nr. 9267/81, Moreaux u. a. v Belgien (Zul.), 12.07.1983, § 64. 703 EKMR Nr. 23450/94, Polacco und Garofalo v Italien (Zul.), 15.09.1997. Die weitgehenden gesetzgebenden Befugnisse (legislative powers) nannte die EKMR zwar, diese sind allerdings nach dieser Aussage nicht ausschlaggebend. In anderen, ebenfalls die italienischen Gemeinderäte betreffenden Fälle, verzichtete die EKMR hingegen gänzlich darauf, einen Maßstab zu setzen und lies die Frage offen: EKMR Nr. 27614/95, Luksch v Italien (Zul.), 21.05.1997, DR 89-B, S. 76 (78); Nr. 58540/00, M. D. U. v Italien (Zul.), 28.01.2003.

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grifflichkeit verfassungsrechtlich übertragene und einfach-gesetzlich übertragene Befugnisse voneinander ab. In der Zulässigkeitsentscheidung Repetto Visentini v Italien ordnete schließlich auch der EGMR die italienischen Regionalversammlungen als gesetzgebende Körperschaft ein mit Verweis auf die italienische Verfassung, welche die Kompetenzen zwischen dem gesamtstaatlichen und den regionalen Parlamenten aufteilt.704 c) Versammlungen von spanischen Autonomen Gemeinschaften Die parlamentarischen Versammlungen der spanischen Autonomen Gemeinschaften ordnete der EGMR ebenfalls als gesetzgebende Körperschaft ein, obwohl die Verfassung die gesetzgebende Gewalt explizit dem Cortes Generales übertrug. Aus der Verfassungsstruktur leitete der EGMR aber ab, dass auch die Versammlungen der Autonomen Gemeinschaften gesetzgebende Gewalt ausübten. Hierbei verwies der EGMR auf das relevante nationale Recht. Gemäß Art. 149 § 3 der spanischen Verfassung fielen alle Verantwortlichkeiten, die nicht ausdrücklich dem Staat übertragen wurden, in die Zuständigkeiten der Autonomen Gemeinschaften.705 Diese Zulässigkeitsentscheidung zeigt, dass die verfassungsrechtliche Zuordnung einer Gewalt zu einem bestimmten Organ für die Einordnung eines Organs als legislature weniger relevant ist als dessen tatsächliche Kompetenzausstattung. d) Der Neu-Kaledonische Kongress Im Urteil Py v Frankreich ordnete der EGMR den Kongress Neu-Kaledoniens als gesetzgebende Körperschaft ein, nachdem er die Kompetenzen des Organs geprüft hatte. Bei dem Zugeständnis von Gesetzgebungsbefugnissen an das neukaledonische Parlament handelte es sich innerhalb der französischen Rechtsordnung um einen durch das Abkommen von Nouméa geregelten Einzelfall,706 der nicht auf andere Körperschaften in Frankreich übertragbar ist. Die Ausübung von Hoheitsgewalt wurde zwischen dem Staat Frankreich, Neu-Kaledonien und den

704

EGMR Nr. 42081/10, Repetto Visentini v Italien (Zul.), 09.03.2021, §§ 22–24. EGMR Nr. 56618/00, Federación Nacionalista Canaria v Spanien (Zul.), 07.06.2001. 706 Siehe Kapitel 3 des Nouméa-Abkommens (Accord sur la Nouvelle-Calédonie signé à Nouméa le 5 mai 1998), https://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=JORFTEX T000000555817&dateTexte=&categorieLien=id, zuletzt abgerufen am 09.04.2022; für den Text in englischer Sprache siehe http://www.austlii.edu.au/au/journals/AILR/2002/17.html# Heading208, zuletzt abgerufen am 09.04.2022. Vgl. dazu Vilain, Verfassungsprinzipien, in: Marsch / Vilain / Wendel, Französisches und Deutsches Verfassungsrecht, § 3 Rn. 101; ­Jouanjan, Frankreich, in: von Bogdandy / Cruz Villalón / Huber, Ius Publicum Europaeum, Bd. 1, § 2 Rn. 99. 705

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Provinzen aufgeteilt. Der neu-kaledonische Kongress hatte Haushaltsbefugnisse und konnte in bestimmten Fällen territoriale Gesetze vorschlagen und beschließen. Insbesondere konnte er Strafgesetze bei Verstößen gegen diese territorialen Gesetze mit einer Höchststrafe von bis zu zehn Jahren erlassen.707 Wie bereits beim  Matthews-Urteil war für den EGMR die Entwicklung des beratenden Organs zu einem Organ mit Zustimmungsbefugnis relevant.708 Auch sprachlich bezog sich der EGMR hier auf das Matthews-Urteil, weil der Gerichtshof auf die Rolle des Organs im gesamten Gesetzgebungsprozess abstellte: „The Court must ensure that ‚effective political democracy‘ is properly served in the territories to which the Convention applies, and in this context, it must have regard not solely to the strictly legislative powers which  a body has, but also to that body’s role in the overall legislative process.“709

Der neu-kaledonische Kongress bezog seine Kompetenzen nicht aus der Verfassung, sondern aus einem verfassungsausführenden Gesetz (loi organique), welches in der französischen Normenhierarchie unter der Verfassung stand.710 Aus Art. 77 der französischen Verfassung ging aber hervor, dass die Kompetenzübertragungen durch das verfassungsausführende Gesetz endgültig waren.711 Eine Änderung des loi organique hätte also gegen die Verfassung verstoßen. Insofern waren die Kompetenzen des neu-kaledonischen Kongresses verfassungsrechtlich abgesichert. e) Zwischenfazit Körperschaften föderaler oder regionaler Untereinheiten können, lässt man die Mathieu-Mohin-Entscheidung außer Acht, nur dann gesetzgebende Körperschaften sein,712 wenn ihre Kompetenzen auf die Verfassung zurückzuführen sind. Außerdem unterstreicht diese Fallgruppe, dass nur solche Organe als gesetzgebende Körperschaften eingeordnet werden können, die im Gesetzgebungsverfahren eine ausreichend wichtige Rolle spielen.

707

EGMR Nr. 66289/01, Py v Frankreich, 11.01.2005, §§ 37–40. EGMR Nr. 66289/01, Py v Frankreich, 11.01.2005, § 42. 709 EGMR Nr. 66289/01, Py v Frankreich, 11.01.2005, § 41 (Hervorhebung durch die Verfasserin). 710 Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 9 Rn. 28; Marsch, Rechtsetzung, in: Marsch / Vilain / Wendel, Französisches und Deutsches Verfassungsrecht, § 5 Rn. 69. 711 Siehe dazu das Zitat in dem Abschnitt des relevanten nationalen Rechts in der franzö­ sischen Fassung des Urteils EGMR Nr. 66289/01, Py v Frankreich, 11.01.2005. 712 Es bleibt unklar, warum das Merkmal in Mathieu-Mohin v Belgien noch nicht genannt wurde. Ein möglicher Grund ist die Tatsache, dass es sich um die erste Entscheidung des EGMR handelte, sodass dieser seine Rechtsprechungslinie erst finden musste. Eine andere Möglichkeit ist, dass es eine ausreichende verfassungsrechtliche Absicherung gab, welche im EKMR-Report und im EGMR-Urteil nicht deutlich wurde. 708

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7. Kommunale Versammlungen Anders als föderale oder regionale Parlamente wurden kommunale Versammlungen und andere Kollegialorgane auf lokaler Ebene bislang nicht als legislature eingeordnet.713 a) EKMR: Booth-Clibborn v Vereinigtes Königreich In der Booth-Clibborn-Entscheidung der EKMR ging es um die Frage, ob die Beschwerdeführer durch die Abschaffung der Wahl zu den Municipal County Councils im Vereinigten Königreich in ihrem Wahlrecht verletzt waren.714 Die Municipal County Councils waren kein grundlegende Teil der Gesetzgebung (con­ stituting part of the legislature)715 und damit keine gesetzgebende Körperschaft: „The constitutional arrangements of the United Kingdom do not authorise the exercise of legislative powers by subordinate bodies. As  a matter of British constitutional law, Parliament, as the elected representative of the British people, may therefore vote to abolish the metropolitan county councils if this course of action recommends itself. The absolute constitutional authority which the British Parliament is able to exercise is indicative of the subordinate and subsidiary nature of the councils. The Commission must also review the specific powers enjoyed by the metropolitan county councils […]. The metropolitan county councils are corporations created by statute and as such may only do such things as are expressly or impliedly authorized by statute or by subordinate legislation. They are, however, specifically authorised to do anything which is calculated to facilitate the discharge of any of their statutory functions. It is clear that the metropolitan county councils are the repositories of extensive powers of a predominantly administrative nature concerning the organisation and provision of local services. Most of these powers are granted by statute or other subordinate legislation which defines closely and restrictively their field of application. Other powers require the approval and consent of a superior executive authority before they may be exercised. Still others may be exercised by the councils but such exercise will not become effective until approved by a confirming authority. […] [T]he metropolitan county councils […] do not possess an inherent primary rulemaking power and those powers which have been delegated to them are qualified by the Parliament of the United Kingdom and exercised subject to that Parliament’s ultimate control.“716 713

Siehe hierzu auch Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 25 Rn. 48; Golubok, NQHR 2009, S. 361 (368). 714 EKMR Nr. 11391/85, Booth-Clibborn v Vereinigtes Königreich (Pl.) (Zul.), 05.07.1985, DR 43, S. 236 (247). 715 EKMR Nr. 11391/85, Booth-Clibborn v Vereinigtes Königreich (Pl.) (Zul.), 05.07.1985, DR 43, S. 236 (247). 716 EKMR Nr. 11391/85, Booth-Clibborn v Vereinigtes Königreich (Pl.) (Zul.), 05.07.1985, DR 43, S. 236 (248); dem folgend EKMR Nr. 10650/83, Clerfayt u. a. v Belgien (Zul.), 17.05.1985; Nr. 11802/85, Tete v Frankreich (Zul.), 10.03.1988.

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Die EKMR zeigte also an mehreren Merkmalen, warum die Municipal County Councils im Vergleich zur legislature eine unter- und nachgeordnete Rolle spielten. Die Gründung, Kompetenzausstattung und Abschaffung der Councils richtete sich nach parlamentarischen Gesetzen. Den Municipal County Councils fehlte die also verfassungsrechtliche Grundlage. Außerdem unterlagen sie einer parlamentarischen Kontrolle. b) EGMR: Cherepkov v Russland und Folgeurteile Der EGMR befasste sich erstmalig in der Sache Cherepkov v Russland mit der Einordnung kommunaler Körperschaften, im konkreten des Gemeinderats in Wladiwostok.717 Der EGMR argumentierte mit der verfassungsrechtlichen Einordnung der Körperschaften: Nur das Parlament übte laut der Verfassung legislative Gewalt aus. Die Rechtsetzungskompetenzen wurden dem Gemeinderat durch einfache Gesetze übertragen. „The Court considers that the power to make regulations and by-laws which is conferred on the local authorities in many countries is to be distinguished from legislative power, which is referred to in Article 3 of Protocol No. 1 to the Convention, even though legislative power may not be restricted to the national parliament alone […].“718

Der EGMR wertete die Normen aus, in welchen von gesetzgebender Gewalt die Rede war. Anschließend argumentierte er funktional, indem er die Kompetenzgrundlagen für Entscheidungen der Versammlungen, die sie bindenden Normen und die Kontrollinstanzen in den Blick nahm. Die Befugnis, abstrakt-generelle Regelungen, also materielle Gesetze, zu erlassen, darf nicht mit einer gesetzgebenden Funktion (legislative power / pouvoir législatif) verwechselt werden. Bestätigt wurde dies in der Sache Ždanoka v Lettland.719 Mit einer vergleichbaren, wenngleich knapperen Argumentation entschied der EGMR über türkische Kommunalwahlen. Hierbei griff der EGMR auf die Formulierung aus der Booth-Clibborn-Entscheidung der EKMR zurück, dass die Körperschaft eine grundlegende Bedeutung in der Gesetzgebung (constituting part of the legislature) spielen müsse.720 717

EGMR Nr. 51501/99, Cherepkov v Russland (Zul.), 20.01.2000. EGMR Nr. 51501/99, Cherepkov v Russland (Zul.), 20.01.2000; dem folgend EGMR Nr. 36681/97, Vito Sante Santoro v Italien (Zul.), 16.01.2003; Nr. 12626/13 und 2522/12, McLean und Cole v Vereinigtes Königreich (Zul.), 11.06.2013, § 29; inhaltsgleich EGMR Nr. 62323/17, Lembergs v Lettland (Zul.), 18.09.2018; knapper begründet und ohne Hinweis auf die Cherepkov-Entscheidung EGMR Nr. 52492/99, Xuereb v Malta (Zul.), 15.06.2000; Nr. 46813/99, Malarde v Frankreich (Zul.), 05.09.2000. 719 EGMR Nr. 58278/00, Ždanoka v Lettland (Zul.), 06.03.2003; knapp auf die Gesetzesbindung der Verwaltung eingehend ebenfalls in EGMR Nr. 12626/13 und 2522/12, McLean und Cole v Vereinigtes Königreich (Zul.), 11.06.2013, § 29. 720 EGMR Nr. 16576/15, Yavaş v Türkei (Zul.), 30.08.2016, § 19; Nr. 16572/15, Cumhuriyet Halk Partisi v Türkei (Zul.), 30.08.2016, § 21; Nr. 33969/15, Akova v Türkei (Zul.), 13.09.2016, 718

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Auch die Zulässigkeitsentscheidung Mółka v Polen zeichnete sich durch eine ausführliche Begründung des EGMR aus und folgte zunächst argumentativ Cherepkov und Ždanoka. Darüber hinaus: „[T]he legality of actions of local government at different levels is subject to control exercised by the Prime Minister and the regional governors who represent the government in each of the sixteen regions. Ultimately, in the case of a flagrant violation of the Constitution or a statute, the Sejm, acting on an application of the Prime Minister, may dissolve any municipal council, district council or regional assembly. The Court concludes that the municipal councils, district councils and regional assemblies do not possess any inherent primary rulemaking powers and do not form part of the legislature of the Republic of Poland.“721

Außerdem griff der EGMR erstmals (und einmalig) die Formulierung der EKMR aus der Entscheidung Booth-Clibborn von inherent primary rulemaking powers auf, welche die Grundsätze der ersten Rechtsprechungslinie auf den Punkt brachte:722 Für die Einordnung eines Organs als legislature zog der EGMR Bestimmungen der nationalen Verfassungen heran, welche die Aufgaben der Gesetzgebung regelten.723 Rechtsgrundlagen der administrativen Rechtsetzung finden sich hingegen in einfach-gesetzlichen Normen und sind daher keine originären, sondern abgeleitete Kompetenzen, also keine inherent primary rule-making powers, sondern derivative secondary rule-making powers, die auch durch einfaches Recht wieder abgeschafft werden können. Die administrative Rechtsetzung unterscheidet sich von der Gesetzgebung durch ihre Bindung an das einfache Recht sowie die damit zusammenhängenden Kontrollmöglichkeiten der Regierung oder des Parlaments.724 In anderen Entscheidungen vermied der EGMR einen großen Begründungsaufwand: „The municipal councils clearly do not exercise legislative power and do not therefore form part of the ‚legislature‘ within the meaning of Article 3 of Protocol No. 1 […].“725 § 22. Siehe auch schon EGMR Nr. 4692/09, Uçar v Türkei (Zul.), 24.06.2014, §§ 30–31, wo zwar noch nicht die Formulierung constituting part of the legislature verwendet wurde, die Struktur der Prüfung aber bereits ähnlich ist. Allein mit dem Hinweis, es handele sich um lokale Wahlen, wurde die Eröffnung des Anwendungsbereichs abgelehnt in EGMR Nr. 48108/07, Beșleagă v Moldawien und Russland, 02.07.2019, § 68. 721 EGMR Nr. 56550/00, Mółka v Polen (Zul.), 11.04.2006; ähnlich EGMR Nr. 62323/17, Lembergs v Lettland (Zul.), 18.09.2018, wo der EGMR die Kontrollmöglichkeiten der Regierung nennt. 722 Ebenfalls als „entscheidend“ wird dieses Kriterium bezeichnet von Richter, in: Dörr /  Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  25 Rn.  45. 723 So auch Golubok, NQHR 2009, S. 361 (368), der schlussfolgert, dass nicht die Reichweite der sachlichen Kompetenzen relevant ist, sondern das nationale Verständnis der gesetzgebenden Körperschaft – es gebe also kein autonomes Konzept dieses Begriffs. 724 Vgl. die Zusammenfassung von Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 25 Rn. 45. 725 EGMR Nr. 53180/99, Gorizdra v Moldawien (Zul.), 02.07.2002; Nr. 52226/99, Salleras Llinares v Spanien (Zul.), 12.10.2000; Nr. 49699/99, 49700/99 und 49701/99, Siffre, Ecoffet

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Der EGMR schloss hierbei die Gemeinderäte nicht prinzipiell als gesetzgebende Körperschaft aus, sondern stellte jeweils für den konkreten Fall fest, dass sie keine Gesetzgebungsgewalt besaßen. Das Entscheidungskriterium war somit das gleiche wie bei den ausführlich begründeten Urteilen. Auch das Schrifttum grenzt gesetzgebende von nicht-gesetzgebenden Körperschaften danach ab, ob sie über eine abgeleitete oder eine sich originär aus der Verfassung ergebende rechtsetzende Staatsgewalt verfügen.726 Die Schlussfolgerungen unterscheiden sich indes: Einige schließen aufgrund dieser Unterscheidung sämtliche kommunalen Körperschaften aus dem Schutzbereich des Art. 3 ZP aus.727 Andere nehmen keine Voreinteilung in föderale, regionale und kommunale Körperschaften vor und betrachten allein den Einzelfall.728 c) Zwischenfazit Die Konventionsorgane haben kommunale Versammlungen nicht pauschal aus dem Anwendungsbereich des Wahlrechts gemäß Art. 3 ZP ausgeschlossen.729 Bislang finden sich allerdings keine Beispiele dafür, dass eine kommunale Versammlung als gesetzgebende Körperschaft eingeordnet wurde. Der EGMR entwickelte die Kriterien der EKMR in Booth-Clibborn v Vereinigtes Königreich weiter. Kommunale Versammlungen gelten nicht als gesetzgebende Körperschaft, sofern sich ihre Rechtsetzungskompetenz aus einfachem Recht und und Bernadini v Frankreich, 21.06.2005 (hier zeigte der EGMR aber immerhin, dass die nationale Verfassungsstruktur einbezogen werden muss, ging aber ganz offensichtlich (à l’evidence) davon aus, dass Gemeinderäte nicht in den Anwendungsbereich fallen); Nr. 35579/03 u. a., Etxeberría u. a. v Spanien (Zul.), 30.06.2009, § 62; Nr. 35473/08, Méndez Pérez v Spanien (Zul.), 04.10.2011, § 25. Mit anderer Formulierung, aber ebenso kategorisch: EGMR Nr. 566/10 u. a., Dunn u. a. v Vereinigtes Königreich (Zul.), 13.05.2014, § 14; Nr. 13523/12 und 14030/12, Barski und Święczkowski v Polen, 02.02.2016, § 53 (bezogen auf eine mögliche Verletzung von Art. 14 EMRK i. V. m. Art. 3 ZP). 726 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 224; Frowein, in: Frowein / Peukert, EMRK, Art. 3 ZP Rn. 3; Schabas, ECHR, Art. 3 ZP, S. 1021; Broeksteeg, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 909 (915); Golubok, NQHR 2009, S. 361 (368–369). 727 Schabas, ECHR, Art. 3 ZP, S. 1021; Meyer-Ladewig / Nettesheim, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 3 ZP Rn. 5; Grabenwarter / Pabel, EMRK, 6. Aufl., § 23 Rn. 109; Harris u. a., Law of the ECHR, S. 915; Peters / Altwicker, EMRK, § 17 Rn. 3. Ebenso, allerdings ohne auf Differenzierungskriterien zur gesetzgebenden Körperschaft einzugehen Frowein, in: Frowein / Peukert, EMRK, Art. 3 ZP Rn. 3; Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz, Rn. 454; Kaiser, in: Mélanges Pierre Lambert, S. 435 (440); Thienel, Staatsangehörigkeit und Wahlrecht im sich einigenden Europa, in: Hammer, FS Öhlinger, S. 356 (358). So auch schon Wildhaber, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 3 ZP Rn. 63 (1986). 728 Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  25 Rn.  48; Schokkenbroek, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, 4. Aufl., S. 911 (923); Rainey / McCormick / O vey, Jacobs, White, and Ovey, S. 612–613. 729 Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  25 Rn.  48.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

nicht aus der Verfassung ergibt und sie einer parlamentarischen oder exekutiven Kontrolle unterliegen. 8. Professionelle und beratende Körperschaften Die EKMR entschied zweimal, dass die Organe professioneller Vertretungskörperschaften, im konkreten die Arbeiterkammer in Österreich730 und die niederländische Königliche Gesellschaft für den Anbau von Blumenzwiebeln (Koninklijke Algemene Vereniging voor Bloembollencultuur),731 keine gesetzgebenden Körperschaften gemäß Art. 3 ZP sind.732 Im zweiten Fall führte die EKMR aus, dass die Gesellschaft zwar gesetzgebende Kompetenzen habe, diese ihr allerdings durch ein einfaches Gesetz verliehen worden waren und begrenzt seien. Außerdem galt das durch die Gesellschaft gesetzte Recht nur für die Personen, die in den zugehörigen Firmen arbeiteten.733 Auch eine rein beratende Versammlung in Nord-Irland, die die Aufgabe hatte, Vorschläge für das irische und das britische Parlament zu erarbeiten, fiel nicht unter den Begriff der legislature. Sollte auf Grundlage der Vorschläge etwas beschlossen werden, so sei dies ein Resultat des irischen respektive britischen Parlaments in Ausübung ihrer Kompetenzen, so die EKMR.734 9. Referendum Verbindliche und unverbindliche Volksbefragungen, -abstimmungen und Referenden fallen aus dem Anwendungsbereich des Wahlrechts gemäß Art. 3 ZP heraus. Der EGMR folgte zunächst der EKMR735 und begründete den Ausschluss von Referenden aus dem Anwendungsbereich mit dem Unterschied zwischen Wahlen 730 EKMR Nr. 12387/86, Fraktion Sozialistischer Gewerkschafter im ÖGV Vorarlberg u. a. v Österreich, 13.04.1989. 731 EKMR Nr. 9926/82, X v Niederlande, 01.03.1983, DR 32, S. 278 (281–282); Rainey /  McCormick / O vey, Jacobs, White, and Ovey, S. 612. 732 Vgl. Kaiser, in: Mélanges Pierre Lambert, S. 435 (440). 733 EKMR Nr. 9926/82, X v Niederlande, 01.03.1983, DR 32, S. 278 (281). Kaiser, in: ­Mélanges Pierre Lambert, S. 435 (440) merkt an, dass in diesem Fall die Bezeichnung als rechtsetzende Gewalt (pouvoir règlementaire) gegenüber der Bezeichnung als gesetzgebende Gewalt (pouvoir législatif) vorzugswürdig gewesen wäre. 734 EKMR Nr. 31699/96, Lindsay v Vereinigtes Königreich, 17.01.1997. 735 EKMR Nr. 26633/95, Bader v Österreich, 15.05.1996; Nr. 27881/95, Nurminen u. a. v Finnland, 26.02.1997; Nr. 35790/97, Castelli u. a. v Italien (Zul.), 14.09.1998. Im Fall X v Vereinigtes Königreich lehnte die EKMR die gesetzgebende Eigenschaft bereits deswegen ab, weil das konkrete Referendum, an dem der Beschwerdeführer nicht teilnehmen durfte, keinen verbindlichen Charakter hatte, sondern rein konsultativ war, EKMR Nr. 7096/75, X v Vereinigtes

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP  

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und Abstimmungen.736 Später sparte sich der EGMR sogar diese Begründung737 und verstand den Ausschluss von Referenden aus dem Anwendungsbereich des Wahlrechts gemäß Art. 3 ZP als ständige Rechtsprechung.738 Das Schrifttum deutet diese Rechtsprechung als einen generellen Ausschluss von Referenden aus dem Schutzbereich des Art. 3 ZP.739 Teilweise wird jedoch eine Einbeziehung aus rechtspolitischen Gründen gefordert.740 In aktuellen Urteilen relativierte der EGMR seine bisherige strenge Linie. Im Ergebnis fielen aber auch das schottische Unabhängigkeitsreferendum in der Sache Moohan und Gillon v Vereinigtes Königreich sowie das Verfassungsreferendum in der Türkei (Cumhuriyet Halk Partisi v Türkei) nicht in den Anwendungsbereich des Wahlrechts aus Art. 3 ZP. Die Beschwerdeführer versuchten jeweils, den EGMR von einer Änderung der etablierten Rechtsprechung zu überzeugen, indem sie die besondere Reichweite der in Rede stehenden Abstimmungsinhalte hervorhoben. Die Funktion des Wahlrechts innerhalb der EMRK, eine wahrhaft demokratische politische Ordnung zu bewahren, erfordere, dass diese „grundlegendste aller Abstimmungen“ (this most fundamental of votes) über die Unabhängigkeit Schottlands geschützt sei, so die schottischen Beschwerdeführer.741 Die beschwerdeführende Cumhuriyet Halk ­Partisi argumentierte für die Anwendbarkeit von Art. 3 ZP auf das türkische Verfassungsreferendum, dass durch die Verfassungsänderung das demokratische Königreich (Zul.), 03.10.1975, DR 3, S. 165 (166). In EGMR Nr. 22962/15 und 23345/15, Moohan und Gillon v Vereinigtes Königreich (Zul.), 13.06.2017, § 42 stellte der EGMR schließlich klar, dass die Frage, ob ein Referendum konsultative oder verbindliche Entscheidungen traf, nicht entscheidend für die Eröffnung des Anwendungsbereichs ist. 736 EGMR Nr. 31981/96, Hilbe v Liechtenstein (Zul.), 07.09.1999; Nr. 54767/00, Borghi v Italien (Zul.), 20.06.2002; Nr. 399/02, Bocellari und Rizza v Italien (Zul.), 28.10.2004; Nr. 14755/03, Ž. v Lettland, 26.01.2006. 737 EGMR Nr. 36681/97, Vito Sante Santoro v Italien (Zul.), 16.01.2003; Nr. 56507/00, Comitato promotore referendum maggioritario und Comitato promotore referendum antiproporzionale v Italien (Zul.), 08.07.2003; Nr. 1345/06, Niedźwiedź v Polen (Zul.), 11.03.2008; Nr. 12626/13 und 2522/13, McLean und Cole v Vereinigtes Königreich (Zul.), 11.06.2013, § 33. 738 EGMR Nr. 12626/13 und 2522/13, McLean und Cole v Vereinigtes Königreich (Zul.), 11.06.2013, § 32; Nr. 22962/15 und 23345/15, Moohan und Gillon v Vereinigtes Königreich (Zul.), 13.06.2017, § 40; Nr. 48818/17, Cumhuriyet Halk Partisi v Türkei, 21.11.2017, § 34. 739 Zum Beispiel Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 25 Rn. 45; Arndt, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 3 ZP  Rn.  6; Meyer-Ladewig /  Nettesheim, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 3 ZP Rn. 5; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 23 Rn. 113. Anders Harris u. a., Law of the ECHR, S. 915, die davon ausgehen, dass regelmäßig wiederholte Referenden durchaus in den Anwendungsbereich des Art. 3 ZP fallen könnten. 740 de Meyer, Electoral Rights, in: MacDonald / Matscher / Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 553 (556) spricht sich für eine Einbeziehung der Referenden in den Schutzbereich aus und begründet dies mit einem a fortiori-Argument. Ebenfalls kritisch zur aktuellen Rechtsprechung Schabas, ECHR, Art. 3 ZP, S. 1021. 741 EGMR Nr. 22962/15 und 23345/15, Moohan und Gillon v Vereinigtes Königreich (Zul.), 13.06.2017, § 39.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

System (operation of political democracy) in der Türkei verändert und die Kompetenzen des Staatspräsidenten ausgeweitet wurden.742 In beiden Fällen versuchten die Beschwerdeführer also, über die Auswirkung des Verfassungsreferendums auf die zukünftige legislature die Anwendbarkeit des Art. 3 ZP auf das Referendum zu begründen. In Moohan und Gillon v Vereinigtes Königreich schloss der EGMR die Anwendbarkeit des Art. 3 ZP nicht kategorisch aus, formulierte aber strenge Voraussetzungen: „Given that there are numerous ways of organising and running electoral systems and a wealth of differences in historical development, cultural diversity and political thought within Europe which it is for each Contracting State to mould into their own democratic vision […], the Court has not excluded the possibility that a democratic process described as a ‚referendum‘ by a Contracting State could potentially fall within the ambit of Article 3 of Protocol No. 1 […]. However, in order to do so the process would need to take place ‚at reasonable intervals by secret ballot, under conditions which will ensure the free expression of the opinion of the people in the choice of the legislature‘.“743

Der EGMR räumte der Wortlaut-Auslegung somit Vorrang ein vor den teleo­ logischen Argumenten der Beschwerdeführer, dass durch das Referendum auch die Art der zukünftigen Gesetzgebung (type of legislature) bestimmt werde.744 Die Entscheidung in der Sache Cumhuriyet Halk Partisi v Türkei folgte den Grundsätzen der kurz zuvor ergangenen Entscheidung Moohan und Gillon.745 Der EGMR führte erstmals den Unterschied zwischen Sachabstimmungen und Wahlen aus: Referenden werden nicht in regelmäßigen Abstimmungen durchgeführt, weil über Sachfragen entschieden wird, die nicht regelmäßig erneut entschieden werden müssen. „Secondly, and importantly, referendums are not usually organised as a means of electing citizens to certain posts, in other words as an election giving the electorate the possibility to choose the legislature.“746

Anschließend begründete der EGMR, dass die Wortlautgrenze des Art. 3 ZP auch nicht im Rahmen der living instrument-Doktrin zugunsten einer teleolo­ 742

EGMR Nr. 48818/17, Cumhuriyet Halk Partisi v Türkei (Zul.), 21.11.2017, § 27. EGMR Nr. 22962/15 und 23345/15, Moohan und Gillon v Vereinigtes Königreich (Zul.), 13.06.2017, § 42. Der EGMR stützt sich hierbei auf EGMR Nr. 12626/13 und 2522/13, McLean und Cole v Vereinigtes Königreich (Zul.), 11.06.2013, § 33, wo bereits angedeutet wurde, dass ein Referendum nicht per se aus dem Anwendungsbereich des Wahlrechts fallen muss: „There is nothing in the nature of the referendum at issue in the present case which would lead the Court to reach a different conclusion here.“ (Hervorhebung durch die Verfasserin). Moohan und Gillon folgend EGMR Nr. 75147/17, Forcadell i Lluis u. a. v Spanien (Zul.), 07.05.2019, § 44. 744 EGMR Nr. 22962/15 und 23345/15, Moohan und Gillon v Vereinigtes Königreich (Zul.), 13.06.2017, § 41. 745 EGMR Nr. 48818/17, Cumhuriyet Halk Partisi v Türkei (Zul.), 21.11.2017, § 37. 746 EGMR Nr. 48818/17, Cumhuriyet Halk Partisi v Türkei (Zul.), 21.11.2017, § 33. 743

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gischen Auslegung zum Schutz der wahrhaft demokratisch politischen Ordnung überschritten werden darf.747 Durch die Entscheidungen Moohan und Gillon v Vereinigtes Königreich und Cumhuriyet Halk Partisi v Türkei wurde deutlich, wie sehr der EGMR den Einzelfallentscheidungen verpflichtet ist. Er schloss zwar nicht (mehr) grundsätzlich aus, dass Referenden in den Anwendungsbereich des Art. 3 ZP fallen und somit – sprachlich schwierig – als legislature gelten könnten.748 Gleichzeitig sind die von ihm aufgestellten Anforderungen für eine solche Einbeziehung so streng, dass ein Referendum wohl niemals als legislature eingeordnet wird. Dafür wäre eine regelmäßige Wiederholung des Referendums notwendig, die getroffene Sachentscheidung müsste also in regelmäßigen Abständen wieder in Frage gestellt werden. Dies widerspricht dem Wesen des Referendums. Trotz der sprachlichen Relativierung in Moohan und Gillon v Vereinigtes Königreich kann somit als gesichert gelten, dass Referenden aus dem Anwendungsbereich des Art. 3 ZP herausfallen, solange der EGMR nicht von seiner aktuellen Rechtsprechungslinie abweicht. 10. Zwischenfazit Der EGMR hat nicht nur (gesamt-)staatliche Parlamente als gesetzgebende Körperschaften anerkannt, sondern auch Landtage und regionale Körperschaften, die zweite parlamentarische Kammer in Bosnien und Herzegowina sowie das Europäische Parlament.749 Bei all diesen Organen handelt es sich um Parlamente verschiedener Ebenen von Hoheitsgewalt oder parlamentarische Kammern. Staatspräsidenten, kommunale Körperschaften, berufsständische Körperschaften und Referenden sind hingegen keine legislature im Sinne des Art. 3 ZP. Die Auslegung der „gesetzgebenden Körperschaften“ bezieht Besonderheiten der nationalen Verfassungsordnungen ein750 und vermeidet abstrahierende Aussagen. Dies zeigte sich besonders an der Entscheidung Moohan und Gillon, in welcher der EGMR nicht einmal Referenden per se vom Anwendungsbereich des Art. 3 ZP ausschloss. Einzig in der zweiten Rechtsprechungslinie zu den Staatsoberhäuptern vertrat der EGMR, dass Staatsoberhäupter prinzipiell keine gesetzgebende Körperschaft sein können. Dies wird aber dadurch relativiert, dass der EGMR in den Entscheidungen der ersten Rechtsprechungslinie anhand von materiellen Kriterien entschied. 747

EGMR Nr. 48818/17, Cumhuriyet Halk Partisi v Türkei (Zul.), 21.11.2017, §§ 34–38. Vgl. auch Arndt, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 3 ZP Rn. 6, der darauf hinweist, dass Art. 3 ZP ein Organ voraussetzt. 749 So auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 221; Lécuyer, RTDH 2014, S. 127 (140); ausführlich auch Goy, Revue du Droit Public 1986, S. 1275 (1292–1297). 750 Statt aller EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 40; Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, § 40; Nr. 75947/11, Davydov u. a. v Russland, 30.05.2017, § 278. 748

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

III. Merkmale der gesetzgebenden Körperschaft gemäß Art. 3 ZP Der EGMR legte in den verschiedenen Entscheidungen einheitliche Kriterien zugrunde, anhand der in der folgenden Analyse Merkmale der gesetzgebenden Körperschaft entwickelt werden.751 Die Einrichtungsgarantie des Art. 3 ZP verlangt, dass jeder Staat mindestens eine gesetzgebende Körperschaft hat, welche von den Bürgern gewählt wird und bestimmte Merkmale aufweist.752 Es ist also das zweite Gewaltenteilungselement, die institutionelle Pluralität, betroffen. Wird die gesetzgebende Körperschaft nicht nur über strukturelle Merkmale, sondern über die ihr zugeschriebenen hoheit­lichen Tätigkeiten definiert, dann müssen die Konventionsstaaten der gesetzgebenden Körperschaft entsprechende Tätigkeiten zuweisen. In diesem Fall ist auch das dritte Element der Gewaltenteilung, die Zuordnung hoheitlicher Tätigkeiten zu einzelnen Organen, betroffen. Alle europäischen Staaten haben sich mit dem Beitritt zum Europarat und zur EMRK als rechtsstaatliche Demokratie identifiziert. Als solche haben alle ein direkt gewähltes nationales Parlament oder jedenfalls eine direkt gewählte erste parlamentarische Kammer.753 Die Parlamente beziehungsweise deren erste Kammern sind gesetzgebende Körperschaften im Sinne des Art. 3 ZP.754 Hinweise darauf, dass das Parlament einer repräsentativen Demokratie nicht die Merkmale der gesetzgebenden Körperschaft aufweisen könnte, gibt es keine. Anhängig gemacht wurden entweder für die Gewaltenteilung weniger relevante Streitigkeiten, in denen die Betroffenen eine Verletzung einer der Wahlrechtsgrundsätze bei der Wahl zu einer anerkannten gesetzgebenden Körperschaft geltend machten oder die in Kapitel 3 A. II. vorgestellten Fälle, in denen ein Organ gewählt wurde, dessen Charakter als gesetzgebende Körperschaft umstritten war, und somit die Eröffnung des Anwendungsbereichs geprüft wurde. In den untersuchten Fallgruppen fanden sich Organe einer anderen hoheitlichen Ebene als der des nationalen Parlaments, also regionale, föderale oder supranationale Versammlungen, sowie Organe, die gemeinsam mit dem nationalen Parlament auf einer hoheitlichen Ebene an der Gesetzgebung beteiligt waren. Es ging also stets um Organe, welche die Rolle des nationalen Parlamentes ergänzten, nicht ersetzten. Für die institutionelle Pluralität ist relevant, welche Anforderungen die EMRK an die institutionelle Ausgestaltung und das Besetzungsverfahren der gesetzgebenden Körperschaft stellt. Für den Fall, dass auf einer hoheitlichen Ebene mehrere 751 Ein ähnliches Vorgehen findet sich auch schon bei Goy, Revue du Droit Public 1986, S. 1275 (1290–1297). 752 Siehe hierzu ab S. 142. 753 Classen, Nationales Verfassungsrecht in der EU, Rn. 327; Grewe / Ruiz Fabri, Droits constitutionnels européens, Rn. 305; Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 7 Rn. 34. 754 Siehe hierzu bereits oben S. 150.

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP  

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gesetzgebende Körperschaften bei der Gesetzgebung zusammenwirken, stellt sich die Frage, ob der Gewährleistungsumfang des Wahlrechts für beide Organe der gleiche ist. Hiermit zusammen hängt auch die Frage, wie stark andere Organe in das Gesetzgebungsverfahren eingebunden sein dürfen, wenn sie nicht vom Volk gewählt werden. 1. Organisationsform Bisher hat der EGMR nur Parlamente als gesetzgebende Körperschaften anerkannt: Einerseits föderale und regionale Parlamente sowie das Europäische Parlament, welche jeweils auf einer anderen hoheitlichen Ebene agieren als das nationale Parlament, und andererseits zweite Kammern eines nationalen Parlaments, welches neben der ersten Kammer an der Gesetzgebung beteiligt ist.755 Andere Organe oder andere Abstimmungsformen als die Wahl – nämlich Sachentscheidungen – wurden nicht als gesetzgebende Körperschaft anerkannt. a) Gewähltes Organ Der Wortlaut des Art. 3 ZP spricht von Wahlen, welche die freie Meinungsäußerung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaft gewährleisten (elections […] under conditions which will ensure the free expression of the opinion in the choice of the legislature / élections […] dans les conditions qui assurent la libre expression de l’opinion du peuple sur le choix du corps législatif ). Nach dem Wortlaut ist der Anwendungsbereich des Wahlrechts also eröffnet, wenn eine Personalentscheidung zur Besetzung eines Organs betroffen ist. Hiernach ist das Wahlrecht bei Referenden nicht anwendbar. Hieran änderten auch die Entscheidungen Moohan und Gillon v Vereinigtes Königreich sowie Cumhuriyet Halk Partisi v Türkei nichts, in denen sich der EGMR sehr ausführlich mit Referenden im Anwendungsbereich des Art. 3 ZP auseinandersetzte.756 In beiden Fällen entschieden die Abstimmenden darüber, welche Organe in Zukunft (wie stark) an der Gesetzgebung beteiligt sein würden.757 In Schottland hätte das schottische Parlament bei einer Zustimmung die alleinige Gesetzgebungshoheit erhalten und hätte sich diese nicht mehr mit dem britischen 755

Siehe bereits die Zusammenfassung auf S. 179. EGMR Nr. 22962/15 und 23345/15, Moohan und Gillon v Vereinigtes Königreich (Zul.), 13.06.2017, §§ 40–43; Nr. 48818/17, Cumhuriyet Halk Partisi v Türkei (Zul.), 21.11.2017, §§ 33–40. 757 EGMR Nr. 22962/15 und 23345/15, Moohan und Gillon v Vereinigtes Königreich (Zul.), 13.06.2017, § 41; Nr. 48818/17, Cumhuriyet Halk Partisi v Türkei (Zul.), 21.11.2017, § 35. Mit diesen mittelbaren Auswirkungen argumentierten auch die Beschwerdeführer, EGMR Nr. 22962/15 und 23345/15, Moohan und Gillon v Vereinigtes Königreich (Zul.), 13.06.2017, § 39; Nr. 48818/17, Cumhuriyet Halk Partisi v Türkei (Zul.), 21.11.2017, § 27. 756

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Parlament in London teilen müssen. In der Türkei änderte sich aufgrund des Referendums das Kräfteverhältnis zwischen Parlament und Staatspräsident.758 Diese mittelbaren Auswirkungen auf die Rolle der Parlamente reichten dem EGMR nicht aus, um Art. 3 ZP über dessen Wortlaut hinaus auszulegen. Vor allem mit der Entscheidung Cumhuriyet Halk Partisi v Türkei erteilte der EGMR einer zukünftigen Änderung der bisherigen Rechtsprechung eine Absage. Dies ist – angesichts des Wortlauts als Auslegungsgrenze – überzeugend.759 Denn Referenden werden nicht in regelmäßigen Abständen wiederholt, wie die Vorschrift es vorsieht.760 Gerade die französische Sprachfassung der EMRK zeigt, dass die Wahl auf die Zusammensetzung eines hoheitlichen Organs (corps) abzielen muss. Sich über den Wortlaut des Art. 3 ZP hinwegzusetzen, würde nicht nur eine Erweiterung des Schutzbereichs, sondern die Erfindung eines neuen Grundrechts bedeuten, des Grundrechts auf Teilnahme an direkt-demokratischen Abstimmungen. Gestützt wird dieses Ergebnis auch dadurch, dass der EMRK das Leitbild einer repräsentativen Demokratie zugrunde liegt.761 Referenden können somit – auch wenn der EGMR dies in Moohan und Gillon nicht mehr kategorisch ausschloss762 – nicht in den Schutzbereich des Wahlrechts fallen, denn sie stellen als Sachentscheidungen unabhängig von den Auswirkungen des Referendums auf die Staatsorganisation bereits strukturell keine Entscheidung über die legislature dar. Legislature bezeichnet stets ein Organ.763 b) Unbeachtlich: Kollegialorgan Da der EGMR Wahlen zu Staatsoberhäuptern immer wieder aus dem Anwendungsbereich des Art. 3 ZP ausschloss,764 stellt sich die Frage, ob eine gesetzgebende Körperschaft eine kollegiale oder repräsentative Struktur aufweisen muss. 758

Siehe hierzu Şirin, New Constitutional Amendment Proposal in Turkey: A Threat to Pluralistic Democracy!, VerfBlog, 31.01.2017; Öztürk / Gözaydın, Turkey’s draft constitutional amendments: harking back to 1876?, VerfBlog, 30.12.2016. 759 Für eine Ausweitung des Schutzes auch auf Referenden hingegen de Meyer, Electoral Rights, in: MacDonald / Matscher / Petzold, The European System for the Protection of Human Rights, S. 553 (556); Schabas, ECHR, Art. 3 ZP, S. 1021. 760 EGMR Nr. 48818/17, Cumhuriyet Halk Partisi v Türkei (Zul.), 21.11.2017, §§ 37–38. 761 So auch Goy, Revue du Droit Public 1986, S. 1275 (1290); Herndl, The Right to Participate in Elections, in: Benedek u. a., FS Ginther, S. 557 (557); Marks, BYIL 65 (1995), S. 209 (243) sowie ihr folgend Mowbray, Public Law 1999, S. 703 (723). Siehe zum Demokratieverständnis der EMRK oben ab S. 134. 762 EGMR Nr. 22962/15 und 23345/15, Moohan und Gillon v Vereinigtes Königreich (Zul.), 13.06.2017, § 42. Siehe für das wörtliche Zitat auch das Zitat zu Fn. 743. 763 So auch Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  25 Rn. 50. 764 Siehe hierzu die Darstellung ab S. 156. Keine Aussage machte der EGMR dazu, ob das Staatspräsidium Bosnien und Herzegowinas als gesetzgebende Körperschaft in Betracht kommt, da der EGMR hier einen Verstoß gegen das nicht-akzessorische Diskriminierungs-

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP  

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Bisher wurden ausschließlich Parlamente verschiedener Ebenen als gesetzgebende Körperschaft anerkannt,765 welche sich aus (mehreren) Abgeordneten beziehungsweise Mitgliedern zusammensetzen. Nicht in allen Fällen waren die gesetzgebenden Körperschaften repräsentativ besetzt: In Zhermal v Russland und Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina wurden die zweiten parlamentarischen Kammern als gesetzgebende Körperschaft eingeordnet, in denen jeweils die einzelnen Regionen beziehungsweise ethnischen Gruppen vertreten waren.766 Aus der bisherigen Rechtsprechung geht eindeutig hervor, dass Kollegialorgane gesetzgebende Körperschaften sein können. Dieser statistische Befund schließt allerdings nicht aus, dass auch nicht-kollegial besetzte Organe als gesetzgebende Körperschaft qualifiziert werden könnten. An der Gesetzgebung in den Konventionsstaaten sind regelmäßig mehrere Organe beteiligt.767 Die Kompetenzen der Staatsoberhäupter zur Ausfertigung von Gesetzen und zum Erlass präsidialer Verordnungen768 reichten nicht aus, um sie als legislature zu qualifizieren. Eigene Rechtsetzungskompetenzen und die formale Beteiligung am Ende des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens sind somit keine ausreichenden Kompetenzen. Auch ein eigenes präsidentielles Initiativrecht sowie ein suspensives Veto im Rahmen der Ausfertigung führten zu keiner abweichenden Beurteilung.769

verbot aus Art. 1 ZP  12 und nicht gegen Art. 14 EMRK i. V. m. Art. 3 ZP  prüfte, EGMR Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, §§ 53–56. Die Beschwerdeführer in der Sache Sejdić und Finci haben ihre Beschwerde hinsichtlich der Wahl zum dreiköpfigen Staatspräsidium schon gar nicht auf Art. 3 ZP (i. V. m. Art. 14 EMRK), sondern nur auf Art. 1 ZP 12 gestützt und sind somit offensichtlich davon ausgegangen, dass das Wahlrecht hier nicht einschlägig war, EGMR Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, § 5. 765 Siehe diese Schlussfolgerung bereits auf S. 179. 766 EGMR Nr. 60983/00, Zhermal v Russland (Zul.), 28.02.2008 (in diesem Fall Zhermal ging es zwar um Wahl eines Gouverneurs, der EGMR erklärte den Anwendungsbereich des Art. 3 ZP  aber deswegen für eröffnet, weil der Gouverneur nach seiner Wahl automatisch Mitglied des russischen Föderationsrates war); Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, § 41 sowie die Folgeurteile EGMR Nr. 3681/06, Zornić v Bosnien und Herzegowina, 15.07.2014, § 29 sowie EGMR Nr. 56666/12, Šlaku v Bosnien und Herzegowina, 26.05.2016, § 27. 767 Siehe etwa die Beteiligung zweier parlamentarischer Kammern in EGMR Nr. 60983/00, Zhermal v Russland (Zul.), 28.02.2008; Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, §§ 12, 41. Auch Regierungen sind häufig an der Gesetzgebung beteiligt, etwa durch ein Initiativrecht, Classen, Nationales Verfassungsrecht in der EU, Rn. 578. 768 So zum Beispiel in EGMR Nr. 35584/02, Guliyev v Aserbaidschan (Zul.), 27.05.2004. Hierbei handelt es sich um eine typische Aufgabe von Staatspräsidenten, Classen, Nationales Verfassungsrecht in der EU, Rn. 533. 769 EGMR Nr. 34932/04, Paksas v Litauen (GK), 06.01.2011, §§ 58, 72. Dieses Urteil wird aber zur zweiten Rechtsprechungslinie gezählt, sodass sich der EGMR in den Erwägungsgründen gar nicht explizit mit den Kompetenzen auseinander gesetzt hat.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Dies bedeutet einerseits, dass die Staatsoberhäupter, die bislang Gegenstand von EGMR-Entscheidungen waren, keine gesetzgebenden Körperschaften sind. Andererseits gibt die EMRK nicht vor, dass alle am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe die Merkmale der gesetzgebenden Körperschaft haben müssen, sodass das Wahlrecht aus Art. 3 ZP auf all diese Organe anwendbar wäre. Die Frage nach der institutionellen Struktur wird erst relevant, wenn ein nichtkollegial besetztes Organ ausreichende Kompetenzen hat, um es als gesetzgebende Körperschaft einzuordnen. Die erweiterten Kompetenzen des türkischen Staatspräsidenten, die der EGMR in Çalışkan und Erdem v Türkei ansprach,770 geben Anlass, die Anforderungen an die kollegiale Struktur zu untersuchen. Während der Wortlaut der verbindlichen französischen Fassung (corps législatif) nahe legt, dass die gesetzgebende Körperschaft nicht nur aus einem Organwalter besteht, ist die verbindliche englische Fassung diesbezüglich weniger aussagekräftig – der Begriff legislature bezieht sich nicht zwingend auf ein aus mehreren Personen bestehendes Organ. Auch der EGMR formulierte keine eindeutigen Anforderungen an die institutionelle Struktur. Die zweite Rechtsprechungslinie zur Einbeziehung von Staatsoberhäuptern in den Anwendungsbereich des Art. 3 ZP771 könnte hingegen so verstanden werden, dass die institutionelle Struktur des zu wählenden Organs relevant ist. Andererseits könnte der EGMR in diesen Urteilen schlicht auf die Begründung verzichtet haben, dass die Staatsoberhäupter keine ausreichend große Rolle im Gesetzgebungsverfahren spielten.772 Für diese Deutung spricht, dass der EGMR in Niedźwiedź v Polen auf die Urteile der ersten Rechtsprechungslinie verwies. Dagegen spricht jedoch, dass die Kompetenzen des Staatsoberhauptes nicht einmal bei den für das Urteil relevanten Vorschriften aufgeführt waren, sodass nicht klar ist, ob der EGMR diese Normen überhaupt beachtet hat.773 Schließlich kann argumentiert werden, dass der EGMR sich in den Urteilen der ersten Rechtsprechungslinie zu Staatsoberhäuptern nicht so ausführlich mit ihren Kompetenzen auseinandersetzen müsste,774 wenn bereits die institutionelle Struktur dazu führte, dass Staatsoberhäupter nicht als gesetzgebende Körperschaft qualifiziert werden könnten. Auch die aktuelle Entscheidung Çalışkan und Erdem 770 EGMR Nr. 13105/15, 16707/15 und 34381/15, Çalışkan und Erdem v Türkei (Zul.), 01.12.2020, §§ 27, 30. 771 EGMR Nr. 1345/06, Niedźwiedź v Polen (Zul.), 11.03.2008; inhaltsgleich EGMR Nr. 11157/04 und 15162/05, Anchugov und Gladkov v Russland, 04.07.2013, § 55; Nr. 34932/04, Paksas v Litauen (GK), 06.01.2011, § 72. 772 Siehe zur dieser Rechtsprechungslinie ab S. 159. 773 Ebenso fehlt eine solche Darstellung der Kompetenznormen des Staatsoberhaupts bei EGMR Nr. 11157/04 und 15162/05, Anchugov und Gladkov v Russland, 04.07.2013; mit Darstellung der Kompetenznormen hingegen EGMR Nr. 34932/04, Paksas v Litauen (GK), 06.01.2011, § 58. 774 Siehe zur dieser Rechtsprechungslinie ab S. 156.

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP  

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v Türkei, welche andeutet, dass die Gesetzgebungskompetenzen des türkischen Staatspräsidenten nach der Verfassungsreform inzwischen so weitreichend sein könnten, dass er als legislature eingeordnet wird,775 spricht dafür, dass Art. 3 ZP keine strukturellen Vorgaben macht. Möglicherweise könnte jedoch das Leitbild der repräsentativen und pluralistischen Demokratie, welches der EMRK zugrunde liegt,776 eine kollegiale Zusammensetzung einer gesetzgebenden Körperschaft erfordern. Stünde ein nicht kollegial besetztes Organ zu stark im Zentrum eines Gesetzgebungsprozesses, widerspräche dies sowohl der Grundidee der Repräsentativität als auch der des Pluralismus. Allerdings existiert in allen Konventionsstaaten ein nationales Parlament oder jedenfalls eine erste parlamentarische Kammer, die unabhängig von den jeweiligen nationalen Besonderheiten entscheidend am Gesetzgebungsprozess beteiligt sind.777 Dies wird von der EMRK vorausgesetzt. In Frage steht lediglich, ob der EMRK auch Vorgaben zur institutionellen Ausgestaltung einer möglichen zweiten gesetzgebenden Körperschaft neben dem Parlament beziehungsweise der ersten Kammer auf einer hoheitlichen Ebene zu entnehmen sind. Solange das Parlament oder die erste Kammer durch direkte und konventionskonforme Wahlen besetzt werden und am Gesetzgebungsverfahren beteiligt sind, wird dem Demokratieprinzip genügt. Die EMRK garantiert den Mindeststandard von einem direkt gewählten und entscheidend an der Gesetzgebung beteiligten Organ pro hoheitlicher Ebene. Weitergehende Anforderungen wären eine zu starke Einmischung in die nationalen Verfassungsordnungen. Erst wenn einem Parlament die Gesetzgebung gänzlich zugunsten des Staatspräsidenten oder eines anderen nicht-repräsentativ besetzten Organs entzogen würde, also wenn an der Gesetzgebung kein parlamentarisches Organ mehr entscheidend beteiligt wäre, läge ein Verstoß gegen die Einrichtungsgarantie des Art. 3 ZP vor. c) Zwischenfazit Das Wahlrecht aus Art. 3 ZP schützt die Teilnahme an Personalentscheidungen, nicht an Sachentscheidungen. Referenden fallen aus dem Anwendungsbereich hinaus. Solange ein parlamentarisches Organ an der Gesetzgebung beteiligt ist, macht die EMRK keine strukturellen Vorgaben für mögliche weitere gesetzgebende Körperschaften. Sollte eine Beschwerde vor dem EGMR anhängig gemacht werden, in welcher es um die Wahl eines Staatsoberhauptes mit ausreichend einflussreichen 775 EGMR Nr. 13105/15, 16707/15 und 34381/15, Çalışkan und Erdem v Türkei (Zul.), 01.12.2020, §§ 27, 30. 776 Siehe hierzu oben ab S. 134. 777 Siehe zu dieser Grundannahme bereits auf S. 180. Nach Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat, S. 397 „bündeln [die Parlamente] den Pluralismus einer offenen Gesellschaft“.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Kompetenzen bei der Gesetzgebung geht, dann wäre der Anwendungsbereich des Art. 3 ZP eröffnet, sodass die Wahlrechtsgrundsätze anwendbar wären.778 2. Kompetenzen der gesetzgebenden Körperschaft Der EGMR ging in seinen Urteilen zu Staatsoberhäuptern und zu zweiten parlamentarischen Kammern häufig auf deren Kompetenzen ein.779 In Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina bezeichnete der Gerichtshof den Umfang der Gesetzgebungskompetenzen als entscheidenden Faktor für die Einordnung der Kammer der Völker als gesetzgebende Körperschaft.780 In diesem Fall ging es um die Organkompetenz in Abgrenzung zu anderen hoheitlichen Organen der gleichen Ebene. Daneben erkannte der EGMR das Europäische Parlament und verschiedene föderale und regionale Parlamente als gesetzgebende Körperschaften an. Im Verhältnis zwischen Parlamenten verschiedener hoheitlicher Ebenen ist zu klären, ob der EGMR Vorgaben für die Verteilung der Verbundkompetenzen zwischen den Ebenen macht. Das Wahlrecht wird nur dann effektiv gewährleistet, wenn das von den Bürgern gewählte Organ auch innerhalb des organisatorischen Gefüges mit ausreichend Einfluss ausgestattet ist. Allerdings schützt Art. 3 ZP lediglich das Wahlrecht der Bürger, nicht aber die Funktionsfähigkeit oder den Einfluss der gesetzgebenden Körperschaft.781 Fehlende Organ- und Verbundkompetenzen müssten von den Wählern geltend gemacht werden. Hierfür müsste das gewählte Organ mit so wenigen Kompetenzen ausgestattet sein, dass das Wahlrecht seine demokratische Funktion verliert. Darüber hinaus könnten die Kompetenzen ein Merkmal der gesetzgebenden Körperschaft und damit für die Eröffnung des Anwendungsbereichs relevant sein.

778

Die EKMR-Entscheidung EKMR Nr. 6745/74 und 6746/74, W, X, Y und Z v Belgien (Zul.), 30.05.1975, DR 2, S. 114 (117) deutete allerdings darauf hin, dass die Anforderungen an die Wahlrechtsgrundsätze bei der Wahl zur zweiten gesetzgebenden Körperschaft innerhalb einer hoheitlichen Ebene sinken. Siehe hierzu auf S. 151. 779 EGMR Nr. 11676/04, Boškoski v Mazedonien (Zul.), 02.09.2004; Nr. 9103/04, Georgian Labour Party v Georgien (Zul.), 22.05.2007; Nr. 60983/00, Zhermal v Russland (Zul.), 28.02.2008; Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, § 41; Nr. 38707/04, Krivobokov v Ukraine (Zul.), 19.02.2013; Nr. 13105/15, 16707/15 und 34381/15, Çalışkan und Erdem v Türkei (Zul.), 01.12.2020, § 29. 780 EGMR Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, § 41. 781 Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  25 Rn.  17.

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP  

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a) Organkompetenz Die typischen Funktionen eines nationalen Parlaments sind verfassungsvergleichend die Gesetzgebungsfunktion inklusive des Budgetrechts, die Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive und die Wahlfunktion für die Zusammensetzung anderer hoheitlicher Organe.782 Der EGMR hat die Kompetenzausstattung nationaler Parlamente im Rahmen einer Prüfung von Art. 3 ZP bislang nie in Frage gestellt. Die typischen parlamentarischen Kompetenzen sind damit grundsätzlich ausreichend, um ein Organ als gesetzgebende Körperschaft zu qualifizieren. Darüber hinaus hat der EGMR auch bei regionalen Parlamenten ohne nähere Begründung auf deren verfassungsrechtliche Gesetzgebungskompetenzen verwiesen.783 In anderen Urteilen ging der EGMR hingegen näher auf die kompetenzielle Ausstattung ein. Die primäre Aufgabe aller Parlamente auf verschiedenen hoheitlichen Ebenen ist die Gesetzgebung.784 Auch der EGMR sieht die Gesetzgebung als zentrale Aufgabe der gesetzgebenden Körperschaft an.785 „[R]egard must not solely be had to the strictly legislative powers which a body has, but also to that body’s role in the overall legislative process […].“786

Der EGMR unterschied zwischen Gesetzgebungskompetenzen im engeren und im weiteren Sinne.787 Die einzelnen vom EGMR in verschiedenen Entscheidungen angesprochenen Kompetenzen werden im Folgenden analysiert.

782 Classen, Nationales Verfassungsrecht in der EU, Rn. 326 (bezogen auf alle EU-Mitgliedstaaten); Haller / Kölz / Gächter, Allgemeines Staatsrecht, Rn. 856–862; Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 9 Rn. 1; Heringa / Kiiver, Constitutions Compared, S. 71. Gerne wird in diesem Zusammenhang auf die Aufzählung von Bagehot, The English Constitution, S. 115 ff. verwiesen, welcher die Funktionen als „elective“, „expressive“, „teaching“, „informing“ und „legislative function“ bezeichnet, so z. B. Häberle / Kotzur, Europäische Verfassungslehre, Rn. 1095 und Classen, Nationales Verfassungsrecht in der EU, Rn. 326. 783 EGMR Nr. 56618/00, Federación Nacionalista Canaria v Spanien (Zul.), 07.06.2001; Nr. 75947/11, Davydov u. a. v Russland, 30.05.2017, §§ 278–279. 784 Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 9 Rn. 76, 84–102; Heringa / Kiiver, Constitutions Compared, S. 71. 785 Constituting part of the legislature: EGMR Nr. 16576/15, Yavaş v Türkei (Zul.), 30.08.2016, § 19; Nr. 16572/15, Cumhuriyet Halk Partisi v Türkei (Zul.), 30.08.2016, § 21; Nr. 33969/15, Akova v Türkei (Zul.), 13.09.2016, § 22. Vgl. auch Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 25 Rn. 51; Meyer-Ladewig / Nettesheim, in: Meyer-Ladewig /  Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 3 ZP Rn. 5. 786 Bezogen auf die Wahl zum Staatsoberhaupt: EGMR Nr. 11676/04, Boškoski v Mazedonien (Zul.), 02.09.2004; dem folgend auch Nr. 26712/06 und 26720/06, Brito da Silva Guerra und Sousa Magno v Portugal (Zul.), 17.06.2008; Nr. 9103/04, Georgian Labour Party v Georgien (Zul.), 22.05.2007; im Kontext regionaler Körperschaften EGMR Nr. 66289/01, Py v Frankreich, 11.01.2005, § 41; zum Europäischen Parlament EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 49. Siehe auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 222. 787 Diese Unterteilung auch bei Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 222–223.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

(1) Gesetzgebung: Entscheidende Rolle im Gesetzgebungsverfahren In den meisten Verfassungssystemen ist das Parlament nicht allein an der Gesetzgebung beteiligt.788 Initiativberechtigt sind neben einzelnen Abgeordneten häufig auch zweite Kammern, die Regierung oder das Staatsoberhaupt.789 Die Ausfertigung und Verkündung in der Abschlussphase erfolgt üblicherweise durch das Staatsoberhaupt.790 (a) Zustimmungsbedürftigkeit Das Parlament beziehungsweise dessen erste Kammer muss verfassungsübergreifend einheitlich stets dem Gesetz zustimmen.791 Daher stellt sich die Frage, ob ein Zustimmungsrecht zu Gesetzesvorhaben konstitutives Merkmal der gesetzgebenden Körperschaft ist. Die Staatsoberhäupter, die Gegenstand von EGMR-Entscheidungen zu Art. 3 ZP waren, hatten kein Zustimmungsrecht und wurden allesamt nicht als gesetzgebende Körperschaft eingeordnet.792 Im Fall der Georgian Labour Party gegen Georgien konnte der Staatspräsident im Notstandsfall Normen im Rang eines Parlaments eigenständig erlassen, die anschließend vom Parlament bestätigt werden mussten.793 In diesem Fall verzichtete der EGMR darauf zu entscheiden, ob der Staatspräsident eine gesetzgebende Körperschaft war, sodass unklar blieb, ob die Kompetenz zum Erlass von Notstandsnormen ausreichend war. Der Föderationsrat, die zweite parlamentarische Kammer in Russland, hatte in Gesetzesvorhaben grundsätzlich ein Zustimmungsrecht. Im Falle einer Ablehnung konnte ihn allerdings die erste Kammer, die Duma, überstimmen, sodass die erste und die zweite parlamentarische Kammer nicht gleichberechtigt an der Gesetzgebung 788 Vgl. auch Heringa / Kiiver, Constitutions Compared, S. 71, die deswegen bereits in der Verfassungsvergleichung davor warnen, parliament und legislature als Synonyme zu behandeln. In manchen Staaten weist sogar die Verfassung die Gesetzgebung mehreren Organen zusammen zu, siehe Classen, Nationales Verfassungsrecht in der EU, Rn. 558 mit Beispielen. 789 Einen Überblick über die Regelungen in verschiedenen Ländern bietet Weber, Europä­ ische Verfassungsvergleichung, Kap. 9 Rn. 77–83 sowie Classen, Nationales Verfassungsrecht in der EU, Rn. 578–582 (bezogen auf alle EU-Mitgliedstaaten). 790 Classen, Nationales Verfassungsrecht in der EU, Rn. 601 (bezogen auf alle EU-Mitgliedstaaten). 791 Classen, Nationales Verfassungsrecht in der EU, Rn. 590 (bezogen auf alle EU-Mitgliedstaaten); Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 9 Rn. 76, 84–102. Ausnahmen von dem Erfordernis des parlamentarischen Beschlusses für die Wirksamkeit des Gesetzes machen einige Verfassungen nur im Fall der Notstandsgesetzgebung. Hier kann ausnahmsweise und unter strengen Voraussetzungen die Exekutive Gesetze im Rang eines parlamentarischen Gesetzes beschließen, Classen, Nationales Verfassungsrecht in der EU, Rn. 521–522, 631 mit Beispielen. 792 Vgl. die Ausführungen oben ab S. 156. 793 EGMR Nr. 9103/04, Georgian Labour Party v Georgien (Zul.), 22.05.2007.

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP  

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beteiligt waren.794 Auf dieses unterschiedliche Kräfteverhältnis ging der EGMR nicht ein. Die zweite parlamentarische Kammer Bosnien und Herzegowinas, die Kammer der Völker, musste jedem Gesetz zustimmen795 und hatte daneben weitere Befugnisse im Haushaltsrecht sowie bei der Zustimmung zu völkerrechtlichen Verträgen.796 Die erste und die zweite Kammer waren kompetenziell gleichberechtigt ausgestattet.797 Da der EGMR neben dem Gesetzgebungsrecht weitere Kompetenzen einbezog, kann aus diesem Urteil nicht geschlossen werden, dass allein das Zustimmungsrecht eines Organs beim Gesetzgebungsverfahren dazu führt, dass es als gesetzgebende Körperschaft eingeordnet wird. Die Urteile Py v Frankeich und Matthews v Vereinigtes Königreich betrafen zwei Fälle, in denen sich ein Organ von einem konsultativen Organ zu einem mitentscheidenden Gesetzgebungsorgan entwickelte und mit diesen neuen Kompetenzen als gesetzgebende Körperschaft eingeordnet wurde.798 Die Tatsache, dass der EGMR diese Entwicklung jeweils betonte,799 deutet darauf hin, dass die neue Qualität der Mitwirkung am Gesetzgebungsprozess für den Gerichtshof relevant war. Allerdings erwähnte der EGMR auch in diesen Fällen weitere Kompetenzen des neu-kaledonischen Kongresses beziehungsweise des Europäischen Parlaments, sodass auch hier das Zustimmungsrecht alleine nicht entscheidend war, um die Organe als gesetzgebende Körperschaft zu qualifizieren. Nach diesem Rechtsprechungsüberblick kann festgehalten werden, dass der EGMR Organe mit Zustimmungsrecht bei der Gesetzgebung als gesetzgebende Körperschaft einordnete und solche ohne Zustimmungsrecht aus dem Anwendungsbereich des Art. 3 ZP ausschloss. Der EGMR zog jedoch stets weitere Kompetenzen hinzu und forderte niemals abstrakt, dass eine gesetzgebende Körperschaft unbedingt jedem Gesetz zustimmen können muss. Sowohl der weite Blick 794

EGMR Nr. 60983/00, Zhermal v Russland (Zul.), 28.02.2008. Der EGMR bezeichnet das Zustimmungsrecht der zweiten Kammer als eine Kompetenz, die Gesetzgebung zu kontrollieren (powers to control the passage of legislation), EGMR Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, § 41. In der Sache handelte es sich hier nicht um eine Kontrolle, sondern ein Zustimmungsrecht der Kammer, vgl. auch die Formulierung in der Verfassung, EGMR Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, § 12: Art. IV 3. (c): „All legislation shall require the approval of both chambers.“ Uneindeutig in dieser Sache Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 229. 796 EGMR Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, § 41. 797 EGMR Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, § 12; Bardutzky, EuConst 6 (2010), S. 309 (312–313). 798 EGMR Nr. 66289/01, Py v Frankreich, 11.01.2005, §§ 42–43; Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, §§ 50–51, 54. 799 Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  25 Rn.  54; Schokkenbroek, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, 4. Aufl., S. 911 (933); Bröhmer, ZEuS 1999, S. 197 (206), alle bezogen auf das Matthews-Urteil. 795

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

des EGMR auf die Rolle eines Organs im overall legislative process als auch das Urteil Matthews v Vereinigtes Königreich deuten darauf hin, dass ein fehlendes Zustimmungsrecht durch andere Kompetenzen oder Funktionen des Organs ausgeglichen werden kann. Das Europäische Parlament war – zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt des Matthews-Urteils noch stärker als seit dem Vertrag von Lissabon800 – nicht bei allen Gesetzgebungsvorhaben zustimmungsberechtigt. Auch wenn durch den Vertrag von Maastricht die Kompetenzen des Europäischen Parlamentes erweitert wurden, war das Zustimmungsverfahren nicht die Regel.801 In vielen Fällen war das Europäische Parlament neben dem Rat kein gleichberechtigtes Gesetzgebungsorgan.802 „As to the context in which the European Parliament operates, the Court is of the view that the European Parliament represents the principal form of democratic, political accountability in the Community system. The Court considers that whatever its limitations, the European Parliament, which derives democratic legitimation from the direct elections by universal suffrage, must be seen as that part of the European Community structure which best reflects concerns as to ‚effective political democracy‘.“803

Der EGMR verlangte im Fall Matthews nicht, dass das direkt gewählte Organ auch jedem Gesetzesvorhaben zustimmen muss. Das fehlende gleichberechtigte Zustimmungsrecht des Europäischen Parlaments wurde dadurch ausgeglichen, dass das Parlament das einzige gemeinschaftliche Verfassungsorgan war, welches eine direkte demokratische Legitimation vermittelte.804 Der EGMR legte die Einrichtungsgarantie also sehr großzügig aus. Ob man hieraus auch für staatliche Verfassungen verallgemeinern kann, dass die EMRK nicht verlangt, dass die einzige direkt gewählte gesetzgebende Körperschaft im Sinne des Art. 3 ZP innerhalb einer hoheitlichen Ebene eine nachrangige Rolle in der Gesetzgebung einnehmen darf, muss jedoch bezweifelt werden. Der EGMR erkannte die sui generis-Natur der EG als supranationale Gemeinschaft an.805 Die sich erst langsam entwickelnde Bedeutung des Europäischen Parlaments und der gleichzeitige große Einfluss des Ministerrates auf die Gesetzgebung waren in der supranationalen Natur der EG begründet. Hätten dem EGMR die Gesetzgebungskompetenzen des Europäischen Parlaments nicht genügt, um es als gesetzgebende Körperschaft zu qualifizieren, wären die Konsequenzen des 800

Nach der aktuellen Rechtslage ist gemäß Art. 289 Abs. 1, 294 AEUV die Zustimmung des Europäischen Parlaments im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren regelmäßig erforderlich. Es gibt aber gemäß Art. 289 Abs. 2 AEUV besondere Gesetzgebungsverfahren, bei welchen das Europäische Parlament lediglich anderweitig beteiligt ist. 801 EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 51 zu den Fällen, in denen das Europäische Parlament nicht zustimmen musste.  802 EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 51. 803 EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 52. 804 Bröhmer, ZEuS 1999, S. 197 (213). 805 EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 48; zur Deutung dieser Formulierung S. 166.

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP  

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Matthews-Urteils ein noch größerer Paukenschlag geworden als ohnehin schon. Hätte die Wahl zum Europäischen Parlament den Anforderungen aus Art. 3 ZP aus strukturellen Gründen des Europäischen Parlaments nicht genügt, dann hätten die EG-Mitgliedsstaaten dafür sorgen müssen, dass sich der gemeinschaftsrechtliche Einfluss auf die innerstaatlichen Rechtsordnungen verringerte. Diese europäische Desintegration kann der EGMR nicht gewollt haben. Alternativ hätte die gemeinschaftliche Verfassungsstruktur an die Vorgaben des EGMR angepasst und die Kompetenzen des Europäischen Parlaments auf eine Stufe mit denen des Rats gesetzt werden müssen – ein Zustand, der auch über 20 Jahre später immer noch nicht vollständig erreicht ist. Der EGMR erkannte also an, dass in einem supranationalen Staatenverbund die Rolle der nationalen Regierungen, welche im Ministerrat repräsentiert sind, im Vergleich zum direkt gewählten Parlament besonders stark ausgestaltet ist.806 In diesem Fall kann auf ein gleichberechtigtes Zustimmungsrecht verzichtet werden. (b) Initiativrecht, Vetorecht, Ausfertigung, Kontrollrechte Verfassungsorgane können auch anders als durch Abstimmung am Gesetzgebungsprozess beteiligt sein – durch ein Initiativ- oder ein Vetorecht, durch die formale Ausfertigung oder (mittelbar) durch Kontrollbefugnisse gegenüber den gesetzgebenden Organen, etwa der Möglichkeit, das Parlament aufzulösen. Die Herangehensweise des EGMR, die Rolle des Organs im gesamten Gesetzgebungsprozess betrachten zu wollen,807 lässt die Möglichkeit offen, dass neben dem Zustimmungsrecht andere Kompetenzen im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens für die Einordnung als gesetzgebende Körperschaft entscheidend sein können. Das Fehlen eines eigenen Initiativrechts des Europäischen Parlaments hatte keine Auswirkungen auf die Beurteilung des EGMR; das indirekte Initiativrecht aus Art. 138b EGV schien für den EGMR ein ausreichender Ausgleich zu sein.808 Bezogen auf die Staatsoberhäupter formulierte der EGMR mehrfach, dass eine Kompetenzausstattung mit einem Initiativ- und Zustimmungsrecht zur Gesetzgebung oder mit weitreichenden Kontrollbefugnissen gegenüber der Gesetzgebung oder dem gesetzgebenden Organ (wide powers to control the passage of legislation or the power to censure the principal legislation-setting authorities) ausreichend wäre, um eine gesetzgebende Körperschaft anzunehmen.809 Für die 806 Lenz, Ein einheitliches Verfahren für die Wahl zum Europäischen Parlament, S. 145 geht davon aus, dass es Art. 3 ZP besser entsprechen würde, wenn das Parlament gleichberechtigt sei, allerdings gesteht er der Gemeinschaft eine Übergangszeit zu. 807 Siehe die Nachweise in Fn. 786. 808 EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 51; hierzu auch Bröhmer, ZEuS 1999, S. 197 (209). 809 Siehe das Zitat zu Fn. 638. So auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 227, welche diese Befugnisse als Gesetzgebungsbefugnisse im weiteren Sinne versteht.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Staatsoberhäupter, die Gegenstand einer Entscheidung vor dem EGMR waren, lag keine ausreichende Kompetenzausstattung im gesamten Gesetzgebungsverfahren vor.810 Allerdings verfügten die Staatspräsidenten über kein Initiativrecht,811 kein absolutes, sondern nur ein derivatives Veto im Rahmen der Ausfertigung812 und konnten das Parlament nicht in eigenem Ermessen auflösen.813 Die Berechtigung, selbst verordnungsgebend tätig zu werden, und die Pflicht, die parlamentarischen Gesetze auszufertigen,814 waren nicht ausreichend. Es gibt in der EGMR-Rechtsprechung noch keinen Fall, in welchem ein Organ ohne Zustimmungsrecht im Gesetzgebungsverfahren als gesetzgebende Körperschaft eingeordnet wurde.815 Für einen solchen Fall müssten die sonstigen Kompetenzen des Organs im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens und der anschließenden Kontrolle sehr stark ausgeprägt sein.816 Möglicherweise würde ein absolutes Vetorecht eines Staatspräsidenten, mit dem er das Inkrafttreten des Gesetzes aus eigener Kraft verhindern könnte,817 oder das Recht, das Parlament in eigenem Ermessen jederzeit aufzulösen, ausreichen. Ein absolutes Vetorecht ist qualitativ von einem Zustimmungsrecht zu unterscheiden, weil es lediglich das Zustandekommen eines Gesetzes verhindert, nicht jedoch ermöglicht818 und keine Mitarbeit des Staatspräsidenten am genauen Wortlaut des Gesetzes möglich ist. Wäre ein absolutes Vetorecht ausreichend, dann müsste der türkische Staatspräsident inzwischen als gesetzgebende Körperschaft eingeordnet werden.819

810

So auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 229, 231. Siehe die Darstellung der Kompetenzen oben ab S. 156. 811 EGMR Nr. 38707/04, Krivobokov v Ukraine (Zul.), 19.02.2013. 812 EGMR Nr. 35584/02, Guliyev v Aserbaidschan (Zul.), 27.05.2004; Nr. 11676/04, Boškoski v Mazedonien (Zul.), 02.09.2004; Nr. 38707/04, Krivobokov v Ukraine (Zul.), 19.02.2013; Nr. 13105/15, 16707/15 und 34381/15, Çalışkan und Erdem v Türkei (Zul.), 01.12.2020, § 29; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 229. 813 So ausdrücklich EGMR Nr. 11676/04, Boškoski v Mazedonien (Zul.), 02.09.2004; Nr. 38707/04, Krivobokov v Ukraine (Zul.), 19.02.2013 (nur unter strengen Voraussetzungen); dies wird bei Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 231 eingeordnet als Kontrolle des Gesetzgebungsorgans.  814 EGMR Nr. 35584/02, Guliyev v Aserbaidschan (Zul.), 27.05.2004; Nr. 38707/04, Krivobokov v Ukraine (Zul.), 19.02.2013. In beiden Fällen standen die präsidialen Rechtsakte im Rang unter den parlamentarischen Gesetzen. 815 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 229. 816 So auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 230. 817 Zum absoluten Vetorecht Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 229. 818 Ress, ZEuS 1999, S. 219 (225). 819 EGMR Nr. 13105/15, 16707/15 und 34381/15, Çalışkan und Erdem v Türkei (Zul.), 01.12.2020, §§ 16, 27, 30 deutete an, dass die erweiterten Kompetenzen des Staatsoberhauptes seit 2017 eine neue Beurteilung des EGMR erforderlich machen.

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP  

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(2) Weitere typische parlamentarische Aufgaben Auch die sonstigen typischen Aufgaben eines Parlaments, insbesondere die Haushaltsbefugnisse, werden vom EGMR gelegentlich in seinen Erwägungsgründen herangezogen. Besonders ausführlich ging der EGMR in Matthews v Vereinigtes Königreich auf die sonstigen Kompetenzen des Europäischen Parlaments ein, das Ernennungs- und Kontrollbefugnisse gegenüber der Europäische Kommission hatte, dem Haushalt zustimmen und die Kommission für die Verwendung des Budgets entlasten musste.820 Auch in Py v Frankreich erwähnte der EGMR die Haushaltsbefugnisse des neu-kaledonischen Kongresses,821 in Sejdić und Finci die Haushaltsbefugnisse und das Zustimmungsrecht bei völkerrechtlichen Verträgen.822 In allen Fällen lag aber gleichzeitig das Recht der jeweiligen Körperschaften vor, den Gesetzesvorhaben zuzustimmen. Der EGMR nahm jeweils eine Gesamtbetrachtung der Kompetenzen vor. Gerade im Fall Matthews trugen die weiteren Kompetenzen dazu bei, das fehlende Zustimmungsrecht in allen Fällen auszugleichen. Die parlamentarischen Befugnisse abseits der Gesetzgebung waren bislang alleine nicht ausschlaggebend für die Einordnung eines Organs als gesetzgebende Körperschaft. (3) Kein kompetenzieller Kernbereich der Gesetzgebung Eine mit der deutschen Wesentlichkeitslehre vergleichbare Anforderung, wonach bestimmte Entscheidungen etwa über die Voraussetzungen von Grundrechtseingriffen vom Parlament getroffen werden müssen,823 entwickelte der EGMR bislang nicht.824 Der polnische Richter am EGMR Krzysztof Wojtyczek geht davon aus, dass der Begriff der legislature bereits die Trennung zwischen legislativer und exekutiver Gewalt voraussetzt und dass die Gesetzgebungsbefugnis der gewählten gesetzgebenden Körperschaft nur in einem begrenzten Umfang (only to a limited extent) auf nicht-gewählte Organe übertragen werden kann. Sekundäre Rechtsetzung habe die Aufgabe, die primäre Gesetzgebung auszuführen. Hiernach müsste die gesetzgebende Körperschaft grundlegende Regelungen zunächst selbst treffen und dürfte einer ihr nachgeordneten Rechtsetzungsgewalt lediglich deren Konkretisierung überlassen. Nach Wojtyczek hat der EGMR das enorme Potential des 820

EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 51. EGMR Nr. 66289/01, Py v Frankreich, 11.01.2005, § 40. 822 EGMR Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, § 41. 823 BVerfGE 49, 89 (126–127) m. w. N. zur Rechtsprechung des BVerfG. 824 Hiervon ist die Frage zu unterscheiden, ob der grundrechtliche Gesetzesvorbehalt eine Entscheidung der gesetzgebenden Körperschaft fordert, siehe hierzu ab S. 294.  Während sich die Gesetzesvorbehalte aus den materiellen EMRK-Rechten ergeben, knüpft die Frage des Kernbereichs allein an Art. 3 ZP an. 821

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Art. 3 ZP, Anforderungen an die Ausgestaltung des Gesetzgebungsprozesses und an das Verhältnis der an der Rechtsetzung beteiligten Organe zu formulieren, bislang kaum genutzt.825 Eine Kehrtwende der Rechtsprechung ist auch nicht zu erwarten. Bisher stellte der EGMR Verletzungen des Wahlrechts entweder fest, weil das Verfahren von Wahl- oder Wahlprüfungskommissionen nicht den Anforderungen des Art. 3 ZP entsprach oder weil einer Person oder Personengruppe das Wahlrecht pauschal entzogen wurde.826 Eine Verurteilung wegen mangelnder inhaltlicher Kompetenzen der gesetzgebenden Körperschaft wäre nur dann denkbar, wenn die nationale Verfassung der direkt gewählten gesetzgebenden Körperschaft so wenige Kompetenzen zuwiese, dass das Wahlrecht inhaltslos würde oder wenn die gesetzgebende Körperschaft ihre Rechtsetzungsbefugnisse umfassend und irreversibel auf ein anderes Organ delegiert hätte. In diesem Fall verlöre das Wahlrecht seine legitimierende Funktion innerhalb des demokratischen Systems. (4) Zwischenfazit Für die Einordnung eines Organs als gesetzgebende Körperschaft zieht der EGMR regelmäßig dessen verfassungsrechtlichen Kompetenzen heran. Eine gesetzgebende Körperschaft muss bestimmte Organkompetenzen aufweisen: Sie muss eine zentrale Rolle im Gesetzgebungsprozess spielen.827 Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn die nationale Verfassung einem Organ die gesetzgebende Funktion pauschal zuspricht oder wenn dem Organ ein Zustimmungsrecht im Gesetzgebungsverfahren zugewiesen ist.828 Dies ergibt sich aus dem – statistischen – Befund, dass alle als gesetzgebende Körperschaft anerkannten Organe ein Zustimmungsrecht in der Gesetzgebung haben und dass Organe ohne Zustimmungsrecht bislang nicht in den Anwendungsbereich des Art. 3 ZP fielen. Das Beispiel des Europä­ ischen Parlaments zeigte jedoch, dass andere Kompetenzen und Merkmale eines Organs den Umstand ausgleichen können, dass das Organ nicht in allen Gesetzgebungsvorhaben zustimmungsberechtigt ist. Die Rechtsprechung zu Staatsoberhäuptern lässt die Möglichkeit offen, dass auch Organe, welche auf andere Weise als durch Zustimmung den Gesetzgebungs 825

Wojtyczek, ERPL 32 (2020), S. 185 (197). Siehe hierzu oben ab S. 147. 827 Meyer-Ladewig / Nettesheim, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Art. 3 ZP Rn. 5. Vgl. auch Lenz, Ein einheitliches Verfahren für die Wahl zum Europäischen Parlament, S. 145: Art. 3 ZP würde sinnentleert, wenn Wahlen nur zu einem am Rande an der Gesetzgebung beteiligten Organ durchgeführt würden. 828 Natale, RTDH 68 (2006), S. 939 (947–948) geht davon aus, dass der Beschluss normativer Akte eine zwingende Voraussetzung der gesetzgebenden Körperschaft ist; ähnlich Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 223, die sogar davon ausgeht, dass die gesetzgebende Körperschaft nicht nur die Gesetze beschließen muss, sondern auch über ein Initiativrecht verfügen muss.  826

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP  

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prozess entscheidend gestalten können, als gesetzgebende Körperschaften qualifiziert werden. Genutzt hat der EGMR diese Möglichkeit aber noch nicht. Haushalts- und Kontrollbefugnisse wurden vom EGMR bislang lediglich ergänzend herangezogen. Es ist nicht ersichtlich, dass diese Kompetenzen isoliert für die Einordnung als gesetzgebende Körperschaft ausschlaggebend sind. Anhaltspunkte dafür, dass Art. 3 ZP einen sachlichen Kernbereich von Gesetzgebungskompetenzen der gesetzgebenden Körperschaft fordert, welche nur von ihr ausgeübt und auch nicht an ein anderes Organ delegiert werden dürfen, sind nicht ersichtlich. b) Unbeachtlich: Umfang der Verbundkompetenzen In seiner ersten Entscheidung zum Wahlrecht, Mathieu-Mohin v Belgien, stellte der EGMR am Rande auf die Reichweite der sachlichen Kompetenzen des Flämischen Rates ab.829 Dieses Vorgehen wiederholte der EGMR anschließend nur noch einmal.830 Alle anderen Entscheidungen ließen die Quantität der Verbundkompetenzen außer Acht. Vielmehr erkannte der Gerichtshof Parlamente auf verschiedenen hoheitlichen Ebenen an: föderale Landtage, regionale Körperschaften verschiedener Art, nationale Parlamente und das supranationale Europäische Parlament.831 Zwischen den verschiedenen hoheitlichen Ebenen sind die sachlichen Kompetenzen durch die jeweilige Verfassungsordnung aufgeteilt. Die Tatsache, dass der EGMR der Reichweite der Kompetenzen auf den einzelnen Ebenen keine Bedeutung (mehr) zumisst, lässt darauf schließen, dass er kein Mindestmaß an sachlichen Regelungsbefugnissen voraussetzt.832 Dieses Vorgehen überzeugt aus verschiedenen Gründen: Einerseits wäre eine solche Untergrenze in Anbetracht der vielen unterschiedlichen vertikalen Kompetenzverteilungssysteme in den Staaten des Europarates nicht seriös zu definieren. Andererseits berechtigen Verbundkompetenzen nicht die einzelnen Organe, sondern teilen die Zuständigkeiten organunabhängig zwischen zwei Ebenen auf. Ein weiteres Argument liefert die Auslegung des Wahlrechts im Lichte des konventionsrechtlichen Demokratieprinzips, das für jede hoheitliche Ebene verlangt, dass die Ausübung hoheitlicher Gewalt demokratisch legitimiert ist. Dieser Gedanke lag auch dem Matthews-Urteil zugrunde. Obwohl Teile des europäischen Rechts 829

EGMR Nr. 9267/81, Mathieu-Mohin und Clerfayt v Belgien, 02.03.1987 (Pl.), § 53 („competences and powers wide enough to make it […]  a constituent part of the Belgian ‚­legislature‘“). 830 EGMR Nr. 36681/97, Vito Sante Santoro v Italien, 01.07.2004, § 52. 831 Siehe schon die Zusammenfassung auf S. 179. 832 Vgl. Ress, ZEuS 1999, S. 219 (227): Die Aufteilung der Entscheidungsbefugnis zwischen zwei Ebenen ist kein Mangel.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

in Gibraltar anwendbar waren, durften die Bürger Gibraltars das Europäische Parlament nicht wählen.833 Damit lag eine Situation vor, in welcher die Bürger ihre gesetzgebende Gewalt nicht vollständig legitimierten. Eine Regelung, welche den Bürger Gibraltars komplett die Möglichkeit nahm, die Mitglieder des Europäischen Parlaments mitzubestimmen, stellte einen Verstoß gegen das aktive Wahlrecht aus Art. 3 ZP dar, weil gerade der Wesensgehalt des Wahlrechts verweigert wurde.834 In einem Mehrebenensystem können die Bürger die Ausübung von Hoheitsgewalt nur dann umfassend legitimieren, wenn Wahlen auf allen Ebenen durchgeführt werden. Die EMRK macht jedoch keine Vorgaben dazu, wie die Verbundkompetenzen zwischen den einzelnen Ebenen aufgeteilt werden müssen.835 3. Kompetenzgrundlage: Verfassungsrecht Die Organ- und die Verbundkompetenzen der gesetzgebenden Körperschaft müssen verfassungsrechtlich verankert sein.836 Der EGMR zog sowohl verfassungsrechtliche Zuordnungen der legislativen Funktion zu einem Organ837 als auch die Zuschreibung einzelner konkreter Kompetenzen heran,838 wobei letztere im Zweifelsfall größeres Gewicht hatten. Die Zulässigkeitsentscheidung Guliyev v Aserbaidschan illustrierte dies beispielhaft. Der EGMR erwähnte zwar, dass die Verfassung dem Parlament die legislative und dem Präsidenten die exekutive Gewalt zuschrieb. Erst die inhaltliche Einordnung der dem Präsidenten in der Verfassung zugestandenen Kompetenzen war aber entscheidend.839 Die Verbundkompetenzen der föderalen und regionalen Körperschaften müssen ebenfalls verfassungsrechtlich abgesichert sein. In den meisten Fällen griff der EGMR unmittelbar auf den jeweiligen Verfassungstext zurück.840 Die Einord 833

EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, §§ 7–14. EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, §§ 64–66. 835 So auch Kaiser, in: Mélanges Pierre Lambert, S. 435 (443). Anders mit Blick auf die Kompetenzen des Europäischen Parlaments Bröhmer, ZEuS 1999, S. 197 (210–211). 836 Schokkenbroek, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, 4. Aufl., S. 911 (930–931); Golubok, NQHR 2009, S. 361 (369). 837 EGMR Nr. 56618/00, Federación Nacionalista Canaria v Spanien (Zul.), 07.06.2001; Nr. 60983/00, Zhermal v Russland (Zul.), 28.02.2008; Nr. 75947/11, Davydov u. a. v Russland, 30.05.2017, §§ 278–279. 838 EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 51; Nr. 9103/04, Georgian Labour Party v Georgien (Zul.), 22.05.2007; Nr. 38707/04, Krivo­ bokov v Ukraine (Zul.), 19.02.2013. 839 EGMR Nr. 35584/02, Guliyev v Aserbaidschan (Zul.), 27.05.2004. 840 Siehe etwa den Rekurs auf Verfassungsrecht EGMR Nr. 51501/99, Cherepkov v Russland (Zul.), 20.01.2000; Nr. 75947/11, Davydov u. a. v Russland, 30.05.2017, § 279. In EGMR Nr. 56618/00, Federación Nacionalista Canaria v Spanien (Zul.), 07.06.2001 fielen alle Verantwortlichkeiten, die nicht ausdrücklich dem Gesamtstaat zugeschrieben waren, den Autonomen Gemeinschaften zu; Nr. 42081/10, Repetto Visentini v Italien (Zul.), 09.03.2021, § 22. 834

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP  

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nung des Europäischen Parlaments als gesetzgebende Körperschaft erfolgte auf Grundlage der im Vertrag von Maastricht niedergelegten Kompetenzen.841 Auch die EG-Verträge waren eine Verfassung im formellen und im materiellen Sinne.842 Obwohl die Konventionsstaaten ursprünglich allein nationale Organe als gesetzgebende Körperschaft im Blick hatten,843 erlaubte es die dynamische Auslegung der EMRK, neue, ursprünglich unvorhergesehene Fallgestaltungen unter die Normen zu subsumieren.844 Die Rechtsprechungslinie in Mathieu-Mohin v Belgien, in welcher der EGMR noch nicht eindeutig auf die verfassungsrechtliche Grundlage abstellte,845 hat sich nicht durchgesetzt. Py v Frankreich stellte einen Sonderfall dar. Die Kompetenzen des neu-kaledonischen Kongresses ergaben sich nicht aus der Verfassung, sondern aus einem verfassungsausführenden Gesetz, im Rang zwischen der Verfassung und dem einfachen parlamentarischen Gesetz.846 Art. 77 der französischen Verfassung erklärte Kompetenzübertragungen mittels verfassungsausführender Gesetze aber für endgültig,847 sodass die Kompetenzübertragung verfassungsrechtlich abgesichert war. Rechtsetzungskompetenzen, die einem Organ durch ein parlamentarisches Gesetz übertragen wurden, sind keine primäre Gesetzgebung im Sinne des Art. 3 ZP. Dies ergibt sich nicht nur aus dem Umkehrschluss der bisherigen Überlegungen, sondern auch aus der Rechtsprechung des EGMR zu kommunalen Körperschaften.848 Der EGMR unterschied die verfassungsimmanente primäre Gesetzgebungsgewalt (inherent primary rulemaking power) von der Rechtsetzungsgewalt.849 Die Gesetzgebungsgewalt qualifiziert sich gegenüber der allgemeinen Rechtsetzungskompetenz dadurch, dass sie sich aus der Verfassung ergibt. Die gesetzgebende Körperschaft kann Rechtsetzungskompetenzen an andere Organe delegieren, wie die Beispiele der kommunalen Versammlungen zeigen. In diesen Fällen waren Bestand und Ausgestaltung der kommunalen Rechtsetzungskompetenzen vom Willen des parlamentarischen Gesetzgebers abhängig und dessen Gesetzen untergeord-

841

EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 51. Sydow / Wittreck, Deutsches und Europäisches Verfassungsrecht, Kap. 1 Rn. 80–97 zu den aktuellen europäischen Verträgen; Pernice, VVDStRL 60 (2001), S. 148 (163–165). 843 Lenz, Ein einheitliches Verfahren für die Wahl zum Europäischen Parlament, S. 144; Wildhaber, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 3 ZP Rn. 70 (1986). 844 EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 39; ­Bröhmer, ZEuS 1999, S. 197 (214). 845 Siehe dazu S. 168. 846 Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 9 Rn. 28. 847 Siehe dazu das Zitat in dem Abschnitt des relevanten nationalen Rechts in der französischen Fassung des Urteils EGMR Nr. 66289/01, Py v Frankreich, 11.01.2005. 848 Siehe dazu oben ab S. 172. 849 EGMR Nr. 56550/00, Mółka v Polen (Zul.), 11.04.2006 sowie bereits EKMR Nr. 11391/85, Booth-Clibborn v Vereinigtes Königreich (Pl.) (Zul.), 05.07.1985, DR 43, S. 236 (248). Mit diesem Ergebnis auch Rainey / McCormick / O vey, Jacobs, White, and Ovey, S. 612–613; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 224. 842

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

net. Delegierte Rechtsakte müssen sich also nicht nur an der Verfassung, sondern auch an dem delegierenden Gesetzgebungsakt messen lassen. Delegierte Rechtsetzungsbefugnisse sind also von den Gesetzgebungsbefugnissen der gesetzgebenden Körperschaft abzugrenzen.850 In Mółka v Polen charakterisierte der EGMR die lokalen Körperschaften mit delegierter Rechtsetzungsbefugnis als Verwaltungsorgane.851 Mit der Qualifizierung der gesetzgebenden Gewalt als inherent primary rulemaking power erfolgte eine Abgrenzung zur Exekutive, welche zwar Rechtsetzungsbefugnisse haben kann, jedoch von Gesetzgebungskompetenzen ausgeschlossen ist.852 Die gesetzgebende Körperschaft ist das Organ innerhalb der Staatorganisation, welches grundsätzlich für den Erlass der der Verfassung unmittelbar nachrangigen abstrakt-generellen Rechtsnormen zuständig ist. Schließlich reicht eine verfassungsrechtliche Kompetenzgrundlage für Rechtsetzungsbefugnisse allein nicht aus, um ein Organ als gesetzgebende Körperschaft einzuordnen. Einige der Staatsoberhäupter in den vom EGMR untersuchten Fällen hatten verfassungsrechtlich verankerte Verordnungskompetenzen. Die Rechtsakte der Staatsoberhäupter wurden aber nicht nur an der Verfassung, sondern auch am Maßstab der geltenden Gesetze gemessen.853 Somit standen die Rechtsakte der Staatsoberhäupter in einem Unterordnungsverhältnis zu den Rechtsakten der gesetzgebenden Körperschaft. Deswegen wurden die Staatspräsidenten trotz ihrer Verordnungsbefugnis nicht als gesetzgebende Körperschaft eingeordnet.854 4. Das Besetzungsverfahren: Die Wahl Die bisherige Analyse ergab, dass eine gesetzgebende Körperschaft ein Organ ist, das im Zentrum des Gesetzgebungsprozesses steht und dessen Organ- und Verbundkompetenzen verfassungsrechtlich abgesichert sind. Erfüllt ein Organ alle 850

Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 224; Schokkenbroek, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, 4. Aufl., S. 911 (931). Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 25 Rn. 45 sieht das Vorliegen einer nur abgeleiteten Rechtsetzungskompetenz und die gesetzliche Abschaffbarkeit eines Gremiums lediglich als Indiz. 851 EGMR Nr. 56550/00, Mółka v Polen (Zul.), 11.04.2006: „The municipal councils, district councils and regional assemblies are the repositories of powers of an administrative nature concerning the organisation and provision of local services.  These powers are granted by statute or other subordinate legislation which defines closely and restrictively their field of application. Consequently, the municipal councils, district councils and regional assemblies do not exercise legislative power within the meaning of the Constitution of the Republic of Poland.“ Ähnlich auch bereits EKMR Nr. 11391/85, Booth-Clibborn v Vereinigtes Königreich (Pl.) (Zul.), 05.07.1985, DR 43, S. 236 (248). 852 Vgl. auch Wojtyczek, ERPL 32 (2020), S. 185 (197). 853 EGMR Nr. 35584/02, Guliyev v Aserbaidschan (Zul.), 27.05.2004; Nr. 38707/04, Krivobokov v Ukraine (Zul.), 19.02.2013. 854 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 226.

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP  

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diese Voraussetzungen, ist der Anwendungsbereich des Wahlrechts aus Art. 3 ZP eröffnet, sodass sich ein Wähler oder ein Kandidat auf das Wahlrecht berufen kann. Aus der organisatorischen Perspektive der Gewaltenteilung regelt das Wahlsystem das Besetzungsverfahren. Es ist also zu klären, welche Anforderungen die EMRK an das Besetzungsverfahren der gesetzgebenden Körperschaften stellt und ob, falls es mehrere gesetzgebende Körperschaften gibt, beide nach den gleichen Voraussetzungen gewählt werden müssen.855 Die Wahlrechtsgrundsätze der allgemeinen, freien, gleichen und geheimen Wahl schützen vor allem die unverfälschte Meinungsfreiheit des Volkes und haben daher kaum institutionelle Implikationen. Für die Ausgestaltung des Besetzungsverfahrens und die Beziehung zwischen einzelnen Organen ist besonders der Grundsatz der unmittelbaren Wahl relevant, der im Wortlaut des Art. 3 ZP nicht enthalten ist. Ist eine Wahl unmittelbar, steht zwischen der Wählerentscheidung und dem Wahlergebnis keine weitere gestaltende Entscheidung durch Wahlleute.856 Wird die Besetzung eines Organs durch ein seinerseits direkt gewähltes Organ bestimmt, ist es nur mittelbar vom Volk gewählt.857 Weite Teile des Schrifttums gehen nicht darauf ein, ob Art. 3 ZP die Unmittelbarkeit der Wahl schützt.858 Während Peters und Altwicker davon ausgehen, dass die EMRK den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl nicht vorsieht,859 lässt Richter diese Frage offen.860 Häufig wird vertreten, dass die Art und Weise der Besetzung der zweiten Kammer unerheblich ist, solange die erste Kammer direkt gewählt ist und nicht weniger Kompetenzen hat als die zweite Kammer.861

855

Vgl. auch Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  25, die darauf hinweist, dass die Unmittelbarkeit der Wahl kein Merkmal der gesetzgebenden Körperschaft ist. 856 Zur Definition der Unmittelbarkeit der Wahl: Butzer, in: Epping / Hillgruber, Beck’scher OK GG, Art. 38 Rn. 66 (2021) m. w. N. zur deutschen Rechtsprechung. Siehe auch Meyer, Wahlgrundsätze, Wahlverfahren, Wahlprüfung, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 3, § 46 Rn. 17; Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 7 Rn. 34 bezeichnet die unmittelbare Wahl als Verbot eines „zweistufigen Wahlverfahrens“, welches „die Einschaltung von Wahlmännern ausschließt“. 857 So die Definition in EGMR Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, § 41. 858 So gehen folgende Kommentierungen nur auf die anderen vier Wahlrechtsgrundsätze ein: Grabenwarter, ECHR, Art. 3 ZP Rn. 5; Arndt, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 3 ZP Rn. 9–44; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 23 Rn. 113; Meyer-Ladewig / Nettesheim, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 3 ZP Rn. 4 stellen nur fest, dass es keinen Unmittelbarkeitsgrundsatz gibt. 859 Peters / Altwicker, EMRK, § 17 Rn. 4. 860 Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  25 Rn.  46. 861 Meyer-Ladewig / Nettesheim, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  3 ZP Rn. 5.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

a) Unmittelbare Wahl der monokameralen Parlamente und der ersten Kammern Die direkt gewählten Parlamente beziehungsweise ersten Kammern der Konventionsstaaten beziehungsweise die direkt gewählten ersten Kammern, die im Zentrum des Gesetzgebungsprozesses stehen, sind stets gesetzgebende Körperschaften.862 Dies gilt ebenso für föderale und regionale direkt gewählte Parlamente863 sowie das Europäische Parlament. Die Einrichtungsgarantie des Art. 3 ZP verpflichtet die Konventionsstaaten dazu, diese parlamentarische Struktur beizubehalten. Das unmittelbar gewählte Parlament beziehungsweise die unmittelbar gewählte erste Kammer repräsentiert die verschiedenen Meinungsströme und trägt dem im Demokratieprinzip angelegten Ziel des Pluralismus Rechnung.864 Daher ist die Durchführung einer direkten Wahl zum Parlament beziehungsweise dessen erster Kammer verpflichtend. Wie genau sich das Wahlergebnis auf die Besetzung der gesetzgebenden Körperschaft auswirkt, ist von der Ausgestaltung des Wahlsystems abhängig. Das Wahlsystem muss die in Art. 3 ZP angelegten Wahlrechtsgrundsätze beachten. Darüber hinaus steht den Staaten aber ein großer Gestaltungsspielraum zu.865 b) Abweichende Maßstäbe für die Besetzung der zweiten Kammer Im Vergleich der zweiten Kammern unterscheiden sich die Kompetenzen und die Besetzungsmodi deutlich stärker als bei den ersten Kammern.866 In der Regel findet keine direkte Wahl durch die Bevölkerung statt.867 Häufig repräsentiert die zweite Kammer territoriale Untereinheiten des Staates.868 Die Analyse wird dadurch erschwert, dass EKMR und EGMR bislang nur wenige Gelegenheiten hatte, sich zur Einordnung von zweiten Kammern als gesetzgebende Körperschaft zu äußern. 

862

So bereits oben S. 150. Siehe zu dieser Fallgruppe oben ab S. 167. 864 Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  25 Rn.  56; Bröhmer, ZEuS 1999, S. 197 (205): Organ der demokratischen und politischen Verantwortung. 865 Hierzu ab S. 144. 866 Siehe für einen Überblick der verschiedenen Besetzungsverfahren Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 7 Rn. 34; Classen, Nationales Verfassungsrecht in der EU, Rn. 362–370; bezogen auf die neun bikameralen Staaten der damaligen EG Groß, ZaöRV 63 (2003), S. 29 (36–39); Schüttemeyer / Sturm, ZParl 1992, S. 517 (518). 867 Grewe / Ruiz Fabri, Droits constitutionnels européens, Rn. 358–359; vgl. auch Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 7 Rn. 34. 868 Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 9 Rn. 156. 863

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP  

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(1) Veränderte Maßstäbe im Falle einer direkten Wahl Die einzige Entscheidung von Konventionsorganen, die eine direkte Wahl einer zweiten Kammer betraf, war W, X, Y und Z v Belgien aus dem Jahr 1976.869 Die EKMR bezog in ihre Abwägung die Wahl zu beiden Kammern ein, deren Kompetenzen sie als gleichberechtigt ansah. Vor diesem Hintergrund war es nicht willkürlich, die Besetzung der zweiten Kammer auch von der politischen Erfahrung abhängig zu machen.870 Solange die Wahl zur ersten Kammer den Anforderungen des Art. 3 ZP genügte, legte die EKMR beim Besetzungsverfahren der zweiten Kammer großzügigere Maßstäbe an. (2) Keine Pflicht zur Wahl einer zweiten Kammer Im Schrifttum wird teils vertreten, dass Art. 3 ZP grundsätzlich nur die Wahl zur ersten Kammer schütze und dass diese Kammer das Hauptrechtsetzungsorgan sein müsse und nicht nur eine nebengeordnete Rolle im Gesetzgebungsprozess spielen dürfe.871 Andere Stimmen schließen unter bestimmten Voraussetzungen die Anwendbarkeit von Art. 3 ZP auf gewählte zweite Kammern nicht aus.872 Sofern der zweiten Kammer ausreichend weitreichende und verfassungsrechtlich verankerte Gesetzgebungskompetenzen zustehen, kann sie eine gesetzgebende Körperschaft darstellen, das zeigen die Urteile Sejdić und Finci v Bosnien und Zhermal v Russland. Im Fall Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina wurde die zweite Kammer indirekt von den gesetzgebenden Körperschaften der Entitäten gewählt,873 in Zhermal v Russland waren die direkt gewählten Gouverneure der einzelnen Gebiete ex officio Mitglied des Föderationsrates.874 In beiden Fällen musste der EGMR nicht darüber entscheiden, ob die zweite Kammer direkt gewählt hätte werden müssen.875 869

Siehe zu dieser Entscheidung oben S. 151–152. EKMR Nr. 6745/74 und 6746/74, W, X, Y und Z v Belgien (Zul.), 30.05.1975, DR 2, S. 114 (117). 871 Lenz, Ein einheitliches Verfahren für die Wahl zum Europäischen Parlament, S. 145–146; (allerdings vor dem Mathieu-Mohin-Urteil) Wildhaber, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 3 ZP Rn. 61 (1986). 872 Goy, Revue du Droit Public 1986, S. 1275 (1292–1293): Das Wahlrecht sei auch auf zweite Kammern anwendbar, hier wirke es sich jedoch je nach Staatsstruktur flexibler aus. Natale, RTDH 68 (2006), S. 939 (946) nennt als Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Art. 3 ZP, dass die zweite Kammer gewählt wird und ausreichende gesetzgeberische Kompetenzen hat. Ebenso bereits Antonopoulos, La jurisprudence des organes de la CEDH, S. 210. 873 EGMR Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, § 41. 874 EGMR Nr. 60983/00, Zhermal v Russland (Zul.), 28.02.2008. 875 In EGMR Nr. 60983/00, Zhermal v Russland (Zul.), 28.02.2008 machte der Beschwerdeführer einen Verstoß gegen das nationale Wahlrecht geltend, weil der gesetzlich vorgeschrie 870

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Der EGMR bestätigte bereits im Urteil Mathieu-Mohin v Belgien mit Verweis auf die Travaux Préparatoires, dass die Wahlrechtsgrundsätze aus Art. 3 ZP vor allem auf die erste parlamentarische Kammer anwendbar sind: „Article 3 […] applies only to the election of the ‚legislature‘, or at least of one of its chambers if it has two or more […].“876

In Sejdić und Finci konkretisierte der EGMR: „Furthermore, the travaux préparatoires demonstrate […] that the Contracting Parties took into account the particular position of certain parliaments which included non-elective chambers. Thus, Article 3 of Protocol No. 1 was carefully drafted so as to avoid terms which could be interpreted as an absolute obligation to hold elections for both chambers in each and every bicameral system […]. At the same time, however, it is clear that Article 3 of Protocol No. 1 applies to any of a parliament’s chambers to be filled through direct elections.“877

Typischerweise sind die Gesetzgebungskompetenzen der zweiten Kammern nicht gleichberechtigt mit denen der ersten Kammer.878 Aus der Perspektive des Demokratieprinzips ist es daher hinnehmbar, wenn die zweite Kammer nicht direkt gewählt wird. Anders war dies im Fall Bosnien und Herzegowinas.879 Die besondere Konstellation in Bosnien und Herzegowina entstand durch den Dayton-­ Vertrag 1995. Die Travaux Préparatoires können nicht ausschließen, dass der EGMR Art. 3 ZP so auslegt, dass eine direkte Wahl der zweiten Kammer erforderlich ist: Die dynamische Auslegung der EMRK erlaubt es, von den in den Travaux Préparatoires formulierten Vorstellungen abzuweichen, insbesondere wenn eine zum Entstehungszeitpunkt noch nicht bekannte Situation vorliegt.880 Der EGMR prüfte im Urteil Sejdić und Finci und den Folgeurteilen allerdings keinen Verstoß gegen das Wahlrecht gemäß Art. 3 ZP, sondern gegen das akzessorische Diskri-

bene zweite Wahlgang nicht durchgeführt wurde, nachdem kein Kandidat im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der Stimmen erreichen konnte; in EGMR Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009 wurde ein Verstoß gegen das akzessorische Diskriminierungsverbot geltend gemacht. 876 EGMR Nr. 9267/81, Mathieu-Mohin und Clerfayt v Belgien (Pl.), 02.03.1987, § 53; ebenso EGMR Nr. 52226/99, Salleras Llinares v Spanien (Zul.), 12.10.2000; Nr. 53180/99, Gorizdra v Moldawien (Zul.), 02.07.2002; Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, § 40; Nr. 48108/07, Beșleagă v Moldawien und Russland, 02.07.2019, § 68. 877 EGMR Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, § 40. 878 Vgl. Groß, ZaöRV 63 (2003), S. 29 (45–46) für die neun bikameralen Staaten der damaligen EG. 879 Hodžić / Stojanović, New / old Constitutional Engineering?, S. 112. Siehe für den Normtext EGMR Nr. 27996/06 und 34836/06, Sejdić und Finci v Bosnien und Herzegowina (GK), 22.12.2009, § 12. 880 EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 39; Cremer, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  4 Rn.  42; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 5 Rn. 15; Gerards, General Principles of the ECHR, S. 52; Grewe, ZaöRV 61 (2001), S. 459 (466–467).

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP  

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minierungsverbot gemäß Art. 14 EMRK. Ob Art. 3 ZP bei dieser Kompetenzverteilung eine unmittelbare Wahl fordert, stand somit nicht in Frage.881 Nach dem gegenwärtigen Stand müssten zweite Kammern nicht direkt gewählt werden.882 In einem Sondervotum zur Sache Zornić v Bosnien und Herzegowina, welche die gleiche Sachverhaltsgestaltung betraf wie Sejdić und Finci, schlug Richter ­Wojtyczek vor, die Kompetenzausstattung der Kammer und die (Un-)Mittelbarkeit der Wahl in ein sich bedingendes Verhältnis zu setzen: „Article 3 of Protocol No. 1 raises the very delicate issue of the adequacy between the scope of the second chamber’s powers and the method of selecting its members. […] If the second chamber has only limited powers, and if its opposition may be overcome by the first chamber, then the freedom to shape the method of selecting its members is extremely wide. If, however, the second chamber enjoys legislative powers equal to those of the first, then the scope of constitutional autonomy left to the States in shaping the method of selecting the members of the second chamber is much more restricted. […] In my opinion, Article 3 of Protocol No. 1 sets up a more general and a more flexible test as the basis for assessing the method of selecting members of the second chamber. The provision in question requires that the constitutional system as a whole complies with the following standard. Free and direct elections to the first chamber, coupled with the adopted system of choosing the members of the second chamber, should ensure the free expression of the opinion of the people in the choice of the legislature. As mentioned above, this general assessment has to take account, among other things, of the scope of the powers enjoyed by each chamber of the national parliament. The constitutional architecture should enable citizens to determine the political orientation of the legislative power, considered as a whole.“883

Dieser Vorschlag überzeugt und entspricht der EKMR-Entscheidung W, X, Y und Z v Belgien, welche an die Wahl zur zweiten Kammer geringere Maßstäbe als an die Wahl zur ersten Kammer anlegte. Eine zweite Kammer muss hiernach nicht zwingend und schon gar nicht direkt gewählt werden. Sollten aber die Kräfteverhältnisse zwischen der ersten und der zweiten Kammer untypisch zu Gunsten der zweiten Kammer verschoben sein, spricht dies für eine stärkere, also unmittelbare Beteiligung des Volkes bei dessen Besetzung.

881

So auch Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  25 Rn. 46, die jedoch darauf hinweist, dass die Unmittelbarkeit der Wahl nicht ausschlaggebend dafür ist, ob ein Organ als gesetzgebende Körperschaft eingeordnet werden kann. 882 Unter der Prämisse, dass die zweite Kammer weniger Kompetenzen hat als die erste Kammer auch Meyer-Ladewig / Nettesheim, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 3 ZP Rn. 5; wohl auch Arndt, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 3 ZP Rn. 4. 883 Abweichendes Sondervotum von Richter Wojtyczek zu EGMR Nr. 3681/06, Zornić v Bosnien und Herzegowina, 15.07.2014, § 6.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

c) Zwischenfazit und Übertragung auf weitere Fälle Die (unmittelbare)  Wahl ist kein konstitutives Merkmal der gesetzgebenden Körperschaft. Auch nicht direkt gewählte Organe können eine gesetzgebende Körperschaft sein.884 Innerhalb einer hoheitlichen Ebene im europäischen und innerstaatlichen Mehrebenen-System muss aber immer mindestens ein maßgeblich an der Gesetzgebung beteiligtes Organ direkt gewählt werden. Die unmittelbare Wahl ist somit ein ungeschriebener, in Art. 3 ZP hineingelesener Wahlrechtsgrundsatz. Dieses direkt gewählte Organ muss das Hauptrechtsetzungsorgan sein und darf nicht weniger Kompetenzen haben als andere Organe. Die direkt gewählten gesetzgebenden Körperschaften sind die Parlamente auf verschiedenen hoheitlichen Ebenen. Grundsätzlich reicht es aus, wenn ein Organ direkt gewählt wird, sofern dieses maßgeblich an der Gesetzgebung beteiligt ist. Wird ein Organ konventionskonform nach Art. 3 ZP gewählt, stellt die EMRK geringere Anforderungen an die Besetzungsverfahren weiterer Gesetzgebungsorgane.885 Ob eine zweite Kammer ausnahmsweise ebenfalls gewählt werden muss und ob es sich hierbei um eine direkte Wahl handeln muss, hängt von ihrer Rolle im Gesetzgebungsverfahren und ihrem Verhältnis zur ersten Kammer ab. Je stärker das Gewicht der zweiten Kammer im Gesetzgebungsverfahren ausgestaltet ist, desto eher könnte die EMRK eine Wahl verlangen. Dies gilt insbesondere für solche Fälle, in denen die zweite Kammer qualitativ stärker am Gesetzgebungsverfahren beteiligt ist, entweder weil sie die erste Kammer überstimmen kann oder weil die erste Kammer an einigen Entscheidungen gar nicht beteiligt ist. Um zu entscheiden, ob die Anforderungen des Wahlrechts eingehalten wurden, müssen das gesamte Gesetzgebungssystem und die Besetzungsverfahren aller entscheidend an der Gesetzgebung beteiligten Organe sowie die Besonderheiten des jeweiligen Verfassungssystems einbezogen werden. Genaue Kriterien sind den wenigen in dieser Sache aussagekräftigen Urteilen nicht zu entnehmen. Sollte ein Staatsoberhaupt verfassungsrechtlich mit so weitreichenden Gesetzgebungskompetenzen ausgestattet sein, dass es als gesetzgebende Körperschaft eingeordnet werden könnte, wären die zur zweiten Kammer entwickelten Grundsätze auch auf das Staatsoberhaupt übertragbar. In die Gesamtbetrachtung des Wahlsystems müssten in diesem Fall nicht nur die Wahl des Parlaments und eine mögliche Wahl des Staatsoberhauptes, sondern auch dessen institutionelle Struktur einbezogen werden: Ein nicht-kollegiales Organ ist unabhängig von seinem Besetzungsverfahren per se weniger geeignet, einen pluralistischen Meinungsbildungsprozess zu gewährleisten, sodass die Anforderungen an das Besetzungsverfahren in diesem Fall strenger ausgestaltet sein könnten als bei Wahlen zu zweiten Kammern.  884

Ähnlich auch Natale, RTDH 68 (2006), S. 939 (946), die den Anwendungsbereich für das Wahlrecht auch auf zweite Kammern ausdehnt, sofern diese gewählt werden und genügend Gesetzgebungsbefugnisse haben. 885 So auch Goy, Revue du Droit Public 1986, S. 1275 (1293).

A. Die gesetzgebende Körperschaft (legislature) gemäß Art. 3 ZP  

205

In Anbetracht des Kräfteverhältnisses zwischen Europäischem Parlament und Ministerrat stellt sich auch die Frage, ob das Besetzungsverfahren886 des Rates den Anforderungen des Art. 3 ZP entspricht.887 Aufgrund seines verfassungsrechtlich abgesicherten Zustimmungsrechts im Gesetzgebungsverfahren besteht kein Zweifel daran, dass der Ministerrat der Europäischen Union eine gesetzgebende Körperschaft im Sinne des Art. 3 ZP ist. Der Ministerrat verfügt trotz der Fortentwicklungen des Lissabon-Vertrags im Rahmen der besonderen Gesetzgebungsverfahren immer noch über weitergehende Kompetenzen als das Europä­ ische Parlament.888 Im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren müssen sich beide Organe auf einen Entwurf einigen, hier sind sie also gleichberechtigt, vgl. Art. 289 Abs. 1 S. 1 AEUV. In den besonderen Gesetzgebungsverfahren hingegen hat das direkt gewählte Parlament nicht immer ein Zustimmungsrecht.889 Um zu entscheiden, ob der Ministerrat direkt gewählt werden müsste, müsste der EGMR neben den Gesetzgebungsbefugnissen des Rates beachten, dass jedenfalls das Europä­ ische Parlament direkt gewählt wird,890 und dass die EU ein supranationaler Verbund ist, in welchem neben der demokratischen Legitimation auch die Vertretung der Mitgliedstaaten eine große Rolle spielt. Dieses letzte Abwägungskriterium unterscheidet die Gesamtbetrachtung von der der Wahl der zweiten Kammern. Da der EGMR im Matthews-Urteil deutlich gemacht hat, dass er auf die sui generisNatur der EU Rücksicht nimmt, ist nicht davon auszugehen, dass der EGMR das Besetzungsverfahren des Rates für konventionswidrig hält. 5. Zwischenfazit Der Rechtsprechung zu Art. 3 ZP sind drei Merkmale einer gesetzgebende Körperschaft zu entnehmen: Es muss sich erstens um ein Organ handeln, das zweitens entscheidende Kompetenzen im Gesetzgebungsverfahren hat, die drittens verfassungsrechtlich verankert sind. Das Wahlrecht fordert, dass jedenfalls 886

Der Ministerrat besteht gem. Art. 16 Abs. 2 EUV aus einem vertretungsbefugten Mitglied im Ministerrang pro Mitgliedstaat. Die Entsendung der Minister bestimmt sich nach nationalem Recht, Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Art. 16 EUV Rn. 6–7; Ziegenhorn, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 16 EUV Rn. 31, 33 (2019); Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 3 Rn. 42. Die Minister werden nicht vom Volk gewählt, die Regierung muss aber gem. Art. 10 Abs. 2 UAbs. 2 EUV dem nationalen Parlament gegenüber verantwortlich sein. 887 Diese Frage wird auch (ohne Antwort) aufgeworfen bei dem abweichenden Sondervotum von Richter Wojtyczek zu EGMR Nr. 47784/09 u. a., Firth u. a. v Vereinigtes Königreich, 12.08.2014, § 4; ebenso bei Lenz, Ein einheitliches Verfahren für die Wahl zum Europäischen Parlament, S. 145. 888 Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV / A EUV, Art. 16 EUV Rn. 3; vgl. auch Ziegenhorn, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 16 EUV Rn. 26 (2019); Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 3 Rn. 33, 35. 889 Schroeder, Grundkurs Europarecht, § 7 Rn. 30–31; Herdegen, Europarecht, § 8 Rn. 88. 890 EGMR Nr. 24833/94, Matthews v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 48.

206

Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

eine gesetzgebende Körperschaft pro hoheitliche Ebene direkt gewählt wird. Die Parlamente oder deren erste Kammer erfüllen diese Voraussetzungen in den Konventionsstaaten. Ein System, in dem ein exekutives Organ wesentliche Regelungen ohne Zustimmung des Parlamentes treffen kann, ist unzulässig.891 Darüber hinaus macht Art. 3 ZP keine handfesten Vorgaben für die Wahl einer möglichen zweiten gesetzgebenden Körperschaft und nimmt dadurch auf die unterschiedlichen Verfassungssysteme der Konventionsstaaten Rücksicht. Der EGMR etablierte eine autonome Auslegung des Begriffs der legislature.892 Auch wenn bislang alle als gesetzgebende Körperschaft anerkannten Organe Parlamente waren, dürfen diese beiden Begriffe nicht gleichgesetzt werden.893 Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch andere Verfassungsorgane die drei Merkmale erfüllen.

IV. Fazit Die EMRK verpflichtet die Staaten zu einer demokratischen Staatsform. Art. 3 ZP enthält grundlegende institutionelle Anforderungen an das demokratische Verfassungssystem. Art. 3 ZP schützt zwar nicht das Parlament und dessen hoheit­liche Tätigkeit, wohl aber das aktive Wahlrecht der Bürger, das passive Wahlrecht der Abgeordneten sowie im Falle einer Wahl das Recht, das Mandat auszuüben. Diese subjektiven Rechte setzen voraus, dass eine gesetzgebende Körperschaft gewählt wird. Die gesetzgebende Körperschaft eröffnet somit den Anwendungsbereich des Art. 3 ZP. Das Wahlrecht aus Art. 3 ZP ist der erste Baustein der von der EMRK vorgegebenen Gewaltenteilung. Sie verpflichtet die Staaten in jeder hoheitlichen Ebene zur Einrichtung eines direkt gewählten, am Gesetzgebungsprozess beteiligten Parlaments, dessen Kompetenzen verfassungsrechtlich abgesichert sind. Jedoch müssen die Konventionsstaaten nicht für alle anderen gesetzgebenden Körperschaften Wahlen durchzuführen. Sie müssen aber dafür sorgen, dass die gewählten Parlamente im Gesetzgebungsverfahren keine nachrangige Rolle spielen. Ob beziehungsweise unter welchen Voraussetzungen eine weitere gesetzgebende Körperschaft neben dem Parlament gewählt werden muss, entschied der EGMR im Wege einer Gesamtbetrachtung der verschiedenen Merkmale. Den Anforderungen des Art. 3 ZP wird jedenfalls genügt, wenn das gewählte Organ im Gesetzgebungsverfahren ein Zustimmungsrecht hat. Ob auch ein absolutes Vetorecht oder das Recht, das Parlament aufzulösen, ausreicht, ist bislang vom EGMR noch

891

Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  25 Rn.  43 (jeweils bezogen auf die Regierung). 892 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 221. 893 Harris u. a., Law of the ECHR, S. 915.

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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nicht entschieden; er hat diese Möglichkeit aber in seiner bisherigen Rechtsprechung angelegt. Auch wenn die EMRK in der Auslegung durch den EGMR Rücksicht auf nationale Besonderheiten nimmt, so identifiziert sie doch die Parlamente als primäre Rechtsetzungsorgane. Dabei ist unerheblich, welcher hoheitlichen Ebene die Parlamente angehören, sofern ihre Kompetenzen verfassungsrechtlich festgeschrieben sind und nicht durch einfaches Recht abbedungen werden können. Der EGMR verlangte kein Mindestmaß an sachlichen Regelungskompetenzen. Wie die Staaten Sachkompetenzen zwischen verschiedenen Ebenen aufteilen, bleibt ihnen somit freigestellt.

B. Die gesetzgebende Tätigkeit Die EMRK erwähnt nicht nur das legislative Organ, sondern auch die legislative Tätigkeit, die Gesetzgebung in Form von Gesetzesvorbehalten und Rechtmäßigkeitsanforderungen einzelner Konventionsrechte. Die EMRK verlangt für bestimmte Regelungen also eine gesetzliche Grundlage.894 Welches Organ ein solches Gesetz erlassen kann, ist abhängig davon, ob der Gesetzesbegriff im formellen Sinne oder materiellen Sinn verwendet wird.895 Ein Gesetz im formellen Sinne ist eine Rechtsnorm, die von einem Parlament in einem vorgeschriebenen Verfahren erlassen wurde, ein Gesetz im materiellen Sinne ist unabhängig vom Normgeber eine abstrakt-generelle Regelung.896 Die Bindung eines Organs an eine abstraktgenerelle Regelung verhindert willkürliches hoheitliches Handeln.897 Enthielte die EMRK also formelle Gesetzesvorbehalte, läge hierin eine Kompetenzzuweisung der Regelung zum Parlament898 und somit zu gesetzgebenden Körperschaften im Sinne des Art. 3 ZP. Im folgenden Abschnitt wird untersucht, wie der EGMR die Gesetzesbegriffe der EMRK auslegt. Hierbei steht im Fokus, ob die EMRK einen formellen oder materiellen Gesetzesbegriff zugrunde legt, also ob die gesetzgebende Tätigkeit dem Parlament zugewiesen wird. Die Analyse des Gesetzesbegriffs wird begrenzt durch die Natur der EMRK: Organisatorische Vorgaben, im konkreten Fall für die 894 So die Definition des Gesetzesvorbehalts bei Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes, S. 12. 895 Vgl. auch Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes, S. 13–17, der zwischen Parlaments- und Rechtssatzvorbehalt unterscheidet, allerdings Gesetzesvorbehalte anschließend auf formelle Gesetze begrenzt (S. 27). 896 Statt aller Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes, S. 26–27.  897 Zu dieser Funktion des Gesetzesvorbehalts Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes, S. 24; Marauhn / Merhof, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / G G, Kap.  7 Rn. 24. 898 Der Gesetzesvorbehalt als Kompetenzzuweisung auch bei Marauhn / Merhof, in: Dörr /  Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  7 Rn.  24.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Zuweisung der gesetzgebenden Tätigkeit an bestimmte Organe, kann die EMRK nur für grundrechtsrelevante Gesetze im Anwendungsbereich der einzelnen Konventionsrechte machen. Aus den grundrechtsausgestaltenden und -einschränkenden Gesetzesvorbehalten darf also kein Schluss auf die Gesamtheit aller nationalen Gesetze unabhängig von deren Regelungsgegenstand gezogen werden.

I. Weitgehend einheitliches Gesetzesverständnis Der Gesetzesbegriff taucht vielfach, in unterschiedlichen Formulierungen und Funktionen, in der EMRK auf. Untersucht werden solche Normen, deren Wortlaut ausdrücklich die Begriffe „Gesetz“ (law / loi) oder „rechtmäßig“ (lawful / régulier) enthält sowie der Sonderfall der implied limitations. Die Gesetzesvorbehalte betreffen teilweise die Einschränkung von Konventionsrechten, teilweise deren Ausgestaltung.899 Bevor die einzelnen Merkmale eines konventionsrechtlichen Gesetzesbegriffs untersucht werden, ist zunächst zu klären, ob beziehungsweise welche Konventionsrechte einen einheitlichen Gesetzesbegriff voraussetzen. Das Schrifttum geht weitläufig davon aus, dass die EMRK ein einheitliches Gesetzesverständnis im Rahmen der Schrankenregelungen kennt. Unterschiedlich ist indes die Reichweite dieser Aussage. Unstrittig ist – trotz des unterschiedlichen Wortlauts in der eng­ lischen Sprachfassung (Art. 8 Abs. 2 EMRK, Art. 2 Abs. 3, 4 ZP 4: in accordance with the law, aber Art. 9–11 Abs. 2 EMRK: prescribed by law; im Französischen einheitlich prévue(s) par la loi) –, dass den Vorbehalten der Absätze 2 der Art. 8–11 EMRK und des Art. 2 Abs. 3, 4 ZP 4 ein einheitliches Gesetzesverständnis zugrunde liegt.900 Über die genaue Reichweite des einheitlichen Gesetzesvorbehalts 899

Vgl. Müßig, Recht und Justizhoheit, S. 396; Hoffmann-Remy, Grundrechtseinschränkungen nach den Art. 8–11 Abs. 2 EMRK, S. 15; Matscher, Der Gesetzesbegriff der EMRK, in: Adamovich, FS Loebenstein, S. 105 (106) differenziert zwischen drei Kategorien: dem Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage (sowohl zum Zwecke der Einschränkung eines Konventionsrechts als auch zur inhaltlichen und organisatorischen Ausgestaltung), den Anforderungen an ein rechtmäßiges Verfahren und einem allgemeinen rechtsstaatlichen Erfordernis staat­lichen Handeln; Wyttenbach / Hofer, Swiss Review of International and European Law 27 (2017), S. 333 (335–340) differenzieren zwischen Gesetzesbegriffen im Kontext abwehrrechtlicher und positiver staatlicher Verpflichtungen. 900 Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 58–61; Hoffmann-Remy, Grundrechtseinschränkungen nach den Art. 8–11 Abs. 2 EMRK, S. 38; Marauhn / Merhof, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 7 Rn. 23; Frowein, in: Frowein / Peukert, EMRK, Vorb. zu Art. 8–11 Rn. 2; Lavrysen, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 307 (311); Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 175–177 mit ausführlicher Begründung; Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 147 Rn. 14; Kadelbach, Rechtsschutz durch den EGMR, in: Ehlers / Schoch, Rechtsschutz im öffentlichen Recht, § 5 Rn. 76. Gerards, General Principles of the ECHR, S. 198 geht davon aus, dass allen einschränkbaren Konventionsrechten die gleichen Rechtfertigungsvoraussetzungen zugrunde liegen und damit auch die gleichen Anforderungen an die Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns.

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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besteht jedoch Uneinigkeit.901 Gleichzeitig findet sich selten eine Darstellung des Gesetzesbegriffs, die sich auf andere Rechte als Art. 8–11 Abs. 2 EMRK bezieht, sodass bislang nicht nachgewiesen wurde, welche Erwähnungen des Gesetzesbegriffs vom einheitlichen Verständnis umfasst sind.902 Diese Lücke soll im folgenden Abschnitt geschlossen werden. Hierfür wird nur das Verständnis des Gesetzesbegriffs betrachtet, nicht die weiteren – materiellen – Rechtfertigungsvoraussetzungen, etwa der Eingriffszweck oder die Verhältnismäßigkeit.

901

Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 76: Art. 5 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 7, Art. 8–11 EMRK, Art. 1 ZP, Art. 2 Abs. 3 ZP 4, Art. 2 ZP 7; Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 531 (1992): Art. 2 Abs. 1, 2 lit. c), Art. 5 Abs. 1, 3, Art. 6 Abs. 1, Art. 8–11 Abs. 2 EMRK, Art. 1 Abs. 1, 2 ZP, Art. 2 Abs. 3, 4 ZP 4, Art. 2 ZP 6, Art. 2 Abs. 1, 2, Art. 3, Art. 4 Abs. 1, 2 ZP  7; Renzikowski, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 5 Abs. 82 (2016): Art. 5 Abs. 1 S. 2, Art. 8–11 Abs. 2 EMRK, Art. 1 ZP, Art. 2 ZP 4; Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 147 Rn. 10–13: Art. 2, Art. 5 Abs. 1 S. 2, Art. 8–11 Abs. 2, Art. 12 EMRK; Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 111: Art. 2 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 lit. b), c), Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a)–f), Abs. 3 S. 1, Art. 6 Abs. 1, 2, Art. 7 Abs. 1, Art. 8–11 Abs. 2, Art. 12 EMRK, Art. 1 Abs. 1 ZP, Art. 2 Abs. 3, 4 ZP 4, Art. 2 S. 1 HS 2 ZP 6, Art. 2 Abs. 1, 2, Art. 3 ZP 7, Art. 4 Abs. 2 ZP 7; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 18 Rn. 7 ohne Präzisierung, welche Konventionsrechte umfasst sind; Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 57–63: Art. 5 Abs. 1 S. 2, Art. 8–11 Abs. 2, Art. 12 EMRK, Art. 1 ZP, Art. 2 ZP 4; Müßig, Recht und Justizhoheit, S. 396: Art. 5 Abs. 1 S. 2, Art. 6 Abs. 1 S. 1, Art. 8–11 Abs. 2, Art. 12 EMRK, Art. 1 ZP, Art. 2 ZP 4; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 207–208: Art. 2, Art. 5 Abs. 3, Art. 6 Abs. 1, Art. 7, Art. 8–11 Abs. 2 Art. 12 EMRK, Art. 1 Abs. 1 S. 2 ZP 1, Art. 2 Abs. 3, 4 ZP 4, Art. 2 ZP 7; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 721 (ohne Spezifizierung, welche Normen er einbezieht); Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes, S. 143: Art. 2 Abs. 1, 2 lit. c), Art. 5 Abs. 1, 3, Art. 6 Abs. 1, Art. 7, Art. 8–11 Abs. 2 EMRK, Art. 1 Abs. 1, 2 ZP, Art. 2 Abs. 3, 4 ZP, Art. 2 ZP 6, Art. 2 Abs. 1, 2, Art. 3, Art. 4 Abs. 1, 2 ZP 7; Steiner, The Rule of Law in the Jurisprudence of the ECtHR, in: Schroeder, Strengthening the Rule of Law in Europe, S. 135 (150): Art. 2, 5, 6, 7, 8–11 EMRK, Art. 1 ZP, Art. 2 ZP 4, ZP 7; M ­ atscher, Der Gesetzesbegriff der EMRK, in: Adamovich, FS Loebenstein, S. 105 (106–107): Art. 2 Abs. 1 S. 1, 2, Abs. 2 lit. c), Art. 5 Abs. 3, Art. 6 Abs. 1, Art. 7, Art. 8–11 Abs. 2, Art. 12 EMRK, Art. 1 ZP, Art. 2 ZP 4, Art. 2 ZP 6, Art. 2 Abs. 1, 2, Art. 3, Art. 4 ZP 7; Lupo / Piccirilli, Legis­ prudence 6 (2012), S. 229 (231): Art. 2, 6, 8–11 EMRK, Art. 1 ZP, Art. 1 ZP 4, Art. 1, 2 ZP 7; Malinverni, RUDH 1990, S. 401 (401): Art. 2 Abs. 1, 2 lit. c), Art. 5 Abs. 1, 3, Art. 6 Abs. 1, 8–11 Abs. 2 EMRK, Art. 1 ZP 1, Art. 2 Abs. 3, 4 ZP 4, Art. 1 Abs. 1–3, Art. 4 Abs. 1, 2 ZP 7; Wyttenbach / Hofer, Swiss Review of International and European Law 27 (2017), S. 333 (335) nennt Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 und 3, Art. 8–11 Abs. 2, Art. 12 EMRK. 902 Ausnahme in dieser Hinsicht stellt die Untersuchung von Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK dar, welche die Übertragung des Gesetzesbegriffs von dem Verständnis der Abs. 2 von Art. 8–11 EMRK auf Art. 5 Abs. 1 S. 2 und Art. 12 EMRK etwas ausführlicher erörtert. Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 111–113 nennt zwar auch keine Urteile, begründet seinen Standpunkt aber dogmatisch mit dem Gebot der einheitlichen Vertragsauslegung gemäß Art. 31 WVK.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

1. Einschränkungsvorbehalte Zunächst enthält die EMRK Gesetzesvorbehalte zur Einschränkung der gewährten Menschenrechte. Die EMRK kennt keine mit Art. 52 GRCh vergleichbare, einheitliche Schrankenregelung.903 Die Anforderungen an die Rechtfertigung eines Eingriffs ergeben sich aus den einzelnen Konventionsrechten. Die Schrankenregelungen unterscheiden sich in beiden authentischen Sprachfassungen sowohl hinsichtlich der Formulierung zum Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage als auch hinsichtlich der – teils restriktiven, teils weitergehenden – vorgesehenen inhaltlichen Gründe für einen gerechtfertigten Eingriff. Neben den Art. 8–11 Abs. 2 EMRK sowie Art. 2 Abs. 3, 4 ZP 4, die seit jeher im Zentrum der Diskussion um den Gesetzesbegriff stehen, enthalten auch das Recht der persönlichen Freiheit aus Art. 5 Abs. 1 EMRK, das Eigentumsrecht aus Art. 1 ZP sowie der Schutz vor rechtswidrigen Ausweisungen aus Art. 2 ZP 7 ausdrückliche Schrankenregelungen. In Art. 2 Abs. 2 EMRK dient das Gesetz der Umsetzung der staatlichen Schutzpflicht für das Leben der Bürger. Die Schrankenregelungen des Art. 2 Abs. 1 EMRK sowie des Art. 2 ZP 6 betrafen die Todesstrafe. Art. 1 ZP 13904 schafft für 44 Ratifikationsstaaten die Todesstrafe endgültig ab.905 Mangels praktischer Relevanz wird die Betrachtung der Schranken aus Art. 2 Abs. 1 EMRK vorliegend ausgespart.  a) Art. 8–11 Abs. 2 EMRK, Art. 2 Abs. 3, 4 ZP 4 Gemäß Absatz 2 der Art. 8–10 EMRK sowie Art. 11 Abs. 2 S. 1 EMRK müssen Eingriffe in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, die Freiheit der Meinungsäußerung und die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit „gesetzlich vorgesehen“ sein (in accordance with the law / prescribed by law; prévu(es) par la loi).906 Die gleiche Formulierung findet sich in Art. 2 Abs. 3 und 4 ZP, dem Recht auf Freizügigkeit. 903

Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 76; Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 143; Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 33; Berka, ÖZöRV 37 (1986), S. 71 (80). 904 Das 13. Zusatzprotokoll ist 2003 in Kraft getreten und wurde von allen Staaten des Europarats außer Armenien und Aserbaidschan (sowie Russland) ratifiziert. Auch diese Staaten verhängen keine Todesstrafen mehr, vgl. EGMR Nr. 61498/08, Al-Saadoon und Mufdhi v Vereinigtes Königreich, 02.03.2010, § 120. 905 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 20 Rn. 10–11; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 1 ZP 13 Rn. 1; Gerards, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 353 (363). 906 Hierzu bereits Hoffmann-Remy, Grundrechtseinschränkungen nach den Art. 8–11 Abs. 2 EMRK; Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK; Marauhn / Merhof, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 7 Rn. 23–36; Gerards, General Principles of the ECHR, S. 198–219.

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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In der Sache Sunday Times v Vereinigtes Königreich äußerte sich der EGMR erstmals und grundlegend zur Auslegung des Gesetzesbegriffs im Rahmen der Art. 8–11 Abs. 2 EMRK und Art. 2 ZP 4. Die Sunday Times machte eine Verletzung von Art. 10 EMRK geltend.907 Der Gerichtshof prüfte zwei Merkmale, um festzustellen, ob die Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit der Sunday Times gesetzlich vorgesehen war: Das Gesetz musste zugänglich (adequately accessible) und ausreichend bestimmt (with sufficient precision) sein. Die Beschwerdeführerin musste also erkennen können, welche Normen im konkreten Fall anwendbar waren und musste (wenn auch nicht mit absoluter Sicherheit) vorhersehen können, welche rechtlichen Folgen aus ihren Handlungen erwachsen konnten; dabei war es unschädlich, wenn die Norm noch ausgelegt werden musste.908 Formale Voraussetzungen entwickelte der EGMR nicht: Mit dem Hinweis auf einen ansonsten zu massiven Eingriff in die Rechtssysteme der common law-Staaten lehnt der EGMR das Erfordernis einer geschriebenen Vorschrift ab.909 Bereits im Sunday Times-Urteil bezog der EGMR diese erste Definition des Gesetzesbegriffs nicht nur auf den im konkreten Fall einschlägigen Art. 10 Abs. 2 EMRK, sondern erweiterte diese Definition  – ohne dass dies für die Entscheidung relevant war – auf die Absätze 2 der Art. 8, 9 und 11 EMRK sowie auf Art. 2 Abs. 3, 4 EMRK.910 In den Urteilen Silver911 und Malone912 übertrug der EGMR die Grundsätze tatsächlich auf die Prüfung des Art. 8 Abs. 2 EMRK. Im gleichen Zuge präzisierte der Gerichtshof die Anforderungen an den Gesetzesbegriff. Voraussetzung für den Eingriff in das Recht aus Art. 8 Abs. 1 EMRK war eine innerstaatliche Rechtsgrundlage, welche den rechtsstaatlichen Anforderungen einer zugänglichen und ausreichend bestimmten Norm entsprach, die einen adäquaten Schutz gegen willkürliche Eingriffe der Hoheitsgewalt in den Schutzgehalt der

907 EGMR Nr. 6538/74, The Sunday Times v Vereinigtes Königreich Nr. 1 (Pl.), 26.04.1979, § 42. Gegenstand des Verfahrens war eine einstweilige Anordnung, welche der Sunday Times die Veröffentlichung eines Artikels über die Ursprünge und die Entwicklung eines Medikamenten-Skandals untersagte, während die gerichtlichen Verfahren und die Entschädigungsverhandlungen zwischen den Betroffenen und dem Unternehmen noch nicht abgeschlossen waren (§§ 11, 17). 908 EGMR Nr. 6538/74, The Sunday Times v Vereinigtes Königreich Nr. 1 (Pl.), 26.04.1979, § 49. 909 EGMR Nr. 6538/74, The Sunday Times v Vereinigtes Königreich Nr. 1 (Pl.), 26.04.1979, § 47. 910 EGMR Nr. 6538/74, The Sunday Times v Vereinigtes Königreich Nr. 1 (Pl.), 26.04.1979, § 48. 911 EGMR Nr. 5947/72 u. a., Silver u. a. v Vereinigtes Königreich, 25.03.1983, § 85 sowie mit den gleichen Maßstäben in §§ 86–88; kritisch zur Begründung (wenngleich im Ergebnis zustimmend) Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 60. 912 EGMR Nr. 8691/79, Malone v Vereinigtes Königreich (Pl.), 02.08.1984, § 66. Siehe auch Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 533–537 (1992) zu den Urteilen Silver, Malone und weiteren Entscheidungen in dieser Rechtsprechungslinie; ebenso Frowein, in: Frowein / Peukert, EMRK, Vorb. zu Art. 8–11 Rn. 3–9.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Konventionsrechte bieten und im konkreten Fall eingehalten werden musste.913 Daraus ergaben sich zwei Elemente des Gesetzesbegriffs: ein formelles Element, welches eine rechtliche Wirkung eines innerstaatlichen Akts verlangte und für die hoheitlichen Organe verbindlich war, und ein materielles Element, welches auf das Rechtsstaatsprinzip zurückführbare qualitative Anforderungen914 an das Gesetz stellte. Bei diesen frühen Anforderungen an den Gesetzesbegriff ist es seit den Urteilen Sunday Times, Malone und Silver geblieben.915 Der EGMR hat diese Rechtsprechung in Urteilen zu Art. 8916, 9917, 10918 und 11919 EMRK sowie zu Art. 2 ZP 4920 bestätigt. b) Art. 11 Abs. 2 S. 2 EMRK Art. 11 Abs. 2 S. 2 EMRK enthält eine Sonderregelung für Einschränkungen der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gegenüber Angehörigen der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung. Anders als in Satz 1 spricht der Normtext nicht von gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen (prescribed by law / prévues 913

EGMR Nr. 5947/72 u. a., Silver u. a. v Vereinigtes Königreich, 25.03.1983, §§ 86–88; dem folgend und inhaltlich präzisierend EGMR Nr. 8691/79, Malone v Vereinigtes Königreich (Pl.), 02.08.1984, §§ 66–67. 914 EGMR Nr. 8691/79, Malone v Vereinigtes Königreich (Pl.), 02.08.1984, § 67: „The Court would reiterate its opinion that the phrase ‚in accordance with the law‘ does not merely refer back to domestic law but also relates to the quality of the law, requiring it to be compatible with the rule of law, which is expressly mentioned in the preamble to the Convention […].“ (Hervorhebung durch die Verfasserin). 915 Ausführlich zu den Anforderungen an den Gesetzesbegriff unten ab S. 239. 916 EGMR Nr. 20605/92, Halford v Vereinigtes Königreich, 25.06.1997, § 49; Nr. 27798/95, Amann v Schweiz (GK), 16.02.2000, § 50; Nr. 28341/95, Rotaru v Rumänien (GK), 04.05.2000, § 52; Nr. 10337/04, Lupsa v Rumänien, 08.06.2006, §§ 32, 34; Nr. 1365/07, C. G. u. a. v Bulgarien, 24.04.2008, § 39; Nr. 1537/08, Kaushal u. a. v Bulgarien, 02.09.2010, § 26; Nr. 30491/17 und 31083/17, Solska and Rybicka v Polen, 20.09.2018, § 112; Nr. 588/13, Libert v Frankreich, 22.02.2018, § 43. 917 EGMR Nr. 45701/99, Metropolitan Church of Bessarabia u. a. v Moldawien, 13.12.2001, § 109; Nr. 44774/98, Leyla Şahin v Türkei (GK), 10.11.2005, § 84; Nr. 58911/00, Leela Förderkreis e. V. u. a. v Deutschland, 06.11.2008, § 86; Nr. 31706/10 und 33088/10, Güler and Uğur v Türkei, 02.12.2014, § 48. 918 EGMR Nr. 8734/79, Barthold v Deutschland, 25.03.1985, § 45; Nr. 18139/91, Tolstoy Miloslavsky v Vereinigtes Königreich, 13.07.1995, § 37; Nr. 38224/03, Sanoma Uitgevers B. V. v Niederlande (GK), 14.09.2010, §§ 81–82; Nr. 38433/09, Centro Europa 7 S. r. l. and Di Stefano v Italien (GK), 07.06.2012, §§ 140, 143; Nr. 3111/10, Ahmet Yıldırım v Türkei, 18.02.2012, §§ 57, 59; Nr. 14946/08 u. a., Yurtsever u. a. v Türkei, 20.01.2015, § 103; Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 123; Nr. 931/13, Satakunnan Markkinapörssi Oy und Satamedia Oy v Finnland (GK), 27.06.2017, § 142. 919 EGMR Nr. 44158/98, Gorzelik u. a. v Polen (GK), 17.02.2004, § 64; Nr. 20372/11, Vyerentsov v Ukraine, 11.04.2013, § 52; Nr. 37553/05, Kudrevičius u. a. v Litauen (GK), 15.10.2015, §§ 108–109; Nr. 29580/12 u. a., Nawalnyy v Russland (GK), 15.11.2018, §§ 114–115. 920 EGMR Nr. 34383/03, Gochev v Bulgarien, 26.11.2009, § 46; Nr. 43978/09, Battista v Italien, 02.12.2014, § 38; Nr. 43395/09, de Tommaso v Italien (GK), 23.02.2017, §§ 106–109.

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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par la loi), sondern von rechtmäßigen Einschränkungen (lawful restrictions /  restrictions légitimes). Der Begriff der Rechtmäßigkeit wurde vom EGMR so ausgelegt wie die Einschränkungsvorbehalte anderer Konventionsrechte. Der EGMR prüfte die gleichen Voraussetzungen wie für die Schranke des Art. 11 Abs. 2 S. 1 EMRK. Die gesetzliche Grundlage muss insbesondere vorhersehbar sein und darf keine willkürlichen Entscheidungen erlauben.921 c) Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK Art. 5 Abs. 1 S. 1 EMRK schützt die körperliche Bewegungsfreiheit in Form eines Abwehrrechts.922 Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK enthält einerseits einen Einschränkungsvorbehalt, „die Freiheit darf nur […] auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden“ (in accordance with a procedure prescribed by law /  selon les voies légales), andererseits Rechtmäßigkeitsanforderungen in den in Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a)–f)  EMRK aufgezählten Gründen für eine Freiheitsentziehung. Der EGMR prüft den Gesetzesvorbehalt und die Rechtmäßigkeit der Festnahme beziehungsweise die Einhaltung des gesetzlich vorgeschriebenen Verfahrens gemäß lit. a)–f)  gemeinsam.923 Die Konventionsstaaten müssen Verfahrensvorschriften und materielle Regelungen haben, welche die Freiheitsentziehung ermöglichen und (konventionskonform)924 ausgestalten.925 Hierfür setzt sich der EGMR – sofern notwendig926 – mit drei Prüfungskomplexen auseinander: 1) Wie weitreichend darf der EGMR die Anwendung des nationalen Rechts durch natio 921 EGMR Nr. 25390/94, Rekvényi v Ungarn (GK), 20.05.1999, § 59; Nr. 35972/97, Grande Oriente d’Italia di Palazzo Giustiniani v Italien, 02.08.2001, § 30. Auch das Schrifttum geht von dem Erfordernis einer rechtlichen Grundlage aus, so etwa Marauhn, Kommunikationsgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4 Rn. 94; Daiber, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 11 Rn. 56; Arndt / Engels / von Oettingen, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 11 Rn. 23. Umstritten ist lediglich, ob die materiellen Schrankenvoraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 S. 1 EMRK auch für den S. 2 gelten (Arndt / Engels / von Oettingen, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 11 Rn. 24 m. w. N. zum Streitstand) – damit würde der S. 2 dann allerdings im S. 1 aufgehen. 922 Ausführlich zu den Dimensionen des Art. 5 EMRK Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, 3. Aufl., Kap. 13 Rn. 12–30. 923 EGMR Nr. 11364/03, Mooren v Deutschland (GK), 09.07.2009, §§ 72, 76: „In laying down that any deprivation of liberty must be ‚lawful‘ and be effected ‚in accordance with a procedure prescribed by law‘, Article 5 § 1 does not merely refer back to domestic law“. Ebenso bereits EGMR Nr. 28358/95, Baranowski v Polen, 28.03.2000, § 50. Siehe auch Renzikowski, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 5 Rn. 79 m. w. N. (2016). 924 EGMR Nr. 6301/73, Winterwerp v Niederlande, 24.10.1979, §§ 45, 46; Nr. 11364/03, Mooren v Deutschland (GK), 09.07.2009, §§ 72–75. Eine Verletzung des nationalen Verfahrensrechts, welches den Freiheitsentzug regelt, wäre automatisch eine Konventionsverletzung. Daraus folgert der EGMR, dass er ausnahmsweise auch die Einhaltung des nationalen Rechts überprüft. 925 Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 63. 926 Der EGMR prüft stets nur die im konkreten Fall relevanten rechtlichen Fragen, daher geht er nicht in jedem Urteil auf alle drei Aspekte ein.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

nale Stellen untersuchen? 2) Welche Qualität muss das nationale Recht aufweisen? 3) Wann ist eine Freiheitsentziehung willkürlich?927 Die Anforderungen an die Qualität des einschränkenden Gesetzes gleichen denen aus Art. 8–11 Abs. 2 EMRK – notwendig ist eine zugängliche Rechtsnorm mit vorhersehbarer Rechtsfolge, die geeignet ist, eine willkürliche Ausübung von Hoheitsgewalt zu verhindern.928 In der Sache Amuur v Frankreich stellt der EGMR ausdrücklich den Bezug zu der Auslegung der Art. 8–11 Abs. 2 EMRK her.929 Das Gesetzesverständnis nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK stimmt mit dem in Art. 8–11 Abs. 2 und Art. 2 Abs. 3, 4 ZP 4 überein.930 d) Art. 1 Abs. 1 S. 1, 2 und Abs. 2 ZP In das Eigentumsrecht aus Art. 1 Abs. 1 S. 1 ZP kann laut der ständigen Rechtsprechung des EGMR auf drei verschiedene Arten eingegriffen werden: durch Enteignung gemäß Art. 1 Abs. 1 S. 2 ZP, durch Nutzungsbeschränkung gemäß Abs. 2 oder auf sonstige Weise gemäß Art. 1 Abs. 1 S. 1 ZP.931 Einen ausdrücklichen, in der Formulierung den Schranken der Art. 8–11 Abs. 2 EMRK ähnelnden Gesetzesvorbehalt enthält nur die Enteignung gemäß Art. 1 Abs. 1 S. 2 ZP. 927

Siehe dazu die ausführlich dargestellten Grundsätze in EGMR Nr. 11364/03, Mooren v Deutschland (GK), 09.07.2009, §§ 72–81; weniger ausführlich, EGMR Nr. 28358/95, Ba­ ranowski v Polen, 28.03.2000, § 51; aus jüngerer Zeit EGMR Nr. 72508/13, Merabishvili v Georgien (GK), 28.11.2017, § 186; Nr. 16538/17, Şahin Alpay v Türkei, 20.03.2018, § 116. Renzikowski, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 5 Rn. 79 (2016) mit einer abweichenden Kategorisierung der Prüfungspunkte. 928 EGMR Nr. 19776/92, Amuur v Frankreich, 25.06.1996, § 50; Nr. 24838/94, Steel u. a. v Vereinigtes Königreich, 23.09.1998, § 54; Nr. 46295/99, Stafford v Vereinigtes Königreich (GK), 28.05.2002, § 63; Nr. 11364/03, Mooren v Deutschland (GK), 09.07.2009, § 76; Nr. 3394/03, Medvedyev u. a. v Frankreich (GK), 29.03.2010, § 80; Nr. 42750/09, Del Río Prada v Spanien (GK), 21.10.2013, § 125; Nr. 51249/11, Oravec v Kroatien, 11.07.2017, § 47; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 21 Rn. 14; Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 419; Trechsel, EuGRZ 1980, S. 514 (519). 929 EGMR Nr. 19776/92, Amuur v Frankreich, 25.06.1996, § 50; ebenso EGMR Nr. 2947/06, Ismoilov u. a. v Russland, 24.04.2008, § 137. In der Sache Steel zitiert der EGMR ein Urteil zu Art. 7 EMRK, EGMR Nr. 24838/94, Steel u. a. v Vereinigtes Königreich, 23.09.1998, § 54. 930 Elberling, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 5 Rn. 19; Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 63. 931 Grundlegend EGMR Nr. 7151/75 und 7152/75, Sporrong and Lönnroth v Schweden (Pl.), 23.09.1982, § 61; darauf aufbauend etwa EGMR Nr. 8793/79, James u. a. v Vereinigtes Königreich (Pl.), 21.02.1986, § 37; Nr. 33202/96, Beyeler v Italien (GK), 05.01.2000, § 98; Nr. 31107/96, Iatridis v Griechenland (GK), 25.03.1999, § 55; Nr. 27651/05, Minasyan und Semerjyan v Armenien (Begr.), 23.06.2009, § 60; Nr. 71243/01, Vistiņš and Perepjolkins v Lettland (GK), 25.10.2012, § 95; Nr. 53080/13, Béláné Nagy v Ungarn (GK), 13.12.2016, § 72; Nr. 36480/07, Lekić v Slowenien (GK), 11.12.2018, § 92; Meyer-Ladewig / von Raumer, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 1 ZP  Rn.  2–4, 26, 27; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 25 Rn. 9–16 für eine Übersicht über die Zuordnung einzelner staatlicher Maßnahmen zu den Eingriffsbegriffen.

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In den Urteilen James v Vereinigtes Königreich und Lithgow v Vereinigtes Königreich verwies der EGMR hinsichtlich der Auslegung des Begriffs „nur unter den durch Gesetz […] vorgesehenen Bedingungen“ (the conditions provided for by law / les conditions prévues par la loi) in Art. 1 Abs. 1 S. 2 EMRK auf die Sache Malone und somit auf die Grundsätze zu den Art. 8–11 Abs. 2 EMRK sowie Art. 2 ZP 4.932 In anderen Urteilen fanden sich auch Verweise auf Urteile, die Art. 5 Abs. 1 EMRK betrafen.933 Inzwischen stellt der EGMR schlicht fest, dass Art. 1 ZP den gleichen Gesetzesbegriff anspricht, auf den die EMRK auch in anderen Zusammenhängen abstellt.934 Außerdem hat der EGMR in ständiger Rechtsprechung etabliert, dass auch Eingriffe gemäß Art. 1 Abs. 2 und gemäß Art. 1 Abs. 1 S. 1 ZP die gleichen Anforderungen hinsichtlich des einschränkenden Gesetzes erfüllen müssen,935 obwohl beide Normen keinen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt enthalten. Während Art. 1 Abs. 2 ZP immerhin noch auf innerstaatliche Regelungen verweist (to enforce such law as it deems necessary / en vigueur les lois qu’ils jugent nécessaires), enthält Art. 1 Abs. 1 S. 1 ZP gar keinen Hinweis auf Einschränkungsmöglichkeiten. Anders als im Falle der anderen ungeschriebenen Schranken936 geht der EGMR nicht von impliziten Beschränkungen (implied limitations) aus,937 sondern überträgt im Sinne einer gleichen Behandlung aller Eingriffe in das Eigentumsgrundrecht die Grundsätze der geschriebenen Schranken. Der EGMR führt als Begründung für die Übertragung des Einschränkungsvorbehalts von der Enteignung gemäß Abs. 1 S. 2 auf die anderen Einschränkungsmöglichkeiten das Rechtsstaatsprinzip an, welches allen Konventionsrechten inhärent ist.938 932

EGMR Nr. 8793/79, James u. a. v Vereinigtes Königreich (Pl.), 21.02.1986, § 67; Nr. 9006/80 u. a., Lithgow u. a. v Vereinigtes Königreich (Pl.), 08.07.1986, § 110; Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 60; Kriebaum, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 1 ZP Rn. 207 (2013). 933 EGMR Nr. 25701/94, The Former King of Greece u. a. v Griechenland (GK), 23.11.2000, § 79 mit Verweis auf die Sache EGMR Nr. 19776/92, Amuur v Frankreich, 25.06.1996, § 50. 934 EGMR Nr. 71243/01, Vistiņš and Perepjolkins v Lettland (GK), 25.10.2012, §§ 96–97 (zu Art. 1 Abs. 1 S. 2 ZP); Nr. 37926/05 u. a., R & L, s. r. o. u. a. v Tschechien, 03.07.2014, § 113 (zu Art. 1 Abs. 2 ZP); Nr. 36480/07, Lekić v Slowenien (GK), 11.12.2018, § 95 (zu Art. 1 Abs. 1 S. 1 ZP). 935 Grundlegend EGMR Nr. 31107/96, Iatridis v Griechenland (GK), 25.03.1999, § 58; anschließend EGMR Nr. 33202/96, Beyeler v Italien (GK), 05.01.2000, § 106; Nr. 38433/09, Centro Europa 7 S. r. l. and Di Stefano v Italien (GK), 07.06.2012, § 187; Nr. 1828/06, 34163/07 und 19029/11, G. I. E. M. S. R. L. u. a. v Italien (GK), 28.06.2018, §§ 292, 294; Nr. 69936/10, Tadevosyan v Armenien, 16.05.2019, § 45; Nr. 36480/07, Lekić v Slowenien (GK), 11.12.2018, §§ ­94–95; Meyer-Ladewig / von Raumer, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 1 ZP Rn. 4; Kriebaum, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 1 ZP Rn. 206–207 (2013); Matscher, Der Gesetzesbegriff der EMRK, in: Adamovich, FS Loebenstein, S. 105 (106), der der Formulierung to enforce such laws einen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt entnimmt. 936 Siehe dazu ab S. 228. 937 A. A. Lavrysen, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 307 (309). 938 EGMR Nr. 31107/96, Iatridis v Griechenland (GK), 25.03.1999, § 58.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Insgesamt zeigt sich also, dass das grundsätzliche Verständnis des Gesetzesbegriffs der Art. 8–11 Abs. 2 EMRK auch für Rechtfertigungen von Eingriffen in das Eigentumsrecht gilt.939 e) Art. 1 Abs. 1 ZP 7 Gemäß Art. 1 ZP 7 darf die Ausweisung einer sich rechtmäßig in einem Staatsgebiet aufhaltenden Person nur erfolgen, wenn eine rechtmäßige Entscheidung ergangen ist (a decision reached in accordance with law / qu’en exécution d’une décision prise conformément à la loi). Hierbei handelt es sich um einen Einschränkungsvorbehalt. Der EGMR verweist auf die einheitliche Bedeutung dieses Vorbehalts in der gesamten EMRK und definiert den Vorbehalt als rechtliche Grundlage, welche die qualitativen Anforderungen erfüllt, zugänglich und vorhersehbar zu sein und Schutz vor einem willkürlichen Eingriff zu bieten.940 f) Zwischenfazit Den Einschränkungsvorbehalten aus Art. 8–11 Abs. 2, Art. 2 Abs. 3 und 4 ZP 4, Art. 5 Abs. 1, Art. 1 ZP, sowie Art. 1 ZP 7 liegt ein einheitliches Gesetzesverständnis zugrunde. 2. Ausgestaltungsvorbehalte Die EMRK fordert von den Konventionsstaaten auch inhaltliche und organisatorische gesetzliche Ausgestaltungen verschiedener – nicht nur absoluter oder verfahrensrechtlicher – Konventionsrechte.941 So muss etwa das Gericht, zu wel 939

Kriebaum, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 1 ZP Rn. 207 (2013). EGMR Nr. 10337/04, Lupsa v Rumänien, 08.06.2006, § 55 ; Nr. 33970/05, Kaya v Rumänien, 12.10.2006, § 56; Nr. 34621/03, Ahmed v Rumänien, 13.07.2010, § 52; Nr. 12919/04, Baltaji v Bulgarien, 12.07.2011, § 55; Nr. 19017/16, Ljatifi v Mazedonien, 17.05.2018, § 33; Nr. 80892/12, Muhammad und Muhammad v Rumänien (GK), 15.10.2020, § 118. Auch das Schrifttum bezieht Art. 1 ZP 7 in das einheitliche Schrankenverständnis ein, Schabas, ECHR, Art. 1 ZP 7, S. 1130; Lavrysen, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 307 (311); Brandl, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 1 ZP 7 Rn. 31 (2007); Hoppe, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 1 ZP 7 Rn. 5; Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 147 Rn. 15; Zimmermann / Elberling, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, 2. Aufl., Kap. 27 Rn. 162; Uerpmann-Wittzack, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  27 Rn.  108. 941 Zur Unterscheidung zwischen Eingriff und Ausgestaltung Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 71. Anderer Ansatz bei Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 147 Rn. 4, der von „Gewährleistungen, die […] der gesetzlichen Ausgestaltung bedürfen“ spricht und damit Konventionsrechte meint, in die nach der Terminologie dieser Arbeit auf der Grundlage einer impliziten Schranke eingegriffen werden kann. 940

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chem gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK ein freier Zugang gewährleistet wird, gesetzlich eingerichtet sein (tribunal established by law / tribunal […] établi par la loi). Art. 12 EMRK setzt Gesetze zur Regelung der Eheschließung voraus (according to the national laws governing the exercise of this right / selon les lois nationales régissant l’exercise de ce droit) und Art. 7 EMRK verlangt, dass eine strafrechtliche Verurteilung auf einer gesetzlichen Grundlage beruht. Bei dieser Fallgruppe hat das Gesetz nicht die Funktion, die Ausübung der Konventionsrechte zu beschränken oder in diese einzugreifen, sondern ihren Gewährleistungsgehalt zu definieren. a) Art. 7 EMRK Art. 7 EMRK verlangt, dass eine strafrechtliche Verurteilung und Bestrafung nur auf Grundlage und innerhalb der Grenzen eines Gesetzes erfolgt, welches zur Zeit der Tat bereits wirksam war und die Vergehen und ihre Strafen eindeutig bestimmt.942 Nach dem Grundsatz nulla poena sine lege müssen Straftaten und Strafen gesetzlich vorgesehen sein, um den Anforderungen des Art. 7 Abs. 1 EMRK zu entsprechen. Anders als bei den Rechten der Art. 8–11 EMRK ist der Gesetzesbegriff nicht für die Rechtfertigung eines Eingriffs in eine durch den Gewährleistungsgehalt geschützten Tätigkeit relevant.943 Das Gesetz im Sinne des Art. 7 EMRK hat eine ausgestaltende und keine einschränkende Funktion.944 Der EGMR verweist in diesem Zusammenhang seit jeher auf seine allgemeine Rechtsprechung zum Gesetzesbegriff.

942

Siehe grundlegend zum Gewährleistungsgehalt EGMR Nr. 20166/92, S. W. v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, § 35; Nr. 17862/91, Cantoni v Frankreich (GK), 15.11.1996, § 29; Nr. 75909/01, Sud Fondi srl u. a. v Italien (Begr.), 20.01.2009, §§ 106–107; Nr. 36376/04, Kononov v Lettland (GK), 17.05.2010, § 185; Nr. 54468/09, Huhtamäki v Finnland, 06.03.2012, § 42; Nr. 35343/05, Vasiliauskas v Litauen (GK), 20.10.2015, § 154; Nr. 42750/09, Del Río Prada v Spanien (GK), 21.10.2013, §§ 77–80; dem folgend EGMR Nr. 59552/08, Rohlena v Tschechien (GK), 27.01.2015, § 50. Übersichtlich Peters / Altwicker, EMRK, § 23 Rn. 1, 4–11; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 150–161. Vgl. die Voraussetzungen für eine Verletzung von Art. 7 EMRK auch bei Kadelbach, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 15 Rn. 10. 943 Ohne Unterscheidung als Gesetzesvorbehalt eingeordnet bei Renzikowski, in: Pabel /  Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 7 Rn. 42 (2009); Meyer-Ladewig / Harrendorf /  König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 7 Rn. 13; Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes, S. 143 Fn. 7; Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 76; Matscher, Der Gesetzesbegriff der EMRK, in: Adamovich, FS Loebenstein, S. 105 (106); Peters / Altwicker, EMRK, § 23 Rn. 6. 944 Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 147 Rn. 9 spricht (allgemein für Gewährleistungen ohne Einschränkungsvorbehalt) davon, dass sich die rechtlichen Fragen in den Tatbestand der Regelung verlagern, insbesondere dadurch, dass an Begriffe des nationalen Rechts angeknüpft wird, die dadurch der Kontrolle des EGMR unterliegen.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

„[…] [W]hen speaking of ‚law‘ Article 7 […] alludes to the very same concept as that to which the Convention refers elsewhere when using that term, a concept which comprises written as well as unwritten law and implies qualitative requirements, notably those of accessibility and foreseeability […].“ 945

Die abweichende Formulierung in der authentischen französischen Sprachfassung (droit statt loi) ist unbeachtlich.946 b) Art. 5 Abs. 4 EMRK Art. 5 Abs. 4 EMRK garantiert für den Fall einer Freiheitsentziehung oder Festnahme, dass deren Rechtmäßigkeit unmittelbar durch ein Gericht überprüft wird. Es besteht ein Anspruch des Betroffenen darauf, dass die Einhaltung des nationalen Rechts inklusive der EMRK geprüft wird.947 Der Rechtmäßigkeitsbegriff des Art. 5 Abs. 4 EMRK wird genauso ausgelegt wie der des Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK.948 Grundlage der Rechtmäßigkeitsprüfung muss also eine zugängliche und vorhersehbare Rechtsnorm sein.949

945

EGMR Nr. 20166/92, S. W. v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, § 35 mit Verweis auf ein Urteil zu Art. 10 EMRK; Nr. 20190/92, C. R. v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, § 33; Nr. 17862/91, Cantoni v Frankreich (GK), 15.11.1996, § 29; Nr. 32492/96 u. a., Coëme u. a. v Belgien, 22.06.2000, § 142; Nr. 75909/01, Sud Fondi srl u. a. v Italien (Begr.), 20.01.2009, § 108; Nr. 36376/04, Kononov v Lettland (GK), 17.05.2010, § 185; ausführlicher Nr. 54468/09, Huhtamäki v Finnland, 06.03.2012, §§ 43–44 m. w. N.; Nr. 35343/05, Vasiliauskas v Litauen (GK), 20.10.2015, § 154 m. w. N.; Nr. 42750/09, Del Río Prada v Spanien (GK), 21.10.2013, § 91. Auch das Schrifttum geht von einer mit den Einschränkungsvorbehalten einheitlichen Auslegung des Gesetzesbegriffs aus Art. 7 EMRK aus, Gaede, in: Knauer u. a., MüKo-StPO, Art. 7 EMRK Rn. 13 m. w. N.; Renzikowski, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 7 Rn. 42 (2009); Sinner in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 7 Rn. 12; Schabas, ECHR, Art. 7, S. 336; Bleichrodt, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 655 (658); Peters / Altwicker, EMRK, § 23 Rn. 4; Harris u. a., Law of the ECHR, S. 492–493. 946 Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 7 Rn. 13. 947 EGMR Nr. 22414/93, Chahal v Vereinigtes Königreich (GK), 15.11.1996; Nr. 39472/07 und 39474/07, Popov v Frankreich, 19.01.2012, § 122; Nr. 71825/11, Housein v Griechenland, 24.10.2013; Nr. 13255/07, Georgien v Russland I (GK), 03.07.2014, § 183; Nr. 16483/12, Khlaifia u. a. v Italien (GK), 15.12.2016. Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 13 Rn. 101; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig /  Nettesheim / von Raumer, EGMR, Art. 5 Rn. 96. 948 Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EGMR, Art. 5 Rn. 96; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn. 101. 949 Siehe zum Einschränkungsvorbehalt des Art. 5 Abs. 1 EMRK bereits oben S. 213.

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c) Art. 6 Abs. 2 EMRK Die Formulierung der Unschuldsvermutung aus Art. 6 Abs. 2 EMRK (shall be presumed innocent until proved guilty according to law / est présumée innocente jusqu’à ce que sa culpabilité ait été légalement établie) legt nahe, dass der EGMR den Begriff des Gesetzes in seiner Rechtsprechung definiert. Stattdessen findet sich eine vor allem auf Fallgruppen aufgebaute Rechtsprechung,950 die auf eine allgemeine Definition des Merkmals gesetzlich verzichtet. Der EGMR macht vor allem inhaltliche Vorgaben für das Verfahren, etwa für die Beweislast des Staates, für die Konsequenzen einer gerichtlichen Entscheidung, insbesondere einer Nichtverurteilung, sowie für das Verhalten von Amtsträgern, welche sich vor einer gerichtlichen Entscheidung nicht entscheidend zum Verfahren äußern dürfen.951 Die Schuld einer Person kann nur in einem gerichtlichen Verfahren festgestellt werden, welches unter Einhaltung der innerstaatlichen Regeln abgelaufen ist  – Art. 6 Abs. 2 EMRK verweist also auf die Verfahrensordnungen und das materielle Recht der Konventionsordnungen.952 Art. 7 EMRK enthält den gleichen Grundgedanken und legt das gleiche Gesetzesverständnis zugrunde wie die Einschränkungsvorbehalte. Im Sinne einer widerspruchsfreien Konventionsordnung kann, solange sich der EGMR nicht zur Auslegung des Gesetzesbegriffs im Sinne des Art. 6 Abs. 2 EMRK äußert, nur vermutet werden, dass dieser Norm der gleiche Gesetzesbegriff zugrunde liegt. Jedenfalls gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass ein abweichendes Begriffsverständnis vorliegen könnte. d) Art. 12 EMRK Art. 12 EMRK ermöglicht die Ausübung des Rechts auf Eheschließung und zur Gründung einer Familie „nach den innerstaatlichen Gesetzen, welche die Ausübung dieses Rechtes regeln“ (according to the national laws governing the exercise of this right / selon les lois nationales régissant l’exercise de ce droit).

950 Siehe für einen Überblick die zahlreichen Kommentare, z. B. Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 211–220; ­Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn. 167–172; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 140–144. 951 Zusammenfassend Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 169–171; Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 179–188; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 212, 213, 215. 952 Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 168; Kühne, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 434 (2009) mit Verweis auf Bischofsberger, Die Verfahrensgarantien der EMRK, S. 124; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 140.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Die Ausübung der Konventionsrechte wird erst durch die nationalen Gesetze ermöglicht.953 Soweit ersichtlich, hat der EGMR sich bislang nicht zur Gesetzesqualität der Art. 12 EMRK begrenzenden Gesetze geäußert.954 Entsprechend der wenigen textlichen Vorgaben beschränkt sich das Gericht auf eine Willkürkontrolle und fordert nichts weiter, als dass der Wesensgehalt des Rechts erhalten bleibt: „[The exercise of the right to marry] is subject to the national laws of the Contracting States but the limitations thereby introduced must not restrict or reduce the right in such a way or to such an extent that the very essence of the right is impaired […].“955

Auch wenn das ansonsten einheitliche Gesetzesverständnis der EMRK vermuten lässt, dass dieses auch auf den Art. 12 EMRK angewendet wird, ist es die Aufgabe des EGMR, dies klarzustellen. Zum aktuellen Zeitpunkt kann die Rechtsprechung zu Art. 12 EMRK jedenfalls nicht für die Analyse der Merkmale des einheitlichen Gesetzesbegriffs herangezogen werden. e) Art. 2 Abs. 1 ZP 4 und Art. 1 Abs. 1 ZP 7 Die Freizügigkeit innerhalb des Hoheitsgebiets eines Staates sowie die Freiheit, den Ort des Wohnsitzes frei zu wählen gemäß Art. 2 Abs. 1 ZP 4, wird nur gewährleistet, wenn sich die Person rechtmäßig (lawfully / régulièrement) im Hoheitsgebiet des Staates aufhält. Art. 1 ZP 7 gewährt ausländischen Personen, die sich rechtmäßig (lawfully / régulièrement) in einem Staatsgebiet aufhalten, verfahrensrechtlichen Schutz bei einer Ausweisung.956 Damit verweist der EGMR in beiden Fällen für die Eröffnung des Anwendungsbereichs auf die innerstaatliche Rechtslage.957 953

Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 71. Vgl. Meyer-Ladewig / Nettesheim, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 12 Rn. 6–7 zu den verschiedenen Ausgestaltungsmöglichkeiten der Konventionsstaaten. 954 Als Gesetzesvorbehalt eingeordnet bei Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes, S. 143; Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 35 (auch mit Nachweisen zur Gegenansicht) Pätzold, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 12 Rn. 24; Matscher, Der Gesetzesbegriff der EMRK, in: Adamovich, FS Loebenstein, S. 105 (106); Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten /  Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 147 Rn. 13. 955 EGMR Nr. 25680/94, I v Vereinigtes Königreich (GK), 11.07.2002, § 79; Nr. 44316/07, Chernetskiy v Ukraine, 08.12.2016, § 28. 956 Der Rechtmäßigkeitsvorbehalte der Art. 2 Abs. 1 ZP 4 und Art. 1 Abs. 1 ZP 7 haben somit eine andere Funktion als die Einschränkungsvorbehalte der Art. 2 Abs. 3 und 4 ZP 4 und Art. 1 Abs. 1 ZP 7, die bereits ab S. 210 beziehungsweise S. 216 behandelt wurden. 957 Für Art. 2 Abs. 1 ZP 4: EGMR Nr. 44294/04, Omwenyeke v Deutschland, 20.11.2007; Giegerich, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  26 Rn.  100. Für Art. 1 ZP 7: EGMR Nr. 14139/03, Bolat v Russland, 05.10.2006, § 77 mit Verweis auf den Explanatory Report zu ZP 7, § 9 (abgedruckt in § 51 des Urteils); Meyer-Ladewig / Harrendorf /  König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 1 ZP  Rn.  2; UerpmannWittzack, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  27 Rn.  107; Schabas, ECHR, Art. 1 ZP 7, S. 1129; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 179.

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Der EGMR prüft, sofern entsprechende Anhaltspunkte vorliegen, ob bei der Anwendung des nationalen Rechts offensichtlich willkürlich gehandelt wurde und ob die qualitativen Gesetzesmerkmale vorliegen.958 Darüber hinaus prüft er weder die nationale Rechtsanwendung noch die Gesetzesqualität. Wie bei Art. 12 EMRK wurden die qualitativen Gesetzesmerkmale also noch nicht in die Rechtsprechung einbezogen. f) Art. 3 ZP 7 Das Recht, nach Fehlurteilen entsprechend einem nationalen Gesetz oder der Übung des betreffenden Staates finanziell entschädigt zu werden (shall be compensated according to the law or the practice of the State concerned / est indemnisée, conformément à la loi ou à l’usage en vigueur dans l’Etat concerné), ist bis jetzt nur in wenigen Urteilen des EGMR relevant geworden. Zur Rechtsqualität der gesetzlichen Grundlage hat sich der EGMR noch nicht geäußert. Der Explanatory Report geht davon aus, dass auch hier jedenfalls eine abstrakt-generelle Regelung vorliegen muss, die auf Einzelfälle angewendet werden kann.959 Der EGMR hat aber entschieden, dass eine Entschädigung auch zu zahlen ist, wenn es keine nationale gesetzliche Grundlage gibt.960 Dies ist insofern nachvollziehbar, als das Recht auf eine Entschädigung nicht davon abhängen darf, ob die Konventionsstaaten im Vorhinein rechtsetzend tätig geworden sind – dann könnten die Konventionsstaaten selbst über den Gewährleistungsumfang des Konventionsrechts entscheiden. Da das Gesetz nicht für die Grundrechtsausübung erforderlich ist, ist es nicht verwunderlich, dass der EGMR den Gesetzesbegriff bislang nicht näher qualifiziert hat. g) Art. 4 Abs. 1, 2 ZP 7 Art. 4 Abs. 1 ZP 7 EMRK enthält das Verbot der Doppelverfolgung und Doppelbestrafung. Beide Absätze des Art. 4 ZP 7 enthalten Rechtmäßigkeitsanfor­de­ rungen.961 958 Für Art. 2 Abs. 1 ZP 4: EGMR Nr. 44294/04, Omwenyeke v Deutschland, 20.11.2007; Nr. 43395/09, de Tommaso v Italien (GK), 23.02.2017, §§ 106–127; Hoppe, in: Karpenstein /  Mayer, EMRK, 2. Aufl., Art. 2 ZP  4 Rn. 14; für Art. 1 ZP  7: EGMR Nr. 14139/03, Bolat v Russland, 05.10.2006, §§ 78–79. 959 Explanatory Report to the Protocol No. 7 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms Rn. 25: „It means that the law or practice of the State should provide for the payment of compensation in ail cases to which the article applies.“, https:// rm.coe.int/16800c96fd, zuletzt abgerufen am 09.04.2022. 960 EGMR Nr. 22999/06, Poghosyan and Baghdasaryan v Armenien, 12.06.2012, § 51 mit Verweis auf Rn. 30 des Explanatory Reports on Protocol No. 7 (siehe Fn. 959); Flinterman, Compensation for Wrongful Conviction, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 977 (980). 961 Ebenso Matscher, Der Gesetzesbegriff der EMRK, in: Adamovich, FS Loebenstein, S. 105 (107).

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Um zu entscheiden, ob der Anwendungsbereich eröffnet ist, ob der Betroffene also „nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen“ wurde (has already been finally acquitted or convicted in accordance with the law and penal procedure of that State / a déjà été acquitté ou condamné par un jugement définitif conformément à la loi et à la procédure pénale de cet Etat), prüft der EGMR, ob eine rechtskräftige Entscheidung und damit ein endgültig abgeschlossenes Verfahren vorliegt.962 In dem Urteil Mihalache v Rumänien übertrug der EGMR jüngst die Anforderungen des Gesetzesbegriffs nach Art. 5, 7–11 EMRK sowie Art. 1 ZP auf Art. 4 ZP 7.963 Die Große Kammer formulierte erstmals, dass die für die Rechtskraft relevanten Gesetze im Sinne des Art. 4 ZP 7 zugänglich und vorhersehbar sein und vor Willkür schützen müssen.964 Diese Entscheidung war jedoch nicht unumstritten. Mehrere Richter forderten in einem teilweise abweichenden Sondervotum, die Rechtmäßigkeit des Strafverfahrens außer Acht zu lassen, weil dies eine Frage des Art. 6 Abs. 1 EMRK sei; einziges Kriterium für die Anwendbarkeit des Art. 4 ZP 7 dürfe die Frage sein, ob noch ein ordentlicher, zeitlich befristeter Rechtsbehelf zur Verfügung stünde.965 Für die Frage, ob bereits Rechtskraft eingetreten ist, ist das nationale Recht nur ein Ausgangspunkt. Der EGMR behält sich vor, abseits des nationalen Verständnisses zu definieren, ob ein Urteil bereits als rechtskräftig anzusehen ist.966 Ansonsten könnten die Konventionsstaaten den Anwendungsbereich des Art. 4 ZP 7 selbst bestimmen. Das Urteil Mihalache v Rumänien zeigt, dass der qualitative Gesetzesbegriff im Rahmen des Anwendungsbereichs zu Unsicherheiten führt. Es bleibt abzuwarten, ob der EGMR die Mihalache-Rechtsprechung beibehält. Absatz 2, der eine Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht nicht ausschließt (shall not prevent the reopening of the case in accordance with the law and penal procedure of the State / n’empêchent pas la réouverture du procès, conformément à la loi et à la procédure pénale de l’Etat concerné), ist eine tatbestandsausschließende Ausnahme.967 Ob die Verurteilung 962

EGMR Nr. 50178/99, Nikitin v Russland, 20.07.2004, § 37; Nr. 14939/03, Sergey Zolotukhin v Russland (GK), 10.02.2009, § 107; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 164. 963 EGMR Nr. 54012/10, Mihalache v Rumänien (GK), 08.07.2019, § 112 mit jeweils weiteren Nachweisen zur Rechtsprechung. 964 EGMR Nr. 54012/10, Mihalache v Rumänien (GK), 08.07.2019, § 112; bestätigt in EGMR Nr. 57849/12, Smoković v Kroatien (Zul.), 12.11.2019, § 40. 965 Abweichendes Sondervotum der Richter Raimondi, Nußberger, Sicilianos, Spano, Yudkivska, Motoc und Ravarani zu EGMR Nr. 54012/10, Mihalache v Rumänien (GK), 08.07.2019, §§ 3, 6. 966 EGMR Nr. 54012/10, Mihalache v Rumänien (GK), 08.07.2019, § 116. 967 EGMR Nr. 50178/99, Nikitin v Russland, 20.07.2004, § 45; Nr. 72776/01, Bratyakin v Russland (Zul.), 09.03.2006; Nr. 6965/02, Savinskiy v Ukraine (Zul.), 31.05.2005; Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 147 Rn. 9; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 168; Kadelbach, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar

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oder die Wiederaufnahme des Verfahrens ohne Verletzung des innerstaatlichen Rechts erfolgte, spielt in der Rechtsprechung zu Art. 4 ZP 7 allenfalls eine untergeordnete Rolle. Die Gesetzesqualität wurde, soweit ersichtlich, bisher nicht vom Gerichtshof thematisiert. h) Art. 1 ZP 12 Der Wortlaut des nicht-akzessorischen Diskriminierungsverbots gemäß Art. 1 Abs. 1 ZP 12 nimmt Bezug auf die nationale Rechtslage, wenn es Diskriminierungen beim „Genuss eines jeden gesetzlich niedergelegten Rechts“ (enjoyment of any right set forth by law / jouissance de tout droit prévu par la loi) verbietet. Gleichzeitig verbietet Art. 1 Abs. 2 ZP 12 die Diskriminierung durch jede Behörde (public authority / autorité publique). In den wenigen Urteilen, die sich bisher mit dem Anwendungsbereich auseinandersetzten, verwies der EGMR auf den Explanatory Report, welcher klarstellte, dass es unerheblich ist, ob eine Diskriminierung nach dem ersten oder dem zweiten Absatz vorliegt.968 Somit ist unabhängig von der Handlungsform allein die Ungleichbehandlung entscheidend. Der Gesetzesbegriff in Art. 1 ZP 12 hat keine eigenständige Bedeutung.969 i) Sonderfall: Art. 2 Abs. 2 EMRK Art. 2 EMRK schützt das Recht auf Leben. Diese Norm enthält mehrere Referenzen auf den Gesetzesbegriff: Nach Art. 2 Abs. 2 lit. b) und c) EMRK kann eine tödliche Gewaltanwendung ausnahmsweise gerechtfertigt sein, um jemanden rechtmäßig (lawful / régulière) festzunehmen, eine rechtmäßig (lawfully / régulièrement) festgenommene Person an der Flucht zu hindern oder um einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig (lawfully / conformément à la loi) niederzuschlagen. Hierbei handelt es sich um Hinweise auf innerstaatliche Maßstäbe,970 ohne dass der EGMR hierfür qualitative Vorgaben macht.

EMRK / GG, Kap. 29 Rn. 40 ordnet Art. 4 Abs. 2 ZP 7 als immanente Schranke ein; ebenso Sinner, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 4 ZP  7 Rn. 13; uneindeutig zur dogmatischen Einordnung Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 4 ZP 7 Rn. 6; Grabenwarter / Struth, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 6 Rn. 67. 968 EGMR Nr. 7798/08, Savez crkava „Riječ života“ u. a. v Kroatien, 09.12.2010, § 104; Nr. 81114/17 u. a., Ádám u. a. v Rumänien, 13.10.2020, § 33; Nr. 33139/13, Napotnik v Rumänien, 20.10.2020, § 55. 969 Peters / König, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  21 Rn. 47 gehen jedoch davon aus, dass der Gesetzesbegriff i. S. d. Art. 12 Abs. 1 ZP demjenigen der Absätze 2 der Art. 8–11 EMRK entspricht. 970 Schübel-Pfister, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 2 Rn. 24.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Der Wortlaut „gesetzlich geschützt“ (protected by law / protégé par la loi) in Abs. 1 betont die staatliche Schutzpflicht,971 die bei diesem Recht besonders wichtig ist. Das Urteil Makaratzis v Griechenland formulierte grundlegend die Anforderungen an diese rechtliche Grundlage: „57. The first sentence of Article 2 § 1 enjoins the State […] to take appropriate steps within its internal legal order to safeguard the lives of those within its jurisdiction […]. This involves a primary duty on the State to secure the right to life by putting in place an appropriate legal and administrative framework to deter the commission of offences against the person, backed up by law-enforcement machinery for the prevention, suppression and punishment of breaches of such provisions. 58. […] [A]s well as being authorised under national law, policing operations must be sufficiently regulated by it, within the framework of  a system of adequate and effective safeguards against arbitrariness and abuse of force […], and even against avoidable accident. 59. […] [A] legal and administrative framework should define the limited circumstances in which law-enforcement officials may use force and firearms, in the light of the international standards which have been developed in this respect […].“972

Dieses Zitat zeigt, dass die EMRK von den Staaten zwar verlangt, eine der Schutzpflicht nachkommende Rechtsordnung zu etablieren, dass sie allerdings abgesehen von dem Schutz vor Willkür und Machtmissbrauch keine qualitativen Anforderungen an die rechtlichen Normen stellt.973 Im Urteil Finogenov v Russland erlaubte der EGMR den Staaten sogar, auf eine gesetzliche Grundlage zu verzichten, wenn sowohl die sich aus Art. 2 EMRK ergebende Schutzpflicht als auch abwehrrechtliche Aspekte betroffen sind und die Sachverhaltsgestaltung unvorhersehbar war. Bei einer Geiselnahme von über 900 Geiseln hatte die russische Polizei Gas eingesetzt, durch welches sowohl die Geiselnehmer als auch die Geiseln bewusstlos werden sollten, um das Gebäude stürmen und die Geiseln befreien zu können. Für mehr als 100 Geiseln wirkte das

971

EGMR Nr. 45076/05, Arskaya v Ukraine, 05.12.2013, § 62; Schübel-Pfister, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 2 Rn. 1, 30; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 20 Rn. 18 (die im Folgenden einen Überblick über die einzelnen Fallgruppen geben); Meyer-Ladewig / Huber, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  2 Rn.  10; Gaede, in: Knauer, MüKoStPO, Art. 2 EMRK Rn. 14. 972 EGMR Nr. 50385/99, Makaratzis v Griechenland (GK), 20.12.2004, §§ 57–59. Dem  – knapper  – folgend EGMR Nr. 43577/98 und 43579/98, Nachova u. a. v Bulgarien (GK), 06.07.2005, §§ 93, 96; Nr. 23458/02, Giuliani und Gaggio v Italien (GK), 24.04.2011, § 209; Nr. 18299/03 und 27311/03, Finogenov u. a. v Russland, 20.12.2011, § 207; Nr. 11327/14 und 11613/14, Haász und Szabó v Ungarn, 13.10.2015, §§ 49, 54; Nr. 26562/07 u. a., Tagayeva u. a. v Russland, 13.04.2017, § 592; Nr. 37795/13, Tekin und Arslan v Belgien, 05.09.2017, §§ 84, 92–94. 973 Einen Verstoß wegen defizitärer Regelungen für die Anwendung tödlicher Gewalt stellte der EGMR fest in EGMR Nr. 43577/98 und 43579/98, Nachova u. a. v Bulgarien (GK), 06.07.2005, §§ 99–102. Ein Beispiel für eine ausreichende Regelung des Einsatzes von Feuerwaffen jedoch in EGMR Nr. 50939/99, Bakan v Türkei, 12.06.2007, § 51.

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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Gas jedoch tödlich.974 Der EGMR konnte, weil ihm nicht genug Fakten über die Zusammensetzung des Gases zur Verfügung gestellt wurden, nicht prüfen, ob dessen Einsatz von den Eingriffsgrundlagen, welche allein auf konventionelle Waffen abstellten, gedeckt war. Da es sich jedoch, so der EGMR, um eine außergewöhnliche und unvorhersehbare Situation gehandelt habe, mussten andere Maßstäbe an die rechtliche Grundlage angelegt werden als bei routinierten Polizeieinsätzen.975 Zwar muss sich jede hoheitliche tödliche Gewaltanwendung auf eine gesetzliche Grundlage stützen können, die Anforderungen an deren Bestimmtheit sinken jedoch, wenn die Schutzpflicht des Staates besonders evident ist und eine unvorhersehbare und atypische Situation vorliegt.976 Es zeigt sich also, dass die in Art. 2 EMRK geforderten rechtlichen Grundlagen zwar ebenso wie in den anderen Normen bestimmt sein müssen und Willkür verhindern sollen. Der in dem Charakter als Schutzpflicht begründete flexible Umgang mit dem Bestimmtheitserfordernis sowie die Tatsache, dass der EGMR selbst keinen Bezug zwischen dem Gesetzesverständnis aus Art. 2 EMRK und den anderen Normen herstellt, lassen es zwar möglich erscheinen, dass Art. 2 EMRK der gleiche qualitative Gesetzesbegriff zugrunde liegt, einen eindeutigen Beweis liefert die Rechtsprechung hierfür aber nicht.977 j) Sonderfall: Art. 6 Abs. 1 EMRK Gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK verlangt das Recht auf Zugang zum Gericht, dass das den Rechtsstreit entscheidende Gericht „durch Gesetz“ eingerichtet worden sein muss. Anders als bei den Gesetzesvorbehalten der anderen Konventionsrechte, welche einen qualitativen, materiellen Gesetzesbegriff zugrunde legen, fordert der EGMR für den Organisationsvorbehalt des Art. 6 Abs. 1 EMRK, dass das Gesetz vom Parlament ausgeht (emanating from Parliament). „[T]he object of the term ‚established by law‘ in Article 6 of the Convention is to ensure ‚that the judicial organisation in a democratic society does not depend on the discretion of the executive, but that it is regulated by law emanating from Parliament‘ […]. Nor, in countries where the law is codified, can the organisation of the judicial system be left to the discretion of

974

EGMR Nr. 18299/03 und 27311/03, Finogenov u. a. v Russland, 20.12.2011, §§ 2, 22, 24. EGMR Nr. 18299/03 und 27311/03, Finogenov u. a. v Russland, 20.12.2011, §§ 229–230. 976 EGMR Nr. 18299/03 und 27311/03, Finogenov u. a. v Russland, 20.12.2011, §§ 207–209. 977 Siehe aber Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 2 EMRK Rn. 33, der auch Art. 2 EMRK den einheitlichen Gesetzesbegriff zugrunde legt, allerdings ohne diesen zu definieren; Peters /  Altwicker, EMRK, § 5 Rn. 15, weisen darauf hin, dass bei Art. 2 Abs. 2 EMRK wegen des Stellenwertes des Konventionsrechts auf Leben von einem Gesetzesvorbehalt auszugehen ist. Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes, S. 143 sieht nur in Art. 2 Abs. 2 lit. c) einen Gesetzesvorbehalt; ebenso bereits Matscher, Der Gesetzesbegriff der EMRK, in: Adamovich, FS Loebenstein, S. 105 (106). 975

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

the judicial authorities, although this does not mean that the courts do not have some latitude to interpret relevant domestic legislation […].“978

Die abweichende Formulierung des EGMR für den gerichtlichen Organisationsvorbehalt sowie die fehlenden Verweise auf die Rechtsprechung zu den anderen Konventionsrechten lassen darauf schließen, dass der EGMR andere Anforderungen an das Gesetz im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK als an die anderen Gesetzesvorbehalte stellt. Einzig im Rahmen des Organisationsvorbehalts zur Einrichtung des Gerichts formulierte der EGMR einen parlamentarischen Vorrang gegenüber den anderen Gewalten. Im Schrifttum wird der Gesetzesbegriff gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK häufig in einem Zug mit dem einheitlichen Gesetzesbegriff der anderen Konventionsrechte genannt,979 wobei sich im deutschsprachigen Schrifttum die Ansicht durchgesetzt hat, dass das Gesetz, welches Eingriffe in Konventionsrechte ermöglicht, auf eine parlamentarische Entscheidung zurückzuführen sein muss.980 Hierfür wird zum Teil explizit die Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK als Beleg herangezogen.981 Die Sonderrolle des Organisationsvorbehalts gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK wird selten hervorgehoben.982 Da der EGMR in seiner Rechtsprechung zum Organisationsvorbehalt weder auf die Rechtsprechung zu den Einschränkungsvorbehalten rekurriert, noch die gleichen inhaltlichen Maßstäbe anlegt, muss der Gesetzesbegriff des Art. 6 Abs. 1 EMRK gesondert untersucht werden.

978

EGMR Nr. 57774/13, Miracle Europe EFT v Ungarn, 12.01.2016, § 51. Ebenso bereits EGMR Nr. 32492/96 u. a., Coëme u. a. v Belgien, 22.06.2000, § 98; Nr. 29458/04 und 29465/04, Sokurenko and Strygun v Ukraine, 20.07.2006, § 23; Nr. 17214/05, 42113/04 und 20329/05, Savino u. a. v Italien, 28.04.2009, § 94; Nr. 4313/04, Gorguiladzé v Georgien, 20.10.2009, § 69; Nr. 30323/02, Pandjikidzé u. a. v Georgien, 27.10.2009, § 105; Nr. 19334/03, DMD Group, a. S. v Slowakei, 05.10.2010, § 60; Nr. 8014/07, Fruni v Slowakei, 21.06.2011, § 134; Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 150. 979 Siehe z. B. Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 112; Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes, S. 143; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 721; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 185; Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 531 (1992); Matscher, Der Gesetzesbegriff der EMRK, in: Adamovich, FS Loeben­ stein, S. 105 (106); Lupo / Piccirilli, Legisprudence 6 (2012), S. 229 (231). 980 Siehe näher zu der Frage, ob der allgemeine Gesetzesvorbehalt als formeller Gesetzesvorbehalt zu verstehen ist ab S. 294. 981 Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 128 zum Urteil Coëme v Belgien. Vgl. auch Lupo / Piccirilli, Legisprudence 6 (2012), S. 229 (232–237), die Urteile zum Orga­ nisationsvorbehalt gleichbedeutend mit Urteilen zu den übrigen Gesetzesbegriffen analysieren, um die Entwicklung des konventionsrechtlichen Gesetzesverständnisses darzustellen. 982 So aber Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 50–51; Milano, Le droit à un tribunal, Rn. 103; Steiner, The Rule of Law in the Jurisprudence of the ECtHR, in: Schroeder, Strengthening the Rule of Law in Europe, S. 135 (150).

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

227

k) Sonderfall: Art. 5 Abs. 3 EMRK Auch Art. 5 Abs. 3 EMRK enthält einen gesetzlichen Ausgestaltungsvorbehalt.983 Personen in Untersuchungs- oder Präventivhaft müssen entweder einem Richter oder einer Personen vorgeführt werden, die gesetzlich zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben ermächtigt ist (other officer authorised by law to exercise judicial power / un autre magistrat habilité par la loi à exercer des fonctions judiciaires). In der Leitentscheidung Schiesser v Schweiz unterschied der EGMR zwischen drei zu prüfenden Komponenten: 1) Person (officer / magistrat), 2) gesetzlich ermächtigt und 3) richterliche Aufgaben, wobei er die erste und die dritte Komponente gemeinsam betrachtete.984 Sowohl in Schiesser v Schweiz als auch in späteren Urteilen war vor allem die mit einem Richter vergleichbare Stellung der ermächtigten Person problematisch.985 Hinsichtlich des Gesetzes verwies der EGMR im Schiesser-Urteil schlicht darauf, dass die Befugnisse über das Kantons-Gesetz übertragen wurden.986 Anschließend wurde die zweite Komponente in der Regel gar nicht mehr angesprochen.987 In wenigen älteren Urteilen entschied der EGMR, dass die Kompetenzen der ermächtigten Person verbindlich gesetzlich festgeschrieben sein müssen und dass eine ständige Praxis nicht ausreicht.988 Auch die Kommentar-Literatur äußert sich – angesichts der Rechtsprechung wenig überraschend – kaum zum Gesetzesbegriff des Art. 5 Abs. 3 EMRK und fokussiert sich auf Status und Kompetenzen der ermächtigten Person.989 Esser nimmt – ohne Anhaltspunkte in der Rechtsprechung – den materiellen Gesetzesbegriff der Art. 8–11 Abs. 2 EMRK an.990 Ob ihm zu folgen ist oder ob möglicherweise eher das Gesetzesverständnis des Art. 6 Abs. 1 EMRK Anwendung finden sollte, ist im Rahmen der weiterführenden Analyse zu klären. 983 Als Gesetzesvorbehalt bezeichnet bei Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes, S. 143; Matscher, Der Gesetzesbegriff der EMRK, in: Adamovich, FS Loebenstein, S. 105 (106). 984 EGMR Nr. 7710/76, Schiesser v Schweiz, 04.12.1979, § 26. 985 EGMR Nr. 7710/76, Schiesser v Schweiz, 04.12.1979, §§ 27–38; siehe außerdem exem­ plarisch EGMR Nr. 24760/94, Assenov u. a. v Bulgarien, 28.10.1998, § 146; Nr. 3394/03, ­Medvedyev u. a. v Frankreich (GK), 29.03.2010, § 124. 986 EGMR Nr. 7710/76, Schiesser v Schweiz, 04.12.1979, § 26. 987 Siehe beispielhaft EGMR Nr. 24760/94, Assenov u. a. v Bulgarien, 28.10.1998, §§ ­146–150; Nr. 37104/06, Moulin v Frankreich, 23.11.2010, §§ 46, 55–59; Nr. 32602/08, Stokłosa v Polen, 03.11.2011, §§ 30–31. 988 EGMR Nr. 9626/81 und 9736/82, Duinhof und Duijf v Niederlande, 22.05.1984, § 34; Nr. 8805/79, 8806/79 und 9242/81, de Jong, Baljet und van den Brink v Niederlande, 22.05.1984, § 48; Nr. 27267/95, Hood v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, § 60. 989 Ohne Ausführungen etwa z. B. Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  5 Rn.  76–77; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 13, Rn. 53–54; Renzikowski, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 5 Rn. 280–283 (2016); Elberling, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 5 Rn. 112. 990 Esser, Strafverfahrensrecht, S. 264. In Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 208–209 wiederholt er diese Aussage jedoch nicht mehr.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

l) Zwischenfazit Die Ausgestaltungsvorbehalte in Art. 7 EMRK, Art. 5 Abs. 4 EMRK, Art. 2 Abs. 1 ZP 4 und Art. 1 Abs. 1 ZP 7 entsprechen dem Verständnis der Einschränkungsvorbehalte. Die Ausgestaltungsvorbehalte aus Art. 12 EMRK, Art. 3 ZP 7 sowie aus der Unschuldsvermutung gemäß Art. 6 Abs. 2 EMRK wurden vom EGMR nicht näher definiert. Art. 1 ZP 12 verbietet zwar Diskriminierungen durch Gesetz, gleichzeitig aber auch durch behördliches Handeln, sodass eine Definition des Gesetzesbegriffs entbehrlich ist. Ob gemäß Art. 4 ZP 7 eine rechtmäßige Verurteilung vorliegt, hat der EGMR jüngst anhand der qualitativen Gesetzesmerkmale geprüft. Hieran zeigte sich, dass eine Verwendung eines strengen Gesetzesverständnisses die Gefahr birgt, dass die Konventionsstaaten selbst über den Gewährleistungsgehalt eines Konventionsrechts entscheiden können. Unabhängig von der ausgestaltenden oder einschränkenden Funktion eines Gesetzes liegt den geschriebenen Gesetzesvorbehalten bis auf eine Ausnahme somit ein einheitliches Verständnis zugrunde. Der Organisationsvorbehalt des Art. 6 Abs. 1 EMRK, welcher ein durch Gesetz eingerichtetes Gericht fordert, stellt jedoch andere Anforderungen an das Gesetz. Statt auf die Zugänglichkeit, die Vorhersehbarkeit und den Willkürschutz abzustellen, unterschied der EGMR hier zwischen den verschiedenen Gewalten und wollte verhindern, dass eine andere Gewalt als die Legislative ermessensfrei Gerichte einrichten kann. Dieser andere Fokus des EGMR im Rahmen der Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK macht es notwendig, die Merkmale des dort genannten Gesetzesbegriffs separat zu untersuchen. Im Rahmen des Art. 5 Abs. 3 EMRK hat das Gesetz die gleiche organisatorische Funktion. Die Rechtsprechung lässt jedoch bislang offen, ob der Gesetzesbegriff des Art. 5 Abs. 3 EMRK dem des Art. 5 Abs. 1 EMRK oder dem der anderen Konventionsrechte folgt. 3. Die impliziten Beschränkungen (implied limitations) Neben den Grundrechten mit den ausdrücklichen Einschränkungsvorbehalten stehen diejenigen Gewährleistungen der EMRK, deren Wortlaut keine Beschränkung vorsieht, für die aber – anders als bei den tatsächlich uneinschränkbaren Rechten aus Art. 3 und 4 EMRK – implizite Beschränkungsmöglichkeiten anerkannt sind. Hierzu gehören das Recht auf Zugang zum Gericht aus Art. 6 Abs. 1 EMRK,991 das Wahlrecht aus Art. 3 ZP sowie das Recht auf Bildung aus Art. 2 ZP.992 991 In diesem Fall geht es um die impliziten Beschränkungen des Rechts auf Zugang zum Gericht und ein faires Verfahren; diese sind abzugrenzen von dem Ausgestaltungsvorbehalt für die Einrichtung des Gerichts, hierzu S. 225. 992 Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 147 Rn. 4, 55; Lavrysen, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 307 (309); Marauhn / 

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a) Der Belgische Sprachenfall und der Golder-Fall als Anfänge einer einheitlichen Rechtsprechungslinie zu Art. 6 Abs. 1, Art. 5 Abs. 4 EMRK, Art. 2 und 3 ZP Im Belgischen Sprachenfall fanden sich die ersten Hinweise zu impliziten Beschränkungsmöglichkeiten des Rechts auf Bildung gemäß Art. 2 ZP: „The right to education guaranteed by the first sentence of Article 2 of the Protocol […] by its very nature calls for regulation by the State, regulation which may vary in time and place according to the needs and resources of the community and of individuals. It goes without saying that such regulation must never injure the substance of the right to education nor conflict with other rights enshrined in the Convention. […] The Convention […] implies a just balance between the protection of the general interest of the Community and the respect due to fundamental human rights while attaching particular importance to the latter.“993

Diese Definition war anschließend Grundlage für das Judikat in der Sache Golder, die erstmals die implied limitations für das Recht auf Zugang zum Gericht anerkannte.994 Im Sinne einer einheitlichen Konventionsauslegung gelten die implied limitations auch für das spezielle Recht auf Zugang zum Haftprüfungsgericht aus Art. 5 Abs. 4 EMRK.995 Auch für das Wahlrecht aus Art. 3 ZP nahm der EGMR implied limitations an.996 In allen Fällen musste die einschränkende Merhof, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  7 Rn.  41; ­Golubok, NQHR 2009, S. 361 (371). Arai, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, 4. Aufl., S. 333 (343–344) nennt Art. 2 ZP nicht, will dafür aber Art. 1 ZP einbeziehen. Nach der hier vertretenen Auffassung handelt es sich bei den Eingriffen gem. Art. 1 Abs. 1 S. 1 ZP aber um eine Übertragung der Schranken aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 ZP, siehe dazu bereits oben ab S. 214. 993 EGMR Nr. 1474/62 u. a., Case „relating to certain aspects of the laws on the use of languages in the education in Belgium“ v Belgien (Begr.), 23.07.1968, § 5. In der Folge zu Art. 2 ZP: EGMR Nr. 44774/98, Leyla Şahin v Türkei (GK), 10.11.2005, § 154; Nr. 43370/04, 18454/06 und 8252/05, Catan u. a. v Moldawien und Russland (GK), 19.10.2012, § 140; Nr. 25851/09, 29284/09 und 64090/09, Tarantino u. a. v Italien, 02.04.2013, §§ 44–45; Nr. 16032/07, Velyo Velev v Bulgarien, 27.05.2014, § 32; Nr. 37991/12, Memlinka v Griechenland, 06.10.2015, § 50; Nr. 56443/11, Flămînzeanu v Rumänien, 19.03.2019, § 38. Siehe außerdem die Nachweise bei Schabas, ECHR, Art. 2 ZP, S. 996. 994 EGMR Nr. 4451/70, Golder v Vereinigtes Königreich (Pl.), 21.02.1975, § 38. Anschließend etwa EGMR Nr. 8225/78, Ashingdane v Vereinigtes Königreich, 28.05.1985, § 57; Nr. 76943/11, Lupeni Greek Catholic Parish u. a. v Rumänien (GK), 29.11.2016, § 89; Nr. 51357/07, NaïtLiman v Schweiz (GK), 15.03.2018, § 114; Nr. 5809/08, Al-Dulimi und Montana Management Inc. v Schweiz (GK), 21.06.2016, § 129; Nr. 40160/12, Zubac v Kroatien (GK), 05.04.2018, § 78. Siehe hierzu auch Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (553); Arai, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, 4. Aufl., S. 333 (343); Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 779; Milano, Le droit à un tribunal, Rn. 248. 995 EGMR Nr. 38822/97, Shishkov v Bulgarien, 09.01.2003, §§ 84–85; Nr. 12788/04, Homann v Deutschland (Zul.), 09.05.2007. 996 EGMR Nr. 9267/81, Mathieu-Mohin und Clerfayt v Belgien (Pl.), 02.03.1987, § 52 (mit Verweis auf Golder); Nr. 46726/99, Podkolzina v Lettland, 09.04.2002, § 33; Nr. 58278/00,

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Maßnahme ein legitimes Ziel verfolgen, verhältnismäßig sein und durfte den Kerngehalt der Gewährleistung nicht antasten.997 Hauptsächlich bestimmt sich die Konventionskonformität von Einschränkungen der Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 2 und 3 ZP nach inhaltlichen Maßstäben.998 b) Dogmatische Einordnung Im Schrifttum variiert die dogmatische Einordnung der implied limitations. Nach Ehlers und Ibing schließen implied limitations ein Verhalten aus dem Schutzbereich des Konventionsrechts aus, sodass bereits kein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff vorliegt.999 Innerhalb des Schutzbereichs stelle jeder Eingriff eine Konventionsverletzung dar, sodass diese Rechte auch absolut gewährt würden.1000 Der EGMR begrenze die inhaltliche Ausgestaltung des Schutzbereichs.1001 Andere Stimmen setzen die implied limitations mit den Schranken aus Art. 8–11 Abs. 2 EMRK gleich und sehen in ihnen eine Rechtfertigungsvoraussetzung.1002 Nach Lavrysen enthalten die implied limitations keine gesetzliche Grundlage.1003 Eine implied limitation müsse ein legitimes Ziel verfolgen und verhältnismäßig sein, ein legality test werde aber nicht durchgeführt.1004 Peters und Altwicker weisen darauf hin, dass implizite Schranken in engen Grenzen akzeptiert wer-

Ždanoka v Lettland (GK), 16.03.2006, §§ 103–104; Nr. 75947/11, Davydov v Russland, 30.05.2017, § 272; Nr. 14305/17, Selahattin Demirtaş v Türkei Nr. 2 (GK), 22.12.2020, § 387; Nr. 58302/10, G. K. v Belgien, 21.05.2019, § 51. Siehe für weitere Nachweise außerdem Arai, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, 4. Aufl., S. 333 (343). 997 Siehe dafür erneut die Urteile in den letzten vier Fußnoten. Zusammenfassend Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 147 Rn. 56. 998 Für eine Übersicht zulässiger und unzulässiger Beschränkungen des Rechts auf Zugang zum Gericht gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK siehe etwa Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 36–41; Harris u. a., Law of the ECHR, S. 403–410; zu Art. 2 ZP siehe Hanschmann, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim /  von Raumer, EMRK, Art. 2 ZP  Rn.  10–14; für Art. 3 ZP siehe Richter, in: Dörr / Grote /  Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 25 Rn. 116–127; Golubok, NQHR 2009, S. 361 (372–376). 999 Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 72; Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 106. 1000 Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 107 mit Verweis auf Berka, ÖZöRV 37 (1986), S. 71 (81). So auch Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis, S. 58 für Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 2. 1001 Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 107 m. w. N. zum französischen Schrifttum; Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis, S. 91. 1002 Allgemein Peters / Altwicker, EMRK, § 3 Rn. 20. Jeweils nur bezogen auf das Wahlrecht Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  25 Rn.  114, 118; Arndt, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 3 ZP Rn. 10. 1003 Lavrysen, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 307 (309–310). 1004 Ähnlich auch Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 18 Rn. 13, 16, 19, die die implied limita­ tions nur im Rahmen der Verhältnismäßigkeit erwähnen.

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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den dürften. Neben der Verhältnismäßigkeit müsse auch ein Gesetzesvorbehalt vorliegen.1005 Anders als die nach dem GG anerkannten verfassungsimmanenten Schranken ergibt sich die Beschränkbarkeit der Konventionsrechte nicht aus entgegenstehenden Konventionsrechten oder in der EMRK verankerten Werten,1006 sondern aus dem jeweiligen Konventionsrecht selbst. Der Grund für die Anerkennung der impliziten Schranken ist die in Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 2 und 3 ZP angelegte Ausgestaltungsbedürftigkeit. Bei diesen Konventionsrechten handelt es sich um Organisationsgarantien,1007 die nicht lediglich eine abwehrrechtliche Funktion haben und von den Staaten die Nichteinmischung in freiheitliche Sphären der Bürger verlangen, sondern außerdem ein aktives Handeln des Staates voraussetzen. Diese ausgestaltenden Regelungen, die in jedem Staat unterschiedlich ausfallen können, schränken gleichzeitig die Ausübung der jeweiligen Rechte ein; der EGMR gesteht den Staaten hierbei für alle Rechte einen weiten Gestaltungsspielraum (margin of appreciation) zu:1008 Die Staaten sind verpflichtet, Rechtsbehelfe zu schaffen, welche den Bürgern den Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK ermöglichen. „[…] Article 6 § 1 of the Convention imposes on the Contracting States the duty to organise their legal systems in such a way that their courts can meet each of the requirements of that provision […].“1009

Dafür müssen die Staaten insbesondere Zulässigkeitsvoraussetzungen festlegen; dies impliziert nicht nur die Möglichkeit, einen Rechtsbehelf einzulegen, sondern auch die Grenzen des Rechts auf Zugang zum Gericht.1010 Die Staaten sind nach 1005

Peters / Altwicker, EMRK, § 3 Rn. 20; ebenso Arndt, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 3 ZP Rn. 10 mit Verweis auf Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  25 Rn.  116. 1006 Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 147 Rn. 55. Im deutschsprachigen Schrifttum wird diskutiert, ob die EMRK auch konventionsimmanente Schranken aus entgegenstehenden Konventionsrechten kennt; siehe zustimmend, aber ohne Begründung etwa Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 72; ablehnend Marauhn / Merhof, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 7 Rn. 19; Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten /  Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 147 Rn. 55. 1007 Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 147 Rn. 4, 55. 1008 Siehe dafür erneut die Urteile in Fn. 993, 994, 996. 1009 EGMR Nr. 75529/01, Sürmeli v Deutschland (GK), 08.06.2006, § 129; Nr. 32163/09, Cuško v Lettland, 07.12.2007, § 40; Nr. 5485/10, Mykhalnychenko v Ukraine (Zul.), 09.06.2020, § 31; dazu auch Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 462–463 mit Fokus auf die Organisation von Strafverfahren. 1010 EGMR Nr. 17402/08, Lanschützer GmbH v Österreich (Zul.), 18.03.2014, §§ 30–36; Nr. 21920/93, Levages Prestations Services v Frankreich, 23.10.1996, § 40; Nr. 21444/11, Henrioud v Frankreich (Zul.), 05.11.2015, § 56; Nr. 17914/10, Johansen v Deutschland, 15.09.2016, § 44; Nr. 30743/09, Kuparadze v Georgien, 21.09.2017, § 75; Nr. 39718/09, Kereselidze v Georgien, 28.03.2019, § 36.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Art. 2 ZP verpflichtet, Bildungseinrichtungen zu errichten und jedem die Teilhabe an der Bildung zu ermöglichen.1011 Schließlich sind sie verpflichtet, eine gesetzgebende Körperschaft im Sinne des Art. 3 ZP einzurichten und zu erhalten und regelmäßig Wahlen zu jenem Organ durchzuführen.1012 Die Staaten müssen also strukturelle Voraussetzungen schaffen, damit die Konventionsrechte überhaupt ausgeübt werden können. Neben der Möglichkeit der Beschränkung übernimmt das Gesetz in den Fällen der Organisationsgarantien also auch die Aufgabe, die Rechte auszugestalten  – denn ohne die hoheitliche Regelung ist der Gewährleistungsgehalt der Konventionsrechte nicht zu bestimmen.1013 Die implizite Schranke hat in diesem Fall eine Doppelrolle ähnlich der Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG:1014 sie ist Ausgestaltungs- und Einschränkungsvorbehalt zugleich.1015 Die einheitlichen qualitativen Anforderungen gelten für alle Einschränkungsvorbehalte sowie für einige, aber nicht für alle Ausgestaltungsvorbehalte. Es stellt sich also die Frage, ob die implied limitations ebenso eine gesetzliche Regelung bestimmter Qualität fordern. c) Gesetzliche Grundlage als Bestandteil der implied limitations Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass die Rechtfertigungsprüfung der geschriebenen besonderen Schranken und der impliziten Beschränkungen nach einer vergleichbaren Struktur vorgenommen wird und somit auch bei den impliziten Beschränkungen eine gesetzliche Grundlage vorliegen muss. Vor allem in Entscheidungen zu Art. 2 ZP finden sich Vergleiche der Rechtfertigungsprüfung gemäß Art. 8–11 Abs. 2 EMRK und den implied limitations:

1011 Grundlegend EGMR Nr. 1474/62 u. a., Case „relating to certain aspects of the laws on the use of languages in the education in Belgium“ v Belgien (Begr.), 23.07.1968, § 3; Schweizer, Allgemeine Grundsätze, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 138 Rn. 76; Langenfeld, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  23 Rn.  9, 15. 1012 Siehe dazu bereits oben ab S. 141. 1013 Vgl. so allgemein für die Gruppe der normgeprägten Rechte Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 702. 1014 Auch im Fall der grundgesetzlichen Eigentumsfreiheit wird anerkannt, dass eine Ausgestaltung gleichzeitig eine Einschränkung sein kann und dass diesbezüglich nicht immer eine eindeutige Unterscheidung getroffen werden kann, Axer, in: Epping / Hillgruber, Beck’scher OK GG, Art. 14 Rn. 13 (2021); Papier / Shirvani, in: Dürig / Herzog / Scholz, GG, Art. 14 Rn. 417 m. w. N. zur Diskussion. 1015 Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 703 zur Ausgestaltung des Rechts auf ein faires Verfahrens: „[Die] staatlichen Verfahrensregelungen [stellen] nicht allein auf Grund ihrer Regelung sogleich rechtfertigungsbedürftige Eingriffe dar.“ A. A. Langenfeld, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 23 Rn. 34: Eine Ausgestaltung des Rechts auf Bildung gem. Art. 2 ZP stelle auch dann keine Grundrechtsbeeinträchtigung dar, wenn sie zu ungünstigen Rückwirkungen für die Ausübung des Konventionsrechts führt.

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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„However, unlike the position with respect to Articles 8 to 11 of the Convention, it is not bound by an exhaustive list of ‚legitimate aims‘ under Article 2 of Protocol No. 1.“1016

Mit diesem Satz hob der EGMR deutlich den (einzigen) Unterschied zwischen beiden Rechtfertigungsprüfungen hervor. Die Rechtfertigungsvoraussetzungen der Verhältnismäßigkeit und des Wesensgehalts der Garantien werden auch bei den implied limitations geprüft.1017 Dies legt nahe, dass die Rechtfertigungsprüfung in beiden Fällen gleich strukturiert1018 ist und auch eine rechtliche Grundlage für den Eingriff vorliegen muss. In der Sache Podkolzina forderte der EGMR auch im Fall einer impliziten Beschränkung eine materielle rechtliche Grundlage. Nach den lettischen Gesetzen mussten Kandidaten, die sich zur Wahl stellten, nachweisen, dass sie über ausreichende lettische Sprachkenntnisse verfügten. Eine solche Ausgestaltung widersprach nicht per se den Anforderungen des Art. 3 ZP.1019 Die Beschwerdeführerin wurde allerdings aufgefordert, einen erneuten Sprachtest abzulegen, obwohl sie den erforderlichen Nachweis bereits erbracht hatte. Von 21 Kandidaten, die den Sprachnachweis ursprünglich erbringen mussten, wurden nur neun zu dieser Nachprüfung aufgefordert. Der EGMR äußerte seine Zweifel daran, dass für die ungleiche Behandlung der Kandidaten eine rechtliche Grundlage vorlag.1020 An dieser Stelle prüfte der EGMR jedoch nicht weiter, weil die Streichung von der Wahlliste wegen eines Verstoßes gegen die Grundsätze des fairen Verfahrens und der Rechtssicherheit ohnehin unverhältnismäßig war.1021 Das Erfordernis der rechtlichen Grundlage war also nicht entscheidungserheblich. Seit 2014 erwähnt der EGMR im Rahmen des Art. 3 ZP immer wieder, dass sich aus Art. 3 ZP zwar nicht ausdrücklich ein Rechtmäßigkeitserfordernis ergibt, dass dieses aber gleichwohl aus der der EMRK inhärenten rule of law abgeleitet werden kann. Die sich aus Art. 3 ZP ergebenden staatlichen Verpflichtungen müssten mittels eines rechtlichen Rahmens (regulatory / legislative framework) umgesetzt werden, welcher von allen hoheitlichen Amtsträgern eingehalten werden muss.1022 1016

EGMR Nr. 16032/07, Velyo Velev v Bulgarien, 27.05.2014, § 32; inhaltsgleich EGMR Nr. 44774/98, Leyla Şahin v Türkei (GK), 10.11.2005, § 154; Nr. 43370/04, 18454/06 und 8252/05, Catan u. a. v Moldawien und Russland (GK), 19.10.2012, § 140; Nr. 25851/09, 29284/09 und 64090/09, Tarantino u. a. v Italien, 02.04.2013, §§ 44–45; Nr. 37991/12, Memlinka v Griechenland, 06.10.2015, § 50; Nr. 56443/11, Flămînzeanu v Rumänien, 19.03.2019, § 38; vgl. auch Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  25 Rn.  118. 1017 Siehe dafür erneut die Urteile in Fn. 993, 994, 996. 1018 Siehe auch das Urteil EGMR Nr. 44774/98, Leyla Şahin v Türkei (GK), 10.11.2005, §§ 157–162: der EGMR prüft hier die Rechtfertigung eines Eingriffs in das Recht auf Bildung gem. Art. 2 ZP und verweist in diesem Zusammenhang auf die zuvor durchgeführte Rechtfertigungsprüfung gem. Art. 9 Abs. 2 EMRK. 1019 EGMR Nr. 46726/99, Podkolzina v Lettland, 09.04.2002, § 34. 1020 EGMR Nr. 46726/99, Podkolzina v Lettland, 09.04.2002, § 36. 1021 EGMR Nr. 46726/99, Podkolzina v Lettland, 09.04.2002, § 36. 1022 EGMR Nr. 12535/06, Karimov v Aserbaidschan, 25.09.2014, § 42; Nr. 41683/06, Paunović und Milivojević v Serbien, 24.05.2016, § 61; Nr. 58302/10, G. K. v Belgien, 21.05.2019, § 57;

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Außerdem prüfte der EGMR insbesondere in den Fällen des Art. 2 ZP,1023 teils auch in Fällen des Art. 6 Abs. 1 EMRK1024 und des Art. 3 ZP1025 die Vorhersehbarkeit der hoheitlichen Maßnahme. In de Geouffre de la Pradelle v Frankreich lag eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor, weil nicht klar war, wo prozessrelevante Verwaltungsentscheidungen veröffentlicht wurden.1026 In Kovach v Ukraine handelten die Wahlkommission und das Oberste Gericht willkürlich, weil sie sich nicht mit dem Widerspruch der anwendbaren Gesetze auseinandersetzten.1027 Hierbei handelte es sich um die gleichen qualitativen Anforderungen an die einschränkende Maßnahme wie bei den geschriebenen Schranken, auch wenn das Erfordernis einer innerstaatlichen Rechtsgrundlage anders als in den Fällen der ausdrücklichen Schranken in den Urteilen zu den implied limitations nicht ausdrücklich genannt wird.1028 Die Ausgestaltung der Organisationsgarantien aus Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 2 und 3 ZP setzen abstrakt-generelle Regelungen voraus – weder die Organisation eines Gerichtssystems noch eines Bildungssystems oder eines Wahlsystems kann auf konkret-individuellen Entscheidungen beruhen. Es verwundert nicht, dass der stets auf die Entscheidung des Einzelfalls bedachte EGMR nicht auf die gesetz­ liche Grundlage einging, wenn diese unproblematisch vorlag. Implizite Beschränkungen stellen sich dogmatisch als eine Mischform des Einschränkungs- und des Ausgestaltungsvorbehalts dar. Bislang hat der EGMR die erforderliche Gesetzesqualität selten ausführlich geprüft. Die Tatsache aber, dass der EGMR allen Einschränkungsvorbehalten und einigen Ausgestaltungsvorbehalten ein einheitliches Gesetzesverständnis zugrunde legt und dass er die qualitativen Gesetzeselemente gelegentlich auch im Rahmen der implied limitations anspricht, legt nahe, dass Nr. 8513/11, Abil v Aserbaidschan Nr. 2, 05.12.2019, § 66; Nr. 310/15, Mugemangango v Belgien (GK), 10.07.2020, § 109; Schabas, ECHR, Art. 3 ZP, S. 1024. 1023 EGMR Nr. 44774/98, Leyla Şahin v Türkei (GK), 10.11.2005, § 154; Nr. 43370/04, 18454/06 und 8252/05, Catan u. a. v Moldawien und Russland (GK), 19.10.2012, § 140; Nr. 25851/09, 29284/09 und 64090/09, Tarantino u. a. v Italien, 02.04.2013, § 45; Nr. 16032/07, Velyo Velev v Bulgarien, 27.05.2014, § 32; Nr. 37991/12, Memlinka v Griechenland, 06.10.2015, § 50; Nr. 56443/11, Flămînzeanu v Rumänien, 19.03.2019, § 38. 1024 EGMR Nr. 21920/93, Levages Prestations Services v Frankreich, 23.10.1996, § 42 (hier begründet der EGMR die Vorhersehbarkeit u. a. mit der Zugänglichkeit der die Norm betreffende Rechtsprechung); Nr. 17402/08, Lanschützer GmbH v Österreich (Zul.), 18.03.2014, §§ 33–34; Nr. 40160/12, Zubac v Kroatien (GK), 05.04.2018, §§ 87–89. 1025 EGMR Nr. 37700/05, Seyidzade v Aserbaidschan, 03.12.2009, § 33; Nr. 30386/05, Ekoglasnost v Bulgarien, 06.11.2012, § 62; Nr. 48555/10 und 48377/10, Riza u. a. v Bulgarien, 13.10.2015, § 176; Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 25 Rn. 119. 1026 EGMR Nr. 12964/87, de Geouffre de la Pradelle v Frankreich, 16.12.1992, §§ 33–34; hierzu Milano, Le droit à un tribunal, Rn. 317. 1027 EGMR Nr. 39424/02, Kovach v Ukraine, 07.02.2008, §§ 57–61; hierzu auch Golubok, NQHR 2009, S. 361 (374). 1028 Eine gesetzliche Grundlage für alle Einschränkungen, auch für die impliziten, fordert auch Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis, S. 56, dem folgend für Art. 6 Abs. 1 EMRK auch Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 720.

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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dieses Gesetzesverständnis auch für die impliziten Beschränkungen gilt. Für die spätere Analyse der einzelnen Gesetzesmerkmale ist die Rechtsprechung zu den implied limitations mangels ausführlicher Befassung mit dem Gesetzesbegriff jedoch kaum hilfreich. d) Sonderfall: Art. 2 Abs. 1, 2 ZP 7 In Art. 2 ZP 7, dem Recht auf ein Rechtsmittel in Strafsachen, wird der Gesetzesbegriff in zwei unterschiedlichen Funktionen verwendet. Die Ausübung des Rechts richtet sich nach dem Gesetz (shall be governed by law / sont régis par la loi) – das Gesetz hat hier also die Funktion, die Ausübung des Rechts auszugestalten und eröffnet somit einen Spielraum für den nationalen Gesetzgeber.1029 Absatz 2 schränkt das Recht für Straftaten geringfügiger Art ein, sofern diese nach dem Gesetz näher bestimmt sind (as prescribed by law / qu’elles sont définies par la loi). Damit handelt es sich hierbei also um einen Einschränkungsvorbehalt.1030 Beide Funktionen werden jedoch wegen ihres engen inhaltlichen Zusammenhangs gemeinsam behandelt.1031 Der EGMR stellt in den Urteilen zu Art. 2 ZP 7 nicht ausdrücklich auf die Formulierungen governed by law und prescribed by law ab. Stattdessen verweist der Gerichtshof – sowohl für die Ausgestaltung des Verfahrens gemäß Art. 2 Abs. 1 ZP 71032 als auch für die Einschränkung des Rechts bei geringfügigen Straftaten gemäß Abs. 21033 – auf die Rechtsprechung zu den impliziten Schranken des Art. 6 Abs. 1 EMRK. „[A]ny restrictions contained in domestic legislation on the right to a review mentioned in that provision must, by analogy with the right of access to a court embodied in Article 6 § 1 of the Convention, pursue a legitimate aim and not infringe the very essence of that right […].“1034 1029

EGMR Nr. 33050/96, Haser v Schweiz (Zul.), 27.04.2000: „La Cour rappelle que les Etats contractants disposent en principe d’un pouvoir discrétionnaire pour décider des modalités d’exercice du droit prévu par l’article 2 du Protocole N° 7 à la Convention.“; Schabas, ECHR, Art. 2 ZP 7, S. 1137; Sinner, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 15. 1030 Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes, S. 143 Fn. 7 ordnet Abs. 2 als Gesetzesvorbehalt ein; ebenso schon Matscher, Der Gesetzesbegriff der EMRK, in: Adamovich, FS Loeben­ stein, S. 105 (107) sowie Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 76. Schabas, ECHR, Art. 2 ZP 7, S. 1135–1136 bezeichnet diese Vorschrift als limitation bzw. exception. 1031 Vgl. auch Sinner, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 8, der beide sowohl den Abs. 2 als auch den Ausgestaltungsspielraum gem. Art. 2 Abs. 1 S. 2 ZP 7 als „Beschränkungen“ behandelt; ebenso Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 172–173; anders aber Schabas, ECHR, Art. 2 ZP 7, S. 1137. 1032 EGMR Nr. 33050/96, Haser v Schweiz (Zul.), 27.04.2000; EGMR Nr. 26986/03, Galstyan v Armenien, 15.11.2007, § 125; Nr. 5425/11, Ruslan Yakovenko v Ukraine, 04.06.2015, § 78. 1033 EGMR Nr. 29731/96, Krombach v Frankreich, 13.02.2001, § 96. 1034 So grundlegend EGMR Nr. 29731/96, Krombach v Frankreich, 13.02.2001, § 96. Siehe außerdem schon EGMR Nr. 33050/96, Haser v Schweiz (Zul.), 27.04.2000 sowie Krombach folgend EGMR Nr. 26986/03, Galstyan v Armenien, 15.11.2007, § 125; Nr. 17888/12, Shvydka v Ukraine, 30.10.2014, § 49; Nr. 5425/11, Ruslan Yakovenko v Ukraine, 04.06.2015, § 78.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Dies ist insofern konsequent, als Art. 2 ZP 7 die Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Zugang zum Gericht für Strafverfahren um eine zweite Instanz erweitert.1035 Beide Konventionsrechte ähneln sich sowohl strukturell in ihrem Gewährleistungsgehalt als auch in den möglichen Einschränkungen. Durch diese Rechtsprechung wird deutlich, dass der EGMR bislang nicht streng zwischen geschriebenen und impliziten Beschränkungen unterschied. Sie stützt die These, dass die Rechtfertigungsprüfung in beiden Fällen gleich strukturiert ist und dass auch die implied limitations eine rechtliche Grundlage fordern. Dadurch ist es unerheblich, dass er die Rechtsprechung zu den implied limitations gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK und nicht die zu den geschriebenen Schranken heranzieht. e) Sonderfall: Art. 13 EMRK Auch das Recht auf eine wirksame Beschwerde gemäß Art. 13 EMRK enthält keine geschriebene Schranke, ist aber vergleichbar ausgestaltungsbedürftig wie das Recht auf Zugang zum Gericht aus Art. 6 Abs. 1 EMRK: Die Staaten müssen eine innerstaatliche Instanz einrichten, welche einer Beschwerde abhelfen kann und dürfen den Zugang hierzu nicht ungerechtfertigt erschweren.1036 Solange die Beschwerdemöglichkeit wirksam ausgestaltet ist, verfügen die Konventionsstaaten über einen Gestaltungsspielraum.1037 Im Zentrum der Prüfungen von Art. 13 EMRK steht in der Regel die Wirksamkeit des zur Verfügung gestellten Rechtsbehelfs,1038 nicht die Frage einer Zugangsbeschränkung. Den Begriff der implied limitations verwendet der EGMR im Kontext des Art. 13 EMRK nicht. In einigen Fällen, in denen ein gerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens aus Art. 8 EMRK vorlag, nahm der EGMR eine inhärente Beschränkung (inherent limitation) des Rechts auf eine

1035

Schabas, ECHR, Art. 2 ZP 7, S. 1135: „Article 2 of Protocol No. 7 can be understood as an amendment that completes article 6 of the Convention.“ 1036 EGMR Nr. 38361/97, Anguelova v Bulgarien, 13.06.2002, § 161; Nr. 72286/01, Melnik v Ukraine, 28.03.2006, § 113; Nr. 7511/13, Husayn (Abu Zubaydah) v Polen, 24.07.2014, § 540; Nr. 47848/08, Centre for Legal Resources on behalf of Valentin Câmpeanu v Rumänien (GK), 17.07.2014, § 148; Nr. 11138/10, Mozer v Moldawien und Russland (GK), 23.02.2016, § 207; Nr. 44436/09, Beketov v Ukraine, 19.02.2019, § 148; Meyer-Ladewig / Renger, in: Meyer-­ Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  13 Rn. 3. 1037 EGMR Nr. 38361/97, Anguelova v Bulgarien, 13.06.2002, § 161; Nr. 7552/09, The Church of Jesus Christ of Latter-Day Saints v Vereinigtes Königreich, 04.03.2014, § 41; Nr. 11138/10, Mozer v Moldawien und Russland (GK), 23.02.2016, § 207; Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 20 Rn. 29; Meyer-Ladewig / Renger, in: Meyer-­ Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  13 Rn. 9. 1038 Siehe für einen Überblick zur Rechtsprechung Meyer-Ladewig / Renger, in: Meyer-­ Ladewig / ​Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  13 Rn. 9–39; Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 20 Rn. 30–58.

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wirksame Beschwerde gemäß Art. 13 EMRK an.1039 Die sich ähnelnden Begrifflichkeiten sowie die vergleichbaren staatlichen Verpflichtungen zur Einrichtung eines Zugangs zu einer Beschwerde- beziehungsweise Klagemöglichkeit werfen die Frage auf, ob die inherent limitations mit den implied limitations vergleichbar sind. Im Leiturteil für die inherent limitations Kudła v Polen erkannte der EGMR an, dass der Gewährleistungsumfang von Art. 13 EMRK nicht uneinschränkbar ist. „Admittedly, the protection afforded by Article 13 is not absolute. The context in which an alleged violation – or category of violations – occurs may entail inherent limitations on the conceivable remedy. In such circumstances Article 13 is not treated as being inapplicable but its requirement of an ‚effective remedy‘ is to be read as meaning ‚a remedy that is as effective as can be having regard to the restricted scope for recourse inherent in [the particular context]‘ (see the Klass and Others v. Germany judgment of 6 September 1978 […]).“1040

Im vom EGMR selbst zitierten Klass-Urteil betonte der EGMR, dass die EMRK als Einheit verstanden werden muss und Art. 13 EMRK so auszulegen ist, dass es zu keinen Wertungswidersprüchen kommt.1041 Im konkreten Fall hatte der EGMR es mit Art. 8 Abs. 1 EMRK für vereinbar erklärt, dass unter bestimmten Voraussetzungen Personen auf Grundlage des G 10 heimlich überwacht werden dürfen, also nicht über ihre Überwachung informiert werden müssen.1042 „The Court cannot interpret or apply Article 13 […] so as to arrive at a result tantamount in fact to nullifying its conclusion that the absence of notification to the person concerned is compatible with Article 8 […] in order to ensure the efficacy of surveillance measures […]. Consequently, the Court, consistently with its conclusions concerning Article 8 […], holds that the lack of notification does not, in the circumstances of the case, entail a breach of Article 13 […].“1043

Grund für die ungeschriebene Beschränkungsmöglichkeit ist anders als bei Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 2 und 3 Abs. 1 ZP also nicht die in der Norm angelegte Ausgestaltungsmöglichkeit des Staates, sondern das Bestreben, eine widerspruchsfreie Konventionsordnung zu schaffen, im konkreten Fall also einen Ausgleich zwischen den Gewährleistungen des Art. 8 EMRK und des Art. 13 EMRK zu finden.1044

1039

EGMR Nr. 30210/96, Kudła v Polen (GK), 26.10.2000, § 151; Nr. 14876/12 und 63339/12, I. R. und G. T. v Vereinigtes Königreich (Zul.), 28.01.2014, § 62; inhaltsgleich, ohne explizit den Begriff der inherent limitations zu verwenden EGMR Nr. 50963/99, Al-Nashif v Bulgarien, 20.06.2002, § 136. 1040 EGMR Nr. 30210/96, Kudła v Polen (GK), 26.10.2000, § 151. 1041 EGMR Nr. 5029/71, Klass u. a. v Deutschland (Pl.), 06.09.1978, § 68. 1042 EGMR Nr. 5029/71, Klass u. a. v Deutschland (Pl.), 06.09.1978, § 56. 1043 EGMR Nr. 5029/71, Klass u. a. v Deutschland (Pl.), 06.09.1978, § 68. Diesem Urteil folgend EGMR Nr. 9248/81, Leander v Schweden, 26.03.1987, § 78. 1044 So im Folgenden auch EGMR Nr. 14876/12 und 63339/12, I. R. und G. T. v Vereinigtes Königreich (Zul.), 28.01.2014, § 62; ebenfalls Kudła folgend EGMR Nr. 21341/07, Abulail und Ludneva v Bulgarien (Zul.), 13.11.2014, § 56; vgl. auch Breuer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 13 Rn. 69.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Somit haben die inherent limitations eine andere Funktion als die implied limi­ tations und dürfen nicht mit ihnen gleichgesetzt werden.1045 Es ist nicht ersichtlich, dass der EGMR jemals Vorgaben gemacht hat, auf Grundlage welcher Rechtsakte die Konventionsstaaten den Anwendungsbereich des Art. 13 EMRK beschränken können. f) Zwischenfazit Für die Konventionsrechte aus Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 2 und 3 ZP hat der EGMR implied limitations anerkannt. Trotz geschriebener Schranken überträgt der EGMR außerdem die Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK auf die Einschränkungen des Rechts auf Zugang zu einem strafrechtlichen Rechtsmittel­ gericht gemäß Art. 2 ZP 7. Die inherent limitations des Art. 13 EMRK sind von den implied limitations zu unterscheiden. Die impliziten Beschränkungen sind Einschränkungs- und Ausgestaltungsvorbehalt zugleich und werden vor allem inhaltlich definiert: Der EGMR verlangt verhältnismäßige Ausgestaltungen, die den Kerngehalt der jeweiligen Rechte nicht beeinträchtigen. Für die Ausgestaltung der Rechte sind abstrakt-generelle Regelungen notwendig. Die Tatsache, dass der EGMR gelegentlich einzelne Elemente des Gesetzes­ begriffs – die Zugänglichkeit, Vorhersehbarkeit oder Bestimmtheit – prüft, zeigt, dass den implied limitations der materielle Gesetzesbegriff zugrunde liegt. Unabhängig davon ist jedenfalls klar, dass die implied limitations keine über den qualitativen Gesetzesbegriff hinausgehenden Anforderungen stellen. 4. Zwischenfazit Vielen Gesetzesvorbehalten der EMRK liegt ein einheitlicher Gesetzesbegriff zugrunde, der sich nach qualitativen Merkmalen bestimmt: Ein Gesetz muss zugänglich und vorhersehbar sein sowie vor willkürlichem Handeln schützen. Die Darstellung hat nachgewiesen, für welche Konventionsrechte dieses Gesetzesverständnis anwendbar ist. Es gilt für die Einschränkungsvorbehalte aus Art. 8–11 Abs. 2 inklusive Art. 11 Abs. 2 S. 2 EMRK, aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a)–f) EMRK, Art. 1 Abs. 1 und 2 ZP, Art. 2 Abs. 3 und 4 ZP sowie Art. 1 Abs. 2 ZP 7, unabhängig davon, ob diese als Gesetzesvorbehalt oder Rechtmäßigkeitserfordernis formuliert sind. 1045

A. A. ohne Begründung jedoch Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 20 Rn. 84. Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 147 Rn. 4, nennt Art. 13 EMRK ebenfalls als eine der Normen mit inherent limita­tions, jedoch ohne hierfür Nachweise zur Rechtsprechung zu liefern.

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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Auch die Ausgestaltungsvorbehalte aus Art. 5 Abs. 4, Art. 6 Abs. 2 und Art. 7 EMRK legen den qualitativen Gesetzesbegriff zugrunde. Gleiches gilt nach neuester Rechtsprechung auch für das Verbot der Doppelverfolgung und -bestrafung, auch wenn diese Rechtsprechung aktuell noch umstritten ist. Anders als bei den Einschränkungsvorbehalten übertrug der EGMR seine Rechtsprechung allerdings bislang nicht auf alle Ausgestaltungsvorbehalte. Bei Art. 2 Abs. 2 lit. b)–c), Art. 12 EMRK, Art. 2 Abs. 1 ZP 4 sowie Art. 1 Abs. 1 ZP 7 verwies der EGMR allein auf die nationale Rechtslage, ohne hierfür Vorgaben zu machen. Im Falle der gesetzlichen Schutzpflicht für das Recht auf Leben gemäß Art. 2 Abs. 1 EMRK hat der EGMR bislang zwar die Bestimmtheit sowie den Willkürschutz angesprochen, jedoch nicht explizit den gesamten Gesetzesbegriff angewendet. Im Falle des Art. 3 ZP 7 darf die Entschädigungszahlung nicht davon abhängen, ob der Staat diese gesetzlich geregelt hat. Liegt eine gesetzliche Regelung vor, muss der Staat diese jedoch anwenden. Im Falle des nicht-akzessorischen Diskriminierungsverbots aus Art. 1 ZP 12 ist die Erwähnung des Gesetzesbegriffs in Abs. 1 bedeutungslos, da Abs. 2 auch die Diskriminierung durch behördliches Handeln verbietet, sodass die hoheitliche Handlungsform für das Vorliegen einer Diskriminierung obsolet ist. Das Recht auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1, das Recht auf Bildung gemäß Art. 2 ZP sowie das Wahlrecht gemäß Art. 3 ZP nennen den Gesetzesbegriff als Einschränkungs- beziehungsweise Ausgestaltungsvorbehalt nicht explizit. Es ist jedoch kein Grund ersichtlich, warum der einheitliche Gesetzesbegriff nicht auch für die implied limitations anwendbar sein sollte. Die Tatsache, dass der EGMR zur Auslegung der geschriebenen Schranke des Rechts auf Zugang zu einem strafrechtlichen Rechtsmittelgericht gemäß Art. 2 ZP 7 auf die implied limitations aus Art. 6 Abs. 1 EMRK zurückgreift, spricht ebenfalls dafür. Der einzige Gesetzesvorbehalt, dem eindeutig ein anderes Gesetzesverständnis zugrunde liegt, ist der Organisationsvorbehalt zur gesetzlichen Einrichtung eines Gerichts gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der EGMR hob in seiner Rechtsprechung hervor, dass die Gerichtsorganisation weder im Ermessen der Exekutive noch der Judikative stehen darf, sodass eine parlamentarische Regelung erforderlich ist. Ob diese Besonderheiten des Organisationsvorbehalts auch für Art. 5 Abs. 3 EMRK gelten, welcher eine gesetzliche Regelung für die Verleihung richterlicher Kompetenzen an nicht-richterliche Amtspersonen verlangt, ist im Folgenden zu analysieren.

II. Merkmale des Eingriffs- und Ausgestaltungsvorbehalts Der EGMR hat einheitliche Gesetzesmerkmale für die Einschränkungs- und Ausgestaltungsvorbehalte entwickelt. Neben wenigen strukturellen Vorgaben für die Gestalt des Rechtsakts liegt der Schwerpunkt der Rechtsprechung bei den qua-

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litativen Gesetzesmerkmalen, der Zugänglichkeit und der Vorhersehbarkeit, welche sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten. Im Kontext der Gewaltenteilung ist nicht nur interessant, wie der EGMR die hoheitliche Tätigkeit der Gesetzgebung im Sinne der Gesetzesvorbehalte definiert, sondern auch, ob diese hoheit­liche Tätigkeit bestimmten Organen zugewiesen wird. Ebenso ist denkbar, dass der EGMR abhängig vom Normgeber unterschiedliche qualitative Voraussetzungen formuliert, welche Aufschluss über das Verständnis der jeweiligen Gewalten geben. 1. Normstruktur a) Verbindlicher Rechtsakt Ein Gesetz im Sinne der EMRK muss zunächst eine im jeweiligen Konventionsstaat als nationales Recht anerkannte1046 Regelung in Form von Tatbestand und Rechtsfolge enthalten.1047 Wenn ein Eingriff nicht auf eine solche rechtliche Grundlage gestützt werden kann1048 oder wenn die Rechtsgrundlage nicht alle prozessualen und materiellen Eingriffsvoraussetzungen umfassend regelt,1049 liegt eine Verletzung des einschlägigen Konventionsrechts vor. Die rechtliche Grundlage muss darüber hinaus Bindungswirkung entfalten.1050 Dies kann sowohl bei legislativen als auch bei exekutiven abstrakt-generellen Rechtsakten grundsätzlich unterstellt werden.1051 In der Sache Şahin v Türkei begründete der EGMR die Gesetzesqualität eines verfassungsgerichtlichen Urteils unter anderem mit dessen verbindlicher Wirkung.1052 Innerstaatliches oder völker 1046 Siehe für ein Beispiel, bei welchem diese Voraussetzung nicht erfüllt war EGMR Nr. 2507/03, Amat-G Ltd and Mebaghishvili v Georgien, 27.09.2005, § 61. 1047 Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 147 Rn. 19; Kriebaum, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 1 ZP Rn. 205 (2013); Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 105; Wyttenbach / Hofer, Swiss Review of International and European Law 27 (2017), S. 333 (341). 1048 EGMR Nr. 27053/95, Vasilescu v Rumänien, 22.05.1998, §§ 46, 50; Nr. 40907/98, Dougoz v Griechenland, 06.03.2001, § 57; Nr. 6562/03, Mkrtchyan v Armenien, 11.01.2007, § 43; Nr. 20372/11, Vyerentsov v Ukraine, 11.04.2013, §§ 54–55; Nr. 20383/04, Khmel v Russland, 12.12.2013, §§ 47–49; siehe für weitere Nachweise Gerards, General Principles of the ECHR, S. 201 Fn. 9. 1049 So etwa in EGMR Nr. 44853/10, Toniolo v San Marino und Italien, 26.06.2012, §§ 48–51 (in diesem Fall regelten die anwendbaren Gesetze das Verfahren einer Auslieferung nicht ausreichend). 1050 EGMR Nr. 40905/98, Hilda Hafsteinsdóttir v Island, 08.06.2004, § 56; vgl. auch EGMR Nr. 2440/07, Soldatenko v Ukraine, 23.10.2008, § 113, wo der EGMR die Gesetzesqualität einer nicht verbindlichen Resolution des Obersten Gerichts ablehnte; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 13 Rn. 142–143. 1051 Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 106. 1052 EGMR Nr. 44774/98, Leyla Şahin v Türkei (GK), 10.11.2005, § 93 mit Verweis auf die die Bindungswirkung anordnende Vorschrift; näher zur Gesetzesqualität gerichtlicher Entscheidungen ab S. 252.

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rechtliches soft law ist jedoch mangels Bindungswirkung kein Gesetz im Sinne der EMRK.1053 b) Abstrakt-generelle Norm Der EGMR selbst versteht den Gesetzesbegriff in einem materiellen und nicht in einem formellen Sinn:1054 „The Court observes that it has always understood the term ‚law‘ in its ‚substantive‘ sense, not its ‚formal‘ one“.1055

Damit signalisierte der Gerichtshof, dass er den Gesetzesbegriff anhand seiner Normstruktur, nicht anhand des normsetzenden Organs definiert. Eingriffsgrundlagen und Gesetze, welche die Konventionsrechte ausgestalten, müssen abstraktgenerelle Regelungen sein,1056 die auf den konkret-individuellen Einzelfall angewendet werden können.1057 Der EGMR führte das Erfordernis einer generellen Regelung auf die rule of law zurück.1058 In Ausnahmefällen sind auch solche Normen als Gesetze anerkannt, die sich an eine individualisierbare Person beziehungsweise Personengruppe richten oder einen Einzelfall regeln.1059 In der Sache Former King of Greece lag eine kon 1053

Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 139. Siehe zum Unterschied zwischen dem formellen und dem materiellen Gesetzesbegriff auf S. 207. 1055 EGMR Nr. 38224/03, Sanoma Uitgevers B. V. v Niederlande (GK), 14.09.2010, § 83; Nr. 37326/13, Unifaun Theatre Productions Limited u. a. v Malta, 15.05.2018, § 79. Inhaltsgleich EGMR Nr. 44774/98, Leyla Şahin v Türkei (GK), 10.11.2005, § 88; Nr. 58911/00, Leela Förderkreis e. V. u. a. v Deutschland, 06.11.2008, § 87; Nr. 19920/13, Cumhuriyet Halk Partisi v Türkei, 26.04.2016, § 93; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 18 Rn. 8; Marauhn / Merhof, in: Dörr /  Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  7 Rn.  25; Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 540 (1992); Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 76; HoffmannRemy, Grundrechtseinschränkung nach den Art. 8–11 Abs. 2 EMRK, S. 39; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 208; Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis, S. 61; Malinverni, RUDH 1990, S. 401 (402); Lupo / Piccirilli, Legisprudence 6 (2012), S. 229 (234–235). 1056 Fassbender, Der Gesetzesvorbehalt in Menschenrechtsverträgen, in: Klein, Gewaltenteilung und Menschenrechte, S. 83 (99–100); Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 721; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 25 Rn. 17 (zu Art. 1 ZP 1 EMRK, aber mit Bezug zum allgemeinen Gesetzesbegriff der EMRK); Marauhn / Merhof, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 7 Rn. 25; Renzikowski, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 5 Rn. 83 (2016). 1057 EGMR Nr. 2507/03, Amat-G Ltd and Mebaghishvili v Georgien, 27.09.2005, § 61; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 210–211. 1058 EGMR Nr. 17862/91, Cantoni v Frankreich (GK), 15.11.1996, § 31; Nr. 71243/01, Vistiņš und Perepjolkins v Lettland (GK), 25.10.2012, § 99; Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, §§ 117, 154; Nr. 22254/14, Erményi v Ungarn, 22.11.2016, § 32. 1059 EGMR Nr. 71243/01, Vistiņš and Perepjolkins v Lettland (GK), 25.10.2012, § 99; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 25 Rn. 17 (zu Art. 1 ZP); Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, 1054

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ventionskonforme Eingriffsgrundlage vor, welche nur die Eigentumsverhältnisse der ehemaligen königlichen Familie neu regelte.1060 Im Falle einer gegen bestimmte Richter oder Gerichtspräsidenten individualisierten Gesetzgebung ließ der EGMR die Subsumtion offen, weil auch aus anderen Gründen eine Konventionsverletzung vorlag.1061 Im Fall Lithgow verlangte der EGMR, dass das relevante Gesetz eine allgemeine,1062 abstrakte Regelung für die einer Verstaatlichung eines Unternehmens folgende Entschädigung in Form einer Formel vorsah, statt die Summe jeweils im Einzelfall zu bestimmen.1063 Der EGMR begründete dies einerseits mit der Rechtssicherheit, andererseits mit Praktikabilitätserwägungen: Die Regierung könne, insbesondere wenn eine Vielzahl verschiedener Unternehmen betroffen sei, nicht in jedem Fall ad hoc und auf unklarer Grundlage eine Einzelfallentscheidung treffen.1064 Näher gelegen hätte eine Begründung, die sich an der Verhinderung von Willkür orientiert.1065 Eine abstrakte Regelung kann dazu beitragen, dass einzelne Fälle nicht ohne sachlichen Grund schlechter behandelt werden als vergleichbare Fälle.1066 Liegt hingegen ein besonderer, atypischer, vielleicht sogar einmaliger Fall vor, spricht das Willkürverbot ausnahmsweise nicht gegen eine Einzelfallregelung. Das Erfordernis einer abstrakt-generellen Regelung gilt also, sofern kein sachlich begründeter Ausnahmefall vorliegt. c) Außenwirkung In Silver v Vereinigtes Königreich schloss der EGMR Standing Orders und Circular Instructions mit Vorgaben für die Gefängnisleitung zur alltäglichen Verwaltung des Gefängnisses als Eingriffsgrundlage aus, weil die Vorgaben keine Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 76; Fassbender, Der Gesetzesvorbehalt in Menschenrechtsverträgen, in: Klein, Gewaltenteilung und Menschenrechte, S. 83 (100); Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 112; vgl. auch Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 722: Einzelfallgesetze sind „jedenfalls rechtfertigungsbedürftig“. 1060 EGMR Nr. 25701/94, The Former King of Greece u. a. v Griechenland (GK), 23.11.2000, § 80. 1061 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 154; Nr. 22254/14, Erményi v Ungarn, 22.11.2016, § 33. 1062 Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 108–112 spricht von einer „allgemeinen“ Regelung; ebenso Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 722. 1063 EGMR Nr. 9006/80 u. a., Lithgow u. a. v Vereinigtes Königreich (Pl.), 08.07.1986, § 139; dazu Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 108. 1064 EGMR Nr. 9006/80 u. a., Lithgow u. a. v Vereinigtes Königreich (Pl.), 08.07.1986, § 139. 1065 Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 112 leitet die Notwendigkeit einer allgemeinen Regelung aus dem Rechtsstaatsprinzip und der Vorhersehbarkeit der staatlichen Regelung ab. 1066 Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 112 mit Verweis auf Nachweise zur Verfassungsdogmatik des GG.

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Rechtswirkung (force of law) hatten.1067 In der Sache Amuur v Frankreich lehnte der EGMR die Gesetzesqualität eines (unveröffentlichten) Circulars des Innenministers ab, das Vorgaben für das Festhalten von Ausländern in der Transitzone von Flughäfen machte.1068 Das Gesetz im Sinne der EMRK muss also auch Außenwirkung haben. Rechtsakte, die ausschließlich intern wirken, etwa Verwaltungsvorschriften, sind keine Gesetze im Sinne des konventionsrechtlichen Gesetzesvorbehalts.1069 Das Urteil Leander v Schweden zeigte, dass Regelungen ohne Außenwirkung dennoch für die Auslegung der tatsächlichen rechtlichen Grundlage herangezogen werden können.1070 Konkretisierende Verwaltungsvorschriften wirken sich förderlich auf die Bewertung der Vorhersehbarkeit der Rechtsfolgen aus.1071 Das Merkmal der Außenwirkung wird teilweise mit dem qualitativen Merkmal der Zugänglichkeit des Gesetzestextes gleichgesetzt.1072 Allerdings können auch Verwaltungsvorschriften ohne Außenwirkungen veröffentlicht werden. Andererseits werden nicht automatisch alle Rechtsnormen mit Außenwirkung veröffentlicht, auch wenn das Prinzip der Rechtssicherheit dies – jedenfalls für die abstrakt-generellen exekutiven und legislativen Normen  – verlangt. Die Merkmale der Außenwirkung und der Zugänglichkeit müssen also voneinander getrennt beurteilt werden. In Leander v Schweden stellte der EGMR klar, dass nur solche Verwaltungsvorschriften zur Auslegung herangezogen werden dürfen, die für die Betroffenen auch ausreichend zugänglich waren.1073

1067

EGMR Nr. 5947/72 u. a., Silver u. a. v Vereinigtes Königreich, 25.03.1983, §§ 26, 86. Dieses Urteil als Beispiel für Außenwirkung auch bei Marauhn / Merhof, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 7 Rn. 25; Kriebaum, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 1 ZP Rn. 209 (2013); Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 114; Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 83. 1068 EGMR Nr. 19776/92, Amuur v Frankreich, 25.06.1996, §§ 19, 53. Mit dieser Deutung auch Elberling, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 5 Rn. 19. 1069 Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn.  143; Marauhn / Merhof, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  7 Rn. 25; Renzikowski, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 5 Rn. 83 (2016); Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 114, 135–136; Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 83; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 18 Rn. 8; Peters / Altwicker, EMRK, § 3 Rn. 8; Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 181; Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes, S. 144; Wyttenbach / Hofer, Swiss Review of International and European Law 27 (2017), S. 333 (341). 1070 EGMR Nr. 9248/81, Leander v Schweden, 26.03.1987, §§ 20, 51, 54–55. 1071 EGMR Nr. 9248/81, Leander v Schweden, 26.03.1987, § 54 mit Verweis auf EGMR Nr. 5947/72 u. a., Silver u. a. v Vereinigtes Königreich, 25.03.1983, §§ 88–89. So auch Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 136; Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel /  Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 570 (1992). 1072 So etwa Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis, S. 63; Wildhaber /  Breitenmoser, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 558, 570 (1992); Kadel­bach, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  15 Rn.  20. 1073 EGMR Nr. 9248/81, Leander v Schweden, 26.03.1987, §§ 51, 54.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

d) Rechtmäßigkeit der rechtlichen Grundlage Das einschränkende Gesetz muss nach innerstaatlichen Maßstäben recht­mäßig beziehungsweise verfassungsmäßig sein:1074 Es darf keinem höherrangigen Recht und insbesondere nicht der Verfassung widersprechen.1075 Grund für diese Anforderung eines nach innerstaatlichen Maßstäben rechtmäßigen Gesetzes ist wiederum die in der EMRK verankerte Rechtsstaatlichkeit, konkret die Rechtssicherheit. Die Bürger müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Rechte nur in rechtmäßiger Weise eingeschränkt werden. Im Rahmen des Rechtmäßigkeitserfordernisses ist das jeweilige innerstaatliche Verständnis von einem rechtmäßigen Gesetz Bestandteil der konventionsrechtlichen Anforderungen.1076 Der EGMR hält sich bei der Beurteilung der innerstaatlichen Rechtslage üblicherweise zurück und verlässt sich auf die rechtliche Beurteilung innerstaatlicher Stellen.1077 Nachdem nationale Verfassungsgerichte ein Gesetz für verfassungs-

1074

Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 113–122 geht vorrangig auf die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen ein, die sie aus der EMRK ableitet. Peters / Altwicker, EMRK, § 3 Rn. 8 stellen diese Voraussetzung in Frage, ohne sich festzulegen. 1075 EGMR Nr. 6301/73, Winterwerp v Niederlande, 24.10.1979, § 46; Nr. 25701/94, The Former King of Greece u. a. v Griechenland (GK), 23.11.2000, § 82; Nr. 34044/96 u. a., Streletz, Kessler und Krenz v Deutschland (GK), 22.03.2001, §§ 72–73; Nr. 37201/97, K.–H. W. v Deutschland (GK), 22.03.2001, §§ 66–67; Nr. 46720/99, 72203/01 und 72552/01, Jahn u. a. v Deutschland (GK), 30.06.2005, § 81; Nr. 71243/01, Vistiņš and Perepjolkins v Lettland (GK), 25.10.2012, §§ 97, 102; Nr. 66529/11, N. K. M. v Ungarn, 14.05.2013, § 48; Nr. 37926/05, R & L, s. r. o. u. a. v Tschechien, 03.07.2014, § 116; Nr. 44460/16, O’Sullivan McCarthy Mussel Development Ltd v  Irland, 07.06.2018, § 107; Nr. 71306/11, Osmanyan and Amiragh­ yan v Armenien, 11.10.2018, § 52; Nr. 36093/13, Anželika Šimaitienė v Litauen, 21.04.2020, § 111; Ibing, Die Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 154; Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 553 (1992); Grote / Wenzel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  18 Rn.  83; Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 186. 1076 Wyttenbach / Hofer, Swiss Review of International and European Law 27 (2017), S. 333 (340); Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 723; Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis, S. 61. Vgl. Kadelbach, Rechtsschutz durch den EGMR, in: Ehlers / Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, § 5 Rn. 77: Die Ausformung des Gesetzeserfordernisses ist abhängig von den nationalen Gegebenheiten der jeweiligen Rechtskultur; ebenso Marauhn / Merhof, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  7 Rn.  25. 1077 EGMR Nr. 13590/88, Campbell v Vereinigtes Königreich, 25.03.1992, § 37; Nr. 25701/94, The Former King of Greece u. a. v Griechenland (GK), 23.11.2000, § 82; Nr. 37971/97, Société Colas Est u. a. v Frankreich, 16.04.2002, § 43; Nr. 46720/99, 72203/01 und 72552/01, Jahn u. a. v Deutschland (GK), 30.06.2005, §§ 81, 86; Nr. 71243/01, Vistiņš and Perepjolkins v Lettland (GK), 25.10.2012, § 102; Nr. 2330/09, Sindicatul „Păstorul cel Bun“ v Rumänien (GK), 09.07.2013, §§ 153, 156–157 (explizit bezogen auf sekundäre Gesetzgebung); Weiß, Das Gesetz i. S. d. EMRK, S. 121; Gerards, General Principles of the ECHR, S. 203; Lupo / Piccirilli, Legisprudence 6 (2012), S. 229 (238); Malinverni, RUDH 1990, S. 401 (403). Es gelten die gleichen Prinzipien für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines nationalen Gesetzes wie für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des konkret-individuellen Eingriffs, siehe hierzu unten S. 302.

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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widrig erklärten, stellte der EGMR auf dieser Grundlage fest, dass dieses Gesetz keinen Eingriff in ein Konventionsrecht regeln konnte.1078 Genauso folgte der EGMR den Verfassungsgerichten jedoch, als diese verfassungswidrige Regelungen ausnahmsweise doch für anwendbar erklärten. In der Sache Strack und Richter v Deutschland wertete der EGMR die verfassungswidrige 5-Prozent-Klausel als Eingriffsgrundlage, weil das Bundesverfassungsgericht in gesicherter Rechtsprechung Übergangsphasen zulässt, in welcher, bis ein neues Gesetz erlassen werden konnte, das verfassungswidrige Gesetz noch angewendet werden kann.1079 In Chagnon und Fournier v Frankreich folgte der EGMR der Einschätzung der nationalen Gerichte, denen eine formell rechtswidrige Verordnung als Rechtsgrundlage für die Schlachtung der Tierbestände der Beschwerdeführer ausreichte, weil die Notwendigkeit der Bekämpfung der aktuell grassierenden ansteckenden Maul- und Klauenseuche außergewöhnliche Umstände rechtfertigte.1080 Falls jedoch ein offensichtlicher Verstoß der Eingriffsgrundlage gegen ein höherrangiges nationales Recht von den nationalen Gerichten verkannt wurde, kann der EGMR die Rechtswidrigkeit eigenständig feststellen.1081 Dies kündigte der EGMR in Custers, Deveaux und Turk v Dänemark an, ohne dass er sich im konkreten Fall tatsächlich über die innerstaatliche Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Rechtsgrundlage hinwegsetzen musste.1082 Auf diese Weise bringt der EGMR das konventionsrechtliche Legalitätsprinzip und die Notwendigkeit, die Souveränität der Konventionsstaaten zu wahren, in Ausgleich. e) Geschriebene oder ungeschriebene Normen Bereits seit den Urteilen Sunday Times Nr. 1 und Malone ist geklärt, dass der EGMR sowohl geschriebenes beziehungsweise kodifiziertes (written law / statu­ tory law) als auch ungeschriebenes beziehungsweise richterliches Recht (unwritten law / judge-made law) als Gesetze anerkennt.1083 Während das Urteil Sunday Times 1078

EGMR Nr. 1543/06, Bączkowski u. a. v Polen, 03.05.2007, § 71; Nr. 26828/06, Kurić u. a. v Slowenien (GK), 26.06.2012, §§ 347–349; Nr. 37926/05, R & L, s. r. o. u. a. v Tschechien, 03.07.2014, §§ 115–127. 1079 EGMR Nr. 28811/12 und 50303/12, Strack und Richter v Deutschland (Zul.), 05.07.2016, § 29. 1080 EGMR Nr. 44174/06 und 44190/06, Chagnon und Fournier v Frankreich, 15.07.2010, § 45 (ein Ministerium war nicht am Erlass der Verordnung beteiligt worden); Gerards, General Principles of the ECHR, S. 203. 1081 Ibing, Die Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 154 geht davon aus, dass der EGMR die Einhaltung des nationalen Rechts gar nicht prüft; ebenfalls ohne Verweis auf die Ausnahmen Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 553 (1992). 1082 EGMR Nr. 11843/03, 11847/03 und 11849/03, Custers, Deveaux und Turk v Dänemark, 03.05.2007, §§ 84–87; Murphy, EHRLR 2010, S. 192 (194). 1083 EGMR Nr. 6538/74, The Sunday Times v Vereinigtes Königreich Nr. 1 (Pl.), 24.04.1979, § 47; Nr. 8691/79, Malone v Vereinigtes Königreich (Pl.), 02.08.1984, § 66. Seit dem stän-

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

das richterrechtlich entwickelte Institut des contempt of court in den Gesetzes­ begriff einbezog,1084 betraf das Urteil Malone eine gewohnheitsrechtlich anerkannte Rechtsgrundlage exekutiven Handelns.1085 In der Sache Drozd und Janousek v Frankreich und Spanien bestand die gesetzliche Eingriffsgrundlage in einem seit dem Mittelalter gewohnheitsrechtlich anerkannten Prinzip.1086 Diese Urteile zeigen also, dass im nationalen Recht anerkanntes ungeschriebenes Recht, unabhängig von seinem Entstehungsprozess und somit von seinem Normgeber, ein Gesetz im Sinne der EMRK sein kann, sofern alle weiteren Merkmale vorliegen. Die im Schrifttum teilweise vertretene Ansicht, dass nur ungeschriebenes Richterrecht im common law Gesetzesqualität habe, greift somit zu kurz.1087 Sowohl geschriebene als auch ungeschriebene Normen können ein Gesetz im Sinne der EMRK sein. f) Zwischenfazit Ein Gesetz im Sinne der EMRK ist grundsätzlich ein verbindlicher Rechtsakt mit Außenwirkung und einem abstrakt-generell formulierten Inhalt, welcher nicht gegen höherrangiges Recht des jeweiligen Konventionsstaates verstößt. In begründeten Ausnahmefällen hat der EGMR jedoch auch solche Normen als Gesetze anerkannt, die nicht abstrakt-generell waren oder deren Rechtswidrigkeit im nationalen Recht bereits anerkannt war. Veröffentlichte Regelungen ohne Außenwirkung sind zwar keine eigenständigen Gesetze, können aber zu deren Auslegung herangezogen werden. Die Kodifikation einer rechtlichen Norm ist für die Einordnung als Gesetz im Sinne der EMRK irrelevant. dige Rechtsprechung, siehe etwa EGMR Nr. 10461/83, Chappell v Vereinigtes Königreich, 30.03.1989, § 52; Nr. 11801/85, Kruslin v Frankreich, 24.04.1990, § 29; Nr. 11105/84, Huvig v Frankreich, 24.04.1990, § 28; Nr. 20190/92, C. R. v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, § 33; Nr. 20166/92, S. W. v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, § 35; Nr. 24838/94, Steel u. a. v Vereinigtes Königreich, 23.09.1998, § 54; Nr. 34044/96 u. a., Streletz, Kessler und Krenz v Deutschland (GK), 22.03.2001, § 50; Nr. 37201/97, K.-H. W. v Deutschland (GK), 22.03.2001, § 45; Nr. 58911/00, Leela Förderkreis e. V. u. a. v Deutschland, 06.11.2008, § 87; Nr. 51111/07 und 42757/07, Khodorkovskiy und Lebedev v Russland Nr. 2, 14.01.2020, § 568; Nr. 44612/13 und 45831/13, Georgouleas und Nestoras v Griechenland, 28.05.2020, § 55; Renzikowski, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 5 Rn. 83 (2016); Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 542–544 (1992); Fassbender, Der Gesetzesvorbehalt in Menschenrechtsverträgen, in: Klein, Gewaltenteilung und Menschenrechte, S. 83 (100); Matscher, Der Gesetzesbegriff der EMRK, in: Adamovich, FS Loebenstein, S. 105 (110). 1084 EGMR Nr. 6538/74, The Sunday Times v Vereinigtes Königreich Nr. 1 (Pl.), 24.04.1979, § 47. 1085 EGMR Nr. 8691/79, Malone v Vereinigtes Königreich (Pl.), 02.08.1984, § 69. 1086 EGMR Nr. 12747/87, Drozd und Janousek v Frankreich und Spanien (Pl.), 26.06.1992, §§ 106–107. 1087 Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 184; ­Müßig, Recht und Justizhoheit, S. 403; Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 102; F ­ rowein, in: Frowein / Peukert, EMRK, Vorb. zu Art. 8–11 Rn. 3.

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2. Normgeber: Innerstaatliche Rechtsetzungsgewalt Der materielle Gesetzesbegriff impliziert bereits, dass der EGMR keine Vorgaben dazu macht, welches Organ rechtsetzend tätig werden muss. Notwendig ist lediglich eine im innerstaatlichen Recht wirksame Rechtsgrundlage (some basis in domestic law).1088 „Court observes that it has always understood the term ‚law‘ in its ‚substantive‘ sense, not its ‚formal‘ one; it has included both ‚written law‘, encompassing enactments of lower ranking statutes and regulatory measures taken by professional regulatory bodies under independent rule-making powers delegated to them by Parliament, and unwritten law. ‚Law‘ must be understood to include both statutory law and judge-made ‚law‘.“1089

Dies bedeutet aus der organisatorischen Perspektive der Gewaltenteilung, dass keine strenge Zuordnung der hoheitlichen Tätigkeit „Rechtsetzung“ zu einem hoheitlichen Organ erfolgt. Insbesondere muss das den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts genügende Gesetz nicht von der gesetzgebenden Körperschaft im Sinne des Art. 3 ZP, also nicht von einem Parlament beschlossen werden. Ein genauerer Blick auf die rechtsetzenden Tätigkeiten der verschiedenen Organe zeigt den Umgang des EGMR mit den Besonderheiten der jeweiligen Rechtsakte. a) Parlamentarische Rechtsetzung Gesetze, die in einem parlamentarischen Verfahren beschlossen wurden, sind unstreitig geeignet, ein Konventionsrecht auszugestalten oder einzuschränken.1090 Dies gilt sowohl für nationale Parlamente als auch für Länder- oder Regionalparlamente.1091 In der Regel thematisiert der EGMR die Gesetzesqualität parlamenta 1088

EGMR Nr. 5947/72 u. a., Silver u. a. v Vereinigtes Königreich, 25.03.1983, § 86; Nr. 11801/85, Kruslin v Frankreich, 24.04.1990, § 27; Nr. 38224/03, Sanoma Uitgevers B. V. v Niederlande (GK), 14.09.2010, § 81; Nr. 43395/09, de Tommaso v Italien (GK), 23.02.2017, § 106; Nr. 75229/10, Dragan Petrović v Serbien, 14.04.2020, § 71. 1089 EGMR Nr. 38224/03, Sanoma Uitgevers B. V. v Niederlande (GK), 14.09.2010, § 83; dem folgend EGMR Nr. 37926/05, R & L, s. r. o. u. a. v Tschechien, 03.04.2017, § 114. Ähnlich bereits EGMR Nr. 39288/98, Ekin Association v Frankreich, 17.07.2001, § 46; Nr. 44774/98, Leyla Şahin v Türkei (GK), 10.11.2005, § 88; Nr. 58911/00, Leela Förderkreis e. V. u. a. v Deutschland, 06.11.2008, § 87; Nr. 17526/10, Gülcü v Türkei, 19.01.2016, § 104; siehe auch Elberling, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 5 Rn. 18; Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 540 (1992); Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 420; Milano, Le droit à un tribunal, Rn. 102. 1090 Dies wird so selten vom EGMR ausgesprochen. Siehe aber EGMR Nr. 11082/06 und 13772/05, Khodorkovskiy und Lebedev v Russland, 25.07.2013, § 881: „The Court is mindful, that the concept ‚lawful basis‘ is not limited to primary legislation“. 1091 EGMR Nr. 8734/79, Barthold v Deutschland, 25.03.1985, §§ 24, 46 (Hamburger Senat); Nr. 9063/80, Gillow v Vereinigtes Königreich, 24.11.1986, §§ 28–34, 50–51 (States of Delibe-

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

rischer Gesetze höchstens hinsichtlich der qualitativen Merkmale, da die formelle Gesetzesqualität entweder von den Parteien nicht in Frage gestellt wird1092 oder für den EGMR nicht begründungsbedürftig ist.1093 Da Parlamente aller hoheitlichen Ebenen als gesetzgebende Körperschaft im Sinne des Art. 3 ZP eingeordnet werden,1094 kann festgehalten werden, dass abstrakt-generelle Rechtsakte gesetzgebender Körperschaften ein grundrechtsausgestaltendes oder -einschränkendes Gesetz im Sinne der EMRK sind, sofern sie außerdem die qualitativen Anforderungen erfüllen. b) Verfassungsgebende beziehungsweise -ändernde Rechtsetzung Eine gesetzliche Grundlage kann sich auch unmittelbar aus Verfassungsrecht ergeben. Bereits die EKMR betrachtete eine Norm der Schweizer Verfassung als Rechtsgrundlage für ein Versammlungsverbot.1095 In der Sache Leela Förderkreis v Deutschland reichte dem EGMR als gesetzliche Grundlage die aus dem GG abgeleitete Kompetenz der Bundesregierung, die Öffentlichkeit zu informieren und gegebenenfalls zu warnen.1096 Der EGMR folgte der Einordnung des Bundesverfassungsgerichts, welches die Aufgabe der Öffentlichkeitsarbeit der Staatsleitung zuwies, hierfür aber keine einzelnen Normen des GG heranzog.1097 „The Court accepts that it can prove difficult to frame law with a high precision on matters such as providing information, where the relevant factors are in constant evolution in line with developments in society and in the means of communication, and tight regulation may not be appropriate. In these circumstances, the Court considers that the Government’s information-imparting role did not require further legislative concretisation.“1098

ration, die parlamentarische Versammlung des britischen Kronbesitzes (crown dependency) Guernsey). Siehe auch Matscher, Der Gesetzesbegriff der EMRK, in: Adamovich, FS Loeben­ stein, S. 105 (110); Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 71; Ibing, Die Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 131; Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 178. 1092 So ausdrücklich in EGMR Nr. 5493/72, Handyside v Vereinigtes Königreich (Pl.), 07.12.1976, § 44; Nr. 5947/72 u. a., Silver u. a. v Vereinigtes Königreich, 25.03.1983, § 86; Nr. 71243/01, Vistiņš and Perepjolkins v Lettland (GK), 25.10.2012, § 100; Nr. 29713/05, Stamose v Bulgarien, 27.11.2012, § 31; Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 70–71. 1093 Statt vieler EGMR Nr. 8691/79, Malone v Vereinigtes Königreich (Pl.), 02.08.1984, §§ 29, 66; Nr. 28341/95, Rotaru v Rumänien (GK), 04.05.2000, § 53; Nr. 38433/09, Centro Europa 7 S. r. l. and Di Stefano v Italien (GK), 07.06.2012, §§ 144–154. 1094 Siehe hierzu oben ab S. 149, insb. das Fazit auf S. 179. 1095 EKMR Nr. 8191/78, Rassemblement Jurassien und Unité Jurassien v Schweiz, 10.10.1979, DR 17, S. 108 (119); dazu Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 87–88. 1096 EGMR Nr. 58911/00, Leela Förderkreis e. V. u. a. v Deutschland, 06.11.2008, § 89. 1097 BVerfGE 105, 279 (301–303); Rezeption in EGMR Nr. 58911/00, Leela Förderkreis e. V. u. a. v Deutschland, 06.11.2008, § 22. 1098 EGMR Nr. 58911/00, Leela Förderkreis e. V. u. a. v Deutschland, 06.11.2008, § 89.

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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Die Relativierung des EGMR (in these circumstances) deutet an, dass der EGMR in leichter abgrenzbaren Fällen eine Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Grundsätze in einem weiteren Rechtsakt verlangt. Grund hierfür ist aber nicht die verfassungsgebende oder -ändernde Gewalt als Normgeber, sondern die Besonderheit des Verfassungsrechts, welches in besonderem Maße ausgestaltungsbedürftige Normen enthält, deren Auslegung größeren Spielraum eröffnet und daher möglicherweise weniger vorhersehbar ist. Weder in der EKMR-Entscheidung noch im Leela Förderkreis-Urteil lagen einfach-gesetzliche Rechtsgrundlagen vor, welche die Verfassungsnormen konkretisierten. Verfassungsnormen kommen nur dann als eigenständige Rechtsgrundlage in Betracht, wenn es keine konkretere Norm gibt, die in der Normenhierarchie unter der Verfassung steht. Reicht eine einfach-gesetzliche Rechtsgrundlage jedoch nicht aus, um alle prozessualen und materiellen Eingriffsvoraussetzungen umfassend zu regeln, kann die Verfassungsnorm ergänzend herangezogen werden.1099 c) Exekutive Rechtsetzung Eingriffe in Konventionsrechte können auch auf exekutive Rechtsgrundlagen gestützt werden.1100 Die vom britischen Innenminister erlassene Prison Rules stellten eine rechtliche Grundlage für Eingriffe in das Recht auf Privatleben aus Art. 8 Abs. 1 EMRK von Strafgefangenen dar.1101 Außerdem erkannte der EGMR Notstandsverordnungen von Regierungen,1102 (delegierte) Regierungsverordnungen,1103

1099

EGMR Nr. 28341/95, Rotaru v Rumänien (GK), 04.05.2000, §§ 53, 57–58. Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 208–211; Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 75–84; Hoffmann-Remy, Grundrechtseinschränkung nach den Art. 8–11 Abs. 2 EMRK, S. 39; Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 181; Fassbender, Der Gesetzesvorbehalt in Menschenrechtsverträgen, in: Klein, Gewaltenteilung und Menschenrechte, S. 83 (100); Wyttenbach / Hofer, Swiss Review of International and European Law 27 (2017), S. 333 (341). 1101 EGMR Nr. 4451/70, Golder v Vereinigtes Königreich (Pl.), 21.02.1975, §§ 45, 17 (die Prison Rules waren ein delegierter Rechtsetzungsakt, welcher dem Parlament vorgelegt, von diesem aber nicht bestätigt werden musste); Nr. 5947/72, Silver u. a. v Vereinigtes Königreich, 25.03.1983, § 86 (gleiche Rechtsgrundlage; der EGMR stützte sich hier zusätzlich auf den delegierenden parlamentarischen Rechtsakt); Nr. 13590/88, Campbell v Vereinigtes Königreich, 25.03.1992, § 37 (schottische Prison Rules und parlamentarisches Gesetz); Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 76–77. 1102 EGMR Nr. 10337/04, Lupsa v Rumänien, 08.06.2006, §§ 33–42 (im konkreten Fall lag kein ausreichender Schutz vor einer willkürlichen Handlung vor, sodass die Einordnung der Notstandsverordnung als Gesetz nicht streitentscheidend war). 1103 EGMR Nr. 37971/97, Société Colas est u. a. v Frankreich, 16.04.2002, § 43 (eine ordonnance ist im französischen Recht eine von der Regierung erlassene Verordnung nach Ermächtigung durch das Parlament, Philip, in: Guinchard / Debard, Lexique des Termes Juridiques, S. 563 (Stichwort: „ordonnance“; Classen, in: Sonnenberger / Classen, Einführung in das französische Recht, Rn. 27); Nr. 1509/02, Tatishvili v Russland, 22.02.2007, §§ 50–54. 1100

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

kommunale Regelungen,1104 regionale Gesetze,1105 royale Dekrete1106 und sogar militärinterne Rundschreiben (circular)1107 als konventionskonforme Eingriffsgrundlagen an.1108 In den Urteilen war in der Regel allein aus dem dargestellten nationalen Recht, nicht aus den Erwägungsgründen ersichtlich, auf welches Organ das relevante Gesetz zurückging. Dies zeigt, dass der Gerichtshof der exekutiven Natur der Gesetze keine Bedeutung zumaß. Selbstverständlich müssen auch exekutive Gesetze die vom EGMR entwickelten normstrukturellen Anforderungen erfüllen. Insbesondere müssen sie abstrakt-genereller Natur sein1109 und Außenwirkung haben.1110 Konkret-individuelle Verwaltungsakte erfüllen diese Kriterien genauso wenig wie interne Verwaltungsvorschriften.1111 Im Fall Baranowski v Polen reichte die Anklageschrift als Rechtsgrundlage nicht aus, um die Untersuchungshaft des Beschwerdeführers zu verlängern. Der EGMR verlangte, dass die Voraussetzungen und die Dauer der Festnahme gesetzlich geregelt sein mussten.1112 Gleiches galt für die von einem Staatsanwalt geäußerte Meinung, dass ein Gesetz, welches die Ausweisung von Ausländern durch exekutive Ausweisungsverfügung regelte, analog auf gericht­ liche Entscheidungen anwendbar sei.1113 Da eine exekutive Rechtsgrundlage rechtmäßig, also mit höherem innerstaatlichem Recht vereinbar sein muss, darf sie ihre kompetenziellen Grenzen unabhängig von der Natur der Kompetenzgrundlage nicht überschreiten. Die exekutive Kompetenz zur Rechtsetzung kann sich einerseits unmittelbar aus der Verfassung ergeben, andererseits aus der Delegation durch den parlamentarischen Gesetzgeber.1114 1104

EGMR Nr. 11843/03 u. a., Custers, Deveaux und Turk v Dänemark, 03.05.2007, §§ 84–87, 45; Nr. 4619/12, Dakir v Belgien, 11.07.2017, §§ 48, 10, 15. 1105 EGMR Nr. 35972/97, Grande Oriente d’Italia di Palazzo Giustiniani v Italien, 02.08.2001, §§ 10, 18.  1106 EGMR Nr. 2832/66, 2835/66 und 2899/66, De Wilde, Ooms und Versyp v Belgien (Pl.), 18.06.1971, § 93; Nr. 37119/07, N. F. v Italien, 02.08.2001, §§ 27, 15; Nr. 39748/98, Maestri v Italien (GK), 17.02.2004, §§ 31, 18. Rechtsgrundlage in beiden Fällen gegen Italien war ein 1946 kurz vor Ende der Monarchie erlassener royal legislative decree. 1107 EGMR Nr. 15153/89, Vereinigung demokratischer Soldaten Österreichs und Gubi v Österreich, 19.12.1994, §§ 20, 31 (das Rundschreiben wurde vom Armeekommando erlassen). 1108 Siehe zusammenfassend und zu den hier angesprochenen Urteilen auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 209–210; ebda., S. 208–209 auch zur Rechtsprechung der EKMR. Siehe für eine weitere Aufzählung von EGMR und EMRK als Gesetz anerkannter exekutiver Rechtsakte Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 540 (1992). 1109 EGMR Nr. 2507/03, Amat-G Ltd und Mebaghishvili v Georgien, 27.09.2005, § 61; hierzu Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 210–211. 1110 Siehe die Nachweise in Fn. 1067, 1068, 1069. 1111 Siehe bereits die Nachweise in Fn. 1069. 1112 EGMR Nr. 28358/95, Baranowski v Polen, 28.03.2000, §§ 53–55 (geprüft unter dem Stichwort der Vorhersehbarkeit); vgl. Elberling, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 5 Rn. 18. 1113 EGMR Nr. 40907/98, Dougoz v Griechenland, 06.03.2001, § 57. 1114 Vgl. Venedig-Kommission, CDL-AD(2016)007, Rule of Law Checklist, angenommen am 11.–12.03.2016, Benchmark A.4.i.; vgl. für die Kompetenz zur Strafgesetzgebung Renzikowski, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 7 Rn. 46 (2009).

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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Im Falle einer verfassungsrechtlich verankerten Rechtsetzungskompetenz wird der normenhierarchische Rang des exekutiven Gesetzes durch die Verfassung bestimmt.1115 Ein delegierter Rechtsakt ist hierarchisch dem delegierenden Rechtsakt untergeordnet1116 und somit nur dann rechtmäßig, wenn die Grenzen des delegierenden Rechtsakts eingehalten werden. Ob einem exekutiven Rechtsetzungsakt eine parlamentarische Grundlage zugrunde liegen muss, ergibt sich also aus dem nationalen Recht und wird im Rahmen des Merkmals einer rechtmäßigen Rechtsgrundlage relevant.1117 Die normative Aussage, dass der konventionsrechtliche Gesetzesbegriff eine einfach-gesetzliche Grundlage exekutiver Gesetze fordert, hat der EGMR bislang nicht gemacht.1118 Dies spricht dafür, dass der EGMR auch eine originäre, verfassungsrechtlich verankerte, exekutive Rechtsetzungskompetenz als Grundlage einer Grundrechtseinschränkung hinnimmt.1119 Ob der EMRK weitergehende Anforderungen an die Kompetenzgrundlagen exekutiver Rechtsetzung zu entnehmen sind, wird mangels ausdrücklicher Aussagen des EGMR im Rahmen der Analyse thematisiert.1120

1115

Siehe zum Beispiel die Rechtsetzungskompetenzen der Regierung nach der französischen Verfassung, welche der parlamentarischen Gesetzgebungskompetenz nicht hierarchisch untergeordnet sind, Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 75–76; Marsch, Rechtsetzung, in: Marsch / Vilain / Wendel, Französisches und Deutsches Verfassungsrecht, § 5 Rn. 16–25. 1116 Vgl. Venedig-Kommission, CDL-AD(2016)007, Rule of Law Checklist, angenommen am 11.–12.03.2016, Benchmark A.4.i. 1117 So etwa in EGMR Nr. 11843/03 u. a., Custers, Deveaux und Turk v Dänemark, 03.05.2007, §§ 84–87; Nr. 27651/05, Minasyan und Semerjyan v Armenien (Begr.), 23.06.2009, §§ 69–72. 1118 So auch Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten / Papier, HbGR, Bd.  VI/1, § 147 Rn. 17. Die herrschende Ansicht leitet jedoch aus der EMRK ab, dass eine parlamentarische Grundlage erforderlich ist, Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 25 Rn. 17 mit Verweis auf EGMR Nr. 27651/05, Minasyan und Semerjyan v Armenien (Begr.), 23.06.2009, §§ 69–72, wo der EGMR jedoch feststellte, dass eine Enteignung nach der armenischen Verfassung eine formell-gesetzliche Grundlage verlangte und nicht alleine auf ein Regierungsdekret gestützt werden durfte; ebenso Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 77, 83 bezogen auf EGMR Nr. 4451/70, Golder v Vereinigtes Königreich (Pl.), 21.02.1975, § 17; Nr. 5947/72, Silver u. a. v Vereinigtes Königreich, 25.03.1983, § 86, wo der EGMR jeweils die Ermächtigung der Exekutive zum Erlass von Regelungen für Gefängnisse ermächtigt hatte; Ibing, Die Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 121; Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 540 (1992); Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 179–180; Renzikowski, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 7 Rn. 46 (2009). Marauhn / Merhof, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 7 Rn. 28 Fn. 176 erwähnen, dass die EMRK kein formelles Gesetz fordert, gehen aber gleichwohl davon aus, dass eine parlamentarische Grundlage vorliegen muss. Siehe außerdem die Nachweise in Fn. 1337, 1338. 1119 So auch Wyttenbach / Hofer, Swiss Review of International and European Law 27 (2017), S. 333 (342). 1120 Siehe hierzu ab S. 294.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

d) Gerichtliche Rechtsetzung Die Qualifizierung von Richterrecht als gesetzliche Einschränkungs- oder Ausgestaltungsgrundlage geht auf die EGMR-Rechtsprechung zum britischen common law zurück. Anschließend übertrug der EGMR die von ihm entwickelten Grundsätze auch auf das Richterrecht der kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen. (1) Ausgangspunkt: Sonderfall des common law Im Leiturteil Sunday Times v Vereinigtes Königreich erkannte der EGMR erstmals1121 ein Institut des common law, das Vergehen der Missachtung des Gerichts (contempt of court), als Gesetz im Sinne der EMRK an.1122 Der Gerichtshof begründete die Einbeziehung des common law in den Gesetzesbegriff historisch und mit den Besonderheiten der britischen Rechtsordnung1123: „It would clearly be contrary to the intention of the drafters of the Convention to hold that a restriction imposed by virtue of the common law is not ‚prescribed by law‘ on the sole ground that it is not enunciated in legislation: this would deprive a common-law State which is Party to the Convention of the protection of Article 10 (2) […] and strike at the very roots of that State’s legal system.“1124

Hätte der EGMR das common law nicht als gesetzliche Grundlage für Eingriffe in Konventionsrechte akzeptiert, wären sämtliche dem Vereinigten Königreich zurechenbare und auf common law gestützte Eingriffe in Konventionsrechte bereits wegen fehlender rechtlicher Grundlage nicht gerechtfertigt.1125 Die Einbeziehung des common law ist auch im Schrifttum anerkannt.1126 1121

Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 213. EGMR Nr. 6538/74, The Sunday Times v Vereinigtes Königreich Nr. 1 (Pl.), 24.04.1979, §§ 18–20, 47; hierzu Müßig, Recht und Justizhoheit, S. 401–402; Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 85–87 (zu den Urteilen Sunday Times und Dudgeon); Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 213–214; Lupo / Piccirilli, Legisprudence 6 (2012), S. 229 (233–234); Malinverni, RUDH 1990, S. 401 (402). 1123 Lupo / Piccirilli, Legisprudence 6 (2012), S. 229 (234): „an argument close to originalism in order to defend the legal tradition of the country“; Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel /  Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 543 (1992). 1124 EGMR Nr. 6538/74, The Sunday Times v Vereinigtes Königreich Nr. 1 (Pl.), 24.04.1979, § 47. 1125 Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 141. Vgl. auch Lupo / Piccirilli, Legisprudence 6 (2012), S. 229 (234): der EGMR öffnete seine Argumentationslinie für eine der wichtigsten Rechtskulturen. 1126 Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel  /  Schmahl, Internationaler Kommentar, Art.  8 Rn. 542–543 (1992); Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 181; Bleckmann, Staatsrecht II, § 3 Rn. 9; Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 141, 145; kritisch jedoch Lupo / Piccirilli, Legisprudence 6 (2012), S. 229 (234): „[W]henever a court assumes unwritten norms as parameters of adjudication, it is basically determining its parameters.“ 1122

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

253

Das common law ist in der britischen Rechtsordnung genauso wie parlamentarische Gesetze eine primäre Rechtsquelle, während Richterrecht in den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen grundsätzlich als (unverbindliche)  sekundäre Rechtsquelle eingeordnet wird.1127 Die im common law von der Rechtsprechung entwickelten Regeln sind verbindlich und gelten über den Einzelfall hinaus – auch wenn sie anhand konkreter Einzelfälle gebildet wurden.1128 Das common law erfüllt also die an die Normstruktur gestellten Anforderungen einer abstrakt-generellen Regelung mit Bindungswirkung. In den Folgeurteilen verzichtete der EGMR auf eine ausführliche Begründung für die Einbeziehung von common law in den Gesetzesbegriff.1129 (2) Einbeziehung des Richterrechts auch in Rechtsordnungen kontinentaleuropäischer Prägung Die Begründung des Sunday Times-Urteils, welches auf die Besonderheiten des common law abstellte, führte dazu, dass der Verzicht auf die Schriftform beziehungsweise die Einbeziehung von Richterrecht in den Gesetzesbegriff der EMRK als Besonderheit einer vom common law geprägten Rechtsordnung eingeordnet und die Übertragbarkeit auf andere nationale Rechtsordnungen abgelehnt wurde.1130 1127

Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 88–89; Ibing, Einschränkung der europä­ ischen Grundrechte, S. 140, 147; Müßig, Recht und Justizhoheit, S. 402–403; Mackenzie Stuart /  Warner, Judicial Decision as  a Source of Community Law, in: Grewe / Rupp / Schneider, FS Kutscher, S. 273 (273–274). Siehe auch die vom EGMR zitierte Argumentation der EKMR in EGMR Nr. 11801/85, Kruslin v Frankreich, 24.04.1990, § 28; Nr. 11105/84, Huvig v Frankreich, 24.04.1990, § 27. Ausführlich zur unterschiedlichen Bedeutung der Rechtsprechung im common law und im kontinentaleuropäischen Rechtskreis CCJE, CCJE(2017)04, Opinion No. 20: The Role of Courts with Respect to the Uniform Application of the Law, 10.11.2017, §§ 10–14. 1128 Grasmann, Einführung in die großen Rechtssysteme der Gegenwart, Rn. 352, 410; Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 89–90; Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 140–141, 147. 1129 EGMR Nr. 7525/76, Dudgeon v Vereinigtes Königreich (Pl.), 22.10.1981, §§ 14, 44 (der EGMR zählte die sich aus dem common law ergebende Versuchsstrafbarkeit ohne Begründung in einem Atemzug mit den parlamentarischen Gesetzen auf); Nr. 10461/83, Chappell v Vereinigtes Königreich, 30.03.1989, § 52 (ohne ausdrückliche Festlegung, ob ein parlamentarisches Gesetz oder Richterrecht die Rechtsgrundlage der Einschränkung war); Nr. 17419/90, Wingrove v Vereinigtes Königreich, 25.11.1996, § 40; Weiß, Das Gesetz i. S. d. EMRK, S. 86–87; im Schrifttum wird die Begründung immer noch angeführt, Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis, S. 61; Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 542 (1992); Malinverni, RUDH 1990, S. 401 (402); Kosař / Lixinski, AJIL 109 (2015), S. 713 (742). 1130 Frenz, Europäische Grundrechte, Rn. 527; Müßig, Recht und Justizhoheit, S. 401; Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 102; Kadelbach, Rechtsschutz durch den EGMR, in: Ehlers /  Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, § 5 Rn. 77; ausführlich zur Diskussion Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 146–151 (allerdings unter Einbeziehung der Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK).

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Über zehn Jahre nach der Sunday Times-Entscheidung dehnte der EGMR jedoch in den Urteilen Kruslin v Frankreich und Huvig v Frankreich erstmalig den Gesetzesbegriff auf Richterrecht einer kontinentaleuropäischen Rechtsordnung aus.1131 In den beiden Fällen ging es um die rechtliche Grundlage für das Abhören von Telefongesprächen.1132 In der französischen Rechtsordnung gab es keine Norm, welche einem Untersuchungsrichter explizit erlaubte, die Telefonüberwachung anzuordnen; in ständiger Rechtsprechung waren jedoch Normen der Strafprozessordnung als Rechtsgrundlage anerkannt.1133 Anders als in den Urteilen zum common law ging es hier also nicht um die Schaffung neuer Eingriffsgrundlagen, sondern um die extensive Auslegung und Anwendung bereits vorhandener parlamenta­r ischer Gesetze auf einen ursprünglich nicht vorgesehenen Fall.1134 Während die EKMR noch argumentiert hatte, dass das französische case law kein Gesetz im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK sein könne, weil es sich hierbei um eine sekundäre und nicht um eine primäre Rechtsquelle handele1135 und damit der Theorie der Sonderrolle des common law folgte, vertrat der EGMR eine andere Ansicht.1136 „Settled case-law of this kind cannot be disregarded. […] The Sunday Times, Dudgeon and Chappell judgments admittedly concerned the United Kingdom, but it would be wrong to exaggerate the distinction between common-law countries and Continental countries […]. Statute law is, of course, also of importance in common-law countries. Conversely, case-law has traditionally played a major role in Continental countries, to such an extent that whole branches of positive law are largely the outcome of decisions by the courts. […]. Were it to overlook case-law, the Court would undermine the legal system of the Continental States almost as much as the Sunday Times judgment […] would have ‚struck at the very roots‘ of the United Kingdom’s legal system if it had excluded the common law from the concept of ‚law‘ […]. In a sphere covered by the written law, the ‚law‘ is the enactment in force as the competent courts have interpreted it in the light, if necessary, of any new practical developments.“1137

1131

Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis, S. 61; Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 544 (1992). 1132 EGMR Nr. 11801/85, Kruslin v Frankreich, 24.04.1990, § 9; Nr. 11105/84, Huvig v Frankreich, 24.04.1990, § 8; ausführlich zu beiden Urteilen Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel /  Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 544–547 (1992); Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 215–216. 1133 EGMR Nr. 11801/85, Kruslin v Frankreich, 24.04.1990, §§ 15, 29; Nr. 11105/84, Huvig v Frankreich, 24.04.1990, §§ 13, 28. 1134 Frenz, Europäische Grundrechte, Rn. 527. Vgl. auch Ibing, Einschränkung der europä­ ischen Grundrechte, S. 145–146, der von einer Rechtsfortbildung der französischen Gerichte ausgeht. 1135 EGMR Nr. 11801/85, Kruslin v Frankreich, 24.04.1990, § 28; Nr. 11105/84, Huvig v Frankreich, 24.04.1990, § 27. Sympathie für diese Ansicht auch bei Kosař / Lixinski, AJIL 109 (2015), S. 713 (743). 1136 EGMR Nr. 11801/85, Kruslin v Frankreich, 24.04.1990, § 29; Nr. 11105/84, Huvig v Frankreich, 24.04.1990, § 28. 1137 EGMR Nr. 11801/85, Kruslin v Frankreich, 24.04.1990, § 29; Nr. 11105/84, Huvig v Frankreich, 24.04.1990, § 28.

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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Der EGMR erteilte also der im Schrifttum prominent vertretenen Ansicht, dass Richterrecht einzig in Rechtsordnungen des common law eine taugliche gesetzliche Eingriffsgrundlage sein könnte, eine Absage1138 und sprach sich stattdessen für eine staatenübergreifende Einordnung des Richterrechts als gesetzliche Grundlage aus.1139 Während Gerichte in Rechtsordnungen des common law auch ohne die Beteiligung eines weiteren Organs rechtsetzend tätig werden können, besteht die Rolle der Gerichte in den anderen Rechtsordnungen primär darin, bereits bestehende geschriebene Normen auszulegen und so zu deren Bedeutungsgehalt beizutragen. In den meisten kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen haben gerichtliche Urteile, anders als einige Urteile im common law, keine rechtliche Bindungswirkung; ihnen kommt gleichwohl eine faktische Bindungswirkung zu, weil die unterinstanzlichen Gerichte damit rechnen müssen, dass ihre Urteile aufgehoben werden, sofern sie von einer gesicherten höchstgerichtlichen Rechtsprechung abweichen.1140 In den Urteilen Kruslin und Huvig v Frankreich setzte der EGMR die gerichtlichen Rollen beider Rechtssysteme gleich.1141 Dass eine klare Unterscheidung zwischen der Rolle der Gerichte als Gesetzgeber in Rechtsordnungen des common law und den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen nicht einfach ist, zeigen auch die Urteile C. R. und S. W. v Vereinigtes Königreich. In den Fällen ging es um die  – in einem Fall versuchte, in einem Fall tatsächliche  – Vergewaltigung zweier Frauen durch ihre Ehemänner. Der Straftatbestand, wonach Geschlechtsverkehr ohne die Zustimmung (consent) der Frau strafbar war, wurde lange Zeit von den Gerichten so ausgelegt, dass durch die Eheschließung eine jederzeitige implizite Zustimmung der Ehefrau angenommen wurde. Vergewaltigung in der Ehe blieb somit straffrei. Von dieser Rechtsprechung wichen die britischen Gerichte schließlich ab, sodass die beiden Beschwerdeführer verurteilt wurden.1142 Die rechtliche Grundlage für die Verurteilung war ein parlamentarisches Gesetz; durch die Rechtsprechungsänderung entfiel der durch Richterrecht lange Zeit angenommene Rechtfertigungsgrund. Anders als in den Fällen Sunday Times und

1138

Zu diesem Ergebnis kommt auch Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 149; Kosař / Lixinski, AJIL 109 (2015), S. 713 (742) bezogen auf die Argumente Frankreichs und der EKMR. 1139 Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 544 (1992); Lupo / Piccirilli, Legisprudence 6 (2012), S. 229 (234), die begründen, dass von vornherein klar war, dass die Sunday Times-Rechtsprechung auf kontinentaleuropäische Länder übertragen würde, weil nur so ein einheitlicher Menschenrechtsschutz gewährleistet werden konnte. Auch kontinentaleuropäische Rechtsordnungen enthalten richterrechtlich entwickelte Rechtsinstitute, so Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 101. 1140 Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 147–148; Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 106; vgl. auch Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 247. 1141 Kritisch hierzu Kosař / Lixinski, AJIL 109 (2015), S. 713 (743). 1142 EGMR Nr. 20190/92, C. R. v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, §§ 10–11, 15; Nr. 20166/92, S. W. v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, §§ 8–9, 15–16.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Dudgeon schuf das britische Gericht also keine eigenständige Norm, sondern legte eine parlamentarische Norm anders aus als zuvor.1143 Damit war die Rolle der britischen Gerichte für die Begründung der Strafbarkeit die gleiche wie die der deutschen Gerichte in den Fällen Streletz, Kessler und Krenz und K.-H. W. v Deutschland, in denen die Beschwerdeführer nach der Wiedervereinigung wegen Totschlags beziehungsweise Anstiftung zum Totschlag verurteilt wurden, weil der gewohnheitsrechtliche Rechtfertigungsgrund bei Tötungen von Flüchtlingen an der innerdeutschen Grenze nicht mehr anerkannt wurde.1144 Diese Beispiele zeigen, dass die Grenze zwischen der Auslegung einer geschriebenen Eingriffsgrundlage und der Entwicklung einer richterrechtlichen Eingriffsgrundlage fließend ist und dass Richterrecht auch in common law-Rechtsordnungen nicht immer eigenständig rechtsetzend, sondern gesetzesauslegend tätig werden kann. Inzwischen hat der EGMR ausdrücklich klargestellt, dass er der Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Gesetzgebung keine Bedeutung zumisst. „The Court is mindful that the concept ‚lawful basis‘ is not limited to primary legislation; the meaning of laws is often clarified in the secondary legislation or in the judicial practice. Thus, clear, consistent and publicly available case-law may provide a sufficient basis for ‚lawful‘ interference with the rights guaranteed by the Convention, where that case-law is based on a reasonable interpretation of the primary legislation.“1145

Die Einbeziehung von Richterrecht auch aus kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen in den Gesetzesbegriff ist nunmehr gesicherte Rechtsprechung.1146 1143 EGMR Nr. 20190/92, C. R. v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, § 39; Nr. 20166/92, S. W. v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, § 41 gehen beide davon aus, dass die Verurteilung auf dem parlamentarischen Gesetz basierte und setzten sich dann ausführlich mit der Auslegung auseinander. Kadelbach, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 15 Rn. 6 (zu Art. 7) zählt „richterrechtlich entwickelte Straftat[bestände] des Common Law“ zum „Recht“ i. S. d. Art. 7 EMRK; Murphy, EHRLR 2010, S. 192 (194): „[T]he status of the common law as ‚law‘ was upheld.“ 1144 EGMR Nr. 34044/96, 35532/97 und 44801/98, Streletz, Kessler und Krenz v Deutschland (GK), 22.03.2001, §§ 67–89: Der EGMR erkannte schon den Rechtfertigungsgrund nicht an und befand die Verurteilung auch für vorhersehbar; ebenso EGMR Nr. 37201/97, K.-H. W. v Deutschland (GK), 22.03.2001, §§ 62–91. 1145 EGMR Nr. 11082/06 und 13772/05, Khodorkovskiy und Lebedev v Russland, 25.07.2013, § 881. Knapper, aber mit gleicher Vorgehensweise EGMR Nr. 11838/07 und 12302/07, Torri u. a. und Bucciarelli v Italien (Zul.), 24.01.2012, § 32: „[T]he claimant must establish that it has a sufficient basis in national law, for example where there is settled case-law of the domestic courts confirming it.“; siehe auch § 42 zum konkreten Fall. 1146 Siehe etwa EGMR Nr. 44774/98, Leyla Şahin v Türkei (GK), 10.11.2005, § 88; Nr. 38224/03, Sanoma Uitgevers B. V. v Niederlande (GK), 14.09.2010, § 83; Nr. 42750/09, Del Río Prada v Spanien (GK), 21.10.2013, §§ 92–93; Nr. 17526/10, Gülcü v Türkei, 19.01.2016, § 104; Nr. 58493/13, Ólafsson v Island, 16.03.2017, § 35; Nr. 37326/13, Unifaun Theatre Productions Limited u. a. v Malta, 15.05.2018, § 79; Nr. 14305/17, Selahattin Demirtaş v Türkei Nr. 2 (GK), 20.12.2020, § 253; Kosař / Lixinski, AJIL 109 (2015), S. 713 (742) m. w. N. zu Urteilen der Großen Kammer; Marauhn / Merhof, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  7 Rn.  25; Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Ge-

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Richterrecht kann also sowohl als eigenständig entwickelte Rechtsgrundlage als auch als Auslegung einer geschriebenen Norm zum Gesetz im Sinne der EMRK zählen. (3) Die Rolle der Gerichte bei der Auslegung und Fortentwicklung der gesetzlichen Grundlagen Der EGMR weist die Gesetzesauslegung und -anwendung, unabhängig davon, ob das (geschriebene) Recht von einem parlamentarischen oder exekutiven Normsetzer erlassen wurde, primär den Gerichten zu.1147 Durch Auslegung der abstrakt-generell formulierten Normen gestalten sie die Eingriffsgrundlage entscheidend aus. „The ‚law‘ is the provision in force as the courts have interpreted it.“1148

Besonders deutlich wurde diese Rolle der innerstaatlichen Gerichtsbarkeit bislang im case law zu Art. 7 EMRK. „[I]t is a logical consequence of the principle that laws must be of general application that the wording of statutes is not always precise. One of the standard techniques of regulation by rules is to use general categorisations as opposed to exhaustive lists. Accordingly, many laws are inevitably couched in terms which to  a greater or lesser extent are vague, and whose interpretation and application are questions of practice. However clearly drafted  a legal provision may be, in any system of law, including criminal, there is an inevitable element of judicial interpretation. There will always be a need for elucidation of doubtful points and for adaptation to changing circumstances. Again, whilst certainty is highly desirable, it may bring in its train excessive rigidity and the law must be able to keep pace

sellschaften, S. 182–183; Wyttenbach / Hofer, Swiss Review of International and European Law 27 (2017), S. 333 (342–343) ohne Differenzierung zwischen kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen und common law-Rechtsordnungen. 1147 Statt aller EGMR Nr. 14307/88, Kokkinakis v Griechenland, 25.05.1993, § 40: „[I]t is, in the first instance, for the national authorities, and in particular the courts, to interpret and apply domestic law […].“; Nr. 15450/89, Casado Coca v Spanien, 24.02.1994, § 43; Nr. 74613/01, Jorgic v Deutschland, 12.07.2007, § 102; Nr. 37553/05, Kudrevičius u. a. v Litauen (GK), 15.10.2015, § 110; Nr. 25358/12, Paradiso und Campanelli v Italien (GK), 24.01.2017, § 169; Nr. 931/13, Satakunnan Markkinapörssi Oy und Satamedia Oy v Finnland (GK), 27.06.2017, § 144; Nr. 29580/12 u. a., Navalnyy v Russland (GK), 15.11.2018, § 114. Siehe zu dieser Rolle der Gerichte im Rahmen der Rechtsetzung auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 215–219. 1148 EGMR Nr. 44774/98, Leyla Şahin v Türkei (GK), 10.11.2005, § 88; Nr. 41226/09, Işıkırık v Türkei, 14.11.2017, § 56; Nr. 37326/13, Unifaun Theatre Productions Limited v Malta, 15.05.2018, § 79. Ausführlicher EGMR Nr. 21906/04, Kafkaris v Zypern (GK), 12.02.2008, § 145: „The Court must, in particular, ascertain whether the text of the law, read in the light of the accompanying interpretative case-law, satisfied the requirements of accessibility and foreseeability. In doing so it must have regard to the domestic law as a whole and the way it was applied at the material time.“ Vgl. auch Lupo / Piccirilli, Legisprudence 6 (2012), S. 229 (236), die sich allerdings auch auf Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK beziehen.

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with changing circumstances. The role of adjudication vested in the courts is precisely to dissipate such interpretational doubts as remain. The progressive development of the criminal law through judicial law-making is a well-entrenched and necessary part of legal tradition in the Convention States […].“1149

Durch Auslegung komplettieren die Gerichte die Rechtsordnung, deren geschriebene abstrakt-generelle Normen allein nicht jeden Sachverhalt lückenlos regeln können.1150 Die Norm und ihr Auslegungsergebnis werden als Einheit betrachtet. Die (gesicherte) gerichtliche Auslegung einer geschriebenen Norm wird somit zu deren Bestandteil.1151 Sowohl die Organe, welche die geschriebene Norm erlassen, als auch die auslegenden Gerichte sind somit rechtsetzende Organe im Sinne des konventionsrechtlichen Gesetzesvorbehalts. Jenseits der gerichtlichen Auslegung, die sich eindeutig innerhalb der Wortlautgrenze der geschriebenen Norm hält, finden sich in der EGMR auch Sonderfälle, in welchen das Verhältnis zwischen Gerichten und anderen rechtsetzenden Organen anders ausgestaltet ist. Bereits die Urteile Kruslin und Huvig v Frankreich zeigten, dass die Grenze zwischen wortlautorientierter Auslegung einer vorhandenen Rechtsnorm und einer über diese Norm hinausgehenden Rechtsfortbildung fließend und nicht immer klar zu bestimmen ist, da ein intensiver Eingriff in die persönliche Privatsphäre auf eine Norm gestützt wurde, welche das Abhören von Telefongesprächen nicht explizit erlaubte.1152 Im Fall Mooren v Deutschland erkannte der EGMR an, dass die Praxis der Berufungsgerichte, einen Fall an die erste Instanz zurückzuverweisen, gegen den 1149 EGMR Nr. 34458/03, Porowski v Polen, 21.03.2017, § 113 (hier überträgt der EGMR diese Grundsätze auf Art. 5 Abs. 1 EMRK). Siehe vorher bereits EGMR Nr. 50425/06, Soros v Frankreich, 06.10.2011, §§ 51–52; Nr. 42750/09, Del Río Prada v Spanien (GK), 21.10.2013, §§ 92–93. Knapper EGMR 20190/92, C. R. v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, § 34; Nr. 20166/92, S. W. v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, § 36; Nr. 17862/91, Cantoni v Frankreich (GK), 15.11.1996, § 31; Nr. 14307/88, Kokkinakis v Griechenland, 25.05.1993, § 40; Nr. 37201/97, K.-H. W. v Deutschland (GK), 22.03.2001, § 45; Nr. 40403/02, Pessino v Frankreich, 10.10.2006, § 31; Nr. 77193/01 und 77196/01, Dragotoniu und Militaru-Pidhorni v Rumänien, 24.5.2007, §§ 36–37; Nr. 74613/01, Jorgic v Deutschland, 12.07.2007, § 101; Nr. 2312/08 und 34179/08, Maktouf und Damjanović v Bosnien und Herzegowina (GK), 18.07.2013, § 66. Bezogen auf andere Konventionsrechte EGMR Nr. 44774/98, Leyla Şahin v Türkei (GK), 10.11.2005, § 91; Nr. 58911/00, Leela Förderkreis e. V. u. a. v Deutschland, 06.11.2008, § 88; Nr. 27058/05, Dogru v Frankreich, 04.12.2008, § 57. 1150 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 216–217. 1151 So zum Beispiel in EGMR Nr. 44774/98, Leyla Şahin v Türkei (GK), 10.11.2005, § 89; Nr. 6428/07, Siryk v Ukraine, 31.03.2011, § 38; Nr. 17526/10, Gülcü v Türkei, 19.01.2016, § 106; Nr. 26364/04, Kalabalık v Türkei (Zul.), 02.02.2016, § 35; Nr. 43395/09, de Tommaso v Italien (GK), 23.02.2017, § 110. Vgl. Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 216, welche die rechtsprechende Gewalt treffend als une sorte de co-législateur bezeichnet; vgl. zu Art. 7 EMRK Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 7 EMRK Rn. 83; Renzikowski, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 7 Rn. 53 (2009). Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 139 geht hingegen davon aus, dass die Rechtsgrundlage im Falle der Auslegung durch Gerichte immer noch das parlamentarische Eingriffsgesetz ist. 1152 Siehe hierzu schon oben ab S. 254.

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Wortlaut der anwendbaren strafprozessualen Norm sprach. Er akzeptierte aber, dass sich diese Praxis bereits in der früheren Rechtsprechung etabliert hatte und daher für den Beschwerdeführer vorhersehbar war.1153 Bezogen auf das Verhältnis zwischen dem legislativen und dem judikativen Normgeber bedeutet dass, dass sich Gerichte mehrfach über die Wortlautgrenzen der geschriebenen Norm hinweggesetzt hatten und dadurch schließlich eine anerkannte Praxis begründeten. Eine gerichtliche, über den geschriebenen Wortlaut hinausgehende Auslegung ist auch in den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen somit nicht grundsätzlich konventionswidrig. In der Sache Trgo v Kroatien hatte der Gesetzgeber noch kein neues Gesetz erlassen, nachdem das Verfassungsgericht die ursprüngliche Fassung aufgehoben hatte. In einem Verfahren vor dem Regionalgericht, welches nach der aufgehobenen Vorschrift zu entscheiden gewesen wäre, sah der EGMR das verfassungsgericht­ liche Urteil als ausreichende rechtliche Grundlage an.1154 Obwohl der Rechtsstreit in einer Rechtsordnung des civil law entschieden wurde, reichte dem EGMR – ohne das Fehlen einer geschriebenen abstrakt-generellen Norm näher zu thematisieren – ein Urteil als eigenständige gerichtliche Rechtsgrundlage aus. Diese Beispiele zeigen, dass Gerichte nicht nur im common law rechtsfortbildend tätig sein oder sich über die geschriebenen abstrakt-generellen Normen hinwegsetzen können. Voraussetzung hierfür ist, dass die gerichtlichen Entscheidungen auch in der nationalen Rechtsordnung als wirksames Recht anerkannt sind: „The Court does not consider it necessary to decide in the abstract whether the role in the continental-law system of  a rule […] established by the courts is comparable to that of statutory provisions.“1155

1153

EGMR Nr. 11364/03, Mooren v Deutschland (GK), 09.07.2009, §§ 92–93. Kritisch hierzu Kosař / Lixinski, AJIL 109 (2015), S. 713 (743–744), welche in der Entscheidung eine Abänderung der geltenden Rechtslage durch die Rechtsprechung zum Nachteil des Angeklagten erkennen. Siehe zum Urteil im Kontext der Vorhersehbarkeit unten ab S. 290. 1154 EGMR Nr. 35298/04, Trgo v Kroatien, 11.06.2009, §§ 17, 57. Dieser Fall ist zu unterscheiden von solchen Urteilen, in denen Gerichte eine geschriebene Norm zwar eigentlich für unwirksam erklärten, deren Anwendung aber aus praktischen Gründen noch für einen Übergangszeitraum erlaubten. In diesen Fällen war nicht das Gericht, sondern die geschriebene Norm die rechtliche Grundlage, welche ausnahmsweise angewendet werden durfte, obwohl sie rechtswidrig war. Siehe hierzu oben im Rahmen der Rechtmäßigkeit der gesetzlichen Grundlage ab S. 244. 1155 EGMR Nr. 24638/94, Carbonara und Ventura v Italien, 30.05.2000, § 64; Nr. 31524/96, Belvedere Alberghiera S. r. l. v Italien, 30.05.2000, § 57; Nr. 58858/00, Guiso-Gallisay v Italien, 08.12.2005, § 83; inhaltsgleich EGMR Nr. 58119/00, La Rosa und Alba v Italien Nr. 1, 11.10.2005, § 77. Außerdem EGMR Nr. 34478/97, Fener Rum Erkek Lisesi Vakfı v Türkei, 09.01.2007, § 51. In allen hier zitierten Urteilen lag letztlich keine konventionskonforme rechtliche Grundlage vor, weil die Rechtsfolge für die Beschwerdeführer nicht vorhersehbar war. Die Vorhersehbarkeitsprüfungen hätte sich der EGMR allerdings sparen können, wenn er die gerichtliche Rechtsetzung prinzipiell ablehnen würde.

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Ob eine gerichtliche Auslegung oder Rechtsfortbildung nach innerstaatlichen Maßstäben rechtmäßig ist, prüft der EGMR genauso wenig wie die Rechtmäßigkeit der geschriebenen Rechtsgrundlagen.1156 Richterrecht muss, wie alle anderen gesetzlichen Grundlagen zur Einschränkung oder Ausgestaltung eines Konventionsrechts, ausreichend zugänglich, bestimmt und vorhersehbar sein. Diese qualitativen Merkmale sind in der Regel entscheidend für die Einordnung eines Gesetzes im Sinne der EMRK,1157 sodass die Besonderheiten des Richterrechts in diesem Kontext relevant werden. Gleichzeitig führt diese Vorgehensweise des EGMR dazu, dass er die vom common law geprägten Rechtsordnungen und die kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen gleich behandeln kann, da sich deren unterschiedliches Verständnis von Richterrecht als primäre oder sekundäre Rechtsquelle nicht auf die Beurteilung durch den Gerichtshof auswirkt. Die in Huvig und Kruslin v Frankreich angesprochene, anschließend aber nicht mehr wiederholte, Gleichstellung der beiden Rechtssysteme, hat sich verstetigt. Die Kritik, dass der EGMR durch die Anerkennung von Richterrecht als gesetzliche Grundlage den qualitativen Unterschied zwischen parlamentarischen Rechtsakten und anderen Rechtsquellen verkenne,1158 überzeugt nicht. Sofern die Konventionsstaaten parlamentarische Gesetze höher einordnen als sonstige Rechtsakte und eine vorrangige Regelung von Grundrechtseingriffen durch parlamentarische Gesetze fordern, wird diese Vorgabe Teil der Rechtmäßigkeitsanforderungen an die rechtliche Grundlage im Sinne der EMRK. (4) Zwischenfazit Die Rolle der nationalen Gerichte ist in erster Linie die Auslegung und Anwendung der geschriebenen Gesetze. Hierdurch konkretisieren die Gerichte die geschriebenen Rechtsgrundlagen und können deren Auslegung außerdem flexibel an geänderte Umstände anpassen. Sofern das nationale Recht eine originäre richterliche Rechtsetzung oder Rechtsfortbildung als gesetzliche Eingriffsgrundlage oder Ausgestaltungsnorm anerkennt, können diese ebenfalls ein Gesetz im Sinne der EMRK darstellen. Gerichte können somit sowohl eigenständig als auch gemeinsam mit anderen Organen rechtsetzend tätig sein.

1156 Siehe zur Frage der Rechtmäßigkeit der gesetzlichen Grundlage bereits ab S. 244. Die dort beschriebenen Grundsätze sind auch auf Richterrecht anwendbar. 1157 Siehe die Nachweise aus Fn. 1155; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 218; Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis, S. 61–62. Näher zu den qualitativen Gesetzesmerkmalen ab S. 264. 1158 Kosař / Lixinski, AJIL 109 (2015), S. 713 (743).

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e) Rechtsetzung selbstständiger Verbände und Körperschaften Die Urteile Barthold v Deutschland und Casado Coca v Spanien zeigen, dass auch eine Rechtsetzung autonomer Verbände und Körperschaften (im konkreten Fall einer Tierärztekammer und einer Rechtsanwaltskammer) grundsätzlich den Anforderungen des konventionsrechtlichen Gesetzesbegriffs entsprechen können.1159 In beiden Fällen fußte die Rechtsetzungskompetenz der Körperschaft auf einem parlamentarischen Gesetz. Außerdem unterlag die Rechtsetzung jeweils der Kontrolle der Regierung.1160 Das Schrifttum leitet hieraus ab, dass die Rechtsetzung einer Körperschaft öffentlichen Rechts nur dann als Gesetz eingestuft werden kann, wenn eine formell-gesetzliche Delegation vorliegt.1161 Genauso wie bei der exekutiven Rechtsetzung lässt sich eine solche Anforderung allerdings nicht aus der EGMR-Rechtsprechung herauslesen. Unter welchen Voraussetzungen und in welchem Rahmen Verbände und Körperschaften des öffentlichen Rechts rechtsetzend tätig werden dürfen, richtet sich  – entsprechend dem Rechtmäßigkeitserfordernis1162 – nach der innerstaatlichen Rechtsordnung. Aus konventionsrechtlicher Perspektive ist lediglich ausschlaggebend, dass die von den autonomen Verbänden und Körperschaften anerkannten Normen im innerstaatlichen Recht als Rechtsquelle anerkannt sind. f) Internationales und europäisches Recht Auch internationales Recht, die Verträge der Europäischen Union sowie unionale Sekundärrechtsakte1163 können eine rechtliche Grundlage für Einschränkungen oder die Ausgestaltung von Konventionsrechten sein. Während Art. 7 EMRK 1159

EGMR Nr. 8734/79, Barthold v Deutschland, 25.03.1985, § 46; Nr. 15450/89, Casado Coca v Spanien, 24.02.1994, §§ 23, 41–43; Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 551 (1992); Matscher, Der Gesetzesbegriff der EMRK, in: Adamovich, FS Loebenstein, S. 105 (115). 1160 EGMR Nr. 8734/79, Barthold v Deutschland, 25.03.1985, § 46; Nr. 15450/89, Casado Coca v Spanien, 24.02.1994, §§ 41–43. 1161 Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 121, 135; Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 185; Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 95–96, Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 551 (1992) (bezogen auf Barthold v Deutschland). 1162 Siehe hierzu oben ab S. 244. 1163 Soweit ersichtlich wurde eine unionsrechtliche Rechtsgrundlage in der EGMR-Rechtsprechung bisher nicht relevant. Es ist jedoch kein Grund ersichtlich, warum für das Unionsrecht andere Grundsätze als für das allgemeine Völkerrecht gelten sollten. Für die Einbeziehung von Unionsrechtsakten auch Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, 3. Aufl., Kap. 13 Rn. 142; Renzikowski, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 7 Rn. 47 (2009); Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes, S. 149; Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 220 ff., 270–271; zweifelnd mit Verweis auf die demokratische Legitimation Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis, S. 64–65.

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und Art. 1 Abs. 1 S. 2 ZP das internationale Recht beziehungsweise die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts (international law / general principles of international law / le droit international / les principes généraux du droit international) bereits im Wortlaut als Rechtsgrundlage anerkennen,1164 wird das Völkerrecht in die anderen Gesetzesvorbehalte hineingelesen.1165 Das internationale Recht muss ein unmittelbar anwendbarer Bestandteil der nationalen Rechtsordnung sein. Eine rein zwischenstaatliche Verpflichtung reicht nicht aus. Darüber hinaus können völkerrechtliche Normen zur Auslegung nationaler Rechtsgrundlagen hinzugezogen werden.1166 g) Gewohnheitsrecht Gewohnheitsrecht bildet sich, wenn sich unter allen Rechtsanwendern über einen längeren Zeitraum durch praktische Übung eine Rechtsüberzeugung gebildet hat.1167 Während Richterrecht allein auf gerichtliche Auslegung oder Rechtsfortbildung zurückgeht und nicht darauf angewiesen ist, dass andere Organe die judikative Rechtsauffassung teilen, ist die Herausbildung von Gewohnheitsrecht nicht von einem Organ oder einer Gewalt abhängig, sondern von einem übergreifenden Konsens. In der Sache Drozd und Janousek v Frankreich und Spanien erkannte der EGMR gewohnheitsrechtliche Regelungen als Eingriffsgrundlage an. Das seit dem Mittelalter anerkannte Prinzip, dass durch andorranische Gerichte verurteilte Personen ihre Haftstrafe in französischen oder spanischen Gefängnissen verbüßen mussten, wurde dauerhaft angewendet und war niemals in Frage gestellt worden.1168 Dadurch hatte das Gewohnheitsrecht ausreichend Stabilität und Rechtskraft, um als Rechtsgrundlage herangezogen werden zu können.1169 Auch Gewohnheitsrecht kann somit ein Gesetz im Sinne der EMRK darstellen.1170 1164 Siehe zu Art. 7 EMRK etwa EGMR Nr. 9174/02, Korbely v Ungarn (GK), 19.09.2008, § 74 (im konkreten Fall war die Sanktion aufgrund der völkerrechtlichen Rechtsgrundlage nicht vorhersehbar, §§ 76–94), für völkerrechtliches Gewohnheitsrecht EGMR Nr. 36376/04, Kononov v Lettland (GK), 17.05.2010, § 237; ausführlich Kleinlein, EuGRZ 2010, S. 544–560. 1165 EGMR Nr. 10890/84, Groppera Radio AG u. a. v Schweiz (Pl.), 28.03.1990, § 68; Nr. 44853/10, Toniolo v San Marino und Italien, 26.06.2012, § 44. Für Nachweise aus dem Schrifttum zu Art. 5 EMRK Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn.  144. 1166 So der Fall in EGMR Nr. 44158/98, Gorzelik u. a. v Polen (GK), 17.02.2004, §§ 67–70. 1167 Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 103; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, S. 146; Ehlers, in: Erichsen / Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 2 Rn. 60. 1168 So die Argumentation der Regierung in EGMR Nr. 12747/87, Drozd und Janousek v Frankreich und Spanien (Pl.), 26.06.1992, § 106. 1169 EGMR Nr. 12747/87, Drozd und Janousek v Frankreich und Spanien (Pl.), 26.06.1992, § 107. 1170 Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn.  142; Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2

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Gewohnheitsrechtliche Normen müssen sich zunächst durchsetzen, damit sie als rechtliche Grundlage anerkannt werden. Maßgeblich dafür ist die Haltung des anwendenden Staates.1171 Der EGMR akzeptiert das Gewohnheitsrecht als rechtliche Grundlage nicht, wenn es gegen höheres Recht oder gegen Konventionsrecht, insbesondere gegen die qualitativen Anforderungen an den Gesetzesbegriff, verstößt oder eine willkürliche Ausübung von Hoheitsgewalt zulässt.1172 Es gelten also die gleichen Grundsätze wie für die Einordnung legislativer, exekutiver oder judikativer Rechtsetzung. h) Zwischenfazit Die EMRK legt einen materiellen Gesetzesbegriff zugrunde, sodass der Normgeber für die Einordnung eines Rechtsakts als Gesetz grundsätzlich irrelevant ist. Ausschlaggebend für die Einordnung eines Rechtsakts als Gesetz ist, ob dieser im nationalen Recht anerkannt ist. In der Rechtsprechung finden sich daher Beispiele für Rechtsgrundlagen, die auf legislative, exekutive und judikative Entscheidungen zurückgehen, genauso wie – für Fragen der Gewaltenteilung weniger relevant – auf selbstständige Körperschaften, Völker- und Europarecht und Gewohnheitsrecht. Richterrecht kann Gesetzesqualität besitzen, unabhängig davon, ob in einem Staat das common law als Rechtsquelle anerkannt ist. Der konventionsrechtliche Gesetzesbegriff wird weniger durch die an der Rechtsetzung beteiligten Organe, als durch die – sogleich betrachteten – qualitativen Merkmale ausgestaltet. Bei deren Prüfung legt der EGMR regelmäßig neben den abstrakt-generellen geschriebenen Eingriffsgrundlagen auch die dazu ergangene Rechtsprechung sowie, sofern erforderlich, weitere Auslegungshilfen wie höherrangige Rechtsnormen, interne Verwaltungsvorschriften oder völkerrechtliche Verträge zugrunde. Das „Gesetz“ im Sinne der EMRK ist somit die Zusammenschau der für den Eingriff oder die Ausgestaltung relevanten Rechtsakte.1173 Der EGMR unterscheidet nicht zwischen dem Rechtsetzungsakt und der Auslegungsentscheidung. Die Tatsache, dass der EGMR kein hoheitliches Organ von der EMRK-relevanten Gesetzgebung und Auslegung ausschließt, sagt jedoch noch nichts darüber aus, ob die qualitativen Anforderungen an den Gesetzesbegriff abhängig vom jeweiligen Normgeber variieren.

Rn. 76; Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 154; Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 101–103; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 723; Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 184; Matscher, Der Gesetzesbegriff der EMRK, in: Adamovich, FS Loebenstein, S. 105 (110). 1171 So auch Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 723. 1172 Vgl. Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 153–154. 1173 Siehe hierfür auch EGMR Nr. 27058/05, Dogru v Frankreich, 04.12.2008, § 51, wo der EGMR explizit die Rechtslage als Kombination verschiedener Rechtsakte untersucht.

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Für die Gewaltenteilung der Konventionsstaaten bedeutet die dargestellte Rechtsprechung, dass die EMRK nicht von den Konventionsstaaten verlangt, die grundrechtsrelevante Gesetzgebung einem konkreten Organ zuzuweisen. Insbesondere erkannte der EGMR nicht nur solche Rechtsakte als Gesetz an, die von einer gesetzgebenden Körperschaft im Sinne des Art. 3 ZP beschlossen wurden. Indem der EGMR keine Vorgaben zu den rechtsetzenden Organen entwickelte, stellte er sicher, dass kein Konventionsstaat seine Rechtsordnung hinsichtlich der Zuweisung der Gesetzgebung zu bestimmten Organen strukturell verändern musste. Die EMRK lässt ausreichend Raum für nationale Besonderheiten der Rechtsakts-Lehre.1174 3. Normqualität: Rechtsstaatlichkeit als Leitgedanke Maßgeblich für den konventionsrechtlichen Gesetzesbegriff sind dessen qualitative Anforderungen, die sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten.1175 Die Rechtsstaatlichkeit wird nicht nur in der Präambel erwähnt, sondern ist allen konventionsrechtlichen Gewährleistungen immanent.1176 Der EGMR leitete aus dem Rechtsstaatsprinzip einerseits die Anforderung ab, den Grundrechtsträger vor willkürlichen Eingriffen durch die öffentliche Gewalt zu schützen, und andererseits den Grundsatz der Rechtssicherheit.1177 Um die Gefahr einer willkürlichen Anwendung hoheitlicher Gewalt zu verhindern, muss das Gesetz muss ausreichend zugänglich, bestimmt und in seiner Anwendung vorhersehbar sein (sufficiently accessible, precise and foreseeable in its application, in order to avoid all risk of arbitrariness).1178 Die Rechtssicherheit erwähnte der EGMR besonders häufig im Kontext des Art. 5 Abs. 1 EMRK. 1174 Vgl. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis, S. 61; Kastanas, Unité et Diversité, S. 39. 1175 EGMR Nr. 8691/79, Malone v Vereinigtes Königreich (Pl.), 02.08.1984, § 67; Nr. 20605/92, Halford v Vereinigtes Königreich, 25.06.1997, § 49; Nr. 588/13, Libert v Frankreich, 22.02.2018, § 43; Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 55 (2009); Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 115. 1176 EGMR Nr. 8691/79, Malone v Vereinigtes Königreich (Pl.), 02.08.1984, § 67; Nr. 19776/92, Amuur v Frankreich, 25.06.1996, § 50; Nr. 20605/92, Halford v Vereinigtes Königreich, 25.06.1997, § 49; Nr. 25701/94, The Former King of Greece u. a. v Griechenland (GK), 23.11.2000, § 79; Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 156; Nr. 588/13, Libert v Frankreich, 22.02.2018, § 43; Nr. 36480/07, Lekić v Slowenien (GK), 11.12.2018, § 94; Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 115; Sudre, Droits de l’homme, Rn. 134. 1177 Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 115; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 718–719, speziell zum Willkürschutz S. 723; Matscher, Der Gesetzesbegriff in der EMRK, in: Adamovich, FS Loebenstein, S. 105 (113). 1178 EGMR Nr. 19776/92, Amuur v Frankreich, 25.06.1996, § 50; Nr. 28341/95, Rotaru v Rumänien (GK), 04.05.2000, § 52; Nr. 11843/03 u. a., Custers, Deveaux und Turk v Dänemark, 03.05.2007, § 77; Nr. 656/06, Nasrulloyev v Russland, 11.10.2007, § 71; Nr. 2440/07, Solda-

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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„[W]here deprivation of liberty is concerned it is particularly important that the general principle of legal certainty be satisfied. It is therefore essential that the conditions for deprivation of liberty under domestic law be clearly defined and that the law itself be foreseeable in its application, so that it meets the standard of ‚lawfulness‘ set by the Convention […].“1179

Die Zugänglichkeit des Rechts schützt primär die Rechtsklarheit, also die Möglichkeit jedes Grundrechtsträgers, von den relevanten Vorschriften Kenntnis zu erhalten, die Vorhersehbarkeit schützt die Rechtssicherheit im engeren Sinne, also die Möglichkeit, mit ausreichender Sicherheit die korrekten Rechtsfolgen ermitteln zu können.1180 Die Anforderungen des EGMR an die Gesetzesqualität haben sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt. Nachdem der EGMR zunächst im Sunday Times-Urteil nur die Zugänglichkeit des Gesetzes und die Vorhersehbarkeit der Rechtsfolgen verlangte,1181 forderte er später zusätzlich, dass Verfahrensrechte und Rechtsschutzmöglichkeiten vor einer willkürlichen Ausübung von Hoheitsgewalt schützen.1182 Die Prüfungsstruktur der qualitativen Gesetzesmerkmale variiert. Die Zugänglichkeit der rechtlichen Grundlage wird selten ausführlich geprüft.1183 Problematischer sind in der Regel die sich aus der Vorhersehbarkeit ergebenden Anforde-

tenko v Ukraine, 23.10.2008, § 111; Nr. 11364/03, Mooren v Deutschland (GK), 09.07.2009, § 76; Nr. 42750/09, Del Río Prada v Spanien (GK), 21.10.2013, § 125; Nr. 40927/05, Bože v Lettland, 18.05.2017, § 74; Nr. 36480/07, Lekić v Slowenien (GK), 11.12.2018, § 95. Siehe auch die Nachweise bei Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 721; Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 115; Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 186; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 246; Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 147 Rn. 19 Fn. 62; Marauhn / Merhof, in: Dörr / Grote /  Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 7 Rn. 29–37; zu den Anforderungen gem. Art. 5 EMRK Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn. 143; Elberling, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 5 Rn. 19. Zu Art. 1 ZP Beeler- ­Sigron, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 851 (875–876); Kriebaum, in: Pabel /  Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 1 ZP Rn. 214 (2013). Zu Art. 8 EMRK Wildhaber /  Breitenmoser, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 540 (1992). Zu Art. 7 EMRK Kadelbach, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  15 Rn. 24. 1179 EGMR Nr. 28358/95, Baranowski v Polen, 28.03.2000, § 52; dem folgend EGMR Nr. 3394/03, Medvedyev u. a. v Frankreich (GK), 29.03.2010, § 80; Nr. 16483/12, Khlaifia u. a. v Italien (GK), 15.12.2016, § 92; Nr. 34458/03, Porowski v Polen, 21.03.2017, § 116; Nr. 16538/17, Şahin Alpay v Türkei, 20.03.2018, § 116. 1180 Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 187; Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel  /  Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 555 (1992). 1181 EGMR Nr. 6538/74, The Sunday Times v Vereinigtes Königreich Nr. 1 (Pl.), 24.04.1979, § 49. 1182 Statt aller EGMR Nr. 28341/95, Rotaru v Rumänien (GK), 04.05.2000, § 55; Nr. 38224/03, Sanoma Uitgevers B. V. v Niederlande (GK), 14.09.2010, §§ 81–82; Nr. 36480/07, Lekić v Slowenien (GK), 11.12.2018, § 95. 1183 Vgl. Lavrysen, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 307 (312).

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

rungen. Der EGMR prüft die Bestimmtheit teils eigenständig, teils im Rahmen der Vorhersehbarkeit. Gleiches gilt für die Verfahrens- und Rechtsschutzanforderungen.1184 Genauso prüft der EGMR die Bestimmtheit des Gesetzes teilweise separat, teils im Rahmen der Vorhersehbarkeit. Für die Forschungsfrage dieser Arbeit und die Erarbeitung inhaltlicher Anforderungen an die konventionsstaatliche Gewaltenteilung sind die inhaltlichen qualitativen Anforderungen relevant, nicht aber deren Struktur, sodass vorliegend auf eine nähere Auseinandersetzung hiermit verzichtet wird. Die Bestimmtheit und die prozeduralen Schutzmechanismen werden als Unterpunkt der Vorhersehbarkeit behandelt.1185 a) Zugänglichkeit Ein Gesetz ist zugänglich, wenn der Bürger die Möglichkeit hatte, Existenz und Wortlaut der Vorschrift zu erkennen.1186 „[T]he citizen must be able to have an indication that is adequate in the circumstances of the legal rules applicable to a given case.“1187

Sofern unproblematisch, wurde die Zugänglichkeit häufig vom EGMR unterstellt oder ohne nähere Begründung festgestellt.1188

1184

Gerards, General Principles of the ECHR, S. 214–219 geht auf die prozeduralen Schutzmechanismen eigenständig ein; ebenso Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 576–578 (1992). 1185 So wie hier auch bei Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 147 Rn. 20–21; Lavrysen, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 307 (313); Verfahrensrechte als Teil der Vorhersehbarkeit bei Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 250. 1186 Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 556 (1992); Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 115–116; Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 187; Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 76; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 722: „sprachlich zugänglich“; Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes, S. 144; ­L avrysen, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 307 (312); Gerards, General Principles of the ECHR, S. 203–204; Steiner, The Rule of Law in the Jurisprudence of the ECtHR, in: Schroeder, Strengthening the Rule of Law in Europe, S. 135 (151); Wyttenbach / Hofer, Swiss Review of International and European Law 27 (2017), S. 333 (344); Kleinlein, EuGRZ 2010, S. 544 (549): „wenn sich jedermann über den Inhalt informieren kann“. 1187 EGMR Nr. 6538/74, The Sunday Times v Vereinigtes Königreich Nr. 1 (Pl.), 24.04.1979, § 49; EGMR Nr. 8691/79, Malone v Vereinigtes Königreich (Pl.), 02.08.1984, § 66; Nr. 31820/06, Knyter v Polen, 01.02.2011, § 77; Nr. 28975/05, Khlyustov v Russland, 11.07.2013, § 68; Nr. 29086/12, Osmanoğlu and Kocabaş v Schweiz, 10.01.2017, § 51; Nr. 67482/14, Lebois v Bulgarien, 19.10.2017, § 66. 1188 EGMR Nr. 8734/79, Barthold v Deutschland, 25.03.1985, § 47; Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, §§ 123–124; Nr. 28859/11 und 28473/12, Dubská und Krejzová v Tschechien (GK), 15.11.2016, § 168; Nr. 43395/09, de Tommaso v Italien (GK), 23.02.2017, § 112; Nr. 201/17, Magyar Kétfarkú Kutya Párt v Ungarn (GK), 20.01.2020, § 108.

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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(1) Grundsatz: Zumutbare Möglichkeit zur Kenntnisnahme durch Veröffentlichung Wurde das Gesetz, sei es ein parlamentarisches Gesetz1189 oder eine exekutive Verordnung1190 veröffentlicht, liegt die Möglichkeit zur Kenntnisnahme vor1191 – unabhängig davon, ob der Betroffene den Rechtsakt tatsächlich zur Kenntnis genommen hat oder ob die Norm von dem Betroffenen verstanden wurde oder verstanden werden konnte.1192 Inhaltliche Anforderungen an die Verständlichkeit der Norm sind Bestandteil der Vorhersehbarkeit. Üblicherweise erfolgt eine Veröffentlichung parlamentarischer oder exekutiver Gesetze über offizielle Amtsblätter. Im Fall Korbely v Ungarn reichte dem EGMR aus, dass der Ratifikationsakt zu den Genfer Konventionen im offiziellen Amtsblatt veröffentlicht wurde, die offizielle Übersetzung des völkerrechtlichen Vertrags jedoch in einer Broschüre und in einem militärischen Amtsblatt erschien.1193 In Špaček v Tschechien erachtete der EGMR es als ausreichend, dass ein Rechtsakt durch ein Ministerium veröffentlicht wurde und gegen Gebühr für die gesamte Öffentlichkeit einsehbar war.1194 Die Beurteilung des EGMR fiel jedoch anders aus, als ein Rechtsakt in einer privaten Datenbank sowie in einem Magazin, welches nicht der gesamten Öffentlichkeit zugänglich war, veröffentlicht wurde.1195 In den Urteilen Groppera und Autronic jeweils gegen die Schweiz untersuchte der EGMR die rechtlichen Grundlagen für Einschränkungen der Ausstrahlung und des Empfangs von Rundfunkprogrammen, den Internationalen Fernmeldevertrag (International Telecommunication Convention) und die dazu gehörigen Verwaltungsvorschriften (Radio Regulations). In der amtlichen Sammlung waren die Verwaltungsvorschriften nicht veröffentlicht worden; es fand sich jedoch ein Verweis auf die Fundstelle.1196 Im konkreten Fall sprachen der kleine und gleich 1189 EGMR Nr. 9063/80, Gillow v Vereinigtes Königreich, 24.11.1986, § 50; Nr. 28341/95, Rotaru v Rumänien (GK), 04.05.2000, § 55. 1190 EGMR Nr. 10337/04, Lupsa v Rumänien, 08.06.2006, § 36; Nr. 11843/03 u. a., Custers, Deveaux und Turk v Dänemark, 03.05.2007, § 82; Coussirat-Coustère, in: Pettiti / Decaux /  Imbert, CEDH, Art. 8 § 2, S. 335. 1191 So auch Marauhn / Merhof, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / ​ GG, Kap. 7 Rn. 29; Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 187; Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 104; Gerards, General Principles of the ECHR, S. 204; Müßig, Recht und Justizhoheit, S. 403; Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 116. 1192 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 18 Rn. 10 sprechen zutreffend davon, dass der Betroffene den Inhalt der Vorschrift „erfahren“ können muss; ebenso Marauhn / Merhof, in: Dörr  / ​ Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  7 Rn.  29; Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 115. 1193 EGMR Nr. 9174/02, Korbely v Ungarn (GK), 19.09.2008, § 75. 1194 EGMR Nr. 26449/95, Špaček, s. r. o. v Tschechien, 09.11.1999, § 58. 1195 EGMR Nr. 47143/06, Roman Zakharov v Russland (GK), 04.12.2015, § 242. 1196 EGMR Nr. 10890/84, Groppera Radio AG u. a. v Schweiz (Pl.), 28.03.1990, §§ 33–36, 68; EGMR Nr. 12726/87, Autronic AG v Schweiz (Pl.), 22.05.1990, §§ 34–36, 57; hierzu M ­ atscher,

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

zeitig professionalisierte Adressatenkreis (die Rundfunkbetreiber) sowie die Länge der Vorschriften (über 1000 Seiten) dafür, dass ausnahmsweise auf eine komplette Veröffentlichung im offiziellen Amtsblatt verzichtet werden konnte.1197 Der EGMR relativierte also seine Maßstäbe abhängig von den konkreten Umständen und insbesondere dem Adressatenkreis der Vorschriften.1198 Hieraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass in allen Fällen ein Verweis im Amtsblatt ausreichend ist.1199 Damit kann festgehalten werden, dass jede Veröffentlichung durch eine hoheit­ liche Stelle, die für jedermann – gegebenenfalls gegen Gebühr – zugänglich ist, dem EGMR genügt. Nicht ausreichend sind nach aktuellem Stand gebührenpflichtige private Angebote. Ist die Veröffentlichung nur für einen bestimmten Personenkreis zugänglich, darf das Gesetz auch nur diese Personen betreffen; adressiert das Gesetz hingegen die Allgemeinheit, müssen auch alle Betroffenen die Möglichkeit der Kenntnisnahme erhalten. Sofern ein weiterer abstrakt-genereller Rechtsakt, sei es eine Verordnung oder eine interne Verwaltungsvorschrift, die ursprüngliche Eingriffsgrundlage konkretisiert, muss er ebenfalls veröffentlicht sein, um im Rahmen der Vorhersehbarkeitsprüfung herangezogen werden zu können.1200 Alternativ muss sichergestellt werden, dass die betroffenen Personen eine anderweitige Möglichkeit der Kenntnisnahme haben, etwa weil die relevanten Vorschriften per Aushang bekannt gemacht werden.1201 Dies gilt jedenfalls dann, wenn die konkretisierenden Vorschriften grundrechtsrelevant sind.1202 Der Gesetzesbegriff in der EMRK, in: Adamovich, FS Loebenstein, S. 105 (117–118); Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 187; Gerards, General Principles of the ECHR, S. 204. 1197 Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 187 geht davon aus, dass die Anforderungen an die Zugänglichkeit bei kleineren Adressatenkreisen abnehmen. 1198 EGMR Nr. 10890/84, Groppera Radio AG u. a. v Schweiz (Pl.), 28.03.1990, § 68; aktueller Nr. 67482/14, Lebois v Bulgarien, 19.10.2017, §§ 66–67; Logemann, Grenze der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 187; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 18 Rn. 10; Steiner, The Rule of Law in the Jurisprudence of the ECtHR, in: Schroeder, Strengthening the Rule of Law in Europe, S. 135 (151). 1199 Anders Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 116, der diese Urteile verallgemeinert mit Verweis auf Coussirat-Coustère, in: Pettiti / Decaux / Imbert, CEDH, Art. 8 § 2, S. 335. 1200 EGMR Nr. 5947/72 u. a., Silver u. a. v Vereinigtes Königreich, 25.03.1983, §§ 87–88; Nr. 47143/06, Roman Zakharov v Russland (GK), 04.12.2015, §§ 239–241; Nr. 11379/03, Dimi­ trov-Kazakov v Bulgarien, 10.02.2011, §§ 32–34; Nr. 67482/14, Lebois v Bulgarien, 19.10.2017, § 67; Nr. 37326/13, Unifaun Theatre Productions Limited u. a. v Malta, 15.05.2018, §§ 81–84; zum Lebois-Urteil Gerards, General Principles of the ECHR, S. 205; zum Silver-Urteil Matscher, Der Gesetzesbegriff in der EMRK, in: Adamovich, FS Loebenstein, S. 105 (114). 1201 EGMR Nr. 67482/14, Lebois v Bulgarien, 19.10.2017, §§ 66–67 (der EGMR deutete an, dass Strafgefangenen die Verhaltensregeln auch per Aushang bekannt gemacht werden könnten). Ebenso schon EGMR Nr. 5947/72 u. a., Silver u. a. v Vereinigtes Königreich, 25.03.1983, §§ 87–88, 26. 1202 EGMR Nr. 47143/06, Roman Zakharov v Russland (GK), 04.12.2015, § 241.

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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(2) Sonderfall: Richterrecht Durch die Veröffentlichung legislativer oder exekutiver abstrakt-genereller Normen etwa in offiziellen Amtsblättern können die Betroffenen den genauen Wortlaut einer Vorschrift erfassen. Wird ein für die Auslegung wegweisendes Urteil veröffentlicht oder ist es im Internet abrufbar, ist es ebenfalls zugänglich.1203 Im Falle der Entwicklung von richterlichem Gewohnheitsrecht – sei es in einer Rechtsordnung des common law oder des civil law1204 – ergibt sich dessen rechtliche Qualität jedoch nicht aus einem einmaligen Urteil, sondern aus einer sich langsam entwickelnden, länger andauernden konstanten Entscheidungspraxis. Eine einmalige Veröffentlichung verbietet sich daher bereits aufgrund der Natur des Rechtsakts. Bereits in Sunday Times v Vereinigtes Königreich Nr. 1, dem Leiturteil zur Anerkennung von Richterrecht als Rechtsgrundlage im Sinne der EMRK,1205 stellte der EGMR klar, dass auch langsam gewachsenes common law zugänglich ist, sofern eine zumutbare Möglichkeit der Kenntnisnahme besteht, etwa weil die Rechtsprechung oder andere Veröffentlichungen den konkreten Rechtsgrundsatz anerkannt haben.1206 Die langsame Entwicklung eines neuen richterrechtlichen Instituts ermöglicht es den Betroffenen, rechtzeitig Kenntnis von der Existenz der Rechtsvorschrift zu nehmen.1207 (3) Zwischenfazit Ein Gesetz im Sinne der EMRK ist zugänglich, wenn der Bürger eine adäquate Möglichkeit hat, von den Regelungen Kenntnis zu erhalten. Ist eine Veröffent­ lichung in einem offiziellen Amtsblatt nicht möglich, prüft der EGMR Alternativen, etwa eine Veröffentlichung durch Aushang oder im Falle von Richter- oder Gewohnheitsrecht die Möglichkeit der Kenntnisnahme durch Zeitablauf.1208 Ist eine neu erlassene geschriebene Regelung jedoch an einen großen Adressatenkreis ge-

1203 EGMR Nr. 14307/88, Kokkinakis v Griechenland, 25.05.1993, § 40; Nr. 15312/89, G. v Frankreich, 27.09.1995, § 25; Nr. 44774/98, Leyla Şahin v Türkei (GK), 10.11.2005, § 93; Nr. 17526/10, Gülcü v Türkei, 19.01.2016, § 107 (zur Veröffentlichung im Internet, außerhalb eines offiziellen Amtsblattes). 1204 Trotz der unterschiedlichen Rolle von Richterrecht in den Rechtsordnungen behandelt der EGMR beide Fälle gleich, siehe ab S. 255. 1205 Siehe hierzu bereits S. 252. 1206 Siehe EGMR Nr. 6538/74, The Sunday Times v Vereinigtes Königreich Nr. 1 (Pl.), 24.04.1979, §§ 49–53; Matscher, Der Gesetzesbegriff der EMRK, in: Adamovich, FS Loeben­ stein, S. 105 (113); Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 187; Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 145. 1207 Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 153–154. 1208 Steiner, The Rule of Law in the Jurisprudence of the ECtHR, in: Schroeder, Strengthening the Rule of Law in Europe, S. 135 (152). Gerards, General Principles of the ECHR, S. 204 bezeichnet die Anforderungen als nicht besonders streng.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

richtet, ist es unwahrscheinlich, dass der EGMR vom Erfordernis der offiziellen Veröffentlichung abweicht.1209 Der EGMR führte seine Rechtsprechungslinie zum konventionsrechtlichen Gesetzesbegriff, die keine Anforderungen an den Normgeber stellt und sich nicht in die innerstaatlichen Rechtsetzungsprozesse einmischt, konsequent fort: Er nahm auf die Besonderheiten der verschiedenen Rechtsakte Rücksicht, welche sich insbesondere durch ihren Entstehungsprozess unterscheiden. Das sich langsam verfestigende Richter- und Gewohnheitsrecht entwickelt sich anders als parlamentarische oder exekutive Gesetze nicht zu einem festen Zeitpunkt, sondern über einen längeren Zeitraum. Dies ermöglicht es den Betroffenen, rechtzeitig von der rechtlichen Entwicklung und letzthin der Existenz der Rechtsvorschrift zu erfahren. Parlamentarische oder exekutive Gesetze hingegen können die Rechtslage durch ihr Inkrafttreten kurzfristig maßgeblich verändern. Da nicht jedes Rechtsetzungsverfahren öffentlich abläuft, haben die Bürger durch den Publikationsakt die Möglichkeit, von der neuen Rechtslage zu erfahren. b) Vorhersehbarkeit Während die Zugänglichkeit des Gesetzes lediglich fordert, dass die Betroffenen den Normtext oder (im Falle einer ungeschriebenen Norm) den Norminhalt – unabhängig von seiner Verständlichkeit  – wahrnehmen können, stellt die Vorhersehbarkeit Anforderungen an die inhaltliche Verständlichkeit und die Genauigkeit der Regelung sowie an deren verfahrensrechtliche Absicherung. Je bestimmter ein Gesetz formuliert ist, desto geringer ist der Spielraum der anwendenden Gewalt, welche an das Gesetz gebunden ist. Auch die gerichtliche Auslegung der Normen unterliegt der Vorhersehbarkeitsprüfung.1210 Für die Gewaltenteilung ist vor allem das Verhältnis zwischen rechtsetzender und anwendender beziehungsweise auslegender Gewalt relevant.1211 Die gesetz­ lichen Eingriffsgrundlagen binden die anwendenden Organe. Aus der Perspektive der Gewaltenteilung ist somit interessant, wie bestimmt Tatbestand und Rechtsfolgen der rechtlichen Grundlagen ausgestaltet sein müssen und in welchen Fällen besondere Anforderungen gelten. Die gerichtliche Auslegung einer rechtlichen Grundlage findet erst statt, nachdem ein Sachverhalt entstanden ist und ist somit jedenfalls in Teilen unvorhersehbar. Die EGMR setzte den gerichtlichen Aus-

1209 Steiner, The Rule of Law in the Jurisprudence of the ECtHR, in: Schroeder, Strengthening the Rule of Law in Europe, S. 135 (152). 1210 Diese Zweiteilung zwischen Anforderungen an die Norm und an die Auslegung auch für Art. 7 EMRK bei Kadelbach, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 15 Rn. 23; Kleinlein, EuGRZ 2010, S. 544 (549). 1211 Siehe unter diesem Gesichtspunkt auch schon Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 246–259.

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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legungsergebnissen durch die Vorhersehbarkeits-Rechtsprechung Grenzen und gestaltete die Rolle der Gerichte als auslegende und im Sinne der EMRK auch rechtsetzende Gewalt aus. Das Gesetzesmerkmal der Vorhersehbarkeit betrifft somit die Rolle verschiedener hoheitlicher Organe bei der Rechtsetzung und der Gesetzesauslegung. (1) Inhaltliche Anforderungen an die rechtliche Grundlage: Bindung der rechtsanwendenden Gewalt (a) Allgemeine Bestimmtheitsanforderungen Ein Gesetz im Sinne der EMRK muss so bestimmt formuliert sein, dass für den Grundrechtsträger die Rechtsfolgen seiner Handlungen vorhersehbar sind. „[A] norm cannot be regarded as a ‚law‘ unless it is formulated with sufficient precision to enable the citizen to regulate his conduct: he must be able – if need be with appropriate advice – to foresee, to a degree that is reasonable in the circumstances, the consequences which a given action may entail.“1212

Der EGMR stellt jedoch grundsätzlich keine strengen Anforderungen an die Bestimmtheit der geschriebenen abstrakt-generellen Normen: „While certainty is desirable, it may bring in its train excessive rigidity, and the law must be able to keep pace with changing circumstances. Accordingly, many laws are inevitably couched in terms which, to a greater or lesser extent, are vague, and whose interpretation and application are questions of practice.“1213

Der EGMR verlangt keine abschließende Aufzählung konkreter Eingriffsgründe, sondern akzeptiert auch Generalklauseln.1214 Wie groß der Spielraum der 1212 Grundlegend EGMR Nr. 6538/74, The Sunday Times v Vereinigtes Königreich Nr. 1 (Pl.), 24.04.1979, § 49; außerdem EGMR Nr. 25390/94, Rekvényi v Ungarn (GK), 20.05.1999, § 34; Nr. 64569/09, Delfi AS v Estland (GK), 16.06.2015, § 121; Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 124; Nr. 931/13, Satakunnan Markkinapörssi Oy und Satamedia Oy v Finnland (GK), 27.06.2017, § 143; Nr. 46713/10, Bakır u. a. v Türkei, 10.07.2018, § 53; Nr. 201/17, Magyar Kétfarkú Kutya Párt v Ungarn (GK), 20.01.2020, § 94; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 18 Rn. 11; Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 559, 569 (1992). Vgl. auch konkret bezogen auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit im Sinne des Art. 7 EMRK EGMR Nr. 35343/05, Vasiliauskas v Litauen (GK), 20.10.2015, § 154; Nr. 36376/04, Kononov v Lettland (GK), 17.05.2010, § 185. 1213 EGMR Nr. 37553/05, Kudrevičius u. a. v Litauen (GK), 15.10.2015, § 109; Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 124; Nr. 931/13, Satakunnan Markkinapörssi Oy und Satamedia Oy v Finnland (GK), 27.06.2017, § 143; Nr. 46713/10, Bakır u. a. v Türkei, 10.07.2018, § 53. 1214 EGMR Nr. 37553/05, Kudrevičius u. a. v Litauen (GK), 15.10.2015, §§ 112–113; Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 76; Loge­mann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 188.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

anwendenden und auslegenden Organe im Einzelfall ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab: „The level of precision required of domestic legislation – which cannot provide for every eventuality – depends to a considerable degree on the content of the law in question, the field it is designed to cover and the number and status of those to whom it is addressed […].“1215

Die Norm muss nicht so formuliert sein muss, dass ein juristischer Laie sie ohne fachkundige Hilfe verstehen kann. Es ist zumutbar, auf rechtliche Beratung zurückgreifen zu müssen, um den Bedeutungsgehalt einer Vorschrift zu verstehen1216 oder ein gerichtliches Urteil zu antizipieren. Im professionellen Kontext kann von den Betroffenen erwartet werden, dass sie besondere Vorsicht an den Tag legen, wenn sie einschätzen, ob ihre Aktivitäten rechtlich zulässig sind.1217 So erwartet der EGMR von Abgeordneten, dass sie die sie betreffenden disziplinarischen Regelungen kennen und erkennen können, ob ihr Verhalten sanktionierbar ist, auch wenn die Vorschriften selbst vage formuliert sind.1218 Gleichzeitig zeigte das Urteil Volkov v Ukraine, das die Rechtmäßigkeit von Disziplinarmaßnahmen gegen Richter betraf, dass Tatbestände von Disziplinarmaßnahmen generell formuliert sein dürfen, da eine präzise Beschreibung sanktionswürdiger Verhaltensweisen nicht in allen Fällen möglich ist.1219 Vorgaben zur Bestimmtheit verpflichten zunächst die Gesamtheit der rechtsetzenden Organe, welche die geschriebenen abstrakt-generellen Vorschriften erlassen und somit den Inhalt des Gesetzes bestimmen beziehungswiese beeinflussen. Der Wortlaut einer Eingriffsgrundlage ist Ausgangspunkt jeder Vorhersehbarkeitsprüfung. Das Verhältnis der rechtsetzenden Gewalt zu den rechtsanwendenden 1215

EGMR Nr. 30985/96, Hasan und Chaush v Bulgarien (GK), 26.10.2000, § 84; Nr. 71243/01, Vistiņš and Perepjolkins v Lettland (GK), 25.10.2012, § 97; Nr. 37553/05, Kudrevičius u. a. v Litauen (GK), 15.10.2015, § 110; Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 125; Nr. 4755/16, Beghal v Vereinigtes Königreich, 28.02.2019, § 88; Nr. 201/17, Magyar Kétfarkú Kutya Párt v Ungarn (GK), 20.01.2020, § 98; Gerards, General Principles of the ECHR, S. 206; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 249. 1216 EGMR Nr. 36376/04, Kononov v Lettland (GK), 17.05.2010, § 114 (d); Nr. 42750/09, Del Río Prada v Spanien (GK), 21.10.2013, § 46; Nr. 36480/07, Lekić v Slowenien (GK), 11.12.2018, § 97; Gerards, General Principles of the ECHR, S. 208; Kadelbach, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 15 Rn. 24. 1217 EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 125; Nr. 931/13, Satakunnan Markkinapörssi Oy und Satamedia Oy v Finnland (GK), 27.06.2017, §§ 145, 151; Kadelbach, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 15 Rn. 24. Hierzu zählen auch Händler, EGMR Nr. 17862/91, Cantoni v Frankreich (GK), 15.11.1996, § 35; Nr. 36480/07, Lekić v Slowenien (GK), 11.12.2018, § 97. Siehe aber auch EGMR Nr. 1944/10, Mateescu v Rumänien, 14.01.2014, §§ 31, 32 für ein Beispiel, wo die Rechtsfolge selbst für einen ausgebildeten Juristen nicht vorhersehbar war, Gerards, General Principles of the ECHR, S. 208. 1218 EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 126. 1219 EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, §§ 174–178; ebenso bereits im Kontext militärischer Disziplinarmaßnahmen EGMR Nr. 15153/89, Vereinigung demokratischer Soldaten Österreichs und Gubi v Österreich, 19.12.1994, § 31.

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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Organen wird also dadurch bestimmt, wie groß der Entscheidungsspielraum bei der Rechtsanwendung ist. (b) Einschränkung des exekutiven Ermessens bei der Anwendung des Gesetzes Auch wenn der EGMR dies nie explizit klarstellte, liegt seinen Erwägungen die Annahme zugrunde, dass die rechtsanwendende Gewalt vor allem der Exekutive zugerechnet wird. Die rechtsanwendende Gewalt verortete der EGMR vor allem bei der Exekutive. Dies stellte der EGMR nicht explizit klar, diese Annahme lag aber seinen Erwägungen zugrunde: „In matters affecting fundamental rights it would be contrary to the rule of law, one of the basic principles of a democratic society enshrined in the Convention, for legal discretion granted to the executive to be expressed in terms of an unfettered power. Consequently, the law must indicate with sufficient clarity the scope of any such discretion and the manner of its exercise […].“1220

Die Anforderungen der EMRK an die Bestimmtheit eines Gesetzes dienen dazu, den Entscheidungsspielraum der Exekutive zu begrenzen und deren Handlungen kontrollierbar zu machen. Je bestimmter das Gesetz, desto geringer der exekutive Spielraum. „A law which confers a discretion is thus not in itself inconsistent with the requirement of foreseeability, provided that the scope of the discretion and the manner of its exercise are indicated with sufficient clarity, having regard to the legitimate aim of the measure in question, to give the individual adequate protection against arbitrary interference […].“1221

Der EGMR unterscheidet  – anders als aus der deutschen Rechtsordnung bekannt – nicht zwischen dem Beurteilungsspielraum auf der Tatbestandsebene und dem Ermessen hinsichtlich der Auswahl und Ausgestaltung der Rechtsfolge. Dies entspricht der Rechtslage in der Mehrheit der übrigen Konventionsstaaten.1222

1220

EGMR Nr. 29580/12 u. a., Navalnyy v Russland (GK), 15.11.2018, § 115; ebenfalls aus der jüngeren Rechtsprechung EGMR Nr. 37326/13, Unifaun Theatre Productions Limited u. a. v Malta, 15.05.2018, § 78; Nr. 4755/16, Beghal v Vereinigtes Königreich, 28.02.2019, § 88; Nr. 27309/14, Jafarov u. a. v Aserbaidschan, 25.07.2019, § 63; Nr. 31333/07, Dubrovina u. a. v Russland, 25.02.2020, § 43; Nr. 14305/17, Selahattin Demirtaş v Türkei Nr. 2 (GK), 22.12.2020, § 249; grundlegend bereits EGMR Nr. 8691/79, Malone v Vereinigtes Königreich (Pl.), 02.08.1984, § 68. 1221 EGMR Nr. 201/17, Magyar Kétfarkú Kutya Párt v Ungarn (GK), 20.01.2020, § 94; Nr. 14305/17, Selahattin Demirtaş v Türkei Nr. 2 (GK), 22.12.2020, § 250. 1222 Marauhn / Merhof, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  7 Rn. 34 weisen darauf hin, dass diese Unterscheidung in den anderen nationalen Rechtsordnungen nicht üblich ist. Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 423–424 zur in verschiedenen Staaten unterschiedlichen Abgrenzung zwischen Tatsachen- und Rechtsfragen, S. 425 zur fehlenden Unterscheidung durch den EGMR.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Die Rechtsgrundlage muss also so formuliert sein, dass Umfang und Reichweite des Ermessens begrenzt sind und das Handeln der Exekutive gesteuert wird und überprüfbar ist.1223 Wie groß der exekutive Spielraum sein darf, hängt vom Einzelfall ab. Normen, welche die Exekutive lediglich ermächtigen, ohne ihr inhaltliche Vorgaben zu machen, sind in ihrer Anwendung für den Betroffenen nicht vorhersehbar: In Knyter v Polen entschied der EGMR, dass die Befugnis, einem Gefangenen Besuch seiner Familie zu verweigern, nicht bestimmt genug ist, wenn unklar ist, in welchen Fällen und unter welchen Umständen diese Entscheidung getroffen werden kann und wenn darüber hinaus keine Begründungspflicht besteht und kein Rechtsmittel existiert.1224 Die Anforderungen an die Bestimmtheit steigen mit der Eingriffsintensität.1225 Eine erschöpfende Darstellung der Fallgestaltungen, in denen der EGMR sich mit dem Entscheidungsspielraum exekutiver Behörden im Rahmen der Bestimmtheit auseinandersetzte, ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich. Daher werden an dieser Stelle exemplarisch zwei typische Fallgestaltungen genannt. In Beghal v Vereinigtes Königreich stand eine Befugnisnorm im Zentrum der Vorhersehbarkeitsprüfung im Rahmen von Art. 8 Abs. 1 EMRK, welche der Polizei und anderen Grenzschutzbehörden erlaubte, Passagiere an Häfen, Flughäfen und internationalen Bahngleisen anzuhalten, zu durchsuchen und zu untersuchen. Wenngleich der (legitime) Zweck dieser Befugnis darin bestand, herauszufinden, ob eine Person einen Terrorakt geplant, begangen oder angestiftet hatte, war ein konkreter Verdacht, dass die kontrollierte Person in terroristische Tätigkeiten involviert war, keine Tatbestandsvoraussetzung.1226 Der EGMR stellte eine Verletzung des Rechts auf Privatsphäre fest, weil die rechtliche Grundlage nicht den qualitativen Anforderungen entsprach und somit die willkürliche Ausübung von Hoheitsgewalt nicht effektiv verhinderte.1227 Allerdings erlaubt der Schutz vor terroristischen Akten als Frage der nationalen Sicherheit den Konventionsstaaten einen weiten Spielraum bei der Ausgestaltung der Rechtsgrundlagen.1228 Weil neben den Tatbestandsmerkmalen auch das 1223 Arai, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, 4. Aufl., S. 333 (337); Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 188; Dörr, in: Dörr /  Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn.  144; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 248–249; Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 561 (1992); Wyttenbach / Hofer, Swiss Review of International and European Law 27 (2017), S. 333 (348–350). 1224 EGMR Nr. 31820/06, Knyter v Polen, 01.02.2011, §§ 80–83. 1225 EGMR Nr. 11801/85, Kruslin v Frankreich, 24.04.1990, § 33; Nr. 11105/84, Huvig v Frankreich, 24.04.1990, § 32; Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 541 (1992). 1226 EGMR Nr. 4755/16, Beghal v Vereinigtes Königreich, 28.02.2019, § 5. 1227 EGMR Nr. 4755/16, Beghal v Vereinigtes Königreich, 28.02.2019, § 109. Mit ähnlicher Fallgestaltung EGMR Nr. 4158/05, Gillan und Quinton v Vereinigtes Königreich, 21.01.2010, §§ 76–87. 1228 EGMR Nr. 4755/16, Beghal v Vereinigtes Königreich, 28.02.2019, §§ 92, 95.

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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Verhältnismäßigkeitsprinzip und das Diskriminierungsverbot die Auswahl der zu kontrollierenden Personen steuerten, verlangte der EGMR für eine Durchsuchung oder Untersuchung nicht pauschal das Vorliegen eines konkreten Verdachts (reasonable suspicion).1229 Auf der anderen Seite führte das fehlende Tatbestandsmerkmal des begründeten Verdachts dazu, dass andere Schutzmechanismen vor einer willkürlichen Ausübung von Hoheitsgewalt nicht die notwendige Wirkung entfalten konnten: So stand den Betroffenen, weil sie nicht als Verdächtigte galten, während der maximalen Dauer der Untersuchung von neun Stunden kein Anspruch auf einen Rechtsanwalt zu.1230 Außerdem führte die fehlende Voraussetzung dazu, dass die Gerichte die Rechtmäßigkeit der Kontrollmaßnahme nur eingeschränkt überprüfen konnten.1231 Diesen Mangel konnte auch ein weiterer parlamentarischer Kontrollmechanismus nicht ausgleichen, bei welchem ein von der Regierung unabhängiger Berichterstatter über die Anwendung der dem Anti-Terrorkampf dienenden Gesetze berichtete.1232 Die Urteile Zakharov v Russland und Big Brother Watch v Vereinigtes Königreich fassten die bisherige Rechtsprechung zur Vorhersehbarkeit im Falle von geheimen Abhörmaßnahmen zusammen. „Foreseeability in the special context of secret measures of surveillance, such as the interception of communications, cannot mean that an individual should be able to foresee when the authorities are likely to intercept his communications so that he can adapt his conduct accordingly. However, especially where a power vested in the executive is exercised in secret, the risks of arbitrariness are evident. It is therefore essential to have clear, detailed rules on interception of telephone conversations, especially as the technology available for use is continually becoming more sophisticated. The domestic law must be sufficiently clear to give citizens an adequate indication as to the circumstances in which and the conditions on which public authorities are empowered to resort to any such measures […].“1233

Der EGMR verlangte, dass folgende Aspekte gesetzlich festgeschrieben sind: die Vergehen, welche eine Überwachung begründen können, der Personenkreis, die Dauer der Telefonüberwachung, das Verfahren für die Untersuchung, Nutzung und Speicherung der erhaltenen Daten, Vorgaben für die Weiterleitung der Daten an Dritte und die Anforderungen an die Löschung der Daten.1234 Jeder Aspekt 1229

EGMR Nr. 4755/16, Beghal v Vereinigtes Königreich, 28.02.2019, § 97. EGMR Nr. 4755/16, Beghal v Vereinigtes Königreich, 28.02.2019, § 100. 1231 EGMR Nr. 4755/16, Beghal v Vereinigtes Königreich, 28.02.2019, §§ 103–105. 1232 EGMR Nr. 4755/16, Beghal v Vereinigtes Königreich, 28.02.2019, §§ 106–108. 1233 EGMR Nr. 47143/06, Roman Zakharov v Russland (GK), 04.12.2015, § 229; dem inhaltsgleich folgend EGMR Nr. 58170/13, 62322/14 und 24960/15, Big Brother Watch u. a. Vereinigtes Königreich (GK), 25.05.2021, § 333; Nr. 35252/08, Centrum för rättvisa v Schweden (GK), 25.05.2021, § 247. 1234 EGMR Nr. 47143/06, Roman Zakharov v Russland (GK), 04.12.2015, § 231; Nr. 37138/14, Szabó und Vissy v Ungarn, 12.01.2016, § 56; ebenso Nr. 58170/13, 62322/14 und 24960/15, Big Brother Watch u. a. Vereinigtes Königreich (GK), 25.05.2021, § 335, allerdings stellte der EGMR für Massenüberwachungen weitergehende Voraussetzungen auf, §§ 348–364; wie Big ­Brother Watch EGMR Nr. 35252/08, Centrum för rättvisa v Schweden (GK), 25.05.2021, §§  249, ­262–278. 1230

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

wurde vom EGMR einzeln geprüft.1235 Die ersten drei Voraussetzungen betreffen das exekutive Ermessen. Bezüglich der ersten Voraussetzung stellte der EGMR klar, dass die Rechtsgrundlagen nicht abschließend einzelne Straftaten aufführen müssen, bei deren Verdacht eine Abhörmaßnahme zulässig ist. Personen, welche nicht selbst verdächtig sind, dürfen Ziel der Abhörmaßnahmen sein, wenn vermutet werden kann, dass sie über relevante Informationen verfügen.1236 Der Eingriffszweck „Schutz der nationalen Sicherheit“ muss allerdings näher bestimmt sein, damit das Ermessen der Behörden diesbezüglich nicht unbegrenzt ist.1237 Alternativ muss die Abhörmaßnahmen gerichtlich angeordnet werden.1238 Insgesamt sind die Anforderungen an die inhaltliche Begrenzung exekutiver Entscheidungsspielräume nicht besonders weitreichend ausgestaltet. Der EGMR hielt sich damit zurück, konkrete Tatbestandsmerkmale als Bestandteil von Befugnisnormen zu fordern. Außerdem akzeptierte der Gerichtshof, dass die Definition des Begriffs der „nationalen Sicherheit“ durch einen Verfahrensschritt, die gerichtliche Anordnung, ersetzt werden kann. Statt konkrete Eingriffsvoraussetzungen einzufordern, legt der EGMR den Fokus auf die Verfahrensgarantien und den wirksamen Rechtsschutz. (c) Adäquate Verfahrensgarantien und Rechtsschutzmöglichkeiten Der prozessuale Schutz vor einer willkürlichen Ausübung von Hoheitsgewalt ist fester Bestandteil der Vorhersehbarkeits-Rechtsprechung.1239 „For domestic law to meet these requirements [of the quality of the law] it must afford a measure of legal protection against arbitrary interferences by public authorities with the rights safeguarded by the Convention.“1240

In Amuur v Frankreich lag eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK vor, weil es kein ordentliches Gericht gab, das überprüfte, ob einreisewillige Ausländer

1235 EGMR Nr. 47143/06, Roman Zakharov v Russland (GK), 04.12.2015, §§ 243–305; gleiches Vorgehen bei EGMR Nr. 58170/13, 62322/14 und 24960/15, Big Brother Watch u. a. Vereinigtes Königreich, 13.09.2018, §§ 365–427; Nr. 35252/08, Centrum för rättvisa v Schweden (GK), 25.05.2021, §§ 279–373. 1236 EGMR Nr. 47143/06, Roman Zakharov v Russland (GK), 04.12.2015, §§ 244–245. 1237 EGMR Nr. 47143/06, Roman Zakharov v Russland (GK), 04.12.2015, §§ 247–248. 1238 EGMR Nr. 47143/06, Roman Zakharov v Russland (GK), 04.12.2015, § 249. 1239 Siehe für einen umfassenden, aktuellen Überblick zu den Verfahrensanforderungen ­Gerards, General Principles of the ECHR, S. 205–219. Knapper außerdem Marauhn / Merhof, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  7 Rn.  30–36; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 18 Rn. 11. 1240 EGMR Nr. 30985/96, Hasan und Chaush v Bulgarien (GK), 26.10.2000, § 84; Nr. 38224/03, Sanoma Uitgevers B. V. v Niederlande (GK), 14.09.2010, § 82; Nr. 29580/12 u. a., Navalnyy v Russland (GK), 15.11.2018, § 115; ähnlich schon EGMR Nr. 8691/79, Malone v Vereinigtes Königreich (Pl.), 02.08.1984, § 67; Nr. 11801/85, Kruslin v Frankreich, 24.04.1990, § 30.

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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rechtmäßig in den Transitzonen von Flughäfen festgehalten wurden.1241 Im Fall Lupsa v Rumänien wurde der Beschwerdeführer, ein jugoslawischer Staatsangehöriger, welcher seit über zehn Jahren in Rumänien wohnte, mit der Begründung ausgewiesen, dass es ausreichende und ernsthafte Belege dafür gäbe, dass er an Aktivitäten beteiligt war, welche die nationale Sicherheit gefährdeten. Das Gericht überprüfte den diesbezüglichen Vortrag des Staatsanwalts nicht. Hierin lag eine Verletzung von Art. 8 Abs. 1 EMRK.1242 In der Regel wird diesem Rechtsschutzerfordernis dadurch genügt, dass der betroffenen Person ein gerichtlicher, kontradiktorischer Rechtsbehelf mit umfassender Prüfungskompetenz zur Verfügung steht. In Amuur v Frankreich fehlte der Rechtsbehelf komplett, in Lupsa v Rumänien lag keine umfassende Prüfungskompetenz vor. Wenn die nationale Sicherheit als Eingriffsgrund herangezogen wird, muss in einem streitigen Verfahren vor einer unabhängigen Instanz überprüfbar sein, ob die nationale Sicherheit tatsächlich gefährdet ist.1243 Der EGMR fordert in diesem Fall also keine gerichtliche Überprüfbarkeit, wohl aber eine zuständige Instanz mit vergleichbarer Unabhängigkeit für eine nachträgliche Kontrolle. In einigen Fällen reicht eine nachträgliche Überprüfung des Eingriffs jedoch nicht aus. In der Sache Sanoma Uitgevers v Niederlande musste der beschwerdeführende Verlag eine CD-ROM an die Ermittlungsbehörden aushändigen, obwohl er sich auf den presserechtlichen Informanten- und Quellenschutz berief.1244 Wegen der überragenden Bedeutung des Informantenschutzes für die Pressefreiheit aus Art. 10 EMRK verlangte der EGMR, dass jeder Eingriff in den Informantenschutz mit ausreichenden verfahrensrechtlichen Garantien einhergeht.1245 Notwendig sei eine Entscheidung eines von der Exekutive und den Parteien unabhängigen Organs mit der Kompetenz, im Vorhinein die Aushändigung der Quelle oder Information zu verhindern.1246 Die lediglich beratende Beteiligung eines Untersuchungsrichters reichte nicht aus.1247 Gleiches galt für die Möglichkeit einer nachträglichen Überprüfung, weil in diesem Fall die Informationen – unabhängig von der Rechtmäßigkeit der Anordnung – bereits den Behörden zur Verfügung standen.1248 Bei geheimen Überwachungsmaßnahmen führt die Tatsache, dass den Betroffenen der Eingriff in ihre Grundrechte nicht bekannt ist, zu einem besonders intensiven Eingriff in Konventionsrechte und somit zu besonders strengen Anforderungen an die rechtliche Grundlage. 1241

EGMR Nr. 19776/92, Amuur v Frankreich, 25.06.1996, §§ 53–54. EGMR Nr. 10337/04, Lupsa v Rumänien, 08.06.2006, §§ 4–10, 41–44. 1243 EGMR Nr. 50963/99, Al-Nashif v Bulgarien, 20.02.2002, §§ 123–124; Nr. 1537/08, Kau­shal u. a. v Bulgarien, 02.09.2010, § 29; Nr. 31295/11, Yam v Vereinigtes Königreich, 16.01.2020, § 56. 1244 EGMR Nr. 38224/03, Sanoma Uitgevers B. V. v Niederlande (GK), 14.09.2010, §§ 9, 22. 1245 EGMR Nr. 38224/03, Sanoma Uitgevers B. V. v Niederlande (GK), 14.09.2010, § 88. 1246 EGMR Nr. 38224/03, Sanoma Uitgevers B. V. v Niederlande (GK), 14.09.2010, §§ 90–92. 1247 EGMR Nr. 38224/03, Sanoma Uitgevers B. V. v Niederlande (GK), 14.09.2010, §§ 96–97. 1248 EGMR Nr. 38224/03, Sanoma Uitgevers B. V. v Niederlande (GK), 14.09.2010, § 99. 1242

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

„[T]he very nature and logic of secret surveillance dictate that not only the surveillance itself but also the accompanying review should be effected without the individual’s knowledge. Consequently, since the individual will necessarily be prevented from seeking an effective remedy of his or her own accord or from taking a direct part in any review proceedings, it is essential that the procedures established should themselves provide adequate and equivalent guarantees safeguarding his or her rights. In a field where abuse is potentially so easy in individual cases and could have such harmful consequences for democratic society as  a whole, it is in principle desirable to entrust supervisory control to a judge, judicial control offering the best guarantees of independence, impartiality and a proper procedure […].“1249

Die gesetzlichen Grundlagen müssen das Verfahren für die Untersuchung, Nutzung und Speicherung der erhaltenen Daten, für die Weiterleitung der Daten an Dritte und für die Löschung der Daten regeln.1250 Außerdem kann die betroffene Person nur dann einen Rechtsbehelf anstrengen, wenn sie nachträglich über die Überwachung in Kenntnis gesetzt wurde.1251 Der EGMR stellte in seinen neueren Urteilen zur geheimen Überwachung all diese Aspekte zusammen mit den materiellen Eingriffsvoraussetzungen in eine Gesamtabwägung ein.1252 An dieser Stelle werden lediglich die mit Blick auf die staatliche Organisation relevanten Aspekte dargestellt. Vorteilhaft für die Qualität des Gesetzes ist es, wenn die geheime Überwachung durch ein Gericht angeordnet werden muss.1253 Die Anordnung durch ein nicht-gerichtliches Organ führt jedoch nicht automatisch zur Konventionswidrigkeit, sofern es ausreichend unabhängig von der Exekutive ist.1254 In jedem Fall muss das anordnende Organ aber eine vollumfängliche Prüfungsbefugnis haben, sodass es nicht auf die Beurteilung des beantragenden Organs angewiesen ist.1255 Die Abhörmaßnahmen müssen auch nicht zwingend von einem Gericht überwacht werden, solange das kontrollierende Organ ausreichend unabhängig von der durchführenden Behörde ist und eine effektive Kontrolle ausübt.1256 Um die 1249

EGMR Nr. 47143/06, Roman Zakharov v Russland (GK), 04.12.2015, § 233; Nr. 58170/13, 62322/14 und 24960/15, Big Brother Watch u. a. Vereinigtes Königreich (GK), 25.05.2021, § 336. 1250 Siehe hierzu bereits die Nachweise in Fn. 1234. 1251 EGMR Nr. 47143/06, Roman Zakharov v Russland (GK), 04.12.2015, § 234. 1252 So etwa bei EGMR Nr. 47143/06, Roman Zakharov v Russland (GK), 04.12.2015, §§ ­235–305; Nr.  37138/14, Szabó und Vissy v Ungarn, 12.01.2016, §§ 59–89; Nr. 35252/08, Centrum för Rättvisa v Schweden (GK), 25.05.2021, §§ 246–373; Nr. 58170/13, 62322/14 und 24960/15, Big Brother Watch u. a. Vereinigtes Königreich (GK), 25.05.2021, §§ 365–427. 1253 EGMR Nr. 47143/06, Roman Zakharov v Russland (GK), 04.12.2015, § 249; Nr. 35252/08, Centrum för Rättvisa v Schweden, 19.06.2018, § 133. 1254 EGMR Nr. 47143/06, Roman Zakharov v Russland (GK), 04.12.2015, § 258; so auch für die Massenüberwachung EGMR Nr. 35252/08, Centrum för Rättvisa v Schweden (GK), 25.05.2021, § 265; Nr. 58170/13, 62322/14 und 24960/15, Big Brother Watch u. a. Vereinigtes Königreich (GK), 25.05.2021, § 351. 1255 Vgl. EGMR Nr. 47143/06, Roman Zakharov v Russland (GK), 04.12.2015, §§ 259–265. 1256 EGMR Nr. 47143/06, Roman Zakharov v Russland (GK), 04.12.2015, § 277; Nr. 35252/08, Centrum för Rättvisa v Schweden (GK), 25.05.2021, § 270; Nr. 58170/13, 62322/14 und 24960/15, Big Brother Watch u. a. Vereinigtes Königreich (GK), 25.05.2021, § 359.

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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Unabhängigkeit des Kontrollorgans zu beurteilen, blickte der EGMR auf dessen Ernennungsverfahren und rechtlichen Status. Von politischer oder exekutiver Seite ernannte Funktionsträger wie Minister oder Staatsanwälte sind nicht ausreichend unabhängig.1257 Das Kontrollorgan muss so weitreichende Kompetenzen haben, dass es die Durchführung der Abhörmaßnahmen effektiv überprüfen und im Falle einer rechtswidrigen Maßnahme Abhilfe schaffen kann.1258 Diese Anforderungen können sowohl von Gerichten als auch von sonstigen hoheitlichen Streitentscheidungsorganen erfüllt werden. Damit die überwachte Person das Rechtsmittel überhaupt ergreifen kann, muss sie zu irgendeinem Zeitpunkt über die Überwachung in Kenntnis gesetzt werden.1259 In Fällen geheimer Überwachung, in denen sich die betroffene Person nicht unmittelbar gegen den Eingriff zur Wehr setzen kann, forderte der EGMR also die Einbeziehung verschiedener Stellen, welche sich gegenseitig und zu verschiedenen Zeitpunkten kontrollieren. Von besonderer Bedeutung ist hierbei die Unabhängigkeit der kontrollierenden von den kontrollierten Organen. (d) Zwischenfazit Die Rechtsgrundlage ermächtigt die rechtsanwendenden Organe zum Grundrechtseingriff, setzt hierfür außerdem die Grenzen und regelt gleichzeitig Verfahrensvorgaben und Kontrollmöglichkeiten. Im Rahmen der VorhersehbarkeitsRechtsprechung legt der EGMR also eine Dreiteilung der hoheitlichen Tätigkeiten zugrunde: Rechtsetzung, Rechtsanwendung und Kontrolle. Die Rechtsetzung ist dabei nicht ausschließlich den parlamentarischen Organen zugewiesen, sondern bezieht auch exekutive und judikative Rechtsakte mit ein. Die präventive genauso wie die nachträgliche Kontrolle kann, muss aber nicht den Gerichten zustehen. Somit ergibt sich aus der Vorhersehbarkeit keine Zuweisung der verschiedenen hoheitlichen Tätigkeiten zu einzelnen Organen. Die EMRK lässt den Konventionsstaaten hinsichtlich ihrer Organisation sehr weiten Spielraum. Die Rechtsanwendung verortete der EGMR jedoch grundsätzlich bei der Exekutive. Die Anforderungen an Bestimmtheit und Kontrolle begrenzen jeweils den Spielraum der rechtsanwendenden exekutiven Organe, in der Regel also der Behörden und Verwaltungen. Inhaltliche Vorgaben im Sinne konkreter Tatbestandsvoraussetzungen machte der EGMR nicht, jedoch verlangte er, dass die Rechtsgrundlage die Anwendung begrenzt. Konkretere Anforderungen stellte der Gerichtshof aber sowohl an die verfahrensrechtliche Absicherung des Verwaltungsverfahrens, 1257 EGMR Nr. 62540/00, Association for European Integration and Human Rights und Ekimdzhiev v Bulgarien, 28.06.2007, §§ 85, 87; Nr. 47143/06, Roman Zakharov v Russland (GK), 04.12.2015, §§ 278, 279. 1258 EGMR Nr. 47143/06, Roman Zakharov v Russland (GK), 04.12.2015, §§ 280–284. 1259 EGMR Nr. 47143/06, Roman Zakharov v Russland (GK), 04.12.2015, § 298.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

welches letztlich zum Eingriff in das Konventionsrecht führt, als auch an die nachträgliche Rechtmäßigkeitskontrolle. Sehen die Rechtsgrundlagen hierfür gerichtliche Zuständigkeiten vor, dann ist dies für die Vorhersehbarkeit förderlich. Eine nachträgliche Kontrolle muss allerdings nicht per se durch ein Gericht erfolgen, sofern das Organ ausreichend unabhängig ist. Die Kontrolle im Sinne der Vorhersehbarkeit ist also nicht gleichzusetzen mit dem gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten Recht auf Zugang zum Gericht.1260 Je genauer die Rechtsgrundlage den Eingriff inhaltlich bestimmt, desto effektiver ist auch die Kontrolle. Insofern besteht eine Wechselwirkung zwischen den inhaltlichen und den verfahrensrechtlichen Vorgaben, welche sich jeweils begrenzend auf die exekutiven Eingriffshandlungen auswirken. Wegen der insgesamt wenig strengen Vorgaben erklärt der EGMR selten eine Rechtsgrundlage wegen ihrer fehlenden Bestimmtheit für konventionswidrig. Wenn die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit nicht erfüllt werden, dann liegt dies in der Regel daran, dass die Auslegungsergebnisse für die Betroffenen unerwartet waren.1261 Das heißt, dass nur selten die abstrakt-generellen Vorschriften selbst zu unpräzise sind, dafür aber die nationalen Gerichte ein überraschendes, willkürliches oder zu weites Auslegungsergebnis finden. (2) Auslegung und Anwendung des Gesetzes als Element der Unsicherheit Da sowohl die gerichtliche Auslegung als auch die gerichtliche Rechtsfortbildung vom Gesetzesbegriff umfasst sind,1262 prüft der EGMR auch die gericht­lichen Entscheidungen auf ihre Vorhersehbarkeit. Im Vergleich zu geschriebenen abstrakt-generellen Normen gibt es hierbei einige strukturelle Besonderheiten.1263 Das Auslegungsergebnis der Gerichte stellt sowohl unmittelbar nach Inkrafttreten der Norm als auch im Falle einer Änderung einer etablierten Auslegung ein Element der Unsicherheit dar,1264 weil das Urteil im konkreten Fall erst gesprochen wird, nachdem der Sachverhalt bereits abgeschlossen ist und die Betroffenen die gerichtliche Auslegung – anders als den Wortlaut der geschriebenen Normen – nicht mit absoluter Sicherheit kennen können. 1260

Siehe zum Recht auf Zugang zum Gericht ab S. 383. Gerards, General Principles of the ECHR, S. 209; vgl. auch Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 188, die ebenfalls herausstellt, dass der EGMR in der Regel auf die Vorhersehbarkeit der konkreten Anwendung abstellt. 1262 Siehe zur Rolle der Gerichte als Rechtsetzer durch Auslegung von Gesetzen und Rechtsfortbildung oben ab S. 252. 1263 Vgl. Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 7 EMRK Rn. 79. 1264 Ähnlich auch Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 7 EMRK Rn. 79: Für den Bereich des Strafrechts ist Richterrecht im Vergleich zu statuarischem Recht „inhärent weniger vorhersehbar“. Siehe andererseits aber Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 93, die davon ausgeht, dass das Auslegungsergebnis der Gerichte solange berechenbar ist, wie diese die Auslegungsmethoden anwenden. 1261

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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Im Rahmen des Art. 7 EMRK wurde die Vorhersehbarkeit richterlicher Auslegungsentscheidungen bislang besonders häufig relevant. Der EGMR formulierte – neben den allgemeinen Bestimmtheitsanforderungen  – den Leitgedanken, dass das Auslegungsergebnis im Einklang mit dem Wesen der Strafnorm (consistent with the essence of the offence) und daher vernünftigerweise vorhersehbar sein muss.1265 Die Auslegung geschriebener Normen durch die Gerichte behandelte der EGMR grundsätzlich unter dem Stichwort der Vorhersehbarkeit.1266 Das ebenfalls von Art. 7 EMRK umfasste Rückwirkungsverbot ist hingegen betroffen, wenn eine nach dem Tatzeitpunkt in Kraft getretene geschriebene Vorschrift angewendet werden soll.1267 Die EMRK macht auch für die Vorhersehbarkeit gerichtlicher Auslegungsentscheidungen keine strengen Vorgaben: „A margin of doubt in relation to borderline facts does not by itself make a legal provision unforeseeable in its application. Nor does the mere fact that a provision is capable of more than one construction mean that it fails to meet the requirement of ‚foreseeability‘ for the purposes of the Convention.“1268

Liegt eine langfristig einheitliche Rechtsprechung der nationalen Gerichte vor, kann sich der Betroffene grundsätzlich auf die aktuelle Rechtslage verlassen und sein Verhalten danach ausrichten, sodass dem Gebot der Vorhersehbarkeit entsprochen wird.1269 Auch Rechtsprechungsänderungen sind nicht per se konventionswidrig – vielmehr schrieb der EGMR den nationalen Gerichten gerade die Aufgabe zu, auf veränderte Umstände einzugehen und somit ihre Auslegung weiterzuentwi 1265

EGMR Nr. 42750/09, Del Río Prada v Spanien (GK), 21.10.2013, § 93; Nr. 59552/08, Rohlena v Tschechien (GK), 27.01.2015, § 50. Dies gilt auch für völkerrechtliche Normen, die im Konventionsstaat als Gesetz i. S. d. EMRK wirken, EGMR Nr. 74613/01, Jorgic v Deutschland, 12.07.2007, § 103. 1266 Vgl. Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 7 EMRK Rn. 18. 1267 EGMR Nr. 35343/05, Vasiliauskas v Litauen (GK), 20.10.2015, §§ 165–166; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 7 EMRK Rn. 96; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 151. Nicht immer fällt die Abgrenzung zwischen der Vorhersehbarkeit und dem Rückwirkungsverbot leicht, siehe aber die Zusammenstellung von Urteilen zu diesem Thema im EGMR Guide on Article 7 of the European Convention on Human Rights – No punishment without law: the principle, that only law can define a crime and prescribe a penalty, Stand 31.12.2001, https://www.echr. coe.int/Documents/Guide_Art_7_ENG.pdf, zuletzt abgerufen am 09.04.2022, Rn. 28–43 zur Vorhersehbarkeit sowie Rn. 48–53 zu allgemeinen Grundsätzen des Rückwirkungsverbots. Siehe ausführlicher zum Rückwirkungsverbot ab S. 416. 1268 EGMR Nr. 44158/98, Gorzelik u. a. v Polen (GK), 17.02.2004, § 65; Nr. 44774/98, Leyla Şahin v Türkei (GK), 10.11.2005, § 91; Nr. 58911/00, Leela Förderkreis e. V. u. a. v Deutschland, 06.11.2008, § 88; Nr. 201/17, Magyar Kétfarkú Kutya Párt v Ungarn (GK), 20.01.2020, § 97; mit anderem Wortlaut EGMR Nr. 27510/08, Perinçek v Schweiz (GK), 15.10.2015, § 135. 1269 EGMR Nr. 14307/88, Kokkinakis v Griechenland, 25.05.1993, § 40; Nr. 44774/98, Leyla Şahin v Türkei (GK), 10.11.2005, §§ 92–93; Nr. 67335/01, Achour v Frankreich (GK), 29.3.2006, § 52; Nr. 11956/07, Stephens v Malta Nr. 1 (Zul.), 21.04.2009, § 63; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 13 Rn. 144.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

ckeln. Eine graduelle Veränderung der Auslegung vom EGMR ist vorhersehbar.1270 Dies entspricht der konventionsstaatsübergreifenden Rolle der Rechtsprechung.1271 Problematischer sind jedoch solche Fälle, in denen noch keine Rechtsprechung zu einer neuen Norm oder einem neuen Sachverhalt vorliegt, sich eine Rechtsprechungsänderung nicht ankündigte, die Gerichte sich untereinander nicht einig sind oder in denen sich Gerichte über den Wortlaut der geschriebenen Norm hinwegsetzten. (a) Erstmalige Auslegung einer Norm und erstmalige Anwendung auf einen neuen Fall Wenn eine Norm in Kraft getreten ist oder geändert wurde, müssen die Gerichte sie erstmalig auslegen und anwenden.1272 Würde der EGMR die erste Auslegung einer Norm als unvorhersehbar einordnen, weil die Betroffenen keine Möglichkeit hatten, diese zu antizipieren, dann wären die ersten Auslegungsergebnisse per se konventionswidrig. Das kann vom Gerichtshof nicht beabsichtigt sein: „[T]he domestic courts were faced with a relatively novel legal issue, not yet clarified through judicial interpretation. The Court recognises that they cannot be blamed for that state of affairs, and that there will always be an element of uncertainty about the meaning of a new legal provision until it is interpreted and applied by the domestic courts.“1273

Die erstmalige Anwendung einer Norm führt nicht dazu, dass das Rechtsprechungsergebnis unvorhersehbar ist.1274 Dies gilt auch, wenn die Auslegung der Norm im Vorhinein im Schrifttum umstritten war.1275 Eine methodologisch 1270

EGMR Nr. 20190/92, C. R. v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, § 34; Nr. 20166/92, S. W. v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, § 36; Nr. 36376/04, Kononov v Lettland (GK), 17.05.2010, § 185; Nr. 42750/09, Del Río Prada v Spanien (GK), 21.10.2013, §§ 92–93; Nr. 64569/09, Delfi AS v Estland (GK), 16.06.2015, § 121; Gerards, General Principles of the ECHR, S. 206–207; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 7 EMRK Rn. 82; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 7 EMRK Rn. 18; Kleinlein, EuGRZ 2010, S. 544 (549). 1271 Vgl. Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 7 EMRK Rn. 82: Fortentwicklung des Strafrechts durch die Rechtsprechung ist gefestigte Verfassungstradition der Konventionsstaaten. 1272 EGMR Nr. 201/17, Magyar Kétfarkú Kutya Párt v Ungarn (GK), 20.01.2020, §§ 97, 115: „[T]here must come a day when a given legal norm is applied for the first time.“ Ebenso bereits EGMR Nr. 37553/05, Kudrevičius u. a. v Litauen (GK), 15.10.2015, § 115. 1273 EGMR Nr. 42168/06, Dmitriyevskiy v Russland, 03.10.2017, § 82; dem folgend EGMR Nr. 10692/09, Savva Terentyev v Russland, 28.08.2018, § 58; mit anderem Wortlaut bereits Nr. 27510/08, Perinçek v Schweiz (GK), 15.10.2015, § 135. 1274 EGMR Nr. 74613/01, Jorgic v Deutschland, 12.07.2007, §§ 109, 113; Nr. 54468/09, Huhtamäki v Finnland, 06.03.2012, §§ 50–51; Nr. 37553/05, Kudrevičius u. a. v Litauen (GK), 15.10.2015, §§ 113–117; Nr. 931/13, Satakunnan Markkinapörssi Oy und Satamedia Oy v Finnland (GK), 27.06.2017, §§ 150–151; Nr. 10692/09, Savva Terentyev v Russland, 28.08.2018, § 58; Nr. 201/17, Magyar Kétfarkú Kutya Párt v Ungarn (GK), 20.01.2020, § 115; Gerards, General Principles of the ECHR, S. 207. Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 142–143 sieht jedenfalls für die Entscheidung von Präzedenzfällen im common law kein Vorhersehbarkeitsproblem. 1275 EGMR Nr. 74613/01, Jorgic v Deutschland, 12.07.2007, §§ 112–113.

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korrekte Anwendung der Auslegungsmethoden kann sicherstellen,1276 dass das Auslegungsergebnis dem Wesen des Straftatbestands nicht widerspricht1277 beziehungsweise dass die Auslegung nicht willkürlich und unwahrscheinlich ist.1278 Die ersten Urteile zu einer (geänderten) sind der erste Schritt zu einer graduellen Ausgestaltung der gesetzlichen Grundlagen durch die Gerichte.1279 Der Fall Magyar Kétfarkú Kutya Párt v Ungarn zeigte jedoch, dass die erstmalige Subsumtion eines neuen Falles unter eine weit gefasste Vorschrift unter bestimmten Voraussetzungen dennoch gegen die Vorhersehbarkeit verstoßen kann. Die ungarische Satire-Partei MKKP rief dazu auf, bei einem Referendum ungültige Stimmen abzugeben und ein Foto vom Stimmzettel anonym in einer App hochzuladen.1280 Die Entscheidung der nationalen Wahlkommission, die App zu verbieten, war zum Zeitpunkt des Referendums noch nicht rechtskräftig, weil die MKKP das Oberste Gericht angerufen hatte, sodass die App am Tag der Abstimmung tatsächlich verwendet wurde. Das Oberste Gericht hielt die Entscheidung der Wahlkommission zwar aufrecht, fand aber eine andere dogmatische Begründung und reduzierte auch die verhängte Geldstrafe erheblich.1281 Die sanktions­ behafteten Wahl-Vorschriften wurden in dieser Sache erstmals auf das Verbot einer App angewendet.1282 „[H]aving regard to the particular importance of the foreseeability of the law when it comes to restricting the freedom of expression of a political party in the context of an election or a referendum […], the Court takes the view that the considerable uncertainty about the potential effects of the impugned legal provisions applied by the domestic authorities exceeded what is acceptable under Article 10 § 2 of the Convention.“1283

Die Durchführung einer Wahl oder eines Referendums, ohne dass die Meinungsäußerung des Volkes verfälscht wird, ist für jede demokratische Ordnung von be-

1276

Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 93–94: methodologisch exakte Auslegung schützt die Vorhersehbarkeit; vgl. auch Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 7 EMRK Rn. 17. 1277 EGMR Nr. 74613/01, Jorgic v Deutschland, 12.07.2007, § 109; Nr. 54468/09, Huhtamäki v Finnland, 06.03.2012, § 51; Nr. 11082/06 und 13772/05, Khodorkovskiy und Lebedev v Russland, 25.07.2013, § 821; Gerards, General Principles of the ECHR, S. 207. 1278 EGMR Nr. 37553/05, Kudrevičius u. a. v Litauen (GK), 15.10.2015, § 114; Nr. 931/13, Satakunnan Markkinapörssi Oy und Satamedia Oy v Finnland (GK), 27.06.2017, §§ 150–151; Gerards, General Principles of the ECHR, S. 207. 1279 Vgl. z. B. EGMR Nr. 42758/98 und 45558/99, K. A. und A. D. v Belgien, 17.02.2005, § 55; Nr. 50425/06, Soros v Frankreich, 06.10.2011, § 58 jeweils für die erstmalige Subsumtion eines neuen Falles unter die bereits früher ausgelegte Norm. Siehe hingegen für einen Fall, in dem die Vorhersehbarkeit der Subsumtion eines neuen Falles unter eine Vorschrift abgelehnt wurde EGMR Nr. 77193/01 und 77196/01, Dragotoniu und Militaru-Pidhorni v Rumänien, 24.05.2007, §§ 42–44. 1280 EGMR Nr. 201/17, Magyar Kétfarkú Kutya Párt v Ungarn (GK), 20.01.2020, §§ 7, 15, 18. 1281 EGMR Nr. 201/17, Magyar Kétfarkú Kutya Párt v Ungarn (GK), 20.01.2020, §§ 21–22, 25–27, 113. 1282 EGMR Nr. 201/17, Magyar Kétfarkú Kutya Párt v Ungarn (GK), 20.01.2020, § 115. 1283 EGMR Nr. 201/17, Magyar Kétfarkú Kutya Párt v Ungarn (GK), 20.01.2020, § 116.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

sonderer Bedeutung.1284 Diese neue Entscheidung zeigt also, dass die erstmalige Anwendung einer Norm auf einen neuen Sachverhalt durchaus unvorhersehbar sein kann, wenn die verbleibende Unsicherheit für die betroffenen Personen unzumutbar ist.1285 Dies ist dann der Fall, wenn fundamentale Werte der EMRK, wie das Demokratie- oder das Rechtsstaatsprinzip betroffen sind oder der Grundrechtseingriff sehr intensiv ist. (b) Änderung einer etablierten Rechtsprechung Während eine graduelle Weiterentwicklung der Auslegung dem Wesen der rechtsprechenden Gewalt entspricht,1286 stellt sich die Frage, ob beziehungsweise unter welchen Voraussetzungen eine Rechtsprechungsänderung für den Betroffenen so überraschend kommt, dass sie nicht vorhersehbar war. Grundsätzlich liegt eine Rechtsprechungsänderung im gerichtlichen Ermessen (discretionary powers of national courts), solange die Änderung nicht willkürlich ist.1287 Auch wenn die Rechtsprechung lange Zeit unverändert geblieben ist, müssen die Gerichte die Möglichkeit haben, eine etablierte Auslegung zu ändern. Ansonsten träte durch Zeitablauf eine Bindungswirkung früherer Urteile ein, welche dem Charakter der Rechtsprechung widerspräche, sich flexibel an die tatsächlichen Gegebenheiten anzupassen.1288 Die Leiturteile S. W. und C. R. v Vereinigtes Königreich und Streletz, Kessler und Krenz und K.-H. W. v Deutschland zeigen, wie großzügig der EGMR die Vorhersehbarkeit im Falle einer Rechtsprechungsänderung auslegte.1289 In den Fällen S. W. und C. R. v Vereinigtes Königreich ging es um die Strafbarkeit von Ver 1284

EGMR Nr. 201/17, Magyar Kétfarkú Kutya Párt v Ungarn (GK), 20.01.2020, §§ 99–100. Der EGMR erwähnt in seinen Erwägungsgründen Richtlinien der Wahlkommission, welche nicht zur Auslegung herangezogen werden konnten, weil sie unverbindlich waren, EGMR Nr. 201/17, Magyar Kétfarkú Kutya Párt v Ungarn (GK), 20.01.2020, § 114. Eine Klarstellung der Eingriffsgrundlage durch wirksam einbezogene Richtlinien hätte für die Vorhersehbarkeit förderlich sein können. 1286 Siehe die Nachweise in Fn. 1270. 1287 EGMR Nr. 3573/05 u. a., S. S. Balıklıçeşme Beldesi Tarım Kalkınma Kooperatifi u. a. v Türkei, 30.11.2010, § 28; Nr. 11838/07 und 12302/07, Torri u. a. und Bucciarelli v Italien (Zul.), 24.01.2012, §§ 42, 44; Nr. 19440/10, Maniscalco v Italien (Zul.), 02.12.2014, § 58. So auch Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 25 Rn. 17 (zu Art. 1 ZP). 1288 EGMR Nr. 43326/13, Grozdanić and Gršković-Grozdanić v Kroatien, 28.01.2021, § 107: „[T]he requirements of legal certainty and the protection of the legitimate confidence of the public in the judicial system do not confer an acquired right to consistency of case-law […].“ Vgl. so auch im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 EMRK EGMR Nr. 20153/04, Unédic v Frankreich, 18.12.2008, § 74; Nr. 76943/11, Lupeni Greek Catholic Parish u. a. v Rumänien (GK), 29.11.2016, § 116 (c). 1289 Hierzu Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 7 Rn. 21; Murphy, EHRLR 2010, S. 192 (200–201); eine knappe Zusammenfassung der EGMR-Linie anhand dieser Urteile bei Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 7 EMRK Rn. 18. Die weite Auslegung des EGMR in S. W. v Vereinigtes Königreich kritisiert Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 144. 1285

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gewaltigung in der Ehe, welche nach britischem Recht lange Zeit nicht strafbar gewesen war, weil durch den Eheschluss von der jederzeitigen Zustimmung der Ehefrau ausgegangen wurde.1290 Nach den Taten, aber vor der Verurteilung der Beschwerdeführer änderten die britischen Gerichte ihre Rechtsprechung, sodass die Beschwerdeführer verurteilt wurden.1291 Ebenso hatte die Law Commission vorgeschlagen, die Immunität der Ehemänner bei Vergewaltigungen abzuschaffen.1292 In dieser Stellungnahme und den vorangegangenen Urteilen erkannte der EGMR eine konsistente rechtliche Entwicklung.1293 Außerdem: „The essentially debasing character of rape is so manifest that the result […] that the applicant could be convicted of attempted rape, irrespective of his relationship with the victim […] cannot be said to be at variance with the object and purpose of Article 7 […] of the Convention, namely to ensure that no one should be subjected to arbitrary prosecution, conviction or punishment […]. What is more, the abandonment of the unacceptable idea of  a husband being immune against prosecution for rape of his wife was in conformity not only with a civilised concept of marriage but also, and above all, with the fundamental objectives of the Convention, the very essence of which is respect for human dignity and human freedom.“1294

Der EGMR begründete die Vorhersehbarkeit der geänderten Auslegung also nicht allein mit der graduellen Entwicklung des Rechts, sondern vor allem mit einem dringend aktualisierungsbedürftigen Eheverständnis und der Menschenwürde. Die Rechtsprechungsänderung der britischen Gerichte führte dazu, dass ein Zustand erreicht wurde, welcher im Gegensatz zum vorherigen Zustand den Werten der EMRK entsprach. Entscheidend für die Vorhersehbarkeit ist also nicht allein die Entwicklung im nationalen Recht, sondern auch die völkerrechtliche Verpflichtung, einen konventionskonformen Zustand im nationalen Recht zu etablieren. In den Fällen K.-H. W. und Streletz, Kessler und Krenz v Deutschland wurden die Beschwerdeführer nach der deutschen Wiedervereinigung wegen Totschlags oder Anstiftung zum Totschlag verurteilt, weil sie an der Tötung von DDR-Flüchtlingen beteiligt gewesen waren.1295 Die Fälle unterscheiden sich – abgesehen von den 1290

EGMR Nr. 20166/92, S. W. v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, §§ 8–9, 22; Nr. 20190/92, C. R. v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, §§ 10–11, 19; hierzu die Darstellung von Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 143–144, welcher allerdings davon ausgeht, dass die Vorhersehbarkeit von richterlicher Rechtsentwicklung im common law und in kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen unterschiedlich zu beurteilen ist. Zum Sachverhalt schon oben auf S. 255. 1291 EGMR Nr. 20166/92, S. W. v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, §§ 11–13; Nr. 20190/92, C. R. v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, § 12. 1292 EGMR Nr. 20166/92, S. W. v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, § 27; Nr. 20190/92, C. R. v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, § 25. 1293 EGMR Nr. 20190/92, C. R. v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, § 41; Nr. 20166/92, S. W. v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, § 43. 1294 EGMR Nr. 20190/92, C. R. v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, § 42; Nr. 20166/92, S. W. v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, § 44 (Hervorhebung durch die Verfasserin). 1295 EGMR Nr. 34044/96 u. a., Streletz, Kessler und Krenz v Deutschland (GK), 22.03.2001, §§ 19–26; Nr. 37201/97, K.-H. W. v Deutschland (GK), 22.03.2001, §§ 17–20; siehe zum Urteil K.-H. W. v Deutschland Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 7 EMRK Rn. 91, 100, 112.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

verschiedenen strafrechtlichen Beteiligungsformen – im Wesentlichen dadurch, dass der Beschwerdeführer K.-H. W. ein Soldat unteren Ranges war,1296 während Streletz, Kessler und Krenz hohe Positionen mit Befehlsgewalt innehatten.1297 Die Gerichte der BRD wendeten das zum Tatzeitpunkt geltende Strafrecht der DDR an, ohne allerdings den gewohnheitsrechtlich anerkannten Rechtfertigungsgrund bei Tötungen von Flüchtlingen an der Grenze zur BRD zu übernehmen.1298 Für die Soldaten der DDR gab es die Anordnung, die Grenze der DDR unter allen Umständen (at all costs) zu schützen und Grenzflüchtlinge zu inhaftieren oder zu „vernichten“ (annihilate). Der EGMR unterstellte den militärischen Führungspersonen Streletz, Kessler und Krenz, dass sie die Verfassung der DDR, die parlamentarische Gesetzgebung und die internationalen Verpflichtungen kannten sowie die Anordnungen zum Grenzschutz selbst gegeben hatten und daher unmittelbar verantwortlich waren.1299 Die Weisungsgebundenheit des jungen Soldaten K.-H. W. entlastete diesen jedoch nicht, sondern führte lediglich zu einem geringeren Strafmaß.1300 Auch für ihn sei das geschriebene Recht, welches Totschlag verbot, zugänglich gewesen. Zudem habe er sich freiwillig gemeldet und dabei die Möglichkeit in Betracht ziehen müssen, an der Grenze eingesetzt zu werden, sodass von ihm erwartet werden würde, auf unbewaffnete Flüchtlinge zu schießen.1301 „75. [E]ven a private soldier could not show total, blind obedience to orders which flagrantly infringed not only the GDR’s own legal principles but also internationally recognised human rights, in particular the right to life, which is the supreme value in the hierarchy of human rights. 76. Even though the applicant was in a particularly difficult situation on the spot, in view of the political context in the GDR at the material time, such orders could not justify firing on unarmed persons who were merely trying to leave the country.“1302

Der EGMR erkannte den Rechtfertigungsgrund nicht als geltendes Recht an. Ein rechtsstaatlicher Nachfolgestaat könne nicht dafür kritisiert werden, dass er die zum Tatzeitpunkt anwendbaren Vorschriften im Sinne der rule of law anwende.1303 Außerdem: „[A] State practice such as the GDR’s borderpolicing policy, which flagrantly infringes human rights and above all the right to life, the supreme value in the international hierarchy 1296 1297

§ 78.

EGMR Nr. 37201/97, K.-H. W. v Deutschland (GK), 22.03.2001, § 68. EGMR Nr. 34044/96 u. a., Streletz, Kessler und Krenz v Deutschland (GK), 22.03.2001,

1298 EGMR Nr. 34044/96 u. a., Streletz, Kessler und Krenz v Deutschland (GK), 22.03.2001, §§ 67–69; Nr. 37201/97, K.-H. W. v Deutschland (GK), 22.03.2001, §§ 62–64. 1299 EGMR Nr. 34044/96 u. a., Streletz, Kessler und Krenz v Deutschland (GK), 22.03.2001, § 78. 1300 EGMR Nr. 37201/97, K.-H. W. v Deutschland (GK), 22.03.2001, § 81. 1301 EGMR Nr. 37201/97, K.-H. W. v Deutschland (GK), 22.03.2001, §§ 73–74. 1302 EGMR Nr. 37201/97, K.-H. W. v Deutschland (GK), 22.03.2001, §§ 75–76; dem folgend EGMR Nr. 36376/04, Kononov v Lettland (GK), 17.05.2010, § 236. 1303 EGMR Nr. 34044/96 u. a., Streletz, Kessler und Krenz v Deutschland (GK), 22.03.2001, §§ 81–83; Nr. 37201/97, K.-H. W. v Deutschland (GK), 22.03.2001, §§ 84–86.

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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of human rights, cannot be covered by the protection of Article 7 § 1 of the Convention. That practice, which emptied of its substance the legislation on which it was supposed to be based, and which was imposed on all organs of the GDR, including its judicial bodies, cannot be described as ‚law‘ within the meaning of Article 7 of the Convention.“1304

Damit bezog der EGMR die Wertungen der EMRK in seine Beurteilung mit ein, obwohl die DDR kein Mitglied des Europarates und nicht zur Einhaltung der EMRK verpflichtet war.1305 Die Urteile C. R. und S. W. v Vereinigtes Königreich zeigen, dass die Rechtsentwicklung, die zur Rechtsprechungsänderung führte, vom Staat dargelegt werden muss. Während der EGMR in den Fällen gegen das Vereinigte Königreich eine langsame Rechtsentwicklung erkannte, veränderte sich die Beurteilung der Strafbarkeit in den Fällen gegen Deutschland durch ein einziges Ereignis, welches der EGMR mit einer graduellen Entwicklung des Rechts gleichsetzte.1306 Die Wiedervereinigung und die Bestimmung der Bundesrepublik als Staatennachfolgerin der DDR ersetzten also die Darlegung der langsamen Rechtsentwicklung. Ob die Beschwerdeführer selbst zum Tatzeitpunkt von dieser Entwicklung Kenntnis haben konnten, beachtete der EGMR hingegen nicht. Stattdessen bezog der EGMR in allen Fällen in seine Beurteilung ein, dass die neue Rechtslage den Werten und Wertungen der EMRK deutlich besser entsprach als die alte. Von den Betroffenen wurde also erwartet, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme fachkundiger Hilfe, eine konventionskonformere Entwicklung der Rechtsprechung nationaler Gerichte zu antizipieren. Fälle, in denen der EMRK die Vorhersehbarkeit wegen einer plötzlichen Rechtsprechungsänderung ablehnte, sind Pessino v Frankreich und Del Río Prada v Spanien.1307 In Pessino v Frankreich konnte die Regierung nicht nachweisen, dass die Fortführung von Bauarbeiten trotz Aufhebung der Baugenehmigung in früherer Rechtsprechung als Straftat eingeordnet worden war; die Verurteilung beruhte daher auf einer nicht vorhersehbaren, zu extensiven Interpretation des Straftatbestands zum Nachteil des Beschwerdeführers.1308 Im Fall Del Río Prada v Spanien veränderten die Gerichte die Berechnung des Erlasses einer Freiheitsstrafe, sodass die Beschwerdeführerin neun Jahre länger im Gefängnis bleiben musste als nach der ursprünglichen Berechnungsweise.1309 Das relevante Gesetz war zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Erlass bereits nicht mehr in Kraft und wurde 1304 EGMR Nr. 34044/96 u. a., Streletz, Kessler und Krenz v Deutschland (GK), 22.03.2001, § 87; Nr. 37201/97, K.-H. W. v Deutschland (GK), 22.03.2001, § 90. 1305 Vgl. auch Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 7 EMRK Rn. 91, welcher das Urteil als Reaktivierung der Radbruch’schen Formel im Gewand menschenrechtskonformer Auslegung bezeichnet. 1306 EGMR Nr. 34044/96 u. a., Streletz, Kessler und Krenz v Deutschland (GK), 22.03.2001, § 82; Nr. 37201/97, K.-H. W. v Deutschland, 22.03.2001, § 85. 1307 Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 7 EMRK Rn. 21; Gerards, General Principles of the ECHR, S. 207. 1308 EGMR Nr. 40403/02, Pessino v Frankreich, 10.10.2006, §§ 34–36. 1309 EGMR Nr. 42750/09, Del Río Prada v Spanien (GK), 21.10.2013, §§ 16–20.

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nur noch auf Altfälle wie den der Beschwerdeführerin angewendet. Der EGMR sah keine Anhaltspunkte für eine graduelle Rechtsprechungsänderung der alten Rechtsnorm und darüber hinaus einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 7 Abs. 1 EMRK.1310 Sowohl in Pessino v Frankreich als auch in Del Río Prada v Spanien begründete der EGMR die mangende Vorhersehbarkeit einerseits mit der fehlenden vorherigen Entwicklung der Rechtsprechung, andererseits mit den Gewährleistungsgehalten des Art. 7 EMRK. Der EGMR legte also auch hier die Wertungen der EMRK zugrunde. Das vom EGMR häufig wiederholte Kriterium der graduellen Rechtsprechungsentwicklung ist für sich genommen schwierig justiziabel.1311 Dies zeigt sich sowohl an den Fällen C. R. und S. W. v Vereinigtes Königreich, wo die Veränderung der Rechtslage erst nach den Taten der Beschwerdeführer begann als auch in den Fällen K.-H. W. und Streletz, Kessler und Krenz v Deutschland, wo die Voraussetzung einer langsamen Entwicklung der Rechtslage durch das Ereignis der Staatennachfolge ersetzt werden konnte. Entscheidend ist daher in der Regel zusätzlich die inhaltliche Erwägung, dass die neue Rechtsprechung stärker den konventionsrechtlichen Erfordernissen entspricht. Die Vorhersehbarkeitsrechtsprechung des EGMR unterstellt, dass der Betroffene jederzeit damit rechnen muss, dass die rechtsauslegenden Staatsorgane ihre bisherige Auslegung zugunsten einer stärker konventionskonformen Auslegung abwandeln.1312 (c) Uneinheitliche Auslegung einer Norm durch die Gerichte Legen Gerichte – oder auch Richter innerhalb eines Gerichts1313 – die gleiche Norm unterschiedlich aus, ist für den Bürger die Beurteilung der Rechtslage in seinem konkreten Fall schwierig vorauszusehen. Diese Fallgruppe wurde bislang besonders, aber nicht ausschließlich,1314 im Kontext des Eigentumsrechts aus Art. 1 ZP relevant. 1310

EGMR Nr. 42750/09, Del Río Prada v Spanien (GK), 21.10.2013, §§ 114–116. Vgl. auch Sinner, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 7 Rn 13: Die Grenze zwischen zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung und unzulässiger Rechtsprechungsänderung ist schwierig zu ziehen. 1312 Von Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 7 EMRK Rn. 100, 112 für die hier angesprochene Urteile bezeichnet als „Normativierung“ bzw. „Objektivierung“ des Vorhersehbarkeitsverständnisses, mit Verweis auf Renzikowski, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 7 Rn. 56 (2009). 1313 So etwa der Fall in EGMR Nr. 50084/06, RTFB v Belgien, 29.03.2011, § 113. 1314 Für Art. 7 EMRK explizit auf der Rechtsprechung zu Art. 1 ZP  aufbauend EGMR Nr. 37462/09, Žaja v Kroatien, 04.10.2016, § 104; zu Art. 10 EMRK EGMR Nr. 50084/06, RTFB v Belgien, 29.03.2011, §§ 111–117 in der konkreten Anwendung, ohne jedoch generelle Prinzipien zur uneinheitlichen Auslegung zu formulieren; zu Art. 8–11 Abs. 1 EMRK Gerards, General Principles of the ECHR, S. 210; zu Art. 5 EMRK EGMR Nr. 25336/04, Grori v Albanien, 07.07.2009, § 159; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 13 Rn. 144; allgemein Marauhn / Merhof, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 7 Rn. 34. 1311

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„Where manifestly divergent case-law, concerning the same issue, interferes with the right to peaceful enjoyment of one’s possessions and no reasonable explanation is given for this divergence, such interferences cannot be considered lawful for the purposes of Article 1 of Protocol No. 1. Inconsistent case-law had been deemed to lack the required precision to enable individuals to foresee the consequences of their actions […].“1315

Jedoch stellt nicht jede uneinheitliche Rechtsprechung per se einen Konventionsverstoß dar. Solange eine einheitliche und gesicherte höchstinstanzliche Rechtsprechung existiert, sind divergierende Entscheidungen der unterinstanzlichen Gerichte für die Vorhersehbarkeit unschädlich.1316 Außerdem akzeptierte der EGMR im Fall Arrozpide Sarasola v Spanien eine Zeitspanne von zehn Monaten, in denen die Gerichte unterschiedliche Entscheidungen trafen, bis das Oberste Gericht eine Leitentscheidung über eine neu in Kraft getretene Norm traf, der die unteren Gerichte anschließend folgten:1317 „[The Court] accepts that achieving consistency of the law may take time, and periods of conflicting case-law may therefore be tolerated when the domestic legal system is capable of accommodating them […].“1318

Wie lange der EGMR eine divergierende Rechtsprechung hinnimmt, geht aus dieser Einzelfallentscheidung nicht hervor. Richtigerweise hängt dies auch davon ab, ob die streitige Auslegung bereits Gegenstand einer höchstgerichtlichen Entscheidung war beziehungsweise sein konnte, welche vereinheitlichend auf die Auslegung der unterinstanzlichen Gerichte wirkt. Durch diese zurückhaltende Rechtsprechungslinie verhindert der EGMR, dass das erste Urteil zu einer neuen Norm faktische Präjudizwirkung für alle Folgeentscheidungen entfaltet. Der Gerichtshof nimmt Rücksicht darauf, dass die Urteile verschiedener Gerichte nicht immer widerspruchsfrei sein können. Widersprüchliche Urteile auf höchstgerichtlicher Ebene können jedoch dazu führen, dass die Rechtslage nicht mehr vorhersehbar ist.1319

1315

EGMR Nr. 23001/08, Matić und Polonia Doo v Serbien (Zul.), 23.06.2015, § 47 mit Verweis auf weitere frühere Urteile. Grundlegend EGMR Nr. 31524/96, Belvedere Alberghiera S. r. l. v Italien, 30.05.2000, § 58; Nr. 24638/94, Carbonara und Ventura v Italien, 30.05.2000, § 65. 1316 EGMR Nr. 17862/91, Cantoni v Frankreich (GK), 15.11.1996, § 34. 1317 EGMR Nr. 65101/16, 73789/16 und 73902/16, Arrozpide Sarasola u. a. v Spanien, 23.10.2018, §§ 127–128. 1318 EGMR Nr. 65101/16, 73789/16 und 73902/16, Arrozpide Sarasola u. a. v Spanien, 23.10.2018, § 128; inhaltlich vergleichbar bereits EGMR Nr. 55959/14, Borcea v Rumänien (Zul.), 22.09.2015, § 66. 1319 Dies stellte der EGMR bezogen auf die von Art. 6 Abs. 1 EMRK geschützte Rechtssicherheit im Urteil EGMR Nr. 30658/05, Beian v Rumänien, 06.12.2007, §§ 27, 39 klar: Der EGMR stellte einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK fest, weil das oberste nationale Gericht sich selbst in der Auslegung der entscheidungsrelevanten Norm widersprach und es keinen Mechanismus zur Auflösung dieses Widerspruchs gab. Siehe zur Rechtsprechung zur Rechtssicherheit im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK ab S. 414.

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(d) Analoge Anwendung und Anwendung einer Norm außerhalb ihres ursprünglichen Anwendungsbereichs Schließlich behandelte der EGMR unter dem Stichwort der Vorhersehbarkeit solche Fälle, in denen sich nationale Gerichte eindeutig über die Wortlautgrenze der anwendbaren Norm hinweg setzten oder diese analog anwendeten. Gemäß Art. 7 EMRK sind die analoge Anwendung oder extensive Auslegung von Strafnormen zu Lasten des Beschuldigten verboten. Das Analogieverbot wird an den allgemeinen Maßstäben für die Vorhersehbarkeit gemessen.1320 Im Falle des Art. 7 EMRK verbietet die EMRK also eine Auslegung über den Wortlaut hinaus. Damit ist die Frage, ob das nationale Recht selbst eine extensive Auslegung oder analoge Anwendung der relevanten Norm erlaubt, irrelevant. Bei den anderen Konventionsrechten ist das Bestimmtheitsgebot im Rahmen der Vorhersehbarkeit nicht durch ein Analogieverbot aufgeladen. In diesen Fällen ist eine die Wortlautgrenze überschreitende Auslegung nicht per se konventionswidrig. Dies zeigt etwa die Sache Mooren v Deutschland: Im Falle von prozessualen Fehlern verwies das zuständige Berufungsgericht, nachdem es die Rechtwidrigkeit eines Haftbefehls festgestellt hatte, entgegen dem Wortlaut des § 309 Abs. 2 StPO in ständiger Rechtsprechung den Fall zurück an das ursprünglich zuständige unterinstanzliche Gericht, statt selbst in der Sache zu entscheiden.1321 Dieses Vorgehen widersprach dem Prinzip der Rechtssicherheit nicht, weil es sich um eine geübte Praxis handelte, für welche es schon viele Beispiele in vergleichbaren Fällen gab; daher war das Vorgehen für den Beschwerdeführer vorhersehbar.1322 Trotz seiner Rücksicht auf die Auslegungsentscheidungen nationaler Gerichte nahm der EGMR jedoch nicht jede gerichtliche Auslegungsentscheidung hin. Im Fall Soldatenko v Ukraine enthielt das nationale Recht außer der Verpflichtung, innerhalb von 72 Stunden tätig zu werden, keine verfahrensrechtlichen Vorgaben für die Haftprüfung im Falle einer Abschiebehaft. Insbesondere fehlten im ukrainischen Recht die Grundlagen, um die Inhaftnahme zum Zwecke der Abschiebung überprüfen zu lassen. In einer nicht verbindlichen Resolution empfahl das Oberste 1320 Vgl. die Definitionen in EGMR Nr. 36376/04, Kononov v Lettland (GK), 17.05.2010, § 185; Nr. 2312/08 und 34179/08, Maktouf und Damjanović v Bosnien und Herzegowina (GK), 18.07.2013, § 66; Nr. 42750/09, Del Río Prada v Spanien (GK), 21.10.2013, §§ ­78–79; Nr. 59552/08, Rohlena v Tschechien (GK), 27.01.2015, § 50. Eine unklare Abgrenzung zwischen Bestimmtheitsgebot und Analogieverbot sieht Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 7 EMRK Rn. 111. Vgl. auch die Kommentierungen, welche das Analogieverbot im Rahmen der Bestimmtheit der Strafnorm und nicht als eigene Gewährleistung des Art. 7 EMRK behandeln, etwa Kadelbach, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  15 Rn. 25; Peters / Altwicker, EMRK, § 23 Rn. 6; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 7 EMRK Rn. 17–22 („Gebot der Auslegung“). 1321 EGMR Nr. 11364/03, Mooren v Deutschland (GK), 09.07.2009, §§ 51, 92. 1322 EGMR Nr. 11364/03, Mooren v Deutschland (GK), 09.07.2009, § 93; Dörr, in: Dörr  / ​ Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 13 Rn. 143.

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Gericht, die Vorschriften zur Haftprüfung nach der Strafprozessordnung anzuwenden.1323 Der EGMR sah die qualitativen Gesetzesmerkmale als nicht erfüllt an mit den Begründungen, dass die Resolution des Obersten Gerichts nicht rechtsverbindlich war und daher nicht für die Beurteilung der Vorhersehbarkeit herangezogen werden konnte und dass der persönliche Anwendungsbereich der Strafprozessordnung eindeutig nicht eröffnet war.1324 Das Urteil Soldatenko v Ukraine zeigt, dass die Gerichte sich nicht über die geschriebenen rechtlichen Grundlagen hinwegsetzen dürfen, wenn es hierfür im Vorhinein keine Anhaltspunkte gab und damit die Zuständigkeit des Gesetzgebers, eine Regelung zu erlassen, übergangen wird. Im Fall Işıkırık v Türkei wurde der Beschwerdeführer zu sechs Jahren und drei Monaten Gefängnisstrafe verurteilt, weil er bei einer Beerdigung von vier PKKKämpfern vor einem der Särge gelaufen war und während einer Demonstration applaudiert hatte, als andere Demonstranten Slogans gerufen hatten.1325 Der Straftatbestand war wie folgt formuliert: „Anyone who commits a crime on behalf of an (illegal) organisation, even if they are not a member of that organisation, shall also be punished for being a member of the organisation.“1326

Die Teilnahme an der Beerdigung und der Demonstration wurden als eine Handlung im Namen (on behalf)  der illegalen Organisation subsumiert. Diese Auslegung befand der EGMR für zu extensiv, weil kein ausreichender Schutz vor willkürlichen Eingriffen mehr bestand.1327 „Furthermore, and importantly, […] for acts which fell within the scope of Article 11 of the Convention, there remained no distinction between the applicant, a peaceful demonstrator, and an individual who had committed offences within the structure of the PKK. Such extensive interpretation of a legal norm cannot be justified when it has the effect of equating mere exercise of fundamental freedoms with membership of an illegal organisation in the absence of any concrete evidence of such membership. […] [T]he very essence of the right to freedom of peaceful assembly and, thereby, the foundations of a democratic society, was undermined when the applicant was held criminally liable […] for the mere fact of attending a public meeting and expressing his views therein […].“1328

Die drei angesprochenen Urteile betreffen drei unterschiedliche Situationen: Die Nicht-Anwendung vorhandener Verfahrens-, im konkreten Fall Zuständigkeitsvorschriften, die analoge Anwendung vorhandener Verfahrensvorschriften auf einen 1323

EGMR Nr. 2440/07, Soldatenko v Ukraine, 23.10.2008, § 31. EGMR Nr. 2440/07, Soldatenko v Ukraine, 23.10.2008, §§ 113–114. 1325 EGMR Nr. 41226/09, Işıkırık v Türkei, 14.11.2017, §§ 6–8, 13–14, 16, 61. Siehe außerdem die Parallelfälle EGMR Nr. 46713/10, Bakır u. a. v Türkei, 10.07.2018; Nr. 57316/10, İmret v Türkei Nr. 2, 10.07.2018. 1326 Article 220 (6) Criminal Code, siehe EGMR Nr. 41226/09, Işıkırık v Türkei, 14.11.2017, § 30. 1327 EGMR Nr. 41226/09, Işıkırık v Türkei, 14.11.2017, §§ 60–67. 1328 EGMR Nr. 41226/09, Işıkırık v Türkei, 14.11.2017, § 68; ebenso EGMR Nr. 46713/10, Bakır u. a. v Türkei, 10.07.2018, § 68; Nr. 57316/10, İmret v Türkei Nr. 2, 10.07.2018, § 57. 1324

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Fall, für den es keine Regelung des parlamentarischen Gesetzgebers gab und die zu extensive Auslegung von Straftatbeständen, die zur Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers führte. In allen drei Fällen fügten sich die Urteile der innerstaatlichen Gerichte in eine längerfristige Rechtsprechungslinie ein. Gleichwohl hat der EGMR nur im Mooren-Urteil die Vorhersehbarkeit des gerichtlichen Handelns bestätigt. Das Urteil Mooren v Deutschland unterscheidet sich von den anderen beiden Beispielen durch seine geringere Grundrechtsrelevanz. Welches Gericht nach der Behebung prozessualer Fehler letztlich eine Entscheidung in der Sache trifft, darf wegen der gerichtlichen Rechtsbindung für den Inhalt der Entscheidung keinen Unterschied machen. Da in der Berufungsinstanz lediglich prozessuale Fehler behoben wurden, ist nicht zu befürchten, dass das unterinstanzliche Gericht hinsichtlich der inhaltlichen Entscheidung voreingenommen ist. Sowohl im Fall Soldatenko als auch im Fall Işıkırık führte die zu unbestimmte Norm dazu, dass ein intensiver Eingriff in die Konventionsrechte der Beschwerdeführer vorlag. Im Fall Soldatenko verhinderten die fehlenden Verfahrensvorschriften, dass die Rechtmäßigkeit der Abschiebehaft überprüft werden konnte. In der Sache Işıkırık wurde der Beschwerdeführer zu einer Haftstrafe verurteilt, obwohl der Straftatbestand im Lichte des Art. 11 EMRK ausgelegt die friedliche Teilnahme an Demonstrationen nicht unter Strafe stellte. In beiden Fällen waren die Beschwerdeführer, anders als im Fall Mooren v Deutschland, hoheitlicher Willkür ausgesetzt. (e) Zwischenfazit Da Gerichte in rechtsfortbildender wie in auslegender Tätigkeit als Rechtsetzungsorgane im Sinne des konventionsrechtlichen Gesetzesvorbehalts eingeordnet werden, gelten auch für gerichtliche Entscheidungen die qualitativen Anforderungen des Gesetzesbegriffs, insbesondere der Vorhersehbarkeit. Die Besonderheit, dass Gerichte erst nachträglich streitentscheidend tätig werden und somit die Betroffenen im Zeitpunkt, in dem der Streit entsteht beziehungsweise zu dem sie eine Straftat begehen, nicht mit absoluter Sicherheit voraussagen können, wie die Gerichte entscheiden werden, wird in die Grundsätze der Vorhersehbarkeit einbezogen. Gesetze, welche mehrere Auslegungsmöglichkeiten offen lassen, verstoßen genauso wenig gegen die Vorhersehbarkeit wie erstmalige Anwendungen eines neu in Kraft getretenen Gesetzes oder eines Gesetzes auf einen bisher unbekannten Fall, solange das Auslegungsergebnis an sich nicht willkürlich oder anderweitig konventionswidrig ist. Graduelle Rechtsprechungsänderungen sind ebenfalls konventionskonform. Gleiches gilt für solche Rechtsprechungsänderungen, die tatsächlich zum Tatzeitpunkt noch nicht absehbar waren, durch welche jedoch eine konventionskonformere Rechtslage erreicht wurde. Uneinheitliche Rechtsprechung unterschiedlicher Gerichte nimmt der EGMR jedenfalls solange hin, bis eine

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höchstgerichtliche Klärung möglich ist, die typischerweise zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung der unterinstanzlichen Gerichte führt. Solange die gericht­liche Auslegung innerhalb der Wortlautgrenze bleibt, lässt die Vorhersehbarkeit den Gerichten einen weiten Auslegungsspielraum. Überschreiten Gerichte die Wortlautgrenze oder wenden sie eine Norm entsprechend an, ist die Beurteilung des EGMR abhängig davon, wie stark die Konventionsrechte betroffen sind.1329 Diese Beurteilung ist von der Frage zu unterscheiden, ob die Gerichte nach innerstaatlichen Maßstäben rechtmäßig entschieden haben – hierbei handelt es sich um eine eigenständige Anforderung des Gesetzesbegriffs.1330 Insgesamt zeigt sich, dass Gerichte zwar einerseits als Rechtsetzungsorgane im Sinne des konventionsrechtlichen Gesetzesbegriffs anerkannt sind, weil die Auslegungsentscheidungen Bestandteil der Rechtslage werden. Andererseits zeigt sich jedoch, dass Gerichte an die geschriebenen Grundlagen gebunden sind, so wie dies von den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen vorgesehen ist. Die Vorhersehbarkeit bestimmt, wie viel Spielraum den Gerichten verbleibt, die Rechtslage zu entwickeln. Dieser Spielraum ist nicht lediglich davon abhängig, ob das Rechtsprechungsergebnis anhand der Entwicklung der Rechtslage und des juristischen Diskurses vorhersehbar war, sondern auch davon, wie sehr hierdurch Gewährleistungen oder Grundwerte der EMRK betroffen sind. c) Zwischenfazit Leitgedanke der qualitativen Merkmale der Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit ist die Rechtsstaatlichkeit, im konkreten die Rechtssicherheit und die Rechtsklarheit. Der EGMR formuliert jedoch keine festen Maßstäbe. Wie groß der Schutz vor einer willkürlichen Rechtsanwendung sein muss, hängt sowohl bei der Zugänglichkeit als auch bei der Vorhersehbarkeit von den konkreten Umständen und den Adressaten der Norm ab. Außerdem müssen die Anforderungen variabel ausgestaltet sein, weil der konventionsrechtliche Gesetzesbegriff Rechtsakte aller Gewalten umfassen kann und deren strukturelle Besonderheiten in die Rechtsprechung einbezogen werden müssen. Insbesondere das Richterrecht verlangt flexible Maßstäbe: So werden gerichtliche Urteile nicht flächendeckend in offiziellen Amtsblättern oder Sammlungen veröffentlicht. Zudem führt die nachträgliche gerichtliche Streitentscheidung dazu, dass das Auslegungsergebnis nicht mit absoluter Sicherheit vorhergesagt werden kann. Schließlich war bei beiden Gesetzesmerkmalen häufig entscheidend, wie sehr die jeweiligen Konventionsrechte im konkreten

1329 Vgl. auch Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 76 sowie Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 18 Rn. 11;  Wyttenbach / Hofer, Swiss Review of International and European Law 27 (2017), S. 333 (360): Intensive Grundrechtseingriffe unterliegen besonders strengen qualitativen Anforderungen. 1330 Siehe hierzu näher ab S. 302.

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Fall schutzbedürftig waren. Im Rahmen der Vorhersehbarkeit traten bisherige Auslegungsentscheidungen und die Frage, ob nach der nationalen Rechtslage eine Rechtsprechungsentwicklung zu erwarten war, in den Hintergrund, wenn das neue Auslegungsergebnis den Werten der EMRK deutlich besser entsprach als das alte. Die EGMR-Rechtsprechung zur Vorhersehbarkeit verdeutlicht auch die hybride Rolle der Gerichte als auslegende und gleichzeitig rechtsetzende Gewalt. Die Auslegung geschriebener Normen wies der EGMR primär den Gerichten zu. Durch Auslegung wird der Bedeutungsgehalt der geschriebenen Normen konkretisiert. Die Gerichte nehmen hierdurch also Einfluss auf die Rechtslage. In diesem Sinne sind die Gerichte Rechtsetzungsorgane im Sinne des konventionsrechtlichen Gesetzesvorbehalts. Daher gelten die Anforderungen der Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit auch für Gerichtsentscheidungen. Gleichzeitig regelt die Vorhersehbarkeit das Verhältnis zwischen rechtsetzender und rechtsanwendender Gewalt. Die willkürliche Ausübung von Hoheitsgewalt wird vor allem dadurch verhindert, dass die rechtsanwendende, in der Regel exekutive Gewalt, begrenzt wird. Wie viel Spielraum die rechtsetzende der anwendenden Gewalt lassen darf, hängt von den konkreten Umständen ab, sodass hierzu keine einheitlichen Kriterien aufgestellt werden können. Der EGMR geht nicht so weit, von den Konventionsstaaten konkrete Tatbestandsvoraussetzungen oder Rechtsfolgen einer Rechtsgrundlage zu fordern.  Der Gerichtshof verlangt lediglich, dass die Rechtsgrundlage materielle und prozessuale Eingriffsvoraussetzungen etabliert. Welche Organe im konkreten Fall rechtsetzend und rechtsanwendend tätig wurden, ist für die Beurteilung irrelevant. Genauso ergibt sich aus dem konventionsrechtlichen Gesetzesvorbehalt keine alleinige Kontrollfunktion der Gerichte. Ausreichend ist, dass das Kontrollorgan unabhängig ist und eine ausreichende Prüfungskompetenz besitzt. Hierbei handelt es sich zwar um gerichtliche Eigenschaften, allerdings ist nicht ausgeschlossen, dass auch ein Kontrollorgan der Verwaltung entsprechend ausgestaltet sein könnte.

4. Analyse: Keine Übertragung der Wesentlichkeitstheorie auf den rechtsstaatlich begründeten materiellen Gesetzesbegriff Nach den bisherigen Ergebnissen bestimmt die EMRK nicht, welche Organe rechtsetzend tätig werden dürfen und auf welcher Kompetenzgrundlage sie agieren müssen. Unterschiedliche Anforderungen an verschiedene rechtsetzende Organe ergeben sich allein aus den qualitativen Merkmalen. Ein expliziter Vorrang parlamentarischer Gesetzgebung geht aus der Rechtsprechung nicht hervor. Durch die Brille der deutschen Verfassungsdogmatik betrachtet, stellt sich jedoch die Frage, ob der EMRK nicht dennoch die Annahme zugrunde liegt, dass das Parlament an der Rechtsetzung entweder in Form einer formell-gesetzlichen Grundlage oder einer delegierten Rechtsetzungsbefugnis beteiligt sein muss. Der

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Gerichtshof hat sich, soweit ersichtlich, noch nie dazu geäußert, dass exekutive Rechtsetzung nur aufgrund einer Delegation durch das Parlament ermöglicht werden darf. Diese Voraussetzung kann sich höchstens aus der nationalen Rechtsordnung ergeben, sodass sie im Rahmen der Rechtmäßigkeit der Rechtsgrundlage einzubeziehen ist.1331 Genauso ist für die Rechtsqualität judikativer Entscheidungen die Anerkennung im nationalen Recht ausschlaggebend.1332 Bei jedem Versuch, weitere Anforderungen an den konventionsrechtlichen Gesetzesbegriff zu formulieren, die nicht aus der Rechtsprechung hervorgehen, ist Zurückhaltung geboten. Das nationale Verständnis der Rolle des Parlaments bei der Grundrechtseinschränkung darf nicht blind auf die EMRK übertragen werden.1333 Die früher geäußerte Ansicht, dass Eingriffen in Konventionsrechte in jedem Fall ein formelles Gesetz zugrunde liegen muss,1334 widerspricht offen der Rechtsprechung und hat sich nicht durchgesetzt. Ebenso selten findet sich – im deutschen Schrifttum – die Meinung, dass die EMRK selbst keine Vorgaben zur parlamentarischen Beteiligung macht.1335 a) Die herrschende Ansicht im deutschen Schrifttum: Rückführbarkeit auf eine parlamentarische Entscheidung erforderlich Nach der Wesentlichkeitslehre des GG muss der parlamentarische Gesetzgeber alle wesentlichen Entscheidungen im Kern selbst treffen. Dies betrifft insbesondere Voraussetzungen für Grundrechtseingriffe.1336 Eine vor allem im deutsch-sprachigen Schrifttum vertretene Ansicht überträgt diesen Gedanken auf die EMRK: Ein Parlamentsgesetz müsse Eingriffe in Konventionsrechte entweder selbst regeln oder die Rechtsetzungsgewalt an andere Staatsorgane delegieren.1337 Teilweise wird 1331

Siehe zur exekutiven Rechtsetzung oben ab S. 249. Siehe zur judikativen Rechtsetzung ab S. 252 sowie zu den Besonderheiten im Rahmen der Vorhersehbarkeit ab S. 280. 1333 Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes, S. 146. 1334 Guradze, EMRK, Art. 8 Rn. 3, Art. 10 Rn. 12, Art. 11 Rn. 7 (jeweils ohne Begründung); Nowak, in: Ermacora / Nowak / Tretter, EMRK, Art. 3 1. ZP, S. 654; Schorn, EMRK, S. 244, 263; Partsch, Die Rechte und Freiheiten der EMRK, in: Bettermann / Neumann / Nipperdey, Die Grundrechte, S. 235 (430); Berka, ÖZöRV 37 (1986), S. 71 (84). Siehe diese Nachweise bei Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 119; Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 178–179 Fn. 77. 1335 So aber knapp Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 76; Evers, EuGRZ 1984, S. 281 (287); Trechsel, EuGRZ 1980, S. 514 (519); wohl auch Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 147 Rn. 18. 1336 BVerfGE 49, 89 (126–127) m. w. N. zur Rechtsprechung des BVerfG. Siehe auch Klein, Stellung und Aufgaben des Bundestages, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 3, § 50 Rn. 23 Fn. 89, 90. 1337 Frowein, in: Frowein / Peukert, EMRK, Vorb. zu Art. 8–11, Rn. 2; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 18 Rn. 9; Kriebaum, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 1 ZP  Rn.  209 (2013); Marauhn / Merhof, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar 1332

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einschränkend davon ausgegangen, dass die parlamentarischen Delegationsnormen weniger bestimmt sein dürfen als nach der deutschen Wesentlichkeitstheorie notwendig.1338 Begründet wird diese Ansicht vor allem mit den Erfordernissen des Demokratieprinzips, insbesondere der demokratischen Legitimation.1339 Schilling entwickelt für die Rechtmäßigkeitsanforderung aus Art. 5 Abs. 1 EMRK1340 die Idee, dass Eingriffsgrundlagen, welche ohne aktive Beteiligung des Parlaments erlassen wurden, jedenfalls mittelbar der Verfügungsbefugnis des Parlamentes unterliegen müssen. Dies sei dann der Fall, wenn das Parlament diese rechtlich und tatsächlich wieder abändern oder aufheben kann, sodass bei dessen Untätigkeit jedenfalls von einer Duldung ausgegangen werden kann.1341 Schillings Ansatz schließt die Rechtsordnung des common law mit ein und passt sowohl auf exekutive als auch auf judikative Rechtsetzung, denn auch im common law kann parlamentarisches statute law das Richterrecht jederzeit ersetzen.1342 b) Stellungnahme: Keine Rückführbarkeit auf eine parlamentarische Beteiligung erforderlich Beide Ansätze unterstellen, dass der EMRK ein Demokratieverständnis zugrunde liegt, wonach primär der parlamentarische Gesetzgeber für die Regelung und Ausgestaltung von Grundrechtseingriffen zuständig ist und nur selbst diese EMRK / GG, Kap.  7 Rn.  28; Renzikowski, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 5 Rn. 80 (2016); Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 540 (1992); Sinner, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 7 Rn. 11; Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis, S. 64; Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 180–181; Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 127 jedenfalls für „substanzielle Rechtsetzungsbereiche“, ohne diesen Begriff zu spezifizieren; Malinverni, RUDH 1990, S. 401 (407); nur für kontinentaleuropäische Rechtsordnungen Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes, S. 146–148. 1338 Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 540 (1992); Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 134; Matscher, Der Gesetzesbegriff der EMRK, in: Adamovich, FS Loebenstein, S. 105 (112); Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes, S. 147 geht davon aus, dass die Frage, wie weit die formell-gesetzliche Delegationsnorm bestimmt sein muss, in der Rechtsprechung noch offen geblieben ist. 1339 Marauhn / Merhof, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  7 Rn. 28; Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 78, welche sich allerdings nicht auf das konventionsrechtliche Demokratieprinzip stützt, sondern theoretische Erwägungen anstellt; ­Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis, S. 64; Malinverni, RUDH 1990, S. 401 (407). 1340 Schilling geht jedoch ebenfalls von einem einheitlichen Gesetzesbegriff innerhalb der EMRK aus, Schilling, AVR 44 (2006), S. 57 (58–59), sodass seine Überlegungen auf den einheitlichen Gesetzesbegriff übertragbar sind. 1341 Schilling, AVR 44 (2006), S. 57 (63). 1342 Vgl. die demokratietheoretischen Ausführungen bei Schilling, AVR 44 (2006), S. 57 (60). Vgl. auch Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 92: Das Richterrecht hängt wegen der absoluten Parlamentssouveränität letztlich vom Willen der Volksvertretung ab.

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Kompetenz weitergeben darf. Die bisherige EGMR-Rechtsprechung stützt diesen Ansatz nicht.1343 Da vom Gerichtshof allerdings stets Einzelfälle entschieden werden, kann nicht ausgeschlossen werden, dass der EGMR sich schlicht noch nicht zu dieser Voraussetzung geäußert hat, weil sie nicht entscheidungsrelevant war. Dies ist gerade deswegen nicht unwahrscheinlich, weil über das Merkmal der Rechtmäßigkeit der rechtlichen Grundlage all diejenigen Fälle geprüft werden können, in denen das innerstaatliche Recht eine parlamentarische Beteiligung verlangt. Indem der EGMR auf das Rechtmäßigkeitserfordernis abstellt, umgeht er die Notwendigkeit, sich zu strukturellen Fragen äußern zu müssen, welche zu großen Umstrukturierungen in den Konventionsstaaten führen könnten. Ob der EMRK der Grundgedanke der Wesentlichkeitstheorie zugrunde liegt, kann im Wege der Auslegung ermittelt werden. Besondere Bedeutung haben hierbei die im Rahmen der systematischen Auslegung einbezogenen Wertungen der EMRK. Bei der Analyse ist zu beachten, dass der EGMR nicht nur exekutive, sondern auch judikative Rechtsakte als Gesetze eingeordnet. Während die grundgesetz­ liche Wesentlichkeitslehre das Verhältnis zwischen Legislative, die Grundrechtseingriffe abstrakt regelt, und Exekutive, die im konkreten Fall über eine Grundrechtseingriff entscheidet, betrifft, muss die Frage nach einer parlamentarischen Beteiligung an der Gesetzgebung im Rahmen der EMRK auch die rechtsetzende Rolle der Gerichtsbarkeit einbeziehen. Dies ist in erster Linie für die Einordnung des Richterrechts im common law relevant. (1) Wortlaut und Wille der Vertragsstaaten Sowohl der englische Begriff law als auch der französische Wortlaut loi können so weit verstanden werden, dass sie jede verbindliche Rechtsnorm erfassen.1344 Der Wortlaut enthält also keinen Anhaltspunkt für eine zwingende parlamentarische Beteiligung oder Verfügungsbefugnis. Betrachtet man den historischen Willen der Vertragsstaaten, so kann davon ausgegangen werden, dass die Vertragsstaaten nicht willens waren, ihre Staatsorganisation und die Grundlagen ihres Rechtssystems umzustrukturieren, um die 1343

Siehe das Zwischenfazit ab S. 263. Romain, Wörterbuch der Rechts- und Wirtschaftssprache, S. 415 (Stichwort „law“); Fleck / Güttler / Kettler, Wörterbuch Recht, Wirtschaft, Politik, S. 593 (Stichwort „loi“); Marauhn / Merhof, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  7 Rn.  25; Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes, S. 145–146; Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 77–78 sowie Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 122; Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 179; Hoffmann-Remy, Grundrechtseinschränkung nach den Art. 8–11 Abs. 2 EMRK, S. 37; Evers, EuGRZ 1984, S. 281 (287); Lupo / Piccirilli, Legisprudence 6 (2012), S. 229 (230) gehen hingegen davon aus, dass der französische Wortlaut ein parlamentarisches Tätigwerden impliziert, sodass die Begriffe „loi“ und „law“ sich in ihren Implikationen unterscheiden. 1344

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Konventionsrechte konventionskonform einschränken zu können.1345 Diese Gefahr bestünde aber, wenn der EGMR die parlamentarische Beteiligung bei der Gesetzgebung forderte, da nicht alle Konventionsstaaten den Wesentlichkeitsgedanken kennen1346 und die Kompetenzverteilung gerade zwischen Legislative und Exekutive in den Konventionsstaaten unterschiedlich ausgestaltet ist.1347 Daraus folgt, dass der Gesetzesbegriff so weit gefasst sein muss, dass die Konventionsstaaten ohne systemrelevante Umstrukturierung ihres Rechtssystems in der Lage sind, konventionskonforme Rechtsgrundlagen zu erlassen.1348 Die grammatikalische und die historische Auslegung deuten nicht auf eine konventionsimmanente Wesentlichkeitslehre hin. Möglicherweise lässt sich diese aber durch eine systematische Auslegung unter Einbeziehung der konventionsrecht­ lichen Grundwerte begründen. (2) Rechtsstaatsprinzip und Willkürverbot Der EGMR leitete die Anforderungen des materiellen Gesetzesbegriffs aus der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit ab. Durch eine zugängliche und in ihren Rechtsfolgen vorhersehbare Rechtsgrundlage soll ein willkürlicher Eingriff in die Konventionsrechte verhindert werden.1349 Ibing geht davon aus, dass eine Rechtsetzung der Exekutive „ohne eine präventive Kontrolle“ durch einen parlamentarischen Delegationsakt den Bürger in die Gefahr bringt, Opfer von „behördlicher 1345 EGMR Nr. 6538/74, The Sunday Times v Vereinigtes Königreich Nr. 1 (Pl.), 26.04.1979, § 47; Nr. 11801/85, Kruslin v Frankreich, 24.04.1990, § 29; Ibing, Einschränkung der europä­ ischen Grundrechte, S. 125–126, 155; Bernhardt, Internationaler Menschenrechtsschutz und nationaler Gestaltungsspielraum, in: Bernhardt u. a., FS Mosler, S. 75 (78); Schilling, AVR 44 (2006), S. 57 (60); Trechsel, EuGRZ 1980, S. 514 (519). 1346 Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 147 Rn. 18; Peters / Altwicker, EMRK, § 3 Rn. 8; Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 126. Siehe auch Classen, Nationales Verfassungsrecht in der EU, Rn. 564, der auf den Sonderfall des Vereinigten Königreichs hinweist. Marauhn / Merhof, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 7 Rn. 28 gehen (allerdings ohne Nachweise) davon aus, dass es einen verfassungsübergreifenden Konsens gibt, dass die „grundlegenden Bereiche der Grundrechtsausübung“ nicht unbegrenzt von der Exekutive geregelt werden dürfen. 1347 Vgl. in Abgrenzung zur deutschen Rechtsordnung nur beispielsweise das Konzept der französischen Verfassung, wonach die Regierung immer rechtsetzend tätig werden darf, wenn eine Kompetenz nicht explizit dem Parlament zugewiesen wurde, hierzu Marsch, Rechtsetzung, in: Marsch  /  Vilain  /  Wendel, Französisches und Deutsches Verfassungsrecht, § 5 Rn. 12, 16.  1348 Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 132–133 führt das Verordnungsrecht der französischen Regierung als Beispiel dafür an, dass nicht alle Konventionsstaaten ein Delegationserfordernis ähnlich Art. 80 GG für exekutive Rechtsetzungsbefugnisse kennen. Zum gleichen Beispiel auch Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 79–80, die allerdings davon ausgeht, dass auch in Frankreich alle Kompetenzen für Grundrechtseinschränkungen beim Parlament liegen. 1349 Siehe zum Rechtsstaatsprinzip im Rahmen des Gesetzesvorbehalts ab S. 264.

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Willkür“ zu werden und fordert daher für substanzielle Grundrechtseingriffe durch exekutive Gesetze einen parlamentarischen Delegationsakt.1350 Sein Verständnis des Willkürverbots als Kompetenzverteilungsregel zwischen der Legislative und der Exekutive findet in der Rechtsprechung jedoch genauso wenig Anknüpfungspunkte wie die allgemeine Forderung nach einer parlamentarischen Beteiligung an der oder Verfügungsbefugnis über die Rechtsetzung. Die vom EGMR angesprochene Einschränkung der exekutiven Gestaltungsbefugnis1351 betraf die Exekutive in ihrer rechtsanwendenden, nicht in ihrer rechtsetzenden Funktion: Der EGMR prüfte, ob die Eingriffsvoraussetzungen für die rechtsanwendende Gewalt hinreichend bestimmt waren und ausreichend Kontrollmöglichkeiten existierten.1352 Das exekutive Ermessen wird also nicht aus demokratischen, sondern aus rechtsstaatlichen Gründen eingeschränkt, weil nur dann eine wirksame Kontrolle der Rechtsanwendung erfolgen kann, wenn diese an einer ausreichend bestimmten Norm gemessen wird. Ibings Idee des Willkürschutzes bei der exekutiven Rechtsetzung erreicht die EMRK, auch ohne die Konventionsstaaten zu parlamentarischen Delegationsakten zu verpflichten. Diese Anforderungen der Bestimmtheit gelten für alle recht­ setzenden Organe, auch für die Exekutive. Je intensiver der Grundrechtseingriff, desto höher sind die Anforderungen an den Inhalt der Rechtsgrundlage und desto kleiner der Spielraum der rechtsanwendenden Gewalt.1353 Die inhaltliche Kontrolle der exekutiven Rechtsetzung erfolgt also nicht durch die delegierende Legislative, sondern durch die qualitativen Gesetzesmerkmale. Der Vorteil dieser Herangehensweise auf konventionsrechtlicher Ebene ist, dass die Vorgaben nicht nur für die exekutive, sondern für alle Formen der Rechtsetzung inklusive richterlicher Auslegung und Rechtsfortbildung gelten. Das Rechtsstaatsprinzip fordert somit keine parlamentarische Beteiligung an der konventionsrechtseinschränkenden oder -ausgestaltenden Gesetzgebung. (3) Demokratieprinzip Schließlich könnte das konventionsrechtliche Demokratieprinzip von den Konventionsstaaten eine (mittelbare) parlamentarische Beteiligung an der grundrechtsrelevanten Gesetzgebung verlangen.1354 Die ständige EGMR-Rechtsprechung be 1350

Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 127–128, 132–134. Siehe hierzu das wörtliche Zitat zu Fn. 1220. 1352 EGMR Nr. 10337/04, Lupsa v Rumänien, 08.06.2006, §§ 38–42; Nr. 37326/13, Unifaun Theatre Productions Limited u. a. v Malta, 15.05.2018, §§ 85–87. 1353 Siehe die Nachweise in Fn. 1225. 1354 Eine verfassungstheoretische Argumentation, wie bei Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 78–84 kann nicht klären, welche Anforderungen sich direkt aus der EMRK ergeben. Gleiches gilt für die verfassungstheoretische Ablehnung eines umfassenden formalen Gesetzesvorbehalts bei Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 122–124. 1351

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handelt den Gesetzesvorbehalt jedoch als Aspekt der rule of law und erwähnt das Demokratieprinzip regelmäßig nicht. Neben diesem tatsächlichen Argument ergibt jedoch auch die Auslegung des konventionsrechtlichen Demokratieprinzips keine Verpflichtung, die Parlamente an der grundrechtsrelevanten Gesetzgebung zu beteiligen. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung („in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“) werden Individual- und Allgemeininteressen abgewogen. Aussagen über eine Kompetenzverteilung zwischen verschiedenen Verfassungsorganen lassen sich hieraus genauso wenig entnehmen1355 wie aus der Gewährleistung eines offenen politischen Diskurses durch die Kommunikationsfreiheitsrechte der Meinungsund Versammlungsfreiheit gemäß Art. 10 und 11 EMRK.1356 Organisatorische Vorgaben für eine demokratische Ordnung macht allein das Wahlrecht aus Art. 3 ZP: Die Konventionsstaaten müssen eine gesetzgebende Körperschaft einrichten, zu deren Besetzung regelmäßig Wahlen abhalten und die Ausübung des Mandats der Abgeordneten schützen.1357 Innerhalb einer hoheitlichen Ebene muss das Parlament im Gesetzgebungsverfahren eine zentrale Rolle einnehmen. Dies ist in der Regel der Fall, wenn das Parlament den Gesetzesvorhaben zustimmen muss.1358 Die EMRK gibt allerdings nicht vor, welche sachlichen Kompetenzen die gesetzgebenden Körperschaften haben müssen. Das Wahlrecht aus Art. 3 ZP verlangt daher keine Beteiligung des Parlaments an der grundrechtseinschränkenden oder -ausgestaltenden Rechtsetzung.1359 Schilling leitet aus dem erstinstanzlichen Urteil in der Sache Refah Partisi v Türkei ab, dass das Volk und das Parlament als dessen Vertretung nicht auf seine Rechtsetzungsbefugnisse zugunsten der Regierung verzichten darf.1360 Der EGMR formulierte: „Democracy requires that the people should be given a role. Only institutions created by and for the people may be vested with the powers and authority of the State […]. There can be no democracy where the people of a State, even by a majority decision, waive their legislative and judicial powers in favour of an entity which is not responsible to the people it governs, whether it is secular or religious.“1361

Auch eine Regierung oder eine andere exekutive Stelle ist allerdings – möglicherweise mittelbar1362 – vom Volk demokratisch legitimiert und in der Regel gegen 1355

Siehe die Nachweise in Fn. 529. Siehe zum Demokratieprinzip bereits oben ab S. 134. 1357 Siehe zu den sich aus Art. 3 ZP ergebenden staatlichen Verpflichtungen ab S. 141. 1358 Siehe zu den Organkompetenzen der gesetzgebenden Körperschaft oben ab S. 187. 1359 A. A. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis, S. 64, der seine Deutung des Art. 3 ZP allerdings nicht mit Rechtsprechung belegt. 1360 Schilling, AVR 2006, S. 57 (61). 1361 EGMR Nr. 41340/98 u. a., Refah Partisi (The Welfare Party) u. a. v Türkei, 31.07.2001, § 43. 1362 Vgl. zum Legitimationsmodell Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 2, § 24 Rn. 16; Maurer, Staatsrecht I, § 7 Rn. 9; Gröpl, Staatsrecht I, Rn. 269. 1356

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über dem Parlament als Volksvertretung verantwortlich.1363 Außerdem wiederholte der EGMR dieses Zitat weder in der Folgeentscheidung der Großen Kammer noch in anderen Urteilen, sodass ihm nicht zu viel Gewicht beigemessen werden sollte. Schließlich ist die Kompetenzverteilung zwischen Legislative und Exekutive in den Konventionsstaaten nicht einheitlich ausgestaltet, sodass der EMRK diesbezüglich kein gemeineuropäischer Konsens zugrunde liegt.1364 Die Unterschiede zwischen den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen und dem common law1365 zeigen, dass auch kein einheitliches Verständnis des Richterrechts als Rechtsquelle vorliegt. Es liegt also auch kein verfassungsübergreifender Konsens über die Rolle der Parlamente bei der grundrechtsrelevanten Gesetzgebung vor, welcher in das konventionsrechtliche Demokratieprinzip hineingelesen werden könnte. c) Zwischenfazit Der konventionsrechtliche Gesetzesvorbehalt ist mit dem Rechtsstaatsprinzip, nicht aber mit dem Demokratieprinzip verknüpft. Die EMRK kennt keine Wesentlichkeitslehre zum Schutze der parlamentarischen Kompetenzen. Parlamente müssen also weder an der grundrechtseinschränkenden und -ausgestaltenden Gesetzgebung beteiligt sein, noch über diese verfügen können.1366 Die Verpflichtung des Art. 3 ZP, eine gesetzgebende Körperschaft einzurichten, welche formelle Gesetze erlassen kann, wirkt sich also nicht aus auf die Definition des Gesetzes als Rechtsgrundlage für grundrechtliche Ausgestaltungen und Eingriffe. Die EMRK weist die Aufgabe der Grundrechtsausgestaltung und -einschränkung also keinem bestimmten Organ oder den Organen einer Gewalt zu und macht keine Vorgaben für die innerstaatliche Organisation. Exekutive und judikative Rechtsetzungskompetenzen können sich sowohl aus dem einfachen Recht als auch aus der Verfassung ergeben. Die Voraussetzung einer rechtmäßigen Rechtsgrundlage stellt sicher, dass alle Organe nur im Rahmen der ihnen im innerstaatlichen Recht zugestandenen Kompetenzen tätig werden. Verlangt eine nationale Rechtsordnung wie die deutsche, dass grundrechtseinschränkende Gesetze jedenfalls auf eine parlamentarische Delegationsnorm zurückzuführen sind, ist dies über die Rechtmäßigkeit Bestandteil der konventionsrechtlichen Anforderungen. Ergibt

1363

Haller / Kölz / Gächter, Allgemeines Staatsrecht, Rn. 893; rechtsvergleichend Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 9 Rn. 115–152. 1364 Siehe in Fn. 1346 für Nachweise, dass nicht alle Konventionsstaaten einen mit der Wesentlichkeitslehre vergleichbaren Gedanken kennen. 1365 CCJE, CCJE(2017)04, Opinion No. 20: The Role of Courts with Respect to the Uniform Application of the Law, 10.11.2017, §§ 10–14. 1366 Vgl. Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 147 Rn. 18; Ehlers, Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 76.

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sich eine Rechtsetzungskompetenz jedoch direkt aus der Verfassung, widerspricht dies den Anforderungen der EMRK nicht.1367 5. Rechtsfolge: Pflicht zur rechtmäßigen und konventionskonformen Anwendung des Gesetzes Ein Gesetz im Sinne der EMRK muss von den nationalen Behörden rechtmäßig angewendet werden. Ansonsten liegt eine Verletzung des einschlägigen Konventionsrechts vor.1368 Durch das Legalitätsprinzip werden die innerstaatlichen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen zu Voraussetzungen konventionskonformer Eingriffe.1369 Gleichzeitig fällt die Prüfung nationalen Rechts nicht in die Kompetenz des EGMR. Der Gerichtshof verlässt sich grundsätzlich auf die Entscheidungen nationaler Gerichte.1370 Ausnahme sind offensichtlich willkürliche oder rechtswidrige Entscheidungen der nationalen Gerichte, über welche sich der EGMR hinwegsetzt.1371 Zwar macht die EMRK weder Vorgaben, welche hoheitlichen Stellen recht­ setzend tätig sein dürfen, noch dazu, wer im konkreten Fall über die Eingriffe in Konventionsrechte entscheiden darf. Das Rechtmäßigkeitserfordernis bedeutet aber, dass die EMRK immerhin die Bindung der rechtsanwendenden Gewalt an die Gesetze vorgibt.1372

1367 Vgl. Wyttenbach / Hofer, Swiss Review of International and European Law 27 (2017), S. 333 (342). 1368 EGMR Nr. 8734/79, Barthold v Deutschland, 25.03.1985, § 48; Nr. 28341/95, Rotaru v Rumänien (GK), 04.05.2000, § 53; Nr. 40907/98, Dougoz v Griechenland, 06.03.2001, § 54; Nr. 27651/05, Minasyan und Semerjyan v Armenien (Begr.), 23.06.2009, § 66; Nr. 71243/01, Vistiņš and Perepjolkins v Lettland (GK), 25.10.2012, § 81; Nr. 11364/03, Mooren v Deutschland (GK), 09.07.2019, §§ 72–73; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 242; Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 147 Rn. 22; Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 186. 1369 Das Legalitätsprinzip fordert auch, dass die Rechtsgrundlage selbst mit höherrangigem Recht vereinbar ist, siehe zu diesem Merkmal des Gesetzesbegriffs bereits ab S. 244. 1370 EGMR Nr. 8734/79, Barthold v Deutschland, 25.03.1985, § 48; Nr. 14307/88, Kokkinakis v Griechenland, 25.05.1993, § 40; Nr. 28341/95, Rotaru v Rumänien (GK), 04.05.2000, § 53; Nr. 44774/98, Leyla Şahin v Türkei (GK), 10.11.2005, § 87; Nr. 11082/06 und 13772/05, Khodorkovskiy und Lebedev v Russland, 25.07.2013, § 881; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 242; Wildhaber / Breitenmoser, in: Pabel  /  Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 8 Rn. 553 (1992); Wyttenbach / Hofer, Swiss Review of International and European Law 27 (2017), S. 333 (357–358). 1371 EGMR Nr. 33202/96, Beyeler v Italien (GK), 05.01.2000, § 108; Nr. 41209/98, Dimitrios Georgiadis v Griechenland, 28.03.2000, § 32; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 242; Gundel, Beschränkungsmöglichkeiten, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 147 Rn. 22; Wyttenbach / Hofer, Swiss Review of International and European Law 27 (2017), S. 333 (358). 1372 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 243–245.

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6. Zwischenfazit Die hoheitliche Tätigkeit der Gesetzgebung zum Zwecke der Grundrechtsaus­ gestaltung oder des Grundrechtseingriffs versteht der EGMR materiell. Entscheidend sind die Struktur des Rechtsakts und die qualitativen Merkmale der Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit. Der EGMR versteht unter dem „Gesetz“, welches ein Konventionsrecht einschränkt, nicht einen einzelnen Rechtsakt, sondern die Gesamtheit der geschriebenen und ungeschriebenen Normen, welche den jeweiligen Sachverhalt regeln, inklusive der Rechtsprechung, welche die Normen auslegt. Dadurch werden auch die Gerichte, denen der EGMR primär die Aufgabe der Auslegung zuspricht, zu Rechtsetzungsorganen. Diese Gesamtheit der Rechtsakte muss die qualitativen Anforderungen der Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit erfüllen, die je nach Kontext, Schwere des Grundrechtseingriffs, Adressat und Rechtsetzungsorgan variieren. Die Rechtsprechungslage ist diesbezüglich stark kasuistisch geprägt. Bei den normstrukturellen Merkmalen ist vor allem die Rechtmäßigkeit von besonderer Bedeutung. Dadurch stellt die EMRK sicher, dass Eingriffs- und Ausgestaltungsgesetze stets auch den Anforderungen des nationalen Rechts entsprechen müssen. Das Rechtsetzungsverfahren und das Rechtsetzungsorgan hingegen sind für die Einordnung eines Rechtsakts als Gesetz unerheblich. Insbesondere kann aus der EMRK kein mit der Wesentlichkeitslehre vergleichbarer Gedanke abgeleitet werden, da das konventionsrechtliche Demokratieprinzip den Parlamenten keine sachlichen Kompetenzen zuweist. Der materielle Gesetzesbegriff erlaubt, dass auch exekutive Organe und Gerichte rechtsetzend tätig werden. Durch die qualitativen Gesetzesmerkmale etabliert der EGMR einen autonomen Gesetzesbegriff, den alle Staaten unabhängig von ihren Rechtssystemen umsetzen können, weil er gerade nicht an organisatorische Fragen anknüpft. Die Konventionsstaaten laufen keine Gefahr, ihre Rechtsetzungsprozesse anpassen zu müssen. Vielmehr knüpft insbesondere die Vorhersehbarkeit am Inhalt der Regelung an. Aus dem Gesetzesbegriff ergeben sich keine unmittelbaren Anforderungen an die Staatsorganisation. Gleichwohl wird das Verhältnis zwischen rechtsetzender und rechtsanwendender Gewalt ausgestaltet, unabhängig davon, welche Organe die jeweiligen Aufgaben übernehmen. Die rechtsanwendende Gewalt ist an die Gesetze gebunden. Wie viel Spielraum die rechtsetzende Gewalt der Rechtsanwendung lassen darf, ist davon abhängig, wie groß die Notwendigkeit ist, die Grundrechtsträger vor willkürlichen Anwendungsentscheidungen zu schützen. Eine wichtige Rolle spielt auch die kontrollierende Gewalt, die der EGMR im Rahmen der Vorhersehbarkeit zwar gerne den Gerichten zugesteht, allerdings nicht zwingend. Auch andere unabhängige Organe können präventiv oder nachträglich kontrollierend tätig werden. Erst die Kontrollmöglichkeit stellt sicher, dass die rechtsanwendende Gewalt die Voraussetzungen der Rechtsgrundlage auch tatsächlich beachtet. Je bestimmter die Tatbestandsmerkmale sind, desto wirksamer ist die Kontrolle.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

III. Merkmale des Organisationsvorbehalts gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK Die Bestandsaufnahme der Rechtsprechung zu den verschiedenen Gesetzesbegriffen zeigte, dass der organisatorische Gesetzesvorbehalt1373 des Art. 6 Abs. 1 EMRK einer gesonderten Betrachtung bedarf.1374 Art. 6 Abs. 1 EMRK verlangt von den Konventionsstaaten, dass Gerichte im Sinne der Norm durch Gesetz eingerichtet werden.1375 Im Vergleich zur gerichtlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit stand der Gesetzesvorbehalt in Rechtsprechung und Schrifttum lange im Hintergrund. Da die rechtswidrige Anwendung eines Gesetzes nicht selten dazu führt, dass ein Gericht nicht unabhängig oder unparteilich ist, gestaltet sich die Abgrenzung zwischen den verschiedenen Merkmalen des Gesetzesbegriffs gelegentlich schwierig. Spätestens seit dem Urteil Coëme v Belgien1376 hat der Organisationsvorbehalt aus Art. 6 Abs. 1 EMRK aber eine eigenständige Bedeutung erlangt.1377 Für die Gewaltenteilung in den Konventionsstaaten ist die Auslegung des Gesetzesbegriffs des Art. 6 Abs. 1 EMRK gerade in Abgrenzung zu dem ansonsten einheitlichen materiellen Gesetzesbegriff relevant. Der EGMR definiert eine zweite Form der hoheitlichen Tätigkeit der Gesetzgebung. Darüber hinaus impliziert bereits der Wortlaut der Norm (auf Gesetz beruhendes Gericht / tribunal established by law / tribunal […] établi par la loi), dass das Verhältnis zwischen Legislative und Judikative betroffen ist. 1. Parlamentarischer Organisationsvorbehalt Seit dem Coëme-Urteil verlangt der EGMR in gesicherter Rechtsprechung ein formelles Gesetz zur Einrichtung eines Gerichts:1378

1373

Mit dieser Terminologie Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 773; Matscher, Der Gesetzesbegriff der EMRK, in: Adamovich, FS Loebenstein, S. 105 (106). 1374 Siehe ab S. 225. 1375 Der geschriebene Gesetzesvorbehalt zur Einrichtung eines Gerichts ist zu unterscheiden von der impliziten Beschränkbarkeit des Rechts auf Zugang zum Gericht, für welche nach der hier vertretenen Ansicht die Anforderungen des materiellen Gesetzesbegriffs anwendbar sind. Siehe zu den implied limitations als Ausprägung des materiellen Gesetzesbegriffs ab S. 228. 1376 EGMR Nr. 32492/96 u. a., Coëme u. a. v Belgien, 22.06.2000, §§ 98–103. 1377 Kurz zuvor hatte der EGMR schon in einer wenig beachteten Zulässigkeitsentscheidung festgestellt, dass sich der Gesetzesvorbehalt auch auf die Zusammensetzung des Gerichts bezieht, EGMR Nr. 31657/96, Buscarini v San Marino (Zul.), 04.05.2000. 1378 Auch Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 50; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn.  44; Esser, in: LöweRosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 137; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 6 Rn. 76; Peters /  Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 22; Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 50–51; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 35; Milano, Le droit à un tribunal,

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„[T]he object of the term ‚established by law‘ in Article 6 of the Convention is to ensure ‚that the judicial organisation in a democratic society [does] not depend on the discretion of the Executive, but that it [is] regulated by law emanating from Parliament‘ […]. Nor, in countries where the law is codified, can organisation of the judicial system be left to the discretion of the judicial authorities, although this does not mean that the courts do not have some latitude to interpret the relevant national legislation.“1379

Anders als bei dem materiellen Gesetzesvorbehalt muss die Einrichtung des Gerichts auf eine parlamentarische Entscheidung zurückzuführen sein. Die Gestaltungsbefugnis der anderen Gewalten wird begrenzt. Der Gerichtshof verknüpft das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage mit dem der Konvention inhärenten Prinzip der Rechtsstaatlichkeit: „This expression [‚established by law‘] reflects the principle of the rule of law, which is inherent in the system of protection established by the Convention and its Protocols […].“1380

Vor allem in jüngeren Urteilen stellt der EGMR außerdem einen Bezug zur demokratischen Legitimation her: „[A] tribunal that is not established in conformity with the intentions of the legislature will necessarily lack the legitimacy required in a democratic society to resolve legal disputes […].“1381

Nur der Legislative schreibt der EGMR die erforderliche Legitimität zu, Gerichte einzurichten, welche streitentscheidend tätig werden.1382

Rn. 103; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 186; Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 105; Steiner, The Rule of Law in the Jurisprudence of the ECtHR, in: Schroeder, Strengthening the Rule of Law in Europe, S. 135 (150); Wojtyczek, ERPL 32 (2020), S. 185 (201) gehen von einem formellen Parlamentsvorbehalt aus. 1379 EGMR Nr. 32492/96 u. a., Coëme u. a. v Belgien, 22.06.2000, § 98; ebenso EGMR Nr. 29458/04 und 29465/04, Sokurenko and Strygun v Ukraine, 20.07.2006, § 23; Nr. 17214/05, 42113/04 und 20329/05, Savino u. a. v Italien, 28.04.2009, § 94; Nr. 4313/04, Gorguiladzé v Georgien, 20.10.2009, § 69.; Nr. 30323/02, Pandjikidzé u. a. v Georgien, 27.10.2009, § 105; Nr. 19334/03, DMD Group, a. S. v Slowakei, 05.10.2010, § 60; Nr. 8014/07, Fruni v Slowakei, 21.06.2011, § 134; Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 150; Nr. 57774/13, Miracle Europe KFT v Ungarn, 12.01.2016, § 51. 1380 EGMR Nr. 19334/03, DMD Group, a. S.  v Slowakei, 05.10.2010, § 58. Wort- oder inhaltsgleich EGMR Nr. 58442/00, Lavents v Lettland, 28.11.2002, § 114; Nr. 74613/01, Jorgic v Deutschland, 12.07.2007, § 64; Nr. 17214/05, 42113/04 und 20329/05, Savino u. a. v Italien, 28.04.2009, § 94; Nr. 4313/04, Gorguiladzé v Georgien, 20.10.2009, § 67; Nr. 30323/02, Pandjikidzé u. a. v Georgien, 27.10.2009, § 103; Nr. 8162/13, Biagioli v San Marino (Zul.), 08.07.2014, § 71. 1381 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, § 211; inhaltsgleich EGMR Nr. 58442/00, Lavents v Lettland, 28.11.2002, § 114; Nr. 4313/04, Gorguiladzé v Georgien, 20.10.2009, § 67; Nr. 30323/02, Pandjikidzé u. a. v Georgien, 27.10.2009, § 103; Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, § 138; Nr. 30226/10 u. a., Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, § 194. 1382 Vgl. auch Wojtyczek, ERPL 32 (2020), S. 185 (201), der den Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 ZP liest.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

In Coëme v Belgien lag kein parlamentarisches Gesetz vor, welches auf das Gerichtsverfahren gegen den Beschwerdeführer vor dem Kassationsgericht anwendbar war, obwohl eine Verfassungsnorm eine gesetzliche Ausgestaltung verlangte. Der Beschwerdeführer konnte zwar davon ausgehen, dass das allgemeine Strafprozessrecht anwendbar sein würde. Da aber nicht eindeutig war, welche Vorschriften das Kassationsgericht tatsächlich anwenden würde und ob es einige Normen abwandeln würde, um sie an den veränderten Kontext anzupassen, bestand eine zu große Rechtsunsicherheit, sodass kein faires Verfahren im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK durchgeführt wurde.1383 Ausgehend von der Coëme-Rechtsprechung hat der EGMR inzwischen präzisiert, welche Regelungsgegenstände vom parlamentarischen Organisationsvorbehalt umfasst sind: „‚Law‘, within the meaning of Article 6 § 1 of the Convention, comprises not only legislation providing for the establishment and competence of judicial organs […], but also any other provision of domestic law which, if breached, would render the participation of one or more judges in the examination of a case irregular […]. This includes, in particular, provisions concerning the independence of the members of a tribunal, the length of their term of office, impartiality and the existence of procedural safeguards […]. In other words, the phrase ‚established by law‘ covers not only the legal basis for the very existence of a ‚tribunal‘ but also compliance by the tribunal with the particular rules that govern it […] and the composition of the bench in each case […].“1384

Die vom EGMR entschiedenen Einzelfälle zeigen, welche Regelungsgegenstände vom Organisationsvorbehalt des Art. 6 Abs. 1 EMRK umfasst sind:1385 Im Fall Lavents v Lettland wurden die Vorschriften zur Besetzung eines Gerichts, welches nach der Aufhebung eines von ihm gesprochenen Urteils durch eine höhere Instanz in gleicher Sache noch einmal entscheiden musste, rechtswidrig angewendet. Daher war Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt.1386 In Gurov v Moldawien gab es keine rechtliche Grundlage dafür, dass ein Richter, nachdem seine Amtszeit beendet war, weiterhin für einen unbegrenzten Zeitraum seine hoheitlichen Funktionen ausüben durfte.1387 In den Sachen Gorguiladzé v Georgien und Pandjikidzé v Georgien forderte der EGMR eine rechtliche Grundlage für die Beteiligung von 1383 EGMR Nr. Nr. 32492/96 u. a., Coëme u. a. v Belgien, 22.06.2000, §§ 100–103. Siehe zu diesem Urteil näher Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 121–122, 128, 130; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 187. 1384 EGMR Nr. 19334/03, DMD Group, a. S. v Slowakei, 05.10.2010, § 59. Siehe grundlegend auch schon EKMR Nr. 7360/76, Zand v Österreich (Rep.), 12.10.1978, DR 15, S. 70, § 68. Ähnlich EGMR Nr. 58442/00, Lavents v Lettland, 28.11.2002, § 114; Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, §§ 212–213. 1385 Siehe außerdem die Übersicht zu bisherigen Fällen in Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, § 217. 1386 EGMR Nr. 58442/00, Lavents v Lettland, 28.11.2002, §§ 115–116. 1387 EGMR Nr. 36455/02, Gurov v Moldawien, 11.07.2006, § 37.

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Laienrichtern an Strafverfahren.1388 In Kontalexis v Griechenland lag eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor, weil der Austausch des zuständigen Richters durch einen Ersatzrichter nicht unter einen der gesetzlichen Tatbestände für eine solche Auswechselung subsumiert werden konnte.1389 In der Sache Richert v Polen prüfte der EGMR die individuelle und zeitlich begrenzte Zuweisung eines Richters zu einem anderen Gericht zwecks Entscheidung eines konkreten Falls.1390 In Volkov v Ukraine hatte ein (ehemaliger) Gerichtspräsident eine Kammer zur Entscheidung von richterlichen Disziplinarverfahren eingesetzt und deren Besetzung bestimmt, obwohl seine Amtszeit bereits beendet war. Weil das alte Gesetz, welches die Ernennung eines neuen Präsidenten regelte, vom nationalen Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden war, gab es keine rechtliche Grundlage, um das Amt des Gerichtspräsidenten neu zu besetzen.1391 Es fehlte also nicht an dem Gesetz, welches die Besetzung des Gerichts bestimmte, sondern welches die Ernennung des Organs regelte, das über die gerichtliche Besetzung entschied. In der Sache Miracle Europe v Ungarn war die Neuzuweisung eines Falls an ein anderes Gericht gleicher Instanz nicht ausreichend gesetzlich geregelt, weil dem zuständigen Präsidenten des National Judicial Office für diese Entscheidung mangels gesetzlicher Gründe oder Kriterien für eine Neuzuweisung zu viel Ermessen zustand.1392 In Guðmundur Andri Ástráðsson v Island war die Ernennung eines Berufsrichters in ein Berufungsgericht rechtswidrig, weil die am Ernennungsverfahren beteiligten Organe die gesetzlichen Verfahrensregeln nicht einhielten.1393 Damit gehören die Einrichtung und Organisation der Gerichte, das Ernennungsverfahren der Richter inklusive der Legitimation der Ernennungsorgane, die Zuständigkeit der Gerichte, die Zusammensetzung der einzelnen Kammern beziehungsweise die Besetzung im konkreten Fall, der Status der Richter sowie das anwendbare gerichtliche Verfahrensrecht zu den grundlegend vom Parlament 1388 EGMR Nr. 4313/04, Gorguiladzé v Georgien, 20.10.2009, §§ 72–75; Nr. 30323/02, Pandji­kidzé u. a. v Georgien, 27.10.2009, §§ 103–111 (die Ausübung hoheitlicher Gewalt durch Laienrichter war zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht im internen Recht vorgesehen). Siehe außerdem EGMR Nr. 63486/00, Posokhov v Russland, 04.03.2003, §§ 40–44, wo zwar ein Gesetz zur Ernennung und Auswahl von Laienrichtern vorlag, die Beteiligung der Laienrichter im konkreten Fall allerdings rechtswidrig war; ähnlich EGMR Nr. 73225/01, Fedotova v Russland, 13.04.2006, §§ 39–44; Laptew, Recht auf ein faires Gerichtsverfahren, S. 147; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 37. 1389 EGMR Nr. 59000/08, Kontalexis v Griechenland, 31.05.2011, §§ 42–44. 1390 EGMR Nr. 54809/07, Richert v Polen, 25.10.2011, §§ 45–57. Siehe ebenfalls zu einer zeitlich begrenzten Zuweisung eines Richters zu einem anderen Gericht mit dessen Einverständnis EGMR Nr. 31264/04, Wieczorek v Polen (Zul.), 18.05.2010 (in diesem Fall war die Beschwerde offensichtlich unbegründet). 1391 EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, §§ 152–156. 1392 EGMR Nr. 57774/13, Miracle Europe KFT v Ungarn, 12.01.2016, §§ 7, 61, 63. 1393 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island, 12.03.2019, §§ 104–123. Siehe außerdem EGMR Nr. 40984/07, Fatullayev v Aserbaidschan, 22.04.2010, § 145 für einen Fall, in welchem die Ernennung von Richtern und die Regelungen über ihre Amtszeit unter den Organisationsvorbehalt fallen. In diesem Fall war die Beschwerde allerdings offensichtlich unbegründet.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

zu regelnden Materien.1394 Der EGMR bezieht den parlamentarischen Gesetzesvorbehalt somit auf die Gerichtsorganisation und das Gerichtsverfahren und legt den Wortlaut der Norm, welcher allein von der „Einrichtung des Gerichts“ spricht, weit aus. Insgesamt gibt es drei Fallgestaltungen, in welchen ein Gericht nach der EGMR-Rechtsprechung nicht durch Gesetz eingerichtet ist: Entweder liegt gar keine rechtliche Grundlage vor,1395 die Grundlage überlässt den anwendenden Organen zu viel Ermessensspielraum1396 oder die rechtliche Grundlage wird nicht korrekt angewendet1397. Isolierte Verfassungsnormen sind grundsätzlich keine ausreichende gesetzliche Grundlage im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK. In den frühen Entscheidungen Le Compte, van Leuven und de Meyere v Belgien und Piersack v Belgien reichte dem EGMR als gesetzliche Grundlage noch eine Verfassungsnorm, welche die Einrichtung des Kassationsgerichtshofs anordnete.1398 In Sokurenko und Strygun v Ukraine entschied der EGMR jedoch, dass allein die Nennung der Gerichte in der Verfassung nicht als rechtliche Grundlage ausreicht.1399 In einer Verfassung als Grundordnung finden sich üblicherweise keine konkretisierten Regeln über Zuständigkeiten und Besetzung des Gerichts, Ernennung der Richter oder das gerichtliche Verfahren. Während also ein Parlamentsgesetz als gesetzliche Grundlage im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK dienen kann,1400 ist eine Verfassung nach ihrer Struktur und ihrer Regelungsdichte hierfür nicht geeignet.1401 1394

Siehe zusammenfassend auch Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 35–37; Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 51–52; Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 50–52; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  6 Rn.  71; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / ​Grote / ​ Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 44; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 134–135; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 78–79; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 216; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 184–187; Peters / Altwicker, EMRK, S. 145–146; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 238. 1395 EGMR Nr. 36455/02, Gurov v Moldawien, 11.07.2006, § 37; Nr. 4313/04, Gorguiladzé v Georgien, 20.10.2009, §§ 72–75; Nr. 30323/02, Pandjikidzé u. a. v Georgien, 27.10.2009, §§ 103–111; Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, §§ 152–156. 1396 EGMR Nr. 57774/13, Miracle Europe KFT v Ungarn, 12.01.2016, §§ 61, 63. 1397 Siehe dazu sogleich ab S. 312. 1398 EGMR Nr. 6878/75 und 7238/75, Le Compte, Van Leuven und De Meyere v Belgien (Pl.), 23.06.1981, § 56: „Since it was set up under the Constitution (Article 95), the Court of Cassation is patently established by law.“; gleiches Vorgehen bei EGMR Nr. 8692/79, Piersack v Belgien, 01.10.1982, § 33; weitere (ebenfalls ältere) Entscheidungen bei Müßig, Recht und Justizhoheit, S. 400 Fn. 51; siehe außerdem Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 44. 1399 EGMR Nr. 29458/04 und 29465/04, Sokurenko and Strygun v Ukraine, 20.07.2006, § 26; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 35. 1400 Siehe als ein Beispiel EGMR Nr. 8014/07, Fruni v Slowakische Republik, 21.06.2011, §§ 135–136. 1401 Die Verfassung neben dem Parlamentsgesetz als taugliche Rechtsgrundlage aber bei Kühne, in: Pabel / Schmahl (Hrsg), Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 294 (2009); Graben­ warter / Pabel, EMRK, 6. Aufl., § 24 Rn. 33, in der 7. Aufl. wurde diese Ansicht wohl aufge-

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2. Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen Die gesetzliche Grundlage muss auf das Parlament zurückzuführen sein (emanating from Parliament).1402 Diese Formulierung schließt eine Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen an die Exekutive nicht aus. Voraussetzung für eine konventionskonforme delegierte Rechtsetzung ist, dass der Delegationsakt die exekutive Rechtsetzung erlaubt und gleichzeitig ihre Grenzen festsetzt, sodass das exekutive Ermessen begrenzt wird.1403 Darüber hinaus muss die Delegation mit dem innerstaatlichen Recht vereinbar sein.1404 Konkret relevant wurden delegierte Rechtsakte als gesetzliche Grundlage im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK bislang in zwei Fällen: in der EKMR-Entscheidung Zand v Österreich und im Urteil Savino v Italien. In der Sache Zand v Österreich erlaubte das österreichische Arbeitsgerichtsgesetz dem Justizminister nach Bedarf neue Arbeitsgerichte einzurichten.1405 Die EKMR entschied, dass delegierte Rechtsetzung zur Ausgestaltung der Gerichtsorganisation nicht per se konventionswidrig ist.1406 Dem folgte der EGMR in Lindner v Deutschland. „[T]he judicial organisation in a democratic society must not depend on the discretion of the Executive, but that it should be regulated by law emanating from Parliament. However, Article 6 § 1 does not require the legislature to regulate every detail in this area by a formal Act of Parliament if the legislature establishes at least the organisational framework for the judicial organisation […].“1407

Da der Beschwerdeführer nicht geltend machte, dass die Zuweisung gegen die geltenden Gesetze verstieß, ging der EGMR auf seinen Vortrag nicht näher ein. Der EKMR in Zand v Österreich reichte die Bestimmtheit der Delegationsnorm aus, obwohl das Ermessen des Justizministers, den Bedarf an neuen Arbeitsgerichten einzuschätzen, weitreichend war.1408

geben, vgl. Grabenwarter / Pabel, EMRK, 7. Aufl., § 24 Rn. 31–33. Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 35 verlangt hingegen, dass die Verfassung „hinreichend konkret“ ausgestaltet ist. 1402 Siehe das wörtliche Zitat zu Fn. 1379. 1403 Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 76; Villiger, Handbuch EMRK, Rn. 494; Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 51; Lupo / Piccirilli, Legisprudence 6 (2012), S. 229 (233). Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 35 spricht von einem „organisatorischen Rahmen“. Vgl. auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 239: Fehlen parlamentarische Regelungen vollständig, liegt ein Verstoß gegen die EMRK vor. 1404 EGMR Nr. 17214/05, 42113/04 und 20329/05, Savino u. a. v Italien, 28.04.2009, § 94; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 239. 1405 EKMR Nr. 7360/76, Zand v Österreich (Rep.), 12.10.1978, DR 15, S. 70, § 15. Siehe zu diesem Urteil im Kontext einer Delegation auf nicht-parlamentarische Organe auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 239; Lupo / Piccirilli, Legisprudence 6 (2012), S. 229 (233). 1406 EKMR Nr. 7360/76, Zand v Österreich (Rep.), 12.10.1978, § 69. 1407 EGMR Nr. 32813/96, Lindner v Deutschland (Zul.), 09.03.1999 mit Verweis auf die inhaltsgleiche Passage in EKMR Nr. 7360/76, Zand v Österreich (Rep.), 12.10.1978, § 69. 1408 EKMR Nr. 7360/76, Zand v Österreich (Rep.), 12.10.1978, §§ 70–71.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Der EGMR hat, soweit ersichtlich, bislang einzig in Savino v Italien geprüft, ob die Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen konventionskonform war. Das italienische Parlament delegierte Rechtsetzungsbefugnisse an das Ufficio di presidenza, einen parlamentarischen Ausschuss, welcher aus dem Parlamentspräsidenten sowie weiteren fünfzehn Abgeordneten bestand. Gestützt auf den Zand-Report entschied der Gerichtshof: „[L]a délégation de pouvoirs dans des questions touchant à l’organisation judiciaire est acceptable dans la mesure où cette possibilité s’inscrit dans le cadre du droit interne de l’Etat en question, y compris les dispositions pertinentes de la Constitution […].“1409

Der EGMR verließ sich auf die Beurteilung der nationalen Gerichte, die die Delegation als Ausdruck der dem Parlament durch die Verfassung übertragenen normativen Autonomie einstuften.1410 Die Delegation und der delegierte Rechtsatz müssen also der innerstaatlichen Rechtsordnung entsprechen. Hiermit legt der EGMR das konventionseinheitliche Rechtmäßigkeitsprinzip zugrunde.1411 Darüber hinaus prüfte der EGMR, wie beim materiellen Gesetzesbegriff, die Merkmale der Zugänglichkeit und der Vorhersehbarkeit des vom Ausschuss erlassenen delegierten Rechtsakts.1412 Diese qualitativen Merkmale prüft der EGMR in Urteilen, in denen allein eine formell-gesetzliche Grundlage vorliegt, nicht. Dies spricht dafür, dass im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK die qualitativen Anforderungen nur für die delegierten Rechtsakte gelten, nicht aber für Parlamentsgesetze zur Einrichtung eines Gerichts.1413 Ob diese Schlussfolgerung verallgemeinerbar ist oder ob Savino v Italien eine nicht wiederholte Einzelfallentscheidung bleibt, muss die fortschreitende EGMR-Rechtsprechung zeigen. Legt man jedoch das Savino-Urteil – vorbehaltlich seiner Bestätigung durch die zukünftige Rechtsprechung – zugrunde, dann unterliegt die delegierte Rechtsetzung zur Ausgestaltung des Gerichtssystems keinen inhaltlichen Vorgaben. Sie muss sich lediglich im Rahmen der Delegation halten und auch darüber hinaus nach innerstaatlichen Maßstäben rechtmäßig sein. Darüber hinaus scheint der EGMR keine strengen Maßstäbe an die Begrenzung des exekutiven Ermessens anzulegen, da die Ermächtigung des Justizministers, „nach Bedarf“ neue Arbeitsgerichte einzurichten, ausreichend war. Wie auch in Urteilen zum materiellen Gesetzesvor-

1409

EGMR Nr. 17214/05, 42113/04 und 20329/05, Savino u. a. v Italien, 28.04.2009, § 94. EGMR Nr. 17214/05, 42113/04 und 20329/05, Savino u. a. v Italien, 28.04.2009, § 96. 1411 Siehe hierzu schon im Rahmen des materiellen Gesetzesbegriffs S. 244 und S. 302 sowie im Rahmen des Organisationsvorbehalts S. 312. 1412 EGMR Nr. 17214/05 u. a., Savino u. a. v Italien, 28.04.2009, § 98. 1413 Auch Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 51 geht davon aus, dass die qualitativen Merkmale im Falle einer delegierten Rechtsetzung anwendbar sind, allerdings war das Savino-Urteil zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch nicht ergangen. Müller, Richter­ liche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 35–36 möchte die qualitativen Merkmale auf alle Gesetze im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht nur auf die delegierten Rechtsakte, anwenden. Beide problematisieren diese Frage allerdings nicht. 1410

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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behalt gesteht der EGMR den nationalen Rechtmäßigkeitsanforderungen somit viel Raum zu und gibt den Staaten kein einheitliches Rechtsetzungssystem vor. Die EMRK verlangt lediglich, dass eine parlamentarische delegierende Grundlage vorliegt. 3. Zulässige gerichtliche Rechtsfortbildung Die parlamentarischen Gesetze zur Organisation der Gerichtsbarkeit müssen nicht nur den Spielraum der Exekutive, sondern in Rechtsordnungen mit kodifiziertem Recht auch den Spielraum der Judikative begrenzen.1414 Die Judikative darf sich nicht ihre eigenen Regeln setzen oder die parlamentarische Rechtslage unzulässig weit fortbilden. Rechtsordnungen des common law sind von dieser Anforderung ausgeschlossen.1415 Es gibt allerdings bislang, soweit ersichtlich, keine Urteile, in welchem der EGMR Richterrecht des common law als Gesetz des Art. 6 Abs. 1 EMRK prüfen musste. Somit ist zu diesem Zeitpunkt noch ungeklärt, ob beziehungsweise unter welchen Voraussetzungen der EGMR common law als Rechtsgrundlage zur Einrichtung eines Gerichts tatsächlich akzeptieren würde. Durch seine differenzierende Rechtsprechung hat sich der EGMR lediglich vorbehalten, im Falle einer common law-Rechtsordnung eine abweichende Einschätzung zu treffen. In Sokurenko und Strygun v Ukraine lehnte der EGMR eine richterliche Rechtsfortbildung als Rechtsgrundlage im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK jedoch auch in einer kontinentaleuropäischen Rechtsordnung nicht prinzipiell ab. Das oberste ukrainische Gericht hatte die Verfahrensentscheidung getroffen, ein von ihm überprüftes Urteil aufrechtzuerhalten, statt wie gesetzlich vorgesehen zu annullieren oder an eine untere Instanz zurückzuverweisen.1416 „The Court reiterates that in some situations it accepted that the highest judicial body, which is competent to interpret the law, could take a decision, which was not strictly provided by the law. Such application of law, however, had had an exceptional character and the court in question had given clear and plausible reasons for the exceptional departure from its usual competence […].“1417

Im konkreten Fall lagen die vom EGMR geforderten plausiblen Gründe jedoch nicht vor, sodass das Recht aus Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt war.1418

1414

Siehe das wörtliche Zitat zu Fn. 1379. Vgl. Ibing, Einschränkung der europäischen Grundrechte, S. 130; Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes, S. 146–147. 1416 EGMR Nr. 29458/04 und 29465/04, Sokurenko und Strygun v Ukraine, 20.07.2006, § 26. 1417 EGMR Nr. 29458/04 und 29465/04, Sokurenko und Strygun v Ukraine, 20.07.2006, § 27. 1418 EGMR Nr. 29458/04 und 29465/04, Sokurenko und Strygun v Ukraine, 20.07.2006, §§ 27, 28. 1415

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Mit Blick auf die Gewaltenteilung zeigt das Urteil, dass judikative Rechtsetzung in Ausnahmefällen die durch parlamentarische Gesetze bestimmte Rechtslage ergänzen kann. Überschreitet ein Gericht die Grenzen der eigentlich anwendbaren abstrakt-generellen Norm, braucht es hierfür aber einen guten Grund, welchen es auch darlegen muss. Eine solche Ausnahme kann zum Beispiel in einer planwidrigen Regelungslücke für einen Fall liegen, der nach Sinn und Zweck der nach dem Wortlaut nicht anwendbaren Vorschrift von der abstrakt-generellen Norm umfasst sein sollte. Andererseits steht diese ausnahmsweise Rechtsfortbildungskompetenz nur den obersten Gerichten zu, sodass alle anderen Gerichte strikt an die Gesetze gebunden sind. Aus Perspektive der Gewaltenteilung haben somit die unterinstanzlichen Gerichte allein die Aufgabe der Rechtsauslegung und -anwendung, während die obersten Gerichte unter besonderen Umständen rechtsfortbildend tätig werden dürfen. Der Organisationsvorbehalt des Art. 6 Abs. 1 EMRK enthält einen eindeutigen Vorrang der legislativen vor der judikativen Gesetzgebung. Die Zulässigkeit judikativer Rechtsfortbildung im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK bestimmt sich also nicht allein nach der nationalen Rechtsordnung. 4. Rechtmäßige Anwendung der gesetzlichen Grundlagen a) Anwendung des allgemeinen Rechtmäßigkeitsprinzips Die organisatorischen Gesetze im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK müssen schließlich von den Gerichten genauso wie von allen anderen Staatsorganen1419 eingehalten werden. Für die alltägliche gerichtliche Tätigkeit bedeutet dies insbesondere, dass die Gerichte die gesetzlichen Verfahrensregelungen anwenden müssen und nicht außerhalb ihrer Zuständigkeiten handeln dürfen.1420 Bei der Prüfung dieser Voraussetzung verlässt sich der EGMR grundsätzlich auf die innerstaatliche Rechtsauffassung, sofern keine offensichtliche Verletzung des nationalen Rechts vorliegt.1421 Die Kontrolldichte des EGMR ist die gleiche wie 1419

In EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island, 12.03.2019, § 101 stellt der EGMR explizit klar, dass auch andere Organe als Gerichte rechtswidrig im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK handeln können. 1420 Siehe beispielsweise EGMR Nr. 6301/73, Winterwerp v Niederlande, 24.10.1979, § 48 (Zuweisung zu einem Einzelrichter entsprach den Gesetzen); Nr. 11509/85, van der Leer v Niederlande, 21.02.1990, § 23 (gesetzlich vorgesehene Anhörung wurde nicht durchgeführt); weitere Beispiele EGMR Guide on Article 6 of the European Convention on Human Rights – Right to a fair trial (civil limb), Stand 31.12.2021, https://www.echr.coe.int/Documents/Guide_ Art_6_ENG.pdf, zuletzt abgerufen am 09.04.2022, § 238; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 177 (bezogen auf die Zuständigkeit); Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 245–246. 1421 EGMR Nr. 58442/00, Lavents v Lettland, 28.11.2002, § 114; Nr. 19334/03, DMD Group a. S. v Slowakei, 05.10.2010, § 61; Nr. 57774/13, Miracle Europe KFT v Ungarn, 12.01.2016, § 50; Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, § 216; Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 105; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 190–191.

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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beim materiellen Gesetzesvorbehalt.1422 Die Pflicht zur rechtmäßigen Anwendung bezieht sich auf alle Vorschriften, welche das nationale Gerichtssystem betreffen, also auch auf delegierte Rechtsakte. Verletzt ein Gericht die Vorgaben des formellen Gesetzes oder läuft ein Prozess nicht entsprechend der Gesetze ab, ist das Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht mehr „durch Gesetz eingerichtet“.1423 In diesem Fall ist die Abgrenzung zu den sich ebenfalls aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ergebenden Gewährleistungen der richterlichen und gerichtlichen Unabhängigkeit nicht immer eindeutig. Zwischen der Anforderung einer rechtmäßigen Gesetzesanwendung und der gerichtlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit besteht ein enger Zusammenhang.1424 Die gesetzlichen Regelungen, welche das innerstaatliche Gerichtssystem und Gerichtsverfahren ausgestalten, müssen die richterliche und gerichtliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit absichern. Ein Verstoß gegen die gesetzlichen Grundlagen wirkt sich auch auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit aus. Wenn der EGMR bereits festgestellt hat, dass ein Gericht nicht unabhängig oder unparteilich ist und die materiellen Erwägungen in beiden Fällen die gleichen wären, prüft der EGMR den Gesetzesvorbehalt nicht mehr.1425 b) Schwellen-Test bei Fehlern im Ernennungsverfahren der Richter (1) Guðmundur Andri Ástráðsson v Island Eine rechtswidrige Gesetzesanwendung betrifft in den meisten Fällen ein konkretes Verfahren und somit einen Einzelfall.1426 Eine Verurteilung durch den EGMR macht somit keine Aussage über die Konventionskonformität weiterer Urteile, die möglicherweise durch die gleichen Richter gesprochen wurden. In der Sache Guðmundur Andri Ástráðsson v Island machte der Beschwerdeführer jedoch Fehler beim Ernennungsverfahren eines Richters geltend, die nicht nur für 1422

Siehe hierzu oben ab S. 302. EGMR Nr. 32492/96 u. a., Coëme u. a. v Belgien, 22.06.2000, §§ 107–108; dem folgend EGMR Nr. 74613/01, Jorgic v Deutschland, 12.07.2007, § 64; siehe außerdem EGMR Nr. 29458/04 und 29465/04, Sokurenko und Strygun v Ukraine, 20.07.2006, §§ 28–27; Nr. 30323/02, Pandjikidzé u. a. v Georgien, 27.10.2009, § 105; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 245; vgl. auch Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 32. 1424 EGMR Nr. 7398/07 u. a., Chadzitaskos und Franta v Tschechien, 27.09.2012, § 54; Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, §§ 231–234; Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 52. Siehe außerdem EGMR Nr. 57774/13, Miracle Europe KFT v Ungarn, 12.01.2016, § 63, wo deutlich wurde, dass ein Mangel der gerichtlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gleichzeitig den Anforderungen an den Organisationsvorbehalt nicht genügen kann. Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 52 liefert Beispiele, in welchen die Abgrenzung zwischen dem Gesetzesvorbehalt und der gerichtlichen Unparteilichkeit nicht eindeutig ist. 1425 EGMR Nr. 30024/02, Sutyagin v Russland, 03.05.2011, § 194 m. w. N. 1426 Siehe hierzu auch Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 36. 1423

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

das konkrete Gerichtsverfahren, sondern für alle Verfahren, an denen die rechtswidrig ernannten Richter beteiligt waren, Bedeutung erlangten.1427 Das Ernennungsverfahren ist vom Gesetzesvorbehalt und damit vom Rechtmäßigkeitserfordernis des Art. 6 Abs. 1 EMRK umfasst. Der Gerichtshof begründete dies damit, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK die Gerichtsbarkeit vor rechtswidrigem äußerem Einfluss insbesondere durch die Exekutive schützen soll.1428 Hierin liegt eine enge Verknüpfung mit der Anforderung eines unabhängigen Gerichts, welche die Ziele und Effekte der einzelnen Tatbestandsmerkmale verstärkt.1429 Gleichzeitig darf das Recht auf ein durch Gesetz eingerichtetes Gericht nicht so extensiv ausgelegt werden, dass jede Unregelmäßigkeit beim Ernennungsverfahren automatisch eine Konventionsverletzung darstellt.1430 „[T]he right to ‚a tribunal established by law‘ is a reflection of this very principle of the rule of law and, as such, it plays an important role in upholding the separation of powers and the independence and legitimacy of the judiciary as required in a democratic society.“ 1431

Um zu prüfen, ob ein Verstoß gegen eine Ernennungsvorschrift schwer genug war, um das Recht auf Zugang zu einem gesetzlich eingerichteten Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK zu verletzen, entwickelte der EGMR einen dreistufigen Schwellen-Test (threshold test). Hierdurch wollte der Gerichtshof verschiedene Aspekte des Rechtsstaatsprinzips in Einklang bringen, einerseits die Gewaltenteilung sowie die Unabhängigkeit und Legitimität der Gerichtsbarkeit, andererseits die Rechtssicherheit, welche betroffen ist, wenn nach Eintritt der Rechtskraft Urteile erneut in Frage gestellt werden sowie die Unabsetzbarkeit der Richter während ihrer Amtszeit.1432 Der Rechtsverstoß musste erstens offenkundig (manifest) sein.1433 Zweitens musste der Verstoß den Sinn und Zweck des Rechts aus Art. 6 1427

Siehe bereits zum Sachverhalt sowie zur Bedeutung dieses Urteils für die Gewaltenteilungs-Rechtsprechung des EGMR ab S. 116. 1428 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, §§ ­226–227. 1429 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, § 233: „[T]he recognition of this close connection and common purpose does not […] lead to the obscuring of their specific functions or to their duplication, but serves only to reinforce their respective objects and effects.“ 1430 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, § 236. 1431 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, § 237; dem folgend EGMR Nr. 4907/18, Xero Flor w Polsce sp. z o. o. v Polen, 07.05.2021, § 281. 1432 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, §§ 237–240. 1433 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, § 244. Die Große Kammer stellte klar (§ 242), dass sie anders als die Kammer der erstinstanzlichen Entscheidung nicht das Konzept des flagrant breach anwenden möchte, wonach der EGMR ausnahmsweise die Einhaltung des nationalen Rechts prüfen darf (siehe zu dieser Rechtsprechung S. 302, 312). Die Große Kammer reagierte damit auf die Kritik des abweichenden Sondervotums der Richter Lemmens und Griţco zu EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island, 12.03.2019, § 7. Unklar bleibt, warum der EGMR in § 245 eine Ausnahme formulierte, nach der auch dann der zweite und dritte Schritt des Schwellen-Tests geprüft wer-

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Abs. 1 EMRK betreffen, sich also auf die Fähigkeit der Gerichtsbarkeit auswirken, frei von unzulässigen Einflüssen zu handeln und dadurch die Rechtsstaatlichkeit und die Gewaltenteilung zu erhalten. Dies ist nicht der Fall bei rein technischen Verstößen, die sich nicht auf die Legitimität der Ernennung auswirken.1434 Drittens bezog der EGMR ein, wie die nationalen Gerichte mit dem Rechtsverstoß umgegangen sind und ob sie die betroffenen Interessen sorgfältig abgewogen haben.1435 Die nationalen Gerichte müssen bei der Beurteilung der Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die nationalen Ernennungsvorschriften die Grundprinzipien der EMRK und das case law des EGMR einbeziehen. Je länger das Ernennungsverfahren in der Vergangenheit liegt, desto größer wiegt die Rechtssicherheit in der Abwägung der konfligierenden Interessen.1436 Im konkreten Fall folgte der EGMR der Einschätzung der nationalen Gerichte, dass ein Verstoß gegen das nationale Recht vorlag.1437 Die Prüfung der zweiten Stufe differenzierte zwischen den Verfahrensfehlern der Ministerin und denen des Parlaments. Durch die fehlende Begründung der Ministerin blieb unklar, warum sie die Kandidaten auf der Vorschlagsliste ersetzt hatte.1438 Die hierdurch hervorgerufenen Zweifel an der Legitimität des Ernennungsprozesses wurden dadurch verstärkt, dass die Ministerin einer Koalitionspartei und damit der parlamentarischen Mehrheit angehörte und daher mit einer Bestätigung ihrer Vorschläge durch das Parlament rechnen konnte.1439 Die Abstimmung des Parlaments über die Kandidaten, die auf Vorschlag der Justizministerin nicht, wie gesetzlich vorgesehen, einzeln, sondern über die Kandidatenliste en bloc durchgeführt wurde, verstärkte den ursprünglichen Verstoß der Justizministerin und unterminierte die Rolle des Parlaments als Kontrollorgan der Exekutive. Es konnte nicht ausgeschlossen werden, dass die Entscheidung des Parlaments aus politischen Erwägungen getroffen wurde.1440 Schließlich lagen auch die Voraussetzungen der dritten Stufe vor. Obwohl das Oberste Gericht Verfahrensverstöße festgestellt hatte, setzte es sich nicht damit auseinander, ob die Ernennung der Richter deshalb konventionswidrig war.1441 den sollen, wenn kein offenkundiger Verstoß gegen das nationale Recht vorliegt, das Ernennungsverfahren dem Anschein nach eingehalten wird, das Ergebnis aber mit Ziel und Zweck (object and purpose) des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht übereinstimmt. Diese Ausnahme erlangte im konkreten Fall keine Bedeutung. Es bleibt offen, in welchen Fällen sie relevant werden könnte. 1434 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, § 246. 1435 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, §§ 248, 251. 1436 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, §§ 251–252. 1437 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, § 254. 1438 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, § 263. 1439 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, § 265. 1440 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, § 270. 1441 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, §§ 279–280.

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„[T]he restraint displayed by the Supreme Court in examining the applicant’s case – and the failure to strike the right balance between preserving, in particular, the principle of legal certainty on the one hand, and upholding respect for the law on the other – was not specific to the facts of the instant case, but it was the Supreme Court’s settled practice. The Court finds that this practice poses problems for two main reasons. It considers in the first place that it undermines the significant role played by the judiciary in maintaining the checks and balances inherent in the separation of powers. It notes secondly that, having regard to the significance and the implications of the breaches in question […], and to the fundamentally important role played by the judiciary in a democratic State governed by the rule of law, the effects of such breaches may not justifiably be limited to the individual candidates who have been wronged by non-appointment, but necessarily concern the general public. The Court has on many occasions emphasised the special role in society of the judiciary, which, as the guarantor of justice, a fundamental value in a law-governed State, must enjoy public confidence if it is to be successful in carrying out its duties […].“1442

Die Gewaltenteilung stellte bei der Prüfung des dritten Schritts des Schwellen-Tests neben der gerichtlichen Unabhängigkeit einen eigenständigen Wert dar, der gegen die Rechtssicherheit und die Unabsetzbarkeit der Richter abgewogen wurde. Damit wuchs die Bedeutung der Gewaltenteilung für die Konventionsrechtsordnung im Vergleich zu den früheren Urteilen, in denen der EGMR die Gewaltenteilung lediglich als Programmsatz erwähnte, jedoch nicht eigenständig in die Abwägung einstellte. Gleichzeitig schuf der EGMR eine Grundlage, über Streitigkeiten im Zusammenhang mit richterlichen Ernennungsverfahren zu entscheiden, selbst wenn keine Auswirkungen auf das gegen den Beschwerdeführer gefällte Urteil spürbar sind.1443 So kann der EGMR Probleme bei der Richterernennung genauer kontrollieren. Diese Entscheidung ist vor dem Hintergrund der Rechtsstaatlichkeitskrise in Europa bemerkenswert. (2) Xero Flor w Polsce sp. z o. o. v Polen Der EGMR bestätigte die Guðmundur Andri Ástráðsson-Rechtsprechung erstmals in der Sache Xero Flor v Polen, als das beschwerdeführende Unternehmen vorbrachte, dass die Wahl eines im konkreten Fall beteiligten Verfassungsrichters nicht rechtmäßig abgelaufen sei. Die Kammer wendete den neuen Schwellen-Test an.1444 Hinsichtlich des Verstoßes gegen nationales Recht stellte der EGMR auf die Entscheidungen des polnischen Verfassungsgerichts ab.1445 1442

EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, § 283. Graver, A New Nail in the Coffin for the 2017 Polish Judicial Reform, VerfBlog, 02.12.2020. 1444 EGMR Nr. 4907/18, Xero Flor w Polsce sp. z o. o. v Polen, 07.05.2021, §§ 243–251 rezipierte vollumfänglich die in Guðmundur Andri Ástráðsson v Island entwickelten allgemeinen Rechtsprechungsprinzipien. Die ausführlichen Erwägungen im Urteil zur ersten Stufe, der offenkundigen Verletzung des innerstaatlichen Rechts (§§ 255–275), sind für Fragen der Gewaltenteilung irrelevant. 1445 EGMR Nr. 4907/18, Xero Flor w Polsce sp. z o. o. v Polen, 07.05.2021, §§ 255–275. 1443

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Der Staatspräsident weigerte sich, die Amtseide der Richter entgegenzunehmen, die – wie gesetzlich vorgesehen – von dem Parlament gewählt wurden, das im Amt war, als die Posten vakant wurden. Als das Parlament der nächsten Legislaturperiode andere Kandidaten wählte, nahm der Präsident deren Amtseide ohne Verzögerung entgegen, sodass sie unverzüglich ernannt werden konnten. Darüber hinaus setzten sich Parlament und Staatspräsident mehrfach über Urteile des Verfassungsgerichts hinweg, das die Ernennung für verfassungswidrig erklärt hatte und erließen weitere Gesetze, um die Besetzung der Richterposten mit den von ihnen favorisierten und nicht den zuerst gewählten Richtern zu erreichen.1446 Das Prinzip der Rechtssicherheit trat im konkreten Fall hinter dem Rechtmäßigkeitsprinzip zurück, weil das Parlament und der Staatspräsident die verbindlichen Urteile des Verfassungsgerichts, das die Richterwahl für verfassungswidrig erklärt hatte, nicht umsetzten. Die Legislative und die Exekutive nahmen zu großen Einfluss auf das Verfassungsgericht, sodass die Voraussetzungen der zweiten Stufe erfüllt waren.1447 Schließlich gab es im polnischen Recht kein Verfahren, mit dem das beschwerdeführende Unternehmen die Fehler im Ernennungsverfahren geltend machen konnten.1448 (3) Reczkowicz v Polen und Folgeurteile Auch die Urteile Reczkowicz v Polen, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen und Advance Pharma sp. z o.o v Polen betreffen die Reformen der polnischen Gerichtsbarkeit. Durch diese drei Urteile entwickelte der EGMR die Anwendung des Schwellentests aus Guðmundur Andri Ástráðsson weiter und verfestigte sie zu gesicherter Rechtsprechung.1449 Auch wenn in den drei Fällen unterschiedliche gerichtliche Spruchkörper betroffen waren, so ähneln sich die Erwägungsgründe der drei Urteile sehr stark und sind teilweise wortgleich. Im Fokus stand der Nationale Richterrat, dessen Mitglieder nach einer Gesetzesänderung nicht mehr von Richtern, sondern vom Parlament gewählt wurden. Der Richterrat schlug dem Präsidenten Kandidaten für die Richterposten auf allen Ebenen des polnischen Gerichtssystems vor, die dieser anschließend ernennen konnte. Die Beschwerdeführer machten einen offenkundigen Verstoß gegen nationales Recht geltend, weil die in ihren innerstaatlichen Gerichtsverfahren zu-

1446

EGMR Nr. 4907/18, Xero Flor w Polsce sp. z o. o. v Polen, 07.05.2021, §§ 276–280; zum Sachverhalt siehe auch Szwed / Wiśniewska, Strasbourg – A new destination on the road towards the rule of law?, S. 25–26. 1447 EGMR Nr. 4907/18, Xero Flor w Polsce sp. z o. o. v Polen, 07.05.2021, §§ 281–287. 1448 EGMR Nr. 4907/18, Xero Flor w Polsce sp. z o. o. v Polen, 07.05.2021, § 288. 1449 Siehe auch die einheitliche Darstellung der Grundsätze des Leiturteils in EGMR Nr. 43447/19, Reczkowicz v Polen, 22.07.2021, §§ 216–224; Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, §§ 272–280; Nr. 1469/20, Advance Pharma sp. z o.o v Polen, 03.02.2022, §§ 294–302.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

ständigen Richter unter Mitwirkung des nicht mehr unabhängigen Richterrates ernannt worden waren.1450 Während sich der EGMR bei Xero Flor auf die Auslegung des nationalen Rechts durc das innerstaatliche Verfassungsgericht stützen konnte, stellte in den folgenden drei Urteilen die erste Stufe des Schwellentests den Schwerpunkt der Prüfung dar. Ob der Richterrat nach der Gesetzesänderung noch ausreichend unabhängig war, war zwischen dem Obersten Gericht und den Verfassungsgericht umstritten, sodass der EGMR keine eindeutige innerstaatliche Rechtslage zugrunde legen konnte. Der EGMR umging diese Schwierigkeit, indem er als Ausprägung der korrekten Anwendung des innerstaatlichen Rechts verlangte, dass die zuständigen Organe in ihre Auslegungsentscheidungen auch die Wertungen der EMRK einbezogen: „230. […] [O]nce a breach of the relevant domestic rules has been established, the assessment by the national courts of the legal effects of such breach must be carried out on the basis of the relevant Convention case-law and the principles derived therefrom. Where the national courts have duly assessed the facts and the complaints in the light of the Convention standards, have adequately weighed in the balance the competing interests at stake and have drawn the necessary conclusions, the Court would need strong reasons to substitute its own assessment for that of the national courts. Accordingly, while the national courts have discretion in determining how to strike the relevant balance, they are nevertheless required to comply with their obligations deriving from the Convention when they are undertaking that balancing exercise […]. 231. The Court’s task in the present case is therefore not to resolve the existing conflict of opinions as to the application and interpretation of the domestic law or to substitute itself for the national courts in their assessment of the applicable provisions, but to review, in the light of the above principles, whether the Polish courts in their respective rulings struck the requisite balance between the various interests at stake and whether, in carrying out that exercise and reaching their conclusions, they paid due regard to, and respect for, the Convention standards required of a ‚tribunal established by law‘.“1451

Vorliegend stand nicht die rechtmäßige Anwendung des geänderten Gesetzes nach innerstaatlichen Maßstäben in Rede. Umstritten war vielmehr, ob das geänderte Gesetz selbst einen Rechtsverstoß mit höherrangigem Recht darstellte. Dieser Ansicht waren die Beschwerdeführer sowie das oberste Gericht, das sich für seine Resolution zur Auslegung des Richterrats-Gesetzes auf internationale und insbesondere unionsrechtliche Vorgaben stützte und dem zuvor ergangenen Urteil des EuGH entsprach.1452 1450

EGMR Nr. 43447/19, Reczkowicz v Polen, 22.07.2021, §§ 10, 12, 228; Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, §§ 10, 12, 290; Nr. 1469/20, Advance Pharma sp. z o.o v Polen, 03.02.2022, §§ 10, 12, 313. 1451 EGMR Nr. 43447/19, Reczkowicz v Polen, 22.07.2021, §§ 309–310; ebenso EGMR Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, §§ 286–287; Nr. 1469/20, Advance Pharma sp. z o.o v Polen, 03.02.2022, §§ 309–310. 1452 EGMR Nr. 43447/19, Reczkowicz v Polen, 22.07.2021, §§ 89–105, 251–257 sowie die internationalen und unionsrechtlichen Vorgaben sowie das EuGH-Urteil zusammengefasst in §§ 241–250; Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021,

B. Die gesetzgebende Tätigkeit  

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Die Auslegung des Verfassungsgerichts hingegen, auf die sich die polnische Regierung berief, entsprach den konventionsrechtlichen Vorgaben nicht. Das Verfassungsgericht hatte auf Antrag des Justizministers, der gleichzeitig als Generalstaatsanwalt fungierte, entgegen seiner früheren Rechtsprechung das ursprüngliche Gesetz über den Richterrat für verfassungswidrig erklärt.1453 Zwar lehnte der EGMR das vorgetragene Bestreben, den Besetzungsprozess des Richterrates demokratischer zu gestalten, nicht grundsätzlich als unzulässig ab. Allerdings reichte dem EGMR die Begründung des Verfassungsgerichts für dessen unerwartete Rechtsprechungsänderung nicht aus. Es hätte einer ausführlichen Abwägung aller betroffenen Interessen bedurft, die das Verfassungsgericht nicht vornahm.1454 Später erklärte das Verfassungsgericht die Resolution des obersten Gerichts für verfassungswidrig. Der EGMR hielt diese Auslegung für unvertretbar, weil sie den konventionsrechtlichen Standards, insbesondere den in Guðmundur Andri Ástráðsson aktualisierten rechtsstaatlichen Anforderungen zum „durch Gesetz eingerichteten Gericht“ nicht entsprach.1455 „261. [The Constitutional Court’s judgment] appears to focus mainly on protecting the President’s constitutional prerogative to appoint judges and the status quo of the current NCJ, leaving aside the issues which were crucial in the Supreme Court’s assessment, such as an inherent lack of independence of the NCJ which, in that court’s view, irretrievably tainted the whole process of judicial appointments, including to the Disciplinary Chamber. The Constitutional Court, while formally relying on the constitutional principles of the separation of powers and the independence of the judiciary, refrained from any meaningful analysis of the Supreme Court’s resolution in the light of these principles. The same is true in respect of the Constitutional Court’s interpretation of the standards of independence and impartiality of a court under Article 6 § 1 of the Convention that led it to the conclusion that the Supreme Court’s interpretative resolution was incompatible with that provision. In particular, the Constitutional Court found that those Convention standards excluded the power of ‚other judges‘ to generally question a ‚judge’s right to adjudicate‘ or to verify ‚the regularity of the procedure preceding the appointment of a judge by the President‘ […].“1456

§§ 307–312 sowie die internationalen und unionsrechtlichen Vorgaben sowie das EuGH-Urteil zusammengefasst in §§ 297–306; Reczkowicz folgend EGMR Nr. 1469/20, Advance Pharma sp. z o.o v Polen, 03.02.2022, §§ 316–317. 1453 EGMR Nr. 43447/19, Reczkowicz v Polen, 22.07.2021, §§ 107–109, 236; Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, §§ 138–142, 292; Nr. 1469/20, Advance Pharma sp. z o.o v Polen, 03.02.2022, §§ 151–155, 315. 1454 EGMR Nr. 43447/19, Reczkowicz v Polen, 22.07.2021, §§ 237–239; Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, §§ 293–294. 1455 EGMR Nr. 43447/19, Reczkowicz v Polen, 22.07.2021, §§ 258–261; Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, §§ 313–316; Nr. 1469/20, Advance Pharma sp. z o.o v Polen, 03.02.2022, §§ 317–318. 1456 EGMR Nr. 43447/19, Reczkowicz v Polen, 22.07.2021, § 261; Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, § 316; knapper EGMR Nr. 1469/20, Advance Pharma sp. z o.o v Polen, 03.02.2022, § 318.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Aus diesen Gründen befand der EGMR die verfassungsgerichtliche Auslegung für willkürlich.1457 Ergänzend verwies der EGMR auf den generellen Kontext des Konflikts der beiden Gerichte, wonach das Verfassungsgericht dem Obersten Gericht zunächst vorläufig und dann endgültig die Zuständigkeit abgesprochen habe, Resolutionen über die Vereinbarkeit von nationalen Gesetzen hinsichtlich der Ernennung von Richtern mit internationalem Recht zu erlassen.1458 In Dolińska-Ficek und Advance Pharma machten die Beschwerdeführer einen weiteren Rechtsverstoß geltend. Die für ihre Gerichtsverfahren zuständigen Richter waren vom Präsidenten aufgrund einer Resolution des Richterrates ernannt worden, die das oberste Verwaltungsgericht vorläufig für unanwendbar erklärt hatte.1459 Der EGMR stützte seine Erwägungen auf das Urteil des EuGH in einem Parallelverfahren und die Begründung des Obersten Gerichts beziehungsweise des Obersten Verwaltungsgerichts über die Vorlage.1460 Seine eigenen Erwägungen stützte der EGMR einerseits auf den Grundsatz der Rechtssicherheit: „One of the fundamental aspects of the rule of law is the principle of legal certainty, which requires, inter alia, that where the courts have finally determined an issue, their ruling should not be called into question […]. This applies, by definition, to the implementation of judicial decisions on interim measures that remain in force until a final decision determining the case before a court has been given […]. To hold otherwise would mean rendering a binding, albeit transitional, judicial decision that is devoid of purpose and meaning.“1461

Außerdem verurteilte der EGMR in scharfen Worten den Versuch exekutiver und legislativer Organe, sich in gerichtliche Verfahren einzumischen.1462 „[I]n the present case the actions of the executive power in the process of appointment of judges to the Chamber of Extraordinary Review and Public Affairs demonstrated an attitude which can only be described as one of utter disregard for the authority, independence and role of the judiciary. Those actions were clearly taken with the ulterior motive of not only influencing the outcome of the pending court proceedings but also preventing the proper examination of the legality of the resolution that recommended candidates for judicial posts and, in consequence, rendering judicial review of the resolution meaningless. They were aimed at ensuring that the judicial appointments as proposed by the NCJ – a body over which the executive and the legislative authorities held an unfettered power – would be given effect 1457 EGMR Nr. 43447/19, Reczkowicz v Polen, 22.07.2021, § 262; Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, § 317; Nr. 1469/20, Advance Pharma sp. z o.o v Polen, 03.02.2022, § 318. 1458 EGMR Nr. 43447/19, Reczkowicz v Polen, 22.07.2021, § 263; Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, § 318. 1459 EGMR Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, § 321; Nr. 1469/20, Advance Pharma sp. z o.o v Polen, 03.02.2022, § 323. 1460 EGMR Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, §§ 323–327; Nr. 1469/20, Advance Pharma sp. z o.o v Polen, 03.02.2022, §§ 324–330. 1461 EGMR Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, § 328; Nr. 1469/20, Advance Pharma sp. z o.o v Polen, 03.02.2022, § 331. 1462 EGMR Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, § 329; Nr. 1469/20, Advance Pharma sp. z o.o v Polen, 03.02.2022, § 332.

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even at the cost of undermining the authority of the Supreme Administrative Court, one of the country’s highest courts, and despite the risk of setting up an unlawful court. As such, the actions were in flagrant breach of the requirements of a fair hearing within the meaning of Article 6 § 1 of the Convention and were incompatible with the rule of law.“1463

In Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen stellte der EGMR zusätzlich auf die Aufgaben des in Rede stehenden Spruchkörpers, der Chamber of Extraordinary Review and Public Affairs innerhalb des Obersten Gerichts, ab. Die Zuständigkeit für außerordentliche Rechtsbehelfe, Wahlanfechtungen, Entscheidungen über die Wirksamkeit von nationalen und verfassungsrechtlichen Referenden und über Beschwerden wegen überlanger Verfahrensdauer erforderte nach dem EGMR beim Ernennungsverfahren der zugehörigen Richter eine besondere Beachtung (particular scrutiny) und einen transparenten, rechtmäßigen Prozess.1464 Im konkreten Fall waren jedoch die rechtswidrig ernannten Richter insbesondere dafür zuständig, über das rechtswidrige Ernennungsverfahren und damit über ihren eigenen Fall zu entscheiden.1465 Zu einem späteren Zeitpunkt wurden die Befugnisse der Chamber of Extraordinary Review and Public Affairs noch stärker erweitert, sodass sie alle Angelegenheiten der gerichtlichen Unabhängigkeit entscheiden und Empfehlungen des nicht unabhängigen Richterrates aufrecht erhalten konnte.1466 In Advance Pharma lag ein offenkundiger Verstoß gegen das innerstaatliche Recht auch ohne diese zusätzlichen Erwägungen vor.1467 Hieraus ist zu schließen, dass die ergänzenden Erwägungen des EGMR in Dolińska-Ficek und Ozimek nicht konstitutiv für die Erfüllung der ersten Stufe waren, sondern vom EGMR vor allem angestellt wurden, um sich umfassend zu den streitgegenständlichen Fragen äußern zu können. Im Rahmen der zweiten Stufe, der Schwere der Verletzung des Rechts auf Zugang zu einem gesetzlich eingerichteten Gericht, stellte der EGMR auch in DolińskaFicek und Advance Pharma nur auf die fehlende Unabhängigkeit des Richterrates ab und ging nicht weiter auf die Ernennung der Richter aufgrund einer vorläufig für unanwendbar erklärten Resolution ein. Hierdurch verdeutlichte der Gerichtshof die Bedeutung der Ernennungsorgane für die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit. Der EGMR begründete die fehlende Unabhängigkeit des Richterrates einerseits mit dem geänderten Besetzungsverfahren, der Wahl der Mitglieder durch das Parlament.1468 1463 EGMR Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, § 330; ebenso auf den konkreten Fall angepasst EGMR Nr. 1469/20, Advance Pharma sp. z o.o v Polen, 03.02.2022, § 333. 1464 EGMR Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, §§ 332–333. 1465 EGMR Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, §§ 334–335. 1466 EGMR Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, § 337. 1467 EGMR Nr. 1469/20, Advance Pharma sp. z o.o v Polen, 03.02.2022, § 334. 1468 EGMR Nr. 43447/19, Reczkowicz v Polen, 22.07.2021, § 269; Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, § 343; Nr. 1469/20, Advance Pharma sp. z o.o v Polen, 03.02.2022, § 339.

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Andererseits standen nur so wenige Kandidaten zur Wahl als Mitglieder des Richterrates, dass keine tatsächliche Auswahl bestand. Viele der Kandidaten waren zudem Mitglieder der Regierungspartei oder dem Justizminister hierarchisch untergeordnet.1469 Außerdem wurde ursprünglich nicht veröffentlicht, ob die Kandidaten ausreichende Unterschriften von Richtern bekommen hatten, um als Mitglieder des Richterrates in Betracht zu kommen. Diese Intransparenz war geeignet, Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Ernennungsverfahrens zu unterstützen. Später stellte sich heraus, dass die Mitglieder des Richterrates mit der Unterstützung einer kleinen Gruppe von regierungstreuen Richtern gewählt worden waren.1470 „274. In view of the foregoing, the Court finds that by virtue of the 2017 Amending Act, which deprived the judiciary of the right to nominate and elect judicial members of the NCJ – a right afforded to it under the previous legislation and recognised by international standards – the legislative and the executive powers achieved a decisive influence on the composition of the NCJ […]. The Act practically removed not only the previous representative system but also the safeguards of independence of the judiciary in that regard. This, in effect, enabled the executive and the legislature to interfere directly or indirectly in the judicial appointment procedure, a possibility of which these authorities took advantage – as shown, for instance, by the circumstances surrounding the endorsement of judicial candidates for the NCJ […]. 276. Assessing all the above circumstances as a whole, the Court finds that the breach of the domestic law that it has established above, arising from non-compliance with the principle of the separation of powers and the independence of the judiciary, inherently tarnished the impugned appointment procedure since, as a consequence of that breach, the recommendation of candidates for judicial appointment to the Disciplinary Chamber – a condition sine qua non for appointment by the President of Poland – was entrusted to the NCJ, a body that lacked sufficient guarantees of independence from the legislature and the executive. A procedure for appointing judges which, as in the present case, discloses an undue influence of the legislative and executive powers on the appointment of judges is per se incompatible with Article 6 § 1 of the Convention and as such, amounts to a fundamental irregularity adversely affecting the whole process and compromising the legitimacy of a court composed of judges so appointed.“1471

Die dritte Voraussetzung des Schwellentests lag in allen drei Fällen unproblematisch vor.1472

1469 EGMR Nr. 43447/19, Reczkowicz v Polen, 22.07.2021, §§ 270–272; Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, §§ 344–346; Nr. 1469/20, Advance Pharma sp. z o.o v Polen, 03.02.2022, §§ 340–342. 1470 EGMR Nr. 43447/19, Reczkowicz v Polen, 22.07.2021, § 273; Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, § 347; Nr. 1469/20, Advance Pharma sp. z o.o v Polen, 03.02.2022, § 343. 1471 EGMR Nr. 43447/19, Reczkowicz v Polen, 22.07.2021, §§ 274, 276; Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, §§ 348–349; knapper EGMR Nr. 1469/20, Advance Pharma sp. z o.o v Polen, 03.02.2022, § 345. 1472 EGMR Nr. 43447/19, Reczkowicz v Polen, 22.07.2021, §§ 278–279; Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, §§ 351–352; Nr. 1469/20, Advance Pharma sp. z o.o v Polen, 03.02.2022, §§ 344–348.

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(4) Zwischenfazit Durch den in Guðmundur Andri Ástráðsson v Island eingeführten Schwellentest hat der EGMR sich einen Anknüpfungspunkt geschaffen, um gegen strukturelle Gefährdungen der richterlichen Unabhängigkeit, ausgelöst durch innerstaatliche Gerichtsreformen, vorgehen zu können. Guðmundur Andri Ástráðsson selbst betraf keinen solchen Fall, bot der EGMR aber eine gute Gelegenheit, seine Rechtsprechung fortzuentwickeln. Anhand der zunächst in Guðmundur Andri Ástráðsson formulierten Voraussetzungen des threshold tests ließ sich vorläufig noch nicht erkennen, wie weit der EGMR das Tatbestandsmerkmal „durch Gesetz eingerichtet“ fortan auslegen wird. Da der EGMR eine Verletzung der innerstaatlichen Gesetze forderte, konnte nicht davon ausgegangen werden, dass der EGMR über den threshold test auch die Vereinbarkeit geänderter parlamentarischer Gesetze mit der nationalen Verfassung und den Grundsätzen des Art. 6 Abs. 1 EMRK prüfen würde. Durch Reczkowicz v Polen und die Folgeurteile erfuhr der Anwendungsbereich des threshold tests aber diese Erweiterung. Der EGMR legte das gesetzlich vorgesehene Ernennungsverfahren der Mitglieder des Richterrates anhand konventionsrechtlicher, unionsrechtlicher und anderer völkerrechtlicher Vorgaben oder Richtlinien aus. Hierbei erklärte er die gegenteilige Ansicht des Verfassungsgerichts für unbeachtlich, weil die konventionsrechtlichen Standards nicht ausreichend in die gerichtliche Abwägung aller beteiligten Interessen eingeflossen waren. Stattdessen folgte der EGMR dem Obersten Gericht, dass einen Verstoß des parlamentarischen Gesetzes mit höherrangigem Recht vertrat. Nimmt man die Zurückhaltung des EGMR bei der Auslegung des nationalen Rechts ernst, dann prüfte der Gerichtshof faktisch nicht den Verstoß des Gesetzes zur Besetzung des Richterrates mit den Vorschriften der polnischen Verfassung, sondern mit der EMRK. Dieser Eindruck wird auch dadurch verstärkt, dass der EGMR konventionsrechtliche Erwägungen zur Rechtssicherheit und zur richterlichen Unabhängigkeit in die Prüfung der ersten Stufe des Schwellentests einfließen lässt. Hierdurch hat der EGMR sich also die Möglichkeit geschaffen, die richterlichen Ernennungsverfahren und die Beteiligung bestimmter Organe abstrakt-generell zu prüfen, sofern die Beschwerdeführer Partei in einem innerstaatlichen Gerichtsprozess waren, deren Richter nach den streitgegenständlichen Vorschriften ernannt worden sind. Diese Möglichkeit erlaubt dem EGMR insbesondere, wie in den vorliegenden Fällen, unabhängig vom Einzelfall unzulässige strukturelle Einflussnahmen der Exekutive und der Legislative auf richterliche Besetzungen als Konventionsverletzung einzustufen. 5. Analyse a) Unterschiede zum materiellen Gesetzesbegriff Die bisherige Darstellung der Rechtsprechung zeigte, dass der Organisationsvorbehalt des Art. 6 Abs. 1 EMRK zur Einrichtung eines Gerichts von dem an-

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sonsten materiellen Gesetzesverständnis in der EMRK abweicht.1473 Der EGMR hat den Unterschied zwischen dem materiellen Gesetzesbegriff und dem formellen Organisationsvorbehalt noch nie angesprochen. Es handelt sich aber um zwei voneinander getrennte Rechtsprechungslinien, zwischen denen es  – abgesehen vom Sonderfall Savino v Italien, wo der EGMR die Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit des delegierten Rechtsaktes prüfte  – keine Überschneidungen oder gegenseitige Verweise gibt. Es gibt eine Reihe von Unterschieden zwischen dem allgemeinen materiellen Gesetzesbegriff und dem formellen Organisationsvorbehalt des Art. 6 Abs. 1 EMRK und nur wenige Parallelen. Zunächst erwähnt der EGMR im Rahmen seiner generellen Rechtsprechungsprinzipien zu Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht allein das Rechtsstaats-, sondern auch die in einer demokratischen Gesellschaft erforderliche Legitimität (legitimacy required in a democratic society), also das Demokratieprinzip, als Grundlage seiner Vorgaben. Damit kommt dem nationalen Parlament als dem Organ, welches den Willen des Volkes unmittelbar abbildet, eine besondere Bedeutung zu. Keine Vorgaben machte der EGMR zu den normstrukturellen Merkmalen des formellen Gesetzes im Sinne des Art. 6 EMRK. Da ein parlamentarisches Gesetz grundsätzlich verbindlicher Natur ist und Außenwirkung hat, verwundert es nicht, dass der EGMR dies nicht noch klar stellen musste. Außerdem entspricht es dem konventionsimmanenten Gesetzmäßigkeitsprinzip, dass jede rechtliche Grundlage ihrerseits rechtmäßig, im Fall eines parlamentarischen Gesetzes also verfassungsmäßig sein muss. Während die abstrakt-generelle Natur das materielle Gesetz von nicht-allgemeingültigen Rechtsakten abgrenzt, ist diese Voraussetzung für formelle Gesetze nicht zwingend.1474 Stimmen im Schrifttum gehen hingegen davon aus, dass nur abstrakt-generelle Normen auch den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts aus Art. 6 Abs. 1 EMRK entsprechen.1475 Außerdem solle das Erfordernis einer abstrakt-generellen gesetzlichen Grundlage die Einsetzung von ad hoc-Gerichten verhindern.1476 Auch diese Anforderung formulierte der EGMR 1473 So auch Steiner, The Rule of Law in the Jurisprudence of the ECtHR, in: Schroeder, Strengthening the Rule of Law in Europe, S. 135 (150). Keine Differenzierung nehmen diejenigen vor, die einen einheitlichen formellen Gesetzesbegriff oder jedenfalls eine Rückführbarkeit einer abstrakt-generellen Regelung auf eine parlamentarische Entscheidung annehmen, siehe hierzu die Nachweise in Fn. 901; so ausdrücklich auch im Kontext des Art. 6 Abs. 1 EMRK Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 32. 1474 Zusammenfassend Maurer, Staatsrecht I, § 17 Rn. 10. 1475 Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 35; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn.  44. (Grabenwarter /  Pabel verweisen auf Matscher, Der Gesetzesbegriff der EMRK, in: Adamovich, FS Loeben­ stein, S. 105 (111), der sich allerdings auf den einheitlichen Gesetzesbegriff der EMRK bezieht, in den er den Vorbehalt aus Art. 6 Abs. 1 EMRK einschließt). 1476 Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 35; Meyer, in: Karpenstein /  Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 50; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 77; Grabenwarter /  Struth, Justiz- und Verfahrensgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grund-

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nicht. Entscheidend war für den Gerichtshof vielmehr, ob das Gesetz willkür­liche Entscheidungen verhinderte.1477 Dies kann, muss aber bei der Einrichtung von Ausnahmegerichten nicht der Fall sein. Auch wenn die meisten Gesetze im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK abstrakt-genereller Natur sein dürften, da die Regelungsgegenstände dies verlangen, ist nicht ausgeschlossen, dass ausnahmsweise einzelfallbezogene Gesetze vorliegen. Die verschiedenen Vorgaben an den Normgeber ergeben sich bereits aus dem begrifflichen Unterschied zwischen formellem und materiellem Gesetzesbegriff. Der materielle Gesetzesbegriff wird unabhängig vom Normgeber definiert. Der EGMR versteht hierunter nicht nur den geschriebenen Wortlaut, sondern auch die aktuelle Auslegungspraxis, also die gesamte Rechtslage, sodass letztlich verschiedene Organe gleichberechtigt als Normgeber zusammenwirken (können).1478 Der formelle Gesetzesbegriff hingegen verlangt, dass das Parlament den gesetzlichen Rahmen für die Gerichtsorganisation, die den richterlichen Status betreffenden Regelungen sowie das anwendbare Verfahrensrecht trifft. Innerhalb dieses gesetzlichen Rahmens darf das Parlament ausgestaltende Regelungen an exekutive Organe delegieren.1479 Dadurch schafft der EGMR ein Stufenverhältnis zwischen dem der Legislative angehörenden Parlament und den nur nachgeordnet recht­ setzend tätig werdenden Organen der Exekutive, welches im materiellen Begriff nicht offenkundig wurde. Auch im Verhältnis zwischen legislativer und judikativer Rechtsetzung gibt es einen Unterschied. Für den materiellen Gesetzesbegriff ist es unerheblich, ob ein Gericht auslegend oder rechtsfortbildend tätig wird. Der EGMR unterscheidet nicht zwischen Rechtsordnungen des common law und des civil law. Im Rahmen des materiellen Gesetzesbegriffs stehen die Gerichte – unabhängig davon, ob es sich um die Auslegung geschriebener abstrakt-genereller Regelungen oder Rechtsfortbildung handelt und im Rahmen der Rechtsfortbildung auch unabhängig davon, ob diese in einer Rechtsordnung des common law oder einer kontinentaleuropä­ ischen Rechtsordnung stattfand – gleichberechtigt neben anderen Rechtsetzungsorganen.1480 Der formelle Organisationsvorbehalt hingegen verlangt für Rechtsordnungen mit kodifiziertem Recht, dass die Gerichtsorganisation grundsätzlich nicht dem freien Ermessen der Gerichte überlassen wird, und erlaubt den Gerichten nur freiheiten, § 6 Rn. 41; Kühne, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 291 (2009) mit Verweis auf EKMR Nr. 8299/78, X und Y v Irland (Pl.), 10.10.1980, DR 22, S. 51 (54, 72–73) (in dieser Entscheidung erklärte die EKMR ein durch die Verfassung eingerichtetes Spezialgericht für mit Art. 6 Abs. 1 EMRK für vereinbar); ihnen folgend Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn.  44. 1477 EGMR Nr. 32492/96 u. a., Coëme u. a. v Belgien, 22.06.2000, §§ 102–103; Nr. 74613/01, Jorgic v Deutschland, 12.07.2007, §§ 70–71. So auch (wenn auch ohne Nachweis) Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 51; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: MeyerLadewig / Nettesheim / von Raumer, EGMR, Art.  6 Rn.  71. 1478 Siehe diese Schlussfolgerung im Zwischenfazit ab S. 263. 1479 Siehe hierzu oben ab S. 309. 1480 Siehe hierzu oben ab S. 252.

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in gut begründeten Ausnahmefällen, sich über die legislativen Grundlagen hinwegzusetzen. Die Zulässigkeit richterlicher Rechtsetzung ist damit anders als im Rahmen des materiellen Gesetzesbegriffs nicht ausschließlich von der nationalen Rechtsordnung abhängig. Die Konventionsstaaten des common law spart der EGMR hiervon allerdings aus, sodass die Anforderungen an den formalen Gesetzesbegriff abhängig von der Rechtsordnung variieren. Im Falle des formellen Gesetzesvorbehalts gesteht der EGMR dem common law also eine Sonderrolle zu, ohne diese zu begründen. Das Leiturteil zum materiellen Gesetzesbegriff Sunday Times v Vereinigtes Königreich Nr. 1 begründete die Einbeziehung des Richterrechts in den materiellen Gesetzesbegriff ursprünglich damit, dass ansonsten die Grundstrukturen des britischen Rechtssystems betroffen seien und dies von den Vertragsstaaten nicht gewollt sein konnte.1481 Dieses Argument kann auch genauso für die Sonderrolle des common law im Rahmen des formalen Gesetzesvorbehalts herangezogen werden. Bis jetzt musste der Gerichtshof im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK noch nicht über ein richterrechtliches Gesetz entscheiden. Es bleibt abzuwarten, ob der EGMR in diesem Fall gesonderte Anforderungen formuliert. Die Zugänglichkeit und die Vorhersehbarkeit sind entscheidend für den materiellen Gesetzesbegriff.1482 Beide Merkmale tauchen in der Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK lediglich in der Entscheidung Savino v Italien auf, in welcher es um die Konventionskonformität eines delegierten Rechtsakts geht.1483 In allen anderen Urteilen ging der EGMR nicht auf die Gesetzesqualität ein. Die qualitativen Gesetzesmerkmale gelten im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK also höchstens – sollte sich die Savino-Rechtsprechung in der Zukunft bestätigen – für delegierte Rechtsakte, nicht aber für parlamentarische Gesetze.1484 Gleichwohl liegt auch dem Gesetzesvorbehalt aus Art. 6 Abs. 1 EMRK die Intention zugrunde, willkürliche Entscheidungen der Exekutive und Judikative zu verhindern. Anders als beim materiellen Gesetzesbegriff erreicht der EGMR dies im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK allerdings, indem die anwendenden und auslegenden Gewalten an die formellen Gesetze gebunden sind und ihr Ermessen beschränkt ist. Die Rechtmäßigkeitsanforderungen sind in beiden Gesetzesbegriffen einheitlich. Gleiches gilt für die grundsätzliche Zurückhaltung des EGMR, die Einhaltung des nationalen Rechts zu kontrollieren. Der Sonderfall Guðmundur Andri Ástráðsson v Island betraf richterliche Ernennungsverfahren und somit allein Fälle des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Bislang ist auch kein Sachverhalt ersichtlich, bei 1481

Siehe das Zitat zu Fn. 1124. Siehe hierzu ab S. 264. 1483 Siehe hierzu ab S. 309. 1484 Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 35–36 geht davon aus, dass die qualitativen Merkmale auch im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 EMRK gelten, allerdings bezieht sie die Norm auch in den ansonsten einheitlichen Gesetzesbegriff mit ein; ebenso Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 185–186. 1482

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dem diese Rechtsprechung auf den materiellen Gesetzesbegriff übertragen werden könnte. Insgesamt enthält der formelle Gesetzesbegriff andere, nicht strengere Merkmale als der materielle Gesetzesbegriff.1485 Der Organisationsvorbehalt des Art. 6 Abs. 1 EMRK definiert sich primär über den Normgeber und macht konkrete institutionelle Vorgaben, indem er die Zuständigkeit für die Rahmenregelungen der Gerichtsorganisation und des Gerichtsverfahrens eindeutig dem Parlament zuweist. Soll die Exekutive tätig werden können, muss sie dafür vom Parlament ermächtigt werden. Der materielle Gesetzesbegriff definiert sich hingegen über die qualitativen Merkmale, die in der Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK keine Rolle spielen. Dieser Unterschied korrespondiert mit dem Vorgehen des EGMR, im Rahmen des materiellen Gesetzesbegriffs allein die Rechtsstaatlichkeit als Auslegungshilfe heranzuziehen, für den formellen Gesetzesbegriff aber auch das Demokratieprinzip. Keinesfalls sollte also, wie im Schrifttum häufig angenommen,1486 der Organisationsvorbehalt des Art. 6 Abs. 1 EMRK mit dem materiellen Gesetzesbegriff gleichgesetzt werden. b) Übertragbarkeit des formellen Gesetzesvorbehalts auf andere Normen der EMRK Die Anforderungen an den formellen Gesetzesbegriff finden sich allein in Urteilen zu Art. 6 Abs. 1 EMRK. Möglicherweise können die Anforderungen an die Einrichtung des Gerichts allerdings auf andere Normen übertragen werden. Der Begriff des Gerichts taucht in der EMRK in weiteren Normen auf. Insbesondere enthält Art. 5 Abs. 4 EMRK das Recht auf eine gerichtliche Haftprüfung sowie Art. 2 ZP 7 das Recht auf Zugang zu einer zweiten gerichtlichen Instanz im Falle einer strafrechtlichen Verurteilung, jeweils ein im Vergleich zu Art. 6 Abs. 1 EMRK spezielles Recht auf Zugang zum Gericht. Damit die Bürger diese Rechte überhaupt ausüben können, müssen die Konventionsstaaten, konventionskonforme Gerichte einrichten – die Normen enthalten nicht nur subjektive Rechte, sondern auch Organisationsgarantien.1487 Nur Art. 6 Abs. 1 EMRK enthält die Konkretisierung, dass ein Gericht unabhängig und unparteilich und durch Gesetz eingerichtet sein muss.1488 Die Definition des Gerichts im Sinne des Art. 5 Abs. 4 EMRK und 1485

Anders Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 50–51, der von strengeren Vorgaben ausgeht. 1486 Siehe hierfür die Nachweise in Fn. 979. 1487 Zu Art. 6 EMRK: Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 49; Meyer-Ladewig /  Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 33; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 72; Grabenwarter / Struth, Justiz- und Verfahrensgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 6 Rn. 41; Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 355; Wojtyczek, ERPL 32 (2020), S. 185 (201). 1488 Siehe ausführlich zu den einzelnen Merkmalen des Gerichtsbegriffs unten ab S. 407.

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des Art. 2 ZP 7 entspricht jedoch, obwohl diese Präzisierung im Normtext fehlt, der des Art. 6 Abs. 1 EMRK.1489 Auch wenn Art. 5 Abs. 4 EMRK und Art. 2 ZP 7 also nicht explizit von dem „durch Gesetz eingerichteten Gericht“ sprechen, gilt der formelle Gesetzesvorbehalt auch für diese Normen. Wird jemand in Untersuchungs- oder Präventivhaft genommen, muss dieser gemäß Art. 5 Abs. 3 EMRK unverzüglich einem Richter oder einer gesetzlich zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben ermächtigten Person vorgeführt werden. Anders als im Fall der Art. 5 Abs. 4 EMRK und Art. 2 ZP bezieht sich der Gesetzesbegriff hier nicht (nur) auf das Gericht, sondern auch auf die richterlichen Befugnisse einer Amtsperson. Der Gesetzesbegriff spielte bislang in der Rechtsprechung zu Art. 5 Abs. 3 EMRK jedoch keine Rolle.1490 Somit liegt keine Aussage des EGMR darüber vor, ob eine Person zur Bestätigung der Untersuchungs- oder Präventivhaft durch ein formelles Gesetz ermächtigt werden muss. Es sprechen jedoch gute Argumente dafür, dass der formelle Gesetzesbegriff Anwendung findet.1491 Sowohl im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK als auch des Art. 5 Abs. 3 EMRK handelt es sich um Organisationsgarantien und damit um die Einrichtung hoheitlicher Institutionen. Deren gesetzliche Ausgestaltung ist maßgeblich dafür, dass die gesamte konventionsstaatliche Rechtsordnung der rule of law verpflichtet bleibt. Den materiellen Gesetzesbegriff entwickelte der EGMR in Fällen, in denen das Gesetz die Aufgabe hat, den sachlichen Gewährleistungsgehalt der Konventionsrechte auszugestalten oder deren Eingriffe zu rechtfertigen. Im Gegensatz zu den materiellen Ausgestaltungs- und Eingriffsvorbehalten geht es im Rahmen der Art. 5 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 1 EMRK um staatsstrukturelle Fragen. Darüber hinaus existiert im Rahmen des Art. 5 Abs. 3 EMRK das gleiche Schutzbedürfnis vor zu weitgehendem exekutivem und judikativem Ermessen wie im Fall des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Dies ist bereits daran zu erkennen, dass auch Amtspersonen mit richterlichen Befugnissen unabhängig von der Exekutive sein müssen.1492 Außerdem übernimmt die ermächtigte Amtsperson eine richterliche Aufgabe, sodass die Intention, dass die Judikative sich nicht selbst organisieren soll, auch im Fall des Art. 5 Abs. 3 EMRK überzeugt. 1489 Zu Art. 5 Abs. 4 EMRK: EGMR Nr. 58442/00, Lavents v Lettland, 28.11.2002, § 81; Nr. 27154/95, D. N. v Schweiz (GK), 29.03.2001, § 42; Nr. 28212/95, Benjamin und Wilson v Vereinigtes Königreich, 26.09.2002, § 33; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 90; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 5 Rn. 98. Zu Art. 2 ZP 7: Explanatory Report to the Protocol No. 7 (siehe Fn. 959); zum Gerichtsbegriff des Art. 2 ZP  7 auch EGMR Nr. 75101/01, Grecu v Rumänien, 30.11.2006, §§ 83–86; ­Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 993; Sinner, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 5; Grabenwarter / Struth, Justiz- und Verfahrensgrundrechte, in: E ­ hlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 6 Rn. 68. 1490 Siehe bereits oben ab S. 227. 1491 Anderer Ansicht Esser, Strafverfahrensrecht, S. 264, der auf den materiellen Gesetzesbegriff des Art. 8 Abs. 2 EMRK abstellt. 1492 Siehe hierzu ausführlich unten ab S. 394.

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Neben Gerichten und Amtspersonen mit richterlichen Befugnissen erwähnt die EMRK als weitere staatliche Stelle die gesetzgebende Körperschaft gemäß Art. 3 ZP. Die gesetzgebende Körperschaft muss allerdings nicht nur durch ein formelles Gesetz, sondern durch die Verfassung vorgesehen sein.1493 Auf Art. 3 ZP ist der formelle Gesetzesbegriff somit nicht übertragbar. Dies ist auch sinnvoll, weil die Parlamente ansonsten im Wege der einfachen Gesetzgebung sie betreffende grundlegende organisatorische Regeln ändern könnten, ohne die in der Regel strengeren Voraussetzungen einer Verfassungsänderung1494 zu beachten, welche gerade die Stabilität der Verfassungsordnung sicherstellen wollen. Schließlich erwähnt der EGMR in Art. 13 EMRK die innerstaatliche Beschwerdeinstanz. Rechtsprechung zur Frage, auf welcher rechtlichen Grundlage die Beschwerdestellen eingerichtet werden müssen, gibt es nicht. Anders als im Fall des Art. 5 Abs. 3 EMRK scheint jedoch Zurückhaltung geboten, den Gesetzesbegriff des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Art. 13 EMRK zu übertragen. Der Normtext des Art. 13 EMRK erwähnt keine gesetzliche Grundlage. Darüber hinaus muss die Beschwerdeinstanz zwar unabhängig und unparteilich ausgestaltet sein,1495 allerdings werden an diese Merkmale andere Maßstäbe als im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK angelegt. Auch in die Weisungshierarchie eingebundene Behörden können Beschwerdeinstanzen im Sinne des Art. 13 EMRK sein.1496 Die Schutzbedürftigkeit vor politischen Einflüssen ist im Rahmen des Art. 13 EMRK also nicht genauso immanent wie im Falle des Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 5 Abs. 3 EMRK. Zusammenfassend gilt der formelle Gesetzesvorbehalt nicht nur für Art. 6 Abs. 1 EMRK, sondern auch für Art. 5 Abs. 4 EMRK sowie Art. 2 ZP 7. Außerdem liegt eine Übertragung des formellen Gesetzesvorbehalts auf Art. 5 Abs. 3 EMRK, nicht aber auf Art. 13 EMRK nahe, wobei sich der EGMR bislang zu beiden Normen noch nicht geäußert hat. c) Einfallstor für institutionelle Vorgaben Durch die Guðmundur Andri Ástráðsson-Rechtsprechung und die Fortentwicklung in Reczkowicz v Polen, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen und Advance Pharma sp. z o.o v Polen ermöglicht der Gesetzesvorbehalt des Art. 6 Abs. 1 EMRK inzwischen die Prüfung, ob die richterlichen Ernennungsverfahren den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK entsprechen. Indem der EGMR im Rahmen 1493

Siehe hierzu bereits oben ab S. 196. Vgl. zur erhöhten Bestandsfestigkeit von Verfassungen Maurer, Staatsrecht I, § 1 Rn. 37; Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 2 Rn. 11. 1495 Siehe hierzu unten ab S. 404. 1496 EGMR Nr. 5947/72, Silver u. a. v Vereinigtes Königreich, 25.03.1983, § 116; Nr. 7819/77 und 7878/77, Campbell und Fell v Vereinigtes Königreich, 28.06.1984, § 127; Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  20 Rn.  63; Meyer-Ladewig /  Renger, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 13 Rn. 13. 1494

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der ersten Stufe des threshold tests nicht nur den Verstoß eines konkreten richterlichen Ernennungsverfahrens gegen das formelle Gesetz prüft, sondern auch, ob das formelle Gesetz selbst mit den verfassungs- und konventionsrechtlichen Vorgaben vereinbar ist, eröffnete sich der EGMR die Möglichkeit zur abstrakt-generellen Prüfung. Eine Verurteilung wie in den Fällen gegen Polen hat zur Folge, dass die Konventionsstaaten verpflichtet sind, generelle oder individuelle Maßnahmen zu ergreifen, die Konventionsrechtsverletzung zu beenden. Der EGMR hielt sich mit konkreten Anforderungen an die Umsetzung des Urteils zurück. Die allgemeinen Hinweise im Rahmen des Art. 46 EMRK lassen jedoch keinen Zweifel zu, dass Polen verpflichtet ist, das Ernennungsverfahren des Richterrates gesetzlich zu verändern: „It is inherent in the Court’s findings that the violation of the applicant’s rights originated in the amendments to Polish legislation which deprived the Polish judiciary of the right to elect judicial members of the NCJ and enabled the executive and the legislature to interfere directly or indirectly in the judicial appointment procedure, thus systematically compromising the legitimacy of a court composed of the judges so appointed. In this situation and in the interests of the rule of law and the principles of the separation of powers and the independence of the judiciary, a rapid remedial action on the part of the Polish State is required. 365. In that context, various options are open to the respondent State; however, it is an inescapable conclusion that the continued operation of the NCJ as constituted by the 2017 Amending Act and its involvement in the judicial appointments procedure perpetuates the systemic dysfunction as established above by the Court and may in the future result in potentially multiple violations of the right to an ‚independent and impartial tribunal established by law‘, thus leading to further aggravation of the rule of law crisis in Poland.“1497

Aktuell ist noch nicht ersichtlich, ob und wie die polnische Regierung das Urteil umsetzen wird. Ungeachtet etwaiger Umsetzungsschwierigkeiten zeigt sich an dieser Rechtsprechungslinie jedoch das Bestreben des EGMR, auf die Rechtsstaatskrisen in verschiedenen europäischen Ländern reagieren zu können. 6. Zwischenfazit Die Anforderungen an den Gesetzesbegriff gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK sind andere als an den materiellen Gesetzesbegriff. Der parlamentarische Gesetzgeber ist verantwortlich dafür, Rahmenregelungen für die Gerichtsorganisation zu verabschieden. Zur Konkretisierung ist eine Delegation an exekutive Organe möglich, solange der Delegationsakt auch die Ermessensgrenzen festlegt. Rechtsfortbildung durch die Judikative ist in kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen nur in gut begründeten Ausnahmefällen zulässig. Das common law hat der EGMR von dieser Voraussetzung ausgenommen. 1497

EGMR Nr. 1469/20, Advance Pharma sp. z o.o v Polen, 03.02.2022, §§ 364–365; knapper schon EGMR Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, § 368.

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Fehlt eine (ausreichend bestimmte) Rechtsgrundlage, wurde die Rechtsgrundlage nicht rechtmäßig angewendet oder widerspricht die formell-gesetzliche Grundlage höherrangigem innerstaatlichem oder Konventionsrecht, liegt hierin eine Verletzung des Rechts auf Zugang zum Gericht im Einzelfall. Wurden jedoch Regelungen zur Auswahl und Ernennung von Richtern verletzt, hat dies nicht nur Auswirkungen auf die einzelne Individualbeschwerde, sondern theoretisch auf alle Fälle, an denen der unter Verfahrensfehlern ernannte Richter beteiligt war. Die Entscheidungen des EGMR bekommen in diesem Sonderfall eine institutionelle Dimension, da das Ernennungsverfahren unabhängig vom Einzelfall Gegenstand einer Individualbeschwerde sein kann. Die Voraussetzungen des formellen Gesetzesvorbehalts des Art. 6 Abs. 1 EMRK, die auf Art. 5 Abs. 4 und Art. 2 ZP 7 und nach der hier vertretenen Ansicht auf Art. 5 Abs. 3 EMRK übertragen werden können, sind qualitativ andere, nicht strengere als die des materiellen Gesetzesvorbehalts. Die zwei Gesetzesbegriffe stehen in der Konventionsrechtsordnung alternativ nebeneinander.

IV. Fazit Der Gesetzesbegriff wird in vielen Normen in der EMRK erwähnt. Mit Ausnahme des Art. 6 Abs. 1 EMRK legt die Rechtsprechung einen materiellen Gesetzesbegriff zugrunde. Dies gilt jedenfalls für die Rechte aus Art. 8–11 Abs. 2, Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a)–f) EMRK, Art. 1 Abs. 1 und 2 ZP, Art. 2 Abs. 3 und 4 ZP sowie Art. 1 Abs. 2 ZP 7. Der EGMR setzt den Begriff des Gesetzes und der Rechtmäßigkeit gleich. Der materielle Gesetzesbegriff definiert sich vorrangig über die qualitativen Merkmale der Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit, nicht über den Normgeber. Eine Rückführbarkeit des Gesetzes auf eine parlamentarische Entscheidung lässt sich, anders als im deutschen Schrifttum oft vertreten, in der EGMR-Rechtsprechung nicht erkennen und auch nicht aus der EMRK ableiten. Der materielle Gesetzesbegriff gestaltet das Verhältnis einzelner innerstaatlicher hoheitlicher Organe zueinander nicht aus, da er die zur Gesetzgebung berechtigten Organe nicht begrenzt. Die EMRK verlangt lediglich, dass die nach der innerstaatlichen Rechtsordnung für die Rechtsanwendung zuständigen Organe sich an die abstrakt-generellen Gesetze halten, wie sie gemeinschaftlich von allen zuständigen Organen entwickelt und ausgelegt wurden. Der Gesetzesbegriff des Art. 6 Abs. 1 EMRK fällt aus der einheitlichen Definition heraus und fordert eine parlamentarische Entscheidung. Der Grund für diese Abweichung liegt in der unterschiedlichen Funktion des Gesetzes im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK, welches einen Organisationsvorbehalt darstellt und somit für die institutionelle Struktur der Konventionsstaaten von besonderer Bedeutung ist. Anders als der materielle Gesetzesbegriff gibt der formelle Organisationsvorbehalt des Art. 6 Abs. 1 EMRK also vor, dass das Parlament den gesetzlichen

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Rahmen für die Gerichtsbarkeit setzt, an den sich exekutive und judikative Organe halten müssen.

C. Schutz der Funktionsfähigkeit des Parlaments über den rechtlichen Status der Abgeordneten Die EMRK schützt subjektive Rechte von Personen, keine institutionellen Beziehungen. Der Schutz der parlamentarischen Funktionsfähigkeit und des parlamentarischen Prozesses ergibt sich somit nicht unmittelbar aus dem Gewährleistungsgehalt eines Konventionsrechts. Allerdings finden sich in der Rechtsprechung Urteile, in denen Abgeordnete ihre subjektiven Rechte auf Ausübung des Mandats gemäß Art. 3 ZP sowie auf Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 EMRK geltend machen. Die EMRK unterscheidet nicht zwischen amtsbezogenen Rechten und persönlichen Freiheitsrechten, daher schützen die Konventionsrechte Organwalter auch in ihrer hoheitlichen Tätigkeit, sofern der Schutzbereich eröffnet ist.1498 Diese konventionsrechtlichen Statusrechte sind ein Aspekt der personellen Gewaltenteilung. Darüber hinaus finden sich in der EGMR-Rechtsprechung weitere Anknüpfungspunkte, die den rechtlichen Status der Abgeordneten definieren und die parlamentarische Funktionsfähigkeit schützen. Im Rahmen des passiven Wahlrechts gemäß Art. 3 ZP wurde die Vereinbarkeit eines Mandats mit anderen (hoheitlichen) Tätigkeiten thematisiert. Die parlamentarische Immunität der Abgeordneten fungiert als legitimer Zweck zur Einschränkung des Rechts auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK. Und schließlich hat der EGMR in den letzten Jahren verstärkt den Grundsatz der parlamentarischen Autonomie im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung verschiedener Konventionsrechte ausgestaltet. An dieser Stelle nicht näher betrachtet werden die Urteile zu Art. 8 und Art. 10 EMRK, wonach Personen des öffentlichen Lebens, also auch Politiker, weitergehende Eingriffe in ihr Privatleben und schärfere Meinungsäußerungen hinnehmen müssen als unbekannte Personen.1499 Bei dieser Rechtsprechung geht es nicht um die Funktionsfähigkeit des Parlaments.

1498 Vgl. Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  25 Rn. 16. 1499 Siehe etwa EGMR Nr. 53678/00, Karhuvaara and Iltalehti v Finnland, 16.11.2004, §§ 42–55 bezogen auf eine finnische Abgeordnete und ihren Mann; Nr. 21277/05, Standard Verlags GmbH Nr. 2, 04.06.2009, §§ 45–56 bezogen auf den österreichischen Bundespräsidenten, seine Frau und einen hochrangigen Abgeordneten.

C. Schutz der Funktionsfähigkeit des Parlaments  

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I. Inkompatibilitäten und Unwählbarkeit Die Funktionsfähigkeit des Parlaments kann zuerst dadurch geschützt werden, dass bestimmte Personen keine Abgeordneten sein beziehungsweise sich nicht zur Wahl stellen dürfen. Unwählbarkeitsvorschriften verbieten Personen, sich zur Wahl zu stellen, wenn sie bestimmte Voraussetzungen nicht erfüllen. Inkompatibilitäten verhindern, dass Gewählte ihr Amt ausüben können, wenn sie gleichzeitig mit ihrer aktuellen hoheitlichen Tätigkeit ein anderes Amt oder eine andere Tätigkeit ausüben beziehungsweise vorher ausgeübt haben.1500 In der Konventionsrechtsordnung spielen Inkompatibilitäts- und Unwählbarkeitsvorschriften als Einschränkung des passiven Wahlrechts eine Rolle.1501 Der EGMR entschied beispielsweise über Wohnsitzerfordernisse, Sprachanforderungen oder den Ausschluss der Wählbarkeit wegen einer früheren Parteimitgliedschaft.1502 Die Konventionsstaaten verfügen über einen weiten Spielraum bei der Ausgestaltung des Status der Abgeordneten und deren Wählbarkeit.1503 „Though originating from a common concern – to ensure the independence of members of parliament, but also the electorate’s freedom of choice – the criteria [governing the status of parliamentarians] vary according to the historical and political factors peculiar to each State.“1504

Regelungen, die in einem Staat zulässig sind, können in einem anderen Staat konventionswidrig sein.1505 In jedem Fall kann die Erhaltung der parlamentarischen 1500 So die Unterscheidung der Venedig-Kommission in CDL-AD(2012)027, Report on Democracy, Limitation of Mandates and Incompatibility of Political Functions, angenommen am 14.–15.12.2012, §§ 84, 91–92; vgl. auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 263–269. Eine engere Inkompatibilitätsdefinition bei Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 23 Rn. 120: die „Unvereinbarkeit der Mitgliedschaft in einer gesetzgebenden Körperschaft mit der Besetzung eines anderen öffentlichen Amtes“. 1501 Grundlegend zur Einschränkbarkeit des Wahlrechts oben ab S. 139 und 145. 1502 Siehe für einen kompakten Überblick über die allgemeine Rechtsprechung zu Unwählbarkeits-Einschränkungen Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 267. Siehe außerdem für einen knappen Überblick verschiedener Einschränkungen des passiven Wahlrechts Rainey / McCormick / Ovey, Jacobs, White, and Ovey, S. 621–627; O’Boyle, HRLJ 2009, S. 1 (6–8); Natale, RTDH 68 (2006), S. 939 (963 ff.). 1503 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 267. 1504 EGMR Nr. 18747/91 u. a., Gitonas u. a. v Griechenland, 01.07.1997, § 39; Nr. 55066/00 und 55638/00, Russian Conservative Party of Entrepreneurs u. a. v Russland, 11.01.2007, § 49; Nr. 17864/04 und 21396/04, Krasnov und Skuratov v Russland, 19.07.2007, § 41; Nr. 38978/03, Sarukhanyan v Armenien, 27.05.2008, § 39; Nr. 48621/07, Dicle und Sadak v Türkei, 16.06.2015, § 79. 1505 EGMR Nr. 18747/91 u. a., Gitonas u. a. v Griechenland, 01.07.1997, § 39; Nr. 47135/99, Briķe v Lettland (Zul.), 29.06.2000; Nr. 46726/99, Podkolzina v Lettland, 09.04.2002, § 33; Nr. 55066/00 und 55638/00, Russian Conservative Party of Entrepreneurs u. a. v Russland, 11.01.2007, § 49; Nr. 17864/04 und 21396/04, Krasnov und Skuratov v Russland, 19.07.2007, § 41; Nr. 38978/03, Sarukhanyan v Armenien, 27.05.2008, § 39; Nr. 37700/05, Seyidzade v Aserbaidschan, 03.12.2009, § 29; Nr. 48621/07, Dicle und Sadak v Türkei, 16.06.2015, § 79; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 23 Rn. 121.

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Funktionsfähigkeit als legitimer Zweck eine Einschränkung des Wahlrechts aus Art. 3 ZP rechtfertigen. „As regards the legitimate aim, the Court reiterates that each State has a legitimate interest in ensuring the normal functioning of its own institutional system. That applies all the more to the national parliament, which is vested with legislative power and plays a primordial role in a democratic State […].“1506

Für die Analyse von Anforderungen an die Gewaltenteilung sind solche Urteile relevant, in denen der EGMR über die Vereinbarkeit zweier verschiedener hoheitlicher Tätigkeiten entschieden hat. Fälle, in denen es um die Inkompatibilität eines Mandats mit einer gleichzeitigen anderen hoheitlichen Tätigkeit geht, sind nicht ersichtlich. Es finden sich jedoch einige Urteile, in denen sich Kandidaten nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen zur Wahl stellen durften, weil sie zuvor eine andere hoheitliche Tätigkeit geübt hatten. Die Entscheidungen Gitonas v Griechenland, Ahmed v Vereinigtes Königreich, Briķe v Lettland und Barski und Święczkowski v Polen lassen auch unter Einbeziehung der jeweiligen nationalen wahlrechtlichen Besonderheiten eine einheitliche Rechtsprechungslinie erkennen. In Gitonas v Griechenland1507 und Ahmed v Vereinigtes Königreich1508 durften sich Beamte oder hohe Bedienstete der Gemeindeverwaltung nicht zur Wahl stellen.1509 Während in der Sache Gitonas die Unwählbarkeit als zwingende Rechtsfolge eintrat, wenn jemand in den letzten drei Jahren mindestens drei Monate in der Exekutive seines Wahlkreises tätig war,1510 konnten im Fall Ahmed die potenziellen Kandidaten ihre Wählbarkeit dadurch wiederherstellen, dass sie von dem exekutiven Posten zurücktraten.1511 Die Beweggründe, die Unabhängigkeit der Abgeordneten1512 beziehungsweise deren politische Unparteilichkeit (political impartiality)1513 sicherstellen zu wollen, akzeptierte der EGMR als legitime Ziele. „Such disqualification, for which equivalent provisions exist in several member States of the Council of Europe, serves  a dual purpose that is essential for the proper functioning and

1506 EGMR Nr. 17864/04 und 21396/04, Krasnov und Skuratov v Russland, 19.07.2007, § 44; Nr. 55066/00 und 55638/00, Russian Conservative Party of Entrepreneurs u. a. v Russland, 11.01.2007, § 62; Nr. 38978/03, Sarukhanyan v Armenien, 27.05.2008, § 42. Knapper auch schon EGMR Nr. 46726/99, Podkolzina v Lettland, 09.04.2002, § 34; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 267. 1507 Hierzu Natale, RTDH 68 (2006), S. 939 (969–970); Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 267–269. 1508 Hierzu Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  25 Rn. 90; Natale, RTDH 68 (2006), S. 939 (944). 1509 EGMR Nr. 18747/91 u. a., Gitonas u. a. v Griechenland, 01.07.1997, § 40; Nr. 22954/93, Ahmed u. a. v Vereinigtes Königreich, 02.09.1998, §§ 13–22. 1510 EGMR Nr. 18747/91 u. a., Gitonas u. a. v Griechenland, 01.07.1997, § 40. 1511 EGMR Nr. 22954/93, Ahmed u. a. v Vereinigtes Königreich, 02.09.1998, § 75. 1512 EGMR Nr. 18747/91 u. a., Gitonas u. a. v Griechenland, 01.07.1997, § 39. 1513 EGMR Nr. 22954/93, Ahmed u. a. v Vereinigtes Königreich, 02.09.1998, § 75.

C. Schutz der Funktionsfähigkeit des Parlaments  

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upholding of democratic regimes, namely ensuring that candidates of different political persuasions enjoy equal means of influence (since holders of public office may on occasion have an unfair advantage over other candidates) and protecting the electorate from pressure from such officials who, because of their position, are called upon to take many  – and sometimes important – decisions and enjoy substantial prestige in the eyes of the ordinary citizen, whose choice of candidate might be influenced.“1514

In beiden Fällen lag keine Verletzung von Art. 3 ZP vor. In der Sache Briķe v Lettland musste ein Richter, welcher sich zur Wahl stellen wollte, seinen Posten am Gericht aufgeben. Der EGMR wies die Beschwerde ab, weil sowohl die Unabhängigkeit der öffentlichen Gewalt (l’indépendance de la fonction publique) als auch die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Neutralität von Richtern die Einschränkung des passiven Wahlrechts rechtfertigten.1515 Auch die Beschwerde Barski und Święczkowski v Polen, bei der Kandidaten ihr Mandat nicht antreten durften, ohne gleichzeitig ihren Status als Staatsanwalt im Ruhestand (prosecutors in inactive service)  aufzugeben, war offensichtlich unbegründet. Als legitimen Zweck akzeptierte der EGMR die politische Neutralität des öffentlichen Dienstes (political neutrality / impartiality of the public service) und das transparente Handeln des Parlaments frei von Interessenkonflikten (transparent operation of parliament free from the conflict of interest).1516 Auch in Briķe v Lettland und Barski und Święczkowski v Polen war die Eingriffsintensität gemindert, weil die Beschwerdeführer selbst entscheiden konnten, von ihren früheren Ämtern zurückzutreten, um sich zur Wahl zu stellen beziehungsweise ihr Abgeordnetenmandat anzutreten.1517 Während der EGMR in Fällen der Unwählbarkeit, die in der Person des Kandidaten begründet war, vorrangig die Funktionsfähigkeit des Parlaments als legitimen Eingriffszweck akzeptierte, ging es in den Fällen, in denen Kandidaten beziehungsweise Abgeordnete nicht gleichzeitig ein weiteres hoheitliches Amt ausüben durften, darüber hinaus um den Schutz der jeweils anderen Gewalt, also der Unabhängigkeit der Justiz oder der Neutralität der Verwaltung.

1514

EGMR Nr. 18747/91 u. a., Gitonas u. a. v Griechenland, 01.07.1997, § 40. In EGMR Nr. 22954/93, Ahmed u. a. v Vereinigtes Königreich, 02.09.1998, § 75 findet sich keine ausführliche Begründung. 1515 EGMR Nr. 47135/99, Briķe v Lettland (Zul.), 29.06.2000. Hierzu Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 139–140 Fn. 549, welche hierin keine Frage der Gewaltenteilung im strengen Sinne, sondern einer Trennung der richterlichen von der politischen Sphäre sieht; Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  25 Rn.  90: „Unabhängigkeit des öffentlichen Dienstes“. 1516 EGMR Nr. 13523/12 und 14030/12, Barski und Święczkowski v Polen (Zul.), 02.02.2016, §§ 40–48. 1517 EGMR Nr. 47135/99, Briķe v Lettland (Zul.), 29.06.2000; Nr. 13523/12 und 14030/12, Barski und Święczkowski v Polen (Zul.), 02.02.2016, § 42.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

In Rekvényi v Ungarn1518 prüfte die Große Kammer das Verbot für Polizisten, einer politischen Partei beizutreten, auch im Rahmen von Art. 10 Abs. 1 EMRK und begründete ausführlich, warum die politische Neutralität der Verwaltung als Teil der Exekutive schützenswert ist. „In the present case the obligation imposed on certain categories of public officials including police officers to refrain from political activities is intended to depoliticise the services concerned and thereby to contribute to the consolidation and maintenance of pluralistic democracy in the country. […] Police officers are invested with coercive powers to regulate the conduct of citizens, in some countries being authorised to carry arms in the discharge of their duties. Ultimately the police force is at the service of the State. Members of the public are therefore entitled to expect that in their dealings with the police they are confronted with politically neutral officers who are detached from the political fray […]. In the Court’s view, the desire to ensure that the crucial role of the police in society is not compromised through the corrosion of the political neutrality of its officers is one that is compatible with democratic principles.“1519

Insgesamt zeigen diese Urteile, dass nicht nur die parlamentarische Funktionsfähigkeit, sondern auch die Funktionsfähigkeit der anderen Gewalten schützenswert ist. Eine Konventionsverletzung erkannte der EGMR in den Entscheidungen Ādamsons v Lettland, wo es um die Wählbarkeit eines ehemaligen Grenzbeamten im Dienste des sowjetischen KGB ging.1520 Die Inkompatibilitätsvorschrift war so weit formuliert, dass nicht für alle von dem Tatbestand erfassten Personen tatsächlich eine Rechtfertigung vorlag, sie von der Wahl auszuschließen. Die individualisierte Prüfung des EGMR ergab, dass der Beschwerdeführer sich nie feindlich gegenüber der wiedererlangten Unabhängigkeit Lettlands verhalten hatte und dass das Verbot, sich zur Wahl zur stellen, erst 2002 erging, nachdem er bereits zehn Jahre wichtige Posten im Militär und in der Regierung übernommen hatte und hierdurch seine Loyalität zum lettischen Staat beweisen konnte.1521 In Paksas v Litauen lag eine Konventionsverletzung vor, weil dem aus dem Amt enthobenen ehemaligen Staatspräsidenten die Wählbarkeit auf Lebenszeit aberkannt wurde. Der EGMR stellte in seine Abwägung ein, dass der Beschwerdeführer sein passives Wahlrecht nicht wiedererlangen konnte und dass dieser Ausschluss, obwohl die Verfehlungen ernster Natur waren, nicht notwendig war,

1518

Dieses Urteil wurde vom EGMR als Referenz im Rahmen einer Prüfung des passiven Wahlrechts gemäß Art. 3 ZP herangezogen, EGMR Nr. 58278/00, Ždanoka v Lettland (GK), 16.03.2006, §§ 112–113. EGMR Nr. 25390/94, Rekvényi v Ungarn (GK), 20.05.1999, § 41 selbst stützte sich auf die Entscheidung Ahmed v Vereinigtes Königreich. Die wechselseitigen Verweise illustrieren, dass der EGMR in allen Fällen die gleichen Erwägungen anstellte. 1519 EGMR Nr. 25390/94, Rekvényi v Ungarn (GK), 20.05.1999, § 41. 1520 EGMR Nr. 3669/03, Ādamsons v Lettland, 24.06.2008, §§ 7–15, 132; Nr. 34932/04, ­Paksas v Litauen, 06.01.2011, §§ 30–36, 112. 1521 EGMR Nr. 3669/03, Ādamsons v Lettland, 24.06.2008, §§ 125–132.

C. Schutz der Funktionsfähigkeit des Parlaments  

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um die demokratische Ordnung Litauens aufrechtzuerhalten. Außerdem war die Rechtsgrundlage für den Wahlrechtsausschluss erst erlassen worden, nachdem der Beschwerdeführer aus dem Amt enthoben worden war, und somit allein mit Blick auf diesen Einzelfall.1522 Der EGMR verlangt also, dass die gesetzlichen Ausschlussregelungen verhältnismäßig und weder in zeitlicher noch in persönlicher Hinsicht zu pauschal formuliert sind. Einerseits muss die Gruppe der ausgeschlossenen Personen eng genug definiert sein, dass in jedem Fall der legitime Zweck einschlägig ist,1523 andererseits sind die Regelungen eher verhältnismäßig, wenn die Beschwerdeführer die Wählbarkeitsvoraussetzungen beeinflussen können, etwa indem sie durch Rücktritt von ihrem früheren Amt die zeitliche Überschneidung der Ämter beenden können.1524 Besteht aus historischen Gründen in neuen Demokratien ein Interesse daran, bestimmte (ehemalige) Amtsträger oder Parteimitglieder von einer Abgeordnetentätigkeit auszuschließen, ist dies für eine Übergangszeit zulässig; allerdings muss regelmäßig geprüft werden, ob der Ausschlussgrund nach wie vor besteht.1525 Für die personelle Gewaltenteilung bedeutet diese Rechtsprechung, dass die EMRK keine Unvereinbarkeit bestimmter Ämter mit dem Abgeordnetenmandat oder der Kandidatur vorgibt, solche Regelungen in der nationalen Ordnung aber zulässt.1526 Regelungen zur Inkompatibilität waren bislang nicht Gegenstand von EGMR-Urteilen.1527 Die bisherigen Urteile knüpften alle an der Wählbarkeit an und betrafen somit den Zeitpunkt, in dem sich die Kandidaten zur Wahl stellen wollten. Lag der Grund für das Verbot der Kandidatur darin, dass die Kandidaten im Vorhinein eine andere hoheitliche Tätigkeit ausübten, dann erkannte der EGMR nicht allein die Funktionsfähigkeit des Parlaments, sondern auch die gerichtliche Unabhängigkeit und die Unabhängigkeit des öffentlichen Dienstes als legitimen Zweck an. Je nach Sachverhaltskonstellation kann jede der drei Gewalten schutzbedürftig in Bezug auf unzulässige externe Einflüsse sein. Der EGMR verlässt sich hierbei auf die innerstaatliche Einschätzung. Aus der Rechtsprechung ist nicht ersichtlich, dass eine Gewalt stärker vor fremdem Einfluss geschützt werden muss als andere.

1522

Nr. 34932/04, Paksas v Litauen (GK), 06.01.2011, §§ 30–36, 103–112. Siehe zu Paksas v Litauen O’Boyle, HRLJ 30 (2009–2010), S. 1 (8). 1523 Anders etwa bei EGMR Nr. 3669/03, Ādamsons v Lettland, 24.06.2008, § 125. 1524 EGMR Nr. 47135/99, Briķe v Lettland (Zul.), 29.06.2000; Nr. 13523/12 und 14030/12, Barski und Święczkowski v Polen (Zul.), 02.02.2016, § 42. Im Gegensatz dazu EGMR Nr. 34932/04, Paksas v Litauen (GK), 06.01.2011, § 103. 1525 EGMR Nr. 3669/03, Ādamsons v Lettland, 24.06.2008, § 131. 1526 Ebenso Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 266 m. w. N. ins französische Schrifttum. Zusammenfassend zu den einzelnen Fallgruppen Meyer-Ladewig / Nettesheim, in: Meyer-­ Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  3 ZP Rn. 23. 1527 In EGMR Nr. 33554/03, Lykourezos v Griechenland, 15.06.2006 ging es nicht um die Vereinbarkeit mit einer hoheitlichen, sondern einer anwaltlichen Tätigkeit. Außerdem war das rechtliche Problem der Zeitpunkt des Inkrafttretens der neuen Regelung. Siehe hierzu unten ab S. 339.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

II. Recht, das Mandat bis zum Ende der Amtszeit auszuüben, gemäß Art. 3 ZP Art. 3 ZP schützt – als Annex des passiven Wahlrechts1528 – die Ausübung des Mandats.1529 „[O]nce the wishes of the people have been freely and democratically expressed, no subsequent amendment to the organisation of the electoral system may call that choice into question, except in the presence of compelling grounds for the democratic order.“1530

Das Mandat ist für die Dauer der vor der Wahl vorgesehenen Amtszeit geschützt. Wenn sich ein gewählter Kandidat nach der Wahl weigert, einen Treueeid gegenüber der britischen Krone zu schwören, um den Sitz im Parlament einnehmen zu dürfen sowie die Leistungen für Abgeordnete in Anspruch zu nehmen, dann ist die Beschwerde wegen einer Verletzung von Art. 3 ZP offensichtlich unbegründet, wenn die Verpflichtung zum Treueeid bereits vor der Wahl feststand.1531 1. Sadak u. a. v Türkei Nr. 2: Mandatsverlust nach Parteiverbot Mehrere türkische Beschwerdeführer verloren ihr Abgeordnetenmandat, nachdem ihre Partei verboten worden war, weil diese nach Ansicht des nationalen Gerichts gegen die Grundwerte der Verfassung verstieß. Während der Mandatsverlust nach der Rechtslage in der Sache Sadak v Türkei noch eine automatische Rechtsfolge des Parteiverbots war,1532 änderte die Türkei anschließend ihre Verfassung, sodass der Mandatsverlust separat angeordnet werden konnte, wenn bestimmte 1528

EGMR Nr. 25144/94 u. a., Sadak u. a. v Türkei Nr. 2, 11. 06. 2002, § 33 (once elected); Nr. 33554/03, Lykourezos v Griechenland, 15.06.2006, § 50; Nr. 48555/10 und 48377/10, Riza u. a. v Bulgarien, 13.10.2015, § 141; O’Boyle, HRLJ 30 (2009–2010), S. 1 (6); Natale, RTDH 68 (2006), S. 939 (969–971). 1529 EGMR Nr. 25144/94 u. a., Sadak u. a. v Türkei Nr. 2, 11. 06. 2002, § 33; Nr. 33554/03, ­Lykourezos v Griechenland, 15.06.2006, § 50; Nr. 71907/01, Kavakçı v Türkei, 05.04.2007, § 41; Nr. 15394/02, Ilicak v Türkei, 05.04.2007, § 30; Nr. 39424/02, Kovach v Ukraine, 07.02.2008, § 48; Nr. 27863/05, 28422/05 und 28028/05, Paschalidis, Koutmeridis und Zaharakis v Griechenland, 10.04.2008, § 25; Nr. 4517/04 u. a., Kılıçgedik u. a. v Türkei, 14.12.2010, § 46; Nr. 48555/10 und 48377/10, Riza u. a. v Bulgarien, 13.10.2015, § 141; Nr. 3840/10 u. a., Parti pour une société démocratique (DTP) u. a. v Türkei, 12.01.2016, § 118; Nr. 41683/06, Paunović und Milivojević v Serbien, 24.05.2016, § 58; Nr. 58302/10, G. K. v Belgien, 21.05.2019, § 50; Meyer-Ladewig / Nettesheim, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  3 ZP Rn. 26. 1530 EGMR Nr. 33554/03, Lykourezos v Griechenland, 15.06.2006, § 52; Nr. 26733/02, Sobacı v Türkei, 29.11.2007, § 26; Nr. 71907/01, Kavakçı v Türkei, 05.04.2007, § 41; Nr. 3840/10 u. a., Parti pour une société démocratique (DTP) u. a. v Türkei, 12.01.2016, § 120. 1531 EGMR Nr. 39511/98, McGuinness v Vereinigtes Königreich (Zul.), 08.06.1999. 1532 EGMR Nr. 25144/94 u. a., Sadak u. a. v Türkei Nr. 2, 11.06.2002, §§ 35–40; zu diesem Urteil Rainey / McCormick / Ovey, Jacobs, White, and Ovey, S. 622; O’Boyle, HRLJ 30 ­(2009–2010), S.  1 (6); Natale, RTDH 68 (2006), S. 939 (970–971).

C. Schutz der Funktionsfähigkeit des Parlaments  

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Voraussetzungen vorlagen.1533 Diese Voraussetzungen waren jedoch so weit formuliert, dass sie nicht danach differenzierten, ob beziehungsweise wie sehr sich die Abgeordneten selbst verfassungsfeindlich verhalten hatten. Weil die Norm inkonsistent angewendet wurde und wegen der besonderen Schwere des Eingriffs lag in allen Fällen eine Konventionsverletzung vor.1534 Die Verfassungsänderung verhinderte zukünftige Verurteilungen durch den EGMR also nicht. Denkt man die Argumentation des EGMR weiter, könnte jedoch eine Rechtsgrundlage konventionskonform sein, die den Mandatsverlust für Abgeordnete ermöglicht, die die Verfassungsfeindlichkeit ihrer Partei durch ihre Handlungen oder Äußerungen maßgeblich mitverantworten. 2. Lykourezos v Griechenland und Paschalidis u. a. v Griechenland: Nachträgliche Änderungen der rechtlichen Grundlagen des Mandatsverhältnisses In der Sache Lykourezos v Griechenland wurde während der Legislaturperiode die Rechtslage so geändert, dass eine mit der Abgeordnetentätigkeit parallele Ausübung eines Berufs generell verboten wurde. Der Beschwerdeführer verlor daraufhin sein Abgeordnetenmandat.1535 In Paschalidis v Griechenland war die Auszählung des Wahlergebnisses unmittelbar nach der Wahl umstritten. Im anschließenden Gerichtsverfahren änderte das Oberste Gericht seine Rechtsprechung zur Einbeziehung der abgegebenen Blankostimmzettel, wodurch die Beschwerdeführer keinen Sitz im Parlament erhielten, welchen sie nach der ursprünglichen Zählweise jedoch erhalten hätten. Dieses Urteil wirkte sich nur in dem einen Wahlkreis aus, in dem die Streitigkeit entstanden war. In allen anderen Wahlkreisen wurde auf die ursprüngliche Art und Weise ausgezählt.1536 In beiden Fällen konnten Abgeordnete ihr Mandat, welches ihnen nach der ursprünglichen Rechtslage zustand, nicht antreten beziehungsweise fortführen.

1533

EGMR Nr. 71907/01, Kavakçı v Türkei, 05.04.2007, § 44; Nr. 15394/02, Ilicak v Türkei, 05.04.2007, § 34; Nr. 26733/02, Sobacı v Türkei, 29.11.2007, § 30; Nr. 3840/10 u. a., Parti pour une société démocratique (DTP) u. a. v Türkei, 12.01.2016, § 124. 1534 EGMR Nr. 25144/94 u. a., Sadak u. a. v Türkei Nr. 2, 11.06.2002, §§ 39–40; Nr. 15394/02, Ilicak v Türkei, 05.04.2007, §§ 34–37; Nr. 71907/01, Kavakçı v Türkei, 05.04.2007, §§ 44–47; Nr. 26733/02, Sobacı v Türkei, 29.11.2007, §§ 30–33; Nr. 3840/10 u. a., Parti pour une société démocratique (DTP) u. a. v Türkei, 12.01.2016, §§ 126–127. 1535 EGMR Nr. 33554/03, Lykourezos v Griechenland, 15.06.2006, §§ 9–13. Hierzu Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 264–266 (allerdings unter dem Stichwort der Inkompatibilität des Abgeordnetenmandats mit anderen Tätigkeiten); O’Boyle, HRLJ 30 (2009–2010), S. 1  (6); Natale, RTDH 68 (2006), S. 939 (971), welche den Fall als rückwirkende Anwendung der geltenden Wahlgesetze einordnet; ebenso Golubok, NQHR 2009, S. 361 (373). 1536 EGMR Nr. 27863/05, 28422/05 und 28028/05, Paschalidis, Koutmeridis und Zaharakis v Griechenland, 10.04.2008, §§ 31, 34.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

In Lykourezos v Griechenland bezog der EGMR in seine Abwägung nicht nur die Erwartungen der Abgeordneten, sondern auch der Wähler ein. „[T]he Court cannot overlook the fact that the applicant was elected in conditions which were not open to criticism, that is, in accordance with the electoral system and Constitution as in force at the material time. Neither the applicant, as candidate, nor his electors could have imagined that the former’s election would be called into question and held to be flawed while his term of office was still in progress on account of a disqualification arising from the parallel exercise of a professional activity.“1537

Zwingende Gründe der demokratischen Ordnung können jedoch ausnahmsweise einen Rechtfertigungsgrund darstellen.1538 Wann ein solch zwingender Grund vorliegen könnte, blieb in dieser Einzelfallentscheidung offen. Die berechtigten Erwartungen der Wähler sowie die Rechtmäßigkeit der ursprünglichen Wahl waren auch in Paschalidis v Griechenland ausschlaggebend. Daneben führte der EGMR auch die Gleichbehandlung der Wähler an, welche im konkreten Fall durch die abweichende Zählung der Stimmen in einem Wahlkreis nicht mehr gewährleistet war.1539 Durch die Argumentation mit dem Wählerwillen rückte der EGMR beide Fälle in einen institutionellen Kontext. Einerseits betonte der Gerichtshof die Rolle der Abgeordneten, den Wählerwillen zu repräsentieren. Andererseits wurden die Abgeordneten, die vor dem EGMR ihr eigenes subjektives Recht geltend machten, zu Anwälten eines funktionierenden demokratischen Wahlsystems, in dem der Wählerwille auch nach der Wahl Beachtung findet. 3. Selahattin Demirtaş v Türkei Nr. 2: Untersuchungshaft eines Abgeordneten In Selahattin Demirtaş v Türkei Nr. 2 untersuchte der EGMR erstmals die Verletzung eines Rechts, das Mandat auszuüben, gemäß Art. 3 ZP, weil ein Abgeordneter der Opposition wegen Äußerungen im Rahmen seiner parlamentarischen Tätigkeit in Untersuchungshaft saß und somit nicht am parlamentarischen Prozess teilnehmen konnte.1540 Im Rahmen der ebenfalls geprüften Art. 5 Abs. 1, 3 und 4 EMRK legte der EGMR keine besonderen Maßstäbe wegen des AbgeordnetenStatus des Beschwerdeführers an. Die während der Legislaturperiode über eineinhalb Jahre andauernde Untersuchungshaft des Beschwerdeführers war ein Eingriff in das Recht, sein Mandat 1537 EGMR Nr. 33554/03, Lykourezos v Griechenland, 15.06.2006, § 54 (Hervorhebung durch die Verfasserin). 1538 EGMR Nr. 33554/03, Lykourezos v Griechenland, 15.06.2006, § 57. 1539 EGMR 27863/05, 28422/05 und 28028/05, Paschalidis, Koutmeridis und Zaharakis v Griechenland, 10.04.2008, §§ 33–34. 1540 EGMR Nr. 14305/17, Selahattin Demirtaş v Türkei Nr. 2 (GK), 22.12.2020, §§ 389, 394.

C. Schutz der Funktionsfähigkeit des Parlaments  

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auszuüben.1541 In der Rechtfertigung bezog der Gerichtshof die Wertungen der Meinungsfreiheit aus Art. 10 EMRK mit ein, die Meinungsäußerungen von Abgeordneten im parlamentarischen Prozess besonders zu schützen.1542 „[T]he detention of an individual constitutes such a serious interference with the exercise of fundamental rights that it is only justified where other, less severe measures have been considered and found to be insufficient to safeguard the individual or public interest which might require that the person concerned be detained […]. Indeed, pre-trial detention is  a temporary measure and its duration must be as short as possible. Those considerations apply a fortiori to the detention of a member of parliament. In a democracy, Parliament is an essential forum for political debate, of which the performance of parliamentary duties forms part […]. While serving their term of office, members of parliament represent their electorate, draw attention to their concerns and defend their interests.“1543

Die Konventionsverletzung stützte der EGMR schließlich auf mehrere Argumente: Die nationalen Gerichte prüften nicht, ob die dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Taten von der parlamentarischen Immunität umfasst waren, sie begründeten ihre Entscheidung nicht, zogen keine milderen Mittel in Betracht, nahmen keine Abwägung aller widerstreitenden Interessen vor und bezogen hierbei insbesondere nicht ein, dass der Beschwerdeführer nicht nur Abgeordneter, sondern auch einer der führenden Oppositionspolitiker war. Die Tatsache, dass der Beschwerdeführer während der gesamten Zeit in Untersuchungshaft formal seinen Status als Abgeordneter behielt und auch weiter seine Bezüge erhielt, war für den EGMR unerheblich, weil er seine parlamentarische Tätigkeit nicht ausüben konnte.1544 Die vor allem prozedurale Argumentationsweise ersparte dem Gerichtshof, sich ausführlicher zu inhaltlichen Abwägungsaspekten äußern zu müssen. Gleichwohl wurde deutlich, dass das parlamentarische Mandat nicht allein die Abgeordneten schützt, welche die Rechtsverletzung geltend machen können, sondern die Funktionsfähigkeit des Parlaments, den demokratischen Prozess und den Wählerwillen. 4. Zulässigkeit von und Anforderungen an Rücktrittserklärungen Schließlich finden sich in der EGMR-Rechtsprechung Fallkonstellationen, in denen das Recht, das Mandat auszuüben betroffen war, weil ein Abgeordneter – freiwillig oder unfreiwillig – seinen Rücktritt erklärte. In der Sache Paunović und Milivojević v Serbien mussten die Beschwerdeführer bereits vor der Wahl undatierte Rücktrittsschreiben bei ihrer Partei hinterlegen. 1541

EGMR Nr. 14305/17, Selahattin Demirtaş v Türkei Nr. 2 (GK), 22.12.2020, § 391. EGMR Nr. 14305/17, Selahattin Demirtaş v Türkei Nr. 2 (GK), 22.12.2020, §§ 392, 394; ausführlich zur Meinungsfreiheit von Abgeordneten ab S. 359. 1543 EGMR Nr. 14305/17, Selahattin Demirtaş v Türkei Nr. 2 (GK), 22.12.2020, § 393. 1544 EGMR Nr. 14305/17, Selahattin Demirtaş v Türkei Nr. 2 (GK), 22.12.2020, §§ 394–397. 1542

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Obwohl sie diesen Rücktrittsschreiben nach der Wahl öffentlich widersprachen, wurden sie, nachdem die Partei die Rücktrittschreiben eingereicht hatte, durch neue Abgeordnete ersetzt.1545 Der Gerichtshof stellte fest, dass die nationalen Rechtsvorschriften, welche vorsahen, dass ein Abgeordneter sein Rücktrittsschreiben persönlich dem Gerichtspräsidenten übergeben musste, nicht eingehalten worden waren. Darüber hinaus folgte der EGMR der Entscheidung des nationalen Verfassungsgerichts, dass das Mandat dem Abgeordneten persönlich und nicht seiner Partei zustand. Daher lag eine Verletzung des Art. 3 ZP vor.1546 In der Zulässigkeitsentscheidung Occhetto v Italien wollte der Beschwerdeführer, ein Abgeordneter im Europäischen Parlament, seinen eindeutigen und wirksam eingereichten Rücktritt wieder zurücknehmen, weil er seine Meinung geändert hatte. Zu diesem Zeitpunkt war sein Nachfolger jedoch bereits verkündet worden. Der EGMR erörterte, dass Kandidaten im Falle einer Wahl nicht verpflichtet sind, ihren Sitz im Parlament anzunehmen und dass auch ein Rücktritt aus persönlichen oder politischen Gründen nicht gegen das allgemeine Wahlrecht verstößt.1547 Die Entscheidung, einen Rücktritt vom Rücktritt nicht zuzulassen, wurde aber vom legitimen Zweck der Rechtssicherheit getragen. Wenn ein ehemaliger Abgeordneter seinen Verzicht jederzeit widerrufen könne, bestünde stets Unsicherheit über die Zusammensetzung der gesetzgebenden Körperschaft.1548 Daher war die Beschwerde offensichtlich unbegründet. Auch dem Urteil G. K. v Belgien lag die Rücknahme eines Rücktrittsgesuchs zugrunde. Anders als im Fall Occhetto v Italien wurde die Beschwerdeführerin jedoch von Mitgliedern ihrer Partei zur Niederlegung ihres Mandats gezwungen.1549 Die Entscheidung des italienischen Senats, den Rücktritt anzunehmen, stellte eine Verletzung des Art. 3 ZP dar. Entsprechend dem Legalitätsprinzip und der Vorhersehbarkeitsrechtsprechung verlangte der EGMR ausreichend bestimmte Normen, die das Verfahren im Falle einer Rücknahme des Rücktritts regelten. Es muss sichergestellt werden, dass die betroffenen Personen sich äußern können und dass willkürliche Entscheidungen der zuständigen Stelle verhindert werden. Im konkreten Fall entsprach das Verfahren auch deswegen nicht den konventionsrecht­lichen Anforderungen, weil zwei Abgeordnete, welche die Beschwerdeführerin zum Rücktritt gezwungen hatten, an der Entscheidung des Senats beteiligt waren.1550 Die Urteile zeigen, dass vor allem die verfahrensrechtlichen Ableitungen des Art. 3 ZP die Abgeordneten davor schützen, unfreiwillig zurücktreten zu müssen. Der Schutz vor dem Mandatsverlust führt auch dazu, dass die Abgeordneten bei einzelnen Entscheidungen frei und ohne Sorge um unmittelbare persönliche Kon 1545

EGMR Nr. 41683/06, Paunović und Milivojević v Serbien, 24.05.2016, §§ 8–14. EGMR Nr. 41683/06, Paunović und Milivojević v Serbien, 24.05.2016, §§ 63–66. 1547 EGMR Nr. 14507/07, Occhetto v Italien (Zul.), 12.11.2013, § 51. 1548 EGMR Nr. 14507/07, Occhetto v Italien (Zul.), 12.11.2013, § 49. 1549 EGMR Nr. 58302/10, G. K. v Belgien, 21.05.2019, §§ 6–10, 52, 54. 1550 EGMR Nr. 58302/10, G. K. v Belgien, 21.05.2019, §§ 55–65. 1546

C. Schutz der Funktionsfähigkeit des Parlaments  

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sequenzen entscheiden können. Hat ein Abgeordneter jedoch ohne äußeren Druck seinen Rücktritt rechtswirksam erklärt, besteht keine Schutzbedürftigkeit nach Art. 3 ZP. Vielmehr verlangt der Grundsatz der Rechtssicherheit, diese freiwillige Entscheidung nicht zurücknehmen zu können. 5. Analyse: Schutz der demokratischen Repräsentation der Bevölkerung Sachverhalte, in denen in Frage stand, auf welche Art und Weise ein Abgeordneter das Mandat ausüben muss, wurden bislang, soweit ersichtlich, noch nicht entschieden. Es ging stets um die Frage, ob der Abgeordnete sein Mandat ausüben konnte. Das Recht des Abgeordneten, sein Mandat auszuüben, schützt nicht nur den Abgeordneten, sondern auch den demokratischen Prozess und den Wählerwillen. Beschwerdeberechtigt sind zwar nur Abgeordnete, die eine Rechtsverletzung geltend machen können. Sie können aber gleichzeitig mit ihren eigenen Rechten stellvertretend die Interessen ihrer Wähler schützen. In der Abwägung zieht der EGMR regelmäßig die Interessen der Wähler heran. Dieses Vorgehen entspricht den allgemeinen Rechtfertigungsprinzipien des Wahlrechts, wonach der Ausgestaltungsspielraum der Konventionsstaaten begrenzt ist, wenn die freie Willensäußerung der Bevölkerung nicht mehr zum Ausdruck kommt.1551 Sinn und Zweck des Wahlrechtes ist nicht primär der Schutz der Abgeordneten, sondern die Gewährleistung, dass die Bürger an demokratischen Entscheidungen teilnehmen können. Der Schutz der Ausübung des Mandats sichert, dass die Meinungsäußerung der Wähler auch während der Legislaturperiode noch Bestand hat. Diese ratio erklärt auch, warum die Freiheitsentziehungen in Selahattin Demirtaş v Türkei Nr. 2, die sich auf die tatsächliche Ausübung des Wahlrechts auswirken, im Rahmen des Art. 3 ZP geprüft werden und die demokratischen Wertungen in der Abwägung der Freiheitsentziehung nach Art. 5 EMRK keine Rolle spielen.1552 Der Status der Abgeordneten ist von ihrer Partei unabhängig.1553 Einmal gewählt, üben die Abgeordneten ihr Amt als Repräsentanten ihrer Wähler, nicht ihrer Partei aus.1554 Art. 3 ZP schützt die Abgeordneten vor verschiedenen Gefährdungen: Das Verbot eines automatischen Mandatsverlusts im Falle eines Parteiverbots schützt die Abgeordneten im Falle von politisch motivierten Angriffen auf oppositionelle 1551

Siehe hierzu S. 145. Genauso prüfte der EGMR im Falle eines Mandatsverlusts auch keine Verletzung aus Art. 1 ZP wegen der Einkommenseinbußen, EGMR Nr. 25144/94 u. a., Sadak u. a. v Türkei Nr. 2, 11.06.2002, §§ 48–49, aus Art. 8 EMRK wegen der Einschränkung der beruflichen Tätigkeit, EGMR Nr. 33554/03, Lykourezos v Griechenland, 15.06.2006, §§ 59–60. 1553 Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  25 Rn.  19: Die Unabhängigkeit der Abgeordneten gehört zum Schutzbereich. 1554 EGMR Nr. 14305/17, Selahattin Demirtaş v Türkei Nr. 2 (GK), 22.12.2020, § 393: „While serving their term of office, members of parliament represent their electorate, draw attention to their concerns and defend their interests.“ 1552

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Parteien und Politiker jedenfalls bis zur nächsten Wahl. Die Urteile Paunović und Milivojević v Serbien und G. K. v Belgien zeigen, dass das Mandat auch vor unzulässigen Einflussnahmen aus der eigenen Partei schützt. Konventionsstaaten müssen effektive Systeme etablieren, um die Abgeordneten vor dem Druck zu schützen, unfreiwillig zurückzutreten. Selahattin Demirtaş v Türkei Nr. 2 erweiterte den Schutz des Art. 3 ZP auf die tatsächliche Verhinderung der Ausübung des Mandats, auch wenn der sich in Haft befindende Beschwerdeführer seinen rechtlichen Abgeordnetenstatus behielt. Die Weisungsfreiheit und Unabhängigkeit des Mandats wird durch Art. 3 ZP also unabhängig davon geschützt, von welcher hoheitlichen oder politischen Gewalt die Gefährdung ausgeht.

III. Parlamentarische Immunität als Grundrechtseinschränkung Die parlamentarische Immunität ist – in unterschiedlichen Ausgestaltungen – in jedem Konventionsstaat anerkannt.1555 Parlamentarische Immunität ist ein Oberbegriff für die Indemnität (non-liability / non-accountability), welche die Abgeordneten in ihrer parlamentarischen Meinungsfreiheit vor strafrechtlicher Verfolgung für Äußerungen und ihr Abstimmungsverhalten im parlamentarischen Prozess schützt, und die Immunität (inviolability), welche die Abgeordneten vor sonstiger strafrechtlicher Verfolgung für Taten außerhalb des parlamentarischen Bereichs schützt.1556 In der EMRK ist die parlamentarische Immunität als eine zulässige Beschränkung des Rechts auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK und als Aspekt der Gewaltenteilung zwischen Legislative und Judikative1557 Bestandteil der EGMR-Rechtsprechung. Der hoheitliche Tätigkeitsbereich der Abgeordneten unterfällt danach, sofern die nationale Rechtsordnung hierfür parlamentarische Immunität vorsieht, nicht der gerichtlichen Kontrolle. Inzwischen hat der EGMR die parlamentarische Immunität auch als Einschränkung der Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 EMRK anerkannt.

1555

EGMR Nr. 35373/97, A v Vereinigtes Königreich, 17.12.2002, § 83; Nr. 11801/04, ­Tsalkitzis v Griechenland, 16.11.2006, § 45; Venedig-Kommission, CDL-AD(2014)011, Report in the Scope and Lifting of Parliamentary Immunity, angenommen am 21.–22.03.2014, § 7. 1556 Venedig-Kommission, CDL-AD(2014)011, Report in the Scope and Lifting of Parliamentary Immunity, angenommen am 21.–22.03.2014, §§ 10–15; Hardt, Parliamentary Immunity in a European Context, S. 7. 1557 Siehe hierzu oben ab S. 108.

C. Schutz der Funktionsfähigkeit des Parlaments  

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1. A v Vereinigtes Königreich: Äußerungen in der parlamentarischen Debatte Der EGMR erkannte erstmals im Urteil A v Vereinigtes Königreich die parlamentarische Immunität als Schranke des Rechts auf Zugang zum Gericht an.1558 Hierbei stützte er sich auf die rechtsvergleichende Beobachtung, dass alle Konventionsstaaten eine Form der parlamentarischen Immunität kennen und es sich somit um eine inhärente Beschränkung des Rechts auf Zugang zum Gericht handelt.1559 Das Leiturteil betrifft einen Fall der Indemnität, die in fast allen Konventionsstaaten ähnlich geregelt ist1560. Ein Abgeordneter des britischen Unterhauses bezeichnete im Rahmen einer Debatte über gemeindeeigene Wohnungsbaugesellschaften die Beschwerdeführerin als neighbour from hell, nannte ihre Adresse und die Namen ihrer Familienmitglieder. Er behauptete, dass das Verhalten der Beschwerdeführerin negative Auswirkungen auf ihre Nachbarschaft habe, insbesondere weil sie Müll auf die Straße geworfen und Drogen konsumiert habe und weil spät abends viele Männer bei ihr ein- und ausgingen.1561 Die Beschwerdeführerin entgegnete, die meisten der Behauptungen seien unwahr.1562 Weil ihr wegen der parlamentarischen Immunität des Abgeordneten kein innerstaatlicher Rechtsbehelf zur Verfügung stand, machte sie eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend.1563 Der EGMR erkannte die freie Meinungsäußerung im Parlament und die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Judikative als legitime Ziele an, die durch die parlamentarische Immunität verfolgt wurden.1564 In der Abwägung legte der EGMR Wert darauf, dass die parlamentarische Immunität im Vereinigten Königreich allein innerparlamentarische Äußerungen schützte und dass die Interessen des Parlaments, nicht lediglich des einzelnen Abgeordneten geschützt wurden.1565 Die im Vergleich zu anderen Konventionsstaaten insgesamt zurückhaltende Regelung der parlamentarischen Immunität sah in besonders gravierenden Fällen sogar eine Bestrafung des Abgeordneten durch das Parlament wegen contempts vor,

1558

Siehe Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 270–271 für eine Zusammenstellung der Äußerungen der EKMR zur parlamentarischen Immunität. 1559 EGMR Nr. 35373/97, A v Vereinigtes Königreich, 17.12.2002, §§ 80–83. 1560 Venedig-Kommission, CDL-AD(2014)011, Report in the Scope and Lifting of Parliamentary Immunity, angenommen am 21.–22.03.2014, §§ 52–53. 1561 EGMR Nr. 35373/97, A v Vereinigtes Königreich, 17.12.2002, § 13. Siehe zu diesem Urteil auch Hardt, Parliamentary Immunity in a European Context, S. 10–11; Kloth, Immunities and the Right of Access to Court, S. 189–192; Ress, Separation of Powers and the Function of the Judiciary, in: Barcellona / Carrino, I diritti umani, S. 187 (227–228); Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33 (47–50). 1562 EGMR Nr. 35373/97, A v Vereinigtes Königreich, 17.12.2002, § 14. 1563 EGMR Nr. 35373/97, A v Vereinigtes Königreich, 17.12.2002, § 59. 1564 EGMR Nr. 35373/97, A v Vereinigtes Königreich, 17.12.2002, § 77. 1565 EGMR Nr. 35373/97, A v Vereinigtes Königreich, 17.12.2002, §§ 84–85.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

jedenfalls aber eine disziplinarische Kontrolle durch den Sprecher des Hauses.1566 Obwohl die Beleidigungen der Beschwerdeführerin und die Anschuldigungen gegen sie sehr weitreichend waren und die nachteiligen Konsequenzen ihrer Erwähnung im Parlament als neighbour from hell vorhersehbar waren, akzeptierte der EGMR die Anwendung der parlamentarischen Immunität auf diesen Sachverhalt.1567 Bis jetzt ist der EGMR nicht von dieser Rechtsprechung abgewichen.1568 Das Urteil A v Vereinigtes Königreich zeigte, wie weit die Grundrechte Dritter durch die parlamentarische Rede eingeschränkt werden können: Unabhängig von der Intensität einer möglichen Rechtsverletzung besteht keine Möglichkeit, gerichtlich überprüfen zu lassen, ob eine Rechtsverletzung vorliegt. Es besteht also ein absoluter Vorrang der parlamentarischen Immunität nicht nur gegenüber dem Recht auf Zugang zum Gericht, sondern auch gegenüber dem Schutz der Privatsphäre gemäß Art. 8 EMRK.1569 Durch den weitreichenden Schutz der parlamentarischen Immunität weist der EGMR auch dem dahinter stehenden Konzept der Gewaltenteilung eine große Bedeutung zu,1570 welches Eingriffe in die Konventionsrecht rechtfertigen kann.

1566 EGMR Nr. 35373/97, A v Vereinigtes Königreich, 17.12.2002, § 86. Besonders deutlich wurde dies auch in der Folgeentscheidung EGMR Nr. 62902/00, Zollmann v Vereinigtes Königreich (Zul.), 27.11.2003. Hingegen nahm der EGMR das ursprüngliche Argument aus EGMR Nr. 35373/97, A v Vereinigtes Königreich, 17.12.2002, §§ 86, 27 zurück, wonach der Beschwerdeführerin immerhin über ein anderes Mitglied des Parlaments die Möglichkeit einer Petition offenstand, um einen Widerruf der Äußerung zu erwirken, siehe EGMR Nr. 62902/00, Zollmann v Vereinigtes Königreich (Zul.), 27.11.2003. Dies war insbesondere deswegen nicht entscheidend, weil eine solche Petition von der Beschwerdeführerin nicht ergriffen worden sei. Das Ergebnis überzeugt, das Argument nicht: Ob ein Beschwerdeführer einen ihm zustehenden Rechtsbehelf in Anspruch nimmt, darf nicht entscheidend für die Verhältnismäßigkeit sein, denn dann wäre das Ergebnis der Abwägung von der Mitwirkung des Betroffenen abhängig. Überzeugend wäre das Argument gewesen, dass es sich bei der Petition nicht um eine rechtlich zwingende Möglichkeit handelte, die zudem vom Beschwerdeführer nicht aus eigener Kraft ergriffen werden konnte. 1567 EGMR Nr. 35373/97, A v Vereinigtes Königreich, 17.12.2002, § 88. Die gravierenden Auswirkungen der Äußerungen des Abgeordneten für die Beschwerdeführerin illustriert auch das abweichende Sondervotum von Richter Loucaides zu EGMR Nr. 35373/97, A v Vereinigtes Königreich, 17.12.2002. 1568 Bestätigt in EGMR Nr. 62902/00, Zollmann v Vereinigtes Königreich (Zul.), 27.11.2003. So auch Hardt, Parliamentary Immunity in a European Context, S. 11. 1569 Zustimmendes Sondervotum von Richter Costa zu EGMR Nr. 35373/97, A v Vereinigtes Königreich, 17.12.2002; Sajó und Karakaş zu EGMR Nr. 46967/07, C. G. I. L. und Cofferati v Italien Nr. 1, 24.02.2009; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 271; Kloth, Immunities and the Right of Access to Court, S. 198. Der EGMR prüft eine Verletzung aus Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht mehr separat, weil sich die gleichen rechtlichen Fragen wie bei einer Verletzung aus Art. 6 Abs. 1 EMRK stellten, EGMR Nr. 35373/97, A v Vereinigtes Königreich, 17.12.2002, §§ ­101–103; EGMR Nr. 62902/00, Zollmann v Vereinigtes Königreich (Zul.), 27.11.2003. Kritisch zu dieser Rechtsprechung das abweichende Sondervotum von Richter Loucaides zu EGMR Nr. 35373/97, A v Vereinigtes Königreich, 17.12.2002. 1570 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 272.

C. Schutz der Funktionsfähigkeit des Parlaments  

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2. Cordova v Italien Nr. 1 und Nr. 2: Äußerungen außerhalb des Parlaments Kurze Zeit nach dem Urteil A v Vereinigtes Königreich machte der EGMR in den beiden Fällen Cordova v Italien1571 deutlich, dass für Äußerungen von Abgeordneten außerhalb des parlamentarischen Betriebs, insbesondere in Zeitschriften- oder Fernseh-Interviews, strengere Anforderungen gelten.1572 Anders als im Fall A v Vereinigtes Königreich handelte es sich um Fälle der Immunität, nicht der Indemnität,1573 da die Meinungsäußerungen außerhalb des Parlaments stattfanden. Im ersten Fall schickte der ehemalige italienische Präsident Cossiga dem Beschwerdeführer, einem Staatsanwalt, vermeintliche „Geschenke“1574, nachdem dieser Ermittlungen gegen einen Freunds Cossigas geführt hatte. Der Beschwerdeführer machte anschließend geltend, dass diese „Geschenke“ in Kombination mit den dazugehörigen Briefen eine Ehrverletzung darstellten. Der Senat, dem der ehemalige Präsident als lebenslanges Mitglied angehörte, weigerte sich, dessen parlamentarische Immunität aufzuheben.1575 In Fall Nr. 2 verurteilte ein erstinstanzliches Gericht einen Abgeordneten wegen ehrverletzender Äußerungen gegen denselben Staatsanwalt im Rahmen einer Wahlversammlung.1576 Das Urteil wurde in einer späteren Instanz aufgehoben. Zuvor hatte die Abgeordnetenkammer des Parlaments einen Zusammenhang zwischen den Äußerungen des Abgeordneten und seinen parlamentarischen Aufgaben erkannt, sodass die parlamentarische Immunität bestehen blieb.1577 Diese beiden Urteile sind Startpunkt einer längeren, konstanten Rechtsprechungsreihe zur parlamentarischen Immunität in Italien.1578 1571 Siehe hierzu auch Hardt, Parliamentary Immunity in  a European Context, S. 11–12; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 272–274; Kloth, Immunities and the Right of Access to Court, S. 192–195; Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33 (50–51); Ress, Separation of Powers and the Function of the Judiciary, in: Barcellona / Carrino, I diritti umani, S. 187 (228). 1572 Dies wird als eine Einschränkung der A v Vereinigtes Königreich-Rechtsprechung gewertet, Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 272 Fn. 1134 m. w. N. zum französischen Schrifttum; Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33 (51). 1573 So auch Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33 (53). A. A.: Hardt, Parliamentary Immunity in a European Context, S. 11–12 ordnet diese Urteile in die Fallgruppe der Indemnität ein, weil es sich um einen Fall der Meinungsäußerung von Abgeordneten handelt; Venedig-Kommission, CDL-AD(2014)011, Report in the Scope and Lifting of Parliamentary Immunity, angenommen am 21.–22.03.2014, § 90 (ohne Begründung). Die unterschiedliche Einordnung mag aber damit zusammenhängen, dass die Indemnität in einigen Staaten lediglich Äußerungen im Parlament umfasst, in anderen auch Äußerungen in Ausübung der parlamentarischen Funktion außerhalb des Parlaments, vgl. ebda. § 64. 1574 Unter anderem das Detektivspiel „Super Cluedo“ mit dem Hinweis „Have fun, dear Prosecutor!“ (§ 11). 1575 EGMR Nr. 40877/98, Cordova v Italien Nr. 1, 03.01.2003, §§ 11–15. 1576 EGMR Nr. 45649/99, Cordova v Italien Nr. 2, 03.01.2003, §§ 11–15. 1577 EGMR Nr. 45649/99, Cordova v Italien Nr. 2, 03.01.2003, §§ 20–23. 1578 EGMR Nr. 73936/01, De Jorio v Italien, 03.06.2004; Nr. 23053/02, Ielo v Italien, 06.12.2005; Nr. 10180/04, Patrono, Cascini und Stefanelli v Italien, 20.4.2006; Nr. 46967/07, C. G. I. L. und Cofferati v Italien Nr. 1, 24.02.2009; Nr. 2/08, C. G. I. L. und Cofferati v Italien

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Der EGMR lehnte eine absolute Immunität für Abgeordnete außerhalb des parlamentarischen Betriebs ab.1579 Er legte den gleichen legitimen Zweck wie in A v Vereinigtes Königreich zugrunde,1580 die Abwägung in den Cordova-Fällen fiel jedoch zugunsten des Rechts auf Zugang zum Gericht aus. Ausschlaggebend für die Unverhältnismäßigkeit der parlamentarischen Immunität war, dass das Verhalten der Abgeordneten, für welches sie Immunität beanspruchten, nicht im Zusammenhang mit ihren parlamentarischen Aufgaben im strengen Sinne stand (was not connected with the exercise of parliamentary functions in their strict sense). Vielmehr handelte es sich um persönliche Streitigkeiten. Im Falle von politischen Streitigkeiten, die in keinem engen Zusammenhang mit der parlamentarischen Tätigkeit standen und insbesondere, wenn die Beschränkung des Rechts auf Zugang zum Gericht durch ein politisches Organ verfügt wurde, welches über die Aufhebung der Immunität entscheiden konnte, verlangte der EGMR eine Verhältnismäßigkeitsprüfung mit strengen Maßstäben.1581 Da die Abgeordneten ihre Auseinandersetzung mit dem Beschwerdeführer von der sachlichen auf die persönliche Ebene gebracht hatten, bestand kein Zusammenhang mehr zu ihren parlamentarischen Aktivitäten, sodass die parlamentarische Immunität in diesen Fällen nicht die Funktionsfähigkeit des Parlaments geschützt hätte.1582 Die Urteile C. G. I. L. und Cofferati v Italien Nr. 1 und Nr. 2 zeigen, dass der EGMR den parlamentarischen Zusammenhang sehr eng versteht. Die beschwerdeführende Handelsgewerkschaft wollte sich dagegen zur Wehr setzen, dass ein Abgeordneter in einem Interview einen Zusammenhang zwischen den Forderungen der Gewerkschaft und der Ermordung einer Person herstellte. Das Parlament hatte sich mit dem Mord in zeitlich engem Zusammenhang mit dem Interview des Abgeordneten befasst, der Abgeordnete selbst hatte in dieser Debatte jedoch nicht das Wort ergriffen. Aus diesem Grund sah der EGMR keinen Bezug des Interviews zu den parlamentarischen Tätigkeiten des Abgeordneten.1583 Nach dieser Argumentation besteht also auch dann kein Zusammenhang zwischen der parla-

Nr. 2, 06.04.2010; Nr. 26218/06, Onorato v Italien, 24.05.2011. Auf eine Anführung der Urteile in den folgenden Fußnoten wird daher überall dort verzichtet, wo kein Unterschied zur Cordova-Rechtsprechung erkennbar ist. 1579 Vgl. EGMR Nr. 40877/98, Cordova v Italien Nr. 1, 03.01.2003, § 58; Nr. 45649/99, Cordova v Italien Nr. 2, 03.01.2003, § 59. 1580 EGMR Nr. 40877/98, Cordova v Italien Nr. 1, 03.01.2003, § 55; Nr. 45649/99, Cordova v Italien Nr. 2, 03.01.2003, § 56. 1581 EGMR Nr. 40877/98, Cordova v Italien Nr. 1, 03.01.2003, §§ 62–63; Nr. 45649/99, Cordova v Italien Nr. 2, 03.01.2003, §§ 63–64. Ress, Separation of Powers and the Function of the Judiciary, in: Barcellona / Carrino, I diritti umani, S. 187 (228) geht gar nicht auf die persönliche Streitigkeit ein. Das Gericht habe eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt, weil die Immunität sich nicht auf eine parlamentarische Funktion im strengen Sinne, sondern auf einen einfachen politischen Kontext bezogen habe (simply political context). 1582 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 273. 1583 EGMR Nr. 46967/07, C. G. I. L. und Cofferati v Italien Nr. 1, 24.02.2009, §§ 72, 73; Nr. 2/08, C. G. I. L. und Cofferati v Italien Nr. 2, 06.04.2010, §§ 46, 47.

C. Schutz der Funktionsfähigkeit des Parlaments  

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mentarischen Tätigkeit und einer außerhalb des Parlaments getätigten Äußerung, wenn sich der Abgeordnete zu einem Thema äußert, welches Gegenstand einer parlamentarischen Debatte war. Die parlamentarische Immunität ist nach den Cordova-Urteilen dann gerechtfertigt, wenn sie Äußerungen innerhalb einer parlamentarischen Debatte schützt. Äußern sich Abgeordnete außerhalb des Parlaments, besteht eine Vermutung, dass die Einschränkung des Rechts auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht gerechtfertigt ist. Eine Ausnahme könnte aber nach den Andeutungen in den Urteilen C. G. I. L. und Cofferati möglicherweise in dem sehr eng umgrenzten Fall angenommen werden, dass ein Abgeordneter sich öffentlich zu einem politischen Thema äußert, zu dem er bereits im Parlament geredet hat. Insgesamt zeigen die Urteile gegen Italien, dass zwischen eindeutig gerechtfertigten und eindeutig nicht gerechtfertigten Sachverhalten eine Grauzone besteht, innerhalb derer die Entscheidung des EGMR nicht vorhersehbar ist. 3. Tsalkitzis v Griechenland und Syngelidis v Griechenland: Sonstige Gerichtsverfahren gegen Abgeordnete Die Urteile Tsalkitzis v Griechenland und Syngelidis v Griechenland behandelten Sachverhaltsgestaltungen der Immunität, die keine Äußerungen von Abgeordneten betreffen.1584 In Tsalkitzis v Griechenland ging es um die Frage, ob sich ein Abgeordneter wegen der Erpressung und Bestechung, die er vor Beginn seines Mandats begangen haben sollte, gerichtlich verantworten muss.1585 Der EGMR blieb bei den in der Cordova-Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen,1586 brachte jedoch neue Abwägungsaspekte ein. Straftaten, die der Abgeordnete vor Beginn seines Mandats begangen haben soll, können denklogisch nicht im Zusammenhang mit dessen parlamentarischer Tätigkeit stehen. Auch wenn diese Begründung alleine bereits ausgereicht hätte, führte der EGMR außerdem an, dass es sich um die strafrechtliche Dimension einer Streitigkeit zwischen Privaten handelte.1587

1584 Als Fall der Immunität ebenso eingeordnet bei Hardt, Parliamentary Immunity in  a European Context, S. 12–15; so wohl auch Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33 (53). 1585 EGMR Nr. 11801/04, Tsalkitzis v Griechenland, 16.11.2006, §§ 4–16; Hardt, Parliamentary Immunity in a European Context, S. 13–14; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 273–274. 1586 EGMR Nr. 11801/04, Tsalkitzis v Griechenland, 16.11.2006, §§ 42–49, insbesondere § 48. Etwas weniger deutlich an der vorherigen Cordova-Rechtsprechung orientiert, aber dennoch mit ähnlicher Herangehensweise EGMR Nr. 24895/07, Syngelidis v Griechenland, 11.02.2010, §§ 40–46; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 273. 1587 EGMR Nr. 11801/04, Tsalkitzis v Griechenland, 16.11.2006, § 48. Ohne Hinweis auf den zeitlichen Ablauf, wohl aber auf die Streitigkeit zwischen zwei Privatpersonen EGMR Nr. 24895/07, Syngelidis v Griechenland, 11.02.2010, § 46.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

„En l’occurrence, le mandat de C. T. pouvait être renouvelé de manière consécutive dans le futur, privant ainsi définitivement le requérant de son droit de demander l’engagement des poursuites pénales. Au demeurant, le Cour considère que la suspension de toute poursuite pénale contre un député pendant son mandat parlementaire entraînerait l’écoulement d’un laps de temps important entre la commission des actes incriminés et l’ouverture des poursuites pénales rendant celles-ci aléatoires, notamment en ce qui concerne la preuve.“1588

Im Ergebnis machte der EGMR keinen Unterschied zwischen Äußerungen außerhalb des parlamentarischen Prozesses wie in den Fällen C. G. I. L. und Cofferati v Italien Nr. 1 und 2 und (sonstigem) strafrechtlich relevantem Verhalten.1589 In Syngelidis v Griechenland stritten der Beschwerdeführer und eine Abgeordnete über das Umgangsrecht mit ihrem gemeinsamen Kind.1590 Der EGMR kritisierte, nachdem er einen Zusammenhang der Streitigkeit mit der parlamentarischen Tätigkeit ausgeschlossen hatte, zusätzlich, dass das parlamentarische Gremium, welches die Immunität nicht aufgehoben hatte, hierfür keine Begründung lieferte. Außerdem wurden durch die Aufrechterhaltung der Immunität der Beschwerdeführer und die Abgeordnete ungleich behandelt, weil die Abgeordnete zwar den Beschwerdeführer anklagen, aber nicht selbst angeklagt werden konnte.1591 In beiden Fällen war die parlamentarische Immunität als Beschränkung des Rechts auf Zugang zum Gericht nicht gerechtfertigt. Beide Urteile bestätigen den vom EGMR regelmäßig wiederholten Grundsatz, dass beim Fehlen eines inhalt­ lichen Zusammenhangs zur parlamentarischen Tätigkeit höhere Anforderungen an die Rechtfertigung zu stellen sind.1592 Tatsächlich ist es schwierig, sich Sachverhaltskonstellationen auszumalen, in denen eine strafrechtliche Anklage bezogen auf ein Vergehen vor der Abgeordnetentätigkeit genauso wie auf ein Vergehen, welches nicht an einer Äußerung anknüpft, wegen parlamentarischer Immunität nicht verhandelt werden müsste. Gleiches gilt für rein zivilrechtliche Verfahren, die keine Äußerung des Abgeordneten zum Gegenstand haben. Die Tatsache, dass der EGMR zusätzliche Abwägungspunkte erwähnt, zeigt jedoch, dass er das Kriterium des inhaltlichen Zusammenhangs mit der parlamentarischen Tätigkeit nicht als einziges Kriterium ausreichen lassen möchte.

1588

EGMR Nr. 11801/04, Tsalkitzis v Griechenland, 16.11.2006, § 50. Hardt, Parliamentary Immunity in a European Context, S. 12–13. 1590 EGMR Nr. 24895/07, Syngelidis v Griechenland, 11.02.2010, §§ 5–15. Der Beschwerdeführer trat dem Strafverfahren als Zivilkläger bei. Siehe zu diesem Urteil Hardt, Parliamentary Immunity in a European Context, S. 14–15. 1591 EGMR Nr. 24895/07, Syngelidis v Griechenland, 11.02.2010, §§ 47–48; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Kap.  14 Rn.  77. 1592 EGMR Nr. 40877/98, Cordova v Italien Nr. 1, 03.01.2003, § 63; Nr. 45649/99, Cordova v Italien Nr. 2, 03.01.2003, § 64; Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, § 83. 1589

C. Schutz der Funktionsfähigkeit des Parlaments  

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4. Kart v Türkei: Freiwilliger Verzicht des Abgeordneten auf parlamentarische Immunität Im Fall Kart v Türkei1593 wendete sich erstmals nicht ein Dritter gegen die Einschränkung des Rechts auf Zugang zum Gericht, sondern der Abgeordnete selbst:1594 Er wollte seine Immunität aufheben lassen, damit zwei gegen ihn anhängige Strafverfahren wegen Beleidigung nicht bis zum Ende der Zeit als Abgeordneter unterbrochen blieben.1595 Die zuständigen Organe der Nationalversammlung lehnten dies mehrfach ab.1596 Wie schwierig eine Entscheidung im vorliegenden Fall ist, deutet sich bereits dadurch an, dass die Große Kammer von der erst­ instanzlichen Entscheidung abwich und dass beide Urteile von Sondervoten begleitet waren. Der EGMR stützte sich in seiner Abwägung stark auf Aspekte der parlamentarischen Immunität und ließ subjektiv-rechtliche Erwägungen in den Hintergrund treten.1597 „Different forms of parliamentary immunity may indeed serve to protect the effective political democracy that constitutes one of the cornerstones of the Convention system, particularly where they protect the autonomy of the legislature and the parliamentary opposition.“1598

Anders als in den früheren Fällen1599 ging der EGMR auf den Unterschied zwischen Indemnität (non-liability) und der im konkreten Fall relevanten Immunität (inviolability) ein.1600 Die bislang einzigen Fälle, in denen der EGMR die Einschränkung des Rechts auf Zugang zum Gericht für verhältnismäßig gehalten hat, weil ein Abgeordneter betroffen war, A v Vereinigtes Königreich und Zollmann v Vereinigtes Königreich, betrafen die Indemnität. Die Einschränkungen des Rechts auf Zugang zum Gericht, die die Immunität im engeren Sinne betrafen, waren alle unverhältnismäßig, weil der Zusammenhang zwischen den Streitigkeiten und der parlamentarischen Tätigkeit nicht ausreichend ausgeprägt war. „[The Court] considers that the guarantees offered by both types of parliamentary immunity (non-liability and inviolability) serve the same need – that of ensuring the independence of 1593 Siehe hierzu auch Hardt, Parliamentary Immunity in  a European Context, S. 15–17; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 274–278; Kloth, Immunities and the Right of Access to Court, S. 195–198; Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33 (52–55); Peters / Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 41. 1594 EGMR Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, §§ 64, 66. 1595 EGMR Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, §§ 9–10, 20. Im konkreten Fall stand die Immunität des Abgeordneten (inviolability) in Rede, weil es um Straftaten ging, welche er möglicherweise begangen hatte, bevor sein Mandat als Abgeordneter begann. 1596 EGMR Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, §§ 14, 20, 28. 1597 Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33 (54). 1598 EGMR Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, § 81. So auch in anderem Kontext EGMR Nr. 27756/05 und 41219/07, Urechean und Pavlicenco v Moldawien, 02.12.2014, § 42; Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 138. 1599 So auch Hardt, Parliamentary Immunity in a European Context, S. 15. 1600 EGMR Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, § 84.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Parliament in the performance of its task. Without a doubt, inviolability helps to achieve the full independence of Parliament by preventing any possibility of politically motivated criminal proceedings (fumus persecutionis) and thereby protecting the opposition from pressure or abuse on the part of the majority. 91. The Court further recognises that bringing proceedings against MPs, together with the coercive measures that may entail, may affect the very functioning of the Assembly of which they are members and disrupt Parliament’s work. In this sense it recognises the institutional aim of this prerogative, which is to guarantee the smooth functioning and the integrity of Parliament.“1601

Der Funktionsfähigkeit des Parlaments ordnete der EGMR in seiner Entscheidung viel unter. Anders als in der Cordova-Rechtsprechungslinie reichte die Tatsache, dass die dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Straftaten vor Beginn seines Abgeordnetenmandats begangen wurden, nicht aus, um ein Recht auf Zugang zum Gericht anzunehmen.1602 Der EGMR räumte den Staaten einen großen Spielraum ein, um ihre Immunitätsregelungen – auch in zeitlicher Hinsicht – auszugestalten. Weil die Immunität ein Statusrecht im Dienste der Funktionsfähigkeit und Autonomie des Parlaments und kein persönliches Privileg ist, konnte der Beschwerdeführer nicht aus eigener Initiative auf diesen Schutz verzichten. Weil die Immunität auf die Dauer des Mandats und auf strafrechtliche Anklagen begrenzt war, weil sie aufgehoben werden konnte und weil in flagranti-Delikte ausgeschlossen waren, ordnete der EGMR die Regelung als angemessen ein.1603 Da die türkische Ausgestaltung der Immunität nicht per se konventionswidrig war, wog der EGMR zwischen dem Recht auf Zugang zum Gericht des Abgeordneten und den institutionellen legitimen Zwecken ab. Die Interessen der durch die Straftaten Geschädigten bezog der EGMR nicht mit ein.1604 Relevant war aber, dass die Entscheidungen des Parlaments nicht auf eine diskriminierende Art und Weise getroffen wurden und dass Mitglieder der Mehrheitsfraktionen und der Opposition gleich behandelt wurden.1605 Außerdem musste sich der Beschwerdeführer, als er sich zur Wahl stellte, der Konsequenz bewusst sein, dass das Strafverfahren im Falle einer Wahl unterbrochen werden würde.1606 Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zu den anderen Immunitätsfällen, in denen Dritte sich auf ihr Recht auf Zugang zum Gericht beriefen. Während der Beschwerdeführer die Unterbrechung des Strafverfahrens aus eigenem Anlass herbeigeführt hat, weil er sich zur Wahl stellte, ist dies für die betroffenen Dritten nicht der Fall. Schließlich wurde der Eingriff in das Recht auf Zugang zum Gericht als wenig intensiv gewertet, weil die Entscheidung des Parlaments, die Immunität nicht aufzuheben, zu kei 1601

EGMR Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, §§ 90–91. EGMR Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, § 95. 1603 EGMR Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, §§ 96–98. 1604 Kloth, Immunities and the Right of Access to Court, S. 197–198; Hardt, Parliamentary Immunity in a European Context, S. 16. 1605 EGMR Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, §§ 101–102. 1606 EGMR Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, §§ 105–106. 1602

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ner inhaltlichen Beeinflussung des Verfahrens, sondern nur zu einer Verzögerung des gerichtlichen Prozesses führte. Das Recht auf Zugang zum Gericht war somit nicht in seinem Kernbereich betroffen.1607 Während in Tsalkitzis v Griechenland die Verzögerung des Verfahrens für den Beschwerdeführer als Argument gegen die Verhältnismäßigkeit herangezogen wurde, half dies dem Beschwerdeführer in Kart v Türkei, der selbst Abgeordneter war, nicht.1608 Die Betonung der Funktionsfähigkeit des Parlaments und die starke Gewichtung der institutionellen im Vergleich zu den subjektiv-rechtlichen Aspekten wirft die Frage auf, wie Kart v Türkei zu der bisherigen etablierten Rechtsprechungslinie steht.1609 Hierbei ist zu beachten, dass einige Urteile gegen Italien auch erst nach Kart v Türkei entschieden wurden und sich vor allem auf Cordova, nicht aber auf die neuen Abwägungskriterien aus Kart v Türkei stützten.1610 Das ebenfalls nach Kart v Türkei ergangene Syngelidis-Urteil zitierte Kart v Türkei zwar, prüfte als entscheidendes Kriterium den Zusammenhang der Anklage mit der strafrecht­ lichen Tätigkeit und nahm die parlamentarische Autonomie am Rande in seine Abwägung auf.1611 Die Kart-Rechtsprechung hat also bislang keine Auswirkung auf die Abwägung in den „traditionellen“ Fälle zur parlamentarischen Immunität.1612 Die Gewichtung in diesem Einzelfall, in dem der Abgeordnete selbst durch die parlamentarische Immunität beschwert war, ist nicht auf andere Fälle übertragbar. Dies liegt vor allem an dem einen Argument, das nicht in beiden Fällen anwendbar ist: Der Abgeordnete hat die Auswirkung auf anhängige Gerichtsprozesse selbst beeinflusst, weil er sich zur Wahl gestellt hat. 5. Sonderfall: Einschränkung der Meinungsfreiheit von Dritten bei Äußerungen über Abgeordnete Schließlich lag im Fall Karhuvaara und Iltalehti v Finnland eine Verletzung der Meinungsfreiheit aus Art. 10 EMRK vor, weil eine Strafzahlung wegen eines – unstrittig strafbaren – Berichts über einen Angriff auf einen Polizisten deswegen 1607

EGMR Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, §§ 107–113. Diese letzten beiden Argumente werden auch von Hardt, Parliamentary Immunity in a European Context, S. 16 als die entscheidenden genannt. 1608 Hardt, Parliamentary Immunity in a European Context, S. 16; vgl. auch Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33 (54–55). 1609 Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33 (55) deutet das Urteil als Rückbesinnung auf A v Vereinigtes Königreich. 1610 Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33 (55). 1611 EGMR Nr. 24895/07, Syngelidis v Griechenland, 11.02.2010, §§ 44, 46–47; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 278–279. 1612 Vgl. auch Hardt, Parliamentary Immunity in  a European Context, S. 17. Siehe auch EGMR Nr. 27756/05 und 41219/07, Urechean und Pavlicenco v Moldawien, 02.12.2014, wo es um die Immunität eines Staatspräsidenten ging. Der EGMR stützte sich hier auf die bisherige Rechtsprechung zur parlamentarischen Immunität mit Ausnahme des Kart-Urteils (§§ 42, 51).

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höher ausfiel, weil die Zeitung berichtete, dass der Angreifer der Ehemann einer finnischen Abgeordneten war.1613 Nach dem finnischen Recht war die Straftat – wegen der parlamentarischen Immunität der Abgeordneten – mit einem höheren Strafmaß zu bestrafen, wenn über ein Mitglied des Parlaments berichtet wurde.1614 „The present case does not raise the issue of parliamentary immunity directly as there was no question of Mrs A.’s immunity from civil or criminal action. Parliamentary immunity was, however, of indirect relevance as it was Mrs A.’s status as a member of parliament that led to more severe convictions and sentences under section 15 of the Parliament Act.“1615

In diesem Fall fungierte die parlamentarische Immunität  – gestützt auf die Rechtsprechung zur Einschränkbarkeit des Rechts auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK – also als Schranke des Art. 10 EMRK.1616 In der konkreten Sachverhaltskonstellation hätte sich die parlamentarische Immunität der Abgeordneten nicht auf das Strafmaß auswirken dürfen: Die Straftat stand in keiner Verbindung zu den offizielle Pflichten der Abgeordneten und es war nicht erkennbar, dass durch den Zeitungsartikel die freie parlamentarische Debatte gestört wurde.1617 Der EGMR wendete also das gleiche Kriterium an wie schon in Cordova v Italien Nr. 1 und Nr. 2 und den Folgeurteilen – die Nähe zur Ausübung der parlamentarischen Funktionen. Die Einschränkung der Meinungsfreiheit wegen der parlamentarischen Immunität diente also auch hier der Funktionsfähigkeit des Parlaments.1618 6. Zwischenfazit Die parlamentarische Immunität kann mit dem legitimen Zweck, die Funktionsbeziehungsweise Arbeitsfähigkeit des Parlaments – und in der speziellen Konstellation in Kart v Türkei auch die parlamentarische Autonomie – zu schützen, das Recht auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK einschränken.1619 In der Rechtsprechung sind drei Konstellationen zu unterscheiden, die der EGMR unterschiedlich behandelt.1620 1613

EGMR Nr. 53678/00, Karhuvaara und Iltalehti v Finnland, 16.11.2004, §§ 8, 12. Zu dieser Entscheidung Hardt, Parliamentary Immunity in a European Context, S. 20. 1614 EGMR Nr. 53678/00, Karhuvaara und Iltalehti v Finnland, 16.11.2004, § 18. 1615 EGMR Nr. 53678/00, Karhuvaara und Iltalehti v Finnland, 16.11.2004, § 51. 1616 EGMR Nr. 53678/00, Karhuvaara und Iltalehti v Finnland, 16.11.2004, § 50. 1617 EGMR Nr. 53678/00, Karhuvaara und Iltalehti v Finnland, 16.11.2004, § 52. 1618 Hardt, Parliamentary Immunity in a European Context, S. 20; vgl. auch Meyer-Ladewig /  Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 54. 1619 Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 126; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr /  Grote / Marauhn, Kap.  14 Rn.  77; Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 216; Hardt, Parliamentary Immunity in a European Context, S. 21. 1620 Siehe zusammenfassend zu den einzelnen Fallgruppen der parlamentarischen Immunität auch Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 77; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 54; Harris u. a., Law of the ECHR, S. 406; Kloth, Immunities and the Right of Access to Court, S. 186–198.

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In Fällen der Indemnität, also einer Äußerung im parlamentarischen Kontext wie in A v Vereinigtes Königreich, ist die parlamentarische Immunität grundsätzlich gerechtfertigt. Den Staaten steht hierbei ein großer Ausgestaltungsspielraum zur Verfügung. Die Beschränkung des Rechts auf Zugang zum Gericht ist nur dann gerechtfertigt, wenn ein Zusammenhang mit der parlamentarischen Tätigkeit besteht.1621 Äußerungen im Rahmen einer parlamentarischen Debatte weisen diesen Zusammenhang prinzipiell auf und stehen, so zeigt das Urteil A v Vereinigtes Königreich, unter dem absoluten Schutz der parlamentarischen Immunität, sodass der Eingriff in das Recht auf Zugang zum Gericht stets gerechtfertigt ist. Die Immunität schützt das Verhalten von Abgeordneten außerhalb des parlamentarischen Prozesses. Sie verstößt nicht per se gegen die Anforderungen eines verhältnismäßigen Eingriffs in das Recht auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK.1622 Je nach Ausgestaltung im nationalen Recht können hiervon politische Äußerungen, etwa im Rahmen eines Interviews, aber auch andere strafrechtlich relevante Handlungen oder der Schutz vor zivilrechtlichen Klagen umfasst sein, wenn ein Zusammenhang zur parlamentarischen Tätigkeit vorliegt. Bei Fällen der Immunität legt der EGMR grundsätzlich strenge Maßstäbe an.1623 Hierbei beurteilte er strafrechtliche und zivilrechtliche Streitigkeiten nach dem gleichen Maßstab. Sobald eine Äußerung jedoch auf eine persönliche Streitigkeit zurückgeführt werden kann, entfällt der Bezug zur parlamentarischen Tätigkeit und somit die Privilegierung des Abgeordneten.1624 Gleiches gilt für Straftaten, die nicht an einer Äußerung anknüpfen, oder solche, die bereits vor Beginn des Abgeordnetenmandates begangen wurden. Denkbar wäre aber, dass rein politische Äußerungen im Rahmen eines öffentlichen Interviews von der Immunität gedeckt sein könnten. Die unterschiedliche Beurteilung von Indemnität und Immunität korrespondiert mit den Anforderungen, die Funktionsfähigkeit des Parlamentes zu schützen. Während im Rahmen einer parlamentarischen Debatte die freie Rede in besonderem Maße geschützt werden muss, ist die parlamentarische Funktionsfähigkeit nicht dadurch beeinträchtigt, dass ein Abgeordneter vor Gericht in einer rein privaten Streitigkeit auftreten muss. Historisch betrachtet sollte die Immunität bei strafrechtlichen Verfahren politisch motivierte Strafverfolgung verhindern1625  – 1621 Barkhuysen u. a., Right to Fair Trial, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (554). 1622 EGMR Nr. 40877/98, Cordova v Italien Nr. 1, 03.01.2003, § 60; Nr. 11801/04, Tsalkitzis v Griechenland, 16.11.2006, § 45; Nr. 24895/07, Syngelidis v Griechenland, 11.02.2010, § 42; Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, § 80; Barkhuysen u. a., Right to Fair Trial, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (554). 1623 Hardt, Parliamentary Immunity in a European Context, S. 12, 15; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 121; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig /  Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 54; Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 216–217. 1624 Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 126. Vgl. auch Schabas, ECHR, Art. 6, S. 287, der in diesem Fall von einer genaueren Prüfung durch den EGMR ausgeht. 1625 Siehe das Zitat zu Fn. 1601.

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Hintergedanke war somit auch hier die Funktionsfähigkeit des Parlaments. Ist diese nicht beeinträchtigt, etwa weil das Strafverfahren bereits vor Beginn des Abgeordnetenmandats begonnen wurde oder weil die Einleitung des Strafverfahrens nicht politisch motiviert war, besteht kein Grund dafür, das Recht auf Zugang zum Gericht einzuschränken. In der dritten Konstellation begehrte der Abgeordnete selbst die Aufhebung seiner Immunität, um eine gerichtliche Entscheidung herbeiführen zu können, wie im Fall Kart v Türkei. An diesem Urteil wurde deutlich, dass die parlamentarische Immunität nicht die Abgeordneten persönlich, sondern deren Statusrechte schützt.1626 Aus diesem Grund können Abgeordnete auch nicht auf dieses Statusrecht verzichten.1627 Weil der Beschwerdeführer, indem er sich zur Wahl stellte, dazu beigetragen hat, dass das Gerichtsverfahren gegen ihn wegen parlamentarischer Immunität unterbrochen wurde, ist sein persönliches Interesse weniger schützenswert. Der EGMR findet über die Beschränkungsmöglichkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK einen Weg, die Staaten zu einer gewissen institutionellen Ausgestaltung zu verpflichten und die parlamentarische Immunität der Abgeordneten auf solche Fälle zu beschränken, die im Zusammenhang mit ihrer parlamentarischen Tätigkeit stehen. Für die Gewaltenteilung in den Konventionsstaaten bedeutet diese Rechtsprechungslage, dass der EGMR die Indemnität von Abgeordneten grundsätzlich erlaubt, an die Immunität aber strenge Anforderungen stellt. Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass Regelungen, wonach die Immunität beim Vorliegen eines Anlasses durch das Parlament aufgehoben werden kann, konventionswidrig sind. Eine Verpflichtung der Konventionsstaaten, Regelungen der Indemnität zu etablieren, ist aus der Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht abzuleiten. Dies liegt daran, dass der EGMR stets darüber entscheiden muss, ob die parlamentarische Immunität als Einschränkung des Rechts auf Zugang zum Gericht gerechtfertigt ist, nicht darüber, ob ein Recht dazu besteht, das Recht auf Zugang zum Gericht einzuschränken. Das Urteil Karhuvaara und Iltalehti v Finnland zeigt, dass die Grundsätze zur parlamentarischen Immunität auch auf andere Konventionsrechte übertragen werden können.

1626

Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 54. 1627 Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 126.

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IV. Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 Abs. 1 EMRK Die Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 Abs. 1 EMRK schützt die Abgeordneten sowohl als Privatpersonen als auch in ihrer hoheitlichen Tätigkeit.1628 Seit dem Urteil Castells v Vereinigtes Königreich ist explizit anerkannt, dass sich Mitglieder des Parlaments auf die Meinungsfreiheit berufen können.1629 „While freedom of expression is important for everybody, it is especially so for an elected representative of the people. He represents his electorate, draws attention to their preoccupations and defends their interests. Accordingly, interferences with the freedom of expression of an opposition member of parliament, like the applicant, call for the closest scrutiny on the part of the Court.“1630

In diesem Fall veröffentlichte ein Abgeordneter der Opposition einen Zeitungsartikel und wurde anschließend wegen Beleidigung der Regierung angeklagt.1631 Das Recht des Abgeordneten, die Regierung zu kritisieren, besteht nicht nur im Parlament, sondern auch in anderen öffentlichen Äußerungen.1632 Der Schutz der Meinungsfreiheit der Abgeordneten für außerparlamentarische Äußerungen war lange Zeit die einzige vor dem EGMR verhandelte Konstellation.1633 Erst in jüngeren Jahren finden sich Fallgestaltungen, in denen die Meinungsfreiheit im parlamentarischen Diskurs relevant wurde.

1628

Wojtyczek, ERPL 32 (2020), S. 185 (210). Siehe zur Meinungsfreiheit von Abgeordneten auch Hardt, Parliamentary Immunity in a European Context, S. 18–19, welcher das Thema allerdings aus dem Blickwinkel der parlamentarischen Immunität betrachtet. 1630 EGMR Nr. 11798/85, Castells v Spanien, 23.04.1992, § 42; dem folgend EGMR Nr. 26958/95, Jerusalem v Österreich, 27.02.2001, § 36; Nr. 25144/94 u. a., Sadak u. a. v Türkei Nr. 2, 11. 06. 2002, § 34 (im Kontext von Art. 3 ZP); Nr. 15615/07, Féret v Belgien, 16.07.2009, § 65; Nr. 2034/07, Otegi Mondragon v Spanien, 15.03.2011, § 50. Knapper EGMR Nr. 15773/89 und 15774/89, Piermont v Frankreich, 27.04.1995, § 76; Nr. 39511/98, McGuinness v Vereinigtes Königreich (Zul.), 08.06.1999; Nr. 35493/13, Szanyi v Ungarn, 08.11.2016, § 36; Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 137; Nr. 19382/08, Lykin v ­Ukraine, 12.01.2017, § 26; Nr. 14305/17, Selahattin Demirtaş v Türkei Nr. 2 (GK), 22.12.2020, § 242. 1631 EGMR Nr. 11798/85, Castells v Spanien, 23.04.1992, §§ 7–8. 1632 EGMR Nr. 11798/85, Castells v Spanien, 23.04.1992, § 43. 1633 Siehe etwa EGMR Nr. 15773/89 und 15774/89, Piermont v Frankreich, 27.04.1995, §§ 11–12, 77–78 (Äußerungen auf einer öffentlichen Demonstration); Nr. 12697/03, Mamère v Frankreich, 07.11.2006, §§ 4–7, 20–30 (Äußerung im Fernsehen); Nr. 15615/07, Féret v Belgien, 16.07.2009, §§ 8–9 (Verteilung von Faltblättern); Nr. 2034/07, Otegi Mondragon v Spanien, 15.03.2011, §§ 8–10, 51–62 (Pressekonferenz). 1629

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1. Allgemeine Freiheit des politischen Diskurses Die Freiheit des politischen Diskurses ist eine Grundvoraussetzung eines demo­ kratischen Systems.1634 Sie wird ermöglicht durch den Schutz der Meinungsfreiheit für politische Äußerungen. Beschränkungen einer politischen Äußerung sind nur unter sehr strengen Voraussetzungen möglich,1635 welche die allgemeinen Rechtfertigungskriterien1636 für Eingriffe in die Meinungsfreiheit ergänzen. Der Gestaltungsspielraum der Konventionsstaaten ist also im Vergleich zu sonstigen, unpolitischen Äußerungen stärker begrenzt.1637 Abgeordnete repräsentieren ihre Wähler nicht nur im parlamentarischen Prozess, sondern auch durch öffentliche Äußerungen.1638 Äußert sich ein Abgeordneter nicht als Privatperson,1639 sondern als Repräsentant des Volkes außerhalb des Parlaments, handelt es sich dabei zwangsläufig um eine politische, besonders schützenswerte Aussage.1640 Dies gilt – entsprechend dem demokratischen Leitbild der EMRK1641 – insbesondere für Vertreter der politischen Minderheit, die vor Machtmissbrauch durch die Mehrheit oder die Regierung geschützt werden 1634

EGMR Nr. 11798/85, Castells v Spanien, 23.04.1992, § 42; Nr. 29369/10, Morice v Frankreich (GK), 23.04.2015, § 124 m. w. N.; Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 132 m. w. N. Siehe zum Zusammenhang zwischen Meinungsfreiheit und Demokratieprinzip in der EMRK auch bereits oben ab S. 134. 1635 EGMR Nr. 69698/01, Stoll v Schweiz (GK), 10.12.2007, § 106; Nr. 32772/02, Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VgT) v Schweiz Nr. 2 (GK), 30.06.2009, § 92; Nr. 15615/07, Féret v Belgien, 16.07.2009, § 63; Nr. 2034/07, Otegi Mondragon v Spanien, 15.03.2011, § 50; Nr. 29369/10, Morice v Frankreich (GK), 23.04.2015, § 125; Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 144; Nr. 19382/08, Lykin v Ukraine, 12.01.2017, § 26; Nr. 29994/02, Döner u. a. v Türkei, 07.03.2017, § 104; Nr. 931/13, Satakunnan Markkinapörssi Oy und Satamedia Oy v Finnland (GK), 27.06.2017, § 167; Nr. 64659/11 und 24133/13, Makraduli v Mazedonien, 19.07.2018, § 66. 1636 Siehe für eine zusammenfassende Darstellung der aktuellen, allgemeinen Rechtfertigungs- und Abwägungskriterien im Rahmen der Meinungsfreiheit EGMR Nr. 29369/10, ­Morice v Frankreich (GK), 23.04.2015, §§ 124–127 m. w. N. 1637 EGMR Nr. 11798/85, Castells v Spanien, 23.04.1992, § 42 („[I]nterferences with the freedom of expression of an opposition member of parliament, like the applicant, call for the closest scrutiny on the part of the Court.“); so auch EGMR Nr. 26958/95, Jerusalem v Österreich, 27.02.2001, § 36; Nr. 28793/02, Christian Democratic People’s Party v Moldawien, 14.02.2006, § 67; Nr. 29369/10, Morice v Frankreich (GK), 23.04.2015, § 125. 1638 Siehe bereits die Nachweise in Fn. 1630. 1639 Vgl. EGMR Nr. 57675/10, Bestry v Polen, 03.11.2015, §§ 55–72: Der Beschwerdeführer setzte sich in einer Pressekonferenz und einer Tageszeitung mit Anschuldigungen auseinander, er habe Schülerinnen sexuell missbraucht und sei gegenüber weiteren Frauen übergriffig geworden. In dieser nicht-politischen Angelegenheit ging der EGMR nicht auf die besondere Stellung des Beschwerdeführers als Abgeordneter ein. 1640 EGMR Nr. 12697/03, Mamère v Frankreich, 07.11.2006, § 20; Nr. 2034/07, Otegi Mondragon v Spanien, 15.03.2011, § 51; Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 137; Nr. 64659/11 und 24133/13, Makraduli v Mazedonien, 19.07.2018, § 66; Nr. 69575/10, Rashkin v Russland, 07.07.2020, § 15. 1641 Siehe hierzu bereits oben S. 137.

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sollen.1642 Bei sachlichen Aussagen oder Kritik an Regierungsentscheidungen sind Abgeordnete vor Sanktionen geschützt. Jedoch sind auch Äußerungen, die beleidigen, schockieren oder verstören (offend, shock or disturb), nicht vom Schutz des Art. 10 EMRK ausgeschlossen, weil eine demokratische Gesellschaft Pluralismus, Toleranz und Offenheit verlangt.1643 Außerdem darf eine Kritik an öffentlichen Personen, also anderen Politikern oder Regierungsmitgliedern sowie an Regierungsentscheidungen noch deutlicher ausfallen als an Privatpersonen.1644 Abgeordnete sind also einerseits besonders geschützt, andererseits müssen sie überzogene Äußerungen gegen sich gelten lassen. In Fällen einer persönlichen Kritik im politischen Kontext findet eine Abwägung zwischen den jeweiligen Beeinträchtigungen aus dem Recht auf Privatleben aus Art. 8 Abs. 1 EMRK, welcher auch die persönliche Ehre und den Ruf schützt und der Meinungsfreiheit aus Art. 10 Abs. 1 EMRK statt, wobei die Schutzintensität des Art. 8 Abs. 1 EMRK bei Personen des öffentlichen Lebens – hierzu zählen Abgeordnete und andere Politiker – abgesenkt ist.1645 2. Meinungsfreiheit im parlamentarischen Betrieb Erst Karácsony v Ungarn behandelte erstmals eine Meinungsäußerung im parlamentarischen Kontext. Im Vergleich zu den politischen Äußerungen außerhalb des Parlaments verstärken bei innerparlamentarischen Äußerungen die nationalen Regelungen der Indemnität die Meinungsfreiheit. Die Indemnität ist anders als die Immunität in den Konventionsstaaten relativ einheitlich ausgestaltet.1646

1642 EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 147; Nr. 14305/17, Selahattin Demirtaş v Türkei Nr. 2 (GK), 22.12.2020, § 244. 1643 EGMR Nr. 26958/95, Jerusalem v Österreich, 27.02.2001, § 32; Nr. 2034/07, Otegi Mondragon v Spanien, 15.03.2011, § 48; Nr. 29369/10, Morice v Frankreich (GK), 23.04.2015, § 124; Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 132; Nr. 35493/13, Szanyi v Ungarn, 08.11.2016, § 38. Siehe für ein plastisches Beispiel eines immer noch zulässigen Grenzfalls EGMR Nr. 35493/13, Szanyi v Ungarn, 08.11.2016, §§ 38, 11.  1644 EGMR Nr. 11798/85, Castells v Spanien, 23.04.1992, § 46; Nr. 22678/93, Incal v Türkei (GK), 09.06.1998, § 54; Nr. 23556/94, Ceylan v Türkei (GK), 08.07.1999, § 34; Nr. 26958/95, Jerusalem v Österreich, 27.02.2001, § 38; Nr. 2034/07, Otegi Mondragon v Spanien, 15.03.2011, § 50; Nr. 64569/09, Delfi AS v Estland (GK), 16.06.2015, § 132; Nr. 42168/06, Dmitriyevskiy v Russland, 03.10.2017, § 96; Nr. 52273/07, Stomakhin v Russland, 09.05.2018, § 89; Nr. 64659/11 und 24133/13, Makraduli v Mazedonien, 19.07.2018, § 69. 1645 Siehe zu den Grundsätzen der Abwägung EGMR Nr. 64569/09, Delfi AS v Estland (GK), 16.06.2015, §§ 137–139. Siehe auch die aktuellen Anwendungsfälle EGMR Nr. 19382/08, Lykin v Ukraine, 12.01.2017, §§ 26–33; Nr. 45791/13, Falzon v Malta, 20.03.2018, §§ 56–68. 1646 Siehe für die ausführliche Darstellung der verschiedenen Modelle und zum Folgenden Venedig-Kommission, CDL-AD(2014)011, Report in the Scope and Lifting of Parliamentary Immunity, angenommen am 21.–22.03.2014, §§ 52–78, 101–143; siehe auch die verfassungsvergleichende Darstellung in EGMR Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, §§ 44–55.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

„There can be no doubt that speech in Parliament enjoys an elevated level of protection. Parliament is a unique forum for debate in a democratic society, which is of fundamental importance. The elevated level of protection for speech therein is demonstrated, among other things, by the rule of parliamentary immunity.“1647

Die innerstaatlichen Regelungen zur parlamentarischen Immunität müssen die Anforderungen an den qualitativen Gesetzesbegriff erfüllen und rechtmäßig angewendet werden.1648 Hierüber wird die Einhaltung der innerstaatlichen Indemnitätsregeln Bestandteil der Rechtfertigungsprüfung des Art. 10 EMRK.1649 Der EGMR zieht also ein statutarisches Recht der Abgeordneten heran, um die Meinungsfreiheit weiter zu stärken. Wenn Abgeordnete für Äußerungen sanktioniert werden, die sie inhaltsgleich im Parlament gemacht haben oder hätten machen können, dann wirkt sich die parlamentarische Immunität auch auf die Abwägung für Meinungsäußerungen außerhalb des Parlaments aus. In Jerusalem v Österreich machte die Beschwerdeführerin in einer Gemeinderatssitzung eine unzulässige Äußerung, die von der Indemnität geschützt gewesen wäre, wenn sie diese im Rahmen ihrer Funktion als Abgeordnete im Landesparlament gemacht hätte.1650 „Irrespective of whether the applicant’s statements were covered by parliamentary immunity, the Court finds that they were made in a forum which was at least comparable to Parliament as concerns the public interest in protecting the participants’ freedom of public expression. In a democracy, Parliament or such comparable bodies are the essential fora for political debate. Very weighty reasons must be advanced to justify interfering with the freedom of expression exercised therein.“1651

Der verstärkte Schutz der Meinungsfreiheit kam der Beschwerdeführerin also zu Gute, obwohl sie formal nicht durch die parlamentarische Immunität geschützt wurde. In Makraduli v Mazedonien wertete der EGMR die Tatsache, dass sich der beschwerdeführende Abgeordnete in einer Pressekonferenz und nicht im Parlament geäußert hatte und deswegen auf den erhöhten Schutz der parlamentarischen Immunität verzichtet hatte, als Argument für die Unverhältnismäßigkeit des Eingriffs in die Meinungsfreiheit.1652 Indem die Meinungsfreiheit mit der parlamentarischen Immunität aufgeladen wird, schützt sie nicht nur die persönliche Freiheit, sondern auch die Funktion 1647

EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 138. Siehe zu den Anforderungen an den qualitativen Gesetzesbegriff ab S. 264. 1649 So zum Beispiel in EGMR Nr. 14305/17, Selahattin Demirtaş v Türkei Nr. 2 (GK), 22.12.2020, §§ 256–270, dem folgend EGMR Nr. 68136/16, Kerestecioğlu Demir v Türkei, 04.05.2021, §§ 68–72. 1650 EGMR Nr. 26958/95, Jerusalem v Österreich, 27.02.2001, § 36. Der Wiener Gemeinderat fungierte gleichzeitig als Landtag, § 9. 1651 EGMR Nr. 26958/95, Jerusalem v Österreich, 27.02.2001, § 40. 1652 EGMR Nr. 64659/11 und 24133/13, Makraduli v Mazedonien, 19.07.2018, §§ 82, 85. 1648

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der Abgeordneten als Repräsentanten des Volkes. Inzwischen hat der EGMR drei verschiedene Fallgestaltungen im parlamentarischen Kontext entschieden: erstens die Äußerung im Parlament in Ausübung des Rederechts, zweitens außerhalb des Rederechts sowie drittens die Ausübung eines parlamentarischen Kontrollrechts. a) Karácsony v Ungarn: Äußerungen außerhalb des Rederechts Das Urteil der Großen Kammer in der Sache Karácsony u. a. v Ungarn1653 ist die Leitentscheidung zur Meinungsfreiheit von Abgeordneten im parlamenta­ rischen Prozess. Der EGMR entschied erstmals über die Konventionskonformität einer disziplinarischen Sanktion wegen einer im Rahmen einer parlamentarischen Debatte geäußerten Meinung:1654 Mitglieder der Oppositionsfraktionen im Parlament hatten während einer Plenardebatte beziehungsweise vor einer Abstimmung im Sitzungssaal Transparente entrollt und in ein Megaphon gesprochen. Jeweils einige Tage nach den Vorkommnissen beschloss das Plenum auf Vorschlag des Parlamentspräsidenten Strafzahlungen als Ordnungsmaßnahmen.1655 „Parliaments are entitled under [Article  10 § 2] to react when their members engage in disorderly conduct disrupting the normal functioning of the legislature. Just as the generally recognised rule of parliamentary immunity offers enhanced, but not unlimited, protection to speech in Parliament, so some restrictions on speech in Parliament – motivated by the need to ensure that parliamentary business is conducted in an orderly fashion – should likewise be regarded as justified.“1656

Äußerungen, die direkt oder indirekt zu Gewalt aufrufen, sind nicht von der parlamentarischen Meinungsfreiheit geschützt sind. Ansonsten dürfen kaum Vorgaben für den Inhalt der parlamentarischen Rede gemacht werden, die Parlamente haben aber einen Spielraum, Zeit, Ort und Art und Weise der parlamentarischen Äußerungen zu regeln.1657 Im konkreten Fall wurden die Abgeordneten wegen der Art und Weise ihrer Äußerungen sanktioniert, weil sie die Debatte störten, indem sie ein Megaphon statt der vorhandenen Mikrophone nutzten und ein Transparent ausrollten.1658 Der EGMR maß der Funktionsfähigkeit des Parlaments, dem geordneten Ablauf der 1653 Voraus gingen die erstinstanzlichen Entscheidungen EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn, 16.09.2014; Nr. 44357/13, Szél u. a. v Ungarn, 16.09.2014. 1654 EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 131. 1655 EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, §§ 10–23. 1656 EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 139. Der EGMR knüpfte die Funktionsfähigkeit des Parlaments an den in Art. 10 Abs. 2 EMRK aufgezählten Gründen der Aufrechterhaltung der Ordnung (prevention of disorder / défense de l’ordre) und am Schutz der Rechte anderer (protection of the rights of others / protection des droits d’autrui), den anderen Abgeordneten, an. 1657 EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 140. 1658 EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, §§ 149–150.

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parlamentarischen Debatte und der parlamentarischen Autonomie in der konkreten Anwendung auf den Fall wenig Bedeutung bei,1659 nachdem er diese Aspekte in seinen allgemeinen Rechtsprechungsprinzipien sehr ausführlich dargestellt hatte.1660 Die Konventionsverletzung begründete der EGMR damit, dass die sich aus Art. 10 EMRK ableitenden Verfahrensanforderungen nicht eingehalten wurden, sodass der Eingriff unverhältnismäßig war.1661 Im Falle nachträglicher Sanktionen hätte eine Anhörung stattfinden müssen, welche sicherstellte, dass die parlamentarische Mehrheit ihre dominante Position nicht gegenüber der Minderheit ausnutzte, der Sprecher hätte ohne persönliche oder politische Voreingenommenheit handeln und die Entscheidung hätte begründet sein müssen. Diese Anforderungen wurden im Fall Karácsony nicht eingehalten.1662 Im Folgeurteil Szanyi v Ungarn wurde ein Abgeordneter zu einer Strafzahlung verurteilt, nachdem er im Anschluss an seinen Redebeitrag den Mitgliedern einer Fraktion den Mittelfinger gezeigt hatte.1663 Statt die Besonderheiten des Falls in Betracht zu ziehen, reichten dem EGMR die gleichen Verfahrensfehler, die bereits in Karácsony vorlagen, aus, um einen Konventionsverstoß festzustellen.1664 Die Verfahrensvorgaben dienen also dem Schutz der Minderheit vor rechtswidrigen, politisch motivierten Sanktionen, die durch die parlamentarische Mehrheit verhängt werden. Indem der EGMR die Fälle über die Verfahrensvorgaben löste, machte er den Konventionsstaaten keine inhaltlichen Vorgaben für die Rechtfertigung disziplinarischer Sanktionen. In beiden Fällen war nicht der Inhalt der Äußerungen, sondern die Art und Weise der Darstellung der Anknüpfungspunkt für die Sanktionen. Daher konnte der EGMR der Meinungsfreiheit kein noch größeres Gewicht zuschreiben. Aufsehen erregende Aktionen außerhalb der vorgesehenen Redereihenfolge im Parlament sind weniger schützenswert, als wenn die Abgeordneten ihre Meinung geäußert hätten, nachdem ihnen das Wort erteilt wurde.

1659 EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, §§ ­149–150. 1660 EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, §§ ­139–147. 1661 EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 161. 1662 EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, §§ ­175–159; ebenso EGMR Nr. 35493/13, Szanyi v Ungarn, 08.11.2016, § 32; Nr. 609/14, Scheiring und Szabó v Ungarn, 03.12.2019, §§ 18–19. 1663 EGMR Nr. 35493/13, Szanyi v Ungarn, 08.11.2016, §§ 6–7. 1664 EGMR Nr. 35493/13, Szanyi v Ungarn, 08.11.2016, §§ 31–32.

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b) Pastörs v Deutschland: Ausübung des Rederechts im Parlament Der Fall Pastörs v Deutschland betraf die Äußerung eines NPD-Abgeordneten im Rahmen einer Gedenkveranstaltung im Landtag Mecklenburg-Vorpommerns. In Ausübung seines parlamentarischen Rederechts leugnete er den Holocaust und wurde hierfür anschließend nach Aufhebung seiner parlamentarischen Immunität zu acht Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.1665 Obwohl die Aussagen des Beschwerdeführers, die Holocaust-Leugnung, gegen die Eröffnung des Schutzbereichs sprach, führte die Tatsache, dass die Äußerungen während einer Sitzung des Parlaments gemacht wurden und die Meinungsfreiheit in diesem Zusammenhang stärker geschützt wird, zur Anwendbarkeit des Art. 10 EMRK. Im Unterschied zu Karácsony v Ungarn erfolgte die strafrechtliche Sanktionierung auch nicht wegen der Art und Weise der Äußerung, sondern wegen ihres Inhalts. Der Eingriff in die Meinungsfreiheit unterlag einer sehr genauen Kon­ trolle des EGMR.1666 Da der Landtag von Mecklenburg-Vorpommern die Immunität aufgehoben hatte, war eine strafrechtliche Verurteilung möglich. Diese war nach Art. 10 EMRK auch gerechtfertigt, weil der Beschwerdeführer seine Worte genau geplant und bewusst einzelne strafbare Aussagen in eine längere Rede eingeflochten hatte. Außerdem fiel stark ins Gewicht, dass der Beschwerdeführer seine Meinungsfreiheit nutzte, um Ideen zu verbreiten, die mit dem Text und dem Geist der EMRK sowie ihren demokratischen Werten nicht vereinbar waren.1667 Dieses Urteil zeigt, dass es sogar im Rahmen der Ausübung des parlamentarischen Rederechts Äußerungen geben kann, deren Sanktionierung gerechtfertigt ist. Die Grenzen der parlamentarischen Meinungsfreiheit sind erreicht, wenn strafbare Äußerungen getätigt werden, die mit den Grundwerten der EMRK nicht vereinbar sind. c) Szanyi v Ungarn: Ausübung parlamentarischer Kontrollrechte Die Sache Szanyi v Ungarn betraf nicht nur eine beleidigende Geste des Beschwerdeführers, sondern auch die Ablehnung einer Anfrage des Beschwerdeführers, also die Ausübung seines Statusrechts. Die Anfragen waren jedenfalls provokativ, in Teilen auch vulgär formuliert. Dem Beschwerdeführer stand gegen die Ablehnung kein Rechtsmittel zur Verfügung.1668 Szanyi v Ungarn legte nicht nur die in Karácsony entwickelten Rechtsprechungsprinzipien zugrunde, sondern nahm auch eine deutlich differenziertere Abwägung vor als im Leiturteil, wo vor allem die Verfahrensvorgaben des Art. 10 1665

EGMR Nr. 55225/14, Pastörs v Deutschland, 03.10.2019, §§ 5–6, 48. EGMR Nr. 55225/14, Pastörs v Deutschland, 03.10.2019, §§ 38–39. 1667 EGMR Nr. 55225/14, Pastörs v Deutschland, 03.10.2019, §§ 43–49. 1668 EGMR Nr. 35493/13, Szanyi v Ungarn, 08.11.2016, §§ 8–11. 1666

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EMRK geprüft wurden. Durch die Ablehnung der Interpellationen wurde der Beschwerdeführer daran gehindert, durch Ausübung seiner Statusrechte an der parlamentarischen Debatte teilzunehmen. Dadurch wurde seine Repräsentationsfunktion gegenüber den Wählern eingeschränkt. Auch wenn der EGMR die Formulierungen in den Anfragen missbilligte, so hob er gleichzeitig hervor, dass gerade die parlamentarische Minderheit das Recht hat, eine harsche Sprache zu verwenden.1669 Schließlich argumentierte der Gerichtshof, dass Ordnung und Funktionsfähigkeit des Parlaments durch die Anfragen nicht gestört wurden, dass der Sprecher die Abweisung der Anfragen nicht begründete und vorher keine Warnung oder einen Ordnungsruf aussprach.1670 Eine Ablehnung der Anfragen allein, weil ihre Formulierung nicht den formalen Voraussetzungen entsprach, hielt der EGMR für nicht gerechtfertigt.1671 Auch wenn hier die Form der Anfrage, nicht ihr Inhalt sanktioniert wurde, zeigt die umfassende Abwägung, wie hoch die Anforderungen an die Rechtfertigung sind. Einzelne in ihrer Formulierung unpassende Äußerungen stören die Funktionsfähigkeit des Parlaments nicht. Darüber hinaus ist das Urteil Szanyi v Ungarn bemerkenswert, weil der EGMR hier über eine Organstreitigkeit entscheidet. Dies ist nur möglich, weil der Schutzbereich der Meinungsfreiheit so weit ausgelegt wird, dass auch die schriftliche Anfrage des Beschwerdeführers umfasst war. Es bleibt abzuwarten, ob der EGMR diese Rechtsprechung fortführt und somit konsequenter auf Streitigkeiten zwischen Abgeordnetem und Parlament Einfluss nehmen wird. d) Analyse: Parlamentarische Tätigkeiten im Anwendungsbereich der Meinungsfreiheit Der EGMR begab sich mit dem Karácsony-Urteil auf neues Terrain.1672 Anders als im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK kann die parlamentarische Immunität nicht (nur) den Gewährleistungsgehalt eines Konventionsrechts einschränken,1673 sondern auch verstärken. Im Fall der Meinungsfreiheit von Abgeordneten wird die parlamentarische Immunität als Aspekt in der Abwägung hinzugezogen, wo sie mit dem besonderen Schutz politischer Äußerungen zusammenfällt. Die parlamenta­rische Immunität ergibt sich allerdings nicht aus der Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 EMRK, sondern aus der Entscheidung der Staaten, diese zu schüt 1669

EGMR Nr. 35493/13, Szanyi v Ungarn, 08.11.2016, §§ 36–38. EGMR Nr. 35493/13, Szanyi v Ungarn, 08.11.2016, §§ 40–44. 1671 EGMR Nr. 35493/13, Szanyi v Ungarn, 08.11.2016, §§ 45–46. 1672 Kurze Zeit später stellt sich die gleiche Problematik im Urteil EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016 auf für die Meinungsäußerungen von Richtern, siehe dazu unten ab S. 643. 1673 Siehe hierzu oben ab S. 344. Die parlamentarische Immunität kann auch den Gewährleistungsgehalt der Meinungsfreiheit beschränken, S. 353. Allerdings betrifft dies nicht die Meinungsfreiheit von Abgeordneten. 1670

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zen. Durch die Ausgestaltung der Indemnität haben die Staaten also Einfluss darauf, wie stark die Meinungsfreiheit der Abgeordneten tatsächlich geschützt sein soll. Grund für den durch die Indemnität verstärkten Schutz der Meinungsfreiheit ist nicht die größere persönliche Schutzwürdigkeit der Abgeordneten, sondern die Funktionsfähigkeit des Parlaments und der freie demokratische Diskurs. Die durch Karácsony begonnene und durch die Urteile Szanyi v Ungarn und Pastörs v Deutschland fortgeführte Erweiterung des Schutzbereichs auf Äußerungen im parlamentarischen Verfahren betrachtete die Mehrheit der entscheidenden Richter als unproblematisch. Zuvor hatte sich der EGMR allein mit zwar politischen, aber außerparlamentarischen Äußerungen der Abgeordneten befasst. Durch Karácsony fielen Störungen der parlamentarischen Debatte, die nicht durch ein Statusrecht geschützt waren, in den Schutzbereich. Pastörs v Deutschland betraf das Rederecht des Abgeordneten, Szanyi das schriftliche Fragerecht. Es geht also um Äußerungen, welche die Abgeordneten im Parlament, also in ihrer hoheitlichen Funktion machten. Hierdurch unterscheiden sich diese Fälle auch von den zuvor angesprochenen Fällen der öffentlichen politischen Äußerung eines Abgeordneten etwa im Rahmen eines Interviews oder eines Zeitungsartikels. Die Eröffnung des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 Abs. 1 EMRK prüfte der EGMR in den angesprochenen Urteilen zusammen mit dem Vorliegen eines Eingriffs sehr knapp.1674 Die ausführlichste Begründung findet sich in Szanyi v Ungarn: „[The applicant] was prevented from making the interpellations he intended. The Court notes that interpellation in Hungarian law is a right for MPs to bring controversial issues to the attention of the governing majority and to require explanations, and that the interpellation has to be made in a limited time-frame of three minutes plus one. For an MP to be able to make one, he or she is required to submit its text, containing the related facts and circumstances, beforehand to the Speaker […]. For the Court, interpellation thus constitutes political speech, undoubtedly protected by Article 10 of the Convention, which was in essence admitted by the Government.“1675

Die Begründung einer Anfrage wird von dem EGMR also als politische Rede eingeordnet und fällt deswegen unabhängig vom Kontext in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Der EGMR scheint den gleichen Schluss zu ziehen wie bei öffentlichen Äußerungen von Abgeordneten außerhalb des Parlaments. Diese hatte der EGMR, allein weil sie von einem Abgeordneten stammten, als politische Äußerungen eingestuft, welche besonders stark von der Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 Abs. 1 EMRK geschützt werden.1676 Auch die Regierungen Ungarns und 1674 EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, §§ ­120–121; ebenso knapp auch schon in der erstinstanzlichen Entscheidung Entscheidungen EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn, 16.09.2014, § 46; Nr. 44357/13, Szél u. a. v Ungarn, 16.09.2014, § 43. Außerdem EGMR Nr. 35493/13, Szanyi v Ungarn, 08.11.2016, § 26; Nr. 55225/14, Pastörs v Deutschland, 03.10.2019, § 40. 1675 EGMR Nr. 35493/13, Szanyi v Ungarn, 08.11.2016, § 26. 1676 EGMR Nr. 35493/13, Szanyi v Ungarn, 08.11.2016, § 26.

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Deutschlands haben in den jeweiligen Verfahren nicht geltend gemacht, dass die Meinungsfreiheit gar nicht anwendbar ist.1677 Einzig Richter Wojtyczek sprach in seinem Sondervotum zu Szanyi v Ungarn die Frage an, ob private Äußerungen und die Ausübung von Statusrechten gleichgesetzt werden dürfen. Er vertrat – gestützt auf die deutsche Grundrechtslehre –, dass Menschenrechte keine Träger hoheitlicher Gewalt vor anderen Trägern hoheitlicher Gewalt schützen, wenn sie in offizieller Funktion handeln.1678 „An act undertaken by an individual belongs either to the private or to the official sphere. Acts belonging to the private sphere may benefit from human-rights protection against acts belonging to the official sphere. Acts belonging to the official sphere cannot enjoy such protection. An individual may not invoke human-rights protection when he or she acts in his or her official capacity, especially when performing duties as a member of a State organ or a holder of State office. In the latter case, not only is the individual not protected by humanrights mechanisms, but he or she is bound by human rights in their vertical dimension (that is, in relations between the individual and the State).“1679

Während das Interpellationsrecht im Fall Szanyi v Ungarn ein Kontrollrecht über die Regierung und damit eindeutig eine hoheitliche Tätigkeit sei,1680 hätten die Abgeordneten im Fall Karácsony v Ungarn durch das Ausrollen von Transparenten und die Verwendung eines Megaphons außerhalb ihres parlamentarischen Mandats gehandelt.1681 In Fällen, in denen die Abgrenzung zwischen einer privaten und einer hoheitlichen Äußerung nicht auf der Hand liegt, schlug Wojtyczek eine Gesamtbetrachtung vor.1682 Der EGMR nahm die Unterscheidung zwischen privaten und hoheitlichen Äußerungen nicht vor und konnte daher Aspekte der innerstaatlichen personellen Gewaltenteilung als Frage der Menschenrechte behandeln.1683 Hiermit eröffnete der EGMR ein neues Wirkungsgebiet der EMRK im Verhältnis zwischen zwei Trägern 1677 EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 120; Nr. 35493/13, Szanyi v Ungarn, 08.11.2016, § 26; Nr. 55225/14, Pastörs v Deutschland, 03.10.2019, § 34. 1678 Abweichendes Sondervotum des Richters Wojtyczek zu EGMR Nr. 35493/13, Szanyi v Ungarn, 08.11.2016, § 2 mit Verweis auf Graf Vitzthum, Der funktionale Anwendungsbereich der Grundrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. II, § 48, siehe hier besonders Rn. 48–49, 71–75. 1679 Abweichendes Sondervotum des Richters Wojtyczek zu EGMR Nr. 35493/13, Szanyi v Ungarn, 08.11.2016, § 2. 1680 Abweichendes Sondervotum des Richters Wojtyczek zu EGMR Nr. 35493/13, Szanyi v Ungarn, 08.11.2016, § 5. Auch der EGMR bezeichnete das Interpellationsrecht im Übrigen als Statusrecht, EGMR Nr. 35493/13, Szanyi v Ungarn, 08.11.2016, § 36, ohne daraus eine Pro­ blematik abzuleiten. 1681 Abweichendes Sondervotum des Richters Wojtyczek zu EGMR Nr. 35493/13, Szanyi v Ungarn, 08.11.2016, § 7. 1682 Abweichendes Sondervotum des Richters Wojtyczek zu EGMR Nr. 35493/13, Szanyi v Ungarn, 08.11.2016, § 4. 1683 Abweichendes Sondervotum des Richters Wojtyczek zu EGMR Nr. 35493/13, Szanyi v Ungarn, 08.11.2016, § 9: „[The majority’s approach] artificially transforms issues of checks and balances within the organisation of the State into alleged human-rights issues.“

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hoheitlicher Gewalt, die über Statusrechte streiten. So ist es ihm (inzwischen) möglich, ungerechtfertigte Angriffe der parlamentarischen Mehrheit auf die Minderheit zu sanktionieren, etwa wenn den Abgeordneten der Opposition die Ausübung ihres Rede- oder Fragerechts verweigert wird wie in Szanyi v Ungarn. Es kann nur darüber spekuliert werden, ob der EGMR sich durch diese Rechtsprechung eine Handhabe schaffen wollte, um Einfluss auf die verschiedenen RechtsstaatlichkeitsKrisen in verschiedenen europäischen Ländern zu nehmen. Die Tatsache, dass die Urteile auf die Unterscheidung zwischen hoheitlichen und privaten Tätigkeiten kaum eingehen, deuten jedoch an, dass die EGMR-Richter mehrheitlich schlicht kein Problem erkannten. Die Urteile der Meinungsfreiheit zu Abgeordneten zeigen jedenfalls, dass die EMRK nicht (mehr) nur Bürger vor dem Staat schützt, sondern auch Abgeordnete vor dem Angriff auf ihre Statusrechte.

3. Zwischenfazit Der EGMR hat die Meinungsfreiheit von Abgeordneten sowohl innerhalb als auch außerhalb des parlamentarischen Betriebs für anwendbar erklärt. Im parlamentarischen Prozess wird der Schutz der Meinungsfreiheit durch die von den Staaten gewährleistete parlamentarische Immunität noch gestärkt, sodass ein gerechtfertigter Eingriff in die Meinungsfreiheit auf noch bessere Gründe gestützt werden muss. Überraschend ist, dass der EGMR die Anwendbarkeit der eigentlich die Privatperson schützende Meinungsfreiheit für Abgeordnete im Rahmen ihrer parlamentarischen Tätigkeit nicht einmal thematisiert, sondern voraussetzt. Die Tatsache, dass nur zu Szanyi v Ungarn ein Sondervotum vorliegt, welches diese Entwicklung kritisiert, ist Indikator dafür, dass die Entscheidung unter der Mehrheit der Richter nicht umstritten war. Die Ausdehnung des Schutzes der EMRK auf Intraorganstreitigkeiten erfolgt also en passant. Gleichwohl ist dies für die Untersuchung der Gewaltenteilung bemerkenswert: Die Meinungsfreiheit schützt auch die Statusrechte der Abgeordneten und damit deren hoheitliche Tätigkeit. Die Abgeordneten dürfen an der Ausübung ihrer parlamentarischen Tätigkeit nicht in einer Art und Weise gehindert werden, durch die die Meinungsfreiheit nach Art. 10 Abs. 1 EMRK verletzt wird. Da parlamentarische Äußerungen typischerweise politischer Natur sind, sind Eingriffe besonders schwer zu rechtfertigen, sodass die EMRK Sanktionen gegen Abgeordneten wegen Äußerungen im Parlament oder der Ausübung ihrer parlamentarischen Rechte nur unter strengen Voraussetzungen erlaubt. Gleichwohl macht die EMRK keine Vorgaben, welche Statusrechte den Abgeordneten zustehen müssen. Die parlamentarische Immunität wird zwar herangezogen, um für einen weitergehenden Gewährleistungsgehalt der Meinungsfreiheit zu argumentieren. Sie ergibt sich aber aus den innerstaatlichen Rechtsordnungen, nicht aus der EMRK. Gleiches gilt für das Rederecht oder das Interpellationsrecht. Art. 10 EMRK verlangt lediglich, dass die Abgeordneten, wenn sie sich im Parla-

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

ment äußern, nicht ungerechtfertigt sanktioniert werden. Hierbei ist besonders der Inhalt, nachrangig aber auch die Art und Weise der Äußerung geschützt. Gleichwohl trägt die Rechtsprechung seit Karácsony dazu bei, dass die Abgeordneten ihre Statusrechte, die sich aus der innerstaatlichen Rechtsordnung ergeben, auch ausüben können. Anders als die in Karácsony v Ungarn formulierten allgemeinen Prinzipien nahelegen, wurden die Verfassungswerte der Funktionsfähigkeit und Autonomie des Parlaments bislang in der konkreten Anwendung im Unterschied zu den prozessualen Ableitungen aus Art. 10 Abs. 1 EMRK noch nicht relevant. Karácsony v Ungarn zeigte, dass unabhängig von der materiellen Abwägung in jedem Fall prozessuale Schutzmechanismen eingehalten werden müssen, wenn gegen Abgeordnete disziplinarische Sanktionen wegen einer parlamentarischen Äußerung verhängt werden. Die prozessualen Vorschriften schränken die parlamentarische Autonomie ein und schützen besonders die Minderheit vor politisch motivierten Mehrheitsentscheidungen. Das Urteil Pastörs v Deutschland zeigte, dass ein Eingriff in die Meinungsfreiheit sogar dann gerechtfertigt sein kann, wenn diese am besten geschützt ist  – als parlamentarische Rede, die zunächst der parlamenta­ rischen Immunität unterfällt. Die Aufhebung der parlamentarischen Immunität nach einem konventionskonformen Verfahren vermindert das Schutzbedürfnis bereits. Darüber hinaus ist eine Meinungsäußerung, wie im konkreten Fall, nicht schutzwürdig, wenn sie den Grundwerten der EMRK widerspricht.

V. Parlamentarische Autonomie Die parlamentarische Autonomie ist kein Recht, welches dem einzelnen Abgeordneten zusteht. Sie gewährleistet aber den Abgeordneten als Kollektiv, dass sie ihre eigenen Angelegenheiten, insbesondere ihre Organisation und Arbeitsweise, ohne Einmischung durch andere Organe regeln dürfen.1684 Sie ist ein Aspekt der Gewaltenteilung, weil sie bestimmte Entscheidungen allein dem Parlament zuweist und dadurch andere Organe hiervon ausschließt. Durch Kart v Türkei und Karácsony v Ungarn fand das Konzept der parlamentarischen Autonomie Eingang in die Rechtsprechung des EGMR.1685 Der EGMR definierte die parlamentarische Autonomie als den Schutz interner Vorgänge des Parlaments vor der Einmischung durch andere Staatsgewalten:1686

1684

Brenner, Das Prinzip Parlamentarismus, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 3, § 44 Rn. 42. Vgl. zur Relevanz parlamentarischer Selbstbestimmung Klein, in: Dürig / Herzog / Scholz, GG, Art. 40 Rn. 18. 1685 EGMR Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, § 81; Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, §§ 138, 142–147. Hierzu Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 279–294. 1686 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 279.

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„In accordance with [the well-established constitutional principle of the autonomy of Parliament], widely recognised in the member States of the Council of Europe, Parliament is entitled, to the exclusion of other powers and within the limits of the constitutional framework, to regulate its own internal affairs, such as, inter alia, its internal organisation, the composition of its bodies and maintaining good order during debates. The autonomy of Parliament evidently extends to Parliament’s power to enforce rules aimed at ensuring the orderly conduct of parliamentary business.“1687

Parlamente sind also befugt, ihre eigenen Angelegenheiten ohne Einmischung durch andere Organe zu regeln. Die Autonomie des Parlaments (autonomy of Parliament) und der effektive Ablauf des parlamentarischen Verfahrens (effective operation of Parliament) wurden als Aspekt in der Abwägung herangezogen.1688 Weil die parlamentarische Autonomie zum Bereich des Parlamentsrechts (realm of parliamentary law) gezählt wird, verfügen die Konventionsstaaten über einen weiten Gestaltungsspielraum.1689 Der EGMR verlangte jedoch Mechanismen, um Machtmissbrauch der Mehrheit gegenüber der Minderheit vorzubeugen: „[P]arliamentary autonomy should not be abused for the purpose of suppressing the freedom of expression of MPs, which lies at the heart of political debate in a democracy. It would be incompatible with the purpose and object of the Convention if the Contracting States, by adopting a particular system of parliamentary autonomy, were thereby absolved from their responsibility under the Convention in relation to the exercise of free speech in Parliament […]. Similarly, the rules concerning the internal operation of Parliament should not serve as a basis for the majority to abuse its dominant position vis-à-vis the opposition. The Court attaches importance to protection of the parliamentary minority from abuse by the majority. It will therefore examine with particular care any measure which appears to operate solely, or principally, to the disadvantage of the opposition […].“1690

1. Kart v Türkei: Aufhebung der parlamentarischen Immunität Ob die parlamentarische Immunität von Abgeordneten aufgehoben wird, entscheiden üblicherweise die Parlamente oder parlamentarische Gremien.1691 Der EGMR untersuchte in Kart v Türkei, ob eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK 1687

EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 142. Siehe in der konkreten Anwendung EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, §§ 152–157. 1689 EGMR Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, § 82; Nr. 27756/05 und 41219/07, Urechean und Pavlicenco v Moldawien, 02.12.2014, § 43; Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 146. Die Urteile formulieren diese Aussage jeweils im Kontext der Ausgestaltung der parlamentarischen Immunität, welche auch die parlamentarische Autonomie schütze. Allgemeiner formuliert in den erstinstanzlichen Entscheidungen EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn, 16.09.2014, § 45; Nr. 44357/13, Szél u. a. v Ungarn, 16.09.2014, § 42. 1690 EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 147. 1691 Siehe verfassungsvergleichend Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 9 Rn. 187–193. 1688

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vorlag, weil die parlamentarische Immunität des Beschwerdeführers nicht aufgehoben wurde.1692 Legitimer Zweck der Einschränkung waren die Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit des Parlaments.1693 „The applicant’s interest in this respect must be weighed against his right to a court and not against any right to have his immunity lifted at his request. Such decisions are a matter for the internal proceedings of Parliament and therefore fall within that body’s sphere of competence alone. The Court’s role is to examine whether the parliamentary procedure followed is compatible with the rights guaranteed by the Convention.“1694

Kart v Türkei zeigte also nicht nur, dass der EGMR die Aufhebung der parlamentarischen Immunität als Aspekt der parlamentarischen Autonomie einordnet, sondern auch, dass der Gerichtshof für sich in Anspruch nahm zu untersuchen, ob die im internen parlamentarischen Verfahren getroffenen Entscheidungen konventionskonform sind. Wie bereits im Rahmen der Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 EMRK machte der EGMR in erster Linie Verfahrensvorschriften für die parlamentarische Autonomie. Nur wenn das Verfahren bei der Entscheidung über die Aufhebung der parlamentarischen Immunität den Anforderungen der EMRK entspricht, kann das Allgemeininteresse an der Funktionsfähigkeit des Parlaments größer sein als das Partikularinteresse am Recht auf Zugang zum Gericht. „[T]he machinery for implementing parliamentary liability by a decision to lift or not to lift immunity is one of the ways in which Parliament exercises its autonomy. The decisions taken in the matter by parliamentary bodies, which are political bodies by definition, are therefore political decisions by nature and not court decisions, so they cannot be expected to satisfy the same criteria as court decisions when it comes to giving reasons.“1695

Im konkreten Fall reichten dem EGMR die vorgesehenen Verfahrensvorschriften aus.1696 Hierzu gehörten die Möglichkeit, einen Rechtsbehelf einzulegen, die Vorbereitung des Verfahrens durch ein Komitee, die Entscheidung durch das Plenum und ein Stellungnahmerecht des Abgeordneten.1697 Aus diesem Einzelfall kann jedoch nicht abgeleitet werden, welche Verfahrensregelungen einzeln oder in ihrer Gesamtheit tatsächlich zwingend sind. Darüber hinaus maß der EGMR dem Umstand Bedeutung zu, dass das türkische Parlament in der Vergangenheit auch anderen Anträgen auf Aufhebung der Immunität nicht stattgegeben hatte, sodass keine Diskriminierung einer Minderheit oder des Beschwerdeführers vorlag.1698 Die parlamentarische Autonomie darf also nicht so ausgeübt werden, dass die Mehrheit diskriminierende Entscheidungen gegenüber der Minderheit trifft. 1692

Siehe für eine Darstellung des Sachverhalts bereits oben ab S. 351. Siehe für eine Auseinandersetzung mit dem Kart-Urteil im Zusammenhang mit der parlamentarischen Autonomie Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 274–277. 1693 EGMR Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, §§ 88, 90. 1694 EGMR Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, § 99. 1695 EGMR Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, § 101. 1696 EGMR Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, § 100. 1697 EGMR Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, §§ 31–32. 1698 EGMR Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, § 102.

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2. Karácsony v Türkei: Ordnung des parlamentarischen Prozesses und Verhängung disziplinarischer Maßnahmen In der Karácsony-Streitigkeit machte der EGMR deutlich, dass die interne Organisation, inklusive der Zusammensetzung weiterer parlamentarischer Gremien sowie die verfahrensrechtliche Regelung der parlamentarischen Debatte, Teil der parlamentarischen Autonomie sind beziehungsweise je nach Ausgestaltung der nationalen Rechtsordnung sein können.1699 Diese parlamentarische Ordnung regelt auch, wann, wie lange und in welchem Zusammenhang die Abgeordneten das Wort ergreifen und somit ihre Meinung gemäß Art. 10 EMRK äußern können. Auch wenn die Abgeordneten sich wegen der Indemnität nicht strafrechtlich für ihre Äußerungen verantworten müssen, sind sie dennoch an die parlamentarische Ordnung gebunden. „[T]he protection afforded to free speech in Parliament serves to protect the interests of Parliament as a whole, but on the other hand, free speech should not be used in a way that undermines the effective functioning of Parliament.“1700

Auch die Verhängung disziplinarischer Maßnahmen, wenn die parlamenta­ rischen Regeln nicht eingehalten werden, fällt – wie im Fall Karácsony v Ungarn – in die parlamentarische Autonomie.1701 Die rechtsvergleichende Betrachtung des EGMR zeigte, dass alle nationalen Parlamente über die Möglichkeit verfügen, disziplinarische Maßnahmen gegen Abgeordnete zu verhängen. Deren Ausgestaltung und Anwendung steht weitestgehend im Gestaltungsspielraum der Staaten. Sie müssen sich aber einerseits daran orientieren, was notwendig ist, um die Funktionsfähigkeit eines Parlaments zu erhalten oder zu stärken, und dürfen andererseits den politischen Diskurs im Dienste der Demokratie nicht zu sehr einschränken. Hierzu gehört insbesondere, dass die internen parlamentarischen Regelungen zur Sanktionierung von Abgeordneten nicht dazu missbraucht werden sollen, dass die Opposition unterdrückt wird.1702 Der EGMR gibt vor, dass die parlamentarische Ordnung einen großen Spielraum für Vorgaben zu Ort, Zeit und Art und Weise einer Äußerung haben, einen deutlich kleineren aber für Sanktionierungen bezüglich des Inhalts.1703 An dieser Stelle besteht eine Querverbindung zwischen dem Schutzgehalt der politischen Meinungsfreiheit und den Anforderungen an die parlamentarische Autonomie. 1699 EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 142. Vgl. in anderem Zusammenhang auch EGMR Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, § 99 (siehe hierzu das wörtliche Zitat zu Fn. 1694). 1700 EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 144. 1701 Siehe hierzu auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 282–286, welche ausführlich auf die erstinstanzlichen Urteile eingeht. 1702 EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, §§ 145–147. 1703 EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 144; Nr. 35493/13, Szanyi v Ungarn, 08.11.2016, § 33.

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Die Verfahrensgarantien des Art. 10 EMRK flossen genauso wie die parlamentarische Autonomie in die Verhältnismäßigkeitsprüfung ein.1704 Der EGMR definierte Mindeststandards für zwei Situationen: Im Falle einer unverzüglichen Sanktion, die sich unmittelbar an ein sanktionswürdiges Verhalten anschließt, sollte der Abgeordnete in der Regel in einem ersten Schritt vor der Sanktion gewarnt werden, bevor diese tatsächlich verhängt wird. Eine Ausnahme von dem Erfordernis einer Warnung bestand nur, wenn der Abgeordnete sein Rederecht offensichtlich missbrauchte oder sich offensichtlich beleidigend verhielt.1705 Wurden die Sanktionen gegen den Abgeordneten erst später verhängt, waren die Anforderungen höher: Dem Abgeordneten musste die Möglichkeit zur Stellungnahme zustehen. Das Verfahren durfte sich dabei an den Besonderheiten des parlamentarischen – im Vergleich zum gerichtlichen – Prozesses orientieren. Der Parlamentspräsident beziehungsweise der Sprecher musste politisch und persönlich unvoreingenommen sein. Ein Recht auf einen Rechtsbehelf außerhalb des Parlaments bestand angesichts der parlamentarischen Autonomie nicht. Jedoch sollte wenigstens eine knappe Begründung der Sanktion erfolgen.1706 Damit formulierte der EGMR Anforderungen an ein nachträgliches parlamentarisches Sanktionsverfahren, an welches die Staaten im Rahmen ihrer parlamentarischen Autonomie gebunden sind. Die parlamentarische Autonomie schützt also nur die Parlamente vor der Einmischung durch andere Organe. Sie führt nicht dazu, dass der EGMR selbst von Vorgaben absieht. 3. G. K. v Belgien: Annahme eines Rücktritts Das Urteil G. K. v Belgien illustrierte, dass auch die Entscheidung über die Annahme eines Rücktritts eines Abgeordneten in den Bereich der parlamentarischen Autonomie fällt.1707 „[L]e pouvoir autonome d’appréciation de l’organe prenant la décision ne doit pas être excessif; il doit être, à un niveau suffisant de précision, circonscrit par les dispositions du droit interne.“1708

Das Vorliegen einer ausreichend klaren Rechtsgrundlage verneinte der EGMR, weil nicht klar geregelt war, ob der Rücktritt mit Abgabe der Rücktrittserklärung oder erst durch die Bestätigung des Senats wirksam wurde.1709

1704

EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 152. EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, § 154. 1706 EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn (GK), 17.05.2016, §§ ­156–158. 1707 EGMR Nr. 58302/10, G. K. v Belgien, 21.05.2019, § 57. 1708 EGMR Nr. 58302/10, G. K. v Belgien, 21.05.2019, § 57. 1709 EGMR Nr. 58302/10, G. K. v Belgien, 21.05.2019, §§ 58–59. 1705

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Darüber hinaus forderte der EGMR auch für diese Fallgruppe, dass die Parlamente grundlegende Verfahrensregeln einhalten. Der EGMR kritisierte, dass das Präsidium, welches die Plenumsentscheidung vorbereitete, die Beschwerdeführerin nicht anhörte, sondern aufgrund der Aktenlage entschied und dass es keine Begründung dafür abgab, den Widerruf der Beschwerdeführerin nicht zu akzeptieren. Außerdem waren zwei Abgeordnete Mitglied des Präsidiums und auch des später entscheidenden Plenums, die nach der Darstellung der Beschwerdeführerin daran beteiligt waren, sie aus dem Mandat zu drängen.1710 Hiermit verlangte der EGMR im Rahmen des Art. 3 ZP die gleichen Verfahrensanforderungen wie zuvor bei der Sanktionierung disziplinarischer Maßnahmen als Eingriff in die Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 Abs. 1 EMRK. An die gesetzliche Grundlage für einen Grundrechtseingriff durch eine autonome parlamentarische Entscheidung stellt die EMRK die gleichen Anforderungen wie an jeden anderen Eingriff. Der vom EGMR betonte große Gestaltungsspielraum gilt jedenfalls nicht für die Verfahrensvorgaben. 4. Mugemangango v Belgien: Überprüfung des Wahlergebnisses In Mugemangango v Belgien hatte sich der Beschwerdeführer als Kandidat zur Wahl gestellt und beantragte für seinen Wahlkreis eine erneute Untersuchung der leer abgegebenen oder ungültigen Stimmzettel und eine Neuauszählung der Stimmen. Hierfür zuständig war das Walloon Parliament’s Committee on the Examination of Credentials, also ein Organ des wallonischen Parlaments. Der EGMR prüfte eine Verletzung des passiven Wahlrechts gemäß Art. 3 ZP und verwies in diesem Zusammenhang auf die in Karácsony aufgestellten Grundsätze zur parlamentarischen Autonomie.1711 Zwar bestätigte der EGMR grundsätzlich den großen Spielraum der Konventionsstaaten.1712 Im konkreten Fall, in welchem sowohl das Credentials Committee als auch das Plenum des wallonischen Parlaments aus Mitgliedern zusammengesetzt war, deren Wahl der Beschwerdeführer angriff und deren Parlamentszugehörigkeit noch nicht bestätigt war, wog die parlamentarische Autonomie in der Abwägung geringer.1713 Die Ablehnung, die Stimmen im Wahlkreis des Beschwerdeführers neu auszuzählen, stellte eine Verletzung des Art. 3 ZP dar, weil der Spruchkörper nicht ausreichend unparteilich war, weil dessen Ermessen gesetzlich nicht ausreichend bestimmt war und weil keine faire, objektive und begründete

1710

EGMR Nr. 58302/10, G. K. v Belgien, 21.05.2019, §§ 61–63. EGMR Nr. 310/15, Mugemangango v Belgien (GK), 10.07.2020, § 74. 1712 EGMR Nr. 310/15, Mugemangango v Belgien (GK), 10.07.2020, § 88. 1713 EGMR Nr. 310/15, Mugemangango v Belgien (GK), 10.07.2020, §§ 91–92. 1711

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Entscheidung garantiert war.1714 In der Anwendung auf den Fall fand die parlamentarische Autonomie keine Erwähnung mehr. Der EGMR legte die gleichen Maßstäbe an die Rechtfertigung an wie bei anderen Eingriffen in das passive Wahlrecht; die parlamentarische Autonomie wirkte sich hier trotz der Erwähnung in den generellen Rechtsprechungsprinzipien nicht aus. Daher ist aus Mugemangango v Belgien zu schließen, dass selbst wenn ein Parlament oder ein parlamentarisches Organ Wahlprüfungen durchführen darf, ein Eingriff in Art. 3 ZP nicht wegen der parlamentarischen Autonomie leichter gerechtfertigt werden kann.

5. Zwischenfazit Die parlamentarische Autonomie wird erst in jüngerer Zeit vom EGMR im Rahmen der Verhältnismäßigkeit herangezogen, um die Maßstäbe der Prüfung zu Gunsten des Parlaments zu erweitern. Der EGMR erkannte die Aufhebung der parlamentarischen Immunität, die Aufrechterhaltung der parlamentarischen Ordnung und die Verhängung von disziplinarischen Sanktionen sowie die Annahme eines Rücktritts als Entscheidungen an, die im Rahmen der parlamentarischen Autonomie getroffen werden dürfen, sodass den Staaten ein großer Spielraum zusteht. Der EGMR nimmt also hin, dass das Parlament diese Entscheidungen eigenständig und ohne externe, insbesondere ohne gerichtliche Kontrolle treffen kann. Zwar gibt der EGMR nicht vor, dass Entscheidungen im Rahmen der hier aufgezählten Fallgruppen in parlamentarischer Autonomie getroffen werden müssen. Jedoch erkennt er diese Verfassungsentscheidung jedenfalls als konventionskonform an. Durch die Anerkennung des Verfassungsgrundsatzes orientieren sich die Verfahrensanforderungen an den Besonderheiten des parlamentarischen Prozesses. Wie genau das Verfahren in den einzelnen Fallgruppen ausgestaltet sein muss, kann aus den wenigen Entscheidungen nicht allgemeingültig ermittelt werden. Die Anforderungen an das parlamentarische Verfahren sind jedoch geringer als an das gerichtliche. Gleichwohl müssen die Verfahrensvorschriften so ausgestaltet sein, dass willkürliche Entscheidungen genauso ausgeschlossen werden wie eine unzulässige Druckausübung der politischen Mehrheit auf die Opposition.

VI. Fazit Ein Parlament muss in der Lage sein, seinen Aufgaben effektiv nachzukommen. Der EGMR hat die Funktionsfähigkeit des Parlaments aus zwei dogmatischen Anknüpfungspunkten abgeleitet: einerseits aus dem Gewährleistungsgehalt der Art. 10 1714 So die Zusammenfassung in EGMR Nr. 310/15, Mugemangango v Belgien (GK), 10.07.2020, § 122.

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EMRK und Art. 3 ZP, andererseits aus den legitimen Zwecken und Abwägungsaspekten zur Einschränkung verschiedener Konventionsrechte. Das Recht gemäß Art. 3 ZP, das Mandat nach der Wahl auszuüben, ist als Annex des passiven Wahlrechts schon lange anerkannt und schützt die Unabhängigkeit der Abgeordneten vor unfreiwilligem Mandatsverlust oder unzulässiger Einflussnahme durch ihre Parteien oder durch die Hoheitsgewalt. Zwar gibt es bislang keine Urteile, in denen die Art und Weise der Mandatsausübung thematisiert wurde, stets ging es um den Bestand beziehungsweise Erhalt des Mandats. Die Tatsache, dass die Abgeordneten davor geschützt werden, ihr Mandat unfreiwillig niederlegen zu müssen, zeigt aber, dass die EMRK die Abgeordneten vor Zwang und Druck schützen möchte. Indem der EGMR in der Rechtfertigungsprüfung zu Art. 3 ZP Wählerinteressen in die Abwägung einstellte, machte er die Abgeordneten zu Stellvertretern in Streitigkeiten, welche die Wähler selbst nicht führen können. Besonders bedeutsam wird diese Wirkungsrichtung des Wahlrechts, sobald es um den Schutz der politischen oder parlamentarischen Minderheit geht. Die Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 EMRK schützt Äußerungen von Abgeordneten außerhalb des Parlaments und seit einigen Jahren auch im parlamentarischen Prozess. Der EGMR zieht den Gewährleistungsumfang der Meinungsfreiheit also so weit, dass die Abgeordneten auch in ihrer parlamentarischen Tätigkeit, also in einem nicht-privaten, sondern hoheitlichen Bereich geschützt werden. Sanktionen gegen Abgeordnete wegen einer Äußerung im Parlament, die im Rahmen der parlamentarischen Autonomie in der Regel durch das Parlament selbst oder dessen Untereinheiten getroffen werden, unterliegen somit der Kontrolle des EGMR. Eine Einschränkung der Meinungsfreiheit der Abgeordneten kann gerechtfertigt sein, wenn dieser die Funktionsfähigkeit des Parlaments gestört hat. Gleichzeitig schützt der sich auf die parlamentarische Debatte ausdehnende Gewährleistungsgehalt des Art. 10 EMRK seinerseits die parlamentarische Funktionsfähigkeit, weil die freie Debatte ermöglicht wird. Der zweite Anknüpfungspunkt, die Funktionsfähigkeit des Parlaments, ist als legitimer Zweck einer Einschränkung von Art. 6 und Art. 10 EMRK sowie in Form der parlamentarischen Autonomie auch zu Art. 3 ZP relevant. Dabei spricht der EGMR nicht explizit von der parlamentarischen Funktionsfähigkeit, dieser Grundgedanke steht aber hinter den Erwägungen des EGMR: Im Kontext allgemeiner Unwählbarkeitsvorschriften formulierte der EGMR als legitimen Zweck the normal functioning of [a State’s] own institutional system, im Rahmen der Unvereinbarkeit verschiedener hoheitlicher Ämter sprach der EGMR von der „Unabhängigkeit der Abgeordneten“ (independence of members of parliament). Die parlamentarische Immunität als Eingriff in das Recht auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 EMRK wird mit dem Schutz der freien Meinungsäußerung im Parlament und der Gewaltenteilung zwischen Legislative und Judikative gerechtfertigt. Schließlich stellte der EGMR in jüngeren Urteilen und verschiedenen Kontexten zusätzlich die parlamentarische Autonomie als Verfassungsprinzip, welches

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ebenfalls den parlamentarischen Prozess schützt, in die Abwägung der Verhältnismäßigkeitsprüfung ein. Abhängig von der jeweiligen Verfassungsordnung werden Entscheidungen allein dem Parlament zugeschrieben und dadurch andere hoheitliche Stellen, insbesondere die Gerichte, von einer Entscheidung in der Sache ausgeschlossen. So verhindert die parlamentarische Immunität, dass Gerichte über die Strafbarkeit von Äußerungen entscheiden, die Abgeordnete im parlamentarischen Prozess machen. Parlamente können aber sowohl über die Aufhebung der Immunität für Straftaten außerhalb des parlamentarischen Prozesses als auch über die Verhängung eigener disziplinarischer Sanktionen für Vergehen gegen die parlamentarische Ordnung entscheiden.1715 Allerdings müssen auch Verfahren, die in parlamentarischer Autonomie durchgeführt werden, verfahrensrechtliche Sicherungsmechanismen aufweisen, welche insbesondere die Opposition vor machtmissbräuchlichen Entscheidungen der politischen Mehrheit im Parlament schützen. Die unterschiedlichen dogmatischen Anknüpfungspunkte haben Auswirkungen auf die Verpflichtung der Konventionsstaaten. Soweit sich die Funktionsfähigkeit des Parlaments aus den Schutzbereichen der Art. 3 ZP und Art. 10 EMRK ableitet, sind die Konventionsstaaten unmittelbar verpflichtet. Sie müssen also – vorbehaltlich eines gerechtfertigten Eingriffs – dafür sorgen, dass die Abgeordneten ihr Mandat tatsächlich und effektiv bis zum Ende der Legislaturperiode ausüben können und dass sie ihre Meinung frei im parlamentarischen Prozess äußern können. Soweit die Funktionsfähigkeit des Parlaments als legitimer Zweck oder die parlamentarische Autonomie als Abwägungsaspekt angeführt wurde, handelte es sich um Argumentationen der Konventionsstaaten. In diesen Fällen bestätigte der EGMR lediglich, dass die Konventionsstaaten die strittigen Maßnahmen ergreifen dürfen, um die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu schützen. Wurde die Funktionsfähigkeit des Parlaments also im Rahmen der Rechtfertigung relevant, stand lediglich in Frage, ob der jeweilige Konventionsstaat sich im Rahmen seines Gestaltungsspielraums hielt. Hieraus ist keine unmittelbare Verpflichtung zum Schutz der parlamentarischen Immunität abzuleiten, sondern nur die Bestätigung, dass eine konkrete Ausgestaltung im Einzelfall konventionskonform oder konventionswidrig war. Zusammenfassend schützt die EMRK über verschiedene Anknüpfungspunkte den effektiven parlamentarischen Prozess im Sinne des in der EMRK verankerten demokratischen Leitbildes1716. Das Parlament darf im Sinne der parlamentarischen Autonomie seine Angelegenheiten selbst regeln. Es muss aber dafür sorgen, dass eine freie, pluralistische Diskussion möglich ist. Der Minderheitenschutz ist für

1715 Dies entspricht auch der rechtsvergleichenden Beobachtung der Venedig-Kommission, CDL-AD(2014)011, Report in the Scope and Lifting of Parliamentary Immunity, angenommen am 21.–22.03.2014, § 100. Allerdings erwähnt die Venedig-Kommission, ebda. § 55, dass in einigen Staaten die Indemnität auch Schutz vor den meisten disziplinarischen Maßnahmen bietet. 1716 Siehe zum demokratischen Leitbild der EMRK oben ab S. 134.

D. Ergebnis: Konventionsrechtliche Anforderungen an die legislative Gewalt  

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die parlamentarische Funktionsfähigkeit von essentieller Bedeutung. Der EMRK liegt die Vorstellung eines unabhängigen Abgeordneten zugrunde, welcher weder durch seine eigene Partei oder den politischen Gegner beeinflusst oder unter Druck gesetzt werden kann noch durch andere Träger hoheitlicher Gewalt. Dies machte der EGMR auch in den erstinstanzlichen Urteilen der Sache Karácsony v Ungarn deutlich, als sich der EGMR zur parlamentarischen Immunität äußerte: „It is common practice in Parliaments of the Member States of the Council of Europe that Parliaments exercise control over behaviour in Parliament. […] The Court notes the need for such autonomous action in the context of parliamentary immunity […], which is a personal aspect of the functional autonomy of the institution of Parliament. The immunity of members protects parliamentarians and Parliament from external interference, while internal autonomy in the management of Parliament’s affairs protects Parliament against intrusion.“1717

D. Ergebnis: Konventionsrechtliche Anforderungen an die legislative Gewalt Die EMRK macht Vorgaben zur Gesetzgebung als hoheitliche Tätigkeit, zu den gesetzgebenden Organen sowie zu dem rechtlichen Status der Abgeordneten als Organwalter. Das Wahlrecht aus Art. 3 ZP verpflichtet die Konventionsstaaten, mindestens eine gesetzgebende Körperschaft einzurichten, die gewählt wird, pluralistisch besetzt ist, eine entscheidende Rolle im Gesetzgebungsverfahren spielt und verfassungsrechtlich verankert ist. Damit gestaltet Art. 3 ZP das konventionsrechtliche Demokratieprinzip entscheidend aus und macht Vorgaben zu den von den Konventionsstaaten zwingend einzurichtenden Organen. Die Auswirkungen der institutionellen Vorgaben des Art. 3 ZP auf die Staatsorganisation der Konventionsstaaten dürfen jedoch nicht überschätzt werden. Die EMRK verlangt, dass auf jeder eigenständigen hoheitlichen Ebene ein Organ den Anforderungen der gesetzgebenden Körperschaft entspricht. In Matthews v Vereinigtes Königreich erfolgte eine Verurteilung, weil den Bürgern Gibraltars die Teilnahme an der Wahl zum Europäischen Parlament und damit am demokratischen Prozess der damaligen EG verweigert wurde. Hieraus ist abzuleiten, dass die Bürger nicht nur ein Wahlrecht zu einer gesetzgebenden Körperschaft haben, sondern mehrere gesetzgebende Körperschaften wählen dürfen, wenn verschiedene hoheitliche Ebenen – im konkreten Fall sowohl die nationale als auch die

1717 EGMR Nr. 42461/13 und 44357/13, Karácsony u. a. v Ungarn, 16.09.2014, §§ 43–44; Nr. 44357/13, Szél u. a. v Ungarn, 16.09.2014, §§ 40–41. Dieses Zitat auch bei Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 280.

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

europäische – gesetzgebend tätig werden. Ein Parlament als Repräsentativorgan der Bevölkerung mit entscheidender Rolle im Gesetzgebungsprozess ist jedoch ohnehin notwendiger Bestandteil jeder demokratischen Verfassungsordnung. In allen Konventionsstaaten gibt es ein nationales Parlament sowie, sofern die Staaten nicht zentralistisch organisiert sind, weitere regionale oder föderale Parlamente, sodass die Verurteilung eines Konventionsstaates, weil er die institutionellen Anforderungen an die gesetzgebende Körperschaft nicht erfüllt, bislang sehr selten geblieben ist. Ansonsten ist der Begriff der gesetzgebenden Körperschaft in der EGMR-Rechtsprechung relevant, um die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Wahlrechts zu prüfen. Die EMRK macht keine Vorgaben dazu, ob beziehungsweise wie andere hoheitliche Organe in den Gesetzgebungsprozess eingebunden sein dürfen. Damit besteht ein großer Spielraum für die Konventionsstaaten insbesondere hinsichtlich der Einrichtung zweiter parlamentarischer Kammern. Auch die einflussreiche Rolle eines Staatspräsidenten ist hiernach nicht explizit ausgeschlossen. Genauso verpflichtet die EMRK nicht dazu, dass bestimmte sachliche Entscheidungen zwingend von den Parlamenten getroffen werden müssen. Und auch wenn diese Alternative vom EGMR bislang lediglich abstrakt formuliert und in der konkreten Anwendung noch nicht relevant wurde, scheint die EMRK sogar eine gesetzgebende Körperschaft ohne Zustimmungsrecht im Gesetzgebungsprozess nicht per se für konventionswidrig zu halten, wenn ein Organ stattdessen weitreichende Kontrollrechte gegenüber der eigentlichen Gesetzgebung hat. Auch wenn die konkreten aus dem Wahlrecht ableitbaren Anforderungen an die parlamentarische Gesetzgebung nicht sehr weitreichend sind, darf nicht unterschlagen werden, dass Art. 3 ZP dazu beiträgt, den allgemein anerkannten demokratischen Standard zu erhalten. Die Konventionsstaaten dürfen ihre direkt gewählten Parlamente beziehungsweise die direkt gewählten ersten parlamentarischen Kammern nicht abschaffen oder entmachten. Genauso dürfte eine Veränderung des Wahlsystems, nach der die Abgeordneten von mindestens einem an der Gesetzgebung entscheidend beteiligten Organ nicht mehr unmittelbar gewählt werden, konventionswidrig sein. Das Gesetz als Eingriffsgrundlage und zur Ausgestaltung der Konventionsrechte wird materiell verstanden und muss somit nicht von einer gesetzgebenden Körperschaft im Sinne des Art. 3 ZP erlassen werden. Statt zwischen Legislative, Exekutive und Judikative zu differenzieren, ist die Unterscheidung zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung relevant. Die rechtsetzende Gewalt ist verpflichtet, die Rechtsnormen so auszugestalten, dass bei der Rechtsanwendung Willkür verhindert wird. Welche Organe rechtsetzend tätig werden dürfen, gibt der EGMR nicht vor. Die Gesetzgebung zum Zwecke der Einschränkung von Konventionsrechten wird also nicht einem oder mehreren Organen zugeordnet. Entscheidend für die Einordnung einer Norm als Gesetz ist neben den qualitativen Merkmalen, dass sie als bindend und rechtmäßig im nationalen Recht anerkannt ist. Im Gegensatz zu

D. Ergebnis: Konventionsrechtliche Anforderungen an die legislative Gewalt  

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Art. 3 ZP und zur gesetzgebenden Körperschaft, die im Lichte des Demokratieprinzips ausgelegt werden, entwickelte der EGMR seine Rechtsprechung zur legislativen Tätigkeit, der Gesetzgebung, auf der Grundlage des Rechtsstaatsprinzips. Eine Ausnahme ist jedoch der organisatorische Gesetzesvorbehalt gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK zur Einrichtung eines Gesetzes, der auch auf alle anderen Gerichtsbegriffe in der EMRK sowie auf die gesetzliche Ermächtigung einer Amtsperson mit richterlichen Befugnissen gemäß Art. 5 Abs. 3 EMRK übertragen werden kann. In diesem Fall wird nicht nur das Rechtsstaatsprinzip, sondern auch das Demokratieprinzip zur Auslegung des Gesetzesbegriffs herangezogen. Art. 6 Abs. 1 EMRK verlangt also ein formelles Gesetz und damit eine Rechtsetzung durch den parlamentarischen Gesetzgeber im Sinne des Art. 3 ZP, welcher selbst über den grundsätzlichen Rahmen der Gerichts- und Verfahrensorganisation entscheiden muss und nur zur Ausgestaltung dieses Rahmens Befugnisse an exekutive Stellen delegieren darf. Im Falle der Gerichtsorganisation weist die EMRK die Gesetzgebung also eindeutig den Parlamenten zu. Diese Zuordnung müssen die Konventionsstaaten in ihre eigene Rechtsordnung übernehmen. Der parlamentarische Prozess wird maßgeblich über den Status der Abgeordneten geschützt, welcher sowohl in den Gewährleistungsgehalt des Art. 10 EMRK als auch des Art. 3 ZP einbezogen ist. Durch diese Rechte schützt die EMRK die weisungsfreie Ausübung des parlamentarischen Mandats. Indem der EGMR hoheitliche Tätigkeiten in den Schutzbereich der Konventionsrechte einbezieht, kann er sich zu institutionellen Rechten der Abgeordneten äußern. Die Ausübung parlamentarischer Rechte darf nicht auf eine Weise eingeschränkt werden, die der Meinungsfreiheit aus Art. 10 Abs. 1 EMRK widerspricht, die politische Äußerungen besonders schützt. Außerdem hat der EGMR Inkompatibilitäten und Unwählbarkeitsvorschriften als Schranke des passiven Wahlrechts gemäß Art. 3 ZP sowie die parlamentarische Immunität als Schranke des Rechts auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK sowohl von Dritten als auch von den Abgeordneten selbst anerkannt. Dies bedeutet nicht, dass die EMRK die Konventionsstaaten dazu verpflichtet, Inkompatibilitätsvorschriften des Abgeordnetenmandats mit anderen hoheitlichen Tätigkeiten oder Vorschriften der parlamentarischen Immunität einzurichten. Haben die Konventionsstaaten solche Regelungen jedoch vorgesehen, sind diese prinzipiell konventionskonform, sofern sie dazu dienen, die Funktionsfähigkeit des Parlaments abzusichern. Die Funktionsfähigkeit des Parlaments kann die Meinungsäußerung der Abgeordneten gerechtfertigt einschränken, wenn sie den parlamentarischen Prozess stören oder mit ihren Äußerungen gegen die rechtsstaatlichen und demokratischen Grundwerte der EMRK verstoßen. Die parlamentarische Autonomie erlaubt den Abgeordneten als Kollektiv schließ­ lich, bestimmte Fragen eigenständig ohne Einmischung anderer hoheitlicher Organe, insbesondere von Gerichten zu entscheiden. Die Staaten sind jedoch nicht verpflichtet, die Parlamente bestimmte Entscheidungen in parlamentarischer

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Kap. 3: Die gesetzgebende Gewalt  

Autonomie treffen zu lassen. Vielmehr finden sich in der EGMR-Rechtsprechung Einzelbeispiele dafür, welche Entscheidungen in parlamentarischer Autonomie getroffen werden dürfen. Hierbei handelt es sich um Fallgestaltungen, welche die Rechtsverhältnisse der gewählten Abgeordneten betreffen. Geht es hingegen um die Überprüfung eines Wahlergebnisses, welches sich noch auf die Besetzung des Parlaments auswirken kann, gesteht der EGMR den Konventionsstaaten keinen vergrößerten Entscheidungsspielraum zu. Insgesamt schützen Art. 3 ZP und die Rechtsprechung zum Status der Abgeordneten zusammen einen pluralistischen demokratischen Prozess, in dem die Abgeordneten ihr Mandat frei ausüben können sowie die parlamentarische Selbstverwaltung.

Kapitel 4

Die rechtsprechende Gewalt Die verfassungsübergreifende Aufgabe der Gerichte ist es, über unterschiedliche Streitigkeiten und Strafen zu entscheiden.1718 Eine konkretere abschließende und umfassende Definition der gerichtlichen Tätigkeit ist schwierig zu formulieren.1719 Die einzelnen gerichtlichen Zuständigkeiten und der Inhalt der gerichtlichen Entscheidungen ergeben sich aus den innerstaatlichen Rechtsordnungen. Gerichte entscheiden einerseits Streitigkeiten zwischen Privatpersonen. Andererseits kontrollieren Verwaltungsgerichte die Ausübung von Hoheitsgewalt durch exekutive Organe.1720 Verfassungsgerichte haben häufig unter anderem die Aufgabe, parlamentarische Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu kontrollieren.1721 Bei ihrer rechtsprechenden Tätigkeit sind die Gerichte allein an das Recht gebunden.1722 Die Richter üben ihre Funktion unabhängig aus.1723 Das Recht auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK ist der zentrale Anknüpfungspunkt für institutionelle Anforderungen an die innerstaatlichen Gerichte.1724 Daneben enthält die EMRK weitere Rechte auf Zugang zum Gericht oder streitentscheidende Organe. Schließlich berufen sich immer häufiger Richter der nationalen Gerichte auf ihre eigenen Freiheitsrechte im Zusammenhang mit der Ausübung ihrer hoheitlichen Tätigkeiten. 1718

Haller / Kölz / Gächter, Allgemeines Staatsrecht, Rn. 931; Pernthaler, Allgemeine Staatslehre, S. 278–279; Maurer, Staatsrecht I, § 19 Rn. 4. 1719 Wilke, Die rechtsprechende Gewalt, in: Isensee / K irchhof, HStR, Bd. 5, § 112 Rn. 14 über die Schwierigkeit der Definition der „Rechtsprechung“ nach dem GG; ebenso Maurer, Staatsrecht I, § 19 Rn. 4. 1720 Giacometti, Allgemeine Lehren des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts, S. 461; Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, S. 52–53; Schoch, Gerichtliche Verwaltungskontrolle, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungs­ rechts, Bd. 3, § 50 Rn. 4–5. Siehe auch die rechtsvergleichende Darstellung von Kayer, Rechtsschutz und Kontrolle, in: von Bogdandy / Cassese / Huber, Ius Publicum Europaeum, Bd. 5, § 91, insb. ab Rn. 4. 1721 Siehe rechtsvergleichend zur abstrakten und konkreten Normenkontrolle in Europa ­Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 12 Rn. 46–51; zusammenfassend Villalón, Vergleich, in: von Bogdandy / Villalón / Huber, Ius Publicum Europaeum, Bd. 1, § 13 Rn. 78–79; vgl. auch Möllers, Gewaltengliederung, S. 136, 138; außerdem die Nachweise in Fn. 257. 1722 Möllers, Gewaltengliederung, S. 95; Loewenstein, Verfassungslehre, S. 232; Maurer, Staatsrecht I, § 19 Rn. 5; Haller / Kölz / Gächter, Allgemeines Staatsrecht, Rn. 937. 1723 Pernthaler, Allgemeine Staatslehre, S. 276–279; Maurer, Staatsrecht I, § 19 Rn. 8; rechtsvergleichend zur gerichtlichen Unabhängigkeit Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, Kap. 12 Rn. 26–33; Haller / Kölz / Gächter, Allgemeines Staatsrecht, Rn. 935. 1724 So auch Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtel, S. 363 (365).

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

A. Normative Anknüpfungspunkte und ihre staatsorganisatorische Bedeutung Die judikative Gewalt ist in der EMRK prominent angesprochen. Zunächst enthält die Konvention verschiedene Rechte auf Zugang zum Gericht: Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährleistet das allgemeine Recht auf Zugang zum Gericht und definiert den Gerichtsbegriff (tribunal / tribunal) insbesondere durch die Merkmale der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sowie durch die Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundlage. Art. 5 Abs. 4 EMRK sowie Art. 2 Abs. 1 ZP 7 enthalten spezielle Rechte auf Zugang zum Gericht. Art. 5 Abs. 3 EMRK schützt das Recht, in Untersuchungs- oder Präventivhaft unverzüglich einem Richter oder einer anderen gesetzlich zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben ermächtigten Person vorgeführt zu werden. Art. 7 EMRK sowie Art. 2–4 ZP 7 sind nur anwendbar, wenn eine Verurteilung beziehungsweise ein abgeschlossenes strafgerichtliches Verfahren vorliegt. Nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a)–b) EMRK können gerichtliche Entscheidungen einen Eingriff in das Recht der persönlichen Freiheit rechtfertigen. Art. 10 Abs. 2 EMRK nennt die Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung (for maintaining the authority and impartiality of the judiciary / pour garantir l’autorité et l’impartialité du pouvoir judiciaire) als legitimen Zweck eines Eingriffs in die Meinungsfreiheit. Bereits an diesem Überblick über die Normen,1725 die ausdrücklich Gerichte, die gerichtliche Tätigkeit oder die Gerichtsbarkeit adressieren, ist zu erkennen, wie wichtig die Rolle der Judikative für den Schutz der Menschenrechte durch die EMRK ist. Daneben schreibt die EMRK gemäß Art. 13 EMRK auch einer innerstaatlichen, nicht zwingend gerichtlichen, Beschwerdeinstanz streitentscheidende Tätigkeiten zu. Außerdem erlaubt sie gemäß Art. 5 Abs. 3 EMRK eine richterliche Vorführung im Falle einer Untersuchungs- oder Präventivhaft im Sinne des Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. c) EMRK auch vor eine Amtsperson mit richterlichen Befugnissen. Schließlich können sich Richter wie jede andere Privatperson auf ihre konventionsrechtlich geschützten Freiheitsrechte, insbesondere die Meinungsfreiheit aus Art. 10 EMRK, den Schutz des Privatlebens aus Art. 8 EMRK sowie das Recht ihrer persönlichen Freiheit aus Art. 5 EMRK berufen.

1725

Siehe weitere Aufzählungen der Erwähnungen des Gerichtsbegriffs bei Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtel, S. 363 (365); Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 48; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 173; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 535 nennt Art. 2 Abs. 1 EMRK, Art. 5 Abs. 1 lit. a), Abs. 4, Art. 6 Abs. 1 EMRK; Masterman, Separation of Powers, S. 73–74 zählt Art. 6 Abs. 1, 5 Abs. 1 S. 2 lit. a) und c) EMRK auf. Nach Art. 2 Abs. 1 EMRK durfte außerdem eine Todesstrafe nur durch ein Gericht verhängt werden. Diese Norm ist nach der Abschaffung der Todesstrafe durch das 13. Zusatzprotokoll abbedungen, siehe bereits die Nachweise in Fn. 905.

A. Normative Anknüpfungspunkte  

383

I. Das (allgemeine) Recht auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK Die Rechte des Art. 6 EMRK auf Zugang zum Gericht und auf ein faires Verfahren sind die zentralen verfahrensrechtlichen Gewährleistungen der EMRK.1726 Art. 6 Abs. 1 EMRK war bisher von allen Gewährleistungen der EMRK am häufigsten Gegenstand von Individualbeschwerden vor dem EGMR. Kein Konventionsrecht wurde häufiger verletzt.1727 Das Recht auf Zugang zum Gericht stellt sicher, dass Personen ihre innerstaatlich geschützten subjektiven Rechte vor nationalen Gerichten geltend machen können.1728 Daher hat Art. 6 EMRK eine besonders große Bedeutung unter den Konventionsrechten.1729 1. Die subjektiv-rechtlichen Gewährleistungen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK gewährt nach seinem Wortlaut das Recht auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen und unparteilichen, auf Gesetz beruhendem Gericht. Schon 1975 erkannte der EGMR im Leiturteil Golder v Vereinigtes Königreich an, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK als Voraussetzung der Verfahrensrechte auch ein Recht auf Zugang zum Gericht enthält.1730 Im Rahmen seines Anwendungsbereichs schützt Art. 6 Abs. 1 EMRK das Recht, eine Streitigkeit bei einem durch Gesetz eingerichteten, unabhängigen und unparteilichen Gericht anhängig zu machen, das den Sachverhalt unter Beachtung der Verfahrensgarantien umfassend tatsächlich und rechtlich prüft und anschließend entscheidet.1731 Auch die Um- beziehungsweise Durchsetzung der gerichtlichen Urteile ist vom Gewährleis 1726

Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 1; Pache, NVwZ 2001, S. 1342 (1342). Siehe hierfür die Zahlen neben den Filtereinstellungen zur Suche in der Datenbank Hudoc, https://hudoc.echr.coe.int, zuletzt abgerufen am 09.04.2022. 1728 Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 1; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (497); Milano, Le droit à un tribunal, Rn. 21. 1729 Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 1 (wichtigste Norm in der EMRK); Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (497) (key human right); Milano, Le droit à un tribunal, Rn. 73 (l’une des poutres maîtresses de la Convention). 1730 EGMR Nr. 4451/70, Golder v Vereinigtes Königreich (Pl.), 21.02.1975, §§ 26–36; für eine aktuelle Bestätigung EGMR Nr. 51357/07, Naït-Liman v Schweiz (GK), 15.03.2018, §§ 112–113; zu Golder v Vereinigtes Königreich Schabas, ECHR, Art. 6, S. 284–285; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (539–540); Milano, Le droit à un tribunal, Rn. 45, 52–69; Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 209; Peters / Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 34; Kloth, Immunities and the Right of Access to Court, S. 2–6. 1731 EGMR Nr. 23257/04, Fălie v Rumänien, 19.05.2015, § 22; Nr. 76943/11, Lupeni Greek Catholic Parish u. a. v Rumänien (GK), 29.11.2016, § 86; Nr. 52529/12, Brajović u. a. v Montenegro, 30.01.2018, § 48; Nr. 51357/07, Naït-Liman v Schweiz (GK), 15.03.2018, §§ ­112–113; Nr. 48345/12, 48348/12 und 67463/12, Kandakaris v Griechenland, 11.06.2020, § 46; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 106; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: MeyerLadewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  6 Rn.  35; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 104; Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 210; Grabenwarter /  Pabel, EMRK, § 24 Rn. 51; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 54. 1727

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

tungsgehalt des Art. 6 Abs. 1 EMRK umfasst.1732 Art. 6 Abs. 1 EMRK schützt den Zugang zu einer, nicht aber zu einer zweiten gerichtlichen Instanz.1733 Der Rechtsschutz darf nicht nur theoretisch zur Verfügung stehen, sondern muss praktisch und wirksam ausgestaltet sein.1734 Wie bereits im Rahmen des materiellen Gesetzesbegriffs dargestellt, enthält der Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 EMRK keine geschriebenen, dafür aber ungeschriebene, implizite Schranken.1735 Die Pflicht der Konventionsstaaten, das innerstaatliche Gerichtssystem auszugestalten, geht automatisch mit Regelungen einher, welche die Ausübung der Rechte aus Art. 6 Abs. 1 EMRK begrenzen. „[The limitations] are permitted by implication since the right of access by its very nature calls for regulation by the State, which regulation may vary in time and in place according to the needs and resources of the community and of individuals […].“1736

Beschränkungen des Rechts auf Zugang zum Gericht müssen einem legitimen Zweck folgen, verhältnismäßig sein und dürfen den Wesensgehalt des Rechts auf Zugang zum Gericht nicht antasten.1737 Legitim und verhältnismäßig sind ins­ 1732 EGMR Nr. 18357/91, Hornsby v Griechenland, 19.03.1997, § 40; Nr. 48778/99, Kutić v Kroatien, 01.03.2002, § 24; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 109; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 51; Milano, Le droit à un tribunal, Rn. 44; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (539–540). 1733 EGMR Nr. 38460/97, Plakatou v Griechenland, 11.01.2001, § 38; Nr. 40160/12, Zubac v Kroatien (GK), 05.04.2018, § 80; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 123; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 55; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  6 Rn.  59; Meyer, in: Karpenstein /  Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 62. Siehe zu den konventionsrechtlichen Anforderungen an Rechtsmittelverfahren unten ab S. 695. Siehe weitere Nachweise in Fn. 3231. 1734 EGMR Nr. 6289/73, Airey v Irland, 09.10.1979, § 24; Nr. 22860/02, Woś v Polen, 08.06.2006, § 99; Nr. 76943/11, Lupeni Greek Catholic Parish u. a. v Rumänien (GK), 29.11.2016, § 86; Nr. 40160/12, Zubac v Kroatien (GK), 05.04.2018, § 77; Nr. 48345/12, 48348/12 und 67463/12, Kandakaris v Griechenland, 11.06.2020, § 46; Nr. 33399/18, Pişkin v Türkei, 15.12.2020, § 133; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 107; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (542); Meyer, in: Karpenstein / Mayer, Art. 6 Rn. 61; Miehsler / Vogler, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 273; Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 777. 1735 Siehe hierzu bereits oben ab S. 228. 1736 Aktuell EGMR Nr. 51357/07, Naït-Liman v Schweiz (GK), 15.03.2018, § 114; Nr. 48345/12, 48348/12 und 67463/12, Kandakaris v Griechenland, 11.06.2020, § 47; Nr. 16435/10, Karas­ telev u. a. v Russland, 06.10.2020, § 124; grundlegend schon EGMR Nr. 4451/70, Golder v Vereinigtes Königreich (Pl.), 21.02.1975, § 38. 1737 Aktuell EGMR Nr. 76943/11, Lupeni Greek Catholic Parish u. a. v Rumänien (GK), 29.11.2016, § 89; Nr. 51357/07, Naït-Liman v Schweiz (GK), 15.03.2018, §§ 114–115; Nr. 40160/12, Zubac v Kroatien (GK), 05.04.2018, § 78; Nr. 48345/12, 48348/12 und 67463/12, Kandakaris v Griechenland, 11.06.2020, § 47; Nr. 16435/10, Karastelev u. a. v Russland, 06.10.2020, § 124; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn. 74; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 113; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (553, 556); Peters / Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 38; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 37.

A. Normative Anknüpfungspunkte  

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besondere Einschränkungen, die zu einer funktions- und leistungsfähigen Gerichtsbarkeit beitragen und die Überlastung der Gerichte verhindern.1738 Viele Fallgruppen der reichhaltigen Kasuistik zur konventionskonformen Ausgestaltung gerichtlicher Rechtsbehelfe und ihrer Zugangsvoraussetzungen, etwa zu Zulässigkeitsvoraussetzungen und Zuständigkeitsverteilungen, Gerichtskosten, Verfahrensgebühren, Prozesskostenhilfe, Anwaltszwängen oder Belehrungen,1739 sind für die innerstaatliche Gewaltenteilung irrelevant. Diese Regelungen beziehen sich weder auf die institutionellen Ausgestaltungen der Gerichte, gerichtliche Kompetenzen, noch auf den Richterstatus. Gleiches gilt für die sich aus den allgemeinen Regeln des Völkerrechts ergebende und damit grundsätzlich konventionskonforme1740 Immunität von Staaten und von internationalen Organisationen1741 sowie von Staatenvertretern1742. Von gesteigerter Relevanz für die Gewaltenteilung der Konventionsstaaten sind hingegen solche Beschränkungen des Rechts auf Zugang zum Gericht, die das Verhältnis der Gerichtsbarkeit zu anderen Gewalten oder Organen betreffen, also die gerichtliche Immunität von Organwaltern oder der Ausschluss der gerichtlichen Überprüfbarkeit von Regierungsakten.1743

1738

Z. B. EGMR Nr. 26737/95, Brualla Gómez de la Torre v Spanien, 19.12.1997, § 36; Nr. 31819/96 und 33293/96, Annoni di Gussola u. a. v Frankreich, 14.11.2000, § 51; Nr. 51357/07, Naït-Liman v Schweiz (GK), 15.03.2018, § 122; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 74; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 115; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (556). 1739 Für einen Überblick über diese Einschränkungen des Rechts auf Zugang zum Gericht Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 113–116; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn.  75; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 118–123; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (552–553, 557–558); Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-­ Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  6 Rn.  36–43; Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 64, 67; Peters / Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 39–40. 1740 Völkerrechtliche Regelungen, die von der Staatengemeinschaft im Konsens entwickelt wurden, können nach Einschätzung des EGMR nicht generell unverhältnismäßig sein, so für die Staatenimmunität EGMR Nr. 31253/96, McElhinney v Irland (GK), 21.11.2001, §§ 35, 37; allgemeiner in EGMR Nr. 34356/06 und 40528/06, Jones u. a. v Vereinigtes Königreich, 14.01.2014, § 201. Eine Ausnahme bildet sich jedoch aktuell für gerichtlich eingeklagte Entschädigungen nach Folter durch einen Staatenvertreter heraus, EGMR Nr. 34356/06 und 40528/06, Jones u. a. v Vereinigtes Königreich, 14.01.2014, § 213. 1741 Hierzu EGMR Nr. 26083/94, Waite und Kennedy v Deutschland (GK), 18.02.1999, §§ ­55–73 (Internationale Organisationen); Nr. 31253/96, McElhinney v Irland (GK), 21.11.2001, §§ 35–39 (Staaten); aktueller EGMR Nr. 34356/06 und 40528/06, Jones u. a. v Vereinigtes Königreich, 14.01.2014, § 188; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 119; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn.  79; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 79–80; Schabas, ECHR, Art. 6, S. 286–287; Laptew, Das Recht auf ein faires Verfahren, S. 215–216. 1742 EGMR Nr. 34356/06 und 40528/06, Jones u. a. v Vereinigtes Königreich, 14.01.2014, §§ 199–204. 1743 Siehe zu diesen Fällen näher ab S. 502.

386

Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Neben dem Recht auf Zugang zum Gericht enthält Art. 6 EMRK eine Vielzahl geschriebener und ungeschriebener Verfahrensrechte. Abs. 2 und 3 schützen speziell den Angeklagten im Strafverfahren.1744 Für alle gerichtlichen Verfahren im Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK gilt, dass die Verfahren grundsätzlich öffentlich sind und dass Urteile öffentlich verkündet werden müssen.1745 Außerdem müssen Gerichte ihre Entscheidungen begründen.1746 Anders als für legislative oder exekutive Entscheidungen macht die EMRK für Gerichtsverfahren zwingende Verfahrensvorschriften. Diese Verfahrensvorgaben grenzen die Gerichte von den politischen Gewalten ab, für die sich keine vergleichbaren Anforderungen aus der EMRK ergeben. Allerdings sind die Einzelheiten des Gerichtsverfahrens weder für die Gerichtsdefinition noch für das Verhältnis der Gerichte zu den anderen Gewalten ausschlaggebend. Sie werden daher im Folgenden nicht näher betrachtet. 2. (Objektive) Staatliche Verpflichtungen Die Konventionsstaaten sind verpflichtet, ein Gerichtssystem und ein Verfahrensrecht zu etablieren und zu erhalten,1747 das den Anforderungen des Rechts auf Zugang zum Gericht und auf ein faires Verfahren genügt. Nur so können die Konventionsstaaten sicherstellen, nicht immer wieder aus strukturellen Gründen wegen eines Verstoßes gegen Art. 6 EMRK verurteilt zu werden. Damit Gerichte den Gerichtsmerkmalen des Art. 6 EMRK entsprechen, müssen sie insbesondere gesetzlich eingerichtet, unabhängig und unparteilich sein.1748 Außerdem müssen die Staaten Umsetzungsmechanismen für gerichtliche Urteile einrichten.1749 1744 Siehe für einen Überblick über die verschiedenen Verfahrensrechte Meyer-Ladewig /  Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 87–209; Kühne, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 321–412 (2009); Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 69. 1745 Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 183–187; Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 70–81. 1746 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 76; Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 113–115. 1747 Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Rn. 5, 49; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote /  Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 37; Peters / Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 33; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 72; Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 355, 707; Gerards, General Principles of the ECHR, S. 108; Dörr, Gerichtsschutz als menschenrechtliche Verpflichtung, in: Klein, Gewaltenteilung und Menschenrechte, S. 155 (164). 1748 Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 65; Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 40; Meye, in: Wolter, SKStPO, Art. 6 EMRK Rn. 72; Grabenwarter / Struth, Justiz- und Verfahrensgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 6 Rn. 41; Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 355; Wojtyczek, ERPL 32 (2020), S. 185 (201). 1749 Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 92; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 50; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 123; vgl. auch Esser, in: LöweRosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 109; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 71.

A. Normative Anknüpfungspunkte  

387

Anders als bei der gesetzgebenden Körperschaft ist die Streitentscheidung als hoheitliche Tätigkeit konstitutiver Bestandteil des Gerichtsbegriffs. Die zentrale Frage für die Legislative, ob die gesetzgebende Tätigkeit zwingend der gesetzgebenden Körperschaft zuzuordnen ist, stellt sich somit für die Judikative nicht. Stattdessen verpflichten die Gewährleistungsgehalte der verschiedenen Justizgewährleistungsansprüche die Konventionsstaaten, den Gerichten durch die innerstaatlichen Zuständigkeitsordnungen bestimmte hoheitliche Tätigkeiten verpflichtend zuzuweisen. Die objektiven institutionellen Verpflichtungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK ergeben sich aus dem subjektiven Gewährleistungsgehalt. Der formell-gesetzliche Organisationsvorbehalt verpflichtet primär die nationalen Gesetzgeber, die rechtlichen Grundlagen der Gerichtsorganisation und des Gerichtsverfahrens entsprechend der Vorgaben der EMRK auszugestalten.1750 Daneben sind alle hoheitlichen Organe verpflichtet, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte und Richter auch tatsächlich zu respektieren. Innerhalb des von Art. 6 Abs. 1 EMRK vorgegebenen institutionellen Rahmens dürfen die Konventionsstaaten ihr Gerichtssystem frei ausgestalten.1751 3. Art. 6 Abs. 1 EMRK als Ausprägung der rule of law Die Rechtsschutzgarantie des Art. 6 Abs. 1 EMRK ist eine elementare Ausprägung des gemeineuropäischen und auch in der EMRK verankerten Rechtsstaatsprinzips.1752 Bereits in Golder v Vereinigtes Königreich legte der EGMR Art. 6 Abs. 1 EMRK im Lichte der rule of law aus, um das Recht auf Zugang zum Gericht herzuleiten.1753 Auch die Ausdehnung des Schutzbereichs auf die Umsetzung eines Urteils begründete der EGMR mit der Rechtsstaatlichkeit:

1750

Vgl. Villiger, Handbuch EMRK, Rn. 494. Vgl. EGMR Nr. 48345/12, 48348/12 und 67463/12, Kandakaris v Griechenland, 11.06.2020, § 47; Nr. 16435/10, Karastelev u. a. v Russland, 06.10.2020, § 124; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 107; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (553); Meyer, in: Karpenstein / Mayer, Art. 6 Rn. 63. 1752 Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (497); Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 1; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 2; Grabenwarter / Struth, Justiz- und Verfahrensgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 6 Rn. 2; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 1; Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. ­694–695; Kloth, Immunities and the Right of Access to Court, S. 2; Dörr, Gerichtsschutz als menschenrechtliche Verpflichtung, in: Klein, Gewaltenteilung und Menschenrechte, S. 155 (163); ­Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 4; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK, S. 25–26. 1753 EGMR Nr. 4451/70, Golder v Vereinigtes Königreich (Pl.), 21.02.1975, § 34; seit dem ständige Rechtsprechung, siehe nur EGMR Nr. 1398/03, Markovic u. a. v Italien (GK), 14.12.2006, § 92; Nr. 40160/12, Zubac v Kroatien (GK), 05.04.2018, § 76. 1751

388

Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

„[The right to institute proceedings before courts in civil matters] would be illusory if  a Contracting State’s domestic legal system allowed a final, binding judicial decision to remain inoperative to the detriment of one party. […] [T]o construe Article 6 […] as being concerned exclusively with access to a court and the conduct of proceedings would be likely to lead to situations incompatible with the principle of the rule of law which the Contracting States undertook to respect when they ratified the Convention […]. Execution of a judgment given by any court must therefore be regarded as an integral part of the ‚trial‘ for the purposes of Article 6.“1754

Die Rechtssicherheit als spezielle Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips betonte der EGMR im Zusammenhang mit der Umsetzungspflicht und der Bindungswirkung gerichtlicher Urteile.1755 Darüber hinaus spielte die Rechtsstaatlichkeit bei der Frage eine Rolle, ob der nationale Gesetzgeber rückwirkend Gesetze erlassen darf, die sich auf anhängige Gerichtsprozesse auswirken.1756 Schließlich müssen auch Einschränkungen des Rechts auf Zugang zum Gericht mit der rule of law vereinbar sein: „[I]n order for national legislation excluding access to  a court to have any effect under Article 6 § 1 in a particular case, it should be compatible with the rule of law. This concept, which is expressly mentioned in the Preamble to the Convention and is inherent in all the Articles of the Convention, requires, inter alia, that any interference must in principle be based on an instrument of general application […].“1757

Indem der EGMR gerade im Rahmen des für die institutionellen Anforderungen an die Gerichtsbarkeit maßgeblichen Art. 6 Abs. 1 EMRK so häufig die Rechtsstaatlichkeit erwähnt, verknüpft er die Grundsätze der rule of law und der Gewaltenteilung eng miteinander. Ohne eine gerichtliche Kontrolle kann die Gesetzesbindung der rechtsanwendenden Gewalt und damit die Rechtsstaatlichkeit nicht sichergestellt und eine willkürliche Ausübung von Hoheitsgewalt verhindert werden. Art. 6 Abs. 1 EMRK verlangt, dass die Gerichte ihrer Kontrollaufgabe nachkommen und damit einen von den anderen (politischen) Gewalten klar abgegrenzten Aufgabenbereich einnehmen. Voraussetzung hierfür ist die organisatorische Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Gerichte als Aspekt der institutionellen Pluralität sowie eine Zuständigkeitsordnung, die den Gerichten Kontrollaufgaben zuweist. 1754 EGMR Nr. 18357/91, Hornsby v Griechenland, 19.03.1997, § 40; Nr. 22774/93, Immobiliare Saffi v Italien (GK), 28.07.1999, § 66. 1755 EGMR Nr. 28324/95, Brumărescu v Rumänien, 28.10.1999, § 61; Nr. 4907/18, Xero Flor w Polsce sp. z o. o. v Polen, 07.05.2021, § 282. Siehe außerdem die Nachweise zum wörtlichen Zitat in Fn. 2254. 1756 EGMR Nr. 29483/11 u. a., Cicero u. a. v Italien, 30.01.2020, § 29; Nr. 29026/06 u. a., ­Beshiri u. a. v Albanien (Zul.), 17.03.2020, § 225; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  6 Rn.  161; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (558). 1757 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 117; Černič, Hague Journal on the Rule of Law 2018, S. 111 (127). Bezogen auf die Einschränkung des Rechts aus Art. 6 Abs. 3 lit. c) EMRK, sich durch einen Anwalt verteidigen zu lassen, EGMR Nr. 21980/04, S­ imeonovi v Bulgarien (GK), 12.05.2017, § 131.

A. Normative Anknüpfungspunkte  

389

4. Zwischenfazit Die objektiven Verpflichtungen der Staaten zur Einrichtung und Ausgestaltung eines Gerichtssystems, der Durchführung eines fairen Verfahrens und der Umsetzung der gerichtlichen Urteile ergeben sich aus den subjektiv-rechtlichen Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Indem der EGMR bei der Auslegung des Art. 6 Abs. 1 EMRK häufig auf die Wertungen des Rechtsstaatsprinzips abstellt, setzt er eine gewaltenteilige Organisation der Konventionsstaaten voraus.

II. Das Recht auf Haftprüfung gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK Art. 5 Abs. 4 EMRK gewährleistet das habeas corpus-Recht:1758 Eine inhaftierte Person hat auf Antrag das Recht auf eine zügige erste gerichtliche Haftprüfung und fortlaufend auf die regelmäßige Kontrolle, ob die Haftvoraussetzungen immer noch vorliegen.1759 Art. 5 Abs. 4 EMRK ist auf alle Formen der Freiheitsentziehung anwendbar.1760 Allerdings ist der Gewährleistungsgehalt des Rechts aus Art. 5 Abs. 4 EMRK abhängig von der Form der Freiheitsentziehung.1761 Der Rechtsschutz muss praktisch und effektiv ausgestaltet sein.1762 Daher schützt Art. 5 Abs. 4 EMRK auch die nachträgliche Haftprüfung, wenn die betroffene Person bereits vor ihrer Entlassung die Haftprüfung beantragt hatte. In diesen Fällen besteht das Rechtsschutzinteresse fort, etwa um Entschädigungsansprüche gemäß Art. 5 Abs. 5 EMRK geltend machen zu können.1763

1758 Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn.  76; Elberling, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 5 Rn. 99; Grabenwarter / Struth, Justiz- und Verfahrensgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 6 Rn. 30; Unfried, Freiheits- und Sicherheitsrechte nach Art. 5 EMRK, S. 53–54. 1759 Grundlegend EGMR Nr. 6301/73, Winterwerp v Niederlande, 24.10.1979, § 55; aktuell EGMR Nr. 66448/17, Baş v Türkei, 03.03.2020, § 212; Valerius, in: Graf, Beck’scher OK StPO, Art. 6 EMRK Rn. 9; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim /  von Raumer, EMRK, Art. 5 Rn. 95; Elberling, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 5 Rn. 100. 1760 Bleichrodt, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 439 (484); Meyer-­ Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  5 Rn. 94. 1761 EGMR Nr. 27154/95, D. N. v Schweiz (GK), 29.03.2001, § 41; Nr. 11956/07, Stephens v Malta Nr. 1, 24.04.2009, § 95; Nr. 64809/10, Khodzhamberdiyev v Russland, 05.06.2012, § 106; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 5 Rn. 95; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn. 85. 1762 EGMR Nr. 67604/10, Osmanović v Kroatien, 06.11.2012, § 45; Nr. 16483/12, K ­ hlaifia u. a. v Italien (GK), 15.12.2016, § 130; Nr. 61287/12, Čović v Bosnien und Herzegowina, 03.10.2017, § 29; Nr. 4633/15, G. B. u. a. v Türkei, 17.10.2019, § 163; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 5 EMRK Rn. 262; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 328. 1763 EGMR Nr. 50903/06, Kováčik v Slowakei, 29.11.2011, § 77; Nr. 67604/10, Osmanović v Kroatien, 06.11.2012, § 49.

390

Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Die institutionellen Anforderungen des Art. 5 Abs. 4 EMRK ergeben sich wie bei Art. 6 Abs. 1 EMRK aus der subjektiven Gewährleistung. Das Recht auf Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK ist gegenüber dem Recht auf Zugang zum Gericht aus Art. 6 Abs. 1 EMRK spezieller und somit vorrangig anwendbar.1764 Daraus ergibt sich logisch, dass der Gerichtsbegriff des Art. 5 Abs. 4 EMRK keine geringeren Anforderungen haben kann als der des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Die Vorgaben des Art. 6 Abs. 1 EMRK für die gesetzliche Grundlage sowie die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gelten auch für Art. 5 Abs. 4 EMRK.1765

III. Das Recht auf Zugang zu einer Rechtsmittelinstanz im Strafverfahren gemäß Art. 2 ZP 7 Art. 2 ZP 7 gewährt einer strafrechtlich verurteilten Person einen Zugang zu einem Rechtsmittelgericht. Art. 2 ZP 7 ergänzt Art. 6 Abs. 1 EMRK innerhalb seines strafrechtlichen Anwendungsbereichs somit um das Recht auf eine zweite Instanz.1766 Die Beschwerdeführer sind jedoch nicht davor geschützt, dass die Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils zu einer härteren Strafe führt.1767 Bei der Ausgestaltung der Rechtsmittel und ihrer Zulässigkeitsvoraussetzungen verfügen die Konventionsstaaten über einen weiten Gestaltungsspielraum.1768 Art. 2 ZP 7 definiert lediglich die institutionellen und prozessualen Mindestanforderun 1764

EGMR Nr. 67175/01, Reinprecht v Österreich, 15.11.2005, §§ 46–55; Nr. 70148/01, Fodale v Italien, 01.06.2006, § 27; Nr. 32814/07, Giosakis v Griechenland (Zul.), 24.09.2009; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn. 178; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn.  76; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 154; Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 84; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: MeyerLadewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 5 Rn. 100; a. A. Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 321. 1765 EGMR Nr. 9787/82, Weeks v Vereinigtes Königreich (Pl.), 02.03.1987, § 61; Nr. 58442/00, Lavents v Lettland, 28.11.2002, § 81; Nr. 27154/95, D. N. v Schweiz (GK), 29.03.2001, § 42; Nr. 28212/95, Benjamin und Wilson v Vereinigtes Königreich, 26.09.2002, § 33; Nr. 50272/99, Hutchison Reid v Vereinigtes Königreich, 20.02.2003, § 64; Nr. 47297/99, Bülbül v Türkei, 22.05.2007, § 27; Nr. 42969/04, Ali Osman Özmen v Türkei, 05.07.2016, § 87; Nr. 66448/17, Baş v Türkei, 03.03.2020, §§ 266–267; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 153; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 21 Rn. 67; Elberling, in: Karpenstein /  Mayer, EMRK, Art. 5 Rn. 101; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 322. 1766 Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 1–2; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 991, 1000; Schabas, ECHR, Art. 2 ZP 7, S. 1135. 1767 Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 999. 1768 EGMR Nr. 29731/96, Krombach v Frankreich, 13.02.2001, § 96; Nr. 26986/03, Galstyan v Armenien, 15.11.2007, § 125; Nr. 5425/11, Ruslan Yakovenko v Ukraine, 04.06.2015, § 76; Sinner, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 15; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 3; Esser, in: Löwe-Rosen­ berg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 993; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Annex zu Art. 7 EMRK, Rn. 4.

A. Normative Anknüpfungspunkte  

391

gen. Insbesondere muss die verurteilte Person die Zulässigkeitsvoraussetzungen aus eigener Kraft einhalten und somit selbst ein Rechtsmittelverfahren in Gang setzen können. Eine Ermessensentscheidung durch das Gericht oder eine Ermittlungsbehörde über die Möglichkeit, ein Rechtsmittel einlegen zu können, entspricht den Anforderungen des Art. 2 ZP 7 nicht.1769 Art. 2 Abs. 2 ZP 7 nennt drei Ausnahmen vom Gewährleistungsumfang: erstens bei einer geringfügigen Straftat, zweitens wenn das erstinstanzliche Verfahren bereits vor dem obersten nationalen Gericht stattgefunden hat und drittens wenn die betroffene Person in einer durch die Anklagebehörde angerufenen zweiten Instanz der Beschwerdeführer erstmalig verurteilt wird. Daneben enthält Art. 2 ZP 7, wie auch das allgemeine Recht auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK, implied limitations, die mit der Ausgestaltungsbefugnis gemäß Art. 2 Abs. 1 S. 2 ZP 7 einhergehen.1770 Eine Beschränkung ist danach abseits der geschriebenen Rechtfertigungsgründe zulässig, wenn sie einen legitimen Zweck verfolgt, verhältnismäßig ist und nicht den Kerngehalt der Gewährleistung berührt.1771 Im Vergleich zur ersten Instanz erlaubt Art. 2 ZP strengere Zulässigkeitsvoraussetzungen.1772 Konventionsstaaten dürfen regeln, dass Rechtsmittel nur aus bestimmten Gründen eingelegt werden und dass ein Rechtsmittel erst zur Entscheidung angenommen oder zugelassen werden muss1773. Anders als Art. 6 Abs. 1 EMRK enthält Art. 2 ZP 7 keine Definition des Gerichtsbegriffs, sondern spricht lediglich von einem übergeordneten Gericht (higher tribunal / juridiction supérieur). Der Explanatory Report zu ZP 7 stellt klar, dass Art. 2 ZP 7 der gleiche Gerichtsbegriff wie Art. 6 EMRK zugrunde liegt.1774 Die 1769

EGMR Nr. 61406/00, Gurepka v Ukraine, 06.09.2005, §§ 59–62; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 995. 1770 Siehe zu den implied limitations nach Art. 2 ZP 7 oben ab S. 235. 1771 EGMR Nr. 29731/96, Krombach v Frankreich, 13.02.2001, § 96; Nr. 26986/03, ­Galstyan v Armenien, 15.11.2007, § 125 m. w. N.; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 993; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Annex zu Art. 7 EMRK Rn. 4; Sinner, in: Karpenstein /  Mayer, EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 16; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig /  Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 3; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 993. 1772 Einen ausführlichen Überblick über verschiedene Zulässigkeitsregelungen als Einschränkung des Art. 2 ZP 7 bei Esser, Strafverfahrensrecht, S. 768–780. 1773 EGMR Nr. 34311/96, Hubner v Österreich (Zul.), 31.08.1999; Nr. 37301/03, HauserSporn v Österreich, 07.12.2006, § 52; Sinner, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 2 ZP  7 Rn. 17; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 3; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 994; Grabenwarter / ​Struth, Justiz- und Verfahrensgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 6 Rn. 68. 1774 Explanatory Report to the Protocol No. 7 (siehe Fn. 959), § 17; zum Gerichtsbegriff des Art. 2 ZP 7 auch EGMR Nr. 75101/01, Grecu v Rumänien, 30.11.2006, §§ 83–86; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 993; Sinner, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 5; Grabenwarter / Struth, Justiz- und Verfahrensgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 6 Rn. 68.

392

Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Anforderungen an die Prüfungs- und die Entscheidungsbefugnis des Rechtsmittelgerichts sind jedoch abhängig von Anwendungsbereich und Streitgegenstand, sodass diesbezüglich die Rechtsprechung des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht ohne Weiteres übertragen werden kann.1775

IV. Recht auf richterliche Vorführung gemäß Art. 5 Abs. 3 EMRK 1. Die subjektiv-rechtlichen Gewährleistungen Nach Art. 5 Abs. 3 EMRK hat jede Person, die gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. c) EMRK in Untersuchungs- oder Präventivhaft genommen wurde, das Recht, unverzüglich einem Richter oder einer anderen gesetzlich zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben ermächtigten Person vorgeführt zu werden. Wie viel Zeit bis zur richterlichen Vorführung verstreichen darf, hängt vom Einzelfall ab.1776 Als Richtwert sind im Falle einer Untersuchungshaft 48 Stunden noch zulässig1777, sofern keine besonderen Umstände vorliegen.1778 96 Stunden sind aber zu lang.1779 Eine Person in Untersuchungshaft darf zunächst verhört werden, um dem Richter die mög­licherweise gewonnenen Informationen vorlegen zu können. Einen solchen legitimen Verzögerungsgrund gibt es im Fall einer Präventivhaft nicht, sodass der EGMR den Behörden typischerweise nur wenige Stunden einräumt, bis die betroffene Person einem Richter vorgeführt werden muss.1780 Wird eine Freiheitsentziehung so schnell wieder beendet, dass eine unverzügliche richterliche Vorführung nicht durchgeführt werden konnte, liegt keine Verletzung des Art. 5 Abs. 3 EMRK vor.1781 1775

Siehe dazu ausführlich unten ab S. 695. EGMR Nr. 25642/94, Aquilina v Malta (GK), 29.04.1999, § 48; Nr. 35553/12 u. a., S., V. und A. v Dänemark (GK), 22.10.2018, § 130; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 13 Rn. 55. Siehe für einen Überblick unterschiedlicher Fälle Bleichrodt, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 439 (472–474); Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 218–222; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 5 Rn 75. 1777 EGMR Nr. 25642/94, Aquilina v Malta (GK), 29.04.1999, § 51; Nr. 543/03, McKay v Vereinigtes Königreich (GK), 03.10.2006, § 48; Nr. 26289/12 u. a., Magee u. a. v Vereinigtes Königreich, 12.05.2015, §§ 78, 93; Elberling, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 5 Rn. 114. 1778 Bei Minderjährigen muss die Vorführung schneller erfolgen, EGMR Nr. 68294/01, Kandzhov v Bulgarien, 06.11.2008, § 66; Nr. 34529/10, Gutsanovi v Bulgarien, 15.10.2013, § 154; Nr. 26289/12 u. a., Magee u. a. v Vereinigtes Königreich, 12.05.2015, § 78. 1779 EGMR Nr. 11209/84 u. a., Brogan u. a. v Vereinigtes Königreich (Pl.), 29.11.1988, § 62; dem folgend EGMR Nr. 543/03, McKay v Vereinigtes Königreich (GK), 03.10.2006, § 47; Nr. 39686/02, Oral und Atabay v Türkei, 23.06.2009, § 43; Nr. 26289/12 u. a., Magee u. a. v Vereinigtes Königreich, 12.05.2015, § 78; 1780 EGMR Nr. 35553/12 u. a., S., V. und A. v Dänemark (GK), 22.10.2018, §§ 132–134. 1781 EGMR Nr. 11209/84 u. a., Brogan u. a. v Vereinigtes Königreich (Pl.), 29.11.1988, § 58; Nr. 35553/12 u. a., S., V. und A. v Dänemark (GK), 22.10.2018, § 129; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 109, 229; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkom 1776

A. Normative Anknüpfungspunkte  

393

Gewährleistet ist nicht nur eine Entscheidung des Gerichts über die Rechtmäßigkeit der Haft, sondern auch die persönliche Vorführung. Der Richter beziehungsweise die Amtsperson mit richterlichen Befugnissen hat auch die Aufgabe zu kontrollieren, dass die festgenommene Person nicht misshandelt wird.1782 Insgesamt schützt Art. 5 Abs. 3 EMRK die Rechtsträger durch gerichtliche Kontrolle vor willkürlichen hoheitlichen Eingriffen insbesondere exekutiver Organe in das Recht auf persönliche Freiheit und ist damit eine Ausprägung des konventionsrechtlichen Rechtsstaatsprinzips.1783 2. (Objektive) Staatliche Verpflichtungen Wie auch bei den Rechten auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1, Art. 5 Abs. 4 EMRK und Art. 2 ZP 7 ergeben sich die institutionellen Anforderungen an die Konventionsstaaten aus dem subjektiven Gewährleistungsgehalt. Der Charakter des Rechts auf richterliche Vorführung unterscheidet sich jedoch von den Rechten auf Zugang zum Gericht. Einerseits besteht das Recht auf richterliche Vorführung von Amts wegen1784 und damit unabhängig von einem eigenen Antrag oder sonstigen Tätigwerden der festgenommenen Person. Die Konventionsstaaten müssen also einen Mechanismus einrichten, durch den alle festgenommenen Personen ohne eigene Initiative einem Richter vorgeführt werden. Andererseits dürfen die festgenommenen Personen nicht nur einem Richter, sondern auch einer Amtsperson vorgeführt werden, die gesetzlich zur Ausübung richterlicher Befugnisse ermächtigt wurde. Hierdurch haben die Konventionsstaaten Auswahl zwischen zwei verschiedenen gleichwertigen Ausgestaltungsmöglichkeiten und somit einen größeren organisatorischen Gestaltungsspielraum. Die mentar EMRK / GG, Kap. 13 Rn. 56; Elberling, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 5 Rn. 110; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 5 Rn. 75; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 88. 1782 EGMR Nr. 25642/94, Aquilina v Malta (GK), 29.04.1999, § 49; Nr. 11036/03, Ladent v Polen, 18.03.2008, § 74; Nr. 26289/12, Magee u. a. v Vereinigtes Königreich, 12.05.2015, §§ 74, 76; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn.  51; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 5 EMRK Rn. 208; Elberling, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 5 Rn. 111; Schabas, ECHR, Art. 5, S. 247. 1783 EGMR Nr. 11209/84 u. a., Brogan u. a. v Vereinigtes Königreich (Pl.), 29.11.1988, § 58; Nr. 24760/94, Assenov v Bulgarien, 28.10.1998, § 146; Nr. 33343/96, Pantea v Rumänien, 03.06.2003, § 236; Nr. 29918/96 u. a., Tanrıkulu u. a. v Türkei, 06.10.2005, § 35; Nr. 42969/04, Ali Osman Özmen v Türkei, 05.07.2016, § 70; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 58. 1784 EGMR Nr. 25642/94, Aquilina v Malta (GK), 29.04.1999, §§ 48–49; Nr. 543/03, McKay v Vereinigtes Königreich (GK), 03.10.2006, §§ 33–34; Nr. 3394/03, Medvedyev u. a. v Frankreich (GK), 29.03.2010, §§ 121–122; Nr. 35553/12 u. a., S., V. und A. v Dänemark (GK), 22.10.2018, §§ 128, 130; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn. 50, 55; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 210, 216–228.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

EMRK nimmt an dieser Stelle Rücksicht auf die unterschiedlichen Regelungen in den Vertragsstaaten.1785 a) Richter Ein Richter im Sinne des Art. 5 Abs. 3 EMRK entspricht dem Richter im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Ein (Berufs-)Richter wurde nach den anwendbaren innerstaatlichen Vorschriften ernannt und verfügt über bestimmte Statusrechte. Darüber hinaus müssen Richter unabhängig und unparteilich sein. Die Anforderungen der EMRK an die innerstaatliche Ausgestaltung und den Schutz des Richteramtes werden im Verlauf des vierten Kapitels in den Abschnitten D. bis F. noch ausführlich behandelt. b) Amtsperson mit richterlichen Befugnissen Der Begriff der „gesetzlich zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben ermächtigten Person“ gemäß Art. 5 Abs. 3 EMRK wird vom EGMR synonym verstanden mit der „zuständigen Gerichtsbehörde“ im Sinne des Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. c) EMRK.1786 Im grundlegenden Urteil Schiesser v Schweiz stellte der EGMR klar, dass die Ausübung judikativer Hoheitsgewalt nicht auf die Streitentscheidung begrenzt ist: „[T]he exercise of ‚judicial power‘ is not necessarily confined to adjudicating on legal disputes. In many Contracting States, officers (magistrats) and even judges exercise such power without adjudicating, for example members of the prosecuting authorities and investigating judges.“1787

Zudem definierte der EGMR die Merkmale der Amtsperson mit richterlichen Befugnissen ausgehend von der ihr zugeschriebenen Funktion, die mit der des Richters vergleichbar ist.1788 Die zentrale Funktion des Art. 5 Abs. 3 EMRK ist die Kontrolle von exekutiven Eingriffen in die persönliche Freiheit, um das Risiko

1785 Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 208. In den Vertragsverhandlungen sollte vor allem auf die britische Rechtslage Rücksicht genommen werden, Esser, Strafverfahrensrecht, S. 264 unter anderem mit Verweis auf Trechsel, StV 1992, S. 187 (193–194). 1786 EGMR Nr. 7710/76, Schiesser v Schweiz, 04.12.1979, § 29; Nr. 3394/03, Medvedyev u. a. v Frankreich (GK), 29.03.2010, § 123; Nr. 62736/09, Vassis u. a. v Frankreich, 27.06.2013, § 52; Nr. 26289/12, Magee u. a. v Vereinigtes Königreich, 12.05.2015, § 80; Meyer-Ladewig /  Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 5 Rn. 40; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 5 EMRK Rn. 113; Grabenwarter / Struth, Justiz- und Verfahrensgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 6 Rn. 12. 1787 EGMR Nr. 7710/76, Schiesser v Schweiz, 04.12.1979, § 28. Diese Passage wurde vom EGMR anschließend nicht mehr wiederholt. 1788 EGMR Nr. 7710/76, Schiesser v Schweiz, 04.12.1979, § 27.

A. Normative Anknüpfungspunkte  

395

einer willkürlichen Ausübung von Hoheitsgewalt zu minimieren.1789 Selbst wenn eine Festnahme gerichtlich angeordnet wurde und somit hinsichtlich der Kontrolle der Haftvoraussetzungen ein Fall der innerfunktionalen Gewaltenteilung vorliegt, bleibt stets das Kontrollelement gegenüber der Exekutive zum Schutz vor Misshandlung der festgenommenen Personen erhalten. Eine effektive Kontrolle der typischerweise weisungsgebundenen Exekutive, etwa der Strafverfolgungsbehörden bei der Anordnung von Untersuchungshaft, verlangt, dass das Kontrollorgan unabhängig und unparteilich entscheiden kann. Die Amtsperson muss ihre hoheitliche Aufgabe daher unabhängig von der Exekutive und von den Prozessparteien ausüben können.1790 Wie im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK ist für die Beurteilung der Unabhängigkeit häufig das objektive Erscheinungsbild entscheidend.1791 So dürfen Amtspersonen mit richterlichen Befugnissen sogar im laufenden Prozess weitere hoheitliche Tätigkeiten ausüben.1792 Sobald aber die Gefahr besteht, dass eine Amtsperson mit richterlichen Befugnissen zu einem späteren Zeitpunkt des Gerichtsprozesses eine Partei, insbesondere die Anklage, vertritt, ist sie für die Vorführung im Sinne des Art. 5 Abs. 3 EMRK nicht mehr unabhängig.1793 In Moulin v Frankreich stellte der EGMR sogar eine Verletzung des Art. 5 Abs. 3 EMRK fest, weil ein Staatsanwalt

1789

Siehe bereits die Nachweise in Fn. 1783. EGMR Nr. 7710/76, Schiesser v Schweiz, 04.12.1979, § 31; Nr. 33343/96, Pantea v Rumänien, 03.06.2003, § 236; Nr. 3394/03, Medvedyev u. a. v Frankreich (GK), 29.03.2010, § 124; Nr. 37104/06, Moulin v Frankreich, 23.11.2010, § 46; Nr. 42969/04, Ali Osman Özmen v Türkei, 05.07.2016, § 70; Nr. 70474/11 und 68036/12, Kiril Zlatkov Nikolov v Frankreich, 10.11.2016, § 41; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn.  53; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 5 Rn. 76; Bleichrodt, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 439 (474); Esser, Strafverfahrensrecht, S. 265. 1791 EGMR Nr. 33343/96, Pantea v Rumänien, 03.06.2003, § 236; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 5 Rn. 76; Bleichrodt, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 439 (475); Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 13 Rn. 53; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 209. 1792 EGMR Nr. 12794/87, Huber v Schweiz (Pl.), 23.10.1990, § 43; Nr. 13867/88, Brincat v Italien, 26.11.1992, § 20; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 268. 1793 EGMR Nr. 9362/81 u. a., van der Sluijs, Zuiderveld und Klappe v Niederlande, 22.05.1984, § 44; Nr. 9626/81 und 9736/82, Duinhof und Duijf v Niederlande, 22.05.1984, § 38; Nr. 8805/79 u. a., de Jong, Baljet und van den Brink v Niederlande, 22.05.1984, § 49; Nr. 10208/82, Pauwels v Belgien, 26.05.1988, § 38; Nr. 12794/87, Huber v Schweiz (Pl.), 23.10.1990, §§ 42– 43; Nr. 13867/88, Brincat v Italien, 26.11.1992, §§ 20–21; Nr. 3394/03, Medvedyev u. a. v Frankreich (GK), 29.03.2010, § 124; Nr. 37104/06, Moulin v Frankreich, 23.11.2010, § 46; Nr. 62736/09, Vassis u. a. v Frankreich, 27.06.2013, § 52; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 209; Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 508. Anders noch in EGMR Nr. 7710/76, Schiesser v Schweiz, 04.12.1979, § 34, als dem EGMR ausreichte, dass der Untersuchungsrichter im konkreten Verfahren nicht die Aufgaben des Staatsanwalts übernahm. 1790

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

als Untersuchungsrichter fungierte, obwohl die im anschließenden Gerichtsverfahren beteiligten Staatsanwälte einem anderen territorialen Zuständigkeitsbereich angehörten.1794 Es bestand also nicht einmal theoretisch die Möglichkeit, dass der Untersuchungsrichter im anschließenden Gerichtsprozess als Staatsanwalt auftreten könnte. Ausschlaggebend für den EGMR war die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft in Frankreich als unteilbare Einheit angesehen wurde, sodass jeder Staatsanwalt stellvertretend für die gesamte Staatsanwaltschaft handelte.1795 In der Folge durften in Frankreich Staatsanwälte nicht mehr als Untersuchungsrichter herangezogen werden.1796 Auch wenn die Amtsperson gegenüber einer anderen hoheitlichen Stelle weisungsabhängig ist, wird ihre Unabhängigkeit in Frage gestellt. Solange der der Amtsperson übergeordnete Hoheitsträger seinerseits unabhängig ist, verstößt die Weisungsabhängigkeit nicht gegen Art. 5 Abs. 3 EMRK.1797 Ist die Amtsperson mit richterlichen Befugnissen jedoch in die exekutive Weisungshierarchie eingebunden, die für Staatsanwaltschaften häufig bis zum Justizminister führt, schadet dies der richterlichen Unabhängigkeit. Ausschlaggebend für die Beurteilung der Unabhängigkeit ist die gesetzliche Ausgestaltung und damit die institutionelle Struktur, nicht das Vorliegen einer Weisung im Einzelfall.1798 Folglich dürfen Staatsanwälte auch über den Sonderfall Moulin v Frankreich hinaus jedenfalls dann nicht als Untersuchungsrichter tätig werden, wenn die Staatsanwaltschaft hierarchisch der Regierung untergeordnet ist. Die EMRK legt somit eine organisatorische Trennung zwischen der Staatsanwaltschaft und den Untersuchungsrichtern nahe. Zur Beurteilung der Unabhängigkeit von Militärrichtern1799 und Richtern auf Probe1800 im Rahmen des Art. 5 Abs. 3 EMRK verwies der EGMR auf die zu Art. 6 Abs. 1 EMRK ergangene Rechtsprechung.

1794 EGMR Nr. 37104/06, Moulin v Frankreich, 23.11.2010, §§ 58–59; zu diesem Urteil Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 161–164; Le Bonniec, RFDC 106 (2016), S. 335 (351–353) jeweils m. w. N. zum französischen Schrifttum. 1795 EGMR Nr. 37104/06, Moulin v Frankreich, 23.11.2010, §§ 58, 26. 1796 Vgl. EGMR Nr. 17110/10 und 17301/10, Ali Samatar u. a. v Frankreich, 04.12.2014, § 44; Nr. 46695/10 und 54588/10, Hassan u. a. v Frankreich, 04.12.2014, § 88; Le Bonniec, RFDC 106 (2016), S. 335 (351–352). 1797 EGMR Nr. 7710/76, Schiesser v Schweiz, 04.12.1979, § 31; Bleichrodt, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 439 (474). 1798 EGMR Nr. 27915/95, Niedbała v Polen, 04.07.2000, § 52; Nr. 33343/96, Pantea v Rumänien, 03.06.2003, § 238 mit Verweis auf EGMR Nr. 27053/95, Vasilescu v Rumänien, 22.05.1998, § 40 (zu Art. 6 Abs. 1 EMRK); Nr. 37104/06, Moulin v Frankreich, 23.11.2010, §§ 56–57; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S.  158–164; Esser, Strafverfahrensrecht, S. ­271–272. 1799 EGMR Nr. 47297/99, Bülbül v Türkei, 22.05.2007, § 23; Nr. 42969/04, Ali Osman Özmen v Türkei, 05.07.2016, §§ 71–81. 1800 EGMR Nr. 36921/07, Mirosław Garlicki v Polen, 14.06.2011, § 113 mit Verweis auf das Urteil EGMR Nr. 23614/08, Henryk Urban und Ryszard Urban v Polen, 30.11.2010.

A. Normative Anknüpfungspunkte  

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3. Zwischenfazit Wie Art. 6 Abs. 1 EMRK gestaltet auch Art. 5 Abs. 3 EMRK die Rechtsstaatlichkeit als konventionsrechtliches Grundprinzip aus und fordert eine Kontrolle der Ausübung von Hoheitsgewalt und damit eine gewaltenteilige Staatsstruktur. Die richterliche Vorführung gemäß Art. 5 Abs. 3 EMRK dient primär der Kontrolle der exekutiven Organe, die eine Untersuchungs- oder Präventivhaft anordnen und durchführen. An dieser ratio orientieren sich auch die institutionellen Anforderungen. Anders als im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK muss die Kontrolle im Rahmen des Art. 5 Abs. 3 EMRK jedoch nicht zwingend durch ein Gericht beziehungsweise durch Richter erfolgen. Richter und Amtsperson stehen im Konventionstext und in der Rechtsprechung gleichwertig nebeneinander. Unterschiede zwischen einem Richter und einer Amtsperson mit richterlichen Befugnissen ergeben sich aus ihrer institutionellen Zuordnung. Ein Richter wird als solcher ernannt und einem Gericht zugewiesen. Eine Amtsperson mit richterlichen Befugnissen erfüllt diese besonderen Merkmale gerade nicht und ist anderweitig institutionell eingebunden. Anders als die Rechte auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1, 5 Abs. 4 EMRK und Art. 2 ZP 7 verlangt Art. 5 Abs. 3 EMRK somit keine exklusive gerichtliche Tätigkeit. Unabhängig von ihrer sonstigen institutionellen Einbindung müssen Amtspersonen mit richterlichen Befugnissen im Sinne des Art. 5 Abs. 3 EMRK die gleiche Unabhängigkeit aufweisen wie Richter. Der Grundgedanke, dass eine Rechtmäßigkeitskontrolle nur dann wirksam ist, wenn das Kontrollorgan inhaltlich nicht von anderen Organen beeinflusst wird, liegt also auch Art. 5 Abs. 3 EMRK zugrunde. Gerade die Einbindung in exekutive Weisungsstrukturen birgt Gefahren für die Unabhängigkeit der Amtsperson. Entscheidend ist nicht, ob im konkreten Fall eine doppelte Befassung einer Person vorliegt, sondern ob die gesetzlichen Regelungen und die institutionelle Struktur theoretisch ermöglichen, dass dieselbe Person oder – wie im Fall Moulin v Frankreich – dieselbe Institution mehrfach in unterschiedlichen hoheitlichen Funktionen am Verfahren beteiligt sein kann.

V. Verurteilungen als Anwendungsvoraussetzung des Art. 7 EMRK sowie der Art. 2, 3 und 4 ZP 7 Nach Art. 7 EMRK darf eine strafrechtliche Verurteilung nur auf Grund eines Gesetzes erfolgen. In diesem Fall ist die Verurteilung Anwendungsvoraussetzung für die konventionsrechtliche Gewährleistung.1801 Gleiches gilt für das Recht auf Überprüfung einer erstinstanzlichen gerichtlichen Entscheidung gemäß Art. 2 ZP 7

1801 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 147; Sinner, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 7 Rn. 7 (stellt auf die Strafe, nicht die Verurteilung ab).

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

sowie das Recht auf eine Entschädigung im Falle eines Fehlurteils nach Art. 3 ZP 7.1802 Für die Anwendung von Art. 4 ZP 7 muss ein rechtskräftig abgeschlossenes Strafverfahren durch Verurteilung oder Freispruch vorliegen.1803 Sowohl die Anwendbarkeit des Art. 7 EMRK1804 als auch der Art. 2–4 ZP 71805 orientieren sich am Verständnis der strafrechtlichen Anklage, also des strafrechtlichen Anwendungsbereichs des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der EMRK liegt also ein einheitliches Verständnis von Verurteilungen und Freisprüchen als gerichtlicher Tätigkeit zugrunde. Die Verfahrensgewährleistungen aus Art. 7 EMRK sowie Art. 2–4 ZP 7 bauen darauf auf, dass bereits eine gericht­ liche Entscheidung im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK vorliegt. Für die vorliegende Untersuchung ergeben sich aus diesen Normen jedoch keine Anforderungen an die innerstaatliche Organisationsstruktur, die über die Vorgaben des Art. 6 Abs. 1 EMRK hinausgehen.

VI. Gerichtliche Entscheidungen als Rechtfertigungsgrund in Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a)–b) EMRK Im Rahmen des Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a)–b) EMRK können gerichtliche Entscheidungen eine gerechtfertigte Freiheitsentziehung ermöglichen. Im Fall des Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a) EMRK ist eine Freiheitsentziehung gerechtfertigt, wenn sie auf einer strafgerichtlichen Verurteilung beruht. Im Urteil Engel v Niederlande legte der EGMR die Verurteilung im Sinne des Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a) EMRK dahingehend aus, dass die institutionellen Voraussetzungen des Gerichtsbegriffs aus Art. 6 Abs. 1 EMRK gelten, während die verfahrensrechtlichen Anforderungen von denen des Art. 6 Abs. 1 EMRK abweichen können.1806 1802 Zu Art. 2 ZP 7: Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 993–994; zu Art. 3 ZP 7: Sinner, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 3 ZP 7 Rn. 2. 1803 Sinner, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 4 ZP 7 Rn. 2. 1804 EGMR Nr. 38644/97, Brown v Vereinigtes Königreich (Zul.), 24.11.1998; Nr. 76959/11, Société Oxygène Plus v Frankreich (Zul.), 17.05.2016, § 43; Nr. 37462/09, Žaja v Kroatien, 04.10.2016, § 86 zeigen allesamt, dass der EGMR die Engel-Kriterien für das Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK anwendet (siehe zu den Engel-Kriterien näher ab S. 448); siehe auch Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig /  Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 7 Rn. 6; Kadelbach, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 15 Rn. 11; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 147; Sinner, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 7 Rn. 7–8; Renzikowski, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 7 Rn. 21–25 (2009). 1805 EGMR Nr. 65022/01, Zaicevs v Lettland, 31.07.2007, § 53 (zu Art. 2 ZP 7); Nr. 16137/04, Kurdov und Ivanov v Bulgarien, 31.05.2011, § 37 (zu Art. 4 ZP 7); Meye, in: Wolter, SK-StPO, Annex zu Art. 7 EMRK Rn. 3 (zu Art. 2 ZP 7), 10 (zu Art. 3 ZP 7), 26 (zu Art. 4 ZP 7); Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 993 (zu Art. 2 ZP 7), 1005 (zu Art. 3 ZP 7), 1029 (zu Art. 4 ZP mit Anknüpfung an Art. 7 EMRK, der wie gezeigt an Art. 6 EMRK anknüpft, siehe Fn. 1804). 1806 EGMR Nr. 5100/71 u. a., Engel u. a. v Niederlande (Pl.), 08.06.1976, § 68 (der EGMR prüfte die Unabhängigkeit des verurteilenden Gerichts und sprach vom konventionsrechtlichen

A. Normative Anknüpfungspunkte  

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Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. b) Alt. 1 EMRK ermöglicht eine Freiheitsentziehung, wenn sich eine Person nicht an eine gerichtliche Verhaltensanordnung hält. Die Freiheitsentziehung kann auch von einer Verwaltungsbehörde angeordnet werden, die eine gerichtliche Verhaltensanordnung durchsetzen muss und hierzu ermächtigt ist.1807 Urteile zu Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. b) Alt. 1 EMRK, in denen der Gerichtsbegriff eine Rolle spielte, sind nicht ersichtlich. Im Sinne einer einheitlichen Konventionsrechtsordnung kann aber davon ausgegangen werden, dass Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. b) Alt. 1 EMRK der Gerichtsbegriff des Art. 6 Abs. 1 EMRK zugrunde liegt.1808 Anders als bei den Rechten auf Zugang zum Gericht müssen die Konventionsstaaten im Rahmen des Art. 5 Abs. 1 EMRK die Anforderungen des Gerichtsbegriffs nicht erfüllen, um die subjektiven Gewährleistungsgehalte der Norm einhalten zu können. Somit verpflichtet Art. 5 Abs. 1 EMRK die Konventionsstaaten nicht unmittelbar zur Einhaltung konkreter institutioneller Vorgaben. Die Konventionsstaaten müssen den Anforderungen an den Gerichtsbegriff aber entsprechen, wenn sie Personen in den Fällen der lit. a)–b) gerechtfertigt die Freiheit entziehen wollen. Sofern die Konventionsstaaten die Möglichkeit haben möchten, konventionskonform durch die Verhängung einer Freiheitsstrafe oder zur Durchsetzung einer gerichtlichen Anordnung in die persönliche Freiheit eingreifen zu können, verpflichtet Art. 5 Abs. 1 EMRK jedenfalls mittelbar zur Einhaltung der institutionellen Vorgaben.1809 Da jedoch keine Abweichungen vom Standard des Art. 6 Abs. 1 EMRK ersichtlich sind, bleiben die Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a)–b) EMRK im Folgenden außer Betracht.

VII. Die Autorität und Unparteilichkeit der Gerichtsbarkeit als Rechtfertigungsgrund gemäß Art. 10 Abs. 2 EMRK Art. 10 Abs. 2 EMRK enthält einen Rechtfertigungsgrund für Eingriffe in die Meinungsfreiheit „zur Wahrung der Autorität und Unparteilichkeit der Rechtsprechung“. In Sunday Times v Vereinigtes Königreich definierte der EGMR: Verständnis (Convention’s notion) eines „Gerichts“); Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 13 Rn. 166; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 5 EMRK Rn. 70–71; Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 5 EMRK Rn. 31. Vgl. auch EGMR Nr. 152/04, Yefimenko v Russland, 12.02.2013, §§ 108–111, wo der EGMR zwar nicht auf Art. 6 Abs. 1 EMRK verwies, aber prüfte, ob das Gericht gesetzlich eingerichtet war. Siehe hierzu auch unten ab S. 452. 1807 Grabenwarter / Struth, Justiz- und Verfahrensgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grund­ rechte und Grundfreiheiten, § 6 Rn. 11; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 13 Rn. 176; Peukert, in: Frowein / Peukert, EMRK, Art. 5 Rn. 54. 1808 Grabenwarter / Struth, Justiz- und Verfahrensgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grund­ rechte und Grundfreiheiten, § 6 Rn. 11 sowie Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 89 legen den Gerichtsbegriff des Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a) EMRK zugrunde und damit den des Art. 6 Abs. 1 EMRK. 1809 Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn.  165.

400

Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

„The term ‚judiciary‘ (‚pouvoir judiciaire‘) comprises the machinery of justice or the judicial branch of government as well as the judges in their official capacity.“1810

In der deutschen Übersetzung des Art. 10 Abs. 2 EMRK wäre nach dieser Definition der Begriff der „Gerichtsbarkeit“ an Stelle von „Rechtsprechung“ passender, da der EGMR auf die institutionelle Gesamtheit der Gerichte, nicht auf die hoheitliche Tätigkeit, abstellte. „The phrase ‚authority of the judiciary‘ includes, in particular, the notion that the courts are, and are accepted by the public at large as being, the proper forum for the ascertainment of legal rights and obligations and the settlement of disputes relative thereto; further, that the public at large have respect for and confidence in the courts’ capacity to fulfil that function.“1811

Typische Eingriffe in die Meinungsfreiheit, die unter diesen Rechtfertigungsgrund fallen, sind Sanktionierungen kritischer Äußerungen über ein gerichtliches Verfahren oder ein Urteil,1812 häufig von Rechtsanwälten1813 oder der Presse.1814 Den legitimen Zweck, die Funktionsfähigkeit des Gerichts zu schützen, stellt der EGMR in die Abwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ein: „Questions concerning the functioning of the justice system, an institution that is essential for any democratic society, fall within the public interest. In this connection, regard must be had to the special role of the judiciary in society. As the guarantor of justice, a fundamental value in a State governed by the rule of law, it must enjoy public confidence if it is to be successful in carrying out its duties. It may therefore prove necessary to protect such confidence against gravely damaging attacks that are essentially unfounded, especially in view of the fact that judges who have been criticised are subject to a duty of discretion that precludes them from replying […].“1815

Stützt sich die Kritik auf beweisbare Tatsachen und betrifft sie nicht den Inhalt einzelner gerichtlicher Entscheidungen sondern die Funktionsfähigkeit des staat 1810 EGMR Nr. 6538/74, The Sunday Times v Vereinigtes Königreich (Pl.), 26.04.1979, § 55. Diese Definition wiederholte der EGMR anschließend nicht mehr. 1811 EGMR Nr. 6538/74, Sunday Times v Vereinigtes Königreich (Pl.), 26.04.1979, § 55; aktueller Nr. 51000/11, Radobuljac v Kroatien, 28.06.2016, § 54. 1812 Siehe für eine Rechtsprechungsübersicht zu Art. 10 Abs. 2 EMRK Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 76–82; Grote / Wenzel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 18 Rn. 94; älter, aber ausführlich Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 92–110. 1813 So zum Beispiel EGMR Nr. 43718/98, Wingerter v Deutschland (Zul.), 21.03.2002; Nr. 35865/04, Foglia v Schweiz, 13.12.2007, §§ 81–103; Nr. 29369/10, Morice v Frankreich (GK), 23.04.2015, §§ 124–178; Nr. 39294/09, Peruzzi v Italien, 30.06.2015, §§ 43–67; Nr. 51000/11, Radobuljac v Kroatien, 28.06.2016, §§ 53–71. Siehe zu diesen Urteilen auch das Background paper for the Judicial Seminar 2018: The Authority of the Judiciary (Fn. 464), S. 10–11. 1814 EGMR Nr. 15974/90, Prager und Oberschlick v Österreich, 26.04.1995, §§ 31–39; Nr. 22714/93, Worm v Österreich, 29.08.1997, §§ 39–59. 1815 EGMR Nr. 29369/10, Morice v Frankreich (GK), 23.04.2015, § 128; inhaltsgleich Nr. 3084/07, Falter Zeitschriften GmbH v Österreich Nr. 2, 18.09.2012, § 39; Nr. 51000/11, Radobuljac v Kroatien, 28.06.2016, § 54.

A. Normative Anknüpfungspunkte  

401

lichen Gerichtssystems als Angelegenheit des öffentlichen Interesses, dann ist eine Einschränkung der Meinungsfreiheit schwieriger zur rechtfertigen.1816 Art. 10 Abs. 2 EMRK betont die Schutzbedürftigkeit der Gerichtsbarkeit und ihre Relevanz für die demokratische Gesellschaft. Mangels konkreter institutioneller Ableitungen ist Art. 10 Abs. 2 EMRK für die Herleitung von Vorgaben für die Gewaltenteilung der Konventionsstaaten von begrenzter Relevanz. Bedeutsam wird der vorliegende Rechtfertigungsgrund jedoch bei einem Eingriff in die richterliche Meinungsfreiheit.1817

VIII. Die innerstaatliche Beschwerdeinstanz gemäß Art. 13 EMRK Art. 13 EMRK enthält das Recht auf eine wirksame innerstaatliche Beschwerde. Von Art. 6 Abs. 1 EMRK und den anderen Rechten auf Zugang zum Gericht unterscheidet sich Art. 13 einerseits im Anwendungsbereich, andererseits im Gewährleistungsgehalt. Das Recht auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK hat einen autonom1818 definierten Anwendungsbereich: das Vorliegen einer zivilrechtlichen Streitigkeit oder einer strafrechtlichen Anklage. Der Anwendungsbereich des akzessorischen1819 Art. 13 EMRK ist hingegen eröffnet, wenn eine beschwerdeführende Person nachvollziehbar behaupten kann, in einem Konventionsrecht verletzt zu sein.1820 Da Art. 13 EMRK hinter Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 5 Abs. 4 EMRK zurücktritt,1821 ist seine Bedeutung für die innerstaatliche Zuständigkeitsordnung 1816

EGMR Nr. 19983/92, De Haes und Gijsels v Belgien, 24.02.1997, §§ 42, 47–49; Nr. 35865/04, Foglia v Schweiz, 13.12.2007, § 86; Nr. 29369/10, Morice v Frankreich (GK), 23.04.2015, §§ 126, 134–139, 150–153. 1817 Siehe hierzu näher ab S. 648. 1818 Für den zivilrechtlichen Anwendungsbereich EGMR Nr. 51357/07, Naït-Liman v Schweiz (GK), 15.03.2018, § 106 sowie die weiteren Nachweise in Fn. 1979; für den strafrechtlichen Anwendungsbereich EGMR Nr. 47152/06, Blokhin v Russland (GK), 23.03.2016, § 197 sowie die Nachweise in Fn. 2059. 1819 Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  20 Rn.  19; Breuer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 13 Rn. 2; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 184. 1820 EGMR Nr. 30210/96, Kudła v Polen, 26.10.2000, § 157; Nr. 60642/08, Ališić u. a. v Bosnien und Herzegowina u. a. (GK), 16.07.2014, § 131; Nr. 767/12, Shapoval v Russland, 13.07.2021, § 56; Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 20 Rn. 22–23; Breuer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 13 Rn. 10; Meyer-Ladewig /  Renger, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 13 Rn. 7. 1821 EGMR Nr. 3989/07 und 38353/07, Ullens de Schooten und Rezabek v Belgien, 20.09.2011, § 52 (zu Art. 6 Abs. 1 EMRK); Nr. 8300/06, Ruiz Rivera v Schweiz, 18.02.2014, § 47 (zu Art. 5 Abs. 4 EMRK); Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 189–190; Ladewig / Renger, in: MeyerLadewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 13 Rn. 41–42. Ausführlich zum Verhältnis von Art. 13 EMRK zu Art. 5 Abs. 4 und Art. 6 Abs. 1 EMRK Barkhuysen / van Emmerik, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 1035 (1052–1056).

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

weniger weitreichend, als der Anwendungsbereich der Norm vermuten lassen könnte. Besondere Bedeutung erlangt Art. 13 EMRK, wenn der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK oder des Art. 5 Abs. 4 EMRK nicht eröffnet ist, insbesondere bei Beschwerden im Asyl- und Ausländerrecht.1822 Außerdem können Beschwerdeführer über Art. 13 EMRK ihr Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend machen.1823 1. Die subjektiv-rechtlichen Gewährleistungen Art. 13 EMRK gewährt das Recht auf eine wirksame Beschwerde. Anders als Art. 6 EMRK enthält Art. 13 EMRK kein Recht auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf,1824 sondern auf eine unabhängige, auch nicht-gerichtliche, Beschwerdeinstanz.1825 Die Beschwerdeinstanz muss Streitigkeiten prüfen und entscheiden sowie im Falle der Verletzung eines Konventionsrechts Abhilfe schaffen können.1826 Bei der Ausgestaltung der Beschwerdemöglichkeit steht den Konventionsstaaten ein gewisser Gestaltungsspielraum zu, solange die Wirksamkeit der Beschwerde nicht beeinträchtigt wird.1827 Art. 13 EMRK gewährleistet kein Recht auf einen Instanzenzug.1828 Darüber hinaus ist der Gewährleistungsgehalt davon abhängig, auf welche hoheitliche Gewalt 1822 Siehe für einen Überblick zu diesen Fällen Ladewig / Renger, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 13 Rn. 32–33; Breuer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 13 Rn. 49–53. Siehe außerdem für Fallgruppen, in denen Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht anwendbar ist ab S. 473. 1823 EGMR Nr. 30210/96, Kudła v Polen, 26.10.2000, §§ 146–156; hierzu ausführlich Breuer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 13 Rn. 54–63; Ladewig / Renger, in: Meyer-Ladewig /  Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 13 Rn. 14–27; Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 13 EMRK Rn. 27–36. 1824 EGMR Nr. 47848/08, Centre for Legal Resources on behalf of Valentin Câmpeanu v Rumänien (GK), 17.07.2014, § 149; Nr. 36925/10 u. a., Nashkov u. a. v Bulgarien, 27.01.2017, § 182; Nr. 21613/16, Ulemek v Kroatien, 31.10.2019, § 71; Meyer-Ladewig / Renger, in: MeyerLadewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  13 Rn.  § 182. 1825 Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  20 Rn.  13; Breuer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 13 Rn. 22; Meyer-Ladewig / Renger, in: MeyerLadewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  13 Rn.  13. 1826 Zur Abhilfemöglichkeit EGMR Nr. 55057/00, Sidjimov v Bulgarien, 27.01.2005, § 38; vgl. zur fehlenden Prüfungskompetenz EGMR Nr. 30985/96, Hasan und Chaush v Bulgarien (GK), 26.10.2000, § 100; Meyer-Ladewig / Renger, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von ­Raumer, EMRK, Art. 13 Rn. 9, 12; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 196–198; Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  20 Rn.  39, 42. 1827 EGMR Nr. 22729/93, Kaya v Türkei, 19.02.1998, § 106; Nr. 28396/95, Wille v Liechtenstein (GK), 28.10.1999, § 75; Nr. 11138/10, Mozer v Moldawien und Russland (GK), 23.06.2016, § 207; Nr. 41288/15, Beizaras and Levickas v Litauen, 14.01.2020, § 149; Grabenwarter /  Pabel, EMRK, § 24 Rn. 196–197; Meyer-Ladewig / Renger, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim /  von Raumer, EMRK, Art. 13 Rn. 9. 1828 Breuer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 13 Rn. 28; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 196.

A. Normative Anknüpfungspunkte  

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die behauptete Konventionsverletzung zurückgeht. Art. 13 EMRK schützt primär die Möglichkeit, Konventionsverletzungen durch exekutives Handeln geltend zu machen.1829 Dazu gehören auch materielle Gesetze im Rang unter Parlamentsgesetzen.1830 Eine Normenkontrolle gegen parlamentarische Gesetze müssen die Konventionsstaaten jedoch nicht einrichten.1831 Auch gerichtliche Urteile darf eine nicht-gerichtliche Beschwerdeinstanz im Sinne des Art. 13 EMRK nicht kontrollieren. Schließlich gebietet der Grundsatz der Verbindlichkeit gerichtlicher Entscheidungen gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK,1832 dass nur ein höherinstanzliches Gericht im Rahmen des vorgesehenen Instanzenzuges ein gerichtliches Urteil überprüfen und gegebenenfalls aufheben darf.1833 Wird aber ein Konventionsrecht durch eine judikative Entscheidung erstmals verletzt, etwa durch eine überlange Verfahrensdauer des Gerichtsverfahrens, ist Art. 13 EMRK anwendbar.1834 2. (Objektive) Staatliche Verpflichtungen Die objektiven staatlichen Verpflichtungen ergeben sich auch im Fall des Art. 13 EMRK aus dem subjektiven Gewährleistungsgehalt. Auch wenn die innerstaat­liche Beschwerdeinstanz kein Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK sein muss, so gibt Art. 13 EMRK gleichwohl einige institutionelle Eigenschaften vor. Dem EGMR reicht es jedoch aus, wenn eine Zusammenschau verschiedener nationaler Rechtsbehelfe gemeinsam alle Anforderungen des Art. 13 EMRK erfüllt.1835

1829

Breuer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 13 Rn. 18. EGMR Nr. 5947/72, Silver u. a. v Vereinigtes Königreich, 25.03.1983, §§ 118–119; Breuer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 13 Rn. 16; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 192; 1831 EGMR Nr. 29381/09 und 32684/09, Vallianatos u. a. v Griechenland (GK), 07.11.2013, § 94; Breuer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 13 Rn. 16; Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 20 Rn. 80; Meyer-Ladewig / Renger, in: Meyer-­ Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  13 Rn.  4. 1832 Siehe hierzu näher ab S. 488. 1833 Jeweils bezogen auf verfassungsgerichtliche Verfahren EGMR Nr. 71630/01, Wendenburg u. a. v Deutschland (Zul.), 06.02.2003; Nr. 34932/04, Paksas v Litauen (GK), 06.01.2011, § 114. Vgl. auch Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 189; Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 20 Rn. 78; Harris u. a., Law of the ECHR, S. 447. 1834 Grundlegend EGMR Nr. 30210/96, Kudła v Polen, 26.10.2000, §§ 146–156; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 190; Breuer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 13 Rn. 20. 1835 EGMR Nr. 604/07 u. a., Manushaqe Puto u. a. v Albanien, 31.07.2012, § 70; Nr. 10722/13, A. K. v Liechtenstein Nr. 2, 18.02.2016, § 85; Meyer-Ladewig / Renger, in: Meyer-Ladewig /  Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 13 Rn. 9; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 198; Barkhuysen / van Emmerik, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 1035 (1041). 1830

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Die Beschwerdeinstanz muss eine tatsächliche und rechtliche Prüfungskompetenz haben, um die Rechtmäßigkeit der angegriffenen Entscheidung kontrollieren zu können.1836 Sie darf nicht aufgrund politischer oder zweckmäßiger Erwägungen entscheiden. Auch eine reine Willkürkontrolle reicht im Normalfall nicht aus.1837 Darüber hinaus müssen Entscheidungen der Beschwerdeinstanz die Streitigkeit verbindlich entscheiden und im Falle einer Konventionsverletzung Abhilfe schaffen können.1838 Abgeholfen wird einer Konventionsverletzung entweder, indem diese beendet oder verhindert oder wenn der betroffenen Person eine Entschädigung zugesprochen wird.1839 Welche konkreten Maßnahmen einer Beschwer abhelfen, hängt von der Art des Eingriffs ab.1840 Schließlich muss die Beschwerdeinstanz unabhängig sein. In erster Linie betrifft diese Anforderung das Verhältnis der Beschwerdeinstanz zur Ausgangsbehörde, die für die geltend gemachte Konventionsverletzung verantwortlich ist.1841 Die Ausgangsbehörde darf nicht die Beschwerdeinstanz im Sinne des Art. 13 EMRK sein.1842

1836

Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  20 Rn.  39. EGMR Nr. 36022/97, Hatton u. a. v Vereinigtes Königreich (GK), 08.07.2003, § 141; Breuer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 13 Rn. 47; Meyer-Ladewig / Renger, in: MeyerLadewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  13 Rn.  12; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 198; Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  20 Rn. 39, die aber in Rn. 40 auf die Ausnahmen hinweist. 1838 Zur Verbindlichkeit EGMR Nr. 68138/01, Zazanis u. a. v Griechenland, 18.11.2004, § 47; zur Abhilfemöglichkeit EGMR Nr. 28114/95, Dalban v Rumänien (GK), 28.09.1999, § 44; Nr. 40035/98, Jabari v Türkei, 11.07.2000, §§ 48–50. Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 20 Rn. 42; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 198. Im Fall Leander v Schweden reichte dem EGMR ausnahmsweise eine nicht-verbindliche Anordnungsbefugnis aus, weil er zusätzliche institutionelle Sicherungsmechanismen in seine Erwägungen einbezog, EGMR Nr. 9248/81 Leander v Schweden, 26.03.1987, §§ 82–84. 1839 EGMR Nr. 30210/96, Kudła v Polen, 26.10.2000, § 158; Nr. 63235/00 Vilho Eskelinen v Finnland (GK), 19.04.2007, § 81; Nr. 10722/13, A. K. v Liechtenstein Nr. 2, 18.02.2016, § 85; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 196; Meyer-Ladewig / Renger, in: Meyer-Ladewig /  Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 13 Rn. 9. 1840 Im Falle einer rechtswidrigen Speicherung von Daten kann der Verletzung nur dadurch abgeholfen werden, dass die Daten gelöscht werden, EGMR Nr. 62332/00, Segerstedt-Wiberg u. a. v Schweden, 06.06.2006, §§ 119–120; Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 20 Rn. 43. Eine Dienstaufsichtsbeschwerde ist jedoch nicht geeignet, der Beschwer abzuhelfen, da Aufsichtsbehörden nicht zum Einschreiten gezwungen werden können, EGMR Nr. 51585/99, Horvat v Kroatien, 26.07.2001, § 47; Gaede, in: Knauer, MüKoStPO, Art. 13 EMRK Rn. 20. 1841 EGMR Nr. 35394/97, Khan v Vereinigtes Königreich, 12.05.2000, §§ 44–47; Nr. 75529/01, Sürmeli v Deutschland, 08.06.2006, § 109; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 196; ­L adewig / Renger, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 13 Rn. 13; Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 13 EMRK Rn. 20. 1842 EGMR Nr. 5947/72, Silver u. a. v Vereinigtes Königreich, 25.03.1983, § 116; Nr. 15943/90, Domenichini v Italien, 15.11.1996, § 42; Nr. 56027/10, Reshetnyak v Russland, 08.01.2013, § 62; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 196; Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 13 EMRK Rn. 20; Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  20 Rn.  61. 1837

A. Normative Anknüpfungspunkte  

405

Es schadet der Unabhängigkeit der Beschwerdeinstanz bereits, wenn eine Person sowohl an der ursprünglichen Entscheidung als auch an der Entscheidung über die Beschwerde mitwirkt.1843 Außerdem ordnete der EGMR Beschwerden zu übergeordneten Einheiten der Staatsanwaltschaft nicht als wirksam ein, weil deren Ermessen die Ausübung einer staatlichen Rechtmäßigkeitskontrolle verhindern könnte.1844 Zulässig ist hingegen die Zuständigkeit einer Behörde als Beschwerdeinstanz, welche die Richtlinien erlassen hat, gegen deren Anwendung durch eine untere Behörde die betroffene Person vorgeht.1845 Zusammenfassend müssen die Konventionsstaaten nach Art. 13 EMRK eine Beschwerdeinstanz einrichten, welche die gleiche hoheitliche Funktion wie Gerichte hat, nämlich zu entscheiden, ob eine Rechtsverletzung vorliegt. Die Beschwerdeinstanz muss jedoch geringere institutionelle Anforderungen erfüllen. In Anbetracht der deutlich weniger ausführlichen Rechtsprechung zu Art. 13 EMRK und der größeren Vielfalt möglicher Erscheinungsformen der Beschwerdeinstanz, ist eine Erarbeitung einer Schablone allgemeingültiger staatsorganisatorischer Anforderungen für die Beschwerdeinstanz nicht in vergleichbarem Maße möglich wie für Art. 6 Abs. 1 EMRK. Die Arbeit wird sich daher im Folgenden auf die Anforderungen an die Gerichtsbarkeit konzentrieren.

IX. Persönliche Freiheitsrechte der Richter Schließlich schützt die EMRK die richterliche Unabhängigkeit und die hiermit zusammenhängenden Statusrechte über die persönlichen Freiheitsrechte der Richter. Urteile, die über Eingriffe in richterliche Freiheitsrechte in Zusammenhang mit ihrer hoheitlichen Tätigkeit entschieden, ergingen bislang zu der Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 EMRK, der Vereinigungsfreiheit gemäß Art. 11 EMRK, der Religionsfreiheit gemäß Art. 9 EMRK, dem Recht auf ein ungestörtes Privatleben gemäß Art. 8 EMRK, der persönlichen Freiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 EMRK sowie dem passiven Wahlrecht gemäß Art. 3 ZP.1846 Außerdem steht Richtern der Zugang zum Gericht offen, wenn sie sich gegen Disziplinarmaßnahmen zur Wehr setzen wollen.

1843

Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  20 Rn.  61. EGMR Nr. 55057/00, Sidjimov v Bulgarien, 27.01.2005, § 41; Meyer-Ladewig / Renger, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 13 Rn. 13. 1845 EGMR Nr. 5947/72, Silver u. a. v Vereinigtes Königreich, 25.03.1983, § 116; Nr. 7819/77 und 7878/77, Campbell und Fell v Vereinigtes Königreich, 28.06.1984, § 127; Richter, in: Dörr /  Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  20 Rn.  61; Meyer-Ladewig / Renger, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 13 Rn. 13. 1846 Diese Beobachtung auch bei Kosař / Lixinski, AJIL 190 (2015), S. 713 (718, 750); sehr ausführlich zur richterlichen Meinungsfreiheit Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (2–11). 1844

406

Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Richter können über ihre persönlichen Freiheitsrechte im konkreten Einzelfall Mängel im Gerichtssystem geltend machen, obwohl sie sich nicht persönlich gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK auf ihre fehlende richterliche Unabhängigkeit berufen können.

X. Analyse Die objektiven institutionellen Verpflichtungen an die Gerichtsbarkeit ergeben sich aus verschiedenen subjektiv-rechtlichen Gewährleistungen. Die verschiedenen Rechtsschutzgarantien sind Teil des konventionsrechtlichen Rechtsstaatsprinzips. Gerichte müssen  – unabhängig von den unterschiedlichen Formulierungen1847 normübergreifend einheitlich1848  – durch Gesetz eingerichtet, unabhängig und unparteilich sein und streitentscheidend tätig werden. Diese objektiven Vorgaben verpflichten die Konventionsstaaten und wirken sich auf die innerstaatliche Gewaltenteilung aus. Die Staaten müssen konventionskonforme Gerichte und im Fall des Art. 13 EMRK Beschwerdeinstanzen einrichten, die für Streitigkeiten im Anwendungsbereich der jeweiligen Normen zuständig sind, um nicht strukturell die Konventionsrechte aller rechtsschutzbegehrenden Bürger zu verletzen. Ausschlaggebend für das Gerichtsverständnis der EMRK ist Art. 6 Abs. 1 EMRK, der einzelne Gerichtsmerkmale aufzählt und zu dem die meiste Rechtsprechung ergangen ist. Art. 5 Abs. 3 EMRK gewährleistet die richterliche Vorführung für Personen in Untersuchungs- oder Präventivhaft von Amts wegen, lässt aber zu, dass nicht ein Richter, sondern eine Amtsperson mit richterlichen Befugnissen diese hoheit­liche Aufgabe übernimmt. Sowohl nach Art. 5 Abs. 3 EMRK als auch nach Art. 13 EMRK müssen die Organe unabhängig handeln. Der Gedanke des effektiven und unabhängigen Rechtsschutzes liegt damit jeder in der EMRK vorgesehenen rechtsprechenden Tätigkeit zugrunde, unabhängig davon, welches Organ sie ausübt. Soweit die strafrechtliche Anklage beziehungsweise Verurteilung im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK Anwendungsvoraussetzung der Rechte aus Art. 7 EMRK und

1847

Vgl. Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtel, S. 363 (363–364); Kühne, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 283 (2009). 1848 EGMR Nr. 2832/66, 2835/66 und 2899/66, De Wilde, Ooms und Versyp v Belgien (Pl.), 18.06.1971, § 78: „It is true that the Convention uses the word ‚court‘ (French ‚tribunal‘) in several of its Articles. It does so to mark out one of the constitutive elements of the guarantee afforded to the individual by the provision in question (see, in addition to Article 5 (4), Articles 2 (1), 5 (1) (a) and (b), and 6 (1) (tribunal) […]. In all these different cases it denotes bodies which exhibit not only common fundamental features, of which the most important is independence of the executive and of the parties to the case […].“ Für die Einheitlichkeit des Gerichtsbegriffs auch Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 48; vgl. auch ­Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 173. Abhängig von den jeweiligen Anwendungsbereichen unterscheiden sich die Gerichtsbegriffe der verschiedenen Rechtsschutzgrundrechte jedoch darin, welchen Inhalt die jeweiligen gerichtlichen Entscheidungen haben müssen, siehe hierzu näher ab S. 432.

B. Die Merkmale des Gerichtsbegriffs  

407

Art. 2–4 ZP 7 ist, ergeben sich hieraus ebenfalls keine weiteren Rückschlüsse auf institutionelle Strukturen, da die Rechtsprechung zum Anwendungsbereich sich an den zu Art. 6 Abs. 1 EMRK entwickelten Prinzipien orientiert. Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a)–b) EMRK verpflichten die Konventionsstaaten nicht unmittelbar zur Einhaltung bestimmter institutioneller Vorgaben, sondern lediglich mittelbar. Die Konventionsstaaten müssen die institutionellen Vorgaben nicht einhalten, um dem Gewährleistungsgehalt des Konventionsrechts überhaupt zu entsprechen, wohl aber wenn sie ein Recht konventionskonform einschränken wollen. Der Rechtsprechung zu Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a)–b) EMRK sind keine Vorgaben zu entnehmen, die über Art. 6 Abs. 1 EMRK hinausgehen. Der Rechtfertigungsvoraussetzung des Art. 10 Abs. 2 EMRK zum Schutz der „Autorität der Rechtsprechung“ sind keine konkreten institutionellen Vorgaben zu entnehmen. Maßgeblich für die Anforderungen an die institutionelle Gewaltenteilung sind somit die objektiven Verpflichtungen, die sich aus den Rechten auf Zugang zum Gericht ableiten lassen. Daneben lassen sich insbesondere in jüngerer Zeit aus der Rechtsprechung zu richterlichen Freiheitsrechten Rückschlüsse auf die richterliche Unabhängigkeit und die richterlichen Statusrechte ziehen.

B. Die Merkmale des Gerichtsbegriffs Ein Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK muss unabhängig und unparteilich sein sowie auf einem Gesetz beruhen. Daneben leiten sich aus dem Gerichtsbegriff selbst (tribunal / tribunal) weitere Gerichtsmerkmale ab: Ein Gericht ist ein staatliches Organ der Streitentscheidung, das Sachverhalte sowohl rechtlich als auch tatsächlich prüft, nach einem vorgesehenen Verfahren entscheidet, an das Gesetz gebunden ist und dessen Entscheidungen Bindungswirkung entfalten.1849 Dieses Verständnis entspricht dem verfassungstheoretisch anerkannten Gerichtsbegriff1850.

1849 Meye, in: Wolter, Systematischer Kommentar, Art. 6 EMRK Rn. 74; Meyer-Ladewig /  Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 35, 66; Kühne, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 287 (2009); Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 85; Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 104 (bezogen auf Strafgerichte); Villiger, Handbuch EMRK, Rn. ­492–493; Müßig, Recht und Justizhoheit, S. 404; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 536 (bezogen auf Strafgerichte); Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK, S. 33; Peters / Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 21; Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 772; Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtl, S. 363 (364). 1850 Maurer, Staatsrecht I, § 19 Rn. 5; Merli, Der Rechtsschutz, in: Hofmann u. a., Der Rechtsschutz, S. 31 (32). Vgl. auch die Darstellungen in Haller / Kölz / Gächter, Allgemeines Staatsrecht, Rn. 931–946; Classen, Nationales Verfassungsrecht in der EU, Rn. 643, 645, 656–657. Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 772 weist darauf hin, dass dieses Verständnis auch dem unionsrechtlichen Gerichtsbegriff entspricht.

408

Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Der tribunal-Begriff hat somit eine doppelte Bedeutung – einerseits als Gesamtbezeichnung für das Gericht mit all seinen Merkmalen und andererseits als eigenständiges Gerichtsmerkmal mit verschiedenen Ableitungen.1851 Für die Untersuchung der Gewaltenteilung sind Organdefinitionen als Aspekt der institutionellen Pluralität, des zweiten Elements der Gewaltenteilung, relevant. Die Zusammenschau ihrer Merkmale grenzt Gerichte von anderen hoheitlichen Organen ab. Gleichzeitig gestalten die Merkmale das Verhältnis der Gerichte zu anderen hoheitlichen Organen aus. So schützt die Unabhängigkeit die Gerichte vor Einfluss durch die politischen Gewalten, sodass gerichtliche Entscheidungen alleine auf Grundlage des Gesetzes ergehen.1852 Das Erfordernis einer formellgesetzlichen Grundlage zur Einrichtung des Gerichts betrifft das Verhältnis zwischen dem Parlament und den Gerichten. Die Prüfungsbefugnis definiert, wie weitreichend Gerichte exekutive Rechtsakte kontrollieren dürfen. Und die Entscheidungsbefugnis bestimmt, welche Kompetenzen die Gerichte zur Abhilfe im Falle rechtswidrigen exekutiven Handelns haben müssen. Der EGMR definiert den Gerichtsbegriff autonom.1853 Die innerstaatliche Bezeichnung eines Organs als „Gericht“ ist nicht mehr als ein Indiz für die Einordnung.1854Auch ein nach innerstaatlichem Verständnis nicht-gerichtliches Organ kann die Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK erfüllen.1855 Anders herum ist

1851

Diese eigenständige Bedeutung des tribunal-Begriffs wird im Schrifttum nicht immer deutlich. Stattdessen werden nur die Unabhängigkeit, die Unparteilichkeit und die gesetz­ liche Grundlage als drei Elemente des Gerichtsbegriffs aufgezählt, so etwa Meyer-Ladewig /  Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 65–86, die auf die weiteren Gerichtsmerkmale im Rahmen des Gewährleistungsumfangs eingehen (Rn.  35); Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 29–50, die ohne Anknüpfung an ein Gerichtsmerkmal Ausführungen zu gerichtlichen Kompetenzen und Bindungswirkung machen (Rn. 29–31); Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 103, der auf die weiteren Gerichtsmerkmale im Rahmen des Gesetzesvorbehalts eingeht; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (598–612), die auf die übrigen Merkmale in einer der Einleitung knapp eingehen (S. 598). 1852 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 41, 48; Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 49–50; Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtel, S. 363 (369); Wojtyczek, ERPL 32 (2020), S. 185 (201). Für die verfassungstheoretische Perspektive Fn. 1722. 1853 Kühne, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 285 (2009); Meye, in: Wolter, Systematischer Kommentar, Art. 6 EMRK Rn. 73; Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtel, S. 363 (366); Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 28; Peters / Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 21; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn.  38; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 174. 1854 EGMR Nr. 10328/83, Belilos v Schweiz (Pl.), 29.04.1988, § 65; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 29. 1855 Zu Art. 6 Abs. 1 EMRK: EGMR Nr. 8790/79, Sramek v Österreich (Pl.), 22.10.1984, § 36; Nr. 19589/92, British-American Tobacco Company Ltd v Niederlande, 20.11.1995, § 77; Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, § 94; Nr. 30226/10

B. Die Merkmale des Gerichtsbegriffs  

409

nicht jedes Organ, das im innerstaatlichen Recht als „Gericht“ bezeichnet wird, auch ein Gericht im Sinne der EMRK.1856

I. Durch Gesetz eingerichtet: Formeller Gesetzesvorbehalt Gerichte müssen durch formelle Gesetze eingerichtet werden.1857 Der formelle Organisationsvorbehalt umfasst die Einrichtung und Organisation der Gerichte, das richterliche Ernennungsverfahren, die Regelung der gerichtlichen Zuständigkeiten, die Zusammensetzung der Kammern im konkreten Fall, die richterlichen Statusrechte sowie das anwendbare Verfahren. Dieses Gerichtsmerkmal gestaltet das Verhältnis von gesetzgebenden Organen und Gerichten aus. Die Parlamente sind konventionsrechtlich dazu verpflichtet, Gerichte einzurichten, die gerichtlichen Zuständigkeiten und das gerichtliche Verfahren zu bestimmen und die Voraussetzungen für die Durchführung eines fairen Verfahrens vor einem unabhängigen und unparteilichen Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK zu schaffen. Bestand und Ausgestaltung der Gerichte und ihres Verfahrens sind von parlamentarischen Entscheidungen abhängig. Durch das konventionsrechtliche Rechtmäßigkeitserfordernis sind die Gerichte an die parlamentarischen Grundlagen gebunden. Ihr hoheitliches Handeln ist also durch die parlamentarischen Grundlagen begrenzt. Eine höchstgerichtliche Rechtsfortbildungskompetenz der höchsten Gerichte erkennt der EGMR nur in Ausnahmefällen als konventionskonform an.1858 Ansonsten legen die Gerichte die institutionellen und prozessualen Vorschriften aus und sind dabei an die Grenzen der Auslegung, insbesondere den Wortlaut und die Vereinbarkeit des Auslegungsergebnisses mit höherrangigem Recht, gebunden. Die Guðmundur Andri Ástráðsson-Rechtsprechung bietet seit kurzem eine Möglichkeit, über das Rechtmäßigkeitserfordernis des formellen Gesetzesvorbehalts Fehler beim richterlichen Ernennungsverfahren geltend zu machen, selbst wenn es keine Anhaltspunkte

und 5506/16, Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, § 195; Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 284; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 128; Grabenwarter /  Pabel, EMRK, § 24 Rn. 29; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 29; zu Art. 5 Abs. 4 EMRK: EGMR Nr. 9787/82, Weeks v Vereinigtes Königreich (Pl.), 02.03.1987, § 61; Nr. 50272/99, Hutchison Reid v Vereinigtes Königreich, 20.02.2003, § 64. 1856 Kühne, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 286 (2009); Meye in: Wolter, Systematischer Kommentar, Art. 6 EMRK Rn. 73; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr /  Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn.  39; Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 48; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 29; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 174. 1857 Siehe ausführlich zum formellen Organisationsvorbehalt des Art. 6 Abs. 1 EMRK oben ab S. 304 1858 EGMR Nr. 29458/04 und 29465/04, Sokurenko und Strygun v Ukraine, 20.07.2006, §§ 26–28. Siehe dazu ausführlich ab S. 311.

410

Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

dafür gibt, dass die fehlerhaft ernannten Richter im konkreten Fall eine voreingenommene Entscheidung getroffen haben.1859 Hierdurch können Beschwerdeführer Verstöße gegen das Ernennungsverfahren, die geeignet sind, das Vertrauen in die gerichtliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit grundsätzlich zu erschüttern, noch Jahre nach der Ernennung geltend machen. Durch diese neue Entwicklung der Rechtsprechung hat sich die praktische Bedeutung des formellen Gesetzesvorbehalts für die Gewaltenteilung gesteigert. Der formelle Gesetzesvorbehalt führt auch dazu, dass die Exekutive nur Einfluss auf gerichtsorganisatorische Fragen nehmen darf, wenn und soweit das Parlament Teile seiner Gesetzgebungsbefugnisse an die Exekutive delegiert hat. Die EMRK erlaubt den gestaltenden Einfluss der Exekutive auf die Gerichtsbarkeit also nur in durch die Legislative bestimmten Grenzen.

II. Tribunal: Hoheitliches Organ der verbindlichen tatsächlichen und rechtlichen Streitentscheidung am Maßstab des Gesetzes Vom Gerichtsbegriff (tribunal) umfasst sind all diejenigen Gerichtsmerkmale, die Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht explizit erwähnt: „A court or tribunal is characterised in that substantive sense by its judicial function, that is to say determining matters within its competence on the basis of legal rules, with full jurisdiction and after proceedings conducted in a prescribed manner […]. A power of decision is inherent in the very notion of ‚tribunal‘. The procedure before it must ensure the ‚determination of the matters in dispute‘ as required by Article 6 § 1 […].“1860

1. Hoheitliches Organ der verbindlichen tatsächlichen und rechtlichen Streitentscheidung Das Recht auf Zugang zum Gericht umfasst nicht nur das Recht, eine Streitigkeit an einem Gericht anhängig zu machen, sondern auch das Recht auf eine gerichtliche Entscheidung.1861 Nach der EMRK haben Gerichten die Aufgabe, über zivilrechtliche Streitigkeiten, strafrechtliche Anklagen und die Rechtmäßigkeit von Freiheitsentziehungen zu entscheiden. Dies machte der EGMR auch im Rahmen des Rechtfertigungsgrundes nach Art. 10 Abs. 2 EMRK zur Wahrung der Autorität der Rechtsprechung deutlich: 1859

Siehe hierzu bereits ausführlich ab S. 313. EGMR Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, § 139; Nr. 30226/10 und 5506/16, Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, § 195, jeweils m. w. N. zur früheren Rechtsprechung; siehe außerdem die Nachweise zum Schrifttum in Fn. 1849. 1861 Bezogen auf zivilrechtliche Streitigkeiten EGMR Nr. 48778/99, Kutić v Kroatien, 01.03.2002, § 24; Nr. 58112/00, Multiplex v Kroatien, 10.07.2003, § 45; Nr. 64734/11, Leuska u. a. v Estland, 07.11.2017, § 67; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (542). 1860

B. Die Merkmale des Gerichtsbegriffs  

411

„[T]he courts are, and are accepted by the public at large as being, the proper forum for the resolution of legal disputes and for the determination of a person’s guilt or innocence on a criminal charge“.1862

Der EGMR definiert das Gericht somit maßgeblich funktional über dessen hoheitliche Tätigkeit (characterised in [its] substantive sense by its judicial function)1863 und die dem Gericht durch die innerstaatliche Rechtsordnung zugeschriebenen Kompetenzen: „In assessing the sufficiency of a judicial review available to an applicant, the Court will have regard to the powers of the judicial body in question […].“1864

Welchen Inhalt und welche Gestaltungswirkung eine gerichtliche Entscheidung aufgrund der konventionsrechtlichen Anforderungen haben muss, hängt vom Streitgegenstand ab. Abhängig von den Anwendungsbereichen des Art. 6 Abs. 1 EMRK beziehungsweise der Art. 5 Abs. 4 EMRK und Art. 2 ZP 7 sind die Gerichte für unterschiedliche Streitigkeiten zuständig, sodass die verschiedenen Rechte auf Zugang zum Gericht unterschiedliche Vorgaben machen. Gleiches gilt für die Frage, worauf sich die umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfungskompetenz (full jurisdiction) bezieht und ob diese möglicherweise im Einzelfall eingeschränkt werden darf. Anders als der formelle Gesetzesvorbehalt und die gerichtliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, die sich unmittelbar auf die institutionelle Struktur beziehen, sind die Anforderungen an die gerichtliche Tätigkeit, also die Prüfungsbefugnis sowie Inhalt und Wirkung der gerichtlichen Entscheidung, abhängig von dem einschlägigen Konventionsrecht und der konkreten Streitigkeit und können daher nicht verallgemeinert im vorliegenden Abschnitt dargestellt werden.1865 Entscheidend ist, dass der Beschwer im konkreten Fall abgeholfen werden kann.1866

1862

EGMR Nr. 29369/10, Morice v Frankreich (GK), 23.04.2015, § 129; Nr. 68317/13, Miljević v Kroatien, 25.06.2020, § 53. Siehe für eine ähnliche Formulierung bereits das wörtliche Zitat zu Fn. 1811. 1863 EGMR Nr. 8790/79, Sramek v Österreich (Pl.), 22.10.1984, § 36; Nr. 10328/83, Belilos v Schweiz (Pl.), 29.04.1988, § 64; Nr. 32492/96 u. a., Coëme u. a. v Belgien, 22.06.2000, § 99; Nr. 37575/04, Boulois v Luxemburg (GK), 03.04.2012, § 16; Nr. 21539/07, Steininger v Österreich, 17.04.2012, § 45; Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, § 139; Nr. 30226/10 und 5506/16, Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, § 195; Meye, in: Wolter, Systematischer Kommentar, Art. 6 EMRK Rn. 73; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 29; Harris u. a., Law of the ECHR, S. 446–447; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 31; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 535. 1864 EGMR Nr. 32181/04 und 35122/04, Sigma Radio Television Ltd v Zypern, 21.07.2011, § 154; Nr. 40378/10, Fazia Ali v Vereinigtes Königreich, 20.10.2015, § 78; inhaltsgleich Nr. 55391/13, 57728/13 und 74041/13, Ramos Nunes de Carvalho  e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 179; dem folgend EGMR Nr. 33399/18, Pişkin v Türkei, 15.12.2020, § 132. 1865 Siehe hierzu ausführlich ab S. 432. 1866 Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 35.

412

Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Im Anwendungsbereich der Rechte auf Zugang zum Gericht gibt die EMRK vor, welche Kompetenzen die Gerichte mindestens haben müssen. Die innerstaatlichen Zuständigkeitsordnungen müssen diese Vorgaben umsetzen. Allerdings verbietet die EMRK nicht, dass Gerichte neben ihrer Streitentscheidungskompetenz weitere hoheitliche, etwa beratende, verwaltende, regulierende oder disziplinierende Tätigkeiten ausüben.1867 2. Bindung an das Gesetz Ein Gericht muss die Streitigkeiten auf der Grundlage eines Gesetzes und im Rahmen eines im Vorhinein (gesetzlich) festgelegten Verfahrens entscheiden.1868 Die Gesetzesbindung gestaltet das Verhältnis der Gerichte zu den rechtsetzenden Organen aus. a) Bindung an das anwendbare Recht Die Bindung der Gerichte an materielle Gesetze als Entscheidungsgrundlage ist ein eigenständiges, vom formellen Organisationsvorbehalt zu unterscheidendes, Gesetzesmerkmal.1869 Der formelle Organisationsvorbehalt verpflichtet die legislativen Organe, Regelungen über die Einrichtung und Organisation von Gerichten zu erlassen, die den organisatorischen Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK entsprechen. Er umfasst auch die Regelung des gerichtlichen Verfahrens. Die Bindung der Gerichte an das innerstaatliche Prozessrecht ergibt sich somit unmittelbar aus dem Rechtsmäßigkeitserfordernis des formellen Gesetzesvorbehalts.1870 Daneben sind die Gerichte an die materiellen Entscheidungsgrundlagen gebunden, für deren Rechtsform Art. 6 Abs. 1 EMRK keine Vorgaben macht.1871 Gerichte 1867

Ausdrücklich EGMR Nr. 8950/80, H. v Belgien (Pl.), 30.11.1987, § 50; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK, S. 32; Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 48; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 128. 1868 EGMR Nr. 32492/96 u. a., Coëme u. a. v Belgien, 22.06.2000, § 99; Nr. 25781/94, Zypern v Türkei (GK), 10.05.2001, § 233; Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, § 139; Nr. 30226/10 und 5506/16, Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, § 195; M ­ üller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 52; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 176, 247. 1869 Siehe auch die Definition bei Dörr / Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 772, die beide Merkmale einzeln benennt. Siehe dieses Merkmal verfassungstheoretisch oder rechtsvergleichend bei Haller / Kölz / Gächter, Allgemeines Staatsrecht, Rn. 937–940; Möllers, Gewaltengliederung, S. 95–96. 1870 EGMR Nr. 29458/04 und 29465/04, Sokurenko und Strygun v Ukraine, 20.07.2006, § 24; Nr. 1468/08, Loghin v Rumänien, 21.06.2016, § 25; Nr. 50956/16, Pasquini v San Marino, 02.05.2019, § 101; Nr. 5485/10, Mykhalnychenko v Ukraine (Zul.), 09.06.2020, § 28; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 245. 1871 Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtel, S. 363 (380).

B. Die Merkmale des Gerichtsbegriffs  

413

dürfen sich nicht über die geltende Rechtslage hinwegsetzen. Die EGMR-Rechtsprechung zu diesem Merkmal ist dürftig. Betreffen die im konkreten Rechtsstreit anwendbaren Gesetze jedoch nicht die Einschränkung von Konventionsrechten, enthält die EMRK keine Anforderungen an Gesetzesqualität oder Rechtsetzungsorgane. In diesem Fall ist das innerstaatliche Gesetzesverständnis ausschlaggebend: Die Gerichte sind an die geltenden innerstaatlichen gesetzlichen Grundlagen gebunden. Sofern eine Streitigkeit jedoch die Einschränkung von Konventionsrechten betrifft, kann auf die Erkenntnisse zum materiellen Gesetzesbegriff zurückgegriffen werden. Hieraus ergibt sich, dass das anwendbare Recht zugänglich, bestimmt und vorhersehbar sein muss.1872 Zudem zeigt die Rechtsprechung zum materiellen Gesetzesbegriff, dass der EGMR die Einhaltung des materiellen Rechts nur in Ausnahmefällen, im Falle einer willkürlichen oder offensichtlich rechtswidrigen Rechtsanwendung, prüft.1873 Innerhalb der Gesetzesbindung ist die Auslegung der Gesetze vorrangig Aufgabe der Gerichte.1874 Ob sich eine gerichtliche Auslegung im Rahmen des Gesetzes hält, wird grundsätzlich anhand des innerstaatlichen Rechts beurteilt. Parallel zu den sich aus der Vorhersehbarkeitsrechtsprechung ergebenden konventionsrechtlichen Grenzen der Auslegung1875 hat der EGMR im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK Fälle über die Änderung einer etablierten Rechtsprechung sowie über eine uneinheitliche gerichtliche Auslegung entschieden. b) Änderung einer etablierten Rechtsprechung Eine Änderung der bisherigen etablierten Rechtsprechung ist aus Sicht der Prozessparteien im Lichte der Rechtssicherheit insbesondere dann problematisch, wenn hierdurch das Ergebnis der Streitigkeiten beeinflusst wird. In Unédic v Frankreich stellte der EGMR fest, dass die EMRK kein Recht auf eine konstante Rechtsprechung enthält.1876 Ändert sich die Auslegung einer Norm im Laufe der Zeit, führt dies insbesondere nicht zu einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, wenn den Prozessparteien die Rechtsprechungsentwicklung bekannt sein musste.1877 1872

Siehe zu den qualitativen Anforderungen an den materiellen Gesetzesbegriff ab S. 264. Siehe hierzu ab S. 302. 1874 EGMR Nr. 42750/09, Del Río Prada v Spanien (GK), 21.10.2013, §§ 92–93; Nr. 14305/17, Selahattin Demirtaş v Türkei Nr. 2 (GK), 20.12.2020, § 253. Siehe außerdem die Nachweise in Fn. 1146 zur gerichtlichen Auslegung im Rahmen des materiellen Gesetzesvorbehalts. 1875 Siehe hierzu ausführlich ab S. 280. 1876 EGMR Nr. 20153/04, Unédic v Frankreich, 18.12.2008, § 74; dem folgend EGMR Nr. 36815/03, Atanasovski v Mazedonien, 14.01.2010, § 38; Nr. 23228/08, Legrand v Frankreich, 26.05.2011, § 36; Nr. 24537/10, Şen u. a. v Türkei (Zul.), 14.02.2012; Nr. 37194/08 und 37260/08, Stanković und Trajković v Serbien, 22.12.2015, § 40(vi). 1877 EGMR Nr. 20153/04, Unédic v Frankreich, 18.12.2008, § 75; Nr. 23228/08, Legrand v Frankreich, 26.05.2011, § 40. 1873

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

„[C]ase-law development is not, in itself, contrary to the proper administration of justice since a failure to maintain a dynamic and evolutive approach would risk rendering it a bar to reform or improvement.“1878

Weicht ein Gericht erstmals von einer etablierten Rechtsprechung ab, ist es verpflichtet, sein Vorgehen ausführlich zu begründen, da die Parteien ein anderes Ergebnis erwarten durften.1879 c) Uneinheitliche gerichtliche Auslegungsergebnisse Den Fall, dass innerstaatliche Gerichte Gesetze uneinheitlich auslegen, behandelt der EGMR im Rahmen der Gesetzesbindung des Art. 6 Abs. 1 EMRK ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit. In den Leiturteilen der Großen Kammer Nejdet Şahin and Perihan Şahin v Türkei und Lupeni Greek Catholic Parish v Rumänien  behandelte der EGMR die divergierende Auslegung durch zwei organisatorisch voneinander getrennte höchste nationale Gerichte1880 sowie die langfristige uneinheitliche Auslegung innerhalb eines nationalen höchsten Gerichts1881 nach einheitlichen Rechtsprechungsgrundsätzen1882. „[The principle of legal certainty] guarantees  a certain stability in legal situations and contributes to public confidence in the courts. The persistence of conflicting court decisions can create a state of legal uncertainty likely to reduce public confidence in the judicial system, whereas such confidence is clearly one of the essential components of a State based on the rule of law […].“1883

Konfligierende Gerichtsentscheidungen sind in einem Gerichtssystems, das aus verschiedenen Gerichten und Instanzen besteht, angelegt. Sie können sogar innerhalb desselben Gerichts auftauchen und sind nicht per se konventionswidrig.1884

1878 EGMR Nr. 36815/03, Atanasovski v Mazedonien, 14.01.2010, § 38; dem inhaltsgleich folgend EGMR Nr. 23228/08, Legrand v Frankreich, 26.05.2011, § 37; Nr. 24537/10, Şen u. a. v Türkei (Zul.), 14.02.2012. 1879 EGMR Nr. 36815/03, Atanasovski v Mazedonien, 14.01.2010, § 38. 1880 EGMR Nr. 13279/05, Nejdet Şahin and Perihan Şahin v Türkei (GK), 20.10.2011, §§ 65–67. 1881 EGMR Nr. 76943/11, Lupeni Greek Catholic Parish u. a. v Rumänien (GK), 29.11.2016, § 117. 1882 So ausdrücklich EGMR Nr. 76943/11, Lupeni Greek Catholic Parish u. a. v Rumänien (GK), 29.11.2016, § 118. Siehe für eine Zusammenfassung der bisherigen Rechtsprechung zur uneinheitlichen Auslegung von EGMR Nr. 13279/05, Nejdet Şahin and Perihan Şahin v Türkei (GK), 20.10.2011, §§ 49–58. 1883 EGMR Nr. 76943/11, Lupeni Greek Catholic Parish u. a. v Rumänien (GK), 29.11.2016, § 116 (a); inhaltsgleich bereits EGMR Nr. 13279/05, Nejdet Şahin and Perihan Şahin v Türkei (GK), 20.10.2011, § 57; Nr. 37194/08 und 37260/08, Stanković und Trajković v Serbien, 22.12.2015, § 40(v). 1884 EGMR Nr. 13279/05, Nejdet Şahin and Perihan Şahin v Türkei (GK), 20.10.2011, § 51; Nr. 76943/11, Lupeni Greek Catholic Parish u. a. v Rumänien (GK), 29.11.2016, § 116 (b).

B. Die Merkmale des Gerichtsbegriffs  

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Die Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK entspricht somit den Grundsätzen der Vorhersehbarkeit materieller Gesetze.1885 „The criteria which guide the Court in its assessment of the circumstances in which contradictory decisions by different domestic courts ruling at final instance entail a violation of the right to a fair hearing, enshrined in Article 6 § 1 of the Convention, consist in establishing, firstly, whether ‚profound and long-standing differences‘ exist in the case-law of the domestic courts; secondly, whether the domestic law provides for a mechanism for overcoming these inconsistencies; and, thirdly, whether that mechanism has been applied and, if appropriate, to what effect […].“1886

Aus der Perspektive der Gewaltenteilung ist vor allem der Mechanismus zur Aufhebung der Widersprüche im zweiten und dritten Kriterium relevant, der von den Konventionsstaaten eingerichtet werden muss, um tiefgreifende und langfristig uneinheitliche Rechtsprechungsergebnisse zu verhindern. Liegt ein solcher Mechanismus nicht vor, führt die konsistent uneinheitliche Rechtsprechung des höchsten Gerichts zu einem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK.1887 In Lupeni Greek Cath­ olic Parish wurde Rumänien verurteilt, weil der im rumänischen Gerichtssystem vorgesehene Konfliktlösungsmechanismus von den zuständigen Stellen nicht angestrengt worden war.1888 In der Sache Nejdet Şahin and Perihan Şahin v Türkei legten ein ziviles und ein militärisches Verwaltungsgericht eine Norm uneinheitlich aus. Der EGMR beurteilte nicht die grundsätzliche Struktur des türkischen Gerichtssystems mit zwei verschiedenen Verwaltungsgerichtsbarkeiten.1889 Im konkreten Fall führte eine Entscheidung des Jurisdiction Disputes Court nicht zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung, weil sie nicht von allen zivilen Verwaltungsgerichten umgesetzt wurde.1890 Dies führte gleichwohl nicht zu einer Verletzung der Rechtssicherheit aus Art. 6 Abs. 1 EMRK: „83. […] [I]n a judicial system like that of Turkey, with several different branches of courts, and where several Supreme Courts exist side by side and are required to give interpretations 1885

Siehe hierzu bereits oben ab S. 288. EGMR Nr. 76943/11, Lupeni Greek Catholic Parish u. a. v Rumänien (GK), 29.11.2016, § 116 (e); inhaltsgleich bereits EGMR Nr. 13279/05, Nejdet Şahin and Perihan Şahin v Türkei (GK), 20.10.2011, § 53. Dieses Vorgehen des EGMR ist ständige Rechtsprechung, siehe jüngst EGMR Nr. 45849/13, Orlen Lietuva Ltd. v Litauen, 29.01.2019, § 80 (e); Nr. 50104/10 u. a., Svilengaćanin u. a. v Serbien, 12.01.2021, § 79; Nr. 47124/10, Yıldız v Türkei, 27.04.2021, § 29. In all diesen Fällen lag jedoch bereits keine tiefgreifend und langfristig uneinheit­ liche Rechtsprechung vor, sodass es nicht auf den Mechanismus zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung ankam. Zusammenfassend auch Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettes­heim / von Raumer, EMRK, Art.  6 Rn.  93; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn.  105. 1887 EGMR Nr. 30658/05, Beian v Rumänien, 06.12.2007, §§ 34–40. 1888 EGMR Nr. 76943/11, Lupeni Greek Catholic Parish u. a. v Rumänien (GK), 29.11.2016, §§ 129–133. 1889 EGMR Nr. 13279/05, Nejdet Şahin and Perihan Şahin v Türkei (GK), 20.10.2011, § 53. 1890 EGMR Nr. 13279/05, Nejdet Şahin and Perihan Şahin v Türkei (GK), 20.10.2011, §§ 73–78. 1886

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

of the law at the same time and in parallel, achieving consistency of the law may take time, and periods of conflicting case-law may therefore be tolerated without undermining legal certainty. 84. As case-law is not unchanging, but on the contrary, evolutive in essence, the Court considers that the principle of good administration of justice cannot be taken to impose a strict requirement of case-law consistency […]. However, it is the Court’s duty to ensure that this principle is upheld when it considers that the fairness of the proceedings or the rule of law require it to intervene to put a stop to the uncertainty created by conflicting judgments pronounced by different courts on one and the same question. The legal certainty it then aims to achieve must nevertheless be pursued with due respect for the decision-making autonomy and independence of the domestic courts, in keeping with the principle of subsidiarity at the basis of the Convention system. […] 86. […] [T]wo courts, each with its own area of jurisdiction, examining different cases may very well arrive at divergent but nevertheless rational and reasoned conclusions regarding the same legal issue raised by similar factual circumstances. It must be accepted that the divergences of approach that may thus arise between courts are merely the inevitable outcome of this process of interpreting legal provisions and adapting them to the material situations they are intended to cover. 87. These divergences may be tolerated when the domestic legal system is capable of accommodating them. In the instant case, the Court considers that the supreme courts in question  – the Supreme Administrative Court and the Supreme Military Administrative Court – have the possibility of settling the divergences themselves, either by deciding to take the same approach, or by respecting the boundaries of their respective areas of jurisdiction and refraining from both intervening in the same area of the law.“1891

Damit zeigt das Urteil Lupeni Greek Catholic Parish v Rumänien, dass widersprüchliche Urteile hinzunehmen sind, solange der Konventionsstaat alle organisatorischen Vorkehrungen zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung etabliert hat und diese auch eingesetzt wurden. Diese lockere Haltung des EGMR entspricht seiner Linie in der Vorhersehbarkeitsrechtsprechung.1892 d) Rückwirkende Gesetzesänderung nach Beginn des Verfahrens Gerichte sind aufgrund ihrer Gesetzesbindung auch an die neue Rechtslage gebunden, wenn der Gesetzgeber die anwendbaren gesetzlichen Grundlagen rückwirkend ändert. Durch rückwirkende Gesetzgebung kann die Legislative inhaltlichen Einfluss auf laufende gerichtliche Verfahren nehmen. Die Konventionskonformität einer rückwirkenden Gesetzgebung ist davon abhängig, ob ein zivil- oder ein strafgerichtliches Verfahren vorliegt. 1891

EGMR Nr. 76943/11, Lupeni Greek Catholic Parish u. a. v Rumänien (GK), 29.11.2016, §§ 83–87; verknappt bei Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim /  von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 93. 1892 Siehe zu widersprüchlichen Urteilen im Rahmen der Vorhersehbarkeit oben ab S. 288.

B. Die Merkmale des Gerichtsbegriffs  

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(1) Absolutes Rückwirkungsverbot im Strafverfahren Art. 7 EMRK enthält ein absolutes Rückwirkungsverbot im Strafverfahren. Eine Person darf nur verurteilt werden, wenn zum Zeitpunkt der Tat bereits ein gesetzlicher Straftatbestand in Kraft war.1893 Verboten ist auch die nachträgliche Anwendung von Normen, die im Vorhinein der Tat zuverlässig nicht mehr angewendet wurden, sodass die Betroffenen davon ausgehen durften, dass sie keine strafbare Handlung vornahmen.1894 Eine rückwirkende Aufhebung der Strafbarkeit oder Abmilderung der Strafe zugunsten der Verdächtigten beziehungsweise Angeklagten widerspricht dem Schutzzweck des Art. 7 EMRK nicht und ist daher zulässig.1895 Da Art. 7 EMRK allein an die Strafbarkeit und nicht an die Folgen einer Strafbarkeit anknüpft,1896 fällt die nachträgliche Verlängerung von Verjährungsfristen nicht in den Anwendungsbereich der Norm. In diesem Fall gelten die gleichen Grundsätze wie für Zivilverfahren.1897 Das absolute Rückwirkungsverbot des Art. 7 EMRK richtet sich an alle hoheitlichen Organe. Legislativen und exekutiven Organen ist die zurückwirkende abstrakt-generelle Rechtsetzung verboten. Damit können sie – abseits der persönlichen Einflussnahme auf einzelne Richter durch Ausübung von Druck oder öffentliche Äußerungen – keinen inhaltlichen Einfluss auf den strafgerichtlichen Prozess nehmen. Gerichte dürfen – und müssen sogar – die anwendbaren Gesetze auslegen. Eine vollkommen unerwartete Rechtsprechungsänderung muss sich jedoch an den Maßstäben für die Vorhersehbarkeit messen lassen.1898 (2) Abwägung in zivilgerichtlichen Verfahren Vorgaben zur rückwirkenden Gesetzgebung in zivilrechtlichen Sachverhalten ergeben sich aus dem Prinzip der Rechtssicherheit gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK und 1893 EGMR Nr. 35343/05, Vasiliauskas v Litauen (GK), 20.10.2015, § 154; Nr. 42750/09, Del Río Prada v Spanien (GK), 21.10.2013, § 78; Nr. 59552/08, Rohlena v Tschechien (GK), 27.01.2015, § 50; Nr. 66847/12, Haarde v Island, 23.11.2017, § 127; Kadelbach, in: Dörr / Grote /  Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 15 Rn. 26; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 23; Meye, in: Wolter, Systematischer Kommentar, Art. 7 EMRK Rn. 96–97. 1894 EGMR Nr. 11082/06 und 13772/05, Khodorkovskiy und Lebedev v Russland, 25.07.2013, § 817; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 7 Rn. 18. 1895 EGMR Nr. 15312/89, G v Frankreich, 27.09.1995, §§ 26–27; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 152; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 25; Meye, in: Wolter, Systematischer Kommentar, Art. 7 EMRK Rn. 97. 1896 EGMR Nr. 32492/96, Coëme u. a. v Belgien, 22.06.2000, § 149; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 152. 1897 EGMR Nr. 10249/03, Scoppola v Italien Nr. 2 (GK), 17.09.2009, § 132; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 132. 1898 Siehe zur Fallgruppe der unvorhergesehenen Rechtsprechungsänderung oben ab S. 284. Zur schwierigen Abgrenzung zwischen Rückwirkungsverbot und Vorhersehbarkeitsrechtsprechung siehe S. 280.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

aus dem Eigentumsrecht gemäß Art. 1 ZP.1899 Das Eigentumsrecht ist betroffen, wenn die rückwirkende Gesetzgebung finanzielle Forderungen betrifft oder Ansprüche untergehen lässt.1900 Der EGMR prüft uneinheitlich teilweise beide Garantien, teilweise nur eine von beiden Normen, kommt aber regelmäßig zu übereinstimmenden Ergebnissen.1901 In zivilgerichtlichen Verfahren besteht kein absolutes Rückwirkungsverbot. Aufgrund der Leitentscheidungen Stran Greek Refineries v Griechenland für eine unzulässige gesetzliche Rückwirkung1902 und National & Provincial Building Society v Vereinigtes Königreich für eine gerechtfertigte rückwirkende Gesetzgebung1903 hat sich eine ständige Rechtsprechung entwickelt. „[I]n principle, the legislature is not precluded in civil matters from adopting new retrospective provisions to regulate rights arising under existing law, the principle of the rule of law and the notion of a fair trial enshrined in Article 6 preclude any interference by the legislature – other than on compelling grounds of the general interest – with the administration of justice designed to influence the judicial determination of a dispute […].“1904

Im Falle einer rückwirkenden Gesetzgebung im zivilgerichtlichen Verfahren nimmt der EGMR eine Abwägung verschiedener Faktoren vor.1905 Handelt der Ge 1899 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 116 betont die Bedeutung der Rechtsprechung zu Art. 1 ZP für die Gewaltenteilung. 1900 Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 111; für Fallbeispiele siehe Cremer, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  22 Rn. 148. 1901 Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 111. Siehe als Beispiel für einheitliche Ergebnisse der Prüfung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 1 ZP etwa EGMR Nr. 13427/87, Stran Greek Refineries und Stratis Andreadis v Griechenland, 09.12.1994, §§ 42–50, 58–75. 1902 EGMR Nr. 13427/87, Stran Greek Refineries und Stratis Andreadis v Griechenland, 09.12.1994, §§ 49–50; zu diesem Urteil Beeler-Sigron, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 851 (855, 866); Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 114; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 55–56; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 82–83, 260. 1903 EGMR Nr. 21319/93, 21449/93 und 21675/93, National & Provincial Building Society, the Leeds Permanent Building Society and the Yorkshire Building Society v Vereinigtes Königreich, 23.10.1997, §§ 109–113. 1904 EGMR Nr. 29026/06 u. a., Beshiri u. a. v Albanien (Zul.), 17.03.2020, § 225; inhaltsgleich bereits EGMR Nr. 3429/09 u. a., Biraghi u. a. v Italien, 24.06.2014, § 32; Nr. 32045/10, Christian Baptist Church in Wrocław v Polen, 05.04.2018, § 79; Nr. 18096/12 u. a., Hôpital local Saint-Pierre d’Oléron u. a. v Frankreich, 08.11.2018, § 67; Nr. 16467/17 und 24115/17, Azzopardi u. a. v Malta, 12.03.2019, §§ 41–42; Nr. 29483/11 u. a., Cicero u. a. v Italien, 30.01.2020, § 29; siehe auch Meye, in: Wolter, Systematischer Kommentar, Art. 6 Rn. 161; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 112; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 161; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (558); Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 83; Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 176; Le Bonniec, RFDC 106 (2016), S. 335 (343). 1905 Hierzu Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 114–119; siehe für eine andere Kategorisierung der Abwägungsfaktoren Sudre, Droits de l’homme, Rn. 382; dem folgend Le Bonniec, RFDC 106 (2016), S. 335 (343).

B. Die Merkmale des Gerichtsbegriffs  

419

setzgeber – wie in Stran Greek Refineries v Griechenland – mit der Intention, in die gerichtliche Entscheidung einzugreifen und den Ausgang des Gerichtsprozesses zu ändern, spricht dies für die Konventionswidrigkeit des Vorgehens.1906 Möchte der Gesetzgeber hingegen eine unklare Vorschrift präzisieren, den ursprünglichen Sinn und Zweck des Gesetzes sichern oder einen technischen Fehler innerhalb eines Gesetzes beheben, spricht dies für eine zulässige Rückwirkung: Der Gesetzgeber beabsichtigt eine generelle Klarstellung der Rechtslage, die nicht speziell auf die Einmischung in einen konkreten Gerichtsprozess abzielt.1907 Musste die betroffene Prozesspartei wegen einer unklaren Rechtslage mit einer Klarstellung rechnen, ist die Rechtfertigung ebenfalls einfacher.1908 Dies gilt insbesondere, wenn die prozessführende Person eine für sie positive Rechtslage ausnutzen wollte, die entstanden war, weil die gerichtliche Auslegung dem ursprünglichen Willen des Gesetzgebers widersprach.1909 Gleichwohl reicht allein die klarstellende Intention des Gesetzgebers für eine Rechtfertigung der Rückwirkung nicht aus. Hinzukommen müssen Interessen des Allgemeinwohls, derentwegen eine Gesetzesänderung nicht erst ab ihrem Inkrafttreten wirken sollte.1910 Finanzielle Gründe reichen nicht aus.1911 Zulässig war eine

1906 EGMR Nr. 13427/87, Stran Greek Refineries und Stratis Andreadis v Griechenland, 09.12.1994, §§ 49–50. Vgl. auch EGMR Nr. 28160/95 und 28382/95, Preda und Dardari v Italien (Zul.), 23.02.1999, wo das Fehlen einer solchen Intention als Argument gegen eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK gewertet wurde; ähnlich EGMR Nr. 36813/97, Scordino v Italien Nr. 1 (GK), 29.03.2006, § 132. Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 114–115 betrachtet die Intention des Gesetzgebers als entscheidend. 1907 EGMR Nr. 21319/93, 21449/93 und 21675/93, National & Provincial Building Society, the Leeds Permanent Building Society and the Yorkshire Building Society v Vereinigtes Königreich, 23.10.1997, §§ 109–110; Nr. 47316/99, Forrer-Niedenthal v Deutschland, 20.02.2003, § 64; Nr. 60559/00, EEG-Slachthuis Verbist Izegem v Belgien (Zul.), 10.11.2005; Nr. 18096/12 u. a., Hôpital local Saint-Pierre d’Oléron u. a. v Frankreich, 08.11.2018, § 71; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (558). 1908 So etwa in EGMR Nr. 21319/93, 21449/93 und 21675/93, National & Provincial Build­ ing Society, the Leeds Permanent Building Society and the Yorkshire Building Society v Vereinigtes Königreich, 23.10.1997, §§ 109–110; Nr. 29026/06 u. a., Beshiri u. a. v Albanien (Zul.), 17.03.2020, § 227; Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 176. 1909 EGMR Nr. 21319/93, 21449/93 und 21675/93, National & Provincial Building Society, the Leeds Permanent Building Society and the Yorkshire Building Society v Vereinigtes Königreich, 23.10.1997, §§ 109, 112; Nr. 18096/12 u. a., Hôpital local Saint-Pierre d’Oléron u. a. v Frankreich, 08.11.2018, § 72; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (558). 1910 EGMR Nr. 48357/07 u. a., Azienda Agricola Silverfunghi S. a. s. u. a. v Italien, 24.06.2014, § 81: „Nevertheless, the Court considers that even assuming that Law no. 326/03 was indeed interpretative in nature, and reinforced the original intention of the legislator – despite the intention having repeatedly been interpreted as being otherwise in numerous judgments in the light of the entire legal context – that fact, by itself, cannot justify an intervention with retroactive effect.“ 1911 EGMR Nr. 24846/94 u. a., Zielinski und Pradal und Gonzales u. a. v Frankreich, 28.10.1999, § 59; Nr. 48357/07 u. a., Azienda Agricola Silverfunghi S. a. s. u. a. v Italien,

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

rückwirkende Gesetzgebung jedoch, um die Rechtslage für verschiedene betroffene Kirchen zu harmonisieren,1912 um Abgaben zur Finanzierung von Maßnahmen zur Verbesserung der Hygiene, der Gesundheit und der Qualität des Viehbestands erheben zu können,1913 um Streitigkeiten über Eigentumsübertragungen aus Anlass der deutschen Wiedervereinigung zu regeln1914 und zum Zwecke des Umweltschutzes1915.1916 Ist der Staat selbst Partei des Verfahrens, kann dies darauf hindeuten, dass die rückwirkende Gesetzgebung nicht im Allgemeinwohlinteresse, sondern im Interesse des Staates erfolgt. Daher spricht die Beteiligung des Staates am anhängigen Rechtsstreit gegen eine Rechtfertigung,1917 ist aber für sich genommen nicht entscheidend.1918 Schließlich bezieht der EGMR Methode und Zeitpunkt der Gesetzesänderung (method and timing of the adoption / enactment)1919 in die Abwägung ein. Wurde die Rechtslage vor der erstinstanzlichen Entscheidung geändert, deutet dies darauf hin, dass der Gesetzgeber vor allem die allgemeine Rechtslage und nicht das konkrete Verfahren im Blick hatte und somit gerechtfertigt vorging.1920 Im Gegenteil deutet eine späte Gesetzesänderung, etwa kurz vor dem letztinstanzlichen Urteil, auf eine unzulässige Rückwirkung hin, insbesondere wenn die Gerichtstermine in Erwartung der neuen Rechtslage nach hinten verschoben wurden und eine Entscheidung gegen den Staat zu erwarten war.1921 Eine späte Gesetzesänderung kann 24.06.2014, § 76; Nr. 29026/06 u. a., Beshiri u. a. v Albanien (Zul.), 17.03.2020, § 225; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 77; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (558–559); Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 176; Meyer-Ladewig /  Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig  /  Nettesheim  /  von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 161; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 115–116; Le Bonniec, RFDC 106 (2016), S. 335 (343–344). 1912 EGMR Nr. 32045/10, Christian Baptist Church in Wrocław v Polen, 05.04.2018, § 80. 1913 EGMR Nr. 60559/00, EEG-Slachthuis Verbist Izegem v Belgien (Zul.), 10.11.2005. 1914 EGMR Nr. 47316/99, Forrer-Niedenthal v Deutschland, 20.02.2003, § 64. 1915 EGMR Nr. 37766/05, Dimopulos v Türkei, 02.04.2019, § 39. 1916 Siehe für weitere anerkannte Zwecke des Gemeinwohlinteresses Le Bonniec, RFDC 106 (2016), S. 335 (343). 1917 EGMR Nr. 13427/87, Stran Greek Refineries und Stratis Andreadis v Griechenland, 09.12.1994, § 50; Nr. 24846/94 u. a., Zielinski und Pradal und Gonzales u. a. v Frankreich, 28.10.1999, § 58. 1918 EGMR Nr. 60796/00, Cabourdin v Frankreich, 11.04.2006, § 29; Nr. 40191/02, Ducret v Frankreich, 12.06.2007, § 33; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 110; Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 177. 1919 So EGMR Nr. 13427/87, Stran Greek Refineries und Stratis Andreadis v Griechenland, 09.12.1994, § 47; Nr. 24628/94, Papageorgiou v Griechenland, 22.10.1997, § 38; Nr. 24846/94 u. a., Zielinski und Pradal und Gonzales u. a. v Frankreich, 28.10.1999, § 58. 1920 EGMR Nr. 21319/93, 21449/93 und 21675/93, National & Provincial Building Society, the Leeds Permanent Building Society and the Yorkshire Building Society v Vereinigtes Königreich, 23.10.1997, § 112; Nr. 42219/98, OGIS-Institut Stanislas, OGEC St. Pie X et Blanche de Castille u. a. v Frankreich, 27.05.2004, § 71 für den Fall einer rechtzeitigen Gesetzesänderung. 1921 EGMR Nr. 13427/87, Stran Greek Refineries und Stratis Andreadis v Griechenland, 09.12.1994, §§ 47–49; Nr. 24628/94, Papageorgiou v Griechenland, 22.10.1997, § 38.

B. Die Merkmale des Gerichtsbegriffs  

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aber auch ein Indiz dafür sein, dass das Gesetzesvorhaben nicht so sehr drängte. In diesem Fall ist ein rückwirkendes Inkrafttreten des neuen Gesetzes mangels Eilbedürftigkeit unzulässig.1922 Der Zeitpunkt der Gesetzesänderung ist also vor allem in Verbindung mit der Intention des Gesetzgebers aussagekräftig. Zusammenfassend muss das Allgemeinwohlinteresse an einer rückwirkenden Änderung des streitentscheidenden Rechts so schwerwiegend sein, dass es sich gegen das Interesse auf Rechtssicherheit der Prozessparteien durchsetzt. Eine rückwirkende Änderung des gerichtlichen Verfahrensrechts ist konventionskonform, solange nicht der Wesensgehalt des Rechts auf Zugang zum Gericht verletzt ist.1923 Das Problem der rückwirkenden Gesetzgebung stellt sich grundsätzlich, sobald eine gerichtliche Streitigkeit anhängig gemacht wurde.1924 In zwei aktuellen Zulässigkeitsentscheidungen Azzopardi v Malta sowie Serbian Orthodox Church v Kroatien warf der EGMR jedoch darüber hinaus die Frage auf, ob in bestimmten Fällen ausnahmsweise eine rückwirkende Gesetzgebung bereits rechtfertigungsbedürftig ist, wenn das Gerichtsverfahren noch nicht begonnen hat. Der EGMR verwies darauf, dass bei der Beurteilung der angemessenen Länge des Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 EMRK der Zeitpunkt der Entstehung des Streites und nicht der Beginn des Gerichtsverfahrens maßgeblich sind, sofern nicht-gerichtliche Schritte als Voraussetzung für den Beginn des Gerichtsverfahrens notwendig sind. Eine Antwort auf diese von ihm selbst gestellte Frage präsentierte der Gerichtshof mangels Entscheidungserheblichkeit in beiden Fällen nicht.1925 Die wiederholte Andeutung lässt vermuten, dass der EGMR geneigt sein könnte, das Rechtfertigungsbedürfnis zivilrechtlicher rückwirkender Gesetzgebung auf die Zeit vor Beginn eines gerichtlichen Verfahrens auszudehnen. Dadurch würde sich der Zeitpunkt, ab dem eine rückwirkende Gesetzgebung im Zivilverfahren rechtfertigungsbedürftig ist, dem Beginn des absoluten Rückwirkungsverbots im Strafrecht annähern. Sollte sich diese Rechtsprechung tatsächlich realisieren, wäre der Gestaltungsspielraum der Legislativorgane in zeitlicher Hinsicht stärker eingeschränkt.

1922

EGMR Nr. 48357/07 u. a., Azienda Agricola Silverfunghi S. a. s. u. a. v Italien, 24.06.2014,

§ 82.

1923

EGMR Nr. 26737/95, Brualla Gómez de la Torre v Spanien, 19.12.1997, § 36; so der Fall in EGMR Nr. 42930/98, Crişan v Rumänien, 27.05.2003, §§ 26–30; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (559). 1924 EGMR Nr. 39971/98, Organisation nationale des Syndicats d’Infirmiers Libéraux (O. N. S. I. L.) v Frankreich (Zul.), 29.08.2000; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 110. 1925 EGMR Nr. 16467/17 und 24115/17, Azzopardi u. a. v Malta (Zul.), 12.03.2019, §§ 44–45; Nr. 10149/13, Serbian Orthodox Church v Kroatien (Zul.), 30.06.2020, § 75.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

e) Zwischenfazit Die gerichtliche Bindung an die prozessualen und materiellen Gesetze gestaltet das Verhältnis zwischen den rechtsetzenden Organen und den Gerichten aus. Die Gerichte sind an die geltenden abstrakt-generellen Normen gebunden und legen diese aus. Da die Verfahrensvorschriften dem formellen Organisationsvorbehalt unterfallen, ist hier eindeutig das Verhältnis zwischen parlamentarischem Gesetzgeber und Gerichten betroffen. Weil die EMRK für die materiell-rechtlichen Entscheidungsgrundlagen keinen Normgeber vorgibt, kann hierfür lediglich festgelegt werden, dass die Gerichte an die Rechtsakte der rechtsetzenden Normen gebunden sind. Ob ein Auslegungsergebnis gegen die Gesetzesbindung verstößt, hängt einerseits davon ab, ob die Auslegung nach innerstaatlichen Maßstäben rechtmäßig ist, andererseits von den sich aus dem Prinzip der Rechtssicherheit gemäß Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 EMRK ergebenden konventionsrechtlichen Grenzen. Weicht ein Gericht erstmalig von einer etablierten Rechtsprechung ab, muss es seine Entscheidung ausführlich begründen. Für den Fall einer tiefgreifend und langfristig uneinheit­ lichen Rechtsprechung müssen die Konventionsstaaten ein Verfahren schaffen, das die Auslegung einer Rechtsnorm vereinheitlicht. Sofern die Rechtsetzungsorgane rückwirkend Gesetze erlassen, die sich auf bereits anhängige zivilrechtliche Rechtsstreitigkeiten auswirken, ist dieses Vorgehen rechtfertigungsbedürftig. Der EGMR nimmt eine Abwägung vor, in die das durch die Rückwirkung verfolgte Allgemeinwohlinteresse, der Zeitpunkt der Gesetzesänderung, ihre Eilbedürftigkeit sowie die Intention des Rechtsetzungsorgans für die Änderung eingestellt werden. Im Strafrecht besteht hingegen gemäß Art. 7 EMRK ein absolutes Rückwirkungsverbot, sodass die Gestaltungsfreiheit der Rechtsetzungsorgane in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt ist und Gesetzesänderungen ausschließlich mit Wirkung für die Zukunft erlassen werden dürfen. Soweit eine gesetzliche Rückwirkung konventionswidrig ist, werden die Gesetzgebungsorgane daran gehindert, auf den Ausgang eines Gerichtsverfahrens über die Veränderung der anwendbaren Normen Einfluss zu nehmen. Dadurch wird der Kernbereich der gerichtlichen Tätigkeit, die Streitentscheidung, vor unzulässiger und insbesondere politischer Einflussnahme geschützt. 3. Zwischenfazit Der tribunal-Begriff ist der Anknüpfungspunkt für die funktionale Gerichtsdefinition, also für die Vorgaben zur gerichtlichen Tätigkeit und Prüfungskompetenz sowie zur Bindungswirkung gerichtlicher Entscheidungen. Die EMRK ordnet den Gerichten die hoheitliche Tätigkeit der Streitentscheidung zu und macht damit eine bindende Vorgabe für die Ausgestaltung der innerstaatlichen Zuständigkeitsordnungen.

B. Die Merkmale des Gerichtsbegriffs  

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Die Gesetzesbindung verpflichtet die Gerichte, sich nicht über das geltende Recht hinwegzusetzen, erlaubt ihnen aber die Auslegung der anwendbaren Normen, die auch uneinheitlich sein und sich mit der Zeit verändern darf. Die Gerichte gestalten also die geschriebenen Gesetze aus. Hinsichtlich des Erlasses rückwirkender Gesetzgebung ist der Gestaltungsspielraum der Legislative begrenzt.

III. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit: Die Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit Die gerichtliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit standen seit jeher im Fokus der EGMR-Rechtsprechung und des Schrifttums1926. Beide Merkmale sollen garantieren, dass Urteile allein auf Grundlage des Gesetzes und nicht nach subjektiven Vorstellungen der Richter oder anderer einflussnehmender Personen gefällt werden.1927 Hierfür sind institutionelle Sicherungsmechanismen notwendig, die wiederum, entsprechend dem formellen Organisationsvorbehalt, durch ein parlamentarisches Gesetz etabliert werden müssen. Die Verpflichtung, eine unabhängige und unparteiliche Gerichtsbarkeit sicherzustellen, trifft auch die legislative und die exekutive Gewalt:1928 „[T]he State’s respecting the authority of the courts is an indispensable precondition for public confidence in the courts and, more broadly, for the rule of law. For this to be the case, the constitutional safeguards of the independence and impartiality of the judiciary do not suffice. They must be effectively incorporated into everyday administrative attitudes and practices.“1929

Das Leiturteil Guðmundur Andri Ástráðsson v Island hob die Verbindung zwischen der gerichtlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zum formellen Gesetzesvorbehalt hervor.1930 „While [the requirements of independence, of impartiality and whether an tribunal is ‚established by law‘] each serve specific purposes as distinct fair trial guarantees, the Court 1926

Siehe neben den ausführlichen Kommentierungen zu Art. 6 EMRK etwa monographisch: Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 EMRK; M ­ üßig, Recht und Justizhoheit, ab S. 391; Steinfatt, Die Unparteilichkeit des Richters; Herzog, Art. 6 ff. EMRK und kantonale Verwaltungsrechtspflege; Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 335 ff.; Kierzkowski, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 117–123 sowie ab S. 140. 1927 Siehe bereits die Nachweise in Fn. 1852. 1928 EGMR Nr. 23465/03, Agrokompleks v Ukraine, 06.10.2011, § 136. 1929 EGMR Nr. 23465/03, Agrokompleks v Ukraine, 06.10.2011, § 136; dem folgend EGMR Nr. 15172/13, Ilgar Mammadov v Aserbaidschan (Art. 46 Abs. 4) (GK), 29.05.2019, § 13. 1930 Eine Überschneidung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit mit dem Gesetzesvorbehalt wurde zuvor auch schon angenommen von Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 49; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 240–241 mit Verweis auf EGMR Nr. 31264/04, Wieczorek v Polen (Zul.), 15.05.2010: „[I]t has not been shown or argued that the realities of the applicant’s case were such as to enable the fact that judge M. S. had been assigned to the Regional Court to cast any doubt on that judge’s impartiality or independence, factors closely related to the notion of ‚a tribunal established by law‘“.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

discerns a common thread running through the institutional requirements of Article 6 § 1, in that they are guided by the aim of upholding the fundamental principles of the rule of law and the separation of powers. The Court notes that the need to maintain public confidence in the judiciary and to safeguard its independence vis-à-vis the other powers underlies each of those requirements […]. In the Court’s view, the recognition of this close connection and common purpose does not […] lead to the obscuring of their specific functions or to their duplication, but serves only to reinforce their respective objects and effects.“1931

Die Wertungen der gerichtlichen Unabhängigkeit wirken in die Prüfung des treshold tests im Rahmen des formalen Gesetzesvorbehalts hinein.1932 „‚Independence‘ refers, in this connection, to the necessary personal and institutional independence that is required for impartial decision making, and it is thus  a prerequisite for impartiality. It characterises both (i) a state of mind, which denotes a judge’s imperviousness to external pressure as a matter of moral integrity, and (ii) a set of institutional and operational arrangements – involving both a procedure by which judges can be appointed in a manner that ensures their independence and selection criteria based on merit –, which must provide safeguards against undue influence and / or unfettered discretion of the other state powers, both at the initial stage of the appointment of a judge and during the exercise of his or her duties […].“1933

Durch die Guðmundur Andri Ástráðsson-Rechtsprechung ist die Bedeutung der beiden Gerichtsmerkmale Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht gesunken. Vielmehr hat der EGMR durch das Leiturteil einen Weg gefunden, dem formellen Gesetzesvorbehalt eine eigenständige institutionelle Bedeutung zu geben und eine Möglichkeit geschaffen, strukturelle Mängel richterlicher Unabhängigkeit geltend machen zu können. 1. Unabhängigkeit: Institutioneller und struktureller Schutz Gerichte müssen sowohl von den Parteien als auch – für die Gewaltenteilung besonders relevant – von der Legislative und der Exekutive, also den politischen Gewalten, unabhängig sein.1934 Die Anforderungen gelten nicht nur für die Gerichte

1931 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, § 233; dem (knapper) folgend EGMR Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 290. 1932 Siehe hierzu ausführlich ab S. 313. 1933 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, § 234; dem folgend EGMR Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 291; Nr. 43447/19, Recz­ kowicz v Polen, 22.07.2021, § 261. 1934 EGMR Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 289; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 142; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (600–601); Peukert, in: Frowein / Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 204; Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 49; Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtel, S. 363 (370). In älteren Urteilen bezog der EGMR die Unabhängigkeit von der Legislative noch nicht mit ein, EGMR Nr. 7819/77 und 7878/77, Campbell und Fell v Vereinigtes Königreich, 28.06.1984, § 78; Nr. 23614/08, Henryk Urban and Ryszard Urban v

B. Die Merkmale des Gerichtsbegriffs  

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als Spruchkörper, sondern für jeden einzelnen Richter.1935 Innerhalb eines Spruchkörpers muss die Unabhängigkeit auch im Verhältnis zwischen den einzelnen Mitgliedern vorliegen.1936 Indem der EGMR vorrangig die einzelnen Richter in den Blick nimmt, kann er einfacher den konkreten Einzelfall beurteilen und ist selten gezwungen, sich zur Konventionskonformität abstrakt-genereller innerstaatlicher Regelungen zu äußern. Statt mit einer abstrakten Definition1937 umschreibt der EGMR die Unabhängigkeit mittels einer offenen (inter alia) Aufzählung: „In order to establish whether a body can be considered ‚independent‘ regard must be had, inter alia, to the manner of appointment of its members and their term of office, to the existence of guarantees against outside pressure and to the question whether the body presents an appearance of independence.“1938

Die ersten drei Fallgruppen – die Ernennung, die Amtszeit und Schutzmechanismen vor Druck von außen – werden vom EGMR anhand der innerstaatlichen gesetzlichen Regelungen zum Schutz der richterlichen Unabhängigkeit beurteilt.1939 The manner of appointment umfasst sowohl die am Auswahl- und Ernennungsprozess der Richter beteiligten Organe als auch das Verfahren sowie die inhaltliche Anforderungen an den Auswahlprozess.1940 The term of office betrifft die Länge

Polen, 30.11.2010, § 45; Nr. 2312/08 und 34179/08, Maktouf und Damjanović v Bosnien und Herzegowina (GK), 18.07.2013, § 49. Daher wird auch im Schrifttum häufig allein noch auf die Unabhängigkeit von der Exekutive und den Parteien abgestellt, Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 66; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn.  48; Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 53. 1935 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 32; Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtel, S. 363 (370); Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK, S. 39–40. 1936 Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 48. 1937 Eine solche fordert Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 300. 1938 Aktuell EGMR Nr. 30226/10 und 5506/16, Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, § 196. Inhaltsgleich EGMR Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, § 60; Nr. 55391/13, 57728/13 und 74041/13, Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 144; Nr. 46466/16, Grace Gatt v Malta, 08.10.2019, § 74; Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 289; siehe auch Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 39 Fn. 113; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 48; Peukert, in: Frowein / Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 205; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 140–141. 1939 EGMR Nr. 24014/05, Mustafa Tunç and Fecire Tunç v Türkei (GK), 14.04.2015, § 221; so auch die Zusammenfassung im EGMR Guide on Article  6 of the European Convention on Human Rights – Right to a fair trial (civil limb) (Fn. 1421), § 93. Matscher, Der Gerichts­ begriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtel, S. 363 (371). Vgl. auch Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 49: „[I]ndependence reflects the constitutional position of the ­judiciary.“ 1940 Siehe zum richterlichen Auswahl- und Ernennungsverfahren ab S. 520.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

der richterlichen Amtszeit, Möglichkeiten der Wiederwahl sowie die statutorischen Gewährleistungen der Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit.1941 Garantien gegen Druck von außen bietet die richterliche Weisungsfreiheit, die Richter vor direkten Einflussnahmen auf ihre hoheitliche Tätigkeit und Abhängigkeitsverhältnissen schützen sollen.1942 Alle drei Fallgruppen betreffen letztlich den Schutz der Richter vor Einfluss durch andere hoheitliche Organe oder Prozessparteien. Daneben spielen in der Rechtsprechung zur richterlichen Unabhängigkeit gelegentlich weitere Aspekte, die in der Definition nicht angesprochen werden, eine Rolle, etwa der von Richtern geleistete Eid1943 oder eine juristische Ausbildung1944.1945 Typischerweise beurteilt der EGMR alle Aspekte für und gegen die richterliche Unabhängigkeit in einer Gesamtbetrachtung, sodass einzelne innerstaatliche Regelungen selten ausschlaggebend einen Konventionsverstoß hervorrufen. Das vierte Kriterium, das unabhängige Erscheinungsbild, betrifft die Frage, wie Gericht und Richter von den Prozessparteien wahrgenommen werden. Wenn die Sorge einer Prozesspartei über die fehlende Unabhängigkeit der Richter objektiv gerechtfertigt ist,1946 liegt – unabhängig von der tatsächlichen institutionellen Ausgestaltung – ebenfalls eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK vor. 2. Unparteilichkeit: Persönliche Unbefangenheit Während die Unabhängigkeit vorrangig institutionelle Regelungen betrifft, steht bei der Unparteilichkeit die richterliche Unbefangenheit, die durch individuelle Vorbefassung (prejudice) oder persönliche Voreingenommenheit (bias) gefährdet werden kann, im Vordergrund:1947 „[I]mpartiality normally denotes the absence of prejudice or bias and its existence or otherwise can be tested in various ways. According to the Court’s settled case-law, the existence of

1941

Siehe zu all diesen Punkten ab S. 614. Siehe hierzu ab S. 589. 1943 EGMR Nr. 22330/05, Olujić v Kroatien, 05.02.2009, § 40; Nr. 52999/08 und 61779/08, Hanif und Khan v Vereinigtes Königreich, 20.12.2011, § 143; Nr. 30226/10 und 5506/16, Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, § 212. 1944 EGMR Nr. 30971/12, Abdulla Ali v Vereinigtes Königreich, 30.06.2015, § 88; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 67; Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (12). 1945 Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK, S. 39 geht ebenfalls davon aus, dass die Unabhängigkeitsdefinition nicht abschließend ist. 1946 Der EGMR bezieht diese Aussage meist auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gemeinsam: EGMR Nr. 65411/01, Sacilor Lormines v Frankreich, 09.11.2006, § 63; Nr. 46466/16, Grace Gatt v Malta, 08.10.2019, § 85 (jeweils in zivilrechtlichen Streitigkeiten); Nr. 22678/93, Incal v Türkei (GK), 09.06.1989, § 71 (in einem strafrechtlichen Verfahren). 1947 Villiger, Handbuch EMRK, Rn. 498; Peters / Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 25; Kierzkowski, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 118. 1942

B. Die Merkmale des Gerichtsbegriffs  

427

impartiality for the purposes of Article 6 § 1 must be determined according to a subjective test where regard must be had to the personal conviction and behaviour of a particular judge, that is, whether the judge held any personal prejudice or bias in a given case; and also according to an objective test, that is to say by ascertaining whether the tribunal itself and, among other aspects, its composition, offered sufficient guarantees to exclude any legitimate doubt in respect of its impartiality […].“1948

Daneben stellt der EGMR auch auf die Erscheinungsform des gesamten Organs ab: „Lorsqu’une juridiction collégiale est en cause, il convient à se demander si, indépendamment de l’attitude personnelle de tel ou tel de ses membres, certains faits vérifiables autorisent à mettre en cause l’impartialité de la juridiction elle-même. En la matière, même les apparences peuvent revêtir de l’importance […].“1949

Eine Vorbefassung liegt vor, wenn Richter zuvor im gleichen Verfahren oder hinsichtlich des gleichen Verfahrensgegenstandes hoheitlich tätig wurden.1950 Kein Richter darf seine eigenen Entscheidungen kontrollieren. Voreingenommen sind Richter, wenn sie aus persönlichen Gründen in einem Verfahren nicht objektiv entscheiden können, etwa wenn sie oder ihnen nahestehende Personen unmittelbar oder mittelbar persönlich von der Streitigkeit betroffen sind oder wenn die Richter ein persönliches Interesse an der Sache haben.1951 Die subjektive Unparteilichkeit wird vermutet, bis gegenteilige Anhaltspunkte vorliegen.1952 Da die tatsächliche Voreingenommenheit eines Richters schwierig nachweisbar ist, ist in der Rechtsprechungspraxis üblicherweise der objektive Test ausschlaggebend.1953 Relevant wurde der subjektive Test jedoch bereits bei Fällen

1948

EGMR Nr. 55391/13, 57728/13 und 74041/13, Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 145; inhaltsgleich EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 104; Nr. 29369/10, Morice v Frankreich (GK), 23.04.2015, § 73; Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, § 61; Nr. 66448/17, Baş v Türkei, 03.03.2020, § 267. 1949 EGMR Nr. 34197/02, Luka v Rumänien, 21.07.2009, § 40; inhaltsgleich bereits EGMR Nr. 30609/04, Vaillant v Frankreich, 18.12.2008, § 26; weniger deutlich in der englischen Fassung, etwa in EGMR Nr. 73797/01, Kyprianou v Zypern (GK), 15.12.2005, § 118; Nr. 28417/07, Boyan Gospodinov v Bulgarien, 05.04.2018, § 53. 1950 Siehe hierzu ausführlich ab S. 557. 1951 Siehe für einen Überblick in EGMR Guide on Article 6 of the European Convention on Human Rights – Right to a fair trial (civil limb) (Fn. 1420), §§ 302–307. 1952 EGMR Nr. 10486/83, Hauschildt v Dänemark (Pl.), 24.05.1989, § 47; Nr. 73797/01, Kyprianou v Zypern (GK), 15.12.2005, § 119; Nr. 42224/02, Krivoshapkin v Russland, 27.01.2011, § 38; Nr. 35016/05, Peruš v Slowenien, 27.09.2012, § 35; Nr. 10211/12 und 27505/14, Ilnseher v Deutschland (GK), 04.12.2018, § 287; Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtel, S. 363 (379); Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 74; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 99; Villiger, Handbuch EMRK, Rn. 499; Kierzkowski, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 118. 1953 EGMR Nr. 17056/06, Micallef v Malta (GK), 15.10.2009, § 95; Nr. 55391/13, 57728/13 und 74041/13, Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 146; Müller,

428

Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

der persönlichen Betroffenheit.1954 Als weitere Beispiele für eine subjektive Befangenheit nannte der EGMR eine feindliche Einstellung gegen eine der Parteien oder eine zielgerichtete Zuweisung eines Falls an sich selbst.1955 Die objektive Unparteilichkeit schützt das unparteiliche Erscheinungsbild des Gerichts und des Richters. Eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK liegt vor, wenn Beschwerdeführer aufgrund des richterlichen Erscheinungsbildes objektiv gerechtfertigt befürchten dürfen, dass ein Richter voreingenommen ist.1956 Durch den objektiven Test wird das Vertrauen der Öffentlichkeit und der Parteien in die Gerichte geschützt.1957 Daher entfällt für die Beschwerdeführer beim objektiven Test die Nachweispflicht dafür, dass die Richter tatsächlich voreingenommen waren.1958 „The objective test mostly concerns hierarchical or other links between the judge and other protagonists in the proceedings. It must therefore be decided in each individual case whether the relationship in question is of such a nature and degree as to indicate a lack of impartiality on the part of the tribunal. In this connection, even appearances may have  a certain importance, or, in other words, ‚justice must not only be done, it must also be seen to be done‘ […].“1959

Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 98–99, 117; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 305; Kierzkowski, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 119. 1954 EGMR Nr. 41984/98, Svetlana Naumenko v Ukraine, 09.11.2004, §§ 97–98; ähnlicher Sachverhalt bei EGMR Nr. 33771/02, Driza v Albanien, 13.11.2007, § 78 (in beiden Fällen waren Richter gleichzeitig Antragsteller); Nr. 73797/01, Kyprianou v Zypern (GK), 15.12.2005, §§ 129–133 (contempt of court-Verfahren); anschließend wurden vergleichbare Fälle über die objektive Unparteilichkeit gelöst, siehe die Nachweise in Fn. 2694; einzelne Prüfung der objektiven und der subjektiven Unparteilichkeit allerdings wieder in EGMR Nr. 42010/06, Deli v Republik Moldau, 22.10.2019, §§ 38–47. 1955 EGMR Nr. 9186/80, De Cubber v Belgien, 26.10.1984, § 25; Nr. 73797/01, Kyprianou v Zypern (GK), 15.12.2005, § 119; Nr. 22330/05, Olujić v Kroatien, 05.02.2009, § 58; Nr. 56134/08, Korzeniak v Polen, 10.01.2017, § 47; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  6 Rn.  74; Peters / Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 28; Kierzkowski, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 118–119. 1956 EGMR Nr. 55391/13, 57728/13 und 74041/13, Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 147; Nr. 16812/17, Rustavi 2 Broadcasting Company Ltd u. a. v Georgien, 18.07.2019, § 332; Nr. 55225/14, Pastörs v Deutschland, 03.10.2019, § 57; Nr. 51111/07 und 42757/07, Khodorkovskiy and Lebedev v Russland Nr. 2, 14.01.2020, § 426; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 75; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 157; Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtel, S. 363 (376); Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 98; Kierzkowski, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 120. 1957 EGMR Nr. 77562/01, San Leonard Band Club v Malta, 29.07.2004, § 60; Nr. 38191/12, A. K. v Liechtenstein, 09.07.2015, § 67; Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 775. 1958 Vgl. Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 102. 1959 EGMR Nr. 55225/14, Pastörs v Deutschland, 03.10.2019, § 55; inhaltsgleich EGMR Nr. 55391/13, 57728/13 und 74041/13, Ramos Nunes de Carvalho  e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, §§ 148–149; Nr. 16812/17, Rustavi 2 Broadcasting Company Ltd u. a. v Georgien, 18.07.2019, § 332.

B. Die Merkmale des Gerichtsbegriffs  

429

Die Gründe für eine fehlende Unparteilichkeit können funktionaler Natur sein, wenn ein Richter in verschiedenen hoheitlichen Funktionen mit dem gleichen Streitgegenstand befasst ist oder war.1960 Sie können auch persönlicher Natur sein, wenn ein Verhalten1961 oder eine Beziehung des Richters1962 Zweifel an der Unparteilichkeit hervorruft.1963 Für die vorliegende Untersuchung der Anforderungen an die innerstaatliche Gewaltenteilung sind in erster Linie die funktionalen Gründe relevant, da in diesen Fällen das Verhältnis der richterlichen Tätigkeit zu anderen hoheitlichen Tätigkeiten beziehungsweise das Verhältnis des Richters zu anderen hoheitlichen Organen betroffen ist. Ist ein Richter hingegen persönlich gegenüber einem Streitgegenstand oder einer Entscheidung voreingenommen, ist dies selten für die Gewaltenteilung relevant, weil institutionelle Regelungen die Entstehung solcher Fälle nicht verhindern können. Ist ein Richter voreingenommen oder vorbefasst, muss er sich eigenständig vom konkreten Fall zurückziehen.1964 Darüber hinaus  – und hierbei handelt es sich wieder um eine organisatorische Frage  – müssen die innerstaatlichen Prozessordnungen Verfahren für den Austausch von Richtern vorsehen, um vernünftigen Zweifeln an der richterlichen Unparteilichkeit begegnen zu können. Solche pro-

1960

Villiger, Handbuch EMRK, Rn. 501; Meyer, in: Karpenstein / Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 6 Rn. 57; Kierzkowski, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 121; vgl. auch Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 98, die innerhalb dieser Fallgruppe differenziert zwischen funktionaler und struktureller Unparteilichkeit. Siehe zu den Fällen der Vorbefassung ab S. 557. 1961 EGMR Nr. 16839/90, Remli v Frankreich, 23.4.1996, §§ 47–48 (Schöffe bezeichnete sich selbst als Rassist); unzulässige Äußerungen in der Presse etwa bei EGMR Nr. 29569/95, Buscemi v Italien, 16.09.1999, §§ 67–69; Nr. 22330/05, Olujić v Kroatien, 05.02.2009, § 65; siehe zu diesen und weiteren Fällen auch Steinfatt, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 123–130. Zur Voreingenommenheit einer Verfassungsrichterin, weil sich ihre Entscheidung auf den Golfclub, dem ihr Ehemann vorstand, auswirkte, EGMR Nr. 66994/14, Croatian Golf Federation v Kroatien, 17.12.2020, §§ 129–133. 1962 In EGMR Nr. 71615/01, Mežnarić v Kroatien, 15.07.2005, §§ 34–37 vertrat der Richter eine der Prozessparteien in anderen gerichtlichen Verfahren; im Fall EGMR Nr. 22399/93, Pullar v Vereinigtes Königreich, 10.06.1996, § 37 bestand etwa eine dienstliche Beziehung zwischen einem Zeugen der Verteidigung und einem Schöffen; zum Verhältnis des Richters zu den Parteien Steinfatt, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 108–122. 1963 Die Unterscheidung zwischen funktionalen und persönlichen Gründen auch im Guide on Article  6 of the European Convention on Human Rights  – Right to  a fair trial (civil limb) (Fn. 1420), § 289; siehe auch §§ 290–301 für eine Übersicht der funktionalen Gründe und §§ 302–307 für eine Übersicht der persönlichen Gründe; ebenso Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 144–146; Kierzkowski, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 121; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 102–116 mit einer Aufzählung verschiedener Fallgruppen der richterlichen Unparteilichkeit. 1964 EGMR Nr. 28194/95, Castillo Algar v Spanien, 28.10.1998, § 45; Nr. 17056/06, Micallef v Malta (GK), 15.10.2009, § 98; Nr. 29369/10, Morice v Frankreich (GK), 23.04.2015, § 78; Nr. 32953/13, Škrlj v Kroatien, 11.07.2019, § 43; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 554; Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 142; Kierzkowski, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 120, 122.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

zessualen Sicherungsmechanismen bezieht der EGMR in seine Beurteilung der Unparteilichkeit ein.1965 3. Unklare Abgrenzbarkeit beider Merkmale Auch wenn die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eigenständig definiert und anhand ihrer jeweiligen Grundideen voneinander unterschieden werden können,1966 ist im konkreten Anwendungsfall die Abgrenzung nicht immer einfach. „Independence of the judiciary refers to the necessary individual and institutional independence that are required for impartial decision making. It thus characterises both a state of mind and a set of institutional and operational arrangements. The former is concerned with the judge’s impartiality and the latter with defining relations with other bodies, in particular other state powers […], and are, sometimes, indivisible […].“1967

Beide Prinzipien schützen die Objektivität des Verfahrens und die unbeeinflusste gerichtliche Entscheidung allein auf Grundlage des Gesetzes.1968 Gerade die Parteilichkeit aus funktionalen Gründen baut auf den Grundsätzen der richterlichen Unabhängigkeit auf. Liegen die von der Unabhängigkeit geforderten institutionellen Sicherungsmechanismen nicht vor, kann ein Gericht kein objektiv unparteiliches Erscheinungsbild haben.1969 Sichern die institutionellen Vorschriften hingegen die richterliche Unabhängigkeit bereits ausreichend ab, ist auch das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Gerichte größer. Zweifel an der Unparteilichkeit sind dann schwieriger zu begründen. Wegen der engen Verknüpfung beider Begriffe prüft der EGMR sie häufig zusammen.1970 1965 EGMR Nr. 17056/06, Micallef v Malta (GK), 15.10.2009, § 99; Nr. 58688/11, Harabin v Slowakei, 20.11.2012, § 132; Nr. 58138/09, Mikhail Mironov v Russland, 06.10.2020, § 28; ausführlicher zu den von der EMRK geforderten Austauschverfahren ab S. 585. 1966 Für eine prinzipielle Unterscheidbarkeit Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 49; Villiger, Handbuch EMRK, Rn. 496. 1967 EGMR Nr. 33186/08, Khrykin v Russland, 19.04.2011, Rn. 28; Nr. 33188/08, Baturlova v Russland, 19.04.2011, § 28; ebenfalls zur schwierigen Abgrenzbarkeit der Unabhängigkeit von der objektiven Unparteilichkeit EGMR Nr. 11179/84, Langborger v Schweden (Pl.), 22.06.1989, § 32; Nr. 7577/02, Bochan v Ukraine, 03.05.2007, § 68; Nr. 30226/10 und 5506/16, Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, § 206. 1968 Siehe die Nachweise in Fn. 1852. 1969 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 41; Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtel, S. 363 (370, 376); Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 50; Villiger, Handbuch EMRK, Rn. 496; Rzepka, Fairness im deutschen Strafverfahren, S. 40; gegen einen Bedingungszusammenhang zwischen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit aber Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 99–101. 1970 EGMR Nr. 48843/99, Cooper v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.2003, §§ 104–134; Nr. 65518/01, Salov v Ukraine, 06.09.2005, § 82; aktuell etwa EGMR Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, § 64; Nr. 55391/13, 57728/13 und 74041/13, Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 150; Nr. 30226/10 und 5506/16, Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, § 200; Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 50; Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtel, S. 363 (369–370); Barkhuysen u. a.,

B. Die Merkmale des Gerichtsbegriffs  

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Für den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit, die innerstaatliche Gewaltenteilung, ist die begriffliche Unterscheidung beider Gerichtsmerkmale nicht ausschlaggebend. Entscheidend ist, welche institutionellen Anforderungen an die innerstaatlichen Gerichte, die richterlichen Ernennungsverfahren und Statusrechte sich aus Art. 6 Abs. 1 EMRK unabhängig von einzelnen Gerichtsmerkmalen ableiten lassen. Sofern die EGMR-Urteile nicht eindeutig zwischen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit differenzieren, wird diese Arbeit ebenfalls keine trennscharfe Abgrenzung vornehmen.

IV. Fazit Art. 6 Abs. 1 EMRK nennt vier Gerichtsmerkmale explizit. Der Gesetzesvorbehalt, die Unabhängigkeit und die funktionale Unparteilichkeit machen strukturelle Vorgaben für die Organisation der Gerichte und den Status der Richter. Das vierte Merkmal, der Gerichtsbegriff selbst, ist ein Sammelbegriff für weitere, im Wortlaut nicht explizit aufgeführte Merkmale, welche die gerichtliche Tätigkeit und die Wirkung der gerichtlichen Entscheidungen betreffen.1971 Sowohl die Anforderungen an die gerichtliche Tätigkeit und die Wirkung gerichtlicher Entscheidungen als auch die institutionellen Vorgaben betreffen die Ausgestaltung der innerstaatlichen Zuständigkeitsordnung und damit die Gewaltenteilung. Weil die Streitentscheidung beziehungsweise die Entscheidung über eine strafrechtliche Verantwortlichkeit konstitutives Merkmal des Gerichtsbegriffs ist, sind die Konventionsstaaten verpflichtet, diese Tätigkeiten Gerichten zuzuweisen. Diese verpflichtende Zuordnung betrifft das dritte Gewaltenteilungselement1972. Die Anforderungen an die institutionelle Ausgestaltung der Gerichte gestaltet das zweite Element der Gewaltenteilung, die institutionelle Pluralität, aus. Schließlich ergeben sich aus den Merkmalen der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit Vorgaben für die richterlichen Statusrechte, die ein Aspekt des vierten Gewaltenteilungselements sind. Anders als die funktionalen Vorgaben an die gerichtliche Tätigkeit, die sich aus dem tribunal-Begriff ergeben und abhängig vom jeweiligen Anwendungsbereich des Rechts auf Zugang zum Gericht differieren, gelten die strukturellen Gerichtsmerkmale und statusrechtlichen Vorgaben konventionseinheitlich. Diese einzelnen Vorgaben werden im Folgenden untersucht. Hierbei kommt es weniger darauf an, welchem Gerichtsmerkmal die jeweilige Aussage genau zuzuBarkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (599); Kühne, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 306 (2009); Harris u. a., Law of the ECHR, S. 446. Kritisch hierzu Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 72–73; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 300. 1971 Vgl. die Unterscheidung zwischen materiellen Standards der gerichtlichen Tätigkeit und strukturellen Anforderungen an die Gerichte auch bei Esser, Strafverfahrensrecht, S. 535. 1972 Siehe zu den vier Elementen der Gewaltenteilung oben ab S. 72.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

ordnen ist.1973 Die Darstellung orientiert sich vielmehr an den ableitbaren institutionellen Anforderungen.

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit Aus der funktionalen Definition des tribunal-Begriffs leitet der EGMR Vorgaben für den Inhalt der gerichtlichen Entscheidung, die Prüfungsbefugnis und die Kontrollintensität sowie für die gerichtliche Bindungswirkung ab, die das Verständnis der EMRK von der gerichtlichen Tätigkeit ausmachen. Die innerstaat­ lichen Zuständigkeitsordnungen müssen hiernach bestimmte hoheitliche Entscheidungen den Gerichten zuweisen. Sofern die EMRK eine exklusive gerichtliche Tätigkeit verlangt, sind andere hoheitliche Organe von diesen Tätigkeiten ausgeschlossen. Die Verbindlichkeit gerichtlicher Entscheidungen betrifft die Wirkung dieser Hoheitsakte für die innerstaatlichen Rechtsordnungen und die sich hieraus ergebende Verpflichtung nicht-gerichtlicher Organe. Die konventionsrechtlichen Vorgaben an die gerichtliche Tätigkeit betreffen somit sowohl das erste Element der Gewaltenteilung, die Kategorisierung hoheitlicher Funktionen oder Tätigkeiten, als auch das dritte Element, die Zuordnung hoheitlicher Tätigkeiten zu verschiedenen Organen. Der folgende Abschnitt stellt die Anforderungen an die erstinstanzlichen gerichtlichen Entscheidungen dar. Die Schranken der Rechte auf Zugang zum Gericht schließen das Recht auf Zugang zum Gericht in bestimmten Fällen aus, sodass die beschwerdeführende Person keinen Anspruch auf eine gerichtliche Entscheidung hat. Einige der im Verlauf dieses Kapitel untersuchten anerkannten Beschränkungen lassen Rückschlüsse darauf zu, in welchen Fällen die Konventionsstaaten ausnahmsweise keine gerichtliche Tätigkeit vorsehen müssen.

I. Inhalte der gerichtlichen Entscheidungen Aus den Anwendungsbereichen der verschiedenen Justizrechte ergibt sich, welche Fälle die innerstaatlichen Gerichte entscheiden können müssen. Die konventionsstaatlichen Rechtsordnungen müssen den Gerichten ausreichende sachliche Kompetenzen zuzuweisen, um den Anforderungen des Rechts auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK zu genügen. Welche Anordnungsbefugnisse ein Gericht haben muss, um einen effektiven Rechtsschutz gewährleisten zu kön-

1973

Siehe stattdessen für nach Gerichtsmerkmalen sortierte Darstellungen Müller, Richter­ liche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK, S. 14, 21–120; ­Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 53–80; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 203–381.

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

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nen, ist abhängig vom jeweiligen Streitgegenstand und ergibt sich aus dem Gewährleistungsgehalt der Rechte auf Zugang zum Gericht. 1. Entscheidungen über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK Der zivilrechtliche Anwendungsbereich der Garantie auf Zugang zum Gericht sowie aller weiteren sich aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ableitenden Verfahrensrechte setzt eine ernsthafte Streitigkeit über einen zivilrechtlichen Anspruch oder eine zivilrechtliche Verpflichtung aus dem nationalen Recht voraus.1974 „For Article 6 § 1 in its ‚civil‘ limb to be applicable, there must be a ‚dispute‘ regarding a ‚right‘ which can be said, at least on arguable grounds, to be recognised under domestic law, irrespective of whether it is protected under the Convention. The dispute must be genuine and serious; it may relate not only to the actual existence of a right but also to its scope and the manner of its exercise; and, finally, the result of the proceedings must be directly decisive for the right in question, mere tenuous connections or remote consequences not being sufficient to bring Article 6 § 1 into play […].“1975

Die Auslegung der Anwendungsvoraussetzungen ist stark kasuistisch geprägt. Eine allgemeine Definition hat sich noch nicht durchgesetzt.1976

a) Streitentscheidung über Rechte und Pflichten zwischen den Prozessbeteiligten Eine Streitigkeit liegt vor, wenn sich mindestens zwei gegnerische Parteien in rechtlicher oder tatsächlicher Sicht nicht einig über den Bestand oder den Umfang eines Rechts sind.1977 Einseitige gerichtliche Verfahren, etwa zur Feststellung recht 1974

Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 6 sowie MeyerLadewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  6 Rn. 8 unterscheiden vier Voraussetzungen: 1) Streitigkeit 2) über ein Recht, welches durch die innerstaatliche Rechtsordnung begründet wird, 3) Erheblichkeit der Streitigkeit für das Recht, 4) ziviler Charakter des Rechts. 1975 EGMR Nr. 37575/04, Boulois v Luxemburg (GK), 03.04.2012, § 90; Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 100; Nr. 76943/11, Lupeni Greek Catholic Parish u. a. v Rumänien (GK), 29.11.2016, § 71; Nr. 56665/09, Károly Nagy v Ungarn (GK), 14.09.2017, § 60; Nr. 35289/11, Regner v Tschechien (GK), 19.09.2017, § 99; Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, § 44. 1976 Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 8; Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 14; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 38; Peters / Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 7; Peukert in: Frowein / Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 15. 1977 EGMR Nr. 6878/75 und 7238/75, Le Compte, van Leuven und de Meyere v Belgien (Pl.), 23.06.1981, § 45; Nr. 10426/83, Pudas v Schweden, 27.10.1987, § 31; Nr. 4523/04, Alaverdyan v Armenien (Zul.), 24.08.2010, § 34; Nr. 38259/09, Cipolletta v Italien, 11.01.2018, § 31; Villiger, Handbuch EMRK, Rn. 458; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 40; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (505–506).

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

lich bedeutsamer Tatsachen, eröffnen den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht.1978 Ob eine Streitigkeit zivilrechtlicher Natur ist, bestimmt sich autonom und damit unabhängig vom Status der Parteien, der Einordnung der entscheidungserheblichen Gesetze im nationalen Recht oder dem streitentscheidenden Organ.1979 Streitigkeiten zwischen zwei Privatpersonen sind grundsätzlich vom Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK umfasst. Unabhängig von ihrer Rechtsgrundlage fallen auch alle Streitigkeiten über Vermögenswerte in den zivilrechtlichen Anwendungsbereich.1980 Gleiches gilt für Streitigkeiten, die sich auf ein privates finanzielles oder ideelles Recht auswirken,1981 beziehungsweise wenn durch die Streitentscheidung ein privates Recht oder eine Verpflichtung begründet, geändert oder aufgehoben wird.1982 Daher sind etwa auch familien-, sorgerechtliche oder arbeitsrechtliche Klagen sowie Streitigkeiten über Ehrschutzverletzungen vom zivilrechtlichen Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK umfasst.1983 Soweit ersichtlich, hatte der EGMR bislang keine Gelegenheit, die gerichtliche Anordnungsbefugnis in zivilrechtlichen Fällen zwischen zwei Privatpersonen zu problematisieren. Das Grundprinzip des effektiven Rechtsschutzes gebietet aber, dass die Gerichte so weitreichende Anordnungen treffen können, dass die Streitigkeit effektiv entschieden wird und eine Durchsetzung des Urteils möglich ist. In vielen zivilrechtlichen Streitigkeiten zwischen Privatpersonen reicht es aus, wenn 1978 EGMR Nr. 4523/04, Alaverdyan v Armenien (Zul.), 24.08.2010, § 35 (der Beschwerdeführer wollte feststellen lassen, wer sein Vater war); Nr. 10842/08, Larychev v Ukraine (Zul.), 17.04.2018, §§ 21–23 mit ähnlichem Sachverhalt. 1979 EGMR Nr. 2614/65, Ringeisen v Österreich, 16.07.1971, § 94; Nr. 6232/73, König v Deutschland (Pl.), 28.06.1978, § 89; Nr. 22251/08, Bochan v Ukraine Nr. 2 (GK), 05.02.2015, § 43; Nr. 51357/07, Naït-Liman v Schweiz (GK), 15.03.2018, § 106; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 9; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 38–39 m. w. N. zur Rechtsprechung; Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 14; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 18–19; Rainey / McCormick / Ovey, Jacobs, White, and Ovey, S. 282. 1980 EGMR Nr. 14570/89, Procola v Luxemburg, 28.09.1995, §§ 38–40; Nr. 11236/09, Altay v Türkei Nr. 2, 09.04.2019, § 66; Nr. 11423/19, Gumenyuk u. a. v Ukraine, 22.07.2021, § 57; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 21; Esser, in: LöweRosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 39; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 13. 1981 Grundlegend EGMR Nr. 2614/65, Ringeisen v Österreich, 16.07.1971, § 94; aktuell EGMR Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, § 51; Nr. 11236/09, Altay v Türkei Nr. 2, 09.04.2019, § 66; Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 767; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn.  14. 1982 EGMR Nr. 65607/01, Karayiannis v Griechenland (Zul.), 20.03.2003; Nr. 31273/04, Nikas und Nika v Griechenland, 13.07.2006, § 26; Nr. 19752/11, Marques Ganço Martins de Carvalho v Portugal (Zul.), 23.02.2016, § 25; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 20; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 9. 1983 Zusammenfassend Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 16 m. w. N. zur jeweiligen Rechtsprechung; ebenfalls mit einem Überblick über die Kasuistik Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 21; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (514).

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

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Gerichte feststellen, welche Rechte und Pflichten im konkreten Fall zwischen den Streitparteien bestehen, sodass das Urteil anschließend von der berechtigten Partei mithilfe der dafür vorgesehenen staatlichen Mechanismen1984 durchgesetzt werden kann. In anderen zivilrechtlichen Streitigkeiten müssen Gerichte rechtsgestaltend tätig werden, etwa indem sie einer Person das Sorgerecht über ein Kind zusprechen.1985 b) Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen Streiten Bürger mit dem Staat über verwaltungsrechtliches Handeln, bestimmt sich die Eröffnung des zivilrechtlichen Anwendungsbereichs des Art. 6 Abs. 1 EMRK nach den allgemeinen Rechtsprechungskriterien. Durch die stetige Ausweitung des zivilrechtlichen Anwendungsbereichs erlangte diese Rechtsprechung eine große Relevanz für die Gewaltenteilung in den Konventionsstaaten. Viele Konventionsstaaten mussten ihre gerichtliche Verwaltungskontrolle ausweiten und an die Anforderungen der EMRK anpassen.1986 Bei den meisten verwaltungsrechtlichen Verfahren ist der zivilrechtliche Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK eröffnet, weil der EGMR die betroffenen Rechtspositionen als private Rechte einordnet.1987 Streitigkeiten über das Eigentumsrecht, etwa im Bereich des öffentlichen Baurechts über die Versagung einer Baugenehmigung oder über den Erlass einer Abrissverfügung, fallen in den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK.1988 Gleiches gilt für Klagen Dritter 1984 Siehe zu den Anforderungen an die Durchsetzung gerichtlicher Urteile ab S. 493, sowie speziell zu den Anforderungen an die Umsetzung zivilrechtlicher Streitigkeiten zwischen Privatpersonen ab S. 496. 1985 Vgl. EGMR Nr. 16424/90, McMichael v Vereinigtes Königreich, 24.02.1995, §§ 78–80, wo ein Gericht darüber entschied, ob ein Kind gegen den Willen der Eltern in staatliche Betreuung kommen sollte; die Anordnungsbefugnis des Gerichts war nicht umstritten. 1986 So wurde insbesondere in Österreich, Schweden und der Schweiz der Verwaltungsrechtsschutz reformiert, hierzu zusammenfassend Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 28; Tomuschat, Völkerrechtliche Grundlagen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Bender u. a., FS Redeker, S. 273 (282–283); für Österreich Tretter, Austria, in: Blackburn / Polakiewicz, Fundamental Rights in Europe, S. 103 (109); für Schweden Cameron, Sweden, in: Blackburn / Polakiewicz, Fundamental Rights in Europe, S. 833 (849–851). 1987 Siehe für einen Überblick über die Kasuistik inklusive typischer verwaltungsrechtlicher Sachverhalte EGMR Guide on Article 6 of the European Convention on Human Rights – Right to a fair trial (civil limb) (Fn. 1420), §§ 37–58; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  6 Rn.  21; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten /  Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 22–26; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (512–515); Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 768. 1988 Siehe beispielsweise EGMR Nr. 19178/91, Bryan v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, § 31 (Abrissverfügung); Nr. 51066/99, Ratière v Frankreich, 04.02.2003, § 11 (Versagung einer Baugenehmigung); Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 23, 25; Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 768 mit weiteren Beispielen aus der Rechtsprechung zum öffentlichen Baurecht.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

gegen bauliche Maßnahmen und Eigentumsnutzungen.1989 Auch im Falle von Enteignungen oder Beschlagnahmen von Mobilien, Immobilien und Vermögen ist der Anwendungsbereich eröffnet.1990 Berufs- und gewerberechtliche Streitigkeiten, insbesondere Streitigkeiten über Zulassungen, Erlaubnisse, Konzessionen und Approbationen zu einem Gewerbe beziehungsweise Beruf1991 sowie vergaberechtliche Streitigkeiten1992 fallen ebenfalls in den zivilrechtlichen Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Darüber hinaus können auch Streitigkeiten eines Bürgers mit dem Staat über persönliche nicht-wirtschaftliche Konventionsrechte den zivilen Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK eröffnen.1993 Dies gilt etwa für das Recht aus Art. 8 EMRK auf die freie Gestaltung des Privatlebens, insbesondere bei strafvollzugsrechtlichen Maßnahmen gegen Strafgefangene.1994 Ebenfalls aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ergibt sich das Recht der persönlichen Ehre.1995 Auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das unter anderem durch Genehmigungen zum Bau

1989

EGMR Nr. 14282/88, Zander v Schweden, 25.11.1993, §§ 9–10, 27 (Anfechtung einer Betriebsgenehmigung für eine Mülldeponie); Nr. 12884/87, Ortenberg v Österreich, 25.11.1994, § 28 (Anfechtung einer Baugenehmigung); Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 768. 1990 EGMR Nr. 38042/97, Aldo und Jean-Baptiste Zanatta v Frankreich, 28.03.2000, § 24 (Grundstücksenteignung); Nr. 35601/04, Pocius v Litauen, 06.07.2010, § 44 (Pflicht zur Abgabe der Waffe nach Widerruf der Genehmigung zum Waffenbesitz); Nr. 5809/08, Al-Dulimi und Montana Management Inc. v Schweiz (GK), 21.06.2016, § 99 („Einfrieren“ von Vermögenswerten). 1991 Grundlegend EGMR Nr. 6232/73, König v Deutschland (Pl.), 28.06.1978, §§ 90–96 (Genehmigung eines privaten Klinikbetriebs); Nr. 10873/84, Tre Traktörer Aktiebolag v Schweden, 07.07.1989, § 43 (Genehmigung zum Alkoholausschank); Nr. 27824/95, Posti und Rahko v Finnland, 24.09.2002, § 55 (Genehmigung zur Fischerei); Nr. 34983/02, Nowicky v Österreich, 24.02.2005, §§ 34–39 (Zulassung von Arzneimitteln); Nr. 47195/06, Müller-Hartburg v Österreich, 19.02.2013 (Erlaubnis, den Rechtsanwaltsberuf weiterhin auszuüben); Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, § 58 (Möglichkeit, als Sportler sein Geld zu verdienen); Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 21; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 24. 1992 EGMR Nr. 20390/92, Tinnelly & Sons u. a. und McElduff u. a. v Vereinigtes Königreich, 10.07.1998, § 61. 1993 Zusammenfassend EGMR Nr. 45835/05, Shapovalov v Ukraine, 31.07.2012, § 45. 1994 EGMR Nr. 74912/01, Enea v Italien (GK), 17.09.2009, §§ 99–106 (Verlegung in ein Hochsicherheitsgefängnis und dadurch u. a. Kontaktbeschränkungen zur Familie); Nr. 46194/06, Stegarescu und Bahrin v Portugal, 06.04.2010, §§ 34–40 (Besuchsbeschränkungen und zeit­ liche Beschränkung der täglichen Spaziergänge sowie Unmöglichkeit, das Studium fortzuführen und Klausuren zu schreiben); Nr. 43395/09, de Tommaso v Italien (GK), 23.02.2017, §§ 147–155 (Beschwerdeführer stand unter besonderer Überwachung: Verbot, nachts rauszugehen und die Gemeinde des Wohnsitzes zu verlassen, Verpflichtung, Handy zu nutzen; inklusive Darstellung der bisherigen Rechtsprechung zur den Rechten von Strafgefangenen gemäß Art. 8 EMRK). 1995 EGMR Nr. 58911/00, Leela Förderkreis e. V. u. a. v Deutschland, 06.11.2008, § 46 (Recht, einen guten Ruf zu genießen).

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oder Betrieb gesundheitsschädlicher Fabriken, Kraftwerke oder Anlagen betroffen sein kann, ist ein privates Recht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK.1996 Schließlich hat der EGMR das Recht auf Registrierung einer religiösen oder sonstigen Vereinigung1997 sowie die Meinungs- und Informationsfreiheit1998 als zivile Rechte im Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK anerkannt. Streitet ein Bürger in verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten mit dem Staat, kontrollieren die Gerichte typischerweise die belastenden konkret-individuellen Rechtsakte. Die Beschwerdeführer können aber auch Rechtsverletzungen durch abstrakt-generelle Normen wie Bebauungspläne geltend machen.1999 Selbst Rechtsverletzungen, die unmittelbar durch ein einfaches Parlamentsgesetz oder ein verfassungsänderndes Gesetz hervorgerufen wurden, können eine Streitigkeit zivilrechtlicher Natur begründen.2000 Auch Regierungsentscheidungen sind nicht vom Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK ausgeschlossen.2001 Die Rechtsnatur der belastenden Maßnahme ist für die Eröffnung des Anwendungsbereichs also irrelevant. Die Kontrollfunktion der Gerichte ist damit nicht auf konkret-individuelle Verwaltungsentscheidungen beschränkt, sondern umfasst alle hoheitlichen Entscheidungen, die unmittelbar in die privaten Rechte eingreifen. Unter diesen 1996 EGMR Nr. 27644/95, Athanassoglou v Schweiz (GK), 06.04.2000, § 55; Nr. 46117/99, Taşkın u. a. v Türkei, 10.11.2004, §§ 132–133; Nr. 36220/97, Okyay u. a. v Türkei, 12.07.2005, §§ 66–68; Nr. 55243/10, Association Greenpeace France v Frankreich (Zul.), 13.12.2011 (im konkreten Fall machte die beschwerdeführende Vereinigung aber kein subjektives Recht, sondern ein Allgemeininteresse geltend); Nr. 25680/05, Bursa Barosu Başkanlığı v Türkei, 19.06.2018, §§ 127–128. 1997 EGMR Nr. 32367/96, APEH Üldözötteinek Szövetsége u. a. v Ungarn, 05.10.2000, §§ ­33–36 (Registrierung einer Vereinigung); Nr. 40825/98, Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas u. a. v Österreich, 31.07.2008, §§ 107–108 (Anerkennung als Religionsgemeinschaft); Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn 51. 1998 EGMR Nr. 31475/05, Kenedi v Ungarn, 26.05.2009, § 33 (kein unbeschränkter Zugang zu Dokumenten des staatlichen Sicherungsdienstes aus Forschungszwecken); Nr. 67259/14, Selmani u. a. v Mazedonien, 09.02.2017, § 27 (Verweis von Journalisten aus der Galerie des Parlaments, sodass sie nicht von der aktuell eskalierenden parlamentarischen Debatte berichten konnten). 1999 EGMR Nr. 11309/84, Mats Jacobsson v Schweden, 28.06.1990, § 34; hierzu Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 25; Schmidt-Aßmann, Kohärenz und Konsistenz des Verwaltungsrechtsschutzes, S. 35; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr /  Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn.  18. 2000 EGMR Nr. 20024/92, Süßmann v Deutschland (GK), 16.09.1996, §§ 40–43 (einfaches Gesetz); Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, §§ 107–111 zur Frage, ob in diesem Fall ein Recht vorlag; die Frage, ob sich das Vorliegen eines verfassungsändernden Gesetzes auf die Eröffnung des Anwendungsbereichs auswirken könnte, wurde nicht aufgeworfen; ­Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kap.  14 Rn.  19; Villiger, AJP 1995, S. 163 (166). 2001 Vgl. EGMR Nr. 22110/93, Balmer-Schafroth u. a. v Schweiz (GK), 26.08.1997, §§ 30–40, wo der EGMR die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK zwar ablehnte, dies allerdings nicht mit dem Regierungshandeln begründete, sondern damit, dass die geltend gemachte Gefahr für das als zivilrechtlich anerkannte Recht auf Leben und Gesundheit nicht ausreichend belegt werden konnte.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Voraussetzungen können auch verfassungsrechtliche Streitigkeiten in den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK fallen.2002 In verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten ist die judikative Gewalt grundsätzlich das Gegengewicht zur Exekutive und hat die Aufgabe, deren Entscheidungen unabhängig von ihrer Rechtsform zu kontrollieren.2003 „[T]he essential function of the courts [is] exercising judicial review over acts of the executive, a function which lies at the heart of the system of checks and balances between the separated powers of government which is inherent in a democratic society governed by the rule of law.“2004

Jede Entscheidung einer Verwaltungsbehörde im Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK, die nicht selbst die Gerichtsmerkmale erfüllt, muss durch ein Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK überprüft werden können.2005 Dies gilt sowohl für die ursprünglichen rechtsgestaltenden Verwaltungsentscheidungen2006 als auch für Kontrollen von konkret-individuellen Verwaltungsentscheidungen durch nicht-gerichtliche Verwaltungsspruchkörper2007. Art. 6 Abs. 1 EMRK erlaubt den Konventionsstaaten, zunächst eine nicht-gerichtliche Verwaltungskontrolle einzurichten, sofern anschließend der Weg zu einem Gericht eröffnet ist.2008 Anders als in der frühen EGMR-Rechtsprechung angedeutet, müssen die Konventionsstaaten nicht rechtfertigen, dass eine vorgezogene nicht-gerichtliche Streitentscheidung 2002 EGMR Nr. 12952/87, Ruiz-Mateos v Spanien (Pl.), 23.06.1993, § 32 (konkrete Normenkontrolle); Nr. 20024/92, Süßmann v Deutschland (GK), 16.09.1996, §§ 40–43 (Recht­ satzverfassungsbeschwerde); Nr. 20950/92, Probstmeier v Deutschland, 01.07.1997, §§ 48–53 (konkrete Normenkontrolle); Nr. 33379/96, Klein v Deutschland, 27.07.2000, § 29 (Urteilsverfassungsbeschwerde, Verfassungsgericht erklärte Gesetz für verfassungswidrig); zusammenfassend m. w. N. zur bisherigen Rechtsprechung EGMR Nr. 47169/99, Voggenreiter v Deutschland, 08.01.2004, §§ 31–33; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 19; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 19; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig /  Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 9; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 24; Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 767. 2003 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 57. Siehe auch die theoretischen Nachweise in Fn. 1720. 2004 Abweichendes Sondervotum der Richter Kalaydjieva und de Gaetano zu EGMR Nr. 36181/05, Galina Kostova v Bulgarien, 12.11.2013, § 1; hierzu Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 58. 2005 Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 88; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 107; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote /  Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 88; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (551); Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 134. 2006 EGMR Nr. 12235/86, Zumtobel v Österreich, 21.06.1993, §§ 29–32; Nr. 12884/87, Ortenberg v Österreich, 25.11.1994, § 31; Nr. 15523/89, Schmautzer v Österreich, 23.10.1995, § 34; Nr. 34983/02, Nowicky v Österreich, 24.02.2005, § 41; Nr. 4837/06, Segame SA v Frankreich, 07.06.2012, § 55; Nr. 32125/04, Cooperativa de Credit Satmareana v Rumänien, 11.03.2014, § 34. 2007 EGMR Nr. 19178/91, Bryan v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, § 50; Nr. 21565/07 u. a., Julius Kloiber Schlachthof GmbH u. a. v Österreich, 04.04.2013, § 29; Nr. 40378/10, Fazia Ali v Vereinigtes Königreich, 20.10.2015, § 75. 2008 Vgl. Villiger, Handbuch EMRK, Rn. 491; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 57.

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

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aus Gründen der Flexibilität und Effizienz (demands of flexibility and efficiency) geboten ist.2009 Der EGMR prüft inzwischen ausschließlich, ob in erster oder in zweiter Instanz die Gerichtsmerkmale inklusive der full jurisdiction und einer ausreichenden Entscheidungskompetenz erfüllt wurden.2010 Es liegt also im Gestaltungsspielraum der Konventionsstaaten, ob sie individualisierte Verwaltungsentscheidungen zunächst von einem nicht-gerichtlichen Verwaltungsspruchkörper oder direkt von einem Gericht kontrollieren lassen. Die Konventionsstaaten sind nicht verpflichtet, die Aufgabe der hoheitlichen Streitentscheidungen ausschließlich den Gerichten zuzuweisen. Auch nicht-gerichtliche Organe dürfen streitentscheidend tätig werden, solange anschließend ein Weg zum Gericht eröffnet ist und ein Gericht die letztverbindliche Entscheidung trifft.2011 Das Gebot des effektiven Rechtsschutzes verlangt, dass ein gerichtliches Verfahren – unabhängig davon, ob es die ursprüngliche Verwaltungsentscheidung oder die nicht-gerichtliche Streitentscheidung kontrolliert – im Falle einer Rechtsverletzung Abhilfe schaffen kann. „[I]t is generally inherent in the notion of judicial review that, if a ground of challenge is upheld, the reviewing court has power to quash the impugned decision, and that either the decision will then be taken by the review court, or the case will be remitted for a fresh decision by the same or a different body.“2012

Das zuständige Gericht muss also nicht nur die Rechtsverletzung beenden. Es muss auch darauf hinwirken, dass eine neue rechtmäßige Entscheidung getroffen werden kann.2013 Indem der EGMR den Konventionsstaaten hierfür zwei gleichwer 2009

So ursprünglich EGMR Nr. 6878/75 und 7238/75, Le Compte, van Leuven und de Meyere v Belgien (Pl.), 23.06.1981, § 51. Der EGMR hat diese Aussage noch einmal wiederholt in EGMR Nr. 19206/05, Dauti v Albanien, 03.02.2009, § 46. Auch das Schrifttum geht noch von einer Rechtfertigungsbedürftigkeit aus, siehe etwa Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 132; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 57; Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 359–362. Müssten die Konventionsstaaten ihre nicht-gerichtlichen Streitentscheidungsmechanismen tatsächlich mit dem Erfordernis der Flexibilität begründen, hätte der EGMR diese Voraussetzung in den Urteilen regelmäßig ansprechen müssen. 2010 EGMR Nr. 12884/87, Ortenberg v Österreich, 25.11.1994, §§ 32–34; Nr. 15523/89, Schmautzer v Österreich, 23.10.1995, §§ 35–36; Nr. 19178/91, Bryan v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, §§ 36–47; Nr. 4837/06, Segame SA v Frankreich, 07.06.2012, § 57; Nr. 21565/07 u. a., Julius Kloiber Schlachthof GmbH u. a. v Österreich, 04.04.2013, §§ 30–34; siehe auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 57–58. 2011 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 57–58; Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 360. 2012 EGMR Nr. 35605/97, Kingsley v Vereinigtes Königreich, 07.11.2000, § 58; bestätigt durch EGMR Nr. 35605/97, Kingsley v Vereinigtes Königreich (GK), 28.05.2002, § 34 (Kontrolle einer Unzuverlässigkeitserklärung gegenüber dem Beschwerdeführer, die dazu führte, dass er keine Beschäftigung mehr finden würde); inhaltsgleich EGMR Nr. 25774/05, Bistrović v Kroatien, 31.05.2007, § 51; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 99. 2013 Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 778 weisen darauf hin, dass es nach Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 EMRK ausreichen könnte, wenn ein Staatshaftungsanspruch gewährleistet würde. Die hier zitierte Rechtsprechung, die dem Gebot des effektiven Recht­ schutzes entspricht und vom EGMR auch in anderen Sachverhaltskonstellationen angewendet wird, legen jedoch nahe, dass ein primärer Rechtsschutz gewährleistet werden muss.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

tige Alternativen für die Ausgestaltung der gerichtlichen Zuständigkeitsordnung einräumt, nimmt er Rücksicht auf die unterschiedlichen Organisationen der Konventionsstaaten. Weist ein Gericht die Sache zurück, muss die ursprünglich zuständige oder eine andere Behörde eine erneute Entscheidung treffen. Hierbei orientiert sich die Behörde im Idealfall am gerichtlichen Urteil, um eine erneut rechtswidrige Entscheidung zu verhindern. Trifft ein Gericht selbst eine neue Entscheidung, übernimmt es damit die Aufgaben der exekutiven Organe, die zuvor eine rechtswidrige Entscheidung trafen. In diesem Fall übernehmen die Gerichte neben einer Kon­ trollfunktion auch eine Gestaltungsfunktion. Hierbei ist es nicht ausgeschlossen, dass sie neben Rechtmäßigkeits- auch Zweckmäßigkeitserwägungen anstellen (müssen), um anstelle der Verwaltungsbehörde den Sachverhalt zu entscheiden.2014 c) Verhängung und Kontrolle von Disziplinarmaßnahmen (1) Eröffnung des Anwendungsbereichs Die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen gegen nicht-hoheitliche Berufsträger ist eine zivilrechtliche Streitigkeit, weil die Berufsfreiheit betroffen ist.2015 Bei Disziplinarmaßnahmen gegen Organwalter liegt eine Streitigkeit zwischen zwei Trägern hoheitlicher Gewalt – dem sanktionierten Organwalter und dem ebenfalls hoheitlichen Disziplinarorgan – vor. Hieraus ergeben sich Besonderheiten sowohl für die Frage, ob eine Rechtsposition im innerstaatlichen Recht vorliegt als auch für den zivilrechtlichen Charakter dieses Rechts. Ob die Organwalter ein Recht geltend machen können, um sich auf Art. 6 Abs. 1 EMRK berufen zu können, hängt von der nationalen Rechtsordnung ab.2016 Ein Recht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK können nicht nur verfahrensrechtlich abgesicherte materielle Rechtspositionen,2017 sondern auch prozedurale Garantien alleine sein. „Whether a person has an actionable domestic claim may depend not only on the substantive content, properly speaking, of the relevant civil right as defined under national law but also on 2014

Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 98–102. EGMR Nr. 6878/75 und 7238/75, Le Compte, van Leuven und de Meyere v Belgien (Pl.), 23.06.1981, §§ 46–48; Nr. 21257/93 u. a., Gautrin u. a. v Frankreich, 20.05.1998, § 33; Nr. 69742/01, Gubler v Frankreich, 27.07.2006, § 24; Nr. 32976/04, Mérigaud v Frankreich, 24.09.2009, § 67; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 34; Milano, Le droit à un tribunal, Rn. 177–179. 2016 EGMR Nr. 56665/09, Károly Nagy v Ungarn (GK), 14.09.2017, § 62; Nr. 35289/11, Regner v Tschechien (GK), 19.09.2017, § 100; Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, § 45; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 8; Meyer-Ladewig /  Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  6 Rn.  15. 2017 EGMR Nr. 35289/11, Regner v Tschechien (GK), 19.09.2017, § 102; Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, § 46; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 16. 2015

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

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the existence of procedural bars preventing or limiting the possibilities of bringing potential claims to court.“2018

Solche prozeduralen Rechte werden insbesondere dann relevant, wenn ein hoheitliches Organ in freiem Ermessen Vorteile oder Privilegien zugestehen oder verweigern darf und hiergegen eine Willkür- oder ultra vires-Kontrolle stattfindet.2019 Daher kann über Art. 6 Abs. 1 EMRK auch ein Recht auf ein faires Beförderungsund Auswahlverfahren geltend gemacht werden, sofern dies im nationalen Recht existiert.2020 Ebenso können Beamte und Richter, die sich bereits im Amt befinden, geschützt sein, ihr Amt weiterhin auszuüben.2021 Diese Einbeziehung rein prozeduraler Rechte in den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK ist besonders relevant für Beschwerden von Richtern gegen ungerechtfertigte Disziplinarmaßnahmen, besonders vor dem Hintergrund der zunehmenden Gefährdung der unabhängigen Justiz in verschiedenen Konventionsstaaten. In der Sache Bilgen v Türkei weichte der EGMR den Grundsatz, dass allein das nationale Recht für das Vorliegen eines „Rechts“ ausschlaggebend ist, auf. Der Beschwerdeführer, ein Richter, machte geltend, dass seine unfreiwillige Versetzung an ein neues Gericht niedrigerer Instanz willkürlich und grundlos erfolgte und dass er dadurch in seiner beruflichen und persönlichen Lebensführung beeinträchtigt war.2022 „[I]n the determination of whether the applicant could arguably rely on a ‚right‘ so as to bring into play the applicability of Article 6 of the Convention, the issue is not whether in a judicial system, such as that at issue in the present case, the right to a geographical guarantee can be demanded, but whether there is an arguable basis on which the right to be protected against an arbitrary transfer can be claimed.“2023

Der EGMR bezog in seine Erwägungen ein, dass die Gerichte eine besondere Funktion für die Rechtsstaatlichkeit haben und dass die Allgemeinheit Vertrauen in die Gerichtsbarkeit behalten sollte. Im Sinne einer einheitlichen Auslegung der EMRK bezog der EGMR die besondere Schutzbedürftigkeit der Richter, die sich aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit der Gerichts 2018 EGMR Nr. 17101/90, Fayed v Vereinigtes Königreich, 21.09.1990, § 65; Nr. 35763/97, AlAdsani v Vereinigtes Königreich (GK), 21.11.2001, § 47; Nr. 76943/11, Lupeni Greek Catholic Parish u. a. v Rumänien (GK), 29.11.2016, § 87; Nr. 1571/07, Bilgen v Türkei, 09.03.2021, § 49; Nr. 11423/19, Gumenyuk u. a. v Ukraine, 22.07.2021, § 46; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (503). 2019 EGMR Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, § 46; Nr. 1571/07, Bilgen v Türkei, 09.03.2021, § 51; Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, §§ 222–223. 2020 EGMR Nr. 58222/09, Juričić v Kroatien, 26.07.2011, § 52; Nr. 12628/09, DzhidzhevaTrendafilova v Bulgarien (Zul.), 09.10.2012, §§ 43–49; Nr. 43800/12, Tsanova-Gecheva v Bulgarien, 15.09.2015, § 84; Nr. 2683/12, Frezadou v Griechenland, 08.11.2018, § 28. 2021 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, §§ 107–111; Nr. 35289/11, Regner v Tschechien (GK), 19.09.2017, § 117; Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, § 46. 2022 EGMR Nr. 1571/07, Bilgen v Türkei, 09.03.2021, § 56. 2023 EGMR Nr. 1571/07, Bilgen v Türkei, 09.03.2021, § 57.

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barkeit ergibt, in seine Erwägungen ein.2024 Die nationalen Gesetze zum Schutz der richterlichen Unabhängigkeit legte der EGMR im Lichte der anerkannten völkerrechtlichen Prinzipien und der gemeinsamen Werte des Europarates aus. Als Konsequenz der allgemein anerkannten richterlichen Unabhängigkeit las der EGMR aus dem innerstaatlichen Recht heraus, dass Richter nicht unfreiwillig und aus willkürlichen Gründen versetzt werden dürfen.2025 Mit diesem neuen Vorgehen des EGMR bestimmt sich das Vorliegen eines streitigen Rechts zwar nach wie vor anhand des nationalen Rechts. Dieses muss allerdings im Lichte des Konventionsrechts und der allgemein anerkannten völker- und europarechtlichen Grundprinzipien ausgelegt werden. Dies führt zu einer Vereinheitlichung der nationalen Rechtsordnungen. Hierdurch wird es für die Konventionsstaaten schwieriger, gegen die Eröffnung des Anwendungsbereichs zu argumentieren. Seit der Einführung der Vilho Eskelinen-Formel sind die meisten disziplinarrechtlichen Streitigkeiten auch zivilrechtlicher Natur.2026 „[I]n order for the respondent State to be able to rely before the Court on the applicant’s status as a civil servant in excluding the protection embodied in Article 6, two conditions must be fulfilled. Firstly, the State in its national law must have expressly excluded access to a court for the post or category of staff in question. Secondly, the exclusion must be justified on objective grounds in the State’s interest.“2027

Die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK wird nach dieser Formel grundsätzlich vermutet.2028 Die Vilho Eskelinen-Formel gilt nicht nur für Beamte der Exekutive,2029 sondern – als Teil des typischen öffentlichen Dienstes (typical pub 2024

EGMR Nr. 1571/07, Bilgen v Türkei, 09.03.2021, § 58. EGMR Nr. 1571/07, Bilgen v Türkei, 09.03.2021, §§ 62–64; diesem Vorgehen folgend EGMR Nr. 11423/19, Gumenyuk u. a. v Ukraine, 22.07.2021, §§ 52–54. 2026 Die vorher angewandte Pellegrin-Formel schloss die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK aus, wenn Beamte und Richter in ihrer Funktion Allgemeininteressen wahrnahmen und öffentliche Gewalt ausübten und daher ein besonderes Verhältnis zum Staat hatten, EGMR Nr. 28541/95, Pellegrin v Frankreich, 08.12.1999, §§ 64–67; Nr. 47936/99, Pitkevich v Russland (Zul.), 08.02.2001 (für Richter); zur Pellegrin-Rechtsprechung Esser, in: Löwe-­ Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 57–58; allgemein zur Entwicklung der Rechtsprechungslinie Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 30–35. 2027 EGMR Nr. 63235/00, Vilho Eskelinen u. a. v Finnland (GK), 19.04.2007, § 62; seit dem ständige Rechtsprechung, siehe etwa EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 103; Nr. 35289/11, Regner v Tschechien (GK), 19.09.2017, § 107; Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, § 52; siehe auch die Nachweise zur Rechtsprechung bei Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 59 Fn. 156; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 11; Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 770 Fn. 358. 2028 EGMR Nr. 63235/00, Vilho Eskelinen u.  a. v Finnland (GK), 19.04.2007, §  62; Nr. 7984/06, Saghatelyan v Armenien, 20.10.2015, § 28; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 59; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 33. 2029 Siehe für eine Übersicht, welche Beamte der EGMR bislang in seine Vilho EskelinenRechtsprechung integriert hat Guide on Article  6 of the European Convention on Human Rights – Right to a fair trial (civil limb) (Fn. 1420), § 44. 2025

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lic service) – auch für Richter2030 und Gerichtspräsidenten2031. Für Disziplinarverfahren gegen Abgeordnete lehnt der EGMR die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK jedoch nach wie vor mit der Begründung ab, dass eine politische Streitigkeit vorliegt.2032 Wollen die Konventionsstaaten den Rechtsweg gegen Disziplinarmaßnahmen für exekutive und judikative Organwalter wirksam ausschließen, dann muss das entsprechende Gesetz – die erste Voraussetzung nach der Vilho Eskelinen-­Formel – bereits vorliegen, wenn die Disziplinarmaßnahme ergeht beziehungsweise die Entlassung beschlossen wird.2033 „To hold otherwise would mean that the impugned measure itself, which constituted the alleged interference with the applicant’s ‚right‘, could at the same time be the legal basis for the exclusion of the applicant’s claim from access to a court. This would open the way to abuse, allowing Contracting States to bar access to a court in respect of individual measures concerning their public servants, by simply including those measures in an ad hoc statutory provision not subject to judicial review.“2034

Die Anforderungen an die zeitliche Anwendbarkeit eines den Rechtsweg gegen Disziplinarmaßnahmen für Organwalter ausschließenden Gesetzes sind somit vergleichbar streng wie im Rahmen des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots gemäß Art. 7 EMRK.2035 In der Sache Saghatelyan v Armenien wurde die beschwerdeführende Richterin durch einen präsidentiellen Erlass (presidential decree)  entlassen. Gegen diese Rechtsakte gab es in der armenischen Rechtsordnung, unabhängig vom Regelungsgehalt, keinen Rechtsbehelf.2036 Das Recht auf Zugang zum Gericht der Beschwerdeführerin war auf die gleiche Weise beschränkt wie das Recht jedes anderen Rechtsträgers, der durch einen präsidentiellen Erlass beschwert wurde. Somit war das Recht auf Zugang zum Gericht nicht aufgrund der öffentlichen Funktion der Beschwerdeführerin ausgeschlossen, sodass der Anwendungs­bereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK eröffnet war.2037 Im Fall Baka v Ungarn verlor der Gerichtspräsident des Supreme Courts sein Amt durch eine Verfassungsänderung. 2030

EGMR Nr. 22330/05, Olujić v Kroatien, 05.02.2009, § 32 (in diesem Urteil wird die Vilho Eskelinen-Formel erstmals auf Richter angewendet); Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 194; Nr. 147/07, Kamenos v Zypern, 31.10.2017, § 63. 2031 EGMR Nr. 22330/05, Olujić v Kroatien, 05.02.2009, §§ 5, 32–43; Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 104 m. w. N. zur früheren Rechtsprechung. Auch im Fall Baka v Ungarn selbst ging es um die verfrühte Absetzung des Gerichtspräsidenten. 2032 EGMR Nr. 344/04, Papon v Frankreich (Zul.), 11.10.2005 (noch vor Vilho Eskelinen); Nr. 22717/17, Cătăniciu v Rumänien (Zul.), 13.11.2018, § 35; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 57. 2033 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 116; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 11. 2034 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 116. 2035 Siehe hierzu oben ab S. 417. 2036 EGMR Nr. 7984/06, Saghatelyan v Armenien, 20.10.2015, §§ 32, 34. 2037 EGMR Nr. 7984/06, Saghatelyan v Armenien, 20.10.2015, §§ 34–35.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Gegen einen solchen Rechtsakt sah das nationale Recht keinen Rechtsweg vor. Diese fehlende Regelung reichte dem EGMR nicht aus, um einen expliziten Ausschluss des Rechtswegs anzunehmen.2038 Diese strenge Auslegung der ersten Vilho Eskelinen-Voraussetzung durch EGMR ist nachvollziehbar, wenn man auf die zunehmende Gefährdung der gerichtlichen Unabhängigkeit in Europa blickt, für die Baka v Ungarn steht. Die Anforderungen des ersten Eskelinen-Kriteriums waren jedoch erfüllt durch türkische Vorschriften, die explizit anordneten, dass es kein Rechtsmittel gegen die Entscheidung des zuständigen Organs, des obersten Militärrates (Supreme Military Council) und des obersten Rates der Richter und Staatsanwälte (Turkish Supreme Council of Judges and Public Prosecutors) gab.2039 Gleiches gilt für ein bulga­risches Gesetz, das den Rechtsweg ausschloss, aber anschließend für verfassungswidrig erklärt wurde. Solange die Norm noch nicht für verfassungswidrig erklärt worden war, war die erste Eskelinen-Voraussetzung erfüllt.2040 Auch das zweite Eskelinen-Kriterium wird streng ausgelegt:2041 „The mere fact that the applicant is in  a sector or department which participates in the exercise of power conferred by public law is not in itself decisive. In order for the exclusion to be justified, it is not enough for the State to establish that a civil servant participates in the exercise of public power or that there exists, to use the words of the Court in Pellegrin […], a ‚special bond of trust and loyalty‘ between the civil servant and the State, as employer. It is also for the State to show that the subject matter of the dispute in issue is related to the exercise of State power or that it has called into question the special bond.“2042

Auch wenn Beamte Hoheitsgewalt ausüben und Verantwortung für das Allgemeinwohl tragen, können sie sich nach der Vilho Eskelinen-Formel auf Art. 6 Abs. 1 EMRK berufen.2043 Sämtliche arbeitsrechtlichen Streitigkeiten (ordinary labour disputes2044) der Beamten, insbesondere über Entlassungen, zeitweise Sus 2038 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, §§ 115–118; ebenso angedeutet bei Nr. 26691/18 und 27367/18, Broda und Bojara v Polen, 29.06.2021, § 116 (im Ergebnis ließ der EGMR die Subsumtion offen); ähnlich bei EGMR Nr. 11423/19, Gumenyuk u. a. v Ukraine, 22.07.2021, § 61. 2039 EGMR Nr. 59773/00, Suküt v Türkei (Zul.), 11.09.2007; Nr. 3964/05, Apay v Türkei (Zul.), 11.12.2007 (siehe jeweils auch den expliziten Ausschluss des Rechtswegs in den in den Entscheidungen aufgeführten relevanten nationalen Vorschriften). Siehe zusammenfassend zu dieser Rechtsprechung EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 113; Nr. 3594/19, Kövesi v Rumänien, 05.05.2020, § 119; bestätigend auch EGMR Nr. 26691/18 und 27367/18, Broda und Bojara v Polen, 29.06.2021, § 115. Daneben war das erste Vilho Eskelinen-Kriterium auch erfüllt in EGMR Nr. 2631/10 und 12253/10, Spūlis und Vaškevičs v Lettland (Zul.), 18.11.2014, §§ 39–40. 2040 EGMR Nr. 61360/00, Nedelcho Popov v Bulgarien, 22.11.2007, § 38. Angesichts der Verfassungswidrigkeit der Vorschrift lag allerdings keine Rechtfertigung für den Ausschluss des Rechtswegs vor, sodass die zweite Eskelinen-Voraussetzung nicht erfüllt war (§ 39). 2041 Vgl. Peters / Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 11. 2042 EGMR Nr. 7984/06, Saghatelyan v Armenien, 20.10.2015, § 28. 2043 EGMR Nr. 63235/00, Vilho Eskelinen u. a. v Finnland (GK), 19.04.2007, § 62. 2044 EGMR Nr. 63235/00, Vilho Eskelinen u. a. v Finnland (GK), 19.04.2007, § 62.

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

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pendierungen, Disziplinarverfahren, Versetzungen, Beförderungen sowie die Vergütung, sind vom Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK umfasst.2045 Hingegen ist das zweite Vilho Eskelinen-Kriterium erfüllt, wenn ein unmittelbarer Bezug zwischen dem Grund für die Disziplinarmaßnahme und der hoheitlichen Tätigkeit vorliegt sowie ein nachvollziehbarer Grund, warum das Vertrauensverhältnis zum Beschwerdeführer beeinträchtigt war.2046 In Nazsiz v Türkei war der Beschwerdeführer, ein Staatsanwalt, wegen Urkundenfälschung (forgery) und Bestechlichkeit (bribery) im Rahmen seiner hoheitlichen Tätigkeit angeklagt und wurde daraufhin entlassen.2047 In Spūlis und Vaškevičs v Lettland waren die Beschwerdeführer verantwortlich für geheimdienstliche Aufgaben sowie für die Kriminalabteilung des Zolls. Wegen ihrer Funktion als Geheimnisträger verfügte der Staat über einen großen Gestaltungsspielraum. Im konkreten Fall hatte die durchgeführte Untersuchung ergeben, dass die Beschwerdeführer nicht die Verlässlichkeit und Fähigkeit besaßen, in Staatsgeheimnisse eingeweiht zu sein.2048 (2) Gewährleistungsgehalt Im Rahmen der Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Disziplinarmaßnahmen gegen Organwalter und nicht-hoheitliche Berufsträger muss ein Gericht entweder für die Verhängung oder für die Kontrolle der Sanktionen zuständig sein. Kontrolliert ein Gericht eine Disziplinarentscheidung, muss das Gericht über eine vollumfängliche tatsächliche und rechtliche Prüfungskompetenz verfügen und alle weiteren Gerichtsmerkmale aufweisen.2049 Das zuständige Gericht muss die ursprüngliche Disziplinarentscheidung aufheben können und selbst erneut über die Sache entscheiden oder sie an die ursprüngliche Disziplinarkammer zurückverweisen.2050 Das Gericht kontrolliert das Disziplinarorgan und darf dessen Aufgabe 2045

Siehe die Aufzählungen in EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 105; Nr. 35289/11, Regner v Tschechien (GK), 19.09.2017, §§ 108–110; Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, § 52; Nr. 26691/18 und 27367/18, Broda und Bojara v Polen, 29.06.2021, §§ 101–102; Nr. 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen, 08.11.2021, § 227 sowie die Fallbeispiele in EGMR Guide on Article 6 of the European Convention on Human Rights – Right to a fair trial (civil limb) (Fn. 1420), § 49. 2046 Daneben lehnte der EGMR die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK auch ab in den Fällen EGMR Nr. 59773/00, Suküt v Türkei (Zul.), 11.09.2007 sowie EGMR Nr. 3964/05, Apay v Türkei (Zul.), 11.12.2007. Beide Entscheidungen ergingen zwar nach Vilho Eskelinen v Finnland, orientierten sich hinsichtlich der Auslegung des zweiten Kriteriums allerdings noch an der großzügigeren Pellegrin-Formel und entsprechen daher nicht mehr der aktuellen Rechtslage. 2047 EGMR Nr. 22412/05, Nazsis v Türkei (Zul.), 26.05.2009. 2048 EGMR Nr. 2631/10 und 12253/10, Spūlis und Vaškevičs v Lettland (Zul.), 18.11.2014, § 42. 2049 EGMR Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, § 65; Nr. 46466/16, Grace Gatt v Malta, 08.10.2019, § 79. 2050 Grundlegend EGMR Nr. 55391/13, 57728/13 und 74041/13, Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 184. Vgl. in der konkreten Anwendung EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 125.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

nach Art. 6 Abs. 1 EMRK auch nach Aufhebung der ursprünglichen Entscheidung übernehmen. Die Funktion der Gerichte ist in diesem Fall die gleiche wie bei der Kontrolle einer Verwaltungsentscheidung. Erfüllen die Disziplinarorgane selbst alle Gerichtsmerkmale oder weisen die nationalen Zuständigkeitsordnungen Gerichten die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen als hoheitliche Aufgabe zu, verlangt Art. 6 Abs. 1 EMRK keinen weiteren Zugang zu einer gerichtlichen Kontrollinstanz. Die Gerichtsqualität von Disziplinarkammern berufsständischer Selbstverwaltungskörperschaften hat der EGMR bereits anerkannt.2051 Im Rahmen der ersten Eskelinen-Voraussetzung entschied der EGMR außerdem mehrfach, dass Richterräte als Disziplinarorgane der Richter eine gerichtliche Tätigkeit ausübten, sodass der Rechtsweg nicht ausgeschlossen war.2052 Die Anforderungen an die gerichtliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sowie an das Gerichtsverfahren prüfte der EGMR erst in der Begründetheit und stellte diesbezüglich häufig Mängel der Disziplinarorgane fest.2053 Die Verstöße gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der EGMR den Richterräten im Rahmen der Eskelinen-Formel eine judikative Funktion zuschrieb. Diese bestand in der Durchführung eines Disziplinarverfahrens und der Entscheidung über Disziplinarmaßnahmen.2054 Die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen kann also eine gerichtliche Kompetenz im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK sein. Entscheiden Richterräte oder andere Disziplinarorgane mit Gerichtsqualität über Disziplinarmaßnahmen, werden sie selbst rechtsgestaltend tätig und unterliegen, anders als Verwaltungsbehörden oder Disziplinarorgane ohne Gerichtsqualität, keiner weiteren gerichtlichen Kontrolle. Gleichwohl sind die Konventionsstaaten nicht verpflichtet, Gerichten die Kompetenz zuzuweisen, rechtsgestaltende Disziplinar-

2051 EGMR Nr. 13829/88, Debled v Belgien, 22.09.1994, § 36; Nr. 69742/01, Gubler v Frankreich, 27.07.2006, §§ 25–31; Nr. 53025/99, Frankowicz v Polen, 16.12.2008, §§ 60–67. Siehe hierzu näher ab S. 731. 2052 EGMR Nr. 22330/05, Olujić v Kroatien, 05.02.2009, § 37; Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, §§ 89–90; Nr. 51160/06, di Giovanni v Italien, 09.07.2013, § 37; Nr. 45729/05, Sturua v Georgien, 28.03.2017, § 27; Nr. 147/07, Kamenos v Zypern, 31.10.2017, §§ 82–88 (siehe außerdem eine Darstellung des bisherigen case laws in §§ 73–81). Ähnlich EGMR Nr. 58688/11, Harabin v Slowakei, 20.11.2012, § 123, wo die Disziplinarmaßnahmen durch das Verfassungsgericht verhängt wurden. 2053 EGMR Nr. 22330/05, Olujić v Kroatien, 05.02.2009, §§ 56–68; Nr. 58688/11, Harabin v Slowakei, 20.11.2012, §§ 130–142; Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, §§ 109–122; Nr. 45729/05, Sturua v Georgien, 28.03.2017, §§ 33–36; Nr. 51160/06, di Giovanni v Italien, 09.07.2013, §§ 51–61; Nr. 147/07, Kamenos v Zypern, 31.10.2017, §§ 102–110. Näher zur Gerichtsqualität der Richterräte unten ab S. 732. 2054 EGMR Nr. 22330/05, Olujić v Kroatien, 05.02.2009, § 42; Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 90 (der EGMR schrieb die gerichtliche Funktion dem Richterrat gemeinsam mit dem Parlament zu); Nr. 45729/05, Sturua v Georgien, 28.03.2017, § 27; Nr. 147/07, Kamenos v Zypern, 31.10.2017, § 86.

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

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maßnahmen zu beschließen. Sofern in nächster Instanz ein Gericht die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen kontrolliert, sind die institutionellen Eigenschaften des ursprünglichen Disziplinarorgans konventionsrechtlich unerheblich.2055 d) Zwischenfazit Der zivilrechtliche Anwendungsbereich des EGMR umfasst sowohl Streitigkeiten zwischen zwei Privatpersonen als auch verwaltungs- und verfassungsrechtliche Sachverhalte, die sich auf die privaten Rechte der Parteien auswirken. Gerichte werden tätig, nachdem eine Streitigkeit entstanden ist oder ein zu kontrollierender Rechtsakt erlassen wurde. Die EMRK weist den Gerichten also die Aufgabe der nachträglichen Streitentscheidung zu, mit dem Ziel, willkürliches und rechtswidriges exekutives Handeln zu verhindern.2056 Um die Streitigkeiten wirksam entscheiden zu können, müssen die Gerichte Entscheidungen mit unterschiedlichem rechtlichem Inhalt treffen. In Streitigkeiten zwischen zwei Privatpersonen reicht häufig eine Feststellung der Rechtslage aus, die anschließend vollstreckt werden kann. Streitet hingegen ein Bürger mit dem Staat über belastende Verwaltungsmaßnahmen, müssen Gerichte diese im Falle einer Rechtsverletzung nicht nur aufheben und dadurch die Rechtsverletzung beseitigen, sondern auch dafür sorgen können, dass eine erneute Entscheidung getroffen wird. Die EMRK eröffnet den Konventionsstaaten sowohl die Möglichkeit, dass Gerichte selbst die neue Verwaltungsentscheidung treffen als auch die Möglichkeit, dass hierfür die ursprüngliche Verwaltungsbehörde zuständig ist. Dürfen Gerichte eine eigene neue Entscheidung treffen, übernehmen sie die ursprüngliche Aufgabe der ursprünglich zuständigen Organe. Die Konventionsstaaten können den Gerichten also eigenständigen rechtsgestaltenden Kompetenzen zuweisen, sind aber nicht dazu verpflichtet. In verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten kontrollieren die Gerichte die Verwaltungsbehörden.2057 Sieht die innerstaatliche Rechtsordnung einen nicht-gerichtlichen Streitentscheidungsmechanismus vor, kontrolliert das Gericht diese nichtgerichtliche Streitentscheidung und damit die angegriffene Maßnahme inzident. Die EMRK weist den innerstaatlichen Gerichten also exklusiv die Aufgabe der letztverbindlichen Streitentscheidung in zivilrechtlichen und verwaltungsrecht­ lichen Streitigkeiten zu. Es ist allerdings nicht konventionswidrig, wenn vor dem gerichtlichen ein nicht-gerichtlicher Rechtsbehelf ergriffen werden muss. Solange

2055 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 197, die davon ausgeht, dass jedes richterliche Disziplinarorgan von der Exekutive und der Legislative getrennt sein muss, ist somit nicht zuzustimmen; wie Tsampi auch Kosař / Lixinski, AJIL 190 (2015), S. 713 (755). 2056 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 54, 57 mit Verweis ins französische Schrifttum. 2057 Die Kontrolle der Exekutive als primäres Ziel der Gerichte betont auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 53–77.

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sie sich nicht über Gerichtsentscheidungen hinwegsetzen können, verbietet die EMRK nicht, dass andere hoheitliche Organe streitentscheidend tätig werden. Art. 6 Abs. 1 EMRK verlangt, dass Gerichte auch gegenüber der Regierung oder dem Gesetzgeber kontrollierend tätig werden, wenn ein Regierungsakt oder ein parlamentarischer Gesetzgeber die Rechte der Beschwerdeführer unmittelbar beeinträchtigt. Die Kontrollbefugnis der Gerichte ist also nicht auf Verwaltungsmaßnahmen beschränkt, sondern umfasst jede hoheitliche Entscheidung, die sich unmittelbar, also ohne weiteren Umsetzungsakt, auf die nationalen privaten Rechte der Bürger auswirkt. In Disziplinarverfahren kommt Gerichten typischerweise die Kontrollfunktion über die Disziplinarentscheidungen zu. Hierfür müssen sie die gleichen Entscheidungsbefugnisse haben wie bei der Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen.2058 Erfüllen die Disziplinarorgane jedoch selbst die Gerichtsmerkmale des Art. 6 Abs. 1 EMRK, ist keine erneute gerichtliche Kontrolle mehr erforderlich. In diesem Fall ist nicht die Kontrolle, sondern die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen eine gerichtliche Aufgabe. Konventionskonform sind sowohl innerstaatliche Zuständigkeitsordnungen, nach denen Gerichte Disziplinarmaßnahmen verhängen als auch solche Zuständigkeitsordnungen, in denen Gerichte Disziplinarmaßnahmen kontrollieren. 2. Entscheidungen über strafrechtliche Anklagen im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK Der strafrechtliche Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK ist eröffnet, wenn gegen den Betroffenen eine strafrechtliche Anklage (criminal charge / accusation en matière pénale) erhoben wurde. Auch der Begriff der strafrechtlichen Anklage wird autonom definiert.2059 Der zivilrechtliche und der strafrechtliche Anwendungsbereich können nebeneinander eröffnet sein2060. 2058

Diese beiden Fallgruppen werden vom EGMR gleichgesetzt: EGMR Nr. 35115/97, Riepan v Österreich, 14.11.2000, § 39: „[I]n the area of proceedings which are classified neither as ‚civil‘ nor as ‚criminal‘ under domestic law, but as disciplinary or administrative, it is well established that the duty of adjudicating disciplinary or minor offences may be conferred on professional or administrative bodies which do not themselves comply with the requirements of Article 6 § 1 of the Convention as long as they are subject to review by a judicial body that has full jurisdiction […].“ 2059 EGMR Nr. 6903/75, Deweer v Belgien, 27.02.1980, § 44; Nr. 8269/78, Adolf v Österreich, 26.03.1982, § 30; Nr. 47152/06, Blokhin v Russland (GK), 23.03.2016, § 197; Esser, in: LöweRosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 68, 92; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 20; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  6 Rn.  23–24. 2060 EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 92; Nr. 55391/13, 57728/13 und 74041/13, Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 121; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 29; Vogler, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 188 (1986).

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Ob eine Anklage strafrechtlicher Natur ist, bestimmt sich nach den Engel-Kriterien.2061 Entscheidend sind grundsätzlich alternativ2062 die Einordnung eines Vergehens im nationalen Recht, die Natur des Vergehens und die Schwere der Sanktion, welche die betroffene Person riskiert.2063 Führt die Betrachtung der einzelnen Kriterien zu keinem eindeutigen Ergebnis, zieht der EGMR die drei Kriterien auch kumulativ heran.2064 Durch das erste Kriterium nimmt der EGMR Rücksicht auf die Rechtslage in den Konventionsstaaten. Ordnet das nationale Recht ein Vergehen dem Strafrecht zu, ist der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK ohne Rückgriff auf die weiteren Kriterien und ungeachtet der Strafbarkeit in anderen Konventionsstaaten eröffnet.2065 Das zweite Kriterium, die Natur des Vergehens, umfasst verschiedene Aspekte:2066 Die Verhaltens- oder Unterlassungsvorschrift muss generelle Wirkung haben und 2061

Mit dieser Bezeichnung etwa Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 70; Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 41; Peters / Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 17; Gra­benwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn. 21. 2062 EGMR Nr. 68273/14 und 68271/14, Gestur Jónsson und Ragnar Halldór Hall v Island (GK), 22.12.2020, § 78; Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 241; Meyer-Ladewig /  Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 30; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 70–71; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 126. 2063 EGMR Nr. 5100/71 u. a., Engel u. a. v Niederlande (Pl.), 08.06.1976, § 82; aktuell etwa EGMR Nr. 47152/06, Blokhin v Russland (GK), 23.03.2016, §§ 179–180; Nr. 68273/14 und 68271/14, Gestur Jónsson und Ragnar Halldór Hall v Island (GK), 22.12.2020, § 75; Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 241. Besonders ausführlich zu den drei Kriterien Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (526–537); Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 166–174. 2064 EGMR Nr. 39665/98 und 40086/98, Ezeh und Connors v Vereinigtes Königreich (GK), 09.10.2003, § 86; Nr. 73053/01, Jussila v Finnland (GK), 23.11.2006, § 31; Nr. 19844/08, ­Becker v Österreich, 11.06.2015, § 25; Nr. 55391/13, 57728/13 und 74041/13, Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 122; Nr. 68273/14 und 68271/14, Gestur Jónsson und Ragnar Halldór Hall v Island (GK), 22.12.2020, § 78; Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 241; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 70; Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 41; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig /  Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 30; Schabas, ECHR, Art. 6, S. 277; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 52. 2065 EGMR Nr. 68273/14 und 68271/14, Gestur Jónsson und Ragnar Halldór Hall v Island (GK), 22.12.2020, § 76; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 28; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 71 m. w. N. zur Rechtsprechung. 2066 Siehe diese Aufzählung der verschiedenen Faktoren bei EGMR Guide on Article  6 of the European Convention on Human Rights – Right to a fair trial (criminal limb), Stand 31.12.2021, https://www.echr.coe.int/Documents/Guide_Art_6_criminal_ENG.pdf, zuletzt abgerufen am 09.04.2022, § 24; die Aufzählungen im Schrifttum variieren, siehe etwa E ­ sser, in: Löwe-­Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 73; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote /  Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 23–24; Schabas, ECHR, Art. 6, S. 277–278; Villiger, Handbuch EMRK, Rn. 268; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 169.

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darf nicht lediglich an eine spezifische Gruppe gerichtet sein.2067 Die Vorschrift muss einen bestrafenden und abschreckenden (punitive and deterrent) Zweck haben2068 und Allgemeininteressen schützen, die typischerweise durch das Strafrecht geschützt werden2069. Außerdem muss die Strafe von der persönlichen Schuld abhängen.2070 Schließlich zieht der EGMR auch die Einordnung des Vergehens in den anderen Konventionsstaaten heran.2071 Im Rahmen des dritten Kriteriums beurteilt der EGMR, wie stark und auf welche Weise die Sanktion die Beschuldigten betrifft beziehungsweise beeinträchtigt.2072 Sofern die Höchststrafe2073 des konkreten Delikts eine Freiheitsstrafe ist, besteht die widerlegbare Vermutung, dass der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK eröffnet ist.2074 Eine Geldstrafe ist typischerweise schwerwiegend genug, wenn sie in eine Ersatzhaft umgewandelt werden kann.2075 Auch Entlassungen aus 2067 EGMR Nr. 8544/79, Öztürk v Deutschland (Pl.), 21.02.1984, § 53; Nr. 12547/86, Bendenoun v Frankreich, 24.02.1994, § 47; Nr. 19380/92, Benham v Vereinigtes Königreich (GK), 10.06.1996, § 56; Nr. 65022/01, Zaicevs v Lettland, 31.07.2007, § 33; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 73; Schabas, ECHR, Art. 6, S. 277; Gundel, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 50; Peters / Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 16; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 169. 2068 EGMR Nr. 8544/79, Öztürk v Deutschland (Pl.), 21.02.1984, § 53; Nr. 12547/86, Bendenoun v Frankreich, 24.02.1994, § 47; Nr. 73053/01, Jussila v Finnland (GK), 23.11.2006, § 38; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn. 23; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 169. 2069 EGMR Nr. 43509/08, A. Menarini Diagnostics S. R. L. v Italien, 27.09.2011, § 40; Nr. 47072/15, Produkcija Plus storitveno podjetje d. o. o. v Slowenien, 23.10.2018, § 42; Villiger, Handbuch EMRK, Rn. 268; Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 26. 2070 EGMR Nr. 19380/92, Benham v Vereinigtes Königreich (GK), 10.06.1996, § 56; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 73; Villiger, Handbuch EMRK, Rn. 268. 2071 EGMR Nr. 8544/79, Öztürk v Deutschland (Pl.), 21.02.1984, § 53; Villiger, Handbuch EMRK, Rn. 268. 2072 Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 25; Vogler, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 200 (1986). 2073 Grundsätzlich beurteilt der EGMR die Höchststrafe, EGMR Nr. 11034/84, Weber v Schweiz, 22.05.1990, § 34; Nr. 39665/98 und 40086/98, Ezeh und Connors v Vereinigtes Königreich (GK), 09.10.2003, § 120; Nr. 65022/01, Zaicevs v Lettland, 31.07.2007, § 34. Ausnahmsweise bezieht er aber auch die im konkreten Fall verhängte Strafe ein, EGMR Nr. 43371/02, Rabus v Deutschland (Zul.), 09.02.2006 (Höchststrafe war die Entlassung aus dem Amt, im konkreten Fall wurde das Gehalt lediglich für fünf Monate um 5 Prozent reduziert); MeyerLade­wig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  6 Rn. 27; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 78; Gaede, in: Knauer, MüKoStPO, Art. 6 EMRK Rn. 43. 2074 EGMR Nr. 7819/77 und 7878/77, Campbell und Fell v Vereinigtes Königreich, 28.06.1984, § 73; Nr. 39665/98 und 40086/98, Ezeh und Connors v Vereinigtes Königreich (GK), 09.10.2003, § 126; Nr. 47152/06, Blokhin v Russland (GK), 23.03.2016, §§ 179–180; Esser, in: Löwe-­Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 78; Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 44; Schabas, ECHR, Art. 6, S. 278; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (533). 2075 EGMR Nr. 11034/84, Weber v Schweiz, 22.05.1990, § 34; Nr. 27783/95, T. v Österreich, 14.11.2000, § 67; Nr. 61821/00, Ziliberberg v Moldawien, 01.02.2005, § 34; Gundel, Verfahrens-

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dem öffentlichen Dienst2076 und der Entzug der Fahrerlaubnis2077 können Sanktionen sein, die den Anwendungsbereich eröffnen. Eine strafrechtliche Anklage existiert spätestens ab dem Moment, in dem die betroffene Person von der zuständigen Behörde offiziell über die Anschuldigungen gegen sie informiert wird oder sobald sich die Verdächtigungen substanziell auf die Lebenssituation der beschuldigten Person auswirken.2078 Dies kann bereits während des Ermittlungsverfahrens der Fall sein, etwa wenn sich die beschuldigte Person in Untersuchungshaft befindet oder ihre Wohnung durchsucht wird.2079 Ist der strafrechtliche Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK eröffnet, haben die betroffenen Personen grundsätzlich ein Recht, dass ein Gericht über ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit und die Verhängung von Sanktionen entscheidet.2080 Allerdings garantiert Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht in jedem Fall förmliche gerichtliche Entscheidungen: „[T]here is no right under Article 6 of the Convention to a particular outcome of criminal proceedings or, therefore, to a formal conviction or acquittal following the laying of criminal charges […].“2081

Entscheidend für die Gestaltung der konventionsrechtlichen Zuständigkeitsordnung und Gewaltenteilung ist somit, in welchen Fällen ein Verfahren auch ohne gerichtliche Entscheidung beendet werden darf und welche Entscheidungskompetenzen exklusiv den Gerichten zugewiesen werden müssen.

rechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 51; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  6 Rn.  28. 2076 EGMR Nr. 38184/03, Matyjek v Polen (Zul.), 30.05.2006, §§ 54–58; Esser, in: Löwe-­ Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 78. 2077 EGMR Nr. 27812/95, Malige v Frankreich, 23.09.1998, § 39 (Punkteentzug für Verkehrsvergehen konnte zum Entzug des Führerscheins führen); Villiger, Handbuch EMRK, Rn. 477. 2078 EGMR Nr. 21980/04, Simeonovi v Bulgarien (GK), 12.05.2017, § 110; Nr. 8284/07, Batiashvili v Georgien, 10.10.2019, § 78; Nr. 68556/13, Krebs v Deutschland, 20.02.2020, § 29; Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 56; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote /  /  GG, Kap. 14 Rn. 28; Schabas, ECHR, Art. 6, Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK  S. 276–277. 2079 EGMR Nr. 2122/64, Wemhoff v Deutschland, 27.06.1968, § 18; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 93; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig /  Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 31; Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 45. 2080 Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 53; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote /  Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 29; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 27. 2081 EGMR Nr. 59493/00, Withey v Vereinigtes Königreich (Zul.), 26.08.2003; Nr. 36404/97, Soini u. a. v Finnland, 17.01.2006, § 67; Nr. 44473/06, Hábenczius v Ungarn, 21.10.2014, § 38; inhaltsgleich EGMR Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, § 68; siehe auch Meyer-­ Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  6 Rn. 58; Elberling, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 61; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 111; Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 102.

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a) Verurteilungen Verurteilungen einer angeklagten Person gehören zum Kernbereich der gerichtlichen Tätigkeiten. Im Rahmen des Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a) EMRK definiert der EGMR die Verurteilung als „a finding of guilt in respect of an offence and the imposition of a penalty or other measure involving deprivation of liberty“.2082

Damit eine Freiheitsentziehung gerechtfertigt ist, muss die Verurteilung durch ein zuständiges Gericht erfolgen.2083 Eine Verurteilung durch ein nicht-gerichtliches Organ ist für die Rechtfertigung eines Freiheitsentzugs nicht ausreichend, selbst wenn gegen diese Entscheidung ein gerichtlicher Rechtsbehelf zur Verfügung steht. Aus dem Rechtfertigungsgrund des Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a)  EMRK (conviction by a competent court / condamnation par un tribunal compétent) ergibt sich also, dass Strafgerichte die Kompetenz haben müssen, Personen zu verurteilen und gegen sie eine Strafe oder Sanktion zu verhängen.2084 Während die verfahrensrechtlichen Anforderungen für eine Verurteilung im Sinne des Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a) EMRK nicht in jeder Hinsicht denen des Art. 6 Abs. 1 EMRK entsprechen müssen, ist der Gerichtsbegriff in beiden Normen gleich.2085 Auf andere Verurteilungen, etwa Geldstrafen, lässt sich diese Erkenntnis jedoch nicht übertragen, da in diesem Fall Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a) nicht anwendbar ist. Im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK wird die gerichtliche Entscheidungsbefugnis zur strafrechtlichen Verurteilung vom EGMR vorausgesetzt und nicht näher thematisiert. Da Gerichte konventionsstaatsübergreifend die Kompetenz haben, 2082 EGMR Nr. 8080/08 und 8577/08, Schwabe und M. G. v Deutschland, 01.12.2011, § 74; Nr. 3300/10, S. v Deutschland, 28.06.2012, § 89; Nr. 264/13, Müller v Deutschland (Zul.), 10.02.2015, § 45; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn. 162; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 60; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 21 Rn. 17; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim /  von Raumer, EMRK, Art. 5 Rn. 28; Elberling, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 5 Rn. 29. 2083 Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn.  162; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 5 Rn. 28. Außerdem muss zwischen der Verurteilung und der Freiheitsentziehung ein ausreichender Kausalzusammenhang bestehen, statt aller EGMR Nr. 19359/04, M. v Deutschland, 17.12.2009, §§ 88, 97; Nr. 42750/09, Del Río Prada v Spanien (GK), 21.10.2013, § 124; MeyerLadewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  5 Rn. 29; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn.  165. 2084 Der Begriff der Verurteilung taucht außerdem als Anwendungsvoraussetzung des Art. 7 Abs. 1 EMRK sowie Art. 2–4 ZP 7 auf. In diesem Zusammenhang stellt der EGMR aber ausschließlich auf die Engel-Kriterien und somit die Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK ab, sodass hieraus keine weiterführenden Erkenntnisse abgeleitet werden können. 2085 EGMR Nr. 5100/71 u. a., Engel u. a. v Niederlande (Pl.), 08.06.1976, § 68 (Convention’s notion of a „court“); Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 5 EMRK Rn. 70–71. Siehe zu den einzelnen Gerichtsmerkmalen des Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a)  EMRK Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 57; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 21 Rn. 22; siehe außerdem die Nachweise in Fn. 1765.

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über strafrechtliche Verurteilungen zu entscheiden,2086 verwundert es nicht, dass der EGMR diese Entscheidungsbefugnis im Rahmen seiner Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht vertieft bespricht. b) Insbesondere: Festlegung des Strafmaßes bei einer Freiheitsstrafe Der EGMR befasste sich mehrfach – unter anderem in Stafford v Vereinigtes Königreich, wo der EGMR erstmals das Konzept der Gewaltenteilung erwähnte2087 – damit, ob nicht-gerichtliche Organe wie Minister an der Festsetzung des Strafmaßes einer Freiheitsstrafe beteiligt sein durften.2088 Im Vereinigten Königreich entschied der Innenminister (Home Secretary) nach einer gerichtlichen Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe effektiv über die Länge der Strafe. Er konnte sowohl die Mindestdauer der Haftstrafe bestimmen, bis erstmalig eine Freilassung möglich wurde, als auch das konkrete Datum der Freilassung festlegen.2089 Nachdem der EGMR diese Regelung in den Urteilen Thynne, Wilson und Gunnell und Wynne v Vereinigtes Königreich ursprünglich nicht als konventionswidrig beanstandete hatte,2090 stellte er in den Urteilen der Großen Kammer T v Vereinigtes Königreich und V v Vereinigtes Königreich schließlich einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK fest, weil der Innenminister, der die Länge der Freiheitsstrafe festsetzte, kein unabhängiges Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK war.2091 In Stafford v Vereinigtes Königreich stellte der EGMR erstmals ausführlichere institutionelle Erwägungen an.2092 2086

Siehe bereits die Nachweise in Fn. 1718. Siehe hierzu bereits oben ab S. 106. 2088 EGMR Nr. 11787/85, 11978/86 und 12009/86, Thynne, Wilson und Gunnell v Vereinigtes Königreich (Pl.), 25.10.1990; Nr. 15484/89, Wynne v Vereinigtes Königreich, 18.07.1994; Nr. 24724/94, T v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.1999; Nr. 24888/94, V v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.1999; Nr. 46295/99, Stafford v Vereinigtes Königreich (GK), 28.05.2002; Nr. 28212/95, Benjamin und Wilson v Vereinigtes Königreich, 26.09.2002; Nr. 48015/99, Easterbrook v Vereinigtes Königreich, 12.06.2003; hierzu übersichtlich Masterman, Separation of Powers, S. 74–76; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 106–109. 2089 Zusammenfassend Masterman, Separation of Powers, S. 74; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 106. Die Sachverhaltskonstellationen innerhalb der Urteile variieren leicht. Das ist für die Beurteilung der Konventionskonformität dieser Aufgabenverteilung irrelevant. 2090 EGMR Nr. 11787/85, 11978/86 und 12009/86, Thynne, Wilson und Gunnell v Vereinigtes Königreich (Pl.), 25.10.1990, §§ 73–74; Nr. 15484/89, Wynne v Vereinigtes Königreich, 18.07.1994, §§ 33, 35. 2091 EGMR Nr. 24724/94, T v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.1999, § 113; Nr. 24888/94, V v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.1999, § 114. Der EGMR unterschied den Sachverhalt dieser Fälle jedoch vom Sachverhalt der Urteile Thynne, Wilson und Gunnell v Vereinigtes Königreich sowie Wynne v Vereinigtes Königreich, sodass er sich nicht explizit gegen die früheren Urteile stellen musste, Masterman, Separation of Powers, S. 76. 2092 Außerdem wich der EGMR explizit von seinen früheren Urteilen Thynne, Wilson und Gunnell v Vereinigtes Königreich und Wynne v Vereinigtes Königreich ab, EGMR Nr. 46295/99, Stafford v Vereinigtes Königreich (GK), 28.05.2002, § 79. 2087

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„However, with the wider recognition of the need to develop and apply, in relation to mandatory life prisoners, judicial procedures reflecting standards of independence, fairness and openness, the continuing role of the Secretary of State in fixing the tariff and in deciding on a prisoner’s release following its expiry has become increasingly difficult to reconcile with the notion of separation of powers between the executive and the judiciary, a notion which has assumed growing importance in the case-law of the Court […].“2093

Die sich im Folgenden verfestigende Rechtsprechung bestätigte, dass die Festlegung des Strafmaßes ein fester Bestandteil der Verurteilung und somit eine gerichtliche Aufgabe ist.2094 Die Stafford-Rechtsprechungslinie ist abzugrenzen von den im Rahmen des Folterverbots gemäß Art. 3 EMRK behandelten Fällen, in denen exekutive Organe im Falle einer tatsächlich lebenslang verhängten Freiheitsstrafe über eine vorzeitige Freilassung der Häftlinge entschieden. Eine lebenslang verhängte Freiheitsstrafe ist nur dann mit Art. 3 EMRK vereinbar, wenn der Häftling noch die Aussicht hat, freigelassen zu werden.2095 Ob die Entscheidung über eine vorzeitige Freilassung durch ein exekutives oder judikatives Organ erfolgt, überlässt der EGMR grundsätzlich den Konventionsstaaten.2096 Exekutive Entscheidungen, die eine vorzeitige Entlassung ablehnen, müssen jedoch entweder begründet werden oder es muss den Betroffenen gegen diese Entscheidungen ein Rechtsbehelf zur Verfügung stehen, um den Anschein von Willkür zu verhindern.2097 War das präsidentielle Ermessen im Rahmen eines Begnadigungsgesuchs nicht begrenzt, sodass den Häftlingen nicht klar sein konnte, mit welchem Verhalten sie eine vorzeitige Entlassung erreichen beziehungsweise fördern konnten, erfüllten die präsidentiellen Entscheidungen diese Voraussetzungen nicht.2098 2093

EGMR Nr. 46295/99, Stafford v Vereinigtes Königreich (GK), 28.05.2002, § 78. EGMR Nr. 46295/99, Stafford v Vereinigtes Königreich (GK), 28.05.2002, §§ 79–83; Nr. 28212/95, Benjamin und Wilson v Vereinigtes Königreich, 26.09.2002, §§ 34–38; Nr. 48015/99, Easterbrook v Vereinigtes Königreich, 12.06.2003, §§ 26–29; Nr. 43095/05, Aleksandr Dementyev v Russland, 28.11.2013, § 23; Nr. 70495/10 und 74565/10, Lynch und Whelan (Zul.), 08.07.2014, § 49; Nr. 39718/09, Kereselidze v Georgien, 28.03.2019, § 30; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 107; Ress, Separation of Powers and the Function of the Judiciary, in: Barcellona / Carrino, I diritti umani, S. 187 (195). 2095 EGMR Nr. 10511/10, Murray v Niederlande (GK), 26.04.2016, § 99; Nr. 57592/08, Hutchinson v Vereinigtes Königreich (GK), 17.01.2017, § 42; Nr. 22662/13 u. a., Matiošaitis u. a. v Litauen, 23.05.2017, § 156; Nr. 41216/13, Petukhov v Ukraine Nr. 2, 12.03.2019, § 168; Meyer-Ladewig / L ehnert, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 3 Rn. 58; ­Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 20 Rn. 47; Bank, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 11 Rn. 78. 2096 EGMR Nr. 10511/10, Murray v Niederlande (GK), 26.04.2016, § 99; Nr. 57592/08, ­Hutchinson v Vereinigtes Königreich (GK), 17.01.2017, § 45; Nr. 41216/13, Petukhov v Ukraine Nr. 2, 12.03.2019, § 168. 2097 EGMR Nr. 22662/13 u. a., Matiošaitis u. a. v Litauen, 23.05.2017, § 181; Nr. 41216/13, Petukhov v Ukraine Nr. 2, 12.03.2019, § 178. Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 110 deutet die Einschränkung durch das Urteil Matiošaitis v Litauen als Indiz dafür, dass der EGMR in nächster Zeit die Möglichkeit einer exekutiven Entscheidung gänzlich ablehnen könnte. 2098 EGMR Nr. 22662/13 u. a., Matiošaitis u. a. v Litauen, 23.05.2017, § 181. 2094

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Indem der EGMR für exekutive Entscheidungen über die Verkürzung einer lebenslangen Haft eine Begründungspflicht oder eine Rechtsbehelfsmöglichkeit forderte, verdeutlichte er, dass exekutive Entscheidungen stärker kontrolliert werden müssen als gerichtliche. Gleichwohl zeigt die Rechtsprechung zu Art. 3 EMRK auch, dass das Recht auf eine gerichtliche Entscheidung lediglich die ursprüngliche Festsetzung der Freiheitsstrafe, nicht aber anschließende Verkürzungen betrifft. c) Freisprüche und weitere verfahrensbeendende Entscheidungen Neben einer Verurteilung inklusive Festlegung des Strafmaßes gibt es eine Vielzahl weiterer Möglichkeiten, ein gerichtliches Strafverfahren zu beenden, zuvörderst den Freispruch.2099 Das Recht auf Zugang zum Gericht verlangt nicht, dass jedes Anklage- beziehungsweise Strafverfahren durch eine gerichtliche Entscheidung beendet wird.2100 Auf ein gerichtliches Urteil kann unter anderem verzichtet werden, wenn die Staatsanwaltschaft förmlich beschließt, die Anklage nicht mehr weiter zu verfolgen.2101 Die Beendigung des Anklageverfahrens ist also nicht zwangsläufig Sache des Gerichts. Jedenfalls solange die Staatsanwaltschaft das Verfahren noch nicht ans Gericht weitergegeben hat, kann sie es noch eigenständig beenden. Art. 6 Abs. 1 EMRK schützt also nicht das Recht, die Unschuld gerichtlich feststellen zu lassen.2102 Ein Strafbefehl, für den kein förmliches Gerichtsverfahren unter Anwesenheit des Angeklagten durchgeführt wird, ist ebenfalls konventionskonform, solange der Betroffene die Möglichkeit hat, gegen den Strafbefehl Einspruch einzulegen und so auf eigene Initiative das förmliche Gerichtsverfahren unter Beachtung aller Verfahrensgarantien in Gang zu bringen.2103

2099

Vgl. EGMR Nr. 59493/00, Withey v Vereinigtes Königreich (Zul.), 26.08.2003: „[The end of the proceedings] is generally brought about by an acquittal or a conviction (including a conviction upheld on appeal).“ So auch EGMR Nr. 33506/05, R v Vereinigtes Königreich (Zul.), 04.01.2007; Nr. 37972/05, Niedermeier v Deutschland (Zul.), 03.02.2009. 2100 Sieh bereits die Nachweise in Fn. 2081. 2101 EGMR Nr. 33506/05, R v Vereinigtes Königreich (Zul.), 04.01.2007; Nr. 37972/05, Niedermeier v Deutschland (Zul.), 03.02.2009. 2102 EGMR Nr. 32602/96, Aannemersbedrijf Gebroeders Van Leeuwen B. V. v Niederlande (Zul.), 25.01.2000; Nr. 53329/99, Toeva v Bulgarien (Zul.), 09.09.2004; Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 102; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  6 Rn.  58; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 214. 2103 EGMR Nr. 12129/86, Hennings v Deutschland, 16.12.1992, §§ 26–27; Esser, in: LöweRosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 105; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: MeyerLadewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  6 Rn.  56.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

d) Kontrolle einer durch die Verwaltungsbehörden verhängten Sanktion Ordnungswidrigkeiten wie Verkehrsverstöße,2104 die Störung von Nachbarn2105 und Verstöße gegen die Regeln für die Teilnahme an öffentlichen Versammlungen2106 eröffnen – inzwischen ohne Begründung des EGMR2107 – den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK.2108 Auch wettbewerbsrechtliche Sanktionen2109 und Steuerstrafzahlungen2110 (in Abgrenzung zu den ursprünglichen Steuerfestsetzungen2111) 2104

EGMR Nr. 8544/79, Öztürk v Deutschland (Pl.), 21.02.1984, §§ 53–54; Nr. 9912/82, Lutz v Deutschland (Pl.), 25.08.1987, § 54; Nr. 15963/90, Gradinger v Österreich, 23.10.1995, §§ 7, 36; Nr. 27812/95, Malige v Frankreich, 23.09.1998, §§ 38–39; Nr. 40820/12, Marčan v Kroatien, 10.07.2014, § 33; Nr. 25555/10, Igor Pascari v Moldawien, 30.08.2016, §§ 20–23; Nr. 15347/08, Varadinov v Bulgarien, 05.10.2017, § 41; Nr. 32953/13, Škrlj v Kroatien, 11.07.2019, § 36. 2105 EGMR Nr. 26138/95, Lauko v Slowakei, 02.09.1998, § 58; Nr. 27061/95, Kadubec v Slowakei, 02.09.1998, § 52; Nr. 23470/05, Nicoleta Gheorghe v Rumänien, 03.04.2012, §§ ­25–26; Nr. 75845/12, 75856/12 und 79989/12, Şimşek, Andiç und Boğatekin v Türkei (Zul.), 17.03.2020, § 23. 2106 EGMR Nr. 61821/00, Ziliberberg v Moldawien, 01.02.2005, §§ 32–33; Nr. 53659/07, Kasparov v Russland, 11.10.2016, §§ 42–43. 2107 EGMR Nr. 40820/12, Marčan v Kroatien, 10.07.2014, § 33; Nr. 15347/08, Varadinov v Bulgarien, 05.10.2017, § 41; Nr. 32953/13, Škrlj v Kroatien, 11.07.2019, § 36; Nr. 75845/12, 75856/12 und 79989/12, Şimşek, Andiç und Boğatekin v Türkei (Zul.), 17.03.2020, § 23. 2108 Siehe auch die Aufzählung verschiedener Fallgruppen bei EGMR Nr. 73053/01, Jussila v Finnland (GK), 23.11.2006, § 42; Nr. 5865/07, Butkevich v Russland, 13.02.2018, § 89; Nr. 12307/16, Vyacheslav Korchagin v Russland, 28.08.2018, § 62; Nr. 75845/12, 75856/12 und 79989/12, Şimşek, Andiç und Boğatekin v Türkei (Zul.), 17.03.2020, § 23. Weitere Beispiele: EGMR Nr. 11529/02, Hüseyin Turan v Türkei, 04.03.2008, §§ 18–19 (Geldbuße wegen falschen Angaben über das Arbeitsverhältnis); Nr. 72596/01, Balsytė-Lideikienė v Litauen, 04.11.2008, §§ 56–60 (Verwarnung und Beschlagnahme eines vom Beschwerdeführers herausgegebenen Kalenders mit nationalistischen und antisemitischen Inhalten); Nr. 926/08, Karelin v Russland, 22.09.2016, § 42 (unangemessenes Verhalten in der Öffentlichkeit). Siehe für einen Überblick verwaltungsrechtlicher Vergehen im Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK EGMR Guide on Article 6 of the European Convention on Human Rights – Right to a fair trial (criminal limb) (Fn. 2066), § 36; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 74; Peters / Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 18; Schabas, ECHR, Art. 6, S. 283; Kley-Struller, Der richterliche Rechtsschutz gegen die öffentliche Verwaltung, S. 110–111; Kidd, ICLQ 36 (1987), S. 856 (863–867). 2109 EGMR Nr. 5556/10, SA-Capital Oy v Finnland, 14.02.2019, § 68. 2110 EGMR Nr. 12547/86, Bendenoun v Frankreich, 24.02.1994, §§ 46–48; Nr. 34619/97, Janosevic v Schweden, 23.07.2002, § 68; Nr. 73053/01, Jussila v Finnland (GK), 23.11.2006, § 38 (siehe auch die Darstellung der bisherigen Rechtsprechung zur Einbeziehung von SteuerStreitigkeiten in den strafrechtlichen Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK, §§ 32–35); Nr. 21539/07, Steininger v Österreich, 17.04.2012, §§ 34–37; Nr. 40174/08, Cecchetti v San Marino (Zul.), 09.04.2013, §§ 22–23; Nr. 15485/09, Chap Ltd v Armenien, 04.05.2017, § 36; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 74; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  6 Rn.  29; Schabas, ECHR, Art. 6, S. 284; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (537); Peters / Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 18; Villiger, Handbuch EMRK, Fn. 479. 2111 EGMR Nr. 44759/98, Ferrazzini v Italien (GK), 12.07.2001, § 20; Nr. 77792/01, Mayer v Deutschland (Zul.), 16.03.2006 bezogen auf Zinszahlungen auf die Steuerschuld; Villiger, Handbuch EMRK, Fn. 479.

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

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fallen in den Anwendungsbereich. Bei vorrangig präventiven Maßnahmen handelt es sich hingegen nicht um strafrechtliche Anklagen.2112 Die nationalen Zuständigkeitsordnungen weisen die Sanktionierung von Ordnungswidrigkeiten und geringen Vergehen, die nicht in den Kernbereich des innerstaatlichen Strafrechts fallen, teilweise Verwaltungsbehörden zu. Sofern anschließend ein gerichtlicher Rechtsbehelf zur Verfügung steht, der den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK entspricht, verstößt die Verhängung von Sanktionen durch exekutive Organe nicht gegen die Vorgaben des Art. 6 Abs. 1 EMRK.2113 Die Gerichte müssen in diesen Fällen über eine umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfungskompetenz verfügen.2114 Außerdem muss das zuständige Gericht die Möglichkeit haben, die kontrollierte Sanktion aufzuheben und entweder selbst über die Sache neu zu entscheiden oder die Entscheidung an die zuständige Behörde zurückzuweisen.2115 Welches nicht-gerichtliche Organ die Sanktion erlassen hat, ist unerheblich.2116 Allerdings erlaubt der EGMR die Verhängung von Sanktionen oder Strafen durch 2112

EGMR Nr. 37331/97, Landvreugd v Niederlande (Zul.), 06.06.2000; Nr. 33129/96, Olivieira v Niederlande (Zul.), 06.06.2000 (jeweils das Verbot, für 14 Tage bestimmte Teile der Innenstand zu betreten); Nr. 26780/95, Escoubet v Belgien (GK), 28.10.1999, §§ 33–39 (zeitlich begrenzter Entzug des Führerscheins unmittelbar nach einem Unfall); Nr. 45282/99, Blokker v Niederlande (Zul.), 07.11.2000 (Verpflichtung zur Teilnahme an einem Lehrgang über die Gefahren von Alkohol im Straßenverkehr); Nr. 43862/98, Inocencio v Portugal (Zul.), 11.01.2001 (Strafzahlung, wegen der Durchführung baulicher Maßnahmen ohne Baugenehmigung); Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (534); Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 54; Schabas, ECHR, Art. 6, S. 283. 2113 EGMR Nr. 8544/79, Öztürk v Deutschland (Pl.), 21.02.1984, § 56; Nr. 26138/95, Lauko v Slowakei, 02.09.1998, § 56; Nr. 18640/10 u. a., Grande Stevens u. a. v Italien, 04.3.2014, §§ 138–139; Nr. 47072/15, Produkcija Plus storitveno podjetje d. o. o. v Slowenien, 23.10.2018, §§ 51–52; Nr. 5556/10, SA-Capital Oy v Finnland, 14.02.2019, § 72. Siehe auch im Kontext von Art. 7 EMRK EGMR Nr. 1828/06 u. a., G. I. E. M. S. r. l. u. a. v Italien (GK), 28.06.2018, § 254; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 86; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (551); Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 53, 88; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn.  88; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 57; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 599, siehe auch die Kritik dieser Rechtsprechung S. 604. 2114 Das Erfordernis der full jurisdiction wiederholt der EGMR in Fällen, in denen eine Sanktionierung durch Verwaltungsbehörden in Rede steht, häufig, so etwa EGMR Nr. 47650/99, Silvester’s Horeca Service v Belgien, 04.03.2004, § 26; Nr. 70074/01, Valico S. r. l. v Italien (Zul.), 21.03.2006; Nr. 43509/08, A.  Menarini Diagnostics S. r. l. v Italien, 27.09.2011, § 59; Nr. 47072/15, Produkcija Plus storitveno podjetje d. o. o. v Slowenien, 23.10.2018, § 51; Nr. 5556/10, SA-Capital Oy v Finnland, 14.02.2019, § 72; ausführlich zur full jurisdiction ab S. 475. 2115 EGMR Nr. 15523/89, Schmautzer v Österreich, 23.10.1995, § 36; Nr. 21539/07, Steininger v Österreich, 17.04.2012, §§ 49, 53; vgl. in der konkreten Anwendung EGMR Nr. 4837/06, Segame SA v Frankreich, 07.06.2012, § 56. Diese Kompetenzen für den strafrechtlichen Anwendungsbereich angenommen hat auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 99–102. 2116 Siehe für eine Aufzählung verschiedener exekutiver Stellen Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (551).

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Verwaltungsorgane ausschließlich für geringe Vergehen (minor offences), ohne diesen Begriff abstrakt zu definieren. Unter diesen Sammelbegriff fasst der EGMR die Ordnungswidrigkeiten und Verwaltungsvergehen, die in den meisten Kon­ ventionsstaaten aus dem Kernbereich des Strafrechts hinausfallen, also Verkehrsverstöße,2117 Steuerstrafzahlungen,2118 sonstige Verwaltungsstrafen2119 und Wettbewerbsverstöße2120. Die Entscheidung über eine strafrechtliche Verantwortlichkeit in Fällen des Kernstrafrechts und bei schweren Vergehen müssen die Konventionsstaaten exklusiv den Gerichten zuweisen.2121 Für das Verhältnis zwischen der Judikative und der Exekutive beziehungsweise den politischen Gewalten bedeutet diese Rechtsprechungslage, dass die Exekutive von der Verhängung von Sanktionen und Strafen im Bereich des Kernstrafrechts und der schweren Vergehen ausgeschlossen ist. In diesen Fällen ist den Betroffenen eine erstinstanzliche gerichtliche Entscheidung und damit die Anwendung aller Verfahrensgarantien in erster Instanz zugesichert. Die Entscheidung über Sanktionen bei geringen Vergehen ist hingegen keine exklusive gerichtliche Tätigkeit. Die nationalen Zuständigkeitsordnungen dürfen diese Aufgabe auch Verwaltungsbehörden zuweisen, sofern die Möglichkeit einer anschließenden gerichtlichen Kontrolle besteht. Auch über Sanktionen bei geringen Vergehen müssen also Gerichte letztverbindlich entscheiden können. Damit haben Gerichte auch in diesem Fall die Aufgabe, exekutive Entscheidungen zu kontrollieren.2122 e) Verhängung gerichtlicher Ordnungsmaßnahmen Ob die Verhängung gerichtlicher Ordnungsmaßnahmen den strafrechtlichen Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK eröffnet, hängt von der Subsumtion unter das zweite und das dritte Engel-Kriterium im Einzelfall ab. In einigen Fällen

2117 EGMR Nr. 15523/89, Schmautzer v Österreich, 23.10.1995, §§ 34–36; Nr. 15963/90, Gradinger v Österreich, 23.10.1995, §§ 42–44; Nr. 27812/95, Malige v Frankreich, 23.09.1998, § 45. 2118 EGMR Nr. 12547/86, Bendenoun v Frankreich, 24.02.1994, § 46; Nr. 34619/97, Janosevic v Schweden, 23.07.2002, § 81; Nr. 47650/99, Silvester’s Horeca Service v Belgien, 04.03.2004, §§ 25–26; Nr. 4837/06, Segame SA v Frankreich, 07.06.2012, §§ 54–55. 2119 EGMR Nr. 26138/95, Lauko v Slowakei, 02.09.1998, § 64 (haltlose Anschuldigung einer Familie, Störungen zu verursachen); Nr. 27061/95, Kadubec v Slowakei, 02.09.1998, § 57 (Störung von Gästen in einem Spa durch lautes Verhalten und Weigerung, einer Anordnung durch einen Träger hoheitlicher Gewalt nachzukommen); Nr. 21539/07, Steininger v Österreich, 17.04.2012, §§ 45–46 (Verstoß gegen Zahlungsaufforderung); Nr. 18640/10 u. a., Grande Stevens u. a. v Italien, 04.03.2014, §§ 138–140 (Verstoß gegen Verbot, Falschinformationen zu verbreiten). 2120 EGMR Nr. 5556/10, SA-Capital Oy v Finnland, 14.02.2019, §§ 72, 76. 2121 Esser, Strafverfahrensrecht, S. 603: Bei schwerwiegenden Straftaten muss bereits das erstinstanzliche Verfahren alle Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK erfüllen. 2122 Esser, Strafverfahrensrecht, S. 601.

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

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war der Anwendungsbereich eröffnet,2123 in anderen nicht.2124 Ist der Anwendungsbereich eröffnet, besteht ein Recht auf Zugang zu einem unabhängigen und unparteilichen Gericht. Gerichtliche Ordnungsmaßnahmen werden typischerweise von Gerichten verhängt, sodass entsprechend der zuvor entwickelten Grundsätze keine erneute gerichtliche Kontrollmöglichkeit dieser Ordnungsmaßnahmen möglich sein muss. Problematischer als die gerichtliche Entscheidungskompetenz ist in den contempt of court-Verfahren jedoch die gerichtliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit.2125 f) Zwischenfazit Strafgerichtliche Verfahren können nicht nur durch Verurteilung oder Freispruch, sondern auch durch nicht-förmliche Entscheidungen wie Strafbefehle oder Verfahrenseinstellungen beendet werden. Auch wenn eine strafrechtliche Anklage gegen eine betroffene Person vorliegt, führt dies nicht automatisch zu einem förmlichen Gerichtsverfahren. Jedenfalls vor Beginn der Hauptverhandlung können auch nicht-gerichtliche Organe ein Ermittlungs- beziehungsweise Anklageverfahren beenden. Der EGMR verlangt jedoch, dass gegen nicht-förmliche Entscheidungen zur Beendigung des Verfahrens ein Rechtsbehelf existiert, sodass die betroffene Person selbst das förmliche gerichtliche Verfahren initiieren kann. Verurteilungen, die zu einer Freiheitsstrafe führen, müssen gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a) EMRK von einem Gericht angeordnet werden. Darüber hinaus verlangt Art. 6 Abs. 1 EMRK, dass Gerichte über die Schuld der angeklagten Person und das Strafmaß ohne Einmischung exekutiver Hoheitsträger entscheiden. Eine Ausnahme macht Art. 6 Abs. 1 EMRK jedoch für sogenannte „geringe Vergehen“ (minor offences). In solchen Fällen, typischerweise Ordnungswidrigkeitenverfahren, dürfen auch Verwaltungsbehörden Sanktionen verhängen, wenn den Betroffenen gegen diese Maßnahme der Weg zum Gericht offen steht. Gerichte haben die Aufgabe, die Sanktionierungen durch die Verwaltungsbehörden zu kontrollieren. Für die Betroffenen besteht der Unterschied zwischen beiden Fällen darin, dass die verfahrensrechtlichen Vorgaben des Art. 6 Abs. 1 EMRK erst in der zweiten In­ stanz verpflichtend einzuhalten sind. 2123

EGMR Nr. 73797/01, Kyprianou v Zypern, 27.01.2004, § 31; ohne weitere Ausführungen bestätigt durch EGMR Nr. 73797/01, Kyprianou v Zypern (GK), 15.12.2005, § 64; Nr. 65022/01, Zaicevs v Lettland, 31.07.2007, § 33; Nr. 66484/09, Mariusz Lewandowski v Polen, 03.07.2012, § 28; Nr. 44901/05, Alenka Pečnik v Slowenien, 27.09.2012, §§ 32–34; sehr knapp EGMR Nr. 42010/06, Deli v Moldawien, 22.10.2019, § 30; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 75. 2124 EGMR Nr. 14220/88, Ravnsborg v Schweden, 23.03.1994, § 34; Nr. 18892/91, Putz v Österreich, 22.02.1996, § 33; Nr. 44901/05, Alenka Pečnik v Slowenien, 27.09.2012, § 31; Nr. 68273/14 und 68271/14, Gestur Jónsson und Ragnar Halldór Hall v Island (GK), 22.12.2020, §§ 84–98. 2125 Siehe zu diesen Sonderfällen unten ab S. 577.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

3. Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehungen gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK Anwendungsvoraussetzung für das Recht auf Haftprüfung beziehungsweise das Recht auf Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK ist, dass der betroffenen Person die nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 EMRK geschützte persönliche Freiheit entzogen wurde. Der Schutzbereich der persön­ lichen Freiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 1 EMRK schützt die körperliche Fortbewegungsfreiheit (physical liberty), also das Recht, den aktuellen Aufenthaltsort zu verlassen und einen neuen Ort aufzusuchen.2126 Eine Freiheitsentziehung liegt vor, wenn jemand gegen seinen Willen für eine gewisse Dauer auf einem begrenzten Raum bei Anwendung von staatlichem physischen Zwang festgehalten wird.2127 Das Recht aus Art. 5 Abs. 4 EMRK besteht grundsätzlich bei jeder Freiheitsentziehung.2128 Die einzelnen Tatbestände des Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a)–f) EMRK sind erst Gegenstand der Rechtmäßigkeitsprüfung. Durch diesen Rechtsbehelf wird das Recht der persönlichen Freiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 1 EMRK gegenüber den anderen Konventionsrechten hervorgehoben, die keine besonderen Rechtsschutzgarantien kennen.2129 Art. 13 EMRK verpflichtet die Staaten für den Fall einer behaupteten Verletzung der anderen Konventionsrechte lediglich, eine nicht-gerichtliche Beschwerdeinstanz einzurichten.2130 Für die Haftprüfung sind gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK Gerichte verantwortlich. Art. 5 Abs. 4 EMRK geht Art. 13 EMRK als spezielleres Recht vor.2131 Für die innerstaatliche Gewaltenteilung heißt dies, dass die innerstaatliche Rechtsordnung für Verletzungen des Rechts der persönlichen Freiheit anders als für andere Konventionsverletzungen einen gerichtlichen Rechtsbehelf zur Verfügung stellen muss.

2126

EGMR Nr. 72508/13, Merabishvili v Georgien (GK), 28.11.2017, § 181; Nr. 47287/15, Ilias und Ahmed v Ungarn (GK), 21.11.2019, § 211; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 13 Rn. 32; Peters / Altwicker, EMRK, § 18 Rn. 3; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 21 Rn. 2–3. 2127 EGMR Nr. 61603/00, Storck v Deutschland, 16.06.2005, § 74; Nr. 36760/06, Stanev v Bulgarien (GK), 17.01.2012, § 117; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn.  128; Elberling, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 5 Rn. 6; Peters /  Altwicker, EMRK, § 18 Rn. 5. 2128 EGMR Nr. 11509/85, an der Leer v Niederlande, 21.02.1990, § 28; Grabenwarter / Struth, Justiz- und Verfahrensgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 6 Rn. 30; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 328. 2129 Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 463. 2130 Siehe die Nachweise in Fn. 1825. 2131 EGMR Nr. 30241/11, Buishvili v Tschechien, 25.10.2012, § 38; Nr. 16780/11, 16874/11 und 16879/11, Kahadawa Arachchige u. a. v Zypern, 19.06.2018, § 66; Dörr, in: Dörr / Grote /  Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 13 Rn. 76; Bröhmer, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 139 Rn. 71; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 251; siehe auch die Nachweise in Fn. 1821.

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

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Die Rolle der Gerichte bei der Haftprüfung unterscheidet sich abhängig davon, welche hoheitliche Gewalt die Freiheitsentziehung verfügt hat. Wurde die Freiheitsentziehung von einer Verwaltungsbehörde angeordnet, müssen die Konventionsstaaten den Betroffenen in jedem Fall die Möglichkeit zur Haftprüfung einräumen.2132 Die gerichtliche Rechtmäßigkeitskontrolle einer durch die Exekutive angeordneten Freiheitsentziehung ist der primäre Zweck der Haftprüfung gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK.2133 Ordnet hingegen ein Gericht die Freiheitsentziehung an, ist die Haftprüfung bereits in der gerichtlichen Haftanordnung inkorporiert, wenn sich die die Freiheitsentziehung rechtfertigenden Umstände nicht mit Zeitablauf verändern können. Dies ist vor allem bei einer Freiheitsstrafe der Fall, deren gesamte Dauer der Bestrafung dient.2134 Können sich die Umstände, welche die Rechtmäßigkeit der Haft begründen, jedoch verändern – etwa bei der Untersuchungshaft oder einer Freiheitsentziehung aus therapeutischen oder präventiven Gründen –, hat der Betroffene in regelmäßigen Abständen einen Anspruch auf (erneute) Haftprüfung.2135 Anders als bei der exekutiv angeordneten Freiheitsentziehung müssen gerichtlich angeordnete Freiheitsentziehungen also nicht per se kontrolliert werden. Art. 5 Abs. 4 EMRK muss lediglich eine Haftprüfung bei veränderten Umständen ermöglichen. Gerichtlichen Anordnungen zur Freiheitsentziehung wird damit anders als exekutiven Anordnungen keine grundsätzliche Kontrollbedürftigkeit unterstellt.

2132 Grundlegend EGMR Nr. 2832/66, 2835/66 und 2899/66, de Wilde, Ooms und Versyp v Belgien (Pl.), 18.06.1971, § 76; außerdem EGMR Nr. 9019/80, Luberti v Italien, 23.02.1984, § 31; Nr. 55861/00, Svetoslav Dimitrov v Bulgarien, 07.02.2008, § 66; Nr. 62400/10, Soliyev v Russland, 05.06.2012, § 50; Nr. 64809/10, Khodzhamberdiyev v Russland, 05.06.2012, § 103; Nr. 73455/11, Sidikovy v Russland, 20.06.2013, § 176; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 13 Rn. 77; Peukert, in: Frowein / Peukert, EMRK, Art. 5 Rn. 128; Renzikowski, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 5 Rn. 326 (2009); Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 5 EMRK Rn. 252, 254; Kley-Struller, Der richterliche Rechtsschutz gegen die öffentliche Verwaltung, S. 136; Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 469. 2133 Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn.  77. 2134 EGMR Nr. 2832/66, 2835/66 und 2899/66, de Wilde, Ooms und Versyp v Belgien (Pl.), 18.06.1971, § 76; Nr. 62400/10, Soliyev v Russland, 05.06.2012, § 50; Nr. 73455/11, Sidikovy v Russland, 20.06.2013, § 176; Nr. 7997/08, Kuttner v Österreich, 16.07.2015, § 29; Nr. 71545/​11, Ivan Todorov v Bulgarien, 19.01.2017, § 59; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 13 Rn. 77; Elberling, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 5 Rn. 99; Kley-Struller, Der richterliche Rechtsschutz gegen die öffentliche Verwaltung, S. ­138–139. 2135 EGMR Nr. 28212/95, Benjamin und Wilson v Vereinigtes Königreich, 26.09.2002, § 33; Nr. 50272/99, Hutchison Reid v Vereinigtes Königreich, 20.02.2003, § 66; Nr. 71545/11, Ivan Todorov v Bulgarien, 19.01.2017, § 59; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn.  78; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 5 EMRK Rn. 253; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 5 Rn. 95; Kley-Struller, Der richterliche Rechtsschutz gegen die öffentliche Verwaltung, S. 138–139; ausführlich Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 468–475.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Die erneute Haftprüfung soll vielmehr sicherstellen, dass die Freiheitsentziehung nicht durch veränderte Umstände rechtwidrig geworden ist. Der Rechtsschutz durch die Haftprüfung ist nur dann wirksam, wenn das Gericht im Fall einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung die Freilassung verbindlich anordnen kann.2136 Eine reine Empfehlung der Gerichte an ein anderes letztverbindlich entscheidendes Organ ist nicht ausreichend,2137 selbst wenn dieser Empfehlung üblicherweise gefolgt wird.2138 Die nationalen Zuständigkeitsordnungen müssen den Haftprüfungsgerichten die Kompetenz zuweisen, die Freiheitsentziehung entweder zu bestätigen oder im Falle der Rechtswidrigkeit die Freilassung anzuordnen und dadurch die Beschwer zu beenden. Eine Haftprüfung darf auch dazu führen, dass vom Gericht eine andere Form der Freiheitsentziehung angeordnet wird2139 oder dass eine Freilassung nur unter Kaution erfolgt.2140 Diese gericht­lichen Kompetenzen gibt die EMRK den Konventionsstaaten allerdings nicht verpflichtend vor. 4. Kontrolle einer Untersuchungs- oder Präventivhaft gemäß Art. 5 Abs. 3 EMRK Für eine Person, die sich gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. c)  EMRK in Untersuchungs- oder Präventivhaft2141 befindet, gewährleistet Art. 5 Abs. 3 EMRK das Recht auf eine unverzügliche Vorführung vor einen Richter oder eine gesetzlich zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben ermächtigte Person. Untersuchungshaft

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EGMR Nr. 3455/05, A u. a. v Vereinigtes Königreich (GK), 19.02.2009, § 202; Nr. 16483/12, Khlaifia u. a. v Italien (GK), 15.12.2016, § 131; Nr. 10211/12 und 27505/14, Ilnseher v Deutschland (GK), 04.12.2018, § 251; Elberling, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 5 Rn. 102; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn.  82. 2137 EGMR Nr. 22414/93, Chahal v Vereinigtes Königreich (GK), 15.11.1996, § 130; Nr. 28212/95, Benjamin und Wilson v Vereinigtes Königreich, 26.09.2002, §§ 33–34; Nr. 16483/12, Khlaifia u. a. v Italien (GK), 15.12.2016, § 128; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 322; Peukert, in: Frowein / Peukert, EMRK, Art. 5 Rn. 133; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 13 Rn. 82. 2138 EGMR Nr. 28212/95, Benjamin und Wilson v Vereinigtes Königreich, 26.09.2002, §§ ­34–36; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn.  82. 2139 EGMR Nr. 7997/08, Kuttner v Österreich, 16.07.2015, § 31. 2140 EGMR Nr. 11956/07, Stephens v Malta Nr. 1 (Zul.), 21.04.2009, § 102; Dörr, in: Dörr /  Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn.  93. 2141 Dass auch die Präventiv- und nicht nur die Untersuchungshaft das Recht aus Art. 5 Abs. 3 EMRK eröffnet, stellte der EGMR klar in EGMR Nr. 35553/12 u. a., S., V. und A. v Dänemark (GK), 22.10.2018, §§ 114, 118, 128. Damit kehrte der EGMR nach einer zwischenzeitlichen Rechtsprechungsänderung zu seiner früheren Auslegung in EGMR Nr. 332/57, Lawless v Irland Nr. 3, 01.07.1961, § 14 zurück; noch auch Lawless abstellend Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 204; siehe ebenfalls Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 13 Rn. 49; allein auf die Untersuchungshaft abstellend aber Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 5 EMRK Rn. 205.

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

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meint die Festnahme wegen dringenden Tatverdachts,2142 Präventivhaft soll eine Straftat verhindern.2143 Das Recht auf richterliche Vorführung besteht unabhängig davon, welches Organ die Haft angeordnet hat. Die richterliche Vorführung muss also nicht nur bei einer exekutiven Entscheidung, sondern auch im Fall einer gerichtlichen Anordnung erfolgen.2144 Das Gericht beziehungsweise die Amtsperson mit richterlichen Befugnissen prüft einerseits die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen der Haft.2145 Andererseits soll die Vorführung verhindern, dass die festgenommene Person misshandelt wird.2146 Kommt ein Gericht zu dem Ergebnis, dass die Freiheitsentziehung rechtswidrig ist, muss es die Haftentlassung anordnen können.2147 Wurde eine Untersuchungs- oder Präventivhaft so kurzfristig wieder beendet, dass eine judikative Entscheidung noch nicht möglich war, verstößt dies nicht gegen Art. 5 Abs. 3 EMRK.2148 Die Entscheidungsbefugnis muss nicht über die Anordnung zur Haftentlassung beziehungsweise die Feststellung einer rechtmäßigen Haft hinausgehen. Insbesondere muss der Richter oder die Amtsperson mit richterlichen Befugnissen nicht 2142

EGMR Nr. 16538/17, Şahin Alpay v Türkei, 20.03.2018; Nr. 59133/11, Fernandes Pedroso v Portugal, 12.06.2018, § 87; Nr. 14305/17, Selahattin Demirtaş v Türkei Nr. 2 (GK), 20.12.2020, § 314; Villiger, Handbuch EMRK, Rn. 412. Wird jemand zur Verhinderung einer Flucht (dritte Variante des Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. c) EMRK) festgenommen, stellt dies ebenfalls eine Untersuchungshaft im Sinne der ersten Variante dar, Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 13 Rn. 186. Die dritte Variante ist vor allem relevant, um die Fortdauer einer Untersuchungshaft zu begründen und für den Anspruch auf richterliche Haftprüfung nicht von Bedeutung, Bleichrodt, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 439 (456). 2143 EGMR Nr. 35553/12 u. a., S., V. und A. v Dänemark (GK), 22.10.2018, § 104; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn.  196. 2144 Für den Sonderfall der vorherigen gerichtlichen Anordnung EGMR Nr. 9017/80, McGoff v Schweden, 26.10.1984, § 27; Nr. 2192/03, Harkmann v Estland, 11.07.2006, §§ 37–38; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 206; Elberling, in: Karpenstein / Mayer, Art.  5 Rn. 111. Anderer Ansicht Peukert, in: Frowein / Peukert, EMRK, Art. 5 Rn. 101. 2145 EGMR Nr. 31195/96, Nikolova v Bulgarien, 25.03.1999, § 49; Nr. 25642/94, Aquilina v Malta (GK), 29.04.1999, § 52; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn.  52; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Rn. 78. 2146 EGMR Nr. 25642/94, Aquilina v Malta (GK), 29.04.1999, § 49; Nr. 11036/03, Ladent v Polen, 18.03.2008, § 72; Nr. 3394/03, Medvedyev u. a. v Frankreich (GK), 29.03.2010, § 120; Elberling, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 5 Rn. 111; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 200 . 2147 EGMR Nr. 24760/94, Assenov v Bulgarien, 28.10.1998, § 146; Nr. 31195/96, Nikolova v Bulgarien, 25.03.1999, § 49; Nr. 27915/95, Niedbała v Polen, 04.07.2000, § 48; Nr. 26289/12, Magee u. a. v Vereinigtes Königreich, 12.05.2015, § 81; Nr. 70474/11 und 68036/12, Kiril Zlatkov Nikolov v Frankreich, 10.11.2016, § 41; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 13 Rn. 52, 54; Elberling, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 5 Rn. 113; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 212; Schabas, ECHR, Art. 5, S. 249. 2148 Siehe hierzu schon die Nachweise in Fn. 1781.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

notwendigerweise dafür zuständig sein, eine Freilassung auf Kaution anzuordnen. Die Entscheidung, eine festgenommene Person auf Kaution freizulassen, enthält Zweckmäßigkeitserwägungen, die die Gerichtsbehörde nach dem Gewährleistungsgehalt des Rechts nicht anstellen können muss. „In order to ensure that the right guaranteed is practical and effective, not theoretical and illusory, it is not only good practice, but highly desirable in order to minimise delay, that the judicial officer who conducts the first automatic review of lawfulness and the existence of a ground for detention also has the competence to consider release on bail. It is not, however, a requirement of the Convention and there is no reason in principle why the issues cannot be dealt with by two judicial officers, within the requisite time frame.“2149

Das Gericht oder die Amtsperson mit richterlichen Befugnissen kontrolliert nachträglich die Anordnung der Untersuchungs- oder Präventivhaft, unabhängig davon, durch welches hoheitliche Organ sie erfolgte. Keine hoheitliche Stelle, weder die Staatsanwaltschaft noch eine andere exekutive Behörde oder ein Gericht, kann einer Person ohne anschließende Kontrolle die Freiheit zur Verhinderung einer Straftat oder wegen eines Tatverdachts entziehen.2150 Die Judikative hat somit hinsichtlich der Untersuchungs- und Präventivhaft die Aufgabe zu prüfen, ob die Haftvoraussetzungen noch vorliegen und zu verhindern, dass die betroffenen Personen misshandelt werden. Einen Richtervorbehalt für die ursprüngliche Anordnung der Untersuchungs- oder Präventivhaft enthält die EMRK jedoch nicht.2151 Wird die Haft von exekutiven Organen, etwa den Strafverfolgungsbehörden angeordnet, ist dies ein weiteres Beispiel für die weitreichende Kontrollbefugnis der Gerichte über exekutive Entscheidungen. Ein weiteres Kontrollelement gegenüber der Exekutive besteht darin, dass die judikativen Organe auch körperliche oder psychische Misshandlungen der festgenommenen Personen verhindern sollen. Der EGMR beschreibt die Kontrolle der Exekutive als wesentlichen Zweck des Art. 5 Abs. 3 EMRK.2152 Wurde die Haft ursprünglich von einem Gericht angeordnet, bleibt der Zweck der Verhinderung von Misshandlungen durch die Exekutive bestehen. Darüber hinaus liegt jedoch auch ein Fall der innerfunktionalen Gewaltenteilung vor, da auch die gerichtliche Anordnungsentscheidung durch eine andere gerichtliche Stelle kontrolliert wird. Hierin liegt ein Unterschied zu den Rechten auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie Art. 5 Abs. 4 EMRK, die jeweils keine erneute Kontrolle einer rechtsgestaltenden gerichtlichen Entschei 2149

EGMR Nr. 543/03, McKay v Vereinigtes Königreich (GK), 03.10.2006, §§ 36, 47; dem folgend EGMR Nr. 18837/06, Allen v Vereinigtes Königreich, 30.03.2010, §§ 50–51; Nr. 26289/12, Magee u. a. v Vereinigtes Königreich, 12.05.2015, § 101; siehe auch Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 212; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 5 Rn. 78; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 13 Rn. 54. 2150 Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 103. 2151 Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 105; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 21 Rn. 28; Peukert, in: Frowein / Peukert, EMRK, Art. 5 Rn. 67. 2152 Siehe bereits die Nachweise in Fn. 1783.

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

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dung, wie der Anordnung von Disziplinarmaßnahmen gegen Richter oder einer Freiheitsentziehung, gewährleisten.2153 Art. 5 Abs. 3 EMRK entspricht daher eher Art. 2 ZP 7, der für den Fall einer strafrechtlichen Verurteilung den Zugang zu einer zweiten gerichtlichen Instanz garantiert.2154 5. Streitigkeiten außerhalb der gerichtlichen Zuständigkeit Durch eine extensive Rechtsprechung hat der EGMR die Anwendungsbereiche des Art. 6 Abs. 1 EMRK stetig ausgeweitet. Dadurch erweiterte sich auch die Verpflichtung der Konventionsstaaten, gerichtliche Rechtsbehelfe einzurichten. Wenn jedoch kein Anwendungsbereich eines Rechts auf Zugang zum Gericht eröffnet ist, besteht keine konventionsrechtliche Pflicht zur Einrichtung eines gerichtlichen Rechtsbehelfs. Selbstredend verbietet die EMRK den Konventionsstaaten nicht, den Gerichten dennoch Zuständigkeiten in den nicht von den Anwendungsbereichen umfassten Rechtsbereichen zuzuweisen. In jedem Fall müssen die Konventionsstaaten die institutionellen Anforderungen des Art. 13 EMRK umsetzen, sofern eine Streitigkeit über die Verletzung von Konventionsrechten vorliegt. Aus dem Anwendungsbereich des civil limb des Art. 6 Abs. 1 EMRK ausgeschlossen sind politische Streitigkeiten über das aktive oder passive Wahlrecht, Disziplinarmaßnahmen gegen Abgeordnete, Parteiverbote, die Verleihung der Staatsangehörigkeit sowie Streitigkeiten über Aufenthalts- und Asylrechte und Steuerfragen.2155 In Streitigkeiten über das Wahlrecht, Wahlprüfungsverfahren, Abgeordnetenrechte, Parteimitgliedschaften oder Parteiverbotsverfahren reicht es dem EGMR bereits aus, dass es sich hierbei um politische Rechte handelt.2156 Auch bei Steuerstreitigkeiten überwiegt trotz ihrer finanziellen Auswirkungen typischerweise der öffentlich-rechtliche Charakter, weil ein Kernbereich der Hoheitsgewalt

2153 Im Rahmen des Art. 5 Abs. 4 EMRK gilt ausnahmsweise etwas anderes, wenn sich die rechtfertigenden Umstände der Freiheitsentziehung mit der Zeit ändern können, siehe hierzu bereits die Nachweise in Fn. 2134 und 2135. 2154 Siehe zu Art. 2 ZP 7 ausführlich ab S. 697. 2155 Siehe auch den Überblick bei Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig /  Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 22; Villiger, Handbuch EMRK, Rn. 471; Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 18; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (515–519). 2156 EGMR Nr. 24194/94, Pierre-Bloch v Frankreich, 21.10.1997, § 50; (zum Wahlrecht); Nr. 41340/98 u. a., Refah Partisi u. a. v Türkei (Zul.), 03.10.2000 (Parteiverbot); Nr. 22723/93 u. a., Yazar u. a. v Türkei, 09.04.2002, § 66 (Parteiverbot); Nr. 58278/00, Zdanoka v Lettland (Zul.), 06.03.2003 m. w. N. (zum Wahlrecht); Nr. 344/04, Papon v Frankreich (Zul.), 11.10.2005 (Streitigkeit über Anspruch auf eine Pension nach Abgeordnetentätigkeit); Nr. 38258/03, van Vondel v Niederlande (Zul.), 23.03.2006 (Pflicht, in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss auszusagen); Nr. 22717/17, Cătăniciu v Rumänien (Zul.), 13.11.2018, § 35 (Streitigkeiten über Interessenkonflikt mit Abgeordnetentätigkeit); zu dieser Fallgruppe Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 37–38.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

(part of the hard core of public-authority prerogatives) betroffen ist.2157 Der zivilrechtliche Anwendungsbereich kann jedoch eröffnet sein, wenn der Bürger an dem Zweck der Abgabe ein individuelles Interesse hat2158 oder wenn Streitigkeiten mit steuerlichen Bezügen ein unstrittig ziviles Recht wie das Recht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung2159 betreffen.2160 Im Leiturteil Maaouia v Frankreich zum Ausschluss ausländerrechtlicher Streitigkeiten aus dem zivilrechtlichen Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK argumentierte der EGMR, dass Art. 1 ZP 7 spezielle Verfahrensgarantien für die Ausweisung von Ausländern enthält und dass der Explanatory Report zu ZP 7 von der Nicht-Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK für ausländerrechtliche Streitigkeiten ausgeht.2161 Genauso wie bei der Verleihung der Staatsangehörigkeit2162 handelt es sich bei der Ausweisung von Ausländern um Entscheidungen, die in engem Zusammenhang mit der Erhaltung der staatlichen Souveränität stehen und damit primär um politische Fragen. Zusammenfassend fallen somit nur noch solche Entscheidungen aus dem zivilrechtlichen Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK heraus, die eine starke politische Komponente haben beziehungsweise die den Kernbereich der innerstaatlichen Hoheitsgewalt betreffen. Ausländerrechtliche und steuerrechtliche Streitigkeiten sind auch aus dem strafrechtlichen Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK ausgeschlossen. Während Steuerstrafzahlungen den Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK eröffnen,2163 stellen die Steuern selbst keine Sanktion dar.2164 Entscheidungen über Auslieferungen 2157

EGMR Nr. 44759/98, Ferrazzini v Italien (GK), 12.07.2001, §§ 29–30; dem ohne nähere Begründung folgend EGMR Nr. 34619/97, Janosevic v Schweden, 23.07.2002, § 64; Nr. 73053/01, Jussila v Finnland (GK), 23.11.2006, § 29; aktueller EGMR Nr. 31651/08, Formela v Polen (Zul.), 05.02.2019, § 127; Nr. 55092/16, Baltic Master Ltd v Litauen, 16.04.2019, § 29; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (515–517); Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 120–121. 2158 EGMR Nr. 38033/02, Stork v Deutschland, 13.07.2006, § 28. 2159 EGMR Nr. 18497/03, Ravon u. a. v Frankreich, 21.02.2008, § 24. 2160 Hierzu zusammenfassend Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 39. 2161 EGMR Nr. 39652/98, Maaouia v Frankreich (GK), 05.10.2000, §§ 36–38 mit wörtlicher Zitierung des Explanatory Reports; ohne weitere Begründung EGMR Nr. 65964/01, Peñafiel Salgado v Spanien (Zul.), 16.04.2002; Nr. 11103/03, M. G. v Deutschland (Zul.), 16.09.2004; Nr. 24668/03, Olaechea Cahuas v Spanien, 10.08.2006, § 59; Nr. 11230/07, Panjeheighalehei v Dänemark (Zul.), 13.10.2009; Nr. 964/07, Dalea v Frankreich (Zul.), 02.02.2010; hierzu auch Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (517–518); Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 22; Breitenmoser, Die Bedeutung der EMRK im Ausländerrecht, in: Renzikowski, Die EMRK im Privat-, Straf- und Öffentlichen Recht, S. 197 (227–228). 2162 Ohne Begründung EGMR Nr. 14085/04, Sergey Smirnov v Russland (Zul.), 06.07.2006 zum Recht auf eine Staatsangehörigkeit und das Recht auf einen Pass. In der Sache EGMR Nr. 40892/98, Koua Poirrez v Frankreich (Zul.), 13.03.2001 musste der EGMR die Beschwerde nicht näher prüfen, da sie nicht substantiiert begründet war. Vgl. auch Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 38. 2163 Siehe die Nachweise in Fn. 2110. 2164 Siehe die Nachweise in Fn. 2111.

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

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und Ausweisungen von Ausländern ordnete der EGMR als special preventive measure for the purposes of immigration control ein und damit nicht als strafrechtliche Anklage.2165 In der Fallgruppe der politischen Streitigkeiten gibt es eine Vielzahl verschiedener Fallgestaltungen, die der EGMR im Rahmen des strafrechtlichen Anwendungsbereichs bereits angesprochen hat.2166 Ein Streit über die Auflösung einer Partei sowie das Verbot der Beschwerdeführer, eine neue Partei zu gründen und zu führen, ordnete der EGMR als Streit über ein politisches Recht ein, sodass auch der strafrechtliche Anwendungsbereich nicht eröffnet war.2167 In der Sache Paksas v Litauen entschied der EGMR, dass Amtsenthebungsverfahren gegen Staatspräsidenten ebenfalls nicht in den strafrechtlichen Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK fallen, wenn nicht über die strafrechtliche, sondern über die verfassungsrechtliche Verantwortlichkeit gestritten wird.2168 Das Amtsenthebungsverfahren gegen einen Premierminister in der Sache Haarde v Island fiel konsequenterweise in den strafrechtlichen Anwendungsbereich, weil das innerstaatliche Recht den Streit als strafrechtlich eingeordnet hatte, sodass das erste Engel-Kriterium erfüllt war.2169 Unabhängig davon, um welches Amt es geht, hängt die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK in Amtsenthebungsverfahren also von der innerstaatlichen Einordnung des Verfahrens ab. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss mit dem Auftrag, die Mafia und die organisierte Kriminalität in Kalabrien zu untersuchen, fiel ebenfalls nicht in den strafrechtlichen Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK, weil der Ausschuss das Phänomen der organisierten Kriminalität als solches untersuchte und nicht über die strafrechtliche Verantwortlichkeit einzelner Personen entscheiden konnte.2170

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EGMR Nr. 39652/98, Maaouia v Frankreich (GK), 05.10.2000, § 39; dem folgend EGMR Nr. 42052/98, Lakatos v Tschechien (Zul.), 23.10.2001; Nr. 14594/07 u. a., Berdzenishvili u. a. v Russland, 20.12.2016, § 121; zu dieser Fallgruppe Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (537–538). 2166 Siehe zusammenfassend EGMR Guide on Article  6 of the European Convention on ­Human Rights – Right to a fair trial (criminal limb) (Fn. 2066), §§ 43–44. 2167 EGMR Nr. 41340/98 u. a., Refah Partisi (The Welfare Party) u. a. v Türkei (Zul.), 03.10.2000. 2168 EGMR Nr. 34932/04, Paksas v Litauen (GK), 06.01.2011, § 66; Schabas, ECHR, Art. 6, S. 284; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 83. Darüber hinaus argumentierte der EGMR, dass das Parlament über eine Amtsenthebung entscheiden müsse (§ 66). Hierbei handelt es sich um ein Zirkelargument, da sich die Einordnung einer strafrechtlichen Anklage nicht danach entscheiden darf, welches Organ zuständig ist. So könnten die Konventionsstaaten durch die Ausgestaltung ihrer Zuständigkeitsordnung die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Art. 6 Abs. 1 EMRK verhindern. 2169 EGMR Nr. 66847/12, Haarde v Island, 23.11.2017, §§ 77–79. 2170 EGMR Nr. 64713/01, Montera v Italien (Zul.), 09.07.2002; dem folgend EGMR Nr. 38258/03, van Vondel v Niederlande (Zul.), 23.03.2006; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 98; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 32; Schabas, ECHR, Art. 6, S. 284; mit Verweis auf die EKMR schon Vogler, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 208 (1986).

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Bereits mehrfach waren Lustrationsverfahren nach politischen Regimewechseln Gegenstand von EGMR-Entscheidungen.2171 Der Zweck der Lustrationsverfahren war nicht die Bestrafung der Betroffenen, sondern die Wiederherstellung des Vertrauens in die staatlichen Institutionen.2172 Die Beschwerdeführer hatten ihre aktuellen hoheitlichen Posten aufgrund ihrer früheren Tätigkeit unter einem alten Regime beim Geheimdienst oder in der machthabenden Partei verloren beziehungsweise durften für eine längere Zeit keine Posten im öffentlichen Dienst mehr bekommen.2173 Diese früheren Tätigkeiten ordnete der EGMR nicht nach ihrer Natur, also unter dem zweiten Engel-Kriterium, als strafrechtliches Vergehen ein.2174 Der Jobverlust und das Beschäftigungsverbot erfüllten auch nicht das dritte Engel-Kriterium einer ausreichend schweren Sanktion.2175 Damit war der Anwendungsbereich nicht eröffnet. Anders entschied der EGMR jedoch in der Sache Matyjek v Polen, in welcher der beschwerdeführende Abgeordnete nicht wegen seiner früheren Arbeit für den Geheimdienst sanktioniert wurde, sondern dafür, dass er diese im Lustrationsverfahren nicht angegeben hatte.2176 Ein Verstoß gegen die Verpflichtung, korrekte Angaben zu machen, sei ein Vergehen, das üblicherweise zu strafrechtlichen Sanktionen führe. Die Strafnorm hatte nicht das Ziel, Taten während des kommunistischen Regimes, sondern kontextunabhängig die falschen Angaben in der Erklärung zu sanktionieren.2177 Auch wahlrechtliche Streitigkeiten können aus dem strafrechtlichen Anwendungsbereich des Art. 6 ausgeschlossen sein. In Pierre Bloch v Frankreich ordnete der EGMR das Verbot, sich zur Wahl zu stellen und die Pflicht zu einer Strafzahlung, weil ein Kandidat zu viel Geld für den Wahlkampf ausgegeben hatte, nach dem zweiten und dritten Engel-Kriterium nicht als Strafe ein, sondern als Maßnahme, um den ordnungsgemäßen Ablauf der Wahl sicherzustellen.2178 Gleichwohl hängt dies von den anwendbaren Regelungen im Einzelfall ab.2179

2171

Hierzu Schabas, ECHR, Art. 6, S. 284. EGMR Nr. 58812/15 u. a., Polyakh u. a. v Ukraine, 17.10.2019, § 135. 2173 EGMR Nr. 55480/00 und 59330/00, Sidabras und Džiautas v Litauen (Zul.), 01.07.2003; Nr. 58812/15 u. a., Polyakh u. a. v Ukraine, 17.10.2019, § 24. 2174 EGMR Nr. 55480/00 und 59330/00, Sidabras und Džiautas v Litauen (Zul.), 01.07.2003; Nr. 58812/15 u. a., Polyakh u. a. v Ukraine, 17.10.2019, § 156. 2175 EGMR Nr. 55480/00 und 59330/00, Sidabras und Džiautas v Litauen (Zul.), 01.07.2003; Nr. 58812/15 u. a., Polyakh u. a. v Ukraine, 17.10.2019, § 157. 2176 EGMR Nr. 38184/03, Matyjek v Polen (Zul.), 30.05.2006, §§ 3–5. 2177 EGMR Nr. 38184/03, Matyjek v Polen (Zul.), 30.05.2006, §§ 52–53. Die Deutung von ­Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 78, dass Berufsverbote den strafrechtlichen Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK eröffnen, greift vor diesem Hintergrund zu kurz. 2178 EGMR Nr. 24194/94, Pierre-Bloch v Frankreich, 21.10.1997, §§ 56–59. 2179 Vgl. EGMR Nr. 24194/94, Pierre-Bloch v Frankreich, 21.10.1997, § 60. 2172

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

469

6. Analyse Welche gerichtlichen Tätigkeiten die EMRK von den innerstaatlichen Gerichten verlangt, hängt vom Streitgegenstand und damit vom Anwendungsbereich ab. Sobald ein Anwendungsbereich eröffnet ist, ergeben sich aus den Gewährleistungsgehalten der jeweiligen Konventionsrechte Vorgaben an die gerichtlichen Kompetenzen. a) Erscheinungsformen gerichtlicher Kontrollund Gestaltungsentscheidungen In zivilrechtlichen Streitigkeiten zwischen zwei Privatpersonen reicht es bisweilen aus, dass Gerichte lediglich die Rechtslage feststellen, zu deren Umsetzung die Prozessparteien anschließend, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme staatlicher Zwangsvollstreckungsmechanismen, verpflichtet sind. Bei strafrechtlichen Verurteilungen werden Gerichte rechtsgestaltend tätig, da sie nicht nur die Strafbarkeit einer angeklagten Person feststellen, sondern auch deren Strafmaß festlegen. Sowohl in den zivilrechtlichen als auch in den strafrechtlichen Anwendungsbereich fallen Streitigkeiten zwischen Bürger und Staat, in denen die EMRK den Gerichten die Aufgabe zuweist, exekutive Entscheidungen zu kontrollieren. Dies ist zum einen der Fall, wenn Verwaltungsbehörden belastende Maßnahmen gegen die Beschwerdeführer erlassen. Hierbei kann es sich um belastende Verwaltungsakte handeln, um die Verhängung von Verwaltungsstrafen oder Sanktionen aufgrund von Ordnungswidrigkeiten sowie um die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen durch hoheitliche Organe wie Richterräte oder Spruchkörper von Selbstverwaltungskörperschaften. Zum anderen können Gerichte auch dafür zuständig sein, nicht-gerichtliche Streitentscheidungen durch Verwaltungsspruchkörper zu kontrollieren. In diesen Fällen kontrollieren die Gerichte den der Streitigkeit zugrunde liegenden gestaltenden Rechtsakt nur inzident, aber gleichwohl umfassend. Die gerichtliche Kontrolle muss die erste nicht-gerichtliche Streitentscheidung umfänglich rechtlich und tatsächlich prüfen, sodass die Kontrollintensität im Vergleich zur unmittelbaren gerichtlichen Kontrolle eines Verwaltungsaktes nicht reduziert ist. Unabhängig vom konkreten Kontrollgegenstand verlangt der EGMR die gleichen gerichtlichen Kompetenzen. Gerichte müssen den kontrollierten Hoheitsakt im Falle seiner Rechtswidrigkeit aufheben können. Außerdem müssen die Gerichte entweder selbst neu über die Sache entscheiden oder die Sache zur Entscheidung zurückverweisen können.2180 Indem der EGMR den Konventionsstaaten zwei gleichwertige Möglichkeiten eröffnet, lässt er ihnen einen Spielraum bei der 2180

Siehe die Nachweise in Fn. 2012 und Fn. 2115.

470

Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Ausgestaltung des Rechtswegs und der gerichtlichen Zuständigkeiten. Es ist den Konventionsstaaten freigestellt, ob Gerichte gegenüber der Exekutive rein kontrollierend tätig werden oder ob die Gerichte rechtsgestaltende Entscheidungen treffen und damit die Gestaltungsaufgabe der Exekutive übernehmen dürfen, wenn diese zunächst eine rechtswidrige Entscheidung getroffen hat. Genauso ist es den Konventionsstaaten ohne Rechtfertigungsdruck freigestellt, der gerichtlichen eine nicht-gerichtliche Kontrolle vorzuschalten, sofern dadurch nicht die Intensität der gerichtlichen Kontrolle gemindert wird. Bei Disziplinarverfahren kontrollieren Gerichte typischerweise die Sanktionen, die von Disziplinarorganen beschlossen wurden. Handelt es sich bei den Disziplinarorganen um hoheitliche Stellen, etwa Richterräte oder gesetzlich eingerichtete Organe von Selbstverwaltungskörperschaften, dann existiert ein hoheitliches Kontrollverhältnis zwischen den Disziplinarorganen und den Gerichten. Alternativ erlaubt die EMRK den Konventionsstaaten, Disziplinarentscheidungen direkt Gerichten zuzuweisen. In diesem Fall werden Gerichte wiederum rechtsgestaltend tätig. Der EGMR macht den Konventionsstaaten unabhängig davon, ob der zivilrechtliche oder der strafrechtliche Anwendungsbereich eröffnet ist, die gleichen Vorgaben hinsichtlich der gerichtlichen Kompetenzen.2181 Das Kontrollverhältnis zwischen Exekutive und Judikative ist in beiden Anwendungsbereichen jedoch unterschiedlich ausgestaltet. In zivilrechtlichen Streitigkeiten kontrollieren Gerichte typischerweise die gestaltende konkret-individuelle Verwaltungsentscheidung. Werden nicht-gerichtliche Organe erstinstanzlich streitentscheidend tätig, kontrollieren die Gerichte die Rechtmäßigkeit der Streitentscheidung der Verwaltungsspruchkörper und stellen somit die zweite Kontrollinstanz dar. Innerhalb des strafrechtlichen Anwendungsbereichs sind Gerichte hingegen nicht für die erste Kontrollentscheidung, sondern für die Entscheidung über die strafrechtliche Verantwortlichkeit und gegebenenfalls das Strafmaß, also für eine rechtliche Gestaltungsentscheidung zuständig. Für nicht-gerichtliche Organe stellt sich nicht die Frage, ob sie eine erste Kontrollentscheidung durchführen dürfen, sondern ob sie strafrechtliche Sanktionen verhängen dürfen. Ist dies der Fall, kontrolliert das erstinstanzliche Gericht nicht die erstinstanzliche exekutive Kontrolle, sondern die Sanktion. Gleichwohl verlaufen die Rechtsprechungslinien im zivilrechtlichen und im strafrechtlichen Anwendungsbereich weitgehend parallel. Dies liegt daran, dass die unterschiedlichen Konstellationen aus der subjektiv-rechtlichen Perspektive des Rechts auf Zugang zum Gericht vergleichbar sind. In beiden Fällen ist die Frage, ob die Entscheidung, die nach Art. 6 Abs. 1 EMRK eigentlich ein Gericht treffen muss – im ersten Fall die Kontrolle der Verwaltungsentscheidung, im anderen die Verhängung einer Sanktion –, zunächst von einem nicht-gerichtlichen Organ getroffen werden darf. Dies ist bei zivilrechtlichen Streitigkeiten uneingeschränkt, bei strafrechtlichen Anklagen jedenfalls für geringe Vergehen zulässig. 2181

So auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 57.

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

471

Da Art. 6 Abs. 1 EMRK nur den Zugang zu einer gerichtlichen Instanz schützt, müssen gerichtliche Entscheidungen nicht durch eine weitere Instanz kontrollierbar sein.2182 Daher müssen durch Gerichte verhängte Disziplinarmaßnahmen keiner anschließenden Kontrolle unterliegen. Genauso ist die Haftprüfung gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK in einer gerichtlichen Anordnung bereits inkludiert, sofern sich die die Freiheitsentziehung rechtfertigenden Umstände nicht verändern können. Auch hier verzichtet die EMRK also auf eine Kontrollmöglichkeit für gerichtliche Anordnungen. Der Gewährleistungsgehalt der konventionsrechtlichen Rechtsschutzgarantien ist somit davon abhängig, welchem hoheitlichen Organ die geltend gemachte Rechtsverletzung zuzurechnen ist. Einzig das Recht auf richterliche Vorführung gemäß Art. 5 Abs. 3 EMRK besteht unabhängig davon, ob eine Verwaltungs-, Strafverfolgungsbehörde oder ein Gericht die Untersuchungs- oder Präventivhaft angeordnet hat. Da Art. 5 Abs. 3 EMRK jedoch auch vor Misshandlungen durch die hoheitliche Gewalt schützen soll, bleibt in jedem Fall ein Kontrollelement gegenüber der Exekutive bestehen. Zusammenfassend weist die EMRK den Gerichten Kontrollbefugnisse gegenüber der Exekutive, nicht aber gegenüber der Judikative zu.2183 Gerichte kontrollieren die Rechtmäßigkeit exekutiver Entscheidungen und müssen im Falle einer rechtswidrigen Rechtsakts Abhilfe schaffen können. Sie werden also stets tätig, nachdem eine Streitigkeit bereits entstanden ist. Daneben schließt die EMRK nicht aus, dass die nationalen Zuständigkeitsordnungen Gerichte eigenständige rechtsgestaltende Entscheidungsbefugnisse zuschreiben. b) Exklusive gerichtliche Zuständigkeiten Art. 6 Abs. 1 EMRK erlaubt, dass verwaltungsrechtliche Streitigkeiten innerhalb des zivilrechtlichen Anwendungsbereichs in erster Instanz von nicht-gerichtlichen Spruchkörpern entschieden werden, sofern gegen diese Entscheidung ein gerichtlicher Rechtsbehelf eingelegt werden darf. Die hoheitliche Tätigkeit der Streitentscheidung als solche wird damit nicht ausschließlich den Gerichten zugewiesen. Exklusiv ist den Gerichten jedoch die hoheitliche Tätigkeit der letztverbindlichen Streitentscheidung. Im strafrechtlichen Zweig des Art. 6 Abs. 1 EMRK dürfen nicht-gerichtliche hoheitliche Organe nur im Fall von geringen Vergehen wie Ordnungswidrigkeiten Sanktionen oder Strafen verhängen. Auch in diesem Fall muss gegen Verwaltungssanktionen ein Zugang zu einer gerichtlichen Instanz existieren, sodass auch hier die letztverbindliche Entscheidung über die Verhängung von Sanktionen exklusiv den Gerichten zusteht. 2182 Siehe aber zum Sonderfall des Art. 2 ZP 7, der ein Recht auf Zugang zu einer zweiten Instanz im Fall einer strafrechtlichen Verurteilung gewährt, unten ab S. 697. 2183 So auch mit einer anderen Herleitung Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 73–78.

472

Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Handelt es sich um schwere Vergehen, erlaubt Art. 6 Abs. 1 EMRK keine vorherige Entscheidung durch nicht-gerichtliche Stellen. Besonders deutlich wird dies im Falle von Freiheitsstrafen, die gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a) EMRK zwingend gerichtlich angeordnet werden müssen. Die Verhängung von Freiheitsstrafen sowie die Entscheidung über schwere Vergehen inklusive der Festsetzung des Strafmaßes stehen somit exklusiv den Gerichten zu. Da Art. 6 Abs. 1 EMRK kein Recht auf eine förmliche gerichtliche Entscheidung im Strafverfahren enthält, erlaubt die EMRK jedoch auch bei Anklagen wegen schwerer Vergehen, dass das Verfahren zu Gunsten der angeklagten Person ohne Durchführung eines gerichtlichen Hauptverfahrens und insbesondere durch die Strafverfolgungsbehörden beendet wird. Anders als eine Verurteilung sind solche Entscheidungen nicht exklusiv gerichtlicher Natur. Wohl aber muss den Betroffenen auch hier stets ein Rechtsweg offen stehen, sodass jedenfalls die Möglichkeit besteht, dass auf Antrag über die Sache in einem gerichtlichen Verfahren entschieden wird. Urteile dazu, ob Art. 5 Abs. 4 EMRK eine erstinstanzliche Haftprüfung durch Verwaltungsbehörden erlaubt, sind nicht ersichtlich. Sinn und Zweck des Art. 5 Abs. 4 EMRK sprechen jedoch dagegen. Einerseits soll Art. 5 Abs. 4 EMRK gerade eine gerichtliche Kontrolle von freiheitsentziehenden Verwaltungsentscheidungen ermöglichen. Andererseits versteht der EGMR unter einer wirksamen Haftprüfung auch eine zügige Haftprüfung.2184 Dieser ratio würde es widersprechen, wenn zunächst eine weitere nicht-gerichtliche Instanz eingeschaltet werden dürfte, die den durch Art. 5 Abs. 4 EMRK gewährleisteten gerichtlichen Schutz verzögert. Daher muss aktuell davon ausgegangen werden, dass die Haftprüfung eine exklusiv gerichtliche Aufgabe ist. Anders sieht es aus im Falle der richterlichen Vorführung gemäß Art. 5 Abs. 3 EMRK, die bereits im Wortlaut auch eine Entscheidung durch eine Amtsperson mit richterlichen Befugnissen erlaubt.2185 Auch wenn die Amtspersonen ebenfalls unabhängig entscheiden können müssen, sind sie doch typischerweise formal in die Exekutive eingebunden, sodass in diesen Fällen keine gerichtliche Entscheidung im engeren Sinne garantiert ist. Zusammenfassend haben Gerichte in Strafverfahren weitergehende exklusive Kompetenzen als Gerichte im zivilrechtlichen Anwendungsbereich. In jedem Fall aber obliegt die letztverbindliche Kontrolle exekutiver Entscheidungen im Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK exklusiv den Gerichten. Gleiches gilt für die Haftprüfung gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK. Im Fall des Art. 5 Abs. 3 EMRK 2184 EGMR Nr. 11209/84 u. a., Brogan u. a. v Vereinigtes Königreich (Pl.), 29.11.1988, § 58; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn.  90–92; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 5 Rn. 102; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 329. 2185 Siehe ausführlich zur Begriffsbestimmung ab S. 394.

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

473

erlaubt die EMRK hingegen eine Entscheidung durch eine exekutive, wenn auch unabhängige, Amtsperson, die nicht erneut gerichtlich überprüft werden muss. c) Keine gerichtliche Kontrolle im Kernbereich bei der Ausübung staatsbürgerlicher Rechte Die vom zivilrechtlichen Anwendungsbereich ausgeschlossenen Streitigkeiten werden vom EGMR (exclusively to the realm of public law)2186 und vom Schrifttum als der „Kernbereich des öffentlichen Rechts“2187 zusammengefasst. Diese Sammelbezeichnung ist bereits deswegen nicht glücklich, weil auch die vom zivilrechtlichen Anwendungsbereich umfassten verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten das Verhältnis zwischen Bürger und Staat und damit das öffentliche Recht betreffen. Teilweise verwendet der EGMR auch die Formulierung hard core of public-authority prerogatives2188. Diese Formulierung trifft den Kern der Abgrenzung besser, denn sie deutet an, dass der Exekutive in bestimmten Rechtsgebieten ein Vorrecht gegenüber der gerichtlichen Prüfung vorkommt. Die Gesamtschau der Fallgruppen, in denen der zivilrechtliche Anwendungsbereich ausgeschlossen ist, zeigt, dass es sich um die Sachgebiete handelt, die in besonderem Maße die staatliche Souveränität und die staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten betreffen. Aus dem strafrechtlichen Anwendungsbereich fallen prinzipiell hoheitliche Entscheidungen heraus, die vorrangig der Gefahrenabwehr oder der Funktionsfähigkeit des Staates dienen und nicht im Schwerpunkt einen abschreckenden oder bestrafenden Zweck haben. Während es für den Umfang der Verfahrensrechte einen Unterschied macht, ob der zivilrechtliche oder der strafrechtliche Anwendungsbereich eröffnet ist, ist dies für die Frage irrelevant, ob überhaupt ein Recht auf Zugang zum Gericht besteht. Für die konventionsrechtlichen Vorgaben an die innerstaatliche Kompetenzverteilung zwischen Judikative und Exekutive ist jedoch entscheidend, welche Rechtsgebiete oder Fallgestaltungen aus allen Anwendungsbereichen der Justizge-

2186 EGMR Nr. 44759/98, Ferrazzini v Italien (GK), 12.07.2001, § 25; Nr. 38258/03, van Vondel v Niederlande (Zul.), 23.03.2006 (Streitigkeit über parlamentarischen Untersuchungs­ ausschuss); Nr. 16469/05, Ovlisen v Dänemark (Zul.), 20.08.2006 (Steuerstreitigkeiten); Nr. 18705/06, Namat Aliyev v Aserbaidschan, 08.04.2010, § 85 (Wahlstreitigkeiten); Nr. 4964/11, Lazauskai v Litauen (Zul.), 06.09.2016, § 29 (Steuerstreitigkeiten). 2187 Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 13; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK /  GG, Kap. 14 Rn. 15; Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Kap. 6 Rn. 18. 2188 EGMR Nr. 44759/98, Ferrazzini v Italien (GK), 12.07.2001, § 30; Nr. 12852/08, Niedzwiecki v Deutschland Nr. 4, 01.04.2010, § 31; Nr. 75915/12 u. a., Popovic u. a. v Serbien, 23.09.2014, § 78; Nr. 4961/11, Lazauskai v Litauen (Zul.), 06.09.2016, § 30 (jeweils zu Steuerstreitigkeiten); zur Streitigkeit über die Neubewertung einer juristischen Hausarbeit EGMR Nr. 20027/02, Herbst v Deutschland, 11.01.2007, § 54.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

währleistungsansprüche herausfallen, sodass diesbezüglich keine organisatorische Verpflichtung der Konventionsstaaten besteht, einen gerichtlichen Rechtsbehelf zur Verfügung zu stellen. Betrachtet man beide Anwendungsbereiche gemeinsam, so zeigt sich, dass die großzügige Auslegung des EGMR dazu führt, dass verwaltungsrechtliche Streitigkeiten zwischen Bürger und Staat weitreichend in einen der Anwendungsbereiche fallen.2189 In der Konsequenz müssen die Konventionsstaaten dafür sorgen, dass die nationalen Gerichte weitreichende Kontrollbefugnisse gegenüber den exekutiven Verwaltungsbehörden haben. Bei wahlrechtlichen, steuerrechtlichen und ausländerrechtlichen Streitigkeiten wird jedoch kein Recht auf Zugang zum Gericht garantiert. In diesen Fällen haben die betroffenen Personen aber gemäß Art. 13 EMRK das Recht auf einen innerstaatlichen Rechtsbehelf, wenn die betroffene Person eine Verletzung eines Konventionsrechts geltend machen kann.2190 Art. 13 EMRK verlangt zwar eine unabhängige, aber keine gerichtliche Instanz, sodass auch ein exekutives Organ zuständig sein könnte. Art. 13 EMRK hat insbesondere in ausländerrechtlichen Streitigkeiten Bedeutung erlangt.2191 Für die Organisation von Wahlprüfungsverfahren ergibt sich unmittelbar aus Art. 3 ZP, dass die Wahlprüfungsorgane unabhängig sein müssen.2192 Diese Beispiele zeigen, dass die EMRK neben Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 5 Abs. 3 und 4 EMRK weitere Rechtsschutzmechanismen kennt, die zwar weniger strenge Anforderungen an die institutionellen Strukturen und das anwendbare Verfahren stellen, wohl aber eine judikative Streitentscheidung unter rechtsstaatlichen Voraussetzungen ermöglichen. 7. Zwischenfazit Die Anwendungsbereiche der Rechtsschutzgarantien sind dafür ausschlaggebend, in welchen Fällen die Gerichte tätig werden müssen. Hierdurch definiert der EGMR auch, in welchen Fällen eine gerichtliche Kontrolle von Verwaltungshandeln stattfinden muss. Aus dem Erfordernis des effektiven Rechtsschutzes und aus der Auslegung des tribunal-Begriffs leitet der EGMR die gerichtlichen Kompetenzen und Entscheidungsbefugnisse ab, welche die nationalen Zuständigkeitsordnungen den Gerichten einräumen müssen. Art. 6 Abs. 1 EMRK etabliert

2189 Peters / Altwicker, EMRK, § 19 Rn. 1 sehen eine kontinuierliche Ausweitung des Anwendungsbereichs. 2190 Zum Vorrang des Art. 6 Abs. 1 EMRK EGMR Nr. 3989/07 und 38353/07, Ullens de Schooten und Rezabek v Belgien, 20.09.2011, § 52; Schweizer, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 13 Rn. 46 (2000); Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: MeyerLadewig / ​Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  6 Rn.  253. 2191 Siehe die Nachweise in Fn. 1822. 2192 Siehe das wörtliche Zitat zu und die Nachweise in Fn. 576.

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

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ein weitreichendes Kontrollverhältnis zwischen Judikative und Exekutive. Hierbei kommt es nicht darauf an, ob die Exekutive mittels eines konkret-individuellen oder eines abstrakt-generellen Rechtsakts gehandelt hat. Auch formale, parlamentarische Gesetze können der gerichtlichen Kontrolle unterliegen, wenn sich hieraus unmittelbar die im Rahmen des zivilrechtlichen Anwendungsbereichs geltend gemachten Rechtsverletzungen ergeben. Lediglich in Fällen, in denen die staatliche Souveränität oder Ausübung staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten betroffen sind, verlangt die EMRK kein gerichtliches Tätigwerden. Kontrollieren die Gerichte die Exekutive, müssen sie rechtswidrige Hoheitsakte aufheben und die Sache einer neuen Entscheidung zuführen können, unabhängig davon, wie das Verfahren im konkreten Fall ausgestaltet ist.

II. Prüfungsbefugnis ( full jurisdiction) Eine gerichtliche Entscheidung setzt eine Prüfung des Sachverhalts und der rechtlichen Fragen voraus. Wie effektiv und weitreichend die Kontrollfunktion der Gerichte ist, hängt von der Prüfungsbefugnis ab. Während die Eröffnung des Anwendungsbereichs über das „Ob“ der gerichtlichen Kontrolle entscheidet, bestimmt die Prüfungsbefugnis das „Wie“. Die Prüfungsbefugnis ist somit ein weiterer Aspekt, der das Verhältnis zwischen Judikative und Exekutive ausgestaltet. Ist die Prüfungsbefugnis eingeschränkt, dürfen Gerichte bestimmte Auffassungen oder Darstellungen der Parteien nicht hinterfragen oder sind an die Vorfestlegung anderer hoheitlicher Organe gebunden. In diesen Fällen ist die Kontrolle weniger weitreichend und effektiv. Insbesondere zur gerichtlichen Prüfungsbefugnis bei der Kontrolle exekutiver Entscheidungen findet sich eine umfassende Rechtsprechung.2193 1. Das Konzept der full jurisdiction Nach dem concept of full jurisdiction2194 müssen Gerichte über eine umfassende Prüfungskompetenz in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht verfügen: „Article 6 § 1 of the Convention in principle requires that a court or tribunal should have ‚full jurisdiction‘ to hear a complaint, that is to say jurisdiction to examine all questions of fact and law that are relevant to the dispute before it […]. This means, in particular, that the court must have the power to examine point by point each of the litigant’s grounds on the merits,

2193

Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 78. Mit dieser Bezeichnung auch EGMR Nr. 46601/99, M. S. v Finnland, 22.03.2005, § 35; Nr. 35605/97, Kingsley v Vereinigtes Königreich (GK), 28.05.2002, § 58; Nr. 35443/13, Ghulyan v Armenien, 24.01.2019, § 53; Nr. 31885/10, Köksoy v Türkei, 13.10.2020, § 36. 2194

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

without refusing to examine any of them, and give clear reasons for their rejection. As to the facts, the court must be able to examine those that are central to the litigant’s case […].“2195

Die full jurisdiction wurde vom EGMR in autonomer Auslegung unter Einbeziehung des Zwecks der Konvention entwickelt, sodass das rechtliche Verständnis in den verschiedenen innerstaatlichen Rechtsordnungen unerheblich ist.2196 In strafrechtlichen Sachverhalten umfasst diese Prüfungskompetenz sowohl die Entscheidung über die Schuld als auch über die Höhe des Strafmaßes.2197 In verwaltungs- und disziplinarrechtlichen Streitigkeiten schließt die Prüfungskompetenz die Prüfung der Verhältnismäßigkeit ein.2198 Die aus dem deutschen Verwaltungsrecht geläufige Unterscheidung zwischen Beurteilungsspielraum auf der Tatsachenebene und Ermessen hinsichtlich der Wahl der Rechtsfolge existiert in der EGMR-Rechtsprechung – genauso wie in den meisten Konventionsstaaten – nicht.2199 Ein Verfassungsgericht, das allein die Verfassungsmäßigkeit einer hoheitlichen Maßnahme prüft, aber nicht alle relevanten Tatsachen untersuchen darf, verfügt über keine umfassende Prüfungskompetenz.2200 Eingeschränkt wird das Konzept der vollumfänglichen Prüfungskompetenz dadurch, dass der EGMR ausschließlich den Einzelfall prüft.2201 Der EGMR lässt die generelle Ausgestaltung der gerichtlichen Prüfungskompetenz außer Acht2202 und prüft im Einzelfall, ob das innerstaatliche Gericht alle Parteivorträge umfassend 2195

EGMR Nr. 5809/08, Al-Dulimi and Montana Management Inc. v Schweiz, 21.06.2016, § 128. Das Prinzip ist ständige Rechtsprechung für den zivilrechtlichen und den strafrechtlichen Anwendungsbereich, siehe auch EGMR Nr. 22330/05, Olujić v Kroatien, 05.02.2009, § 38; Nr. 18640/10 u. a., Grande Stevens u. a. v Italien, 04.03.2014, § 139; Nr. 55391/13 u. a., Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 176; Nr. 33399/18, Pişkin v Türkei, 15.12.2020, § 131; hierzu Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (543); Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 98; Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 776; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 130; Meye, in: Wolter, Systematischer Kommentar, Art. 6 EMRK Rn. 74. 2196 EGMR Nr. 55391/13 u. a., Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 177. 2197 Vogler, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 208 (1986); Kley-­ Struller, Der richterliche Rechtsschutz gegen die öffentliche Verwaltung, S. 127. 2198 EGMR Nr. 18160/91, Diennet v Frankreich, 26.09.1995, § 34; Nr. 32976/04, Mérigaud v Frankreich, 24.09.2009, § 69; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 135; Kley-Struller, Der richterliche Rechtsschutz gegen die öffentliche Verwaltung, S. 127. 2199 Siehe bereits die Nachweise in Fn. 1222. 2200 EGMR Nr. 12235/86, Zumtobel v Österreich, 21.09.1993, § 30; Nr. 16922/90, Fischer v Österreich, 26.04.1995, § 29; Nr. 15523/89, Schmautzer v Österreich, 23.10.1995, § 35; Nr. 30003/02, Stojakovic v Österreich, 09.11.2006, § 45. 2201 Siehe bereits das wörtliche Zitat zu Fn. 2195. 2202 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 97 geht davon aus, dass der EGMR ursprünglich in EGMR Nr. 6878/75 und 7238/75, Le Compte, Van Leuven und De Meyere v Belgien (Pl.), 23.06.1981, § 33 und Nr. 7299/75 und 7496/76, Albert und Le Compte v Belgien (Pl.), 10.02.1983, § 36 einen institutionellen Ansatz verfolgt hat, der anschließend aufgegeben wurde. Möglich ist jedoch auch, dass die eingeschränkte Prüfungsbefugnis in den konkreten Fällen relevant war und der EGMR schlicht noch nicht so deutlich formulierte wie in den Folge­urteilen.

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

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würdigen kann. Das Prüfungsprogramm muss aus der Begründung des Gerichts hervorgehen.2203 Solange die eingeschränkte Prüfungsbefugnis sich nicht auf den vor dem EGMR geltend gemachten Einzelfall auswirkt, ist sie für die Beurteilung der Konventionskonformität unerheblich. Durch diese Fokussierung auf den konkreten Anwendungsfall verhindert der EGMR, ohne Anlass einen objektiv konventionswidrigen Zustand festzustellen und die Konventionsstaaten zu gerichtsorganisatorischen Reformen zu zwingen. Der EGMR nimmt also Rücksicht auf die nationalen Rechtsordnungen der Konventionsstaaten.2204 2. Flexiblere Interpretation in verwaltungsrechtlichen Konstellationen In verwaltungsrechtlichen Sachverhalten gestaltet der EGMR die Anforderungen an die gerichtliche Prüfungsbefugnis flexibler.2205 „[T]he requirement that a court or tribunal should have ‚full jurisdiction‘ will be satisfied where it is found that the judicial body in question has exercised ‚sufficient jurisdiction‘ or provided ‚sufficient review‘ in the proceedings before it […].“2206

Ob eine eingeschränkte Prüfungskompetenz für die Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK ausreichend ist, bestimmt sich nach unterschiedlichen Faktoren. Der EGMR bezieht insbesondere ein, ob der Beschwerdegegenstand Expertenwissen verlangt und wie weit die nationale Zuständigkeitsordnung der Exekutive Ermessen einräumt, welche Verfahrensgarantien im Verwaltungsprozess vorlagen und worüber eigentlich gestritten wird.2207 Im Zusammenhang verwaltungsrechtlicher Streitigkeiten legt der EGMR somit eher ein concept of sufficient jurisdiction zugrunde. 2203

EGMR Nr. 32181/04 und 35122/04, Sigma Radio Television Ltd v Zypern, 21.07.2011, §§ 155–156; dem folgend EGMR Nr. 55391/13 u. a., Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, §§ 181–183. Siehe für Anwendungsfälle EGMR Nr. 32181/04 und 35122/04, Sigma Radio Television Ltd v Zypern, 21.07.2011, § 165; Nr. 49037/06, Chaudet v Frankreich, 29.10.2009, § 37; Nr. 33776/96, Potocka u. a. v Polen, 04.10.2001, § 57. Siehe hierzu auch die Darstellung von Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 418–419; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 97–98. 2204 Vgl. Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 97–98: Der EGMR will den Konventionsstaaten kein institutionelles Schema vorschreiben. 2205 EGMR Nr. 5809/08, Al-Dulimi and Montana Management Inc. v Schweiz (GK), 21.06.2016, § 130. 2206 EGMR Nr. 32181/04 und 35122/04, Sigma Radio Television Ltd v Zypern, 21.07.2011, § 152; Nr. 40378/10, Fazia Ali v Vereinigtes Königreich, 20.10.2015, § 76; Nr. 55391/13 u. a., Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 177. 2207 EGMR Nr. 19178/91, Bryan v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, §§ 45–46; Nr. 60680/00, Tsfayo v Vereinigtes Königreich, 14.11.2006, § 43; Nr. 32181/04 und 35122/04, Sigma Radio Television Ltd v Zypern, 21.07.2011, § 154; Nr. 43800/12, Tsanova-Gecheva v Bulgarien, 15.09.2015, § 98; Nr. 40378/10, Fazia Ali v Vereinigte Königreich, 20.10.2015, § 78; Nr. 55391/13 u. a., Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 179; Nr. 33399/18, Pişkin v Türkei, 15.12.2020, § 132; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (543).

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Soweit der EGMR die Einschränkung der gerichtlichen Prüfungskompetenz hinnimmt, gesteht er den Verwaltungsbehörden eine eigene, nicht gerichtlich überprüfbare Einschätzungsprärogative zu: „[I]t is often the case in relation to administrative-law appeals in the member States of the Council of Europe that the extent of judicial review over the facts of a case is limited, and that it is characteristic of review proceedings that the competent authorities review the previous proceedings rather than taking factual decisions. It can be derived from the relevant case-law that it is not the role of Article 6, in principle, to guarantee access to a court which can substitute its own assessment or opinion for that of the administrative authorities. In this regard, the Court has placed particular emphasis on the respect which must be accorded to decisions taken by the administrative authorities on grounds of expediency and which often involve specialised areas of law […].“2208

Insbesondere bei behördlichen Ermessensentscheidungen darf die gerichtliche Kontrolldichte eingeschränkt sein, sofern das Ermessen gesetzlich gebunden und die gerichtliche Kontrolle nicht gänzlich ausgeschlossen ist. Jedenfalls eine Willkürkontrolle und eine Kontrolle der Ausübung des exekutiven Spielraums müssen gewährleistet werden.2209 Exekutive Zweckmäßigkeitserwägungen müssen jedoch nicht gerichtlich überprüfbar sein.2210 Innerhalb dieser allgemeinen Rechtsprechungslinien können – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – einzelne Fallgruppen gebildet werden. Nicht immer ist absehbar, welchen Faktoren der EGMR im Einzelfall Vorrang einräumt.2211

a) Keine Prüfungskompetenz für zentrale Fragen der Streitigkeit In zentralen Fragen der Streitigkeit dürfen Gerichte nicht an Entscheidungen oder Einschätzungen der Verwaltungsbehörden gebunden sein.2212 In der aktuellen Sache Kövesi v Rumänien wurde die Beschwerdeführerin, oberste Staatsanwältin

2208 EGMR Nr. 55391/13 u. a., Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 178; inhaltsgleich EGMR Nr. 32181/04 und 35122/04, Sigma Radio Television Ltd v Zypern, 21.07.2011, § 153; Nr. 40378/10, Fazia Ali v Vereinigte Königreich, 20.10.2015, § 77. 2209 EGMR Nr. 12235/86, Zumtobel v Österreich, 21.09.1993, §§ 31–32; Nr. 16922/90, Fischer v Österreich, 26.04.1995, § 34; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 35; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 99; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 131; Grabenwarter / Pabel, EMRK, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 40; Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz Rn. 776. 2210 Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 131; Peukert, in: Frowein / Peukert, EMRK, Art. 6 Rn. 59. 2211 Vgl. Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 97. 2212 EGMR Nr. 32181/04 und 35122/04, Sigma Radio Television Ltd v Zypern, 21.07.2011, § 157; Nr. 55391/13 u. a., Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 182;

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der Nationalen Antikorruptions-Behörde, durch einen präsidentiellen Erlass entlassen.2213 Die für die Kontrolle einer solchen Verwaltungsentscheidung zuständigen Verwaltungsgerichte durften nur die formelle Rechtmäßigkeit, nicht aber die materielle Rechtmäßigkeit des Erlasses prüfen. Da die Beschwerdeführerin geltend machte, dass die Entlassung eine illegale Disziplinarmaßname wegen ihrer öffentlichen Meinungsäußerung zur staatlichen Gerichtsreform war, konnte das Gericht zentrale Punkte der Beschwer nicht prüfen, sodass eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK vorlag.2214 Ein Verstoß lag auch vor in der Sache Fazliyski v Bulgarien, wo das zuständige oberste Verwaltungsgericht nicht überprüfen durfte, ob der beschwerdeführende Beamte tatsächlich aus Gründen seiner mentalen Gesundheit nicht mehr in der Lage war, seine hoheitlichen Aufgaben auszuüben und daher entlassen werden musste.2215 In den Urteilen Beaumartin v Frankreich und Chevrol v Frankreich waren die zuständigen Gerichte an die Entscheidung über die Anwendbarkeit beziehungsweise die Auslegung völkerrechtlicher Verträge durch den Außenminister gebunden. Gegen die Entscheidung des Außenministers stand kein Rechtsbehelf zur Verfügung. In beiden Fällen lag ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK vor.2216 Gerichte dürfen also auch nicht an ministeriale Entscheidungen und Rechtsauffassungen gebunden sein. Unschädlich ist hingegen die Bindung eines Gerichts an die Entscheidung über eine Vorfrage durch die Verwaltung oder die Regierung, wenn entweder das entscheidende Organ selbst die Anforderungen des Gerichts im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK erfüllte oder wenn die Entscheidung in einem eigenständigen Verfahren

Nr. 29295/16, Franz v Deutschland, 30.01.2020, § 82; in der konkreten Anwendung z. B. EGMR Nr. 20641/92, Terra Woningen B. V. v Niederlande, 17.12.1996, §§ 52–55; Nr. 43578/98, I. D. v Bulgarien, 28.04.2005, §§ 50–55; Nr. 40908/05, Fazliyski v Bulgarien, 16.04.2013, §§ 60–63; im Schrifttum Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (544). 2213 EGMR Nr. 3594/19, Kövesi v Rumänien, 05.05.2020, §§ 3, 67; zu dieser Sache Szwed /  Wiśniewska, Strasbourg – A new destination on the road towards the rule of law?, S. ­22–23. 2214 EGMR Nr. 3594/19, Kövesi v Rumänien, 05.05.2020, §§ 152–153, 158. 2215 EGMR Nr. 40908/05, Fazliyski v Bulgarien, 16.04.2013 §§ 21, 23, 61–62. 2216 EGMR Nr. 15287/89, Beaumartin v Frankreich, 24.11.1994, § 38 (Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrags); Nr. 49636/99, Chevrol v Frankreich, 13.02.2003, §§ 76, 80–84 (Entscheidung über die Anwendbarkeit eines völkerrechtlichen Vertrags); zu beiden Entscheidungen Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 89–91; Le Bonniec, RFDC 106 (2016), S. 335 (347–348). Während der EGMR die Problematik in Beaumartin v Frankreich noch im Rahmen der gerichtlichen Unabhängigkeit prüfte, ordnete er den Sachverhalt in Chevrol – zutreffend – als Aspekt der Prüfungsbefugnis ein, hierzu Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 54–55 („wenig stringente Linie“). Im Rahmen der full jurisdiction angesprochen bei Meyer-Ladewig / L adewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 35; im Rahmen der richterlichen Unabhängigkeit bei Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 97.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

gerichtlich überprüfbar war.2217 In diesem Fall ist die letztverbindliche gerichtliche Entscheidung in allen Einzelfragen sichergestellt.2218 b) Spezialisierte Rechtsgebiete und komplexe Entscheidungen Betrifft der Verfahrensgegenstand spezialisierte Rechtsgebiete oder komplexe Entscheidungen, dann nimmt der EGMR eine Einschränkung der tatsächlichen und rechtlichen Prüfungskompetenz als konventionskonform hin.2219 Anerkannt hat der EGMR diese Ausnahme etwa in baurechtlichen Streitigkeiten,2220 im Umweltschutzrecht2221 und im Glücksspielrecht.2222 Allerdings stellt der Gerichtshof in seinen Begründungen typischerweise nicht allein darauf ab, dass der Streitgegenstand ein spezialisiertes Rechtsgebiet oder komplexe Entscheidungen betrifft, für die ein Fachwissen notwendig wäre, das von Richtern nicht erwartet werden kann. Er begründet die Ausnahme zusätzlich entweder mit den Verfahrensgarantien im Verwaltungsverfahren oder damit, dass im konkreten Fall das Gericht alle streitigen Fragen entscheiden konnte.2223 Der Verfahrensgegenstand allein rechtfertigt die Einschränkung der vollumfänglichen Prüfungskompetenz also nicht. Ein Gegenbeispiel, in dem eine eingeschränkte Prüfungsbefugnis wegen des Streitgegenstandes nicht gerechtfertigt war, ist die Sache Tsfayo v Vereinigtes Königreich.2224 Die Beschwerdeführerin hatte ihren Anspruch auf Wohngeld verloren, weil sie den nach einem Jahr erneut notwendigen Antrag nicht rechtzeitig gestellt 2217

EGMR Nr. 43578/98, I. D. v Bulgarien, 28.04.2005, § 53; Nr. 40908/05, Fazliyski v Bulgarien, 16.04.2013, § 61; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim /  von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 35; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 132; ­Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 97. 2218 Vgl. EGMR Nr. 49636/99, Chevrol v Frankreich, 13.02.2003, § 63: „The principle that a court should exercise full jurisdiction required it not to abandon any of the elements of its judicial function.“ 2219 Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (543); Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 97. 2220 EGMR Nr. 19178/91, Bryan v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, §§ 46–47 (baurechtliche Abrissverfügung): Der EGMR rechtfertigte die begrenzte Prüfungskompetenz damit, dass die Tatsachenfeststellung und die Beweisaufnahme in einem quasi-gerichtlichen Verfahren mit entsprechenden Verfahrensgarantien stattgefunden hatten. 2221 EGMR Nr. 33538/96, Alatulkkila u. a. v Finnland, 28.07.2005, § 52: Der EGMR erkannte das Umweltschutzrecht als spezialisiertes Rechtsgebiet an, indem die Einschätzungsprärogative der Exekutive vorgehen kann. Im konkreten Fall war das Gericht aber für alle vom Beschwerdeführer vorgebrachten Fragen zuständig. 2222 EGMR Nr. 35605/97, Kingsley v Vereinigtes Königreich, 07.11.2000, §§ 53–54: Das quasi-gerichtliche Verfahren glich die fehlende gerichtliche Prüfungsbefugnis aus. 2223 Siehe die letzten drei Fußnoten. 2224 Siehe für eine Gegenüberstellung der Urteile Bryan v Vereinigtes Königreich und Tsfayo v Vereinigtes Königreich auch EGMR Nr. 42509/05, Crompton v Vereinigtes Königreich, 27.10.2009, §§ 72–73.

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hatte. Ihr rückwirkender Antrag wurde abgelehnt, weil die zuständigen Behörden keinen guten Grund (good cause) für den verspäteten Antrag erkannten. Die Beschwerdeführerin berief sich darauf, dass sie als äthiopische Staatsangehörige, die im Vereinigten Königreich politisches Asyl gesucht hatte, keine ausreichenden Sprachkenntnisse und keine Kenntnis vom britischen Sozialsystem und dem erneuten Antragserfordernis hatte.2225 Das Gericht durfte keine Beweisaufnahme mehr vornehmen, um die Glaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin zu ermitteln. Da für die Frage, ob ein guter Grund für den verspäteten Antrag vorlag, kein spezielles Fachwissen erforderlich war, war die eingeschränkte Prüfungskompetenz nicht gerechtfertigt.2226 Das Urteil Terra Woningen v Niederlande zeigt, dass die Einordnung des EGMR nicht immer eindeutig und vorhersehbar ist. In diesem Fall durfte das innerstaatliche Gericht die behördliche Feststellung, dass eine gravierende Bodenverschmutzung vorlag, die eine ernsthafte Gefahr für Gesundheit und Umwelt darstellte, nicht prüfen. Da diese Frage für die Entscheidung der Streitigkeit zentral war, lag eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor.2227 Unklar bleibt, warum der EGMR nicht prüfte, ob vorliegend ein besonderes Expertenwissen erforderlich war, das von den Richtern nicht erwartet werden konnte. Dieses Urteil deutet also darauf hin, dass die Einschränkung der Prüfungsbefugnis in spezialisierten Rechtsgebieten oder komplexen Fällen nicht zum Tragen kommt, wenn zentrale Fragen der Streitigkeit betroffen sind. c) Ernennung von Richtern In der Sache Tsanova-Gecheva v Bulgarien machte die Beschwerdeführerin Fehler im Auswahlprozess des Amts des Gerichtspräsidenten geltend, für das sie kandidierte. Ernannt wurde eine enge Freundin des Innenministers. Das im nationalen Rechtsstreit letztinstanzlich zuständige Oberste Verwaltungsgericht (Supreme Administrative Court) durfte nicht alle prozeduralen und materiellen Aspekte der Ernennungsentscheidung des Obersten Richterrates (Supreme Judi­ cial Council) überprüfen. Vor allem durfte das Gericht nicht kontrollieren, ob die Einschätzung des Richterrates, welche Kandidatin für den Posten am besten geeignet wurde, zutreffend war.2228 Dies allein begründete jedoch keinen Verstoß gegen das Konzept der full jurisdiction. Zum einen überprüfte das Verwaltungs 2225

EGMR Nr. 60680/00, Tsfayo v Vereinigtes Königreich, 14.11.2006, §§ 12, 15, 46. EGMR Nr. 60680/00, Tsfayo v Vereinigtes Königreich, 14.11.2006, §§ 46, 48. Zusätzlich lagen keine ausreichenden prozeduralen Sicherungsmechanismen bei den Verwaltungsverfahren vor, § 47. 2227 EGMR Nr. 20641/92, Terra Woningen B. V. v Niederlande, 17.12.2006, §§ 53–54. Weitere Beispiele, in denen eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK vorlag, weil die Gerichte eine zentrale Frage nicht prüfen durften, EGMR Nr. 43578/98, I. D. v Bulgarien, 28.04.2005, §§ 50–51; Nr. 72034/01, Družstevní záložna Pria u. a. v Tschechien, 31.07.2008, § 111. 2228 EGMR Nr. 43800/12, Tsanova-Gecheva v Bulgarien, 15.09.2015, § 94. 2226

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gericht, dass die Auswahlentscheidung nicht machtmissbräuchlich und gegen den Zweck des anwendbaren Gesetzes erfolgte. Außerdem kontrollierte es die Einhaltung der formellen Anforderungen an die Person der Gerichtspräsidentin wie die Jahre mit Berufserfahrung und die Verfahrensvorschriften.2229 Zum anderen sollte der Oberste Richterrat gerade bei richterlichen Ernennungsverfahren die Unabhängigkeit der Justiz gewährleisten. Zu diesem Zwecke verfügte der Richterrat über einen weitreichenden Ermessensspielraum, die Verwaltungsposten mit den am besten qualifizierten Personen zu besetzen.2230 Anschließend legte der EGMR großen Wert darauf, dass die Verfahrensvorschriften eingehalten wurden und dass der Richterrat nach der Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte die Ernennungsentscheidung ausreichend begründet hatte.2231 Schließlich lehnte der EGMR es ab, sich mit möglichen generellen Mängeln des bulgarischen Ernennungssystems für Richter auseinanderzusetzen: „Certes, les allégations de la requérante concernant l’absence de transparence et l’ingérence du pouvoir politique dans la procédure de nomination en cause, ainsi que les critiques formulées à cet égard par des organismes internationaux compétent en la matière […] sont préoccupantes. Tout en étant consciente de l’importance des procédures de nominations et de promotion des juges et de leur impact sur l’indépendance et le bon fonctionnement de la justice, la Cour rappelle qu’il ne lui appartient pas, dans le cadre de la présente requête qui concerne le caractère équitable de la procédure judiciaire sur le recours d’une candidate non retenue par le CSM, de se prononcer sur l’opportunité du choix effectué par cet organisme ou sur les critères qui devraient être pris en compte […].“2232

Obwohl der EGMR anerkannte, dass dem bulgarischen richterlichen Ernennungsverfahren Transparenz fehlte und dass sich möglicherweise politische Kräfte unzulässig eingemischt hatten, lehnte er es ab, diese strukturellen Fragen im Rahmen der gerichtlichen Prüfungskompetenz zu klären. Dies wäre möglich gewesen, indem er eine stärkere Kontrolldichte der Entscheidungen des Richterrates gefordert hätte. Mit seinem Ansatz in Tsanova-Gecheva v Bulgarien räumt der EGMR den Konventionsstaaten bei richterlichen Ernennungsentscheidungen einen größeren Spielraum ein als bei sachlichen Verwaltungsentscheidungen. Dadurch dürfen die Konventionsstaaten bei richterlichen Ernennungsentscheidungen eine geringere Kontrolldichte vorsehen. d) Disziplinarmaßnahmen gegen Richter Die Entscheidung der Großen Kammer in der Sache Ramos Nunes v Portugal betraf die Kontrolle einer Disziplinarentscheidung gegen Richter. Das oberste portugiesische Gericht hatte nur die Kompetenz zur Überprüfung der rechtlichen 2229

EGMR Nr. 43800/12, Tsanova-Gecheva v Bulgarien, 15.09.2015, § 99. EGMR Nr. 43800/12, Tsanova-Gecheva v Bulgarien, 15.09.2015, § 100. 2231 EGMR Nr. 43800/12, Tsanova-Gecheva v Bulgarien, 15.09.2015, §§ 101–103. 2232 EGMR Nr. 43800/12, Tsanova-Gecheva v Bulgarien, 15.09.2015, § 104. 2230

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

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Fragen, nicht aber zur Tatsachenerhebung. Daher lehnte das Gericht den Antrag der Beschwerdeführerin auf eine öffentliche Anhörung ab. Vor dem ursprünglichen Disziplinarorgan wurden die der Disziplinarmaßnahme zugrunde liegenden Tatsachen jedoch ebenfalls nicht entsprechend der Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK erhoben.2233 Wegen ihres engen inhaltlichen Zusammenhangs im konkreten Fall behandelte der EGMR die Prüfungskompetenz des nationalen Gerichts in tatsächlicher Hinsicht und das Recht auf eine öffentliche Anhörung gemeinsam.2234 Dies erschwert eine Analyse der isolierten Anforderungen an die tatsächliche Prüfungsbefugnis. Entscheidend für die Anforderungen an die gerichtliche Prüfungsbefugnis war auch in diesem Fall der Beschwerdegegenstand. Es lag eine Verwaltungsentscheidung mit einem bestrafenden Element vor, die weitreichende Konsequenzen für die berufliche Laufbahn des Richters haben konnte. Außerdem stand die Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit in Frage.2235 Beide Aspekte erschwerten eine gerechtfertigte Einschränkung der Prüfungskompetenz. Gerade bei Disziplinarverfahren ist die Tatsachenermittlung von besonderer Bedeutung: „As regards the establishment of the facts, the Court observes that in the specific context of disciplinary proceedings the issues of fact are just as crucial as the legal issues for the outcome of proceedings relating to ‚civil rights and obligations‘ […]. It considers that the establishment of the facts is especially important in the case of proceedings that entail the imposition of penalties, and in particular disciplinary penalties against judges, as the latter must enjoy the respect that is necessary for the performance of their duties, so as to ensure public confidence in the functioning and independence of the judiciary as such […].“2236

Gleichwohl konnte die Beschwerdeführerin persönlich weder im Gerichtsverfahren noch im verwaltungsrechtlichen Disziplinarverfahren ihre Sicht schildern. „Even if the Supreme Court considered that it was not its task to conduct a re-examination of the evidence, it nevertheless had a duty to ascertain whether the factual basis for the decisions taken by the CSM was sufficient to support the latter’s conclusions. In such a situation, the importance for the parties of obtaining an adversarial hearing before the body performing the judicial review should not be underestimated […]. In the instant case such  a hearing would have made it possible to undertake a more thorough review of the facts, which were disputed.“2237 2233

EGMR Nr. 55391/13 u. a., Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, §§ 197–198. Diese Erwägungen betrafen die Verfahrensgarantien, also den zweiten Faktor nach den allgemeinen Rechtsprechungslinien zur sufficient jurisdiction, siehe hierzu die Nachweise in Fn. 2207. 2234 EGMR Nr. 55391/13 u. a., Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, §§ 193, 214. 2235 EGMR Nr. 55391/13 u. a., Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 196. 2236 EGMR Nr. 55391/13 u. a., Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 203. 2237 EGMR Nr. 55391/13 u. a., Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 211.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Im konkreten Fall wurden die tatsächlichen Grundlagen der Streitigkeit weder im Verwaltungs- noch im gerichtlichen Verfahren festgestellt.2238 In der Gesamtschau führten der Verfahrensgegenstand, also das Disziplinarverfahren gegen einen Richter, die Intensität der Sanktion – Strafzahlungen und Beurlaubungen –, die eingeschränkten Verfahrensgarantien im Disziplinarverfahren und die dadurch fehlende Möglichkeit, die zugrunde liegenden Tatsachen zu ermitteln und zu würdigen, zum Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK.2239 Hinsichtlich der gerichtlichen Kontrolldichte bedeutet Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal, dass bei richterlichen Disziplinarverfahren eine Einschränkung der tatsächlichen Prüfungskompetenz besonders schwierig zu rechtfertigen ist. Indem der EGMR diese strengen Maßstäbe an die Einschränkung der gerichtlichen Prüfungskompetenz bei richterlichen Disziplinarverfahren anlegte, zeigte er, dass der Schutz des richterlichen Status und einer funktionierenden und rechtsstaatlich organisierten Gerichtsbarkeit einen hohen Stellenwert in der Konventionsordnung haben. Wie genau die gerichtliche Prüfungskompetenz zur Überprüfung von Disziplinarmaßnahmen gegen Richter ausgestaltet sein muss, gab das Urteil Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal jedoch nicht vor. Hätte das oberste Gericht selbst die zugrunde liegenden Tatsachen ermitteln dürfen, wären die Anforderungen an die Prüfungsbefugnis eindeutig erfüllt worden. Unklar bleibt jedoch, ob auch eine durch ein Anhörungsrecht abgesicherte Tatsachenerhebung durch das Disziplinarorgan ausreichend gewesen wäre, wenn die gerichtliche Prüfungskompetenz allein auf die rechtliche Würdigung beschränkt geblieben wäre. e) Zwischenfazit Je umfassender die gerichtliche Prüfungsbefugnis ausgestaltet ist, desto effektiver können die Gerichte exekutive Entscheidungen kontrollieren. Das Konzept der full jurisdiction, verlangt grundsätzlich eine umfängliche, tatsächliche und rechtliche gerichtliche Prüfungsbefugnis. Insbesondere wenn zentrale Streitpunkte nicht gerichtlich geprüft werden können, ist eine fehlende Prüfungskompetenz schwierig zu rechtfertigen. Kontrollieren Gerichte exekutive Entscheidungen, schränkt der EGMR sein Konzept der full jurisdiction zu einem Konzept der  sufficient jurisdiction ein. Zwar dürfen Gerichte nicht an Feststellungen oder Auslegungen der Ausgangsbehörde oder der Regierung gebunden sein. Dies müssen die nationalen Zuständigkeitsordnungen sicherstellen.2240 Jedoch sind Ausnahmen von der vollumfänglichen 2238 EGMR Nr. 55391/13 u. a., Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, §§ 207–211. 2239 EGMR Nr. 55391/13 u. a., Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 214. 2240 Vgl. Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 90 und Le Bonniec, RFDC 106 (2016), S. 335 (348): Beaumartin und Chevrol nehmen Einfluss auf die innerstaatliche Gewaltenteilung.

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Prüfungsbefugnis möglich, wenn die Judikative nicht in der Lage ist, mangels Spezialwissen die Fachentscheidungen der Exekutive fachkundig zu prüfen oder wenn die Exekutive Ermessensentscheidungen traf. Die gerichtliche Kontrollbefugnis muss nicht so weit gehen, dass die behördliche Zweckmäßigkeitsentscheidung durch eine gerichtliche ersetzt werden kann. Jedenfalls müssen aber die Grenzen der Ermessensausübung gerichtlich überprüfbar sein. Ob der EGMR stärker das für eine Entscheidung notwendige Spezialwissen in den Vordergrund stellt oder darauf abstellt, dass ein Gericht zentrale Fragen der Streitigkeiten nicht entscheiden darf, ist nicht immer vorauszusehen – die Rechtslage ist stark kasuistisch geprägt. Ob ausnahmsweise eine Einschränkung der gerichtlichen Prüfungsbefugnis zulässig ist, hängt nicht nur vom Beschwerdegegenstand ab, sondern auch von den Verfahrensgarantien im Verwaltungsverfahren. Wenn diese geeignet waren, einen rechtsstaatlichen Prozess sicherzustellen, spricht dies dafür, dass die Gerichte ausnahmsweise an die Feststellungen der Behörde gebunden sein dürfen. In jüngerer Zeit äußerte sich der EGMR außerdem zur gerichtlichen Prüfungsbefugnis bei Streitigkeiten über richterliche Ernennungs- beziehungsweise Disziplinarverfahren. Im Vergleich der Urteile Tsanova-Gecheva v Bulgarien und Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal fällt auf, dass der EGMR den Konventionsstaaten bei der gerichtlichen Kontrolle von Ernennungsentscheidungen größeren Spielraum einräumt als bei der Kontrolle von Disziplinarentscheidungen. Während der EGMR im Falle Ramos Nunes die unabhängige Gerichtsbarkeit als Abwägungswert heranzieht, beurteilt der EGMR in Tsanova-Gecheva explizit nicht die strukturelle Transparenz des Ernennungsverfahrens. 3. Prüfungsbefugnis im Rahmen der Haftprüfung gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK Im Rahmen der Haftprüfung gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK müssen die Gerichte alle wesentlichen Aspekte der formellen und materiellen Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung prüfen können.2241 Der Rechtmäßigkeitsbegriff des Art. 5 Abs. 4 EMRK ist der gleiche wie der des Art. 5 Abs. 1 EMRK.2242 Das nationale Gericht muss folglich beurteilen dürfen, ob die Voraussetzungen einer Freiheitsentziehung sowohl nach den Ausnahmetatbeständen des Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a)–f)  EMRK 2241

EGMR Nr. 3455/05, A u.  a. v Vereinigtes Königreich (GK), 19.02.2009, §  202; Nr. 30241/11, Buishvili v Tschechien, 25.10.2012, § 38; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 324; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 5 EMRK Rn. 265; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 13 Rn. 82. 2242 EGMR Nr. 22414/93, Chahal v Vereinigtes Königreich (GK), 15.11.1996, §  127; Nr. 3455/05, A u. a. v Vereinigtes Königreich (GK), 19.02.2009, § 202; Nr. 71825/11, Housein v Griechenland, 24.10.2013, § 81; Nr. 16483/12, Khlaifia u. a. v Italien (GK), 15.12.2016, § 128; ­Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 316; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 5 Rn. 96; Dörr, in: Dörr / Grote /  Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 13 Rn. 101.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

und den allgemeinen Prinzipien der EMRK als auch nach dem nationalen Recht vorliegen.2243 Wie im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK müssen die Gerichte auch bei der Haftprüfung keine Zweckmäßigkeitserwägungen kontrollieren, sodass die gerichtliche Einschätzung die Beurteilung der ursprünglich zuständigen Stelle nicht ersetzt.2244 Welche Kontrolldichte Art. 5 Abs. 4 EMRK im Einzelfall fordert, hängt unter anderem von dem Grund der Freiheitsentziehung ab.2245 Im Falle einer dauerhaften Freiheitsentziehung einer psychisch kranken Person im Sinne des Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. e) EMRK ist eine Untersuchung des Gesundheitszustands der betroffenen Person sowie eine Überprüfung, ob die Freiheitsentziehung zum Wohle der öffentlichen Sicherheit notwendig war, gefordert.2246 Bei der Ausweisungshaft im Sinne des Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. f) EMRK darf die Tatsache, dass die Freiheitsentziehung mit dem Schutz der nationalen Sicherheit begründet wird, nicht dazu führen, dass eine gerichtliche Kontrolle ausgeschlossen wird.2247 In Fällen einer kurzzeitigen Freiheitsentziehung oder einer vorläufigen eiligen Verhaftung (emergency detention) kann eine Willkürkontrolle ausreichen.2248 Je intensiver der Eingriff, desto genauer muss die gerichtliche Kontrolle ausfallen. Daneben kann es Gründe wie die Einschätzungsprärogative der Exekutive in Fällen der nationalen Sicherheit, die Eilbedürftigkeit einer Entscheidung oder die Kurzfristigkeit des Eingriffs geben, die die Kontrolle der Gerichte gegenüber

2243 EGMR Nr. 22414/93, Chahal v Vereinigtes Königreich (GK), 15.11.1996, §  127; Nr. 36760/06, Stanev v Bulgarien (GK), 17.01.2012, § 168; Nr. 71825/11, Housein v Griechenland, 24.10.2013, § 81; Nr. 16483/12, Khlaifia u. a. v Italien (GK), 15.12.2016, § 128; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  13 Rn.  101; Elberling, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 5 Rn. 102; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: MeyerLadewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  5 Rn.  96; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 324; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 5 EMRK Rn. 265. 2244 EGMR Nr. 11787/85 u. a., Thynne, Wilson und Gunnell v Vereinigtes Königreich (Pl.), 25.10.1990, § 79; Nr. 22414/93, Chahal v Vereinigtes Königreich (GK), 15.11.1996, § 127; Nr. 3455/05, A u. a. v Vereinigtes Königreich (GK), 19.02.2009, § 202; Nr. 71825/11, Housein v Griechenland, 24.10.2013, § 81; Nr. 16483/12, Khlaifia u. a. v Italien (GK), 15.12.2016, § 128; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 5 Rn. 96; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 326; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 80–81. 2245 EGMR Nr. 9106/80, Bouamar v Belgien, 29.02.1988, § 60; Nr. 22414/93, Chahal v Vereinigtes Königreich (GK), 15.11.1996, § 127; Nr. 36760/06, Stanev v Bulgarien (GK), 17.01.2012, § 169; Nr. 16483/12, Khlaifia u. a. v Italien (GK), 15.12.2016, § 129; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 5 EMRK Rn. 266 mit einem Überblick zu speziellen Anforderungen an die Prüfungskompetenz abhängig von der jeweiligen Freiheitsentziehung. 2246 EGMR Nr. 7215/75, X v Vereinigtes Königreich, 05.11.1981, § 58; Meye, in: Wolter, SKStPO, Art. 5 EMRK Rn. 266. 2247 EGMR Nr. 22414/93, Chahal v Vereinigtes Königreich (GK), 15.11.1996, §§ 130–132; Nr. 50963/99, Al-Nashif v Bulgarien, 20.06.2002, §§ 93–98. 2248 EGMR Nr. 7215/75, X v Vereinigtes Königreich, 05.11.1981, § 58; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 327.

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

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der Exekutive einschränken. Entfallen darf die gerichtliche Kontrolle jedoch in keinem Fall. Wie weitgehend die gerichtliche Kontrolle von Freiheitsentziehungen ausfällt, hängt also von verschiedenen Abwägungskriterien ab. In jedem Fall ist die gerichtliche Kontrolle auf tatsächliche und rechtliche Fragen beschränkt, Zweckmäßigkeitserwägungen müssen nicht kontrolliert werden. 4. Prüfungsbefugnis im Rahmen der Vorführung gemäß Art. 5 Abs. 3 EMRK Auch Richter oder die richterliche Amtspersonen, denen eine Person in Untersuchungs- oder Präventivhaft gemäß Art. 5 Abs. 3 EMRK vorgeführt wird, müssen die Befugnis haben, die Rechtmäßigkeit der Untersuchungs- oder Präventivhaft zu prüfen. „The fact that an arrested person had access to a judicial authority is not sufficient to constitute compliance with the opening part of Article 5 § 3. This provision enjoins the judicial officer before whom the arrested person appears to review the circumstances militating for or against detention, to decide by reference to legal criteria whether there are reasons to justify detention, and to order release if there are no such reasons [..]. In other words, Article 5 § 3 requires the judicial officer to consider the merits of the detention.“2249

Im Falle einer Untersuchungshaft müssen Richter oder Amtspersonen prüfen können, ob ausreichende Anhaltspunkte für einen Tatverdacht gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. c) EMRK sowie die Voraussetzungen einer rechtmäßigen Freiheitsentziehung nach nationalem Recht vorliegen.2250 Im Vergleich zu den Anforderungen des Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. c) EMRK stellen die meisten Konventionsstaaten für die Untersuchungshaft strengere Voraussetzungen auf.2251 Im Falle einer Präventivhaft müssen die Gerichte prüfen, ob ein begründeter Anlass zur Annahme besteht, dass die festgenommene Person ansonsten eine Straftat begehen wird.

2249

EGMR Nr. 25642/94, Aquilina v Malta (GK), 29.04.1999, § 47; ähnlich bereits EGMR Nr. 7710/76, Schiesser v Schweiz, 04.12.1979, § 31 sowie aktuell EGMR Nr. 26289/12, Magee u. a. v Vereinigtes Königreich, 12.05.2015, §§ 81–82; Nr. 70474/11 und 68036/12, Kiril Zlatkov Nikolov v Frankreich, 10.11.2016, § 41; zusammenfassend Schabas, ECHR, Art. 5, S. 249; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 5 Rn. 78; Bleichrodt, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 439 (474); Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 206–207. 2250 Zur umfassenden Prüfungsbefugnis nach Art. 5 Abs. 3 EMRK: EGMR Nr. 543/03, McKay v Vereinigtes Königreich (GK), 03.10.2006, § 40; Nr. 3394/06, Medvedyev u. a. v Frankreich (GK), 29.03.2010, § 125; Nr. 23755/07, Buzadji v Moldawien (GK), 05.07.2016, § 99; Elberling, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 5 Rn. 113; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 212. Zu den Rechtmäßigkeitsanforderungen nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. c) EMRK Elberling, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 5 Rn. 20, 53–56; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 5 Rn. ­16–17, 40. 2251 Siehe die rechtsvergleichende Übersicht zu 31 Konventionsstaaten in EGMR Nr. 23755/07, Buzadji v Moldawien (GK), 05.071.2016, §§ 45–60.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Im Vergleich zur Haftprüfung gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK stellt der EGMR geringere Anforderungen an die Kontrolldichte.2252 Dies liegt daran, dass über den Rechtsbehelf nach Art. 5 Abs. 3 EMRK unverzüglich nach der Festnahme entschieden werden muss, während das Verfahren nach Art. 5 Abs. 4 EMRK zwar auch zügig, aber weniger schnell als im Fall des Art. 5 Abs. 3 EMRK abgeschlossen sein muss,2253 sodass den Gerichten in diesen Fällen mehr Zeit für eine genauere Prüfung bleibt. 5. Zwischenfazit Die Prüfungsbefugnis erstinstanzlicher Gerichte gestaltet das Verhältnis zwischen Exekutive und Judikative aus. Im Grundsatz müssen Gerichte Streitigkeiten umfassend rechtlich und tatsächlich prüfen dürfen. Abhängig von Streitgegenstand und Eingriffsintensität erlaubt der EGMR aber Einschränkungen der gerichtlichen Prüfungskompetenz. Je drängender die Entscheidung ist, desto größer ist der exekutive Spielraum. Zudem schreibt der EGMR der Exekutive bestimmte Einschätzungen vorrangig zu, die von den Gerichten nur eingeschränkt überprüft werden können  – Fragen der nationalen Sicherheit, besonders technische oder komplexe Entscheidungen, Ausübung von Ermessen und allgemeine Zweckmäßigkeitserwägungen. In diesen Fällen darf die Prüfungskompetenz eingeschränkt werden, solange die zentralen Fragen der Streitigkeit weiterhin einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen.

III. Bindungswirkung gerichtlicher Entscheidungen „One of the fundamental aspects of the rule of law is the principle of legal certainty, which requires, inter alia, that where the courts have finally determined an issue, their ruling should not be called into question.“2254

Die hoheitliche Gewalt ist, genauso wie die Prozessparteien, verpflichtet, den Inhalt einer gerichtlichen Entscheidung zu respektieren und sich nicht darüber hinwegzusetzen. Die Bindungswirkung sichert ab, dass gerichtliche Entscheidungen 2252

EGMR Nr. 11956/07, Stephens v Malta Nr. 1, 21.04.2009, § 58. Vgl. Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 5 EMRK Rn. 88. 2254 EGMR Nr. 28342/95, Brumărescu v Rumänien (GK), 28.10.1999, § 61; Nr. 52854/99, Ryabykh v Russland, 24.07.2003, § 51; dem folgend EGMR Nr. 48553/99, Sovtransavto Holding v Ukraine, 25.07.2002, § 72; Nr. 52854/99, Ryabykh v Russland, 24.07.2003, § 51; Nr. 5623/09 u. a., Trapeznikov u. a. v Russland, 05.04.2016, § 22; Nr. 8001/07, Vardanyan und Nanushyan v Armenien, 27.10.2016, § 66; Nr. 4907/18, Xero Flor w Polsce sp. z o. o. v Polen, 07.05.2021, § 282; inhaltsgleich EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, § 238; knapper EGMR Nr. 23465/03, Agrokompleks v Ukraine, 06.10.2011, § 144; siehe auch Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 50 hervor. 2253

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

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über Streitigkeiten und strafrechtliche Verantwortlichkeiten effektiv sind. Sie bestimmt den Charakter gerichtlicher Entscheidungen und dient somit der Definition der judikativen Tätigkeit. Die Verbindlichkeit gerichtlicher Urteile verpflichtet die gesamte hoheitliche Gewalt, das gesprochene Urteil zu beachten. Die Verpflichtung zur Umsetzung gerichtlicher Urteile betrifft primär exekutive Organe. Hierdurch wird das Verhältnis zwischen Judikative und Exekutive näher ausgestaltet. 1. Verbindlichkeit gerichtlicher Entscheidungen Gerichtliche Entscheidungen sind für die betroffenen Parteien und für hoheitliche Organe verbindlich.2255 Die Verbindlichkeit der Entscheidung ist Bestandteil der gerichtlichen Funktion (judicial function).2256 Der EGMR entwickelt seine Grundsätze zur Verbindlichkeit gerichtlicher Entscheidungen anhand verschiedener Fallgruppen. In Urteilen gegen die Niederlande lag ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK vor, weil die streitgegenständlichen gerichtlichen Entscheidungen nur Empfehlungen an die Krone waren. Der Monarch folgte diesen Empfehlungen zwar üblicherweise, war aber nicht dazu gezwungen. Für den EGMR war ausschlaggebend, dass die rechtliche Möglichkeit bestand, eine abweichende Entscheidung zu treffen.2257 Auch eine Regelung, nach denen die Urteile von Militärgerichten erst von einem confirming officer bestätigt werden mussten, bevor sie wirksam werden konnten, verstieß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK.2258 Genauso durften die durch ein Militärgericht ausgesprochene Verurteilung und das Strafmaß nicht automatisch durch die nicht-gerichtliche reviewing authority überprüft werden, die sowohl die Verurteilung als auch das Strafmaß aufheben und durch eine eigene Entscheidung ersetzen konnte.2259 Im Rahmen des Art. 5 Abs. 3 EMRK ordnete der EGMR die fehlende Bindungswirkung der Entscheidung eines Untersuchungsrichters, die durch einen Staatsan 2255 Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 31; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn.  40; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 87; Harris u. a., Law of the ECHR, S. 447. 2256 EGMR Nr. 7819/77 und 7878/77, Campbell und Fell v Vereinigtes Königreich, 28.06.1984, § 76; Nr. 8848/80, Benthem v Niederlande (Pl.), 23.10.1985, § 40. 2257 Grundlegend EGMR Nr. 8848/80, Benthem v Niederlande (Pl.), 23.10.1985, § 40; dem folgend Nr. 16034/90, van de Hurk v Niederlande, 19.04.1994, §§ 45–55 (hier sprach der EGMR allerdings nicht mehr von einer Empfehlung (advice), von der die Krone abweichen konnte, sondern von der Möglichkeit der Krone, die Nicht-Umsetzung der Entscheidung anzuordnen); Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 176 inklusive Sachverhalts-Zusammenfassung sowie S. 250; Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 776; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 130; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 126–127. 2258 EGMR Nr. 22107/93, Findlay v Vereinigtes Königreich, 25.02.1997, § 77. 2259 EGMR Nr. 38784/94, Morris v Vereinigtes Königreich, 26.02.2002, §§ 74–76.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

walt wieder aufgehoben werden konnte, als Aspekt der richterlichen Unabhängigkeit ein.2260 Da Art. 5 Abs. 3 EMRK keine Vorführung vor ein Gericht, sondern vor einen Richter oder eine Amtsperson mit richterlichen Befugnissen verlangt, enthält der Wortlaut der Norm nicht den tribunal-Begriff, an den der EGMR im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK seine Anforderungen an die Bindungswirkung gerichtlicher Entscheidungen anknüpft. Für die Anforderungen an die innerstaatliche Gewaltenteilung ist es jedoch unerheblich, an welchem Tatbestandsmerkmal die inhaltlichen Anforderungen festgemacht werden. Die Vergleichbarkeit der Fälle nach Art. 6 Abs. 1 EMRK und nach Art. 5 Abs. 3 EMRK zeigt, dass auch die Rechtmäßigkeitsentscheidungen gemäß Art. 5 Abs. 3 EMRK Bindungswirkung entfalten müssen. Die Verbindlichkeit beschreibt die Wirkung gerichtlicher Entscheidungen. Staatsorgane sind an die gerichtlichen Entscheidungen gebunden. Die innerstaat­ lichen Zuständigkeitsordnungen dürfen gerichtlichen Entscheidungen nicht lediglich empfehlende Wirkung zuschreiben. Gerichte müssen Streitigkeiten ohne Mitwirkung anderer staatlicher Organe rechtswirksam entscheiden können. Ob ein Gericht eine verbindliche Entscheidung treffen kann, entscheidet der EGMR anhand der innerstaatlichen Gesetze, nicht anhand des konkreten Einzelfallgeschehens. 2. Unanfechtbarkeit und Unaufhebbarkeit rechtskräftiger Urteile Urteile sind ab dem Zeitpunkt ihrer Verkündung verbindlich, auch wenn sie noch nicht rechtskräftig sind. Bis zum Eintritt der Rechtskraft können die Prozessparteien mit Hilfe der vorgesehenen Rechtsmittel gegen Urteile vorgehen. Einen ordentlichen Rechtsbehelf charakterisiert der EGMR mit folgenden Merkmalen: „(i) [The proceedings] were directly accessible to the litigants, (ii) were, as a rule, initiated, as in the case at hand, by the parties to the case, not by a third-party State official, (iii) the possibility of instituting them was subject to a relatively short time-limit, and (iv) in these proceedings the Supreme Court could, much as a court of cassation, examine whether the judgments of the courts below were contrary to the law or ill-founded, or whether there had been a substantial breach of procedure, and had the power to quash them […].“2261

Wann ein Urteil rechtskräftig wird, ergibt sich aus der nationalen Rechtsordnung. Die EMRK macht hierzu keine Vorgaben. Typischerweise ist der Fristablauf für die Einlegung ordentlicher Rechtsmittel entscheidend. Sieht die nationale Rechtsordnung nach Eintritt der Rechtskraft noch ein ordentliches Rechtsmittel

2260 EGMR Nr. 24760/94, Assenov v Bulgarien, 28.10.1998, § 148; Nr. 31195/96, Nikolova v Bulgarien, 25.03.1999, § 51; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 157; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 271–272; Bleichrodt, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 439 (475). Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 13 Rn. 53 ordnet das Urteil Assenov v Bulgarien als Aspekt der Unparteilichkeit ein. 2261 EGMR Nr. 40476/98, Yanakiev v Bulgarien, 10.08.2006, § 65.

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

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vor, widerspricht dies nach dem Urteil Yanakiev v Bulgarien dem Prinzip der Rechtssicherheit nicht.2262 Nach Eintritt der Rechtskraft können gerichtliche Entscheidungen grundsätzlich nicht mehr angefochten oder aufgehoben werden.2263 Ausnahmen vom Institut der Rechtskraft gerichtlicher Urteile sind nur unter strengen Voraussetzungen möglich: „Legal certainty presupposes respect for the principle of res judicata […], that is the principle of the finality of judgments. This principle underlines that no party is entitled to seek a review of a final and binding judgment merely for the purpose of obtaining a rehearing and a fresh determination of the case. Higher courts’ power of review should be exercised to correct judicial errors and miscarriages of justice, but not to carry out  a fresh examination. The review should not be treated as an appeal in disguise, and the mere possibility of there being two views on the subject is not a ground for re-examination. A departure from that principle is justified only when made necessary by circumstances of  a substantial and compelling character.“2264

Eine Ausnahme liegt vor, wenn ein Fehlurteil behoben werden muss,2265 wenn ein Gericht außerhalb seiner Kompetenzen handelte,2266 oder wenn neue Beweise auftauchen, die beim ursprünglichen Verfahren nicht zugänglich waren beziehungsweise die die betroffene Person nicht hätte kennen können oder müssen2267.2268 Zusammenfassend muss das Legalitätsprinzip durch das rechtswidrige, rechtskräftige Urteil so stark beeinträchtigt sein, dass es in der Abwägung Vorrang vor der Rechtssicherheit hat. Ob eine Wiederaufnahme des Verfahrens zulässig ist, entscheidet der EGMR anhand des konkreten Einzelfalls2269 nach dem Sachverhalt und den tatsächlichen Gegebenheiten. In vielen mittel- und osteuropäischen Staaten existier(t)en außerordentliche Rechtsmittel, mit denen nicht die Prozessparteien, sondern die exekutiven Organe,

2262

EGMR Nr. 40476/98, Yanakiev v Bulgarien, 10.08.2006, § 65. So für die deutsche Rechtsordnung Schoch, Gerichtliche Verwaltungskontrolle, in: Hoffmann-­R iem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 3, § 50 Rn. 320; Maurer, Staatsrecht I, § 8 Rn. 53; Sodan / Ziekow, Öffentliches Recht, § 96 Rn. 5. 2264 EGMR Nr. 52854/99, Ryabykh v Russland, 24.07.2003, § 52; dem folgend EGMR Nr. 5623/09 u. a., Trapeznikov u. a. v Russland, 05.04.2016, § 23; Nr. 8001/07, Vardanyan und Nanushyan v Armenien, 27.10.2016, § 67; inhaltsgleich EGMR Nr. 5623/09 u. a., Trapeznikov u. a. v Russland, 05.04.2016, § 23; Nr. 19867/12, Moreira Ferreira v Portugal Nr. 2 (GK), 11.07.2017, § 62; Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, § 238; Nr. 70306/10, Tığrak v Türkei, 06.07.2021, § 48. 2265 Siehe die Nachweise in Fn. 2264. 2266 EGMR Nr. 20887/03, Kot v Russland, 18.01.2007, § 29. 2267 EGMR Nr. 69529/01, Pradvednaya v Russland, 18.11.2004, § 27; dem folgend EGMR Nr. 852/02, Smirnitskaya u. a. v Russland, 05.07.2007, § 38; Nr. 25575/08, Dragostea Copiilor – Petrovschi – Nagornii v Moldawien, 13.09.2011, §§ 30–33. 2268 Zusammenfassend zu den einzelnen Fallgruppen Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 60–61; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig /  Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 39. 2269 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, § 238. 2263

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

insbesondere obersten Staatsanwälten und Gerichtspräsidenten, unbefristet oder jedenfalls langfristig gegen Urteile2270 vorgehen können beziehungsweise konnten.2271 Solche außerordentlichen Rechtsmittel verhindern den Eintritt der Rechtskraft nicht.2272 Diese außerordentlichen Rechtsmittel verstießen gegen das Prinzip der Rechtssicherheit und damit gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK.2273 Hierbei war es unerheblich, welches hoheitliche Organ die Urteile in Frage stellte.2274 Leiturteil ist Brumărescu v Rumänien, wo der rumänische Generalstaatsanwalt (Procurator-General of Romania) zeitlich unbefristet beim Obersten Gericht beantragen konnte, ein rechtskräftiges Urteil aufzuheben.2275 Typischerweise wurden die Verfahren aus dem Grund wieder aufgenommen, dass politische Organe mit dem Ausgang des Gerichtsverfahrens nicht einverstanden waren.2276 Gesetzliche Mechanismen zur Wiederaufnahme des Verfahrens dürfen nur genutzt werden, um den Rechtsfrieden wiederherzustellen, nicht aber um eine politisch unerwünschte Entscheidung zu korrigieren. Diese konventionsrechtliche Anforderung richtet sich sowohl an den Gesetzgeber, der die außerordentlichen 2270 Die Sache EGMR Nr. 3052/04, Dacia S. R. L. v Moldawien, 18.03.2008 zeigt, dass der EGMR das Prinzip der Rechtssicherheit aus Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht nur auf Gerichts-, sondern auch auf Verwaltungsentscheidungen anwendet. Nach dem moldawischen Recht durfte der oberste Staatsanwalt (Prosecutor General) gegen die Entscheidung über die Privatisierung eines Hotels ohne Beachtung der generellen Rechtsbehelfsfrist vorgehen und griff sie nach vier Jahren an. Der EGMR stellte einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK fest, weil die unterschiedliche Behandlung der betroffenen Privatpersonen und des Staates hinsichtlich der Klagefrist auf keinen legitimen Grund gestützt werden konnte. Darüber hinaus war die Rechtslage mit dem Prinzip der Rechtssicherheit unvereinbar (§§ 76–77). Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 59 ordnete dieses Urteil irrtümlich als „Möglichkeit der Missachtung eines rechtskräftigen Urteils“ ein. 2271 Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 59 mit weiteren Nachweisen zur Rechtsprechung; ebenfalls m. w. N. Rainey / McCormick / Ovey, Jacobs, White, and Ovey, S. 294. 2272 Das ist auch daran zu erkennen, dass der EGMR in seiner Prüfung stets von rechtskräftigen Urteilen ausging, EGMR Nr. 52854/99, Ryabykh v Russland, 24.07.2003, § 56; Nr. 34640/02, Rahmanova v Aserbaidschan, 10.07.2008, §§ 58, 60. 2273 Zusammenfassend EGMR Nr. 34640/02, Rahmanova v Aserbaidschan, 10.07.2008, § 58; zur Entwicklung der Überwachungskontrolle in Russland zusammenfassend EGMR Nr. 5623/09 u. a., Trapeznikov u. a. v Russland, 05.04.2016, §§ 24–28; vgl. auch Esser, in: LöweRosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 109; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 40; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 58–59. 2274 So EGMR Nr. 61333/00, Tregubenko v Ukraine, 02.11.2004, § 36 für Staatsanwälte und Richter. 2275 EGMR Nr. 28342/95, Brumărescu v Rumänien (GK), 28.10.1999, § 62; dem folgend EGMR Nr. 48553/99, Sovtransavto Holding v Ukraine, 25.07.2002, §§ 73–77 (die Tatsache, dass der Beschwerdeführer anders als in der Sache Brumărescu, erneut angehört wurde, war für den EGMR unerheblich). 2276 So etwa EGMR Nr. 30674/03, Gavrilenko v Russland, 15.02.2007, §§ 37–38; Nr. 20887/03, Kot v Russland, 18.01.2007, §§ 29–39; Nr. 34640/02, Rahmanova v Aserbaidschan, 10.07.2008, §§ 63–65.

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

493

Rechtsmittel entsprechend gesetzlich ausgestalten muss als auch an die hoheitlichen Organe, welche die Wiederaufnahme des Verfahrens als Möglichkeit der politischen Kontrolle nutzen wollen. 3. Umsetzungspflicht der implementierenden Behörde „[T]he right of access to  a tribunal guaranteed by Article  6 § 1 of the Convention would be illusory if a Contracting State’s domestic legal system allowed a final, binding judicial decision to remain inoperative to the detriment of one party. Execution of a judgment given by any court must therefore be regarded as an integral part of the ‚trial‘ for the purposes of Article 6 […].“2277

Betrifft die Umsetzung eines Urteils einen Forderungsanspruch, ist auch Art. 1 ZP betroffen.2278 Die Umsetzungsverpflichtung gestaltet das Verhältnis der Gerichte zu den Umsetzungsbehörden aus, da sie Vorgaben zur Art und Weise der Umsetzung und zum Umsetzungsspielraum machen. a) Allgemeine Anforderungen Einige Anforderungen an die konventionsstaatliche Umsetzungsverpflichtung lassen sich für alle Streitgegenstände verallgemeinern. „It is for the Contracting States to organise their legal systems in such a way that the competent authorities can meet their obligation […].“2279

2277 EGMR Nr. 36813/97, Scordino v Italien Nr. 1 (GK), 29.03.2006, § 196; grundlegend bereits EGMR Nr. 18357/91, Hornsby v Griechenland, 19.03.1997, § 40; seit dem ständige Rechtsprechung, siehe z. B. EGMR Nr. 22774/93, Immobiliare Saffi v Italien (GK), 28.07.1999, § 63; Nr. 71503/01, Assanidze v Georgien (GK), 08.04.2004, § 181; Nr. 36220/97, Okyay u. a. v Türkei, 12.07.2005, § 72; Nr. 63995/00, Kukalo v Russland, 03.11.2005, § 48; Nr. 36220/97, Okyay u. a. v Türkei, 12.07.2005, § 72; Nr. 7618/05, Romańczyk v Frankreich, 18.11.2010, § 53; Nr. 25680/05, Bursa Barosu Başkanlığı u. a. v Türkei, 19.06.2018, § 133; zusammmenfassend Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 50; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 65; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten /  Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 71, Esser, in: Löwe-Rosenberg,  StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 109; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 82, 130, 250; Ress, Separation of Powers and the Function of the Judiciary, in: Barcellona / Carrino, I diritti umani, S. 187 (209). 2278 EGMR Nr. 42667/98, Ekşinozlugil v Türkei, 24.05.2005, §§ 18–20; Meyer-Ladewig /  Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 50. Eine gerichtlich feststellbare, durchsetzbare Forderung gilt als Eigentumsrecht, Meyer-Ladewig /  von Raumer, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 1 ZP Rn. 19; Kaiser, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 1 ZP Rn. 18. 2279 EGMR Nr. 2068/03 u. a., Kondrashov u. a. v Russland, 08.01.2009, § 35; Nr. 33509/04, Burdov v Russland Nr. 2, 15.01.2009, § 70; Nr. 2971/08, Arbačiauskienė v Litauen, 01.03.2016, § 87.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Die Konventionsstaaten sind also verpflichtet, organisatorisch tätig zu werden und einen institutionellen Umsetzungsmechanismus für Gerichtsurteile zu etablieren.2280 Die Verpflichtung zur Umsetzung eines konkreten Urteils entsteht mit Eintritt der Rechtskraft.2281 In der Sache Ouzounis v Griechenland lag trotz Untätigkeit der Umsetzungsbehörden keine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK vor, weil gegen die vorliegende erstinstanzliche Entscheidung noch ein Rechtsmittel zur Verfügung stand und das Berufungsgericht die erstinstanzliche Entscheidung schließlich aufhob.2282 „En effet, une fois qu’une décision interne définitive est rendue par les juridictions nationales, elle doit être mise en oeuvre avec une clarté et une cohérence raisonnables par les autorités publiques, afin d’éviter autant que possible l’insécurité juridique et l’incertitude pour les sujets de droit concernés par son application […].“2283

Eine fehlende Umsetzung kann nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt werden. Insbesondere können sich die Konventionsstaaten nicht darauf berufen, dass für eine Umsetzung die notwendigen finanziellen Mittel oder andere Ressourcen fehlen.2284 Die Umsetzung darf auch nicht nur teilweise erfolgen.2285 Schließlich darf der Konventionsstaat die Umsetzung nicht beliebig verzögern.2286 Wie lange die Umsetzung eines Urteils dauern darf, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.2287

2280

Siehe für einen Überblick über die Anforderungen an die Umsetzung gerichtlicher Entscheidungen Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / G rote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / ​GG, Kap.  14 Rn.  92; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettes­ heim / ​von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 50; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 109; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 122–124. 2281 EGMR Nr. 18357/91, Hornsby v Griechenland, 19.03.1997, § 40; Nr. 49144/99, Ouzounis u. a. v Griechenland, 18.04.2002, § 21; Nr. 36220/97, Okyay u. a. v Türkei, 12.07.2005, § 72; Nr. 25680/05, Bursa Barosu Başkanlığı u. a. v Türkei, 19.06.2018, § 134. 2282 EGMR Nr. 49144/99, Ouzounis u. a. v Griechenland, 18.04.2002, § 21. 2283 EGMR Nr. 25680/05, Bursa Barosu Başkanlığı u. a. v Türkei, 19.06.2018, § 133 (Hervorhebung durch die Verfasserin). So im Rahmen von Art. 1 ZP 1 auch EGMR Nr. 63252/00, Păduraru v Rumänien, 01.12.2005, § 92. 2284 EGMR Nr. 59498/00, Burdov v Russland, 07.05.2002, § 35; Nr. 2068/03 u. a., Kon­ drashov u. a. v Russland, 08.01.2009, § 35; Nr. 33509/04, Burdov v Russland Nr. 2, 15.01.2009, § 70; Nr. 31833/06 und 37538/06, Cıngıllı Holding A. Ş. und Cıngıllıoğlu v Türkei, 21.07.2015, § 39; Nr. 2971/08, Arbačiauskienė v Litauen, 01.03.2016, § 87. 2285 EGMR Nr. 48102/99, Sabin Popescu v Rumänien, 02.03.2004, §§ 68–76; Nr. 62740/00, Matheus v Frankreich, 31.03.2005, § 58; Nr. 25680/05, Bursa Barosu Başkanlığı u. a. v Türkei, 19.06.2018, § 133. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn nur ein Teil der geschuldeten Summe gezahlt wird, EGMR Nr. 33509/04, Burdov v Russland Nr. 2, 15.01.2009, § 79. 2286 EGMR Nr. 33509/04, Burdov v Russland Nr. 2, 15.01.2009, § 66; Nr. 25680/05, Bursa Barosu Başkanlığı u. a. v Türkei, 19.06.2018, § 133; Kuijer, The Blindfold of the Lady Justice, S. 251–252. 2287 EGMR Nr. 62988/00, Užkurėlienė u. a. v Litauen, 07.04.2005, § 36; Nr. 71186/01, Fuklev v Ukraine, 07.06.2005, § 83; Nr. 63995/00, Kukalo v Russland, 03.11.2005, § 49; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn.  92;

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

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Der EGMR bezieht insbesondere die Komplexität des Verfahrens und die Schwierigkeit der Vollstreckung, die Höhe und die Art der Forderung sowie die Mitwirkung des Beschwerdeführers und der Behörden in seine Bewertung ein.2288 Die Umsetzungsbehörden dürfen bei der Umsetzung des Urteils nicht vom Inhalt der Entscheidung abweichen.2289 So lag in der Sache Okyay v Türkei ein Verstoß gegen das Prinzip der Rechtssicherheit vor. Nachdem Gerichte die Abschaltung verschiedener Kraftwerke angeordnet hatten, verfügte der Ministerrat, dass diese weiterhin in Betrieb blieben und überging somit die gerichtliche Entscheidung.2290 Liegen hingegen verschiedene Umsetzungsmöglichkeiten vor, haben die aus dem Urteil berechtigten Personen keinen Anspruch auf eine bestimmte Art und Weise der Umsetzung.2291 Welche Organe in den innerstaatlichen Rechtsordnungen für die Umsetzung der Gerichtsurteile zuständig sind, gibt der EGMR nicht vor: „La protection effective du justiciable implique l’obligation pour l’État ou l’un de ses organes d’exécuter le jugement.“2292

Dieses Vorgehen entspricht der völkerrechtlichen Verpflichtungsstruktur der EMRK, die den Staat als solchen verpflichtet, vgl. Art. 1 EMRK. Aus konventionsrechtlicher Perspektive ist entscheidend, ob der vom Urteil geforderte SollZustand durch die Umsetzung erreicht wurde. Deswegen untersucht der EGMR auch nicht, welche Behörde nach innerstaatlichem Recht für die Umsetzung zuständig gewesen wäre. „[The Court] does not consider it necessary to establish which domestic authority or administration was responsible for the failure to execute the judgment […]. It merely observes that the administrative authorities taken as a whole form one element of a State subject to the rule of law and their interests accordingly coincide with the need for the proper administration of justice […].“2293

Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 50. 2288 EGMR Nr. 22000/03, Raylyan v Russland, 15.02.2007, § 31; Nr. 33509/04, Burdov v Russland Nr. 2, 15.01.2009, § 66; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 50; Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. ­258–259 mit einzelnen Fallbeispielen; EGMR Guide on Article 6 of the European Convention on Human Rights – Right to a fair trial (civil limb) (Fn. 1420), § 203. 2289 EGMR Nr. 46117/99, Taşkın u. a. v Türkei, 10.11.2004, §§ 136–137; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 128. 2290 EGMR Nr. 36220/97, Okyay u. a. v Türkei, 12.07.2005, § 73; mit ähnlichem Sachverhalt EGMR Nr. 46117/99, Taşkın v Türkei, 10.11.2004, § 136. 2291 EGMR Nr. 54536/00, Emsenhuber v Österreich (Zul.), 11.09.2003; Esser, in: Löwe-­ Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 109 Rn. 289; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 128. 2292 EGMR Nr. 25680/05, Bursa Barosu Başkanlığı u. a. v Türkei, 19.06.2018, § 133 (Hervorhebung durch die Verfasserin). 2293 EGMR Nr. 71503/01, Assanidze v Georgien (GK), 08.04.2004, § 183; knapper EGMR Nr. 18357/91, Hornsby v Griechenland, 19.03.1997, § 41; Nr. 46117/99, Taşkın u. a. v Türkei, 10.11.2004, § 124; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 123 Fn. 478.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Seine Formulierungen zeigen jedoch, dass der EGMR davon ausgeht, dass typischerweise die Verwaltungsbehörden für die Umsetzung zuständig sind.2294 Hierbei handelt es sich jedoch um eine rechtsvergleichende Beobachtung, keine normative Vorgabe für die Konventionsstaaten. Auf dieser Beobachtung aufbauend, betreffen die konventionsrechtlichen Vorgaben für die Umsetzung des Urteils vorrangig das Verhältnis zwischen den Verwaltungsbehörden und den Gerichten. b) Besondere, vom Streitgegenstand abhängige Anforderungen Abhängig vom Streitgegenstand ergeben sich aus der EGMR-Rechtsprechung des EGMR weitere besondere Anforderungen an die Umsetzung gerichtlicher Urteile. Im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK kann zwischen Anforderungen an zivilrechtliche Streitigkeiten zwischen Privatpersonen, an strafrechtliche Fälle und an verwaltungsrechtliche Streitigkeiten in einem der beiden Anwendungsbereiche unterschieden werden.2295 (1) Zivilrechtliche Streitigkeiten im engeren Sinne In zivilrechtlichen Streitigkeiten im engeren Sinne entscheidet ein Gericht über das Rechtsverhältnis zwischen zwei Privatpersonen. „The right of access to  a court cannot oblige  a State to have every single civil judgment executed, no matter what the judgment or the circumstances […].“2296

Der Staat ist nicht dafür verantwortlich, wenn die Durchsetzung eines zivilrechtlichen Anspruchs daran scheitert, dass ein Schuldner privatinsolvent ist2297 oder aus anderen Gründen seiner Verpflichtung nicht nachkommt oder kommen kann2298. Die Konventionsstaaten sind lediglich dazu verpflichtet, ein rechtlich und 2294

Siehe bereits das wörtliche Zitat zu Fn. 2293. Auch in EGMR Nr. 18357/91, Hornsby v Griechenland, 19.03.1997, §§ 39, 41 sprach der EGMR von administrative authorities; ebenso EGMR Nr. 38064/97, Turczanik v Polen, 05.07.2005, § 48. 2295 Siehe auch die Gegenüberstellung von Urteilen gegen staatliche Stellen einerseits und Urteilen gegen Private andererseits bei EGMR Guide on Article 6 of the European Convention on Human Rights – Right to a fair trial (civil limb) (Fn. 1420), §§ 217–221. 2296 EGMR Nr. 38285/09, García Mateos v Spanien, 19.02.2013, § 42; inhaltsgleich EGMR Nr. 50342/99, Sanglier v Frankreich, 27.05.2003, § 39; Nr. 27329/06, Roşiianu v Rumänien, 24.06.2014, § 44; inhaltsgleich EGMR Nr. 43569/13, Sekul v Kroatien (Zul.), 30.06.2015, § 54. 2297 EGMR Nr. 50342/99, Sanglier v Frankreich, 27.05.2003, § 39; Nr. 33273/03, Ciprová v Tschechien (Zul.), 22.03.2005; Nr. 65829/12, Tchokontio Happi v Frankreich, 09.04.2015, § 49. 2298 EGMR Nr. 2577/02, Fociac v Rumänien, 03.02.2005, §§ 74–78; Nr. 10856/03, Volnykh v Russland, 17.12.2009, § 14; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 50.

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tatsächlich effektives Vollstreckungssystem zu etablieren.2299 Diese Vorgabe richtet sich primär an den Gesetzgeber und ist nicht sehr weitreichend: „[T]he State’s responsibility for enforcement of  a judgment against  a private company extends no further then the involvement of State bodies, including the domestic courts, in the enforcement proceedings.“2300

Die nationalen Behörden müssen in der Lage sein, für den Einzelfall adäquate und ausreichende Maßnahmen ergreifen zu können.2301 Sie müssen aber nicht sicherstellen, dass jedes private Vollstreckungsverfahren erfolgreich verläuft. Ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK liegt insbesondere vor, wenn – wie in der Sache Fuklev v Ukraine – die zuständigen Behörden die notwendigen und vorgesehenen nächsten Schritte im Vollstreckungsverfahren nicht einleiten. Obwohl ein rechtskräftiges Urteil und ein Vollstreckungstitel vorlagen, leitete die zuständige Behörde (State Bailiffs’ Service)  diese nicht an die Liquidierungs-Kommission (liquidation commission) weiter. Darüber hinaus übte die Liquidierungs-Kommission ihre hoheitliche Aufgabe de facto nicht aus.2302 In der Sache Pini v Rumänien wurde die gerichtliche Entscheidung, dass zwei Adoptivkinder wieder mit ihren Adoptiveltern, den Beschwerdeführern, zusammen wohnen durften, über drei Jahre nicht umgesetzt. Die private Betreuungseinrichtung lehnte es ab, die Kinder an die Eltern zu übergeben und verweigerte damit die Mitwirkung an der Umsetzung.2303 Der zuständige Bailiff war zwar nicht untätig, jedoch in seinen Bemühungen erfolglos geblieben, die Kinder ihren Adoptiveltern zu übergeben, insbesondere war er gemeinsam mit den Beschwerdeführern und deren Anwälten an einem Tag in dem privaten Kinderheim festgehalten worden.2304 Die Anforderungen an eine zügige Umsetzung des Urteils waren besonders hoch, weil der aktuelle Zustand nachteilige Konsequenzen für die Beziehung zwischen Kindern und Adoptiveltern hatte.2305 Nach dem EGMR-Urteil hätte die Umsetzung des Urteils notfalls durch Polizeigewalt unterstützt werden müssen. Außerdem kritisierte der Gerichtshof, dass die Behörden nicht mit Hilfe existierender Vorschriften, zum Beispiel durch den Entzug der Lizenz, gegen das

2299 EGMR Nr. 71186/01, Fuklev v Ukraine, 07.06.2005, § 84; Nr. 38285/09, García Mateos v Spanien, 19.02.2013, § 44; Nr. 65829/12, Tchokontio Happi v Frankreich, 09.04.2015, § 49; Nr. 42140/05 u. a., Fomenko u. a. v Russland (Zul.), 24.09.2019, § 171; Meyer-Ladewig /  Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 50. 2300 EGMR Nr. 71186/01, Fuklev v Ukraine, 07.06.2005, § 67; inhaltsgleich EGMR Nr. 48757/99, Shestakov v Russland (Zul.), 18.06.2002; Nr. 43569/13, Sekul v Kroatien (Zul.), 30.06.2015, § 54. 2301 EGMR Nr. 25867/02, Anokhin v Russland (Zul.), 31.05.2007; Nr. 65829/12, Tchokontio Happi v Frankreich, 09.04.2015, § 49; Nr. 43569/13, Sekul v Kroatien (Zul.), 30.06.2015, § 55. 2302 EGMR Nr. 71186/01, Fuklev v Ukraine, 07.06.2005, §§ 84–85. 2303 EGMR Nr. 78028/01 und 78030/01, Pini u. a. v Bulgarien, 22.06.2004, § 180. 2304 EGMR Nr. 78028/01 und 78030/01, Pini u. a. v Bulgarien, 22.06.2004, §§ 179, 182. 2305 EGMR Nr. 78028/01 und 78030/01, Pini u. a. v Bulgarien, 22.06.2004, §§ 175, 188.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

private Kinderheim vorgingen.2306 Dieser Sonderfall zeigt, dass auch in einigen zivilrechtlichen Streitigkeiten die Umsetzungsbehörden aktiv tätig werden müssen. Ist ein Realhandeln zur Umsetzung des Urteils erforderlich, kann der Einsatz von Polizeigewalt erforderlich sein. Generell sind die Anforderungen an die Umsetzung zivilgerichtlicher Urteile vom Streitgegenstand beziehungsweise dem Inhalt des Urteils abhängig. Im Falle einer Geldschuld ist es ausreichend, ein System der Zwangsvollstreckung zu organisieren und dafür zu sorgen, dass dieses den regulären Ablauf des Verfahrens unterstützt. Die Konventionsstaaten sind nicht dafür verantwortlich, wenn die Umsetzung des Urteils am Unvermögen des Schuldners scheitert. (2) Verwaltungsrechtliche Streitigkeiten Die besonderen Anforderungen an die Urteilsumsetzung in verwaltungsgerichtlichen Verfahren gehen auf das Urteil Hornsby v Griechenland zurück. Die Verfahren unterscheiden sich von den zivilrechtlichen Verfahren dadurch, dass die Rechte des Bürgers gegen den Staat (civil rights) betroffen sind.2307 „By lodging an application for judicial review with the State’s highest administrative court, the litigant seeks not only the annulment of the impugned decisions but also and above all the removal of its effects. The effective protection of a party to such proceedings and the restoration of legality presuppose an obligation on the administrative authorities’ part to comply with the judgment of that court. The administrative authorities form one element of a State subject to the rule of law and their interests accordingly coincide with the need for the proper administration of justice. Where administrative authorities refuse or fail to comply, or even delay doing so, the guarantees under Article 6 enjoyed by a litigant during the judicial phase of proceedings are rendered devoid of purpose.“2308

Anders als bei Streitigkeiten zwischen zwei Privatpersonen verlangt der EGMR in verwaltungsrechtlichen Sachverhalten von den Bürgern nicht, in einem separaten Vollstreckungsverfahren tätig zu werden, nachdem sie bereits ein verwaltungsgerichtliches Verfahren gegen den Staat gewonnen haben.2309 „[T]he defendant State authority must be duly notified of the judgment and is thus well placed to take all necessary initiatives to comply with it or to transmit it to another competent State 2306

EGMR Nr. 78028/01 und 78030/01, Pini u. a. v Bulgarien, 22.06.2004, §§ 183–186. EGMR Nr. 18357/91, Hornsby v Griechenland, 19.03.1997, § 41; Nr. 36220/97, Okyay u. a. v Türkei, 12.07.2005, § 73; Nr. 10613/16, Sharxhi u. a. v Albanien, 11.01.2018, § 92. 2308 EGMR Nr. 18357/91, Hornsby v Griechenland, 19.03.1997, § 41; Nr. 68050/01, Ekholm v Finnland, 24.07.2007, § 73; Nr. 31833/06 und 37538/06, Cıngıllı Holding A. Ş. und Cıngıllıoğlu v Türkei, 21.07.2015, § 38. 2309 EGMR Nr. 33509/04, Burdov v Russland Nr. 2, 15.01.2009, § 68; Nr. 27329/06, Roşiianu v Rumänien, 24.06.2014, § 45; Nr. 10613/16, Sharxhi u. a. v Albanien, 11.01.2018, § 93; MeyerLadewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  6 Rn. 50. 2307

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authority responsible for execution. This is particularly relevant in a situation where, in view of the complexities and possible overlapping of the execution and enforcement procedures, an applicant may have reasonable doubts about which authority is responsible for the execution or enforcement of the judgment […].“2310

Die Last der Umsetzung muss primär bei den staatlichen Behörden liegen.2311 Eine Mitwirkungspflicht des aus dem Urteil Berechtigten muss auf das absolut notwendige Maß begrenzt werden und darf die zuständigen Behörden nicht aus ihrer eigenen Umsetzungsverpflichtung entlassen.2312 Die Umsetzungsorgane dürfen sich nicht hinter einer vermeintlich fehlenden, aber tatsächlich nicht notwendigen Mitwirkung der begünstigten Person verstecken. Die Verpflichtung, eine Gebühr zu bezahlen, damit das Urteil umgesetzt wird, ist – jedenfalls wenn die betroffene Person nicht in der Lage ist, diese Summe aufzubringen – konventionswidrig.2313 Zulässig ist hingegen, die berechtigte Person zu verpflichten, bestimmte Dokumente oder die Bankverbindung einzureichen.2314 Zusammenfassend müssen die Konventionsstaaten in verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten die tatsächliche Umsetzung des Urteils aktiv sicherstellen. Das Umsetzungsverfahren muss so organisiert sein, dass die Mitwirkungspflichten der berechtigten Person möglichst gering ausgestaltet sind. (3) Strafrechtliche Anklagen Die konventionsrechtlichen Anforderungen an die Umsetzungsverpflichtungen strafrechtlicher Urteile unterscheiden sich abhängig davon, ob eine Verurteilung oder eine sonstige verfahrensbeendende Entscheidung wie ein Freispruch vorliegt. Im Falle einer Verurteilung besteht zwar ein öffentliches Interesse an der Umsetzung dieses Urteils. Dieses öffentliche Interesse wird aber nicht durch Art. 6 Abs. 1 EMRK geschützt und kann über die EMRK von niemandem geltend gemacht werden. Aus Art. 6 Abs. 1 EMRK kann nicht abgeleitet werden, dass eine Geld- oder Freiheitsstrafe tatsächlich vollstreckt werden muss. Wurde hingegen eine angeklagte Person freigesprochen, hat sie ein subjektives Interesse daran, dass alle bisherigen mit der Anklage einhergehenden rechtlichen 2310 EGMR Nr. 33509/04, Burdov v Russland Nr. 2, 15.01.2009, § 68; dem folgend EGMR Nr. 604/07 u. a., Manushaqe Puto u. a. v Albanien, 31.07.2012, § 90; inhaltsgleich EGMR Nr. 30616/05, Akashev v Russland, 12.06.2008, § 21. 2311 EGMR Nr. 33509/04, Burdov v Russland Nr. 2, 15.01.2009, § 69; Nr. 604/07 u. a., Manushaqe Puto u. a. v Albanien, 31.07.2012, § 81; Nr. 2971/08, Arbačiauskienė v Litauen, 01.03.2016, § 86. 2312 EGMR Nr. 30616/05, Akashev v Russland, 12.06.2008, § 22; Nr. 33509/04, Burdov v Russland Nr. 2, 15.01.2009, § 69. 2313 EGMR Nr. 40765/02, Apostol v Georgien, 28.11.2006, §§ 64–65. 2314 EGMR Nr. 32141/04, Kosmidis und Kosmidou v Griechenland, 08.11.2007, § 24; Nr. 30616/05, Akashev v Russland, 12.06.2008, § 22; Nr. 33509/04, Burdov v Russland Nr. 2, 15.01.2009, § 69; Nr. 2971/08, Arbačiauskienė v Litauen, 01.03.2016, § 86.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Nachteile und Grundrechtseingriffe beendet werden. Im Fall Assanidze v Georgien wurde der Beschwerdeführer nach seinem Freispruch drei Jahre lang nicht aus der Untersuchungshaft entlassen. Hierin lag ein Verstoß gegen die sich aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ergebende Umsetzungsverpflichtung.2315 In diesem eindeutigen Fall ging der EGMR nicht näher auf die Art und Weise der Umsetzung des Freispruchs ein. Wegen der hohen Grundrechtsrelevanz darf jedoch keine Mitwirkung der zu Unrecht angeklagten Person gefordert werden. Der Konventionsstaat ist verpflichtet, unverzüglich und aus eigener Initiative die Untersuchungshaft zu beenden. (4) Freiheitsentziehungen Das Assanidze-Urteil gilt auch für Art. 5 Abs. 4 EMRK. Wurde bei einer Haftprüfung gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK festgestellt, dass die Freiheitsentziehung rechtswidrig ist, sind die Konventionsstaaten ebenfalls verpflichtet, in Umsetzung dieser Entscheidung die betroffene Person schnellstmöglich freizulassen.2316 Wegen der besonderen Eingriffsintensität von Freiheitsentziehungen sind die Anforderungen an die Umsetzung der gerichtlichen Entscheidung besonders streng ausgestaltet. Eine Verzögerung aus organisatorischen Gründen ist nur für wenige Stunden gerechtfertigt.2317 Im Sinne einer konventionseinheitlichen Auslegung gelten die gleichen Anforderungen auch im Rahmen des Art. 5 Abs. 3 EMRK. c) Zwischenfazit Die konventionsrechtlichen Anforderungen an die Umsetzung gerichtlicher Urteile orientieren sich am Erfordernis eines effektiven Rechtsschutzes. Urteile müssen zeitnah, umfassend und wirksam umgesetzt werden. Der EGMR macht Vorgaben zur Art und Weise der Umsetzung. Welche hoheitlichen Organe für die Umsetzung zuständig sind, überlässt der EGMR den Konventionsstaaten. Die konkreten Anforderungen sind abhängig vom jeweiligen Einzelfall. Für zivilrechtliche Streitigkeiten sind die Konventionsstaaten typischerweise verpflichtet, ein System der Zwangsvollstreckung zu etablieren, sodass die aus den Urteilen Berechtigten selbst die Durchsetzung ihres Anspruchs verfolgen können. Verwaltungsrechtliche Urteile und Freisprüche müssen die Konventionsstaaten von sich aus umsetzen, im Falle einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung wegen der massiven Grundrechtseinschränkung innerhalb weniger Stunden. Auf die Mitwirkung der Prozesspar 2315 EGMR Nr. 71503/01, Assanidze v Georgien (GK), 08.04.2004, §§ 182–184; in diesem Urteil verpflichtete der EGMR erstmals einen Staat konkret dazu, in Umsetzung des EGMRUrteils eine Person freizulassen, §§ 202–203. 2316 EGMR Nr. 71503/01, Assanidze v Georgien (GK), 08.04.2004, § 187. 2317 EGMR Nr. 11036/03, Ladent v Polen, 18.03.2008, § 81; Nr. 41168/07, Sidorin u. a. v Russland, 10.04.2018, § 46; Dörr, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 13 Rn. 93.

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

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teien dürfen die Konventionsstaaten bei verwaltungsrechtlichen Sachverhalten nur soweit zurückgreifen, wie sie für die Umsetzung des Urteils unverzichtbar ist.

4. Zwischenfazit Der EGMR schützt die Bindungswirkung gerichtlicher Urteile über das Prinzip der Rechtssicherheit als Ausprägung der rule of law des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Gerichtliche Entscheidungen müssen nicht nur für die Prozessparteien, sondern auch für die Staatsgewalt verbindlich wirken. Ein Urteil darf nicht von anderen hoheitlichen Organen bestätigt werden müssen. Außerdem sind nicht-gerichtliche Organe von der Kontrolle judikativer Rechtsakte ausgeschlossen. Sie dürfen Gerichtsurteile nicht aufheben. Wollen hoheitliche Organe gegen ein Urteil vorgehen, sind sie auf den Rechtsweg entsprechend der innerstaatlichen Regelungen verwiesen. Nach Erschöpfung des Rechtswegs beziehungsweise wenn die innerstaatliche Rechtsordnung dies anordnet, wird ein Urteil rechtskräftig. Ab diesem Zeitpunkt darf es nur noch aus zwingenden Gründen – wenn die Erfordernisse des Rechtmäßigkeitsprinzips die der Rechtssicherheit überwiegen – erneut in Frage gestellt werden. Aus diesem Grund sind auch außerordentliche Rechtsmittel, durch welche hoheitliche Organe zeitlich unbegrenzt oder jedenfalls über die Dauer der ordentlichen Rechtsmittelfrist hinaus aus freiem Ermessen ein Urteil erneut überprüfen lassen können, konventionswidrig. Diese konventionsrechtlichen Vorgaben müssen die Konventionsstaaten in ihrer Rechtsordnung umsetzen. Primär verpflichtet sind also die Gesetzgebungsorgane. Sie dürfen außerdem nicht-gerichtlichen Organen keine Kompetenzen zuweisen, durch welche sie sich über Gerichtsurteile hinwegsetzen oder diese in Frage stellen können. Schließlich sind die Konventionsstaaten verpflichtet, Mechanismen zur Umsetzung gerichtlicher Urteile einzurichten und zu erhalten. Welche Organe für die Umsetzung zuständig sind, geben EMRK und EGMR nicht vor. Typischerweise handelt es sich um Verwaltungsorgane, sodass von der Umsetzungsverpflichtung das Verhältnis zwischen Exekutive und Judikative betroffen ist. Die zuständigen Organe sind dazu verpflichtet, die Urteile umfassend und zeitnah umzusetzen. Sie haben somit nur einen geringen eigenen Spielraum. Zur Umsetzung von Urteilen im Verhältnis zwischen Bürger und Staat, etwa in verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten oder wenn es um eine Freilassung aus der Untersuchungshaft nach einem Freispruch geht, müssen die Umsetzungsorgane aus eigener Initiative tätig werden.

IV. Ausschluss der gerichtlichen Tätigkeit Die Inhalte der gerichtlichen Entscheidungen, die Prüfungsbefugnis und die Bindungswirkung leiten sich aus den Gewährleistungsgehalten der verschiedenen Rechte auf Zugang zum Gericht ab. Diese Aspekte betreffen die Wirkung der ge-

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

richtlichen Tätigkeit in den innerstaatlichen Rechtsordnungen. Insbesondere der Inhalt der gerichtlichen Entscheidungen ist abhängig vom Streitgegenstand. Über welche Streitgegenstände die nationalen Gerichte entscheiden können müssen, hängt vom Anwendungsbereich der Art. 6 Abs. 1, Art. 5 Abs. 3, 4 EMRK ab. Die Konventionsstaaten können das Recht auf Zugang zum Gericht jedoch auch gerechtfertigt einschränken. Dann muss das innerstaatliche Verfahren dem Gewährleistungsgehalt des anwendbaren Konventionsrechts nicht entsprechen. Aus der Perspektive der innerstaatlichen Gewaltenteilungen sind im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK Beschränkungen wegen der Immunität von Amtsträgern und bei der Überprüfung von Regierungsakten relevant. In diesen Fällen beschränken die nationalen Rechtsordnungen die gerichtliche Kontrolle von Handlungen anderer Träger hoheitlicher Gewalt. 1. Immunität von Amtsträgern Kann ein Organwalter qua Amt nicht verklagt oder angeklagt werden, ist dies für die klagende Person ein Eingriff in ihr Recht auf Zugang zum Gericht.2318 Sie kann gegen den immunen Organwalter nicht oder nur mit Zustimmung eines hoheitlichen Organs Rechtsschutz erlangen.2319 Die Immunität der Amtsträger ergibt sich aus dem innerstaatlichen Recht und betrifft innerstaatliche Sachverhalte.2320 Am häufigsten hat der EGMR sich zur parlamentarischen Immunität geäußert.2321 Die Beschränkung des Rechts auf Zugang zum Gericht ist gerechtfertigt, wenn sich ein Abgeordneter im Zusammenhang mit seinem parlamentarischen Mandat geäußert oder in diesem Zusammenhang gehandelt hat. Die parlamentarische Immunität dient der Funktionsfähigkeit des Parlaments und der Gewaltenteilung zwischen Legislative und Judikative.2322 Fälle zur richterlichen Immunität sind in der EGMR-Rechtsprechung weniger präsent. In zivilrechtlichen Streitigkeiten ist die richterliche Immunität, wie bei Abgeordneten, verhältnismäßig, sofern der Streitgegenstand im Zusammenhang mit der richterlichen hoheitlichen Tätigkeit steht. Der rechtfertigende legitime 2318 Vgl. Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 66; Meyer-Ladewig / Harrendorf /  König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 54–55. 2319 Vgl. Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 118. 2320 Vgl. EGMR Nr. 19673/03, Gryaznov v Russland, 12.06.2012, § 75; Kloth, Immunities and the Right of Access to Court, S. 159 ff.; Schabas, ECHR, Art. 6, S. 286. 2321 Siehe ausführlich zu den verschiedenen Fallgruppen und Urteilen zur parlamentarischen Immunität oben ab S. 344. 2322 EGMR Nr. 35373/97, A v Vereinigtes Königreich, 17.12.2002, §§ 77, 84–86; als Gegenbeispiel EGMR Nr. 40877/98, Cordova v Italien Nr. 1, 03.01.2003, §§ 61–63; für zivilrechtliche Verfahren EGMR Nr. 24895/07, Syngelidis v Griechenland, 11.02.2010, §§ 44–50; zusammenfassend EGMR Nr. 27756/05 und 41219/07, Urechean und Pavlicenco v Moldawien, 02.12.2014, §§ 41–42.

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

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Zweck ist der Schutz der Funktionsfähigkeit der Gerichtsbarkeit und der richterlichen Unabhängigkeit.2323 Auch Staatsoberhäupter sind häufig gegen Klagen und Anklagen immun. In der Sache Urechean und Pavlicenco v Moldawien machte die Beschwerdeführerin eine Verleumdungsklage (libel action) gegen den moldawischen Staatspräsidenten anhängig.2324 Der EGMR wendete die zur parlamentarischen Immunität entwickelten Grundsätze an.2325 „[I]n general, irrespective of the form of government in  a given country,  a head of State exercises important functions in the State structure. Such is the case with Moldova,  a parliamentary democracy, where the head of State plays an important role in areas such as foreign affairs, defence and the promulgation of the law. Although a head of State’s task is not, unlike that of an MP, at least in the case of Moldova, to be actively involved in debates, the Court considers that it should be acceptable in a democratic society for States to afford functional immunity to their heads of State in order to protect their free speech in the exercise of their functions and to maintain the separation of powers in the State. Nevertheless, such immunity, being an exception from the general rule of civil responsibility shall be regulated and interpreted in a clear and restrictive manner.“2326

Entscheidend ist wiederum, ob der Präsident in Ausübung seiner hoheitlichen Tätigkeit gehandelt hat. Da dies im konkreten Fall von den nationalen Gerichten nicht geprüft wurde, waren die Beschwerdeführer in ihrem Recht auf Zugang zum Gericht verletzt.2327 Soweit ersichtlich, ist das Urteil Urechean und Pavlicenco v Moldawien das einzige Urteil zur funktionalen Immunität von Staatsoberhäuptern. Es legt nahe, dass der EGMR die gleichen Grundsätze wie bei der Immunität von Abgeordneten anlegt, obwohl die freie Teilnahme an aktuellen politischen Debatten für Abgeordnete wichtiger ist als für Staatsoberhäupter mit vorwiegend repräsentativen Funktionen. Bereits im Jahr 1998 argumentierte der EGMR hinsichtlich der Immunität von Polizisten im Falle von zivilrechtlichen Klagen ähnlich. Der EGMR akzeptierte als legitimen Zweck die effiziente und effektive Bekämpfung von Verbrechen, die gefährdet werden könnte, wenn die Polizisten sich ständig dem Risiko einer per-

2323 EGMR Nr. 33400/96, Ernst u. a. v Belgien, 15.07.2003, § 50; Nr. 19673/03, Gryaznov v Russland, 12.06.2012, § 78. Entscheidungen die die Verhältnismäßigkeit der richterlichen Immunität als Schranke in einem strafrechtlichen Verfahren zum Gegenstand hatten, sind bislang nicht ersichtlich. Siehe ausführlich zur richterlichen Immunität als Statusrecht ab S. 631. 2324 EGMR Nr. 27756/05 und 41219/07, Urechean und Pavlicenco v Moldawien, 02.12.2014, §§ 7–8; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 55. 2325 EGMR Nr. 27756/05 und 41219/07, Urechean und Pavlicenco v Moldawien, 02.12.2014, §§ 41–44; vgl. auch Harris u. a., Law of the ECHR, S. 406. 2326 EGMR Nr. 27756/05 und 41219/07, Urechean und Pavlicenco v Moldawien, 02.12.2014, § 47. 2327 EGMR Nr. 27756/05 und 41219/07, Urechean und Pavlicenco v Moldawien, 02.12.2014, §§ 48–52, 55.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

sönlichen Haftung aussetzen würden. Der EGMR verbot eine Blankett-Immunität (blanket immunity) der Polizisten und verlangte eine Abwägung im Einzelfall.2328 Der EGMR rechtfertigt die Immunität von Amtsträgern unabhängig davon, welcher Gewalt der Amtsträger zuzurechnen ist, mit vergleichbaren Argumenten. Der legitime Zweck besteht typischerweise darin, die effektive Arbeit der Amtsträger beziehungsweise Organe zu sichern – unabhängig davon, ob es um Abgeordnete,2329 Polizisten2330, Staatsoberhäupter2331 oder Richter2332 geht. Dementsprechend sind Immunitätsregelungen gerechtfertigt, wenn sie Handlungen oder Äußerungen im Zusammenhang mit der jeweiligen hoheitlichen Tätigkeit betreffen. Darüber hinaus führte der EGMR im Falle der parlamentarischen Immunität genauso wie im Falle der funktionalen Immunität des Staatsoberhaupts als legitimen Zweck die Gewaltenteilung an.2333 Der EGMR hält also eine innerstaatliche Gewaltenteilung, welche die gerichtliche Kontrolle der Legislative und die Handlungen von Staatsoberhäuptern einschränkt, für konventionskonform. Insgesamt haben die Konventionsstaaten bei der Ausgestaltung der Immunität einen großen Gestaltungsspielraum. Da die Immunität von Hoheitsträgern eine Einschränkung des Rechts auf Zugang zum Gericht rechtfertigt und somit nicht im Gewährleistungsgehalt relevant wird, macht die EMRK keine Vorgaben dazu, welche Immunitätsregelungen die Konventionsstaaten einrichten müssen. Vielmehr äußert sich der EGMR lediglich dazu, welche Formen der Immunität die Staaten 2328

EGMR Nr. 23452/94, Osman v Vereinigtes Königreich (GK), 28.10.1998, §§ 149–151; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (554); ausführlich Kloth, Immunities and the Right of Access to Court, S. 164–168. Kloth, Immunities and the Right of Access to Court, S. 169 geht davon aus, dass der EGMR in der Sache EGMR Nr. 29392/95, Z. u. a. v Vereinigtes Königreich (GK), 10.05.2001, § 100 wieder davon abgewichen ist, den konkreten Sachverhalt als Immunität einzuordnen. Diese Abweichung war jedoch laut dem EGMR dadurch begründet, dass dem Gerichtshof bei der erneuten Entscheidung Klarstellungen vorlagen, die zu einer abweichenden Beurteilung führten. Daher stellt Z. u. a. v Vereinigtes Königreich die grundsätzlichen Äußerungen des EGMR zur Immunität in der Sache Osman v Vereinigtes Königreich nicht in Frage, sondern subsumiert den Einzelfall anders. Siehe Kloth, Immunities and the Right of Access to Court, S. 177–184 mit einer ausführlichen Auseinandersetzung dieser unterschiedlichen Rechtsprechungsansätze. 2329 EGMR Nr. 35373/97, A v Vereinigtes Königreich, 17.12.2002, § 77 (protecting free speech in Parliament and maintaining the separation of powers between the legislature and the judiciary); Nr. 40877/98, Cordova v Italien Nr. 1, 03.01.2003, § 55 (protect free parliamentary debate and to maintain the separation of powers between the legislature and the judiciary). 2330 EGMR Nr. 23452/94, Osman v Vereinigtes Königreich (GK), 28.10.1998, § 149 (efficiency and effectiveness in battle against crime). 2331 EGMR Nr. 27756/05 und 41219/07, Urechean und Pavlicenco v Moldawien, 02.12.2014, § 47 (protect their free speech in the exercise of their functions and to maintain the separation of powers in the State). 2332 EGMR Nr. 33400/96, Ernst u. a. v Belgien, 15.07.2003, § 50 (bon fonctionnement de la justice); Nr. 19673/03, Gryaznov v Russland, 12.06.2012, § 78 (proper administration of ­justice). 2333 Siehe die Nachweise in Fn. 2329 und 2331.

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

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einrichten dürfen oder nicht. Unzulässig sind Regelungen absoluter Immunität von Organwaltern ungeachtet der Umstände des konkreten Einzelfalls und damit ungeachtet einer Abwägung zwischen den verschiedenen betroffenen Rechtsgütern. Ist die gerichtliche Kontrolle eines Sachverhalts also wegen der Eröffnung des Anwendungsbereichs des Art. 6 Abs. 1 EMRK vorgesehen, darf dieser Schutz nicht durch eine zu weitreichende, pauschale Immunität bestimmter Amtsträger umgangen werden. Für die innerstaatliche Gewaltenteilung bedeutet dies, dass die Konventionsstaaten den Gerichten die Kontrolle über Handlungen verschiedener Organwalter im Zusammenhang mit ihrer hoheitlichen Tätigkeit entziehen dürfen. Hierdurch wird die gerichtliche Kontrolle von bestimmten hoheitlichen Handlungen begrenzt, um den Organwaltern zu ermöglichen, ihre hoheitlichen Aufgaben effizient ausüben zu können. Die Konventionsstaaten sind verpflichtet, die Immunitätsregelungen differenziert auszugestalten. 2. Überprüfung von Regierungsakten In der Sache Markovic v Italien machten die beschwerdeführenden Bürger von Serbien und Montenegro Schadensersatzklagen vor italienischen Gerichten anhängig, nachdem ihre Verwanden bei militärischen Luftschlägen der NATO gegen Jugoslawien ums Leben gekommen waren. Hierfür machten die Beschwerdeführer die Regierung verantwortlich.2334 Die Regierungsentscheidung über die Durchführung eines Kriegsaktes war nach italienischem Recht nicht gerichtlich überprüfbar. Dadurch konnten die Beschwerdeführer ihre Entschädigungsansprüche auf keine rechtliche Grundlage stützen und die Gerichte die Regierungsentscheidung nicht kontrollieren.2335 Da der Rechtsweg nicht wegen des Status der Regierungsmitglieder ausgeschlossen war, sondern wegen des Charakters der Entscheidung, lag keine Immunitätsregelung vor. Es handelte sich um eine politische, gubernative Entscheidung. Ob politische Entscheidungen oder Regierungsentscheidungen gerichtlich überprüfbar sind, hängt davon ab, ob das innerstaatliche Recht im konkreten Fall eine Rechtsposition vorsieht, welche die Beschwerdeführer geltend machen können.2336 Die EMRK macht somit keine verallgemeinerbaren Vorgaben, ob die Konventionsstaaten die Überprüfbarkeit von Regierungsakten einschränken dürfen. Die Konventionsstaaten haben dies durch die Ausgestaltung ihrer Rechtsordnung selbst in der Hand. 2334 EGMR Nr. 1398/03, Markovic u. a. v Italien (GK), 14.12.2006, §§ 11–14. Siehe zu diesem Urteil auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 86–89; kritisch Laptew, Das Recht auf ein faires Verfahren, S. 217–218. 2335 EGMR Nr. 1398/03, Markovic u. a. v Italien (GK), 14.12.2006, §§ 113–115. 2336 Zur Frage, ob es gerichtsfreie Hoheitsakte geben darf auch Ress, Separation of Powers and the Function of the Judiciary, in: Barcellona / Carrino, I diritti umani, S. 187 (231–233).

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

3. Zwischenfazit Einige konventionskonforme Beschränkungen des Rechts auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK wirken sich auf die innerstaatliche Gewaltenteilung aus, indem sie Organwalter oder Hoheitsakte von der gerichtlichen Kontrolle ausschließen. Die Immunität von Organwaltern ist gerechtfertigt, sofern hierdurch die effektive Ausübung von Hoheitsgewalt sichergestellt werden soll. Die Kontrolle politischer Regierungsentscheidungen kann dadurch ausgeschlossen werden, dass die nationale Rechtsordnung keine subjektiven Rechte enthält, die von den Betroffenen geltend gemacht werden können. Da Eingriffe in Konventionsrechte stets eine materiell-rechtliche Grundlage verlangen,2337 setzt eine solche Beschränkung des Rechts auf Zugang zum Gericht aber voraus, dass durch die Regierungsentscheidung kein Konventionsrecht betroffen ist. Ob die Konventionsstaaten von der Möglichkeit Gebrauch machen, das Recht auf Zugang zum Gericht einzuschränken – sei es durch die Immunität von Organwaltern oder die fehlende Möglichkeit subjektive Rechte geltend zu machen  –, steht in ihrem Ermessen. Verpflichtend ist die Einschränkung der gerichtlichen Kontrolle seitens der EMRK nicht.

V. Fazit Aus der funktionalen Auslegung des tribunal-Begriffs leiten sich die konventionsrechtlichen Anforderungen an die gerichtliche Tätigkeit ab. Die Konventionsstaaten sind verpflichtet, ihren innerstaatlichen Gerichten die von der EMRK vorgegebenen hoheitlichen Tätigkeiten mit einer ebenfalls vorgegebenen rechtlichen Wirkung zuzuweisen. Der notwendige Inhalt die gerichtlichen Entscheidungen ist maßgeblich vom Streitgegenstand abhängig. Welche Streitigkeiten die innerstaatlichen Gerichte entscheiden können müssen, ergibt sich aus den Anwendungsbereichen der verschiedenen Justizgewährleistungsansprüche. Im Rahmen des zivilrechtlichen Anwendungsbereichs entscheiden Gerichte über Rechte und Pflichten zwischen zwei privaten Streitparteien. In diesem Fall reicht häufig eine gerichtliche Feststellung über die Rechtsverhältnisse aus. Auch viele verwaltungsrechtliche Streitigkeiten fallen in den zivilrechtlichen Anwendungsbereich. In diesem Fall kontrollieren Gerichte Verwaltungshandeln – sowohl rechtsgestaltende Verwaltungsakte als auch erstinstanzliche nicht-gerichtliche Streitentscheidungen. Eine wirksame Kontrolle setzt voraus, dass Gerichte im Falle einer Rechtsverletzung Abhilfe schaffen und den rechtswidrigen Zustand beenden können. Außerdem dürfen die Konventions-

2337

Siehe zum Gesetzesbegriff als Eingriffsvoraussetzung bereits oben ab S. 239.

C. Die gewährleistete gerichtliche Tätigkeit  

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staaten den Gerichten auch rechtsgestaltende Kompetenzen zuweisen, wie die Rechtsprechung zur Verhängung von Disziplinarmaßnahmen durch Gerichte zeigt. Im Rahmen der strafrechtlichen Streitigkeiten entscheiden Gerichte über die Strafbarkeit und das Strafmaß der Angeklagten. Darüber hinaus gibt es auch im Rahmen des strafrechtlichen Anwendungsbereichs Fälle, in denen Gerichte als Kontrollorgane der Verwaltung tätig werden müssen. Indem die EMRK vorgibt, dass den Gerichten exklusiv die hoheitliche Aufgabe der letztverbindlichen Streitentscheidung zukommt, dürfen die Zuständigkeitsordnungen der Konventionsstaaten diese Aufgabe keinem anderen Organ zuweisen. Dem widerspricht es jedoch nicht, wenn die Konventionsstaaten in verwaltungsoder disziplinarrechtlichen Sachverhalten vor Gerichtsverfahren nicht-gerichtliche Streitentscheidungsmechanismen durchführen. Auch Sanktionen wegen geringer Vergehen dürfen von Behörden verhängt werden. Voraussetzung ist stets, dass gegen die nicht-gerichtlichen Entscheidungen ein Weg zum Gericht eröffnet wird. Auch die Rechtmäßigkeitskontrolle über eine Freiheitsentziehung gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK muss zwingend von Gerichten vorgenommen werden. Die gerichtliche Prüfungsbefugnis und die Bindungswirkung gerichtlicher Entscheidungen gestalten das Verhältnis der Judikative zu den Rechtsanwendungs- und Urteilsumsetzungsorganen näher aus. Die Organe gehören üblicherweise der Exekutive an. Gleichwohl macht die EMRK diesbezüglich keine zwingende Vorgabe. Die Prüfungsbefugnis bestimmt, welche tatsächlichen und rechtlichen Fragen die Gerichte prüfen müssen. Das Konzept der full jurisdiction, der vollumfäng­ lichen tatsächlichen und rechtlichen Prüfung, lässt im Einzelfall Einschränkungen zu. Die grundsätzlich weitreichende Prüfungsbefugnis bewirkt, dass die den Gerichten zugeschriebene Kontrolle exekutiver Entscheidungen umfassend und wirksam erfolgen kann. Auch im Fall der Art. 5 Abs. 3 und 4 EMRK kann die Kontrollintensität wegen Notwendigkeit einer zügigen Entscheidung eingeschränkt sein. Gerichtliche Entscheidungen müssen für die übrige Hoheitsgewalt eine verbindliche Wirkung entfalten. Daher dürfen Gerichte ihre Entscheidung nicht lediglich einem anderen Organ empfehlen, sondern müssen diese selbst beschließen. Die von der EMRK vorgegebene Bindungswirkung führt dazu, dass gerichtliche Entscheidungen nur durch höherinstanzliche gerichtliche Entscheidungen im vorgegebenen Rechtsweg aufgehoben oder verändert werden dürfen, in keinem Fall aber von nicht-gerichtlichen Organen. Darüber hinaus müssen die Konventionsstaaten ein Umsetzungssystem für die gerichtlichen Entscheidungen etablieren. Die Umsetzungsorgane dürfen nicht von der gerichtlichen Entscheidung abweichen und müssen das Urteil effektiv umsetzen. Spielraum haben die Umsetzungsorgane lediglich, wenn ein Urteil verschiedene Umsetzungsmöglichkeiten bietet und die Rechtsordnung verschiedene Vorgehensweisen zulässt. Die Anforderungen an das hoheitliche Tätigwerden

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

unterscheiden sich insbesondere für zivilrechtliche und verwaltungsrechtliche Urteile. Die vom EGMR anerkannten gerechtfertigten Einschränkungen des Rechts auf Zugang zum Gericht mit staatsorganisationsrechtlicher Relevanz zeigen schließlich, dass die gerichtliche Kontrollbefugnis gegenüber der Exekutive eingeschränkt werden kann, wenn entweder die Funktionsfähigkeit eines hoheitlichen Organs geschützt werden muss oder wenn die Rechtsordnung der regierenden Exekutive viel Spielraum lässt, indem sie das Handeln nicht gesetzlich begrenzt. Zusammenfassend zeigt sich, dass das Verhältnis zwischen Judikative und Exekutive sowohl von der Auslegung des Anwendungsbereichs des Art. 6 Abs. 1 EMRK als auch vom Gewährleistungsgehalt und den anerkannten Einschränkungen abhängig ist. Der EMRK fordert eine weitreichende Kontrolle der Verwaltung durch die Gerichte. Dies zeigt sich durch die extensive Auslegung des Anwendungsbereichs, der bis auf wenige Ausnahmen öffentlich-rechtliche Streitigkeiten umfasst. Sowohl die Einschränkungen im Rahmen der Prüfungsbefugnis als auch des Rechts auf Zugang zum Gericht an sich verdeutlichen, dass aus Gründen der effektiven Ausübung von Hoheitsgewalt Ausnahmen von der vollumfänglichen gerichtlichen Kontrolle der Exekutive gemacht werden können.

D. Verfahrensrechtliche und materielle Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters Die fehlende Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit einzelner Richter kann einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK begründen. Indem der EGMR üblicherweise einzelne Richter und nicht das gesamte Gericht in den Blick nimmt, vermeidet er, sich abstrakt zu Gerichtsorganisation äußern zu müssen und kann stattdessen auf den Einzelfall abstellen. Gleichwohl können aus diesen Einzelfallurteilen allgemeingültige Vorstellungen des EGMR zur Ernennung der Richter und ihrer Zuweisung zum konkreten Fall abgeleitet werden. Hinsichtlich der Zuweisung ist zu unterscheiden zwischen der Zuweisung eines konkreten Falls zu einem Spruchkörper und den Vorgaben für die Besetzung dieser Spruchkörper. Schließlich können Richter aus persönlichen Gründen für die Entscheidung eines Einzelfalls ungeeignet sein. Für einen solchen Fall müssen die Konventionsstaaten Mechanismen zum Austausch der Richter im konkreten Fall vorsehen. Nicht immer kann eindeutig abgegrenzt werden, ob die Zuweisung eines Verfahrens zu einem Spruchkörper als organisatorischer Einheit streitig ist oder die Entscheidung über die personelle Zusammensetzung eines Spruchkörpers: Die Zuweisung kann auch eine Entscheidung darüber sein kann, wie groß der Spruchkörper ist und aus welchen Personen er sich zusammensetzt. Zudem lassen die Formulierungen des EGMR nicht immer erkennen, ob im konkreten Fall das Verfahren der Richterauswahl und -ernennung oder der Zusammensetzung des Spruchkörpers

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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strittig ist. Im Falle einer ad hoc-Ernennung für einen konkreten Fall2338 kann zwischen Richterernennung und Entscheidung über die Zusammensetzung des Spruchkörpers nicht unterschieden werden. Zweifelsfälle werden vorliegend nach ihrem Schwerpunkt behandelt.

I. Persönliche Qualifikation und richterliche Ausbildung Die berufliche Qualifikation, eine juristische Ausbildung, eine vertiefte inhaltliche Kenntnis der streitigen Materie oder die Zugehörigkeit zu einer anderen Staatsgewalt können sich auf die Beeinflussbarkeit des Richters durch äußere Einflüsse auswirken und somit Auswirkungen auf seine Unabhängigkeit und Unparteilichkeit haben. Schöffen oder Geschworene im Strafprozess nehmen hierbei eine Sonderrolle ein. Ob bestimmte Personen wegen ihrer Ausbildung, ihrer sonstigen beruflichen Tätigkeit oder ihrer Eingliederung in eine nicht-gerichtliche hoheitliche Organisationsstruktur per se oder unter Umständen ungeeignet für das Richteramt sind, wirkt sich darauf aus, welche Personen Richter werden dürfen. Daher handelt es sich um eine Frage der personellen Gewaltenteilung. In ständiger Rechtsprechung legt der EGMR für alle Richter die gleichen Maßstäbe an die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit an: „[T]he principles established in the case-law concerning independence and impartiality are to be applied to lay judges as to professional judges […].“2339

Hieraus ergibt sich auch, dass der EGMR sowohl Berufsrichter als auch Laienrichter und Schöffen grundsätzlich für geeignet hält, richterliche Tätigkeiten auszuüben.2340 Die Konventionsstaaten sind also nicht verpflichtet, ausschließlich Berufsrichter einzusetzen.2341 Ein solches Ergebnis wäre angesichts der Rechtstraditionen verschiedener Konventionsstaaten, die Laienrichter und Schöffen in 2338 Siehe etwa EGMR Nr. 38784/97, Morris v Vereinigtes Königreich, 26.02.2002, §§ 34, 69–70, 72; Nr. 48843/99, Cooper v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.2003, §§ 118–126. 2339 EGMR Nr. 48843/99, Cooper v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.2003, § 123; inhaltsgleich Nr. 14191/88, Holm v Schweden, 25.11.1993, § 30; Nr. 16839/90, Remli v Frankreich, 23.4.1996, § 46; Nr. 11179/84, Langborger v Schweden (Pl.), 22.06.1989, §§ 34–35; Nr. 10987/10, İbrahim Gürkan v Türkei, 03.07.2012, § 18; siehe auch Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn.  40; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (599); Gaede, in: Knauer, MüKoStPO, Art. 6 EMRK Rn. 106–107, 109; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 551; bezogen auf Schöffen und Jurymitglieder, Esser, Strafverfahrensrecht, S. 549. 2340 Kühne, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 290 (2009). 2341 Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 40; Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 52; Kühne, in: Pabel /  Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 288 (2009); Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 288; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 32.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

verschiedenen Gerichtsformen kennen,2342 auch überraschend. In der Entscheidung Bellizzi v Malta stellte der EGMR klar, dass die gleichen Grundsätze auch für Assessoren (assessors) und Referendare (referendaries) gelten.2343 1. Berufsrichter Als Berufsrichter werden vorliegend Personen verstanden, die eine juristische Ausbildung haben, nach den innerstaatlichen Vorschriften dauerhaft oder für eine Amtszeit ernannt wurden, dem Richteramt hauptberuflich nachgehen und hierfür eine Vergütung erhalten. Aus den Gerichtsmerkmalen des Art. 6 Abs. 1 EMRK lassen sich keine Merkmale ableiten, die eine Person erfüllen muss, um Berufsrichter werden zu können. Das Vorliegen einer juristischen Ausbildung ist für den EGMR ein Indiz für eine vergleichsweise große Widerstandskraft gegen Druck und Einflussnahme von außen.2344 „[T]here is unlikely to be any arguable complaint under Article 6 where the criminal charges are determined by professional judges, since their professional training and experience allow them to disregard any external influence […].“2345

Diese Vermutung legte der EGMR für Berufsrichter auch im Falle einer meinungsstarken Medienberichterstattung über Strafverfahren zugrunde.2346 Genauso wird Berufsrichtern unterstellt, sich professionell zu verhalten, wenn sie eine der Prozessparteien persönlich kennen.2347 Ähnliche Erwägungen stellte der EGMR bereits für Militärrichter2348 und die internationalen Mitglieder des State Courts 2342

Siehe nur die rechtvergleichende Zusammenstellung der Rechtslagen zu Schöffensystemen in den Konventionsstaaten in EGMR Nr. 926/05, Taxquet v Belgien (GK), 16.11.2010, §§ 43–60. 2343 EGMR Nr. 46575/09, Bellizzi v Malta, 21.06.2011, § 51 mit Verweis auf EGMR Nr. 44946/05, Huuhtanen v Finnland (Zul.), 13.10.2009 (Referendare) und EGMR Nr. 23614/08, Henryk Urban and Ryszard Urban v Polen, 30.11.2010 (Assessoren), die zwar keine abstrakte Aussage trafen, jedoch in den konkreten Fällen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach den allgemeinen Rechtsprechungsgrundsätzen prüften. 2344 Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 67; Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (12). 2345 EGMR Nr. 30971/12, Abdulla Ali v Vereinigtes Königreich, 30.06.2015, § 88. 2346 EGMR Nr. 48799/99, Priebke v Italien (Zul.), 05.04.2001; Nr. 21837/02, Kuvikas v Litauen, 27.06.2006, § 55; Nr. 20899/03, G. C. P. v Rumänien, 20.12.2011, § 48; Nr. 36697/03, Krylov v Russland, 14.03.2013, § 38; Nr. 30971/12, Abdulla Ali v Vereinigtes Königreich, 30.06.2015, § 88; Nr. 6091/06 u. a., Rywin v Polen, 18.02.2016, § 237. 2347 EGMR Nr. 29295/16, Franz v Deutschland, 30.01.2020, § 66 (der vorsitzende Richter des zuständigen Notarsenats war Kollege des als Prozesspartei beteiligten Gerichtspräsidenten und mit diesem bekannt; dies allein begründete noch keine Unparteilichkeit). 2348 EGMR Nr. 22678/93, Incal v Türkei (GK), 09.06.1989, § 67; Nr. 38784/97, Morris v Vereinigtes Königreich, 26.02.2002, § 72 (das Fehlen einer richterlichen Ausbildung sprach gegen die richterliche Unabhängigkeit).

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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in Bosnien und Herzegowina2349 an. Bei Berufsrichtern stellt der EGMR nur dann einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK fest, wenn deutliche Anhaltspunkte für unzulässige Einflussnahmen vorliegen.2350 Die richterliche Ausbildung ist somit ein Aspekt, der sich positiv auf die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, auswirkt. 2. Laienrichter und Experten in Streitigkeiten zivilrechtlichen Charakters Laienrichter sind Personen, die wegen ihres speziellen Sachverstands und ihrer Expertise Teil eines Gerichts sind und die keine juristische Ausbildung haben oder jedenfalls nicht wegen ihrer Rechtskenntnisse Mitglied des Spruchkörpers sind. Der EGMR hat Experten in vielen Fällen als taugliche Richter anerkannt.2351 In Disziplinarkammern berufsständischer Vereinigungen dürfen Angehörige des Berufsstandes als Richter agieren.2352 Militärangehörige dürfen ohne juristische Ausbildung Mitglieder eines Militärgerichtes sein, das über Disziplinarmaßnahmen gegen andere Soldaten entscheidet.2353 Auch in speziellen Gerichtszweigen, etwa Familiengerichten, Mietgerichten oder Arbeitsgerichten, dürfen ohne Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK Experten eingesetzt werden.2354 Gefängnis-Disziplinar 2349

EGMR Nr. 2312/08 und 34179/08, Maktouf und Damjanović v Bosnien und Herzegowina (GK), 18.07.2013, § 51. 2350 Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 287. Siehe hierzu auch die Fälle zur Weisungsfreiheit ab S. 598. 2351 Siehe ebenfalls Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 32–33; Rainey / McCormick / Ovey, Jacobs, White, and Ovey, S. 302; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 145; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 40; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 334–335. 2352 EGMR Nr. 13839/88, Debled v Belgien, 22.09.1984, §§ 22, 36–38; Nr. 39996/98, Ouendeno v Frankreich (Zul.), 09.01.2001 und dem folgend Nr. 39269/02, Malquarti v Frankreich, 20.06.2006, § 12; Nr. 53025/99, Frankowicz v Polen, 16.12.2008, §§ 20, 25, 64–67. In vielen anderen Fällen lag zwar eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK vor, allerdings nicht wegen der Beteiligung von Berufsangehörigen als Richter im Disziplinarverfahren: EGMR Nr. 6878/75 und 7238/75, Le Compte, Van Leuven und De Meyere v Belgien (Pl.), 23.06.1981, §§ 26, 54–58 (fehlende Öffentlichkeit des Verfahrens); ebenso EGMR Nr. 7299/75 und 7496/76, Albert und Le Compte (Pl.), 10.02.1983, § 32; Nr. 21257/93 u. a., Gautrin u. a. v Frankreich, 20.05.1998, § 59 (persönliche Voreingenommenheit); Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  6 Rn.  69; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 165; Steinfatt, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 104; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 335. 2353 EGMR Nr. 48843/99, Cooper v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.2003, §§ 119–126; Nr. 32860/96, Önen v Türkei (Zul.), 10.02.2004; zusammenfassend EGMR Nr. 47533/99, Ergin v Türkei Nr. 6, 04.05.2006, § 40. In vielen weiteren Fällen mangelte es jedoch wegen der Einordnung der Militärangehörigen in die hierarchische Struktur des Militärs an der Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit, siehe zu den typischen Problemfällen ab S. 715. 2354 EGMR Nr. 34142/96, Siglfirđingur Ehf v Island v Island (Zul.), 07.09.1999 (Verbandsrepräsentanten als Richter im Arbeitsgericht); Nr. 47221/99, Pabla Ky v Finnland, 22.06.2004,

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

kammern, die sich aus ausgebildeten Richtern und Experten, etwa Psychologen und Kriminologen, zusammensetzten, waren ebenfalls konventionskonform.2355 Und in Verwaltungskammern, die typischerweise technisch komplizierte Entscheidungen treffen, waren sowohl Beamte als auch Fachexperten ohne richterliche Ausbildung konventionskonforme Richter.2356 Nach dieser Rechtsprechungslage dürfen Experten mit besonderem Sachverstand ohne besondere Einschränkungen als Richter tätig sein. Auch die Beteiligung von Beamten verstößt nicht per se gegen die richterliche Unabhängigkeit.2357 Die Konventionsstaaten müssen den Einsatz von Laienrichtern nicht rechtfertigen. Die Tätigkeit von Laienrichtern ist auch nicht auf bestimmte Rechts- oder Fachgebiete begrenzt oder für bestimmte Fälle ausgeschlossen. Teilweise begrüßt der Gerichtshof ihren Einsatz sogar ausdrücklich.2358 Da die Anforderungen der gesetzlichen §§ 15, 32 (Experten als Richter bei Mietstreitigkeiten); Nr. 41579/98, AB Kurt Kellermann v Schweden, 26.10.2004, § 60 (Verbandsvertreter als Richter eines Arbeitsgerichts); Nr. 34197/02, Luka v Rumänien, 21.07.2009, §§ 41–42 (Verbandsvertreter als Richter eines Arbeitsgerichts); Nr. 3338/05, Procedo Capital Corporation v Norwegen, 24.09.2009, §§ 10, 60–72 (Expertenrichter in Finanzstreitigkeiten). In anderen Fällen wurden die Konventionsverstöße nicht durch die Beteiligung von Experten hervorgerufen, EGMR Nr. 11179/84, Langborger v Schweden (Pl.), 22.06.1989, §§ 34–35 (Vertreter zweier Interessenverbände als Richter in Mietstreitigkeiten, im konkreten Fall Verstoß gegen Unparteilichkeit); Nr. 27154/95, D. N. v Schweiz (GK), 29.03.2001, § 39 (die Verwaltungsrekurskommission, die über die Rechtmäßigkeit von Freiheitsentziehungen gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK entschied, war mit zwei Berufsrichtern und drei Expertenrichtern besetzt; Voreingenommenheit eines einzelnen Richters, §§ 40–57); Nr. 58141/00, Thaler v Österreich, 03.02.2005, §§ 31–38 (im konkreten Fall war die Regional Appeals Commission nicht unparteilich); Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 336–337 m. w. N. zu Entscheidungen der EKMR. 2355 EGMR Nr. 7819/77 und 7878/77, Campbell und Fell v Vereinigtes Königreich, 28.06.1984, §§ 78–85; Nr. 9787/82, Weeks v Vereinigtes Königreich (Pl.), 02.03.1987, §§ 28, 62; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 542–543, 548. 2356 EGMR Nr. 9273/81, Ettl u. a. v Österreich, 23.04.1987, §§ 17–18, 36–41; dem folgend EGMR Nr. 11796/85, W v Österreich (Zul.), 10.07.1989; Nr. 14696/89 und 14697/89, Stallinger und Kuso v Österreich, 23.04.1997, § 37; Nr. 27648/95, Pfleger v Österreich (Zul.), 24.11.1998; Nr. 29544/95, Entleitner v Österreich, 01.08.2000, § 17; Nr. 38185/97, Alge v Österreich (Zul.), 10.04.2003; Nr. 17169/96, Feller v Österreich (Zul.), 04.02.2010; Nr. 67950/01, Rozsa v Österreich (Zul.), 06.04.2004; Nr. 20087/06, Stechauner v Österreich, 28.01.2010, §§ 22, 55. Offen gelassen (allerdings mit grundsätzlich befürwortender Haltung von Spezialgerichten bei technischen Sachverhalten) bei EGMR Nr. 19589/92, British American Tobacco Company Ltd. v Niederlande, 20.11.1995, §§ 51, 58, 77. Siehe zu dieser Fallgruppe auch Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 278–280. Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 87–88 Fn. 301 sieht in den Urteilen zu österreichischen Verwaltungsspruchkörpern den Ausgangspunkt für die Rechtsprechung zum Einsatz von Laien in zivilrechtlichen Verfahren. 2357 Siehe die Nachweise in Fn. 2356; Rainey / McCormick / Ovey, Jacobs, White, and Ovey, S. 303; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 145; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 278; Kosař / Lixinski, AJIL 190 (2015), S. 713 (727–728); kritisch Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 59. 2358 EGMR Nr. 47221/99, Pabla Ky v Finnland, 22.06.2004, § 32; Nr. 11179/84, Langborger v Schweden (Pl.), 22.06.1989, § 34; Nr. 19589/92, British American Tobacco Company Ltd. v Niederlande, 20.11.1995, § 77; Nr. 41579/98, AB Kurt Kellermann v Schweden, 26.10.2004, § 60; Nr. 20087/06, Stechauner v Österreich, 28.01.2010, § 55; Nr. 18283/06, Fragner v Öster-

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Grundlage und der ausreichenden Prüfungs- und Entscheidungsbefugnis das gesamte Gericht und nicht einzelne Organwalter betreffen, sind für die Beurteilung der Konventionskonformität von Experten als Richter besonders die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit relevant.2359 In vielen Fällen prüft der EGMR gemischt aus Berufs- und Laienrichtern besetzte Spruchkörper einheitlich.2360 Dies zeigt, dass der Gerichtshof auch in der Praxis tatsächlich an alle Richterpersonen die gleichen Maßstäbe der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit anlegt. Jedoch führen die persönlichen Eigenschaften, der berufliche Hintergrund oder andere Umstände dazu, dass die richterliche Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit bei Laienrichtern schneller gefährdet ist als bei Berufsrichtern. So legt etwa eine fehlende juristische Ausbildung nahe, dass die Richter ihre eigene Voreingenommenheit oder eine äußere Beeinflussung nicht so zuverlässig erkennen wie Berufsrichter.2361 Der Beamtenstatus von Laienrichtern kann in verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten zu Problemen im Rahmen der Weisungsfreiheit führen.2362 Allgemein formuliert, darf die richterliche Tätigkeit des Laienrichters nicht mit seiner sonstigen Beschäftigung oder Einbindung in andere, insbesondere staatliche, Strukturen in Konflikt stehen.2363 3. Schöffen und Jurys im Strafverfahren Auch in Strafverfahren werden Laienrichter eingesetzt, Schöffen und Jurys. Die genaue Ausgestaltung der Schöffen- oder Jurygerichte variiert in jedem Staat, der diese Form der Gerichtsbarkeit vorsieht.2364 Vor dem Hintergrund der verschiedereich, 23.09.2010, § 44; Nr. 30226/10, Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, § 212; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 334–335. 2359 Vgl. EGMR Nr. 41579/98, AB Kurt Kellermann v Schweden, 26.10.2004, § 60; Nr. 20087/06, Stechauner v Österreich, 28.01.2010, § 55. 2360 So zum Beispiel für das Ernennungsverfahren und die Amtszeit bei EGMR Nr. 7819/77 und 7878/77, Campbell und Fell v Vereinigtes Königreich, 28.06.1984, §§ 79–80; ebenso EGMR Nr. 8790/79, Sramek v Österreich (Pl.), 22.10.1984, § 38 zum Ernennungs- und Absetzungsverfahren; Nr. 34142/96, Siglfirđingur Ehf v Island v Island (Zul.), 07.09.1999 zur Amtszeit; Nr. 17169/96, Feller v Österreich (Zul.), 04.02.2010; Nr. 67950/01, Rozsa v Österreich (Zul.), 06.04.2004. Auch Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 87–88 Fn. 301 geht davon aus, dass der EGMR die Gewährleistungen für Berufs- und Laienrichter unterschiedslos anwendet. 2361 EGMR Nr. 46466/16, Grace Gatt v Malta, 08.10.2019, §§ 84, 17: Der EGMR ordnete die fehlende juristische Ausbildung als Indiz dafür ein, dass keine ausreichenden Sicherheitsmechanismen gegen externe Einflussnahmen vorlagen. In EGMR Nr. 48843/99, Cooper v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.2003, §§ 123–126 wurde die fehlende juristische Ausbildung durch eine Instruktion der Militärangehörigen über briefing notes ausgeglichen. 2362 Siehe hierzu ab S. 600. 2363 Vgl. auch Rainey / McCormick / Ovey, Jacobs, White, and Ovey, S. 302–303. 2364 EGMR Nr. 926/05, Taxquet v Belgien (GK), 16.11.2010, § 83; siehe außerdem die rechtsvergleichende Darstellung der Schöffengerichtsbarkeit in EGMR Nr. 926/05, Taxquet v Belgien (GK), 16.11.2010, §§ 43–60. Rechtsvergleichend zur Laienbeteiligung an Strafverfahren in Deutschland und Großbritannien Lieber, Schöffengericht und Trial by Jury, S. 193 ff.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

nen staatlichen Traditionen und Entwicklungen der Strafgerichtsbarkeit stellt der EGMR die Konventionskonformität des Einsatzes von Schöffen und Jurys nicht prinzipiell in Frage. Anhand der allgemeinen Rechtsprechungsprinzipien beurteilt er ausschließlich den konkreten Einzelfall.2365 Auch Strafgerichte ohne die Beteiligung von Schöffen oder Jurys verstoßen nicht gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK.2366 Somit sind die Konventionsstaaten nicht verpflichtet, Strafgerichte mit Schöffen oder Jurys zu besetzen. In Holm v Schweden stellte der EGMR klar, dass Schöffen nach einem gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren und den festgelegten materiellen Voraussetzungen gewählt werden müssen.2367 Der formelle Organisationsvorbehalt bezieht sich also auch auf die Auswahl von Schöffen. Wie bei zivilrechtlichen Laienrichtern sind auch für Schöffen die Grundsätze der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit besonders relevant.2368 Gerade die objektive Unparteilichkeit kann stärker gefährdet sein als bei einer alleinigen Entscheidung durch Berufsrichter. Ein Schöffe ist etwa persönlich betroffen, wenn er selbst in gleicher Sache ursprünglich als Zeuge vernommen wurde2369, wenn das Opfer einer Straftat ihm persönlich bekannt ist2370 oder wenn eine berufliche Beziehung zu einem der Prozessbeteiligten besteht.2371 Problematisch für die objektive Unparteilichkeit sind außerdem Fälle, in denen Schöffen rassistischem Gedankengut anhingen2372 oder Mitglied einer politischen Partei waren.2373 Besondere Aufmerksamkeit verdienen äußere Einflüsse durch die Medien, die insbesondere bei aufsehenerregenden Strafprozessen immer wieder vorliegen, aber nicht automatisch

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EGMR Nr. 926/05, Taxquet v Belgien (GK), 16.11.2010, §§ 83–84. Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 106. 2367 EGMR Nr. 14191/88, Holm v Schweden, 25.11.1993, § 31; Esser in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 136. 2368 Zusammenfassend Esser, Strafverfahrensrecht, S. 549–550. 2369 EGMR Nr. 11106/04 u. a., Ekeberg u. a. v Norwegen, 31.07.2007, § 45. 2370 EGMR Nr. 1176/10, Kristiansen v Norwegen, 17.12.2015, §§ 10–11, 52–61 (die Schöffin kannte das Opfer der Vergewaltigung, die Gegenstand des Verfahrens war und schätzte es als „stille und ruhige Person“ (quiet and calm person) ein). 2371 EGMR Nr. 22399/93, Pullar v Vereinigtes Königreich, 10.06.1996, §§ 8–9, 28–41 (im konkreten Fall lag jedoch keine Verletzung der gerichtlichen Unparteilichkeit vor); Nr. 52999/08 und 61779/08, Hanif und Khan v Vereinigtes Königreich, 20.12.2011, §§ 12, 143–149 (ein als Schöffe berufener Polizist kannte Polizisten, die im konkreten Fall Ermittlungen durchgeführt hatten; über die Beweise wurde zwischen den Prozessparteien gestritten, siehe hierzu ausführlicher ab S. 580); Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (610). 2372 EGMR Nr. 16839/90, Remli v Frankreich, 23.04.1996, §§ 11–12, 47; Nr. 22299/93, Gregory v Vereinigtes Königreich, 25.02.1997, § 9; Nr. 34129/96, Sander v Vereinigtes Königreich, 09.05.2000, §§ 10–13, 29–34; hierzu Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 369–375 inkl. Sachverhaltsdarstellungen. 2373 EGMR Nr. 14191/88, Holm v Schweden, 25.11.1993, §§ 10–12, 30–32. Siehe zu dieser Entscheidung auch unten ab S. 664. 2366

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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die Unparteilichkeit der Schöffen beeinträchtigen.2374 Ausschlaggebend für die Beurteilung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sind die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Schöffe tatsächlich von unpassenden Erwägungen leiten lässt,2375 der Zeitpunkt des Verfahrens, in dem der Berufsrichter die Information über eine Gefährdung der Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit bekommt,2376 seine Reaktion,2377 sowie das Verhalten der Prozessparteien.2378 Berufsrichter haben im Schöffenprozess die Aufgabe, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Schöffen durch angemessene Maßnahmen sicherzustellen.2379 Von Berufsrichtern wird erwartet, Gefahren für die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Schöffen zu erkennen und zu beheben. Bleiben sie im Fall eines Verdachts fehlender Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit untätig, begründet dies einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK.2380 Gelegentlich ist es notwendig, 2374 EGMR Nr. 45441/99, Pullicino v Malta (Zul.), 15.06.2000; Nr. 31411/07, Mustafa (Abu Hamza) v Vereinigtes Königreich (Zul.), 18.01.2011, §§ 16–19, 38–40; Nr. 30971/12, Abdulla Ali v Vereinigtes Königreich, 30.06.2015, §§ 16–42, 87–99. 2375 Geringe Wahrscheinlichkeit bei EGMR Nr. 22399/93, Pullar v Vereinigtes Königreich, 10.06.1996, § 39; Nr. 22299/93, Gregory v Vereinigtes Königreich, 25.02.1997, § 49; Nr. 11106/04 u. a., Ekeberg u. a. v Norwegen, 31.07.2007, §§ 47–49; anders aber EGMR Nr. 34129/96, Sander v Vereinigtes Königreich, 09.05.2000, §§ 30–33 (nachdem erwiesen war, dass jedenfalls ein Schöffe rassistische Kommentare im Rahmen des Verfahrens gemacht hatte, reichte dem EGMR eine erneute Unterweisung durch den Berufsrichter nicht mehr aus). 2376 EGMR Nr. 1176/10, Kristiansen v Norwegen, 17.12.2015, §§ 56–57 (wegen des Zeitpunkts, zu dem die Schöffin ihre Charaktereinschätzung des Opfers mitteilte, konnte nicht ermittelt werden, ob die Einschätzung eines anderen Schöffen sich aus der Zeugenaussage des Opfers oder der Einschätzung der ersten Schöffin ergab). Anders bei EGMR Nr. 11106/04 u. a., Ekeberg u. a. v Norwegen, 31.07.2007, §§ 47–49, wo eine Beeinflussung der restlichen Jury nach der frühen Absetzung der befangenen Schöffin wenig wahrscheinlich war. 2377 In EGMR Nr. 22299/93, Gregory v Vereinigtes Königreich, 25.02.1997, § 47 erinnerte der Berufsrichter die Schöffen in deutlichen Worten; in Nr. 11106/04 u. a., Ekeberg u. a. v Norwegen, 31.07.2007, §§ 45, 48 ordnete der Richter an, dass die betroffene Schöffin sich aus dem Verfahren zurückzog und erinnerte die verbliebenen Schöffen daran, ihre Beurteilung nur auf innerhalb des Gerichtssaals getätigten Äußerungen zu begründen. 2378 EGMR Nr. 11106/04 u. a., Ekeberg u. a. v Norwegen, 31.07.2007, § 59 (die Vertreter beider Prozessparteien unterstützten die Absetzung der Schöffin, die aber nicht erfolgte; dies deutete der EGMR als starkes Indiz dafür, dass kein unparteiliches Erscheinungsbild vorlag). 2379 EGMR Nr. 22299/93, Gregory v Vereinigtes Königreich, 25.02.1997, §§  45–49; Nr. 45441/99, Pullicino v Malta (Zul.), 15.06.2000; Nr. 11106/04 u. a., Ekeberg u. a. v Norwegen, 31.07.2007, § 48; Nr. 8400/07, Szypusz v Vereinigtes Königreich, 21.09.2010, §§ 85, 88; Nr. 31411/07, Mustafa (Abu Hamza)  v Vereinigtes Königreich (Zul.), 18.01.2011, §§ 39–40; Nr. 52999/08 und 61779/08, Hanif und Khan v Vereinigtes Königreich, 20.12.2011, § 143; Nr. 30971/12, Abdulla Ali v Vereinigtes Königreich, 30.06.2015, §§ 89, 92–98; Esser, in: LöweRosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 158; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 373. 2380 EGMR Nr. 16839/90, Remli v Frankreich, 23.04.1996, §§ 47–48; vgl. auch EGMR Nr. 11106/04 u. a., Ekeberg u. a. v Norwegen, 31.07.2007, §§ 48–49, wo die Maßnahmen des Richters ausreichten. Siehe auch das teilweisende abweichende Sondervotum der Richter Ryssdal und Makarczyk, ihnen folgend Richter Spielmann und Lopes Rocha zu EGMR Nr. 22399/93, Pullar v Vereinigtes Königreich, 10.06.1996, das auf die Versäumnisse der Gerichtsverwaltung, die den möglichen Interessenkonflikt des Schöffen rechtzeitig hätten erkennen können, eingeht.

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Schöffen von der Entscheidung abzuziehen.2381 In weniger gravierenden Fällen, etwa im Fall einer parteiischen medialen Berichterstattung, kann es aber auch ausreichen, die Jurymitglieder und Schöffen über ihre Entscheidungsgrundlagen zu instruieren.2382 Zusammenfassend wendet der EGMR also durchaus bei Schöffen und Jurymitgliedern die gleichen Maßstäbe der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit an wie bei Berufsrichtern. Aufgrund der fehlenden juristischen Ausbildung ist die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit aber schneller gefährdet als bei Berufsrichtern.2383 4. Militärangehörige als Experten in Angelegenheiten der nationalen Sicherheit Als Militärrichter werden vorliegend solche Personen verstanden, die als Angehörige der Streitkräfte  – mit oder ohne juristische Ausbildung  – richterliche Aufgaben übertragen bekommen, entweder im Rahmen eines ordentlichen staatlichen Gerichts oder im Rahmen eines Militärgerichts. Militärangehörige dürfen richterliche Funktionen ausüben. Ihre Einordnung in die militärische Weisungshierarchie kann jedoch Zweifel an der unvoreingenommenen Entscheidungsfindung hervorrufen. Die konventionsrechtlichen Anforderungen an die richterliche Tätigkeit von Militärrichtern sind abhängig vom Streitgegenstand und den beteiligten Prozessparteien. Sofern Militärangehörige in Gerichtsverfahren gegen andere Militärangehörige eingesetzt werden, gelten die allgemeinen Anforderungen an die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit.2384 Militärangehörige als Strafrichter gegenüber Zivilpersonen sind hingegen nur unter außergewöhnlichen Umständen (very exceptional circumstances) zulässig.2385 Ob die angeklagte Person als Zivilperson oder als Militärangehöriger eingeordnet wird, ist von der – tatsächlichen und freiwilligen – Einbindung einer Person in die militärische Organisationsstruk-

2381 So in EGMR Nr. 34129/96, Sander v Vereinigtes Königreich, 09.05.2000, §§ 29–35; zum Unterschied des Sander-Urteils zur früheren Rechtsprechung Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 374. 2382 EGMR Nr. 45441/99, Pullicino v Malta (Zul.), 15.06.2000; Nr. 31411/07, Mustafa (Abu Hamza)  v Vereinigtes Königreich (Zul.), 18.01.2011, §§ 39–40; Nr. 30971/12, Abdulla Ali v Vereinigtes Königreich, 30.06.2015, §§ 89, 91. 2383 Vgl. Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 367–368: Es stellen sich bei Schöffen andere Probleme als bei Berufsrichtern. 2384 Siehe zur Beteiligung von Militärangehörigen an Disziplinarverfahren bereits Fn. 2353; für Entscheidungen in Zivilverfahren EGMR Nr. 29870/96, Yavuz v Türkei (Zul.), 25.05.2000. Zu den für die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit problematischen Fällen siehe ab S. 715. 2385 EGMR Nr. 47533/99, Ergin v Türkei Nr. 6, 04.05.2006, § 44.

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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tur abhängig. Zivile Angestellte des Militärs gelten weiterhin als Zivilpersonen.2386 Auch Kriegsdienstverweigerer und Personen, die zwangsweise eingezogen wurden, werden vom EGMR als Zivilpersonen eingestuft, weil sie sich nicht freiwillig der militärischen Hierarchie unterworfen haben.2387 Die mit dem militärischen Status einhergehenden rechtlichen Einschränkungen dürften Zivilpersonen nicht aufgezwungen werden.2388 Sind Zivilpersonen der Militärgerichtsbarkeit unterworfen, kann dies einerseits den Anschein erwecken, die Militärrichter würden sich von unsachgemäßen Erwägungen leiten lassen2389 und andererseits dazu führen, dass über die Verantwortlichkeit der betroffenen Person mit strengeren Sanktionen entschieden wird als bei einem ordentlichen Verfahren.2390 Hauptanwendungsfall für die Beteiligung von Militärrichtern an Verfahren gegen Privatpersonen waren die türkischen Sicherheitsgerichte, in denen Militärrichter, typischerweise mit juristischer Ausbildung, als Experten in Fragen der nationalen Sicherheit herangezogen wurden. Der EGMR erklärte den Einsatz von Militärrichtern gegen Privatpersonen nicht per se für konventionswidrig.2391 Ein konventionskonformer Einsatz von Militärrichtern gegen Zivilpersonen unterliegt jedoch strengen Anforderungen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, die bisher nicht erfüllt wurden.2392 Darüber hinaus formulierte der EGMR in Ergin v Türkei Nr. 62393 besondere Voraussetzungen für den Einsatz von Militärrichtern gegenüber Zivilpersonen: „46. The Court notes the particular position occupied by the army in the constitutional order of democratic States, which must be limited to the field of national security, since judicial power is in principle an attribute of civil society. It likewise takes account of the existence of special rules governing the internal organisation and hierarchical structure of the armed forces. 47. The power of military criminal justice should not extend to civilians unless there are compelling reasons justifying such  a situation, and if so only on  a clear and foreseeable

2386

So zum Beispiel bei EGMR Nr. 45912/06, İçen v Türkei, 31.05.2011, § 37. EGMR Nr. 5260/07, Feti Demirtaş v Türkei, 17.01.2012, § 122; Nr. 42730/05, Savda v Türkei, 12.06.2012, §§ 108–109; denen folgend EGMR Nr. 14017/08, Buldu u. a. v Türkei, 03.06.2014, § 97. 2388 EGMR Nr. 5260/07, Feti Demirtaş v Türkei, 17.01.2012, § 122. 2389 So zum Beispiel bei EGMR Nr. 22678/93, Incal v Türkei (GK), 09.06.1998, § 72. 2390 So zum Beispiel bei EGMR Nr. 45912/06, İçen v Türkei, 31.05.2011, § 45. 2391 EGMR Nr. 19601/92, Çıraklar v Türkei, 28.10.1998, § 39; Nr. 47533/99, Ergin v Türkei Nr. 6, 04.05.2006, § 42. 2392 Siehe etwa EGMR Nr. 22678/93, Incal v Türkei (GK), 09.06.1998, §§ 72–73; Nr. 19601/92, Çıraklar v Türkei, 28.10.1998, §§ 39–41. Siehe hierzu ausführlicher ab S. 723. 2393 Die Grundsätze des Ergin-Urteils sind inzwischen ständige Rechtsprechung, siehe EGMR Nr. 59892/00, Maszni v Rumänien, 21.09.2006, §§ 41–52; Nr. 45912/06, İçen v Türkei, 31.05.2011, §§ 28–36; Nr. 1230/17, Mustafa v Bulgarien, 28.11.2019, §§ 28–37; knapp auch EGMR Nr. 40426/98, Martin v Vereinigtes Königreich, 24.10.2006, § 44; Nr. 60999/00, Satik v Türkei Nr. 2, 08.07.2008, § 47; Nr. 37033/03, Ahmet Doğan v Türkei, 10.03.2009, §§ 22–25. Zu Ergin v Türkei Nr. 6 Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 91–92.  2387

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

legal basis. The existence of such reasons must be substantiated in each specific case. It is not sufficient for the national legislation to allocate certain categories of offence to military courts in abstracto.“2394

Der Einsatz von Militärrichtern gegen Zivilpersonen ist also auf Fragen der nationalen Sicherheit begrenzt und muss durch einen zwingenden Grund gerechtfertigt sein. Eine klare Definition des „zwingenden Grundes“ lieferte der EGMR nicht – hierdurch hielt sich der EGMR flexible Einzelfallentscheidungen offen. Die bisherigen Urteile zu dieser Fallgruppe zeigen jedoch, dass der EGMR einen zwingenden Grund nicht leichtfertig annimmt. In Ahmet Doğan v Türkei reichten dem EGMR praktische und ökonomische Erwägungen nicht aus, um das Strafverfahren gegen eine Zivilperson zusammen mit den anderen angeklagten Militärangehörigen konventionskonform vor einem Militärgericht durchzuführen. Die angeklagte Zivilperson stand in keinem Loyalitäts- oder Hierarchieverhältnis zum Militär und die Straftat hatte keinen Bezug zum Militär. Einziger Grund für die Zuständigkeit der Militärgerichtsbarkeit war der Zusammenhang der Straftat des Beschwerdeführers mit Straftaten von Militärangehörigen.2395 Im Urteil Mustafa v Bulgarien waren Zivilpersonen und Militärpersonen als Mitglieder einer kriminellen Organisation gemeinsam angeklagt. Die Konnexität der Vergehen sowie die Mittäterschaft stellten zwar einen guten Grund dar, über die Strafbarkeit aller Beteiligten vor dem gleichen Gericht zu entscheiden. Hierbei musste es sich aber nicht notwendigerweise um ein Militärgericht handeln.2396 Weil die Zweifel des Beschwerdeführers an der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit im Verfahren nicht untersucht wurden, lag eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK vor.2397 In İçen v Türkei war eine zivile Übersetzerin in den Diensten des Militärs wegen verschiedener disziplinarer Vergehen vor einem Militärgericht angeklagt und wurde zu einer rigorosen Freiheitsstrafe von sieben Monaten und fünfzehn Tagen verurteilt.2398 Das Verfahren vor dem Militärgericht hatte zu einer deutlich strengeren Strafe geführt als ein vergleichbares Verfahren vor dem Zivilgericht. Auf die immerhin arbeitsrechtliche Anbindung der Übersetzerin an das Militär ging der EGMR in seiner Begründung nicht ein. Der EGMR nahm eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK an, weil die nationalen Gerichte sich auf die abstrakte gesetzliche Zuweisung solcher Fälle an die Militärgerichtsbarkeit verlassen hatten und nicht für den konkreten Einzelfall geprüft hatten, ob ein zwingender Grund vorlag.2399 2394

EGMR Nr. 47533/99, Ergin v Türkei Nr. 6, 04.05.2006, §§ 46–47. EGMR Nr. 37033/03, Ahmet Doğan v Türkei, 10.03.2009, §§ 27–31. 2396 EGMR Nr. 1230/17, Mustafa v Bulgarien, 28.11.2019, § 47. 2397 EGMR Nr. 1230/17, Mustafa v Bulgarien, 28.11.2019, §§ 48–50. 2398 EGMR Nr. 45912/06, İçen v Türkei, 31.05.2011, § 37. 2399 EGMR Nr. 45912/06, İçen v Türkei, 31.05.2011, §§ 43–45; mit dem gleichen Mangel EGMR Nr. 1230/17, Mustafa v Bulgarien, 28.11.2019, §§ 45–46. 2395

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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Zusammenfassend müssen nationale Gerichte im Einzelfall prüfen, ob ein zwingender Grund für die Beteiligung von Militärrichtern an Verfahren gegen Zivilpersonen vorliegt. Eine abstrakte Zuweisung bestimmter Verfahren gegen Zivilpersonen an ein Militärgericht führt zu einer Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Ein zwingender Grund liegt nicht bereits vor, wenn ein Zusammenhang zwischen Straftaten einer Zivilperson und Straftaten von Militärangehörigen existiert. Der EGMR stellt hohe Hürden für die Beteiligung von Militärrichtern an Verfahren gegen Zivilpersonen auf. 5. Politische Amtsträger in richterlichen Disziplinarorganen Schließlich sind Richterräte zum Teil mit politischen Amtsträgern, wie Justizministern, anderen Mitgliedern der Regierung oder Staatschefs, besetzt.2400 Richterräte sind unabhängige Gerichtsverwaltungsorgane, die typischerweise aber die Aufgabe haben, Richter zu ernennen, zu disziplinieren und zu entlassen und dadurch die gerichtliche Unabhängigkeit zu fördern.2401 Besetzung und Kompetenzausgestaltung sind in jedem Staat unterschiedlich.2402 Richterräte müssen Gerichtsqualität besitzen, wenn den sanktionierten Richtern kein Rechtsbehelf vor einem Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMR gegen die Disziplinarmaßnahme zusteht.2403 Auch diese Beteiligung von Organwaltern der politischen Leitungsebene verstößt nicht per se gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK. Gleichwohl muss die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von politischen Amtsträgern, die als Richter tätig sind, besonders sorgfältig geprüft werden.2404

2400

Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 40; Venedig-Kommission, CDL-AD(2007)028, Report on Judicial Appointments, angenommen am 16.–17.03.2007, §§ 27–37. 2401 Venedig-Kommission, CDL-AD(2007)028, Report on Judicial Appointments, angenommen am 16.–17.03.2007, §§ 48–49; Leloup, HRLR 2020, S. 480 (491); Kosař / Baroš / Dufek, EuConst 15 (2019), S. 427 (446). 2402 Siehe zu Beispielen verschiedener Kompetenzausgestaltungen Venedig-Kommission, CDL-AD(2007)028, Report on Judicial Appointments, angenommen am 16.–17.03.2007, § 24. 2403 Siehe hierzu ab S. 445. 2404 Vergleiche etwa EGMR Nr. 69916/10 und 36531/11, Poposki und Duma v Mazedonien, 07.01.2016, §§ 47–49, wo der Justizminister nicht nur Mitglied des Richterrates war, sondern auch das Verfahren initiiert hatte; Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, §§ 110–117, wo der EGMR den Verstoß gegen die richterliche Unabhängigkeit nicht allein mit der Beteiligung von politischen Amtsträgern begründete, sondern mit deren Anzahl, der Beteiligung des obersten Staatsanwalts sowie der persönlichen Voreingenommenheit einiger Richter.

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6. Zwischenfazit Richter im Sinne der EMRK sind nicht nur Berufsrichter mit einer juristischen Ausbildung. Der EGMR akzeptiert sowohl Laienrichter, die wegen ihres besonderen Fachwissens als Experten in verwaltungsgerichtlichen oder disziplinarrechtlichen Verfahren hinzugezogen werden, als auch Schöffen und Jurymitglieder im Strafprozess als Richter im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Ist Fachwissen für die Gerichtsentscheidung besonders hilfreich, begrüßt der EGMR den Einsatz von Expertenrichtern explizit. Auch Militärrichter und politische Amtsträger sind nicht per se von der richterlichen Tätigkeit ausgeschlossen. Der EGMR wendet stets die gleichen Grundsätze der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit an. Abhängig von den persönlichen Verhältnissen und den beruflichen Hintergründen der Richter zeigen sich innerhalb der unterschiedlichen Fallgruppen jedoch typische Gefährdungen der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, welche die Konventionsstaaten durch geeignete organisatorische Vorkehrungen ausräumen müssen. Das Vorliegen einer juristischen Ausbildung ist ein Indiz für die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Sofern keine gegenteiligen Anhaltspunkte vorliegen, unterstellt der Gerichtshof Berufsrichtern, dass sie Entscheidungen treffen können, ohne Druck von außen nachzugeben oder sich von einer einseitigen Berichterstattung in der Presse beeinflussen zu lassen. Sind Schöffen an einem Strafverfahren beteiligt, müssen gerade die Berufsrichter durch Instruktionen dafür sorgen, dass die Schöffen keine sachwidrigen Erwägungen in ihre Entscheidung einbeziehen und im äußersten Fall den Austausch eines voreingenommenen Schöffen vornehmen. Bei einer Beteiligung von Militärangehörigen als Experten für die nationale Sicherheit in Prozessen gegen Zivilpersonen verlangt der EGMR einen zwingenden Grund und stellt damit besondere Voraussetzungen auf, die über die allgemeinen Grundsätze der richterlichen Unabhängigkeit hinausgehen. Insgesamt zeigt sich, dass die EMRK bislang keine Personengruppe generell von einer richterlichen Tätigkeit ausschließt. Somit sind die Konventionsstaaten grundsätzlich frei, andere Personen als Berufsrichter richterliche Tätigkeiten ausüben zu lassen, sofern sie die sich aus der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit ergebenden Anforderungen umsetzen.

II. Richterauswahl und Richterernennung Die Ernennung bezeichnet die dauerhafte Verleihung des Richterstatus an eine Person. Nicht alle Richter werden ernannt. Schöffen, die nur für ein bestimmtes Verfahren oder eine eng begrenzte Zeit als Richter tätig sind, oder Experten, Beamte oder Berufsträger, die ihre richterliche Tätigkeit neben einer anderen

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Haupttätigkeit ausüben, haben häufig keinen dauerhaften Richterstatus und werden daher nicht ernannt. Das Ernennungsverfahren betrifft somit in erster Linie, aber nicht ausschließlich, Berufsrichter. Das richterliche Ernennungsverfahren steht im Spannungsverhältnis zwischen demokratischer Legitimation und richterlicher Unabhängigkeit, insbesondere dem Schutz der Gerichtsbarkeit vor unzulässiger Einflussnahme.2405 Dieses Spannungsverhältnis wird in jedem Staat anders aufgelöst. Verlangt man – wie in Deutschland – eine ununterbrochene Legitimationskette zwischen den Wahlen als Willensbekundung des Volkes und der Ernennung eines Richters, müssen zu irgendeinem Zeitpunkt des Ernennungsverfahrens politische Organe – das Parlament oder die demokratisch legitimierte Regierung – beteiligt sein.2406 Gleichzeitig kann die Beteiligung politischer Organe die richterliche Unabhängigkeit gefährden, weil hierdurch eine zu große politische Einflussnahme auf die Gerichtsbarkeit entstehen kann.2407 Ein rein innerhalb der Judikative stattfindender Ernennungsprozess weist keine lückenlose personelle Legitimation in Form einer Legitimationskette zum direkt gewählten Parlament auf, wohl aber eine formelle oder verfassungsrechtliche Legitimation, weil die ernannten Richter im Einklang mit der Verfassung ernannt wurden.2408 Vorgaben der EMRK an das richterliche Ernennungsverfahren wirken sich auf die innerstaatliche Zuständigkeitsordnung und das Verhältnis der politischen Gewalten zur Gerichtsbarkeit aus. Im Urteil Maktouf und Damjanović v Bosnien und Herzegowina erkannte der Gerichtshof die Bedeutung des richterlichen Ernennungsverfahrens für die Gewaltenteilung an. Er prüft das Ernennungsverfahren als einen Aspekt in der Gesamtbetrachtung der richterlichen Unabhängigkeit.2409 Das Verfahren muss so ausgestaltet sein, dass es eine spätere, von anderen Stellen unbeeinflusste Entscheidung des Richters ermöglicht.2410 Die Konventionsstaaten sind verpflichtet, die sich aus der richterlichen Unabhängigkeit ergebenden organisatorischen Anforderungen in ihren Zuständigkeitsordnungen umzusetzen.

2405

Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 230–231. Venedig-Kommission, CDL-AD(2002)26, Opinion on the Draft Law on Judicial Power and Corresponding Constitutional Amendments of Latvia, 29.10.2002, § 13; CCJE, CCJE(2015)4, Opinion No. 18: The position of the judiciary and its relation with the other powers of state in a modern democracy, 16.10.2015, § 15. Siehe die Nachweise in Fn. 1362. 2407 Siehe für einen Überblick über verschiedene Ernennungsverfahren in den EuroparatsStaaten CCJE, CCJE(2015)4, Opinion No. 18: The position of the judiciary and its relation with the other powers of state in a modern democracy, 16.10.2015, § 15. 2408 CCJE, CCJE(2015)4, Opinion No. 18: The position of the judiciary and its relation with the other powers of state in a modern democracy, 16.10.2015, § 14. 2409 EGMR Nr. 2312/08 und 34179/08, Maktouf und Damjanovic v Bosnien und Herzegowina (GK), 18. 07. 2013, §§ 50–53; Nr. 66847/12, Haarde v Island, 23.11.2017, § 103. Siehe zur Unabhängigkeitsdefinition ab S. 425. 2410 Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 40. Siehe auch die Urteile zu Fn. 2420. 2406

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Daneben spielt das Ernennungsverfahren seit der Guðmundur Andri ÁstráðssonRechtsprechung auch bei der Prüfung der gesetzlichen Grundlage eine Rolle.2411 Hinreichend gravierende Verstöße gegen die Vorschriften zur Richterernennung, die sich auf den Sinn und Zweck des Rechts auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK auswirken, können die Rechtmäßigkeitsanforderungen des parlamentarischen Organisationsvorbehalts verletzen.2412 Hierdurch sind konventionsrechtlich auch Verstöße gegen die innerstaatlichen Regelungen zum Ernennungsverfahren relevant, die sich im Einzelfall der Beschwerdeführer nicht auf den Inhalt der gerichtlichen Entscheidung ausgewirkt haben. Gleichzeitig zeigt die Rechtsprechung, dass die innerstaatlichen Ernennungsregelungen so ausgestaltet sein müssen, dass die richterliche Unabhängigkeit gewahrt bleiben kann. Inhaltliche Vorgaben an die richterliche Auswahl und Ernennung ergeben sich jedoch nach wie vor allein aus dem Unabhängigkeitsmerkmal. 1. Die an Ernennung und Auswahl beteiligten Organe Auswahl- und Ernennungsverfahren sind in allen Konventionsstaaten unterschiedlich ausgestaltet.2413 Anfang der 1990er Jahre wurden in vielen osteuropä­ ischen Staaten Richterräte eingerichtet, die für die Auswahl und Ernennung der Richter, aber auch für deren Disziplinierung zuständig sind.2414 Häufig sind die Gremien zum Teil mit Richtern besetzt, welche auch ihrerseits von der Richterschaft bestimmt sind und zum Teil durch Minister oder Repräsentanten der politischen Organe.2415 Demgegenüber sind vornehmlich in westeuropäischen Staaten politische Organe unmittelbar am Ernennungsverfahren beteiligt.2416

2411

Siehe dazu bereits oben ab S. 313. EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, §§ ­243–252. 2413 Venedig-Kommission, CDL-AD(2007)028, Report on Judicial Appointments, angenommen am 16.–17.03.2007, § 44; CDL-AD(2012)001, Opinion on Act CLXII of 2011 on the Legal Status and Remuneration of Judges and Act CLXI of 2011 on the Organisation and Administration of Courts of Hungary, angenommen am 16.–17.03.2012, § 57; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 216; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 40; Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 54. 2414 Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 40. Siehe Venedig-Kommis­ sion, CDL-AD(2007)028, Report on Judicial Appointments, angenommen am ­16.–17.03.2007, § 16 für eine Übersicht der Staaten, in denen die Richter durch den Richterrat ernannt werden; siehe ebda. § 21 Fn. 7 für eine Übersicht aller Konventionsstaaten, die einen Richterrat haben, unabhängig davon, ob dieser am Ernennungsverfahren beteiligt ist. 2415 Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 40. Siehe für einen Überblick über die Besetzung der Richterräte Venedig-Kommission, CDL-AD(2007)028, Report on Judicial Appointments, angenommen am 16.–17.03.2007, §§ 27–37. 2416 Venedig-Kommission, CDL-AD(2007)028, Report on Judicial Appointments, ­16.–17.03.2007, §§ 5, 13, 15; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 170 (ohne Differenzierung zwischen verschiedenen Konventionsstaaten); Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 223. 2412

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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a) Exekutive und legislative Organe Für die Beteiligung politischer Organe am Ernennungsverfahren wendet der EGMR einheitliche Maßstäbe an, unabhängig davon, ob es sich um exekutive oder legislative Organe handelt.2417 Im ersten Urteil zur Richterernennung durch die Exekutive, Campbell und Fell v Vereinigtes Königreich, begründete der EGMR seine ständige Rechtsprechungslinie.2418 Der EGMR betonte zunächst, dass Gefährdungen der gerichtlichen Unabhängigkeit insbesondere von den Parteien und der Exekutive ausgehen. Allein die Ernennung von Richtern durch Mitglieder der Exekutive führte jedoch nicht zu einem Mangel der Unabhängigkeit.2419 In späteren Urteilen präzisierte der EGMR, dass die Konventionskonformität eines Ernennungsverfahrens vor allem davon abhängig ist, ob der Richter anschließend seine richterlichen Aufgaben ohne Druck oder unzulässige Einflussnahme ausüben kann.2420 Dies gilt unabhängig davon, ob im konkreten Fall ein Staatsoberhaupt,2421 die Regierung oder ein Regierungsmitglied2422 oder ein Mitglied des Gemeinderates2423 am Ernennungsverfahren betei 2417 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 170–174, besonders S. 172. Daher erfolgt, abweichend von anderen Darstellungen (Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 41–46; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 217–225), eine gemeinsame Behandlung beider Fallgruppen. 2418 Vgl. Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 41 Fn. 119. Zuvor bereits EKMR Nr. 7360/76, Zand v Österreich (Rep.), 12.10.1978, DR 15, S. 70, §§ 77–83. 2419 EGMR Nr. 7819/77 und 7878/77, Campbell und Fell v Vereinigtes Königreich, 28.06.1984, §§ 78–79. 2420 EGMR Nr. 75117/01, Majorana v Italien (Zul.), 26.05.2005; Nr. 38240/02, Zolotas v Griechenland, 02.06.2005, § 24; Nr. 65411/01, Sacilor Lormines v Frankreich, 09.11.2006, § 67; Nr. 23614/08, Henryk Urban und Ryszard Urban v Polen, 30.11.2010, § 49; Nr. 2312/08 und 34179/08, Maktouf und Damjanović v Bosnien und Herzegowina (GK), 18.07.2013, § 49; Nr. 80018/12, Thiam v Frankreich, 18.10.2018, § 80; in der konkreten Anwendung EGMR Nr. 57861/00, Absandze v Georgien (Zul.), 15.10.2002; Nr. 23695/02, Clarke v Vereinigtes Königreich (Zul.), 25.08.2005; Kühne, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 302 (2009); Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 173; Le Bonniec, RFDC 106 (2016), S. 335 (345). 2421 EGMR Nr. 23695/02, Clarke v Vereinigtes Königreich (Zul.), 25.08.2005 (Ernennung durch die Queen auf Vorschlag des Lord Chancellors); Nr. 57861/00, Absandze v Georgien (Zul.), 15.10.2002 (Vorschlag des Staatspräsidenten, Wahl durch das Parlament); Nr. 80018/12, Thiam v Frankreich, 18.10.2018, §§ 75–82 (der für die Ernennung der Richter zuständige Präsident war gleichzeitig Prozesspartei, daher im konkreten Fall Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK, §§ 83–85). 2422 EGMR Nr. 7819/77 und 7878/77, Campbell und Fell v Vereinigtes Königreich, 28.06.1984, § 79 (Ernennung durch den Home Secretary); Nr. 8790/79, Sramek v Österreich (Pl.), 22.10.1984, § 38 (Ernennung durch Landesregierung; im konkreten Fall Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK, weil die Landesregierung auch Prozesspartei war); Nr. 23695/02, Clarke v Vereinigtes Königreich (Zul.), 25.08.2005 (Ernennung durch den Lord Chancellor). 2423 EGMR Nr. 10328/83, Belilos v Schweiz (Pl.), 29.04.1988, § 66 (im konkreten Fall war das Erscheinungsbild des Richters nicht unabhängig, weil er in die Weisungshierarchie der Polizei eingeordnet war und später in exekutive Tätigkeiten zurückkehren würde (§ 67), siehe zu diesem Urteil ausführlicher ab S. 602); Nr. 75117/01, Majorana v Italien (Zul.), 26.05.2005; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 540.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

ligt ist. Diese Rechtsprechung gilt sowohl für die Ernennung von Berufsrichtern ordentlicher Gerichte2424 als auch von (Laien-)Richtern in Verwaltungsspruchkörpern2425 oder Amtsenthebungsgerichten2426. Über die Beteiligung legislativer Organe an der Ernennung von Richtern entschied der EGMR insgesamt seltener und chronologisch später.2427 Gerichte und Richter müssen auch vom Gesetzgeber unabhängig sein.2428 Wie bei exekutiven Organen führt eine richterliche Ernennung durch das Parlament nicht automatisch zu einer fehlenden Unabhängigkeit und ist zulässig, solange die anschließende richterliche Tätigkeit ohne Einflussnahme oder Druck ausgeübt werden kann.2429 In einem Amtsenthebungsverfahren lag selbst dann noch kein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK vor, als das Parlament nicht nur die Richter ernannt hatte, sondern außerdem die Anklage vertrat.2430 Wegen der besonderen Umstände des Verfahrens und der besonderen Natur des Amtsenthebungsverfahrens darf dieses Ergebnis jedoch nicht verallgemeinert werden. Die Urteile Zolotas v Griechenland und Flux v Moldawien Nr. 2 zeigen, dass der EGMR für die Auswahl und Ernennung von Gerichtspräsidenten die gleichen Maßstäbe wie an die Auswahl von Richtern anlegt,2431 auch wenn es hierbei um die Besetzung eines Postens in der Gerichtsverwaltung geht. 2424

EGMR Nr. 57861/00, Absandze v Georgien (Zul.), 15.10.2002 (Oberstes Gericht); Nr. 23695/02, Clarke v Vereinigtes Königreich (Zul.), 25.08.2005. 2425 EGMR Nr. 7819/77 und 7878/77, Campbell und Fell v Vereinigtes Königreich, 28.06.1984, §§ 79–80 (Disziplinarorgan eines Gefängnisses); Nr. 8790/79, Sramek v Österreich (Pl.), 22.10.1984, § 38 (Regional Real Property Transactions Authority). 2426 EGMR Nr. 28972/95, Ninn-Hansen v Dänemark (Zul.), 18.05.1999; Nr. 66847/12, Haarde v Island, 23.11.2017, § 105. 2427 Siehe auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 172–173 mit einer Betrachtung der EKMR-Entscheidung Crociani u. a. v Italien zur Ernennung von Richtern durch die Legislative bezieht sowie mit näheren Ausführungen zu den Entscheidungen Ninn-Hansen v Dänemark und Filippini v San Marino; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 44–46. 2428 EGMR Nr. 28972/95, Ninn-Hansen v Dänemark (Zul.), 18.05.1999; Nr. 66847/12, Haarde v Island, 23.11.2017, § 105; Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 289. 2429 EGMR Nr. 65411/01, Sacilor Lormines v Frankreich, 09.11.2006, § 67; Nr. 31101/03, Flux v Moldawien Nr. 2, 03.07.2007, § 27; in der konkreten Anwendung EGMR Nr. 28972/95, Ninn-Hansen v Dänemark (Zul.), 18.05.1999; Nr. 10526/02, Filippini v San Marino (Zul.), 26.08.2003; Nr. 66847/12, Haarde v Island, 23.11.2017, § 105; Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 295; Kühne, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 302 (2009); Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (600–601); Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 224–225; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 44–45; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 172–173. Nicht zutreffend ist hingegen die Ansicht Villigers, Handbuch EMRK, Rn. 497, dass die parlamentarische Bestellung des Gerichts erwünscht sei. 2430 EGMR Nr. 28972/95, Ninn-Hansen v Dänemark (Zul.), 18.05.1999; kritisch Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 45. 2431 EGMR Nr. 38240/02, Zolotas v Griechenland, 02.06.2005, §§ 24–28; Nr. 31001/03, Flux v Moldawien Nr. 2, 03.07.2007, §§ 24–27; vgl. Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 191.

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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Soweit ersichtlich, hat der EGMR noch nie ausschließlich wegen des Ernennungsverfahrens oder der daran beteiligten Organe eine Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit angenommen.2432 Ausschlaggebend ist vielmehr, dass die Richter ihre hoheitliche Tätigkeit nach ihrer Ernennung ohne unzulässigen Druck und ohne Einflussnahme ausüben können.2433 Für die Beurteilung der richterlichen Unabhängigkeit ist somit weniger das Ernennungsorgan an sich und umso mehr die Beziehung des Richters zum Ernennungsorgan nach dem Ernennungsvorgang relevant.2434 Diese Beziehung wird primär durch die richterlichen Statusrechte ausgestaltet. Der EGMR beurteilt die richterliche Unabhängigkeit im Rahmen einer Gesamtabwägung. In diese bezieht er sowohl die Dauer der Amtszeit2435 als auch die Unabsetzbarkeit der Richter2436 und die Weisungsfreiheit2437 ein. Stehen die Richter in einem Unterordnungs- und Weisungsverhältnis zu ihrem Ernennungsorgan, sodass sie Sorge vor einer vorzeitigen Absetzung oder unzulässiger Einflussnahme haben müssen, ist hierdurch ihre Unabhängigkeit gefährdet.2438 Unschädlich ist es hingegen, wenn ein der Regierung angehörendes Ernennungsorgan unverbindliche Richtlinien über die Ausübung der richterlichen Tätigkeit veröffentlicht.2439 Im Rahmen der Gesamtabwägung wertet der EGMR die Ernennung durch ein exekutives Organ als Argument gegen die richterliche Unabhängigkeit, das allerdings durch andere Sicherungsmechanismen ausgeglichen werden kann. Dies zeigt die Zulässigkeitsentscheidung Clarke v Vereinigtes Königreich. Die beschwerdegegenständlichen Richter wurden durch den Lord Chancellor ernannt beziehungsweise von ihm vorgeschlagen. Der EGMR erwähnte den kompetitiven Auswahlprozess,2440 legte seinen Fokus aber auf die organisatorische Beziehung zwischen dem Richter und dem Ministerium des Lord Chancellor sowie auf die bestehende Absicherung der Amtszeit und der Unabsetzbarkeit.2441 Wegen ausreichender Si 2432

Vgl. Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 223, der das Ernennungsverfahren als unproblematisch bezeichnet. 2433 Siehe die Nachweise in Fn. 2420 und 2429. 2434 Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 40. 2435 EGMR Nr. 8790/79, Sramek v Österreich (Pl.), 22.10.1984, § 38; Nr. 57861/00, Absandze v Georgien (Zul.), 15.10.2002; Nr. 75117/01, Majorana v Italien (Zul.), 26.05.2005; Nr. 80018/12, Thiam v Frankreich, 18.10.2018, § 77. 2436 EGMR Nr. 10328/83, Belilos v Schweiz (Pl.), 29.04.1988, § 66; Nr. 23695/02, Clarke v Vereinigtes Königreich (Zul.), 25.08.2005; Nr. 57861/00, Absandze v Georgien (Zul.), 15.10.2002; Nr. 75117/01, Majorana v Italien (Zul.), 26.05.2005. 2437 Siehe hierzu ausführlich ab S. 589. 2438 EGMR Nr. 27061/95, Kadubec v Slowakei, 02.09.1998, § 57; Nr. 26138/95, Lauko v Slowakei, 02.09.1998, § 64; Nr. 33071/96, Malhous v Tschechien (GK), 12.07.2001, § 57; Nr. 47227/99, Baková v Slowakei, 15.11.2002, § 32; Nr. 54723/00, Brudnicka u. a. v Polen, 03.03.2005, §§ 17, 41; Nr. 80018/12, Thiam v Frankreich, 18.10.2018, § 78; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 88 Rn. 301. 2439 EGMR Nr. 7819/77 und 7878/77, Campbell und Fell v Vereinigtes Königreich, 28.06.1984, § 79; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 540. 2440 EGMR Nr. 75117/01, Majorana v Italien (Zul.), 26.05.2005 macht hierzu keine Ausführungen. 2441 EGMR Nr. 23695/02, Clarke v Vereinigtes Königreich (Zul.), 25.08.2005.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

cherungsmechanismen war die Beteiligung des Lord Chancellor am Ernennungsverfahren nicht schädlich.2442 Bei Ernennungen durch die Legislative maß der EGMR eventuellen politischen Sympathien, die bei der Richterauswahl eine Rolle gespielt haben könnten,2443 keine entscheidende Bedeutung zu. Die richterliche Unabhängigkeit wurde dadurch gesichert, dass nach dem Auswahl- und Ernennungsverfahren keine Beziehung zwischen dem Richter und dem Parlament mehr bestand2444 beziehungsweise dass die Richter ihre Tätigkeit frei von Weisungen2445 oder externem Druck und Einflussnahme2446 durch das Parlament ausüben konnten. Der Begründungsaufwand fiel knapper aus als bei den Urteilen zur Ernennung durch exekutive Organe. Das deutet darauf hin, dass der EGMR die Gefährdung der richterlichen Unabhängigkeit bei einer Ernennung durch die Legislative für geringer hält als die Gefahr einer Ernennung durch die Exekutive. Die Legislative ist, anders als Justizminister oder mit Regierungsmitgliedern besetzte Richterräte, typischerweise weniger in richterliche Disziplinarverfahren eingebunden. Außerdem besteht zwischen Richtern und Parlamenten, anders als etwa zwischen Beamten mit richterlichen Aufgaben und ihnen übergeordneten Verwaltungsebenen, kein Hierarchieverhältnis. Damit entfallen im Verhältnis zwischen legislativen Ernennungsorganen und Richtern typische Gefährdungen, die häufig im Verhältnis von Richtern zu exekutiven Ernennungsorganen relevant werden. Zusammenfassend hat das Ernennungsorgan nur geringe Auswirkungen auf die richterliche Unabhängigkeit. Die Ernennung durch ein exekutives Organ wird als ein Argument gegen die richterliche Unabhängigkeit gewertet. Andere Sicherungsmechanismen, insbesondere die Unabsetzbarkeit für die Dauer der Amtszeit sowie die Weisungsfreiheit, können den möglicherweise durch das Ernennungsverfahren gesäten Zweifel an der gerichtlichen Unabhängigkeit jedoch wieder aufwiegen. Ausschlaggebend für die Beurteilung der richterlichen Unabhängigkeit ist somit nicht das Ernennungsorgan als solches, sondern das Verhältnis des Ernennungsorgans zum Richter während der richterlichen Tätigkeit.2447 2442 Weitere Entscheidungen, in denen die Ernennung durch die Exekutive wegen ausreichender Sicherungsmechanismen unproblematisch war und der EGMR vergleichbare Erwägungen anstellte, sind EGMR Nr. 57861/00, Absandze v Georgien (Zul.), 15.10.2002 sowie Nr. 75117/01, Majorana v Italien (Zul.), 26.05.2005; hierzu Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 169, die eine strenge Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Judikative im Rahmen der Richterernennung ablehnt. 2443 EGMR Nr. 28972/95, Ninn-Hansen v Dänemark (Zul.), 18.05.1999; Nr. 10526/02, Filippini v San Marino (Zul.), 26.08.2003; Nr. 66847/12, Haarde v Island, 23.11.2017, § 105; diese Befürchtung auch bei Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 224. 2444 EGMR Nr. 28972/95, Ninn-Hansen v Dänemark (Zul.), 18.05.1999. 2445 EGMR Nr. 10526/02, Filippini v San Marino (Zul.), 26.08.2003; Nr. 66847/12, Haarde v Island, 23.11.2017, § 105. 2446 EGMR Nr. 31001/03, Flux v Moldawien Nr. 2, 03.07.2007, § 27. 2447 Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 40. Kühne, in: Pabel /  Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 302 (2009) geht davon aus das die Weisungs-

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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b) Richterräte Bis vor kurzem wurde die richterliche Unabhängigkeit vor dem EGMR bislang noch nicht aus dem Grund in Frage gestellt, dass ein Richter durch einen Richterrat ernannt wurde. Der EGMR entschied aber Fälle, in denen exekutive Organwalter als Mitglieder des Richterrates an der Richterernennung beteiligt2448 und in denen Richterräte gemeinsam mit exekutiven Organen für die Richterauswahl und -ernennung zuständig waren2449.2450 Hier wendete der EGMR die allgemeinen Rechtsprechungsgrundsätze zur Beteiligung exekutiver Organwalter am richterlichen Ernennungsverfahren an: Die Beteiligung eines exekutiven Organwalters am Ernennungsverfahren beeinträchtigt als solche die richterliche Unabhängigkeit nicht, maßgeblich sind die weiteren Sicherungsmechanismen.2451 In der Entscheidung Asadov v Aserbaidschan ging der EGMR auf die Zusammensetzung des Richterrates aus dem Justizminister als Vorsitzendem und sechs Gerichtspräsidenten der höchsten nationalen Gerichte und das Abstimmungsverfahren ein. Entscheidungen wurden mehrheitlich getroffen. Der Justizminister als Vorsitzender gab seine Stimme als Letzter ab. Er bekam außerdem alle Ergebnisse der Interviews und Leistungsüberprüfungen der Kandidaten vorgelegt. Neben sonstigen Sicherungsmechanismen wie einer gesicherten Amtszeit, Unabsetzbarkeit und Weisungsfreiheit der Richter beurteilte der EGMR die Rolle des Justizministers im Abstimmungsprozess als förderlich für die richterliche Unabhängigkeit. abhängigkeit ausschlaggebend ist. Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 169 sieht abweichend die Ernennung und die richterlichen Statusrechte vergleichbar wichtig an. 2448 EGMR Nr. 138/03, Asadov u. a. v Aserbaidschan (Zul.), 12.01.2006 (der Justizminister war einer von sieben Mitgliedern des Richterrates und der einzige Repräsentant der Exekutive); Nr. 26986/03, Galstyan v Armenien, 15.11.2007 (Staatspräsident war Mitglied des Richterrates); Nr. 21102/03, Bucuria Inc. u. a. v Moldawien (Zul.), 31.05.2011, § 31 (Mitglieder des Richterrates waren ex officio u. a. der Justizminister und der Generalstaatsanwalt, drei andere Mitglieder wurden durch das Parlament gewählt); Nr. 80018/12, Thiam v Frankreich, 18.10.2018, §§ 81, 83 (der für die Ernennung zuständige Staatspräsident war gleichzeitig Mitglied des Richterrates). 2449 EGMR Nr. 41211/98, Iovchec v Bulgarien (Zul.), 18.11.2004 (Justizminister schlug dem Richterrat Kandidaten vor); Nr. 63610/00 und 38692/05, Forum Maritime S. A. v Rumänien, 04.10.2007, § 154 (der Justizminister sprach dem Staatspräsidenten auf Vorschlag des Richterrates Empfehlungen aus). 2450 Vgl. auch Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 47. 2451 EGMR Nr. 138/03, Asadov u. a. v Aserbaidschan (Zul.), 12.01.2006 (Unabsetzbarkeit, die richterliche Immunität und die Weisungsfreiheit); dem folgend EGMR Nr. 44363/02, Ramazanova u. a. v Aserbaidschan, 01.02.2007, §§ 70–71; Nr. 63610/00 und 38692/05, Forum Maritime S. A. v Rumänien, 04.10.2007, § 154 (ohne auf die einzelnen gesetzlichen Sicherungsmechanismen näher einzugehen); Nr. 26986/03, Galstyan v Armenien, 15.11.2007, § 62 (Durchführung einer Eignungsprüfung, Unabsetzbarkeit, Weisungsfreiheit); dem folgend EGMR Nr. 33268/03, Ashughyan v Armenien, 17.07.2008, § 52; Nr. 21102/03, Bucuria Inc. u. a. v Moldawien (Zul.), 31.05.2011, § 43 (unbegrenzte Amtszeit, keine Anzeichen subjektiver Unparteilichkeit); Nr. 80018/12, Thiam v Frankreich, 18.10.2018, §§ 78–80 (gesicherte Amtszeit, Weisungsfreiheit, Beteiligung des Richterrates bei Beförderung von und Disziplinarverfahren gegen Richter).

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Durch die letzte Stimmabgabe konnte das Abstimmungsverhalten des Ministers die Entscheidungen der anderen Mitglieder des Richterrates nicht beeinflussen. Auf die Möglichkeit, dass der Justizminister damit im Falle eines Gleichstandes die entscheidende Stimme hatte, ging der EGMR nicht ein. Zudem hielt der EGMR es ohne konkrete Anhaltspunkte für unwahrscheinlich, dass der Justizminister informell Einfluss auf die anderen Mitglieder des Richterrates genommen hatte. Somit hatte er keinen Grund, an der richterlichen Unabhängigkeit zu zweifeln.2452 In der Sache Thiam v Frankreich war der damalige Staatspräsident Sarkozy Mitglied des für die Richterernennung zuständigen Richterrates und trat gleichzeitig als Prozesspartei in einem Zivilverfahren gegen den Beschwerdegegner auf.2453 „The Court infers from the prerogatives of the [Conseil supérieur de la magistrature (CSM)], whose role it is, together with the President, to guarantee the independence of the judiciary, that the signing by the President of instruments for the appointment of new judges or for promotion or assignment to a new post […] is the formal culmination of the relevant decision-making process and does not, per se, undermine the independence of the judges concerned. In addition, the collegial exercise of the CSM’s power of ‚proposal‘ and ‚binding approval‘ constitutes, in the Court’s opinion, an essential safeguard against the risk of pressure on judges by the executive.“2454

Zusammenfassend hat der EGMR keine grundsätzlichen Bedenken gegen die Beteiligung von Richterräten am Ernennungsprozess von Richtern.2455 Selbst wenn exekutive Organwalter Mitglied im Richterrat sind, wirkt die Beteiligung des Richterrates am Ernennungsverfahren förderlich für richterliche Unabhängigkeit. Der EGMR legte in Asadov und Thiam die Gesetzeslage und nicht das tatsächliche Erscheinungsbild zugrunde. Die bereits im Rahmen des Organisationsvorbehalts angesprochenen Urteile Reczkowicz v Polen, Dolińska-Ficek und Ozimek v Polen und Advance Pharma sp. z o.o v Polen zeigen jedoch, dass ein konventionswidriges Besetzungsverfahren eines Richterrates zu einem Konventionsverstoß führen kann. Nach einer Gesetzesänderung wurde der Richterrat, auf dessen Empfehlungen hin der Präsident Richter aller Instanzen ernannte, nicht mehr durch Richter gewählt, sondern vom Parlament. Durch den starken politischen Einfluss der Regierungspartei und des Justizministers stufte der EGMR den Richterrat nicht mehr als unabhängig ein und sah hierin einen offenkundigen Verstoß gegen das nationale Recht, das er im Lichte konventionsrechtlicher Vorgaben auslegte.2456 Durch das geänderte Verfahren hatten die Exekutive und die Legislative so großen Einfluss auf die Besetzung des Richterrates und damit auf die Auswahl der Richter, dass ein strukturelles 2452

EGMR Nr. 138/03, Asadov u. a. v Aserbaidschan (Zul.), 12.01.2006. EGMR Nr. 80018/12, Thiam v Frankreich, 18.10.2018, §§ 7, 17. 2454 EGMR Nr. 80018/12, Thiam v Frankreich, 18.10.2018, § 82. 2455 So, vor allem bezogen auf das Urteil Galstyan v Armenien, auch Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 47. 2456 Siehe zu all dem bereits oben ab S. 317. 2453

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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Unabhängigkeitsdefizit vorlag. Hieraus ist zu schließen, dass die Beteiligung von Richterräten an richterlichen Ernennungsverfahren nicht per se konventionskonform ist. Entscheidend sind die Zusammensetzung des Richterrates, sein Besetzungsverfahren und die Beteiligung weiterer hoheitlicher Organe und ob in der Gesamtschau ein zu starker politischer Einfluss auf die ernannten Richter ausgeschlossen werden kann. c) Berufliche Selbstverwaltungskörperschaften und Interessenverbände Richter in Disziplinarkammern von beruflichen Selbstverwaltungskörperschaften werden bisweilen von den Mitgliedern der Körperschaft gewählt.2457 In dem Fall liegt also eine Auswahl und Ernennung durch ein nicht-staatliches Organ vor, das hierzu entsprechend dem formalen Organisationsvorbehalt des Art. 6 Abs. 1 EMRK gesetzlich ermächtigt werden muss.2458 Auch dieser Ernennungsprozess stellt die richterliche Unabhängigkeit nicht grundsätzlich in Zweifel. Solange die Richter in ihrer streitentscheidenden Tätigkeit keiner anderen Stelle untergeordnet sind2459 und nicht als Repräsentanten der Körperschaft, sondern in ihrer persönlichen Kapazität entscheiden,2460 besteht kein Problem mit der richterlichen Unabhängigkeit.2461 d) Militärangehörige Werden Militärrichter durch andere Militärangehörige ernannt, ist die richterliche Unabhängigkeit wegen der Besonderheiten der militärischen Organisation besonders gefährdet. Wie bei der Ernennung durch legislative oder andere exekutive Organe ist nicht das isolierte Verhältnis zwischen Richter und Ernennungsorgan zum Zeitpunkt der Ernennung relevant. Der EGMR untersucht vorrangig, 2457

EGMR Nr. 6878/75 und 7238/75, Le Compte, Van Leuven und De Meyere v Belgien (Pl.), 23.06.1981, §§ 24, 26; Nr. 7299/75 und 7496/76, Albert und Le Compte (Pl.), 10.02.1983, § 32; Nr. 8950/80, H v Belgien (Pl.), 30.11.1987, §§ 25, 51; Nr. 69742/01, Gubler v Frankreich, 27.07.2006, §§ 20, 28; Nr. 53025/99, Frankowicz v Polen, 16.12.2008, § 64. 2458 EGMR Nr. 6878/75 und 7238/75, Le Compte, Van Leuven und De Meyere v Belgien (Pl.), 23.06.1981, § 20; Nr. 69742/01, Gubler v Frankreich, 27.07.2006, § 20; Nr. 53025/99, Frankowicz v Polen, 16.12.2008, § 19. 2459 EGMR Nr. 8950/80, H v Belgien (Pl.), 30.11.1987, § 51; Nr. 69742/01, Gubler v Frankreich, 27.07.2006, § 28. 2460 EGMR Nr. 7299/75 und 7496/76, Albert und Le Compte (Pl.), 10.02.1983, § 32; Nr. 53025/99, Frankowicz v Polen, 16.12.2008, § 64; Nr. 34197/02, Luka v Rumänien, 21.07.2009, § 43; Steinfatt, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 104. 2461 Siehe das Positivbeispiel in EGMR Nr. 7299/75 und 7496/76, Albert und Le Compte (Pl.), 10.02.1983, § 32; zusammenfassend Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 338; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 567; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 69.

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wie sehr die militärischen Ernennungsorgane anschließend auf die richterliche Tätigkeit einwirken können.2462 Aufgrund der hierarchischen und weisungsabhängigen Organisation des Militärs reicht es für einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK bereits aus, wenn die Militärrichter von ihnen vorgesetzten Personen ernannt wurden und weiterhin der Militärdisziplin unterstellt sind.2463 In der Rechtsprechungsreihe Incal und Çıraklar v Türkei wertete der EGMR die Ernennung der Militärrichter durch Verwaltungsbehörden und andere Militärangehörige als einen Aspekt, der in der Abwägung der Gesamtumstände die Unabhängigkeit in Zweifel zog.2464 Sind Militärrichter in die militärische Organisation eingebunden, müssen die Sicherungsmechanismen der richterlichen Unabhängigkeit besonders weitreichend ausgestaltet sein, um ihren Einsatz zu rechtfertigen – besonders, wenn sie durch andere Militärangehörige ernannt wurden. Auch bei der Beurteilung der Unabhängigkeit von Militärrichtern ist das Ernennungsorgan nur einer von verschiedenen Faktoren. e) Zwischenfazit Kein Ernennungsorgan war bislang alleine dafür ausschlaggebend, dass der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit verletzt wurde. Indem der EGMR das Ernennungsverfahren in eine Gesamtabwägung einstellt, verhindert er, sich strukturell zur Konventionskonformität einzelner Ernennungssysteme äußern zu müssen und kann stets den konkreten Einzelfall zugrunde legen. Tendenziell spricht eine Ernennung durch ein exekutives Organ gegen die richterliche Unabhängigkeit, die Beteiligung eines Richterrates hingegen fördert die richterliche Unabhängigkeit, sofern dieser selbst unabhängig ist. Bei den Sonderfällen – der Ernennung durch Organe der beruflichen Selbstverwaltungskörperschaften und durch Militärangehörige – wendet der EGMR die allgemeinen Rechtsprechungsprinzipien an, bezieht aber die jeweiligen Besonderheiten der Fallgruppen in seine Beurteilung ein.

2462

Zur Anwendung der gleichen Grundsätze wie bei politischen exekutiven Organen EGMR Nr. 40079/98 u. a., Çimen, Yilmaz, Öztürk u. a. v Türkei (Zul.). 25.05.2000 (hier erfolgte eine Ernennung durch den Staatspräsidenten auf Vorschlag des Chief of General Staff); so auch Bucherer, Die Vereinbarkeit von Militärgerichten mit dem Recht auf ein faires Verfahren, S. 50. 2463 EGMR Nr. 39429/98, İrfan Bayrak v Türkei, 03.05.2007, §§ 35–37; Nr. 27341/02, Veyi­ soğlu v Türkei, 26.06.2007, § 30; Nr. 10987/10, İbrahim Gürkan v Türkei, 03.07.2012, § 19. 2464 EGMR Nr. 22678/93, Incal v Türkei, 09.06.1998, § 68; dem folgend EGMR Nr. 19601/92, Çıraklar v Türkei, 28.10.1998, § 39. Siehe für weitere Urteile dieser gefestigten Rechtsprechungslinie ab S. 723.

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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2. Ernennungskriterien und -verfahren Ernennungskriterien und -verfahren, die das Ermessen der zuständigen Organe einschränken, dienen ebenfalls der richterlichen Unabhängigkeit.2465 Der EGMR bewertet es positiv, wenn die Auswahl der Richter auf Grundlage eines kompetitiven Verfahrens erfolgt, das die Fähigkeiten der Kandidaten austestet2466 oder wenn die Ernennung sich an sachlichen Kriterien orientiert.2467 In Guðmundur Andri Ástráðsson v Island ging der EGMR erstmals ausführlicher auf richterliche Ernennungskriterien ein und stützte sich hierbei insbesondere auf eine Stellungnahme des CCJE.2468 „220. In the Court’s view, […] it is inherent in the very notion of  a ‚tribunal‘ that it be composed of judges selected on the basis of merit – that is, judges who fulfil the requirements of technical competence and moral integrity to perform the judicial functions required of it in a State governed by the rule of law. […] 222. […] [The Court] nevertheless underlines the paramount importance of a rigorous process for the appointment of ordinary judges to ensure that the most qualified candidates – both in terms of technical competence and moral integrity – are appointed to judicial posts. It goes without saying that the higher a tribunal is placed in the judicial hierarchy, the more demanding the applicable selection criteria should be. It is further evident that non-professional judges could be subject to different selection criteria, particularly when it comes to the requisite technical competencies. In the Court’s view, such merit-based selection not only ensures the technical capacity of a judicial body to deliver justice as a ‚tribunal‘, but it is also crucial in terms of ensuring public confidence in the judiciary and serves as a supplementary guarantee of the personal independence of judges.“2469

Hiernach kann nicht nur die juristische Fähigkeit, sondern auch die Persönlichkeit der Richter ein Grund für oder gegen ihre Ernennung sein. Es gibt jedoch keinen Anhaltspunkt dafür, dass alleine eine Ernennung ohne Beachtung dieser Ernennungskriterien dazu führt, dass der betroffene Richter nicht mehr unabhän 2465 Vgl. auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 171–172; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 229–223. 2466 EGMR Nr. 23695/02, Clarke v Vereinigtes Königreich (Zul.), 25.08.2005; Nr. 57861/00, Absandze v Georgien (Zul.), 15.20.2002. 2467 EGMR Nr. 9006/80 u. a., Lithgow u. a. v Vereinigtes Königreich, 08.07.1986, § 202; Nr. 57861/00, Absandze v Georgien (Zul.), 15.20.2002 (fünf Jahre Berufserfahrung); Nr. 2312/08 und 34179/08, Maktouf und Damjanović v Bosnien und Herzegowina  (GK), 18.07.2013, § 51 (Berufsrichter in den Herkunftsstaaten); Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 146: Voraussetzung ist die „Wahrung sachlicher Maßstäbe und Kriterien“. 2468 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, § 221. Der CCJE forderte objektive Kriterien, sodass Richter aufgrund ihrer Qualifikationen, ihrer Integrität, ihren Fähigkeiten und ihrer Effizienz ausgewählt werden, CCJE, Opinion No. 1 on Standards concerning the Independence of the Judiciary and the Irremovability of Judges, 23.11.2001, § 25. 2469 EGMR Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, §§ 220, 222; dem zusammenfassend folgend EGMR Nr. 4907/18, Xero Flor w Polsce sp. z o. o. v Polen, 07.05.2021, § 244; Nr. 43447/19, Reczkowicz v Polen, 22.07.2021, § 217.

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gig ist. Eine Ernennung nach sachlichen Kriterien wie der Kompetenz oder der Integrität ist somit keine unabdingbare Voraussetzung, wohl aber förderlich für die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Auch eine Beteiligung verschiedener staatlicher Stellen oder Interessenvertreter am Ernennungsverfahren kann sich förderlich auf die richterliche Unabhängigkeit auswirken.2470 Genaue Vorgaben zu diesen Verfahren macht der EGMR nicht. Da aber eine Zusammenarbeit verschiedener Organe an einem Ernennungsprozess eine gegenseitige Kontrolle und Mäßigung dieser Organe impliziert und die Wahrscheinlichkeit einer sachwidrigen Ernennung senkt, sprechen solche Verfahren unabhängig von ihrer konkreten Ausgestaltung für die richterliche Unabhängigkeit. 3. Analyse a) Weiter Gestaltungsspielraum für die Konventionsstaaten Das Verfahren der Richterauswahl und -ernennung steht nicht im Fokus der Unabhängigkeitsrechtsprechung des EGMR. Obwohl das Ernennungsverfahren in der Unabhängigkeitsdefinition einen prominenten Platz einnimmt, erweist sich die Rechtsprechung hierzu als wenig durchschlagkräftig. Der Gerichtshof konzentriert sich stattdessen auf die Sicherungsmechanismen für die richterliche Unabhängigkeit, die das anschließende Verhältnis der Richter zu den Ernennungsorganen betreffen. Insgesamt verfügen die Konventionsstaaten über einen weiten Gestaltungsspielraum sowohl hinsichtlich der am Ernennungsverfahren beteiligten Organe als auch hinsichtlich der materiellen Vorgaben bei der Richterauswahl.2471 Der EGMR verlangt keine strenge Gewaltenteilung im richterlichen Ernennungsverfahren,2472 politische Organe sind nicht vom Ernennungsverfahren ausgeschlossen. Auf der anderen Seite fordert der EGMR auch kein Ernennungsverfahren, das eine ununterbrochene Legitimationskette zum direkt gewählten Parlament sicherstellt. Das Spannungsverhältnis zwischen richterlicher Unabhängigkeit und demokratischer Legitimation müssen die Konventionsstaaten somit selbst ausglei 2470 EGMR Nr. 9006/80 u. a., Lithgow u. a. v Vereinigtes Königreich, 08.07.1986, § 202 (Beteiligung der Aktionäre im Rahmen der Besetzung eines Schiedsgerichts); Nr. 57861/00, Absandze v Georgien (Zul.), 15.20.2002 (Vorschlag durch den Staatspräsidenten, Wahl durch das Parlament); Nr. 2312/08 und 34179/08, Maktouf und Damjanović v Bosnien und Herzegowina (GK), 18.07.2013, § 51 (Beteiligung der Richter aus Bosnien und Herzegowina sowie aus den Herkunftsstaaten der Richter); Nr. 80018/12, Thiam v Frankreich, 18.10.2018, § 81 (Beteiligung des Präsidenten, des Justizministers und des Richterrates). 2471 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 172 spricht von einer „Freikarte“ (carte blanche) für die Ernennung durch Exekutive und Legislative; vgl. auch Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 52 (Zurückhaltung des EGMR); Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 231 (Flexibilität des EGMR). Kritisch hierzu Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 48–49. 2472 So auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 174.

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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chen. Die Urteile zur polnischen Justizreform zeigen jedoch, dass der EGMR der strukturellen richterlichen Unabhängigkeit gegenüber der demokratischen Legitimation den Vorzug gibt. Die Wahl der Ernennungsorgane und die Ausgestaltung des Ernennungsverfahrens ist bislang niemals alleine für einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK relevant geworden. Dadurch ist kein hoheitliches Organ per se von der Beteiligung am richterlichen Ernennungsverfahren ausgeschlossen. Vielmehr ist die richterliche Ernennung ein Aspekt in der Gesamtbetrachtung der richterlichen Unabhängigkeit. Die Beteiligung exekutiver Organe wertet der EGMR als potenzielle Gefährdung der richterlichen Unabhängigkeit, da ein Abhängigkeits- oder Weisungsverhältnis der Richter zu ihren Ernennungsorganen entstehen könnte. Dies gilt insbesondere für Militärrichter, die durch andere Militärangehörige ernannt wurden. Keine Vorbehalte hat er hingegen gegen die Beteiligung Richterräten, sofern diese unabhängig besetzt sind, oder Legislativorganen. Darüber hinaus dürfen berufliche Selbstverwaltungskörperschaften die Richter ihrer Disziplinarkammern selbst wählen. Die Beteiligung hoheitlicher Organe am richterlichen Ernennungsverfahren kann unterschiedlich ausgestaltet sein: Neben den Organen, die Auswahl- oder Vorauswahlentscheidungen selbst treffen, ist eine Beteiligung durch Anhörung möglich. Andere Organe sind hingegen allein für formale Akte, etwa die Ernennung, zuständig und besitzen keine eigene inhaltliche Gestaltungsmacht. Die Rechtfertigungsbedürftigkeit der Beteiligung politischer Organe sinkt, wenn sie eine weniger gestaltende und stärker formal geprägte Rolle übernehmen.2473 Auch im Vorhinein festgelegte materielle Ernennungskriterien fördern die richterliche Unabhängigkeit. b) Zulässigkeit einer Wahl durch die Bevölkerung? Bislang gibt es keine Rechtsprechung zu der Frage, ob eine Richterwahl durch die Bevölkerung zulässig ist.2474 Hierbei handelt es sich um ein seltenes Verfahren, das vor allem in der Schweiz angewendet wird.2475 Die Richterwahl durch das Volk ist davon abzugrenzen, dass etwa ein direkt gewählter Bürgermeister qua Amt Mitglied eines Gerichts wird.2476 In diesem Fall wird der Bürgermeister nicht in seiner Eigenschaft als Richter vom Volk gewählt. Seine Richtereigenschaft ist vielmehr Folge eines anderen Amtes.

2473

Vgl. die Erwägungen in EGMR Nr. 80018/12, Thiam v Frankreich, 18.10.2018, §§ 81–83. Villiger, Handbuch EMRK, Rn. 497 und Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 140 gehen davon aus, dass die Richterwahl durch das Volk konventionskonform ist. 2475 Venedig-Kommission, CDL-AD(2007)028, Report on Judicial Appointments, angenommen am 16.–17.03.2007, § 9; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 226. 2476 So der Fall bei EGMR Nr. 8790/79, Sramek v Österreich (Pl.), 22.10.1984, § 39. Dieses Urteil wird von Villiger und Laptew (siehe Fn. 2474) als Begründung angeführt. 2474

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Legt man die bisherige großzügige Rechtsprechungslinie des EGMR zugrunde, gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass eine Volkswahl von Richtern per se konventionswidrig ist. Dies widerspräche auch der Intention des EGMR, etablierte Verfassungstraditionen grundsätzlich erhalten zu wollen2477. Gefährdet wäre die richterliche Unabhängigkeit der Richter möglicherweise aber durch einen Wahlkampf2478 und dadurch, dass die Bürger die richterlichen Fähigkeiten der Kandidaten nicht einschätzen können2479. Diese Gefährdung müssten andere Sicherungsmechanismen ausgleichen. Da der EGMR im Rahmen richterlicher Ernennungsverfahren kaum auf die personelle demokratische Legitimation eingeht, liegt die Vermutung nahe, dass er einer Richterwahl durch die Bevölkerung keinen Vorteil gegenüber anderen Ernennungsverfahren zumisst.

III. Die Bestimmung des Spruchkörpers Welcher Spruchkörper für ein gerichtliches Verfahren zuständig ist, wird durch die Zuweisung des einzelnen Falls entschieden. Für die innerstaatliche Gewaltenteilung ist relevant, welche Organe über die Zuweisung eines Einzelfalls entscheiden dürfen und ob es sich dabei um eine abstrakt-generelle Entscheidung handeln muss oder auch um konkret-individuelle Entscheidungen handeln darf. Hierdurch macht die EMRK einerseits Vorgaben für die Kompetenzzuordnung, andererseits zum Verhältnis der Zuweisungsorgane zu den Gerichten. Besonders relevant unter dem Gesichtspunkt der richterlichen Unabhängigkeit sind solche Fälle, in denen die Zuweisung nach der ursprünglichen Entscheidung noch einmal geändert wird. 1. Zuweisung einer Streitigkeit an einen Spruchkörper Der formelle Organisationsvorbehalt des Art. 6 Abs. 1 EMRK umfasst auch die Regelungen über die gerichtlichen Zuständigkeiten.2480 Damit ist die Zuständigkeitsverteilung zwischen den einzelnen Gerichten zunächst Aufgabe der Legislative. Da die EMRK aber eine Delegation der Rechtsetzungsbefugnisse in einem vom Parlament gesetzten Rahmen zulässt, sind die parlamentarischen Gesetzgeber nicht verpflichtet, alle Detailregelungen, insbesondere hinsichtlich der Geschäfts-

2477

Vgl. zu dieser Intention des EGMR im Kontext verschiedener richterlicher Ernennungsverfahren Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 173–174. 2478 Diese Befürchtung bei Venedig-Kommission CDL-AD(2013)014, Opinion on the Draft Law on the Amendments to the Constitution, Strengthening the Independence of Judges and on the Changes to the Constitution proposed by the Constitutional Assembly of Ukraine, angenommen am 14.–15.06.2013, § 47. 2479 Dieser Aspekt angesprochen bei Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 226 m. w. N. ins niederländische Schrifttum. 2480 Siehe so schon die Schlussfolgerung oben auf S. 331.

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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verteilung innerhalb der einzelnen Gerichte, selbst zu erlassen.2481 Eine Ausgestaltung der Rahmenregelungen durch die Regierung oder auch durch Organe der Gerichtsverwaltung ist somit möglich. Das deutschsprachige Schrifttum streitet darüber, ob Art. 6 Abs. 1 EMRK ein Recht auf den gesetzlichen Richter vergleichbar mit dem Recht aus Art. 101 GG enthält oder ob der Gesetzgeber entscheiden darf, dass die Zuweisung durch eine individuelle Entscheidung erfolgt.2482 Das Recht auf einen gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 GG verlangt, dass die gerichtliche Zuständigkeit für jeden Einzelfall durch eine abstrakt-generelle Regelung bestimmt wird, sodass eine individuelle Entscheidung nicht erforderlich und nicht erlaubt ist.2483 Der parlamentarische Gesetzgeber muss hiernach die grundlegenden Zuständigkeitsregelungen erlassen, kann aber deren Konkretisierungen delegieren.2484 So werden durch die gerichtlichen Geschäftsverteilungspläne die Einzelzuständigkeit innerhalb der Gerichte bestimmt.2485 Ein vergleichbares Recht existiert auch in einigen weiteren, aber nicht in allen Konventionsstaaten.2486 In anderen Konventionsstaaten haben hingegen insbesondere die Gerichtspräsidenten eine große Gestaltungsbefugnis bei der Zuweisung einzelner Fälle zu bestimmten Richtern.2487

2481

Ausdrücklich für den Fall der Zuweisung EGMR Nr. 32813/96, Lindner v Deutschland (Zul.), 09.03.1999; allgemein zur Delegationsmöglichkeit im Rahmen des formellen Organisationsvorbehalts oben ab S. 309. 2482 Für das Recht auf einen gesetzlichen Richter: Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 134; Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 105; Dörr / L enz, Europä­ ischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 773; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 86; wohl auch Kühne, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 294 (2009). Dagegen Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 78; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 38; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 189. Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 45 sehen in Art. 6 EMRK eine „partielle Entsprechung“ des Rechts auf den gesetzlichen Richter. 2483 Zusammenfassend Morgenthaler, in: Epping / Hillgruber, Beck’scher OK GG, Art. 101 Rn. 11 (2021); Jachmann-Michel, in: Dürig / Herzog / Scholz, GG, Art. 101 Rn. 45; Manssen, Staatsrecht II, Rn. 831. 2484 Zusammenfassend Morgenthaler, in: Epping / Hillgruber, Beck’scher OK GG, Art. 101 Rn. 12 (2021). 2485 Zusammenfassend Morgenthaler, in: Epping / Hillgruber, Beck’scher OK GG, Art. 101 Rn. 13 (2021); Jachmann-Michel, in: Dürig / Herzog / Scholz, GG, Art. 101 Rn. 50. 2486 Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 78; Eser / Kubiciel, in: Meyer / Hölscheidt, GRCh, in: Art. 47, Rn. 34; Venedig-Kommission, CDL-AD(2010)004, Report on the Independence of the Judicial System. Part I: The Independence of Judges, angenommen am 12.–13.03.2010, § 78 zählt die Staaten mit einem positiv oder negativ formulierten Recht auf einen gesetzlichen Richter auf. Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 188 erläutert, dass andere Staaten weniger streng sind als Deutschland; nicht immer werden die Kammern oder die individuellen Richter vorbestimmt. 2487 Venedig-Kommission, CDL-AD(2010)004, Report on the Independence of the Judicial System. Part I: The Independence of Judges, angenommen am 12.–13.03.2010, § 79.

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In Pasquini v San Marino griff der Beschwerdeführer die Entscheidung des Gerichtspräsidenten an, die streitige Rechtssache einer aus zwei Richtern bestehenden Kammer zuzuweisen, welcher der Gerichtspräsident selbst vorsaß. Die Kompetenz des Gerichtspräsidenten, die anhängig gemachten Rechtssachen individuell zu verteilen, ergab sich aus dem Gesetz. Gegen die Zuweisungsentscheidungen stand kein innerstaatlicher Rechtsbehelf zur Verfügung.2488 „[I]t is the role of the domestic courts to manage their proceedings with a view to ensuring the proper administration of justice. The assignment of a case to a particular judge or court falls within the margin of appreciation enjoyed by the domestic authorities in such matters. There is a wide range of factors, such as, for instance, resources available, qualification of judges, conflict of interests, accessibility of the place of hearings for the parties etc., which the authorities must take into account when assigning a case.“2489

Die Bildung einer aus zwei Richtern bestehenden Kammer verstieß – soweit der EGMR dies überprüfte – nicht gegen das Gesetz. Der EGMR verlangte keine Begründung der Entscheidung oder Stellungnahmemöglichkeit für die Prozessparteien. Da beide Richter im konkreten Fall einstimmig entschieden, untersuchte der EGMR auch nicht die Auswirkungen der theoretischen Möglichkeit, dass die Richter keine Mehrheitsentscheidung treffen konnten.2490 Das Pasquini-Urteil belegt, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK kein Recht auf einen gesetzlichen Richter enthält. Dieser Grundsatz aus dem deutschen Verfassungsrecht darf nicht ohne Beachtung der Rechtsordnungen der anderen Konventionsstaaten auf die EMRK übertragen werden. Mit Pasquini v San Marino bestätigte der EGMR seine frühere Rechtsprechung.2491 Solange individuelle Zuweisungsentscheidungen gesetzlich vorgesehen sind, verbietet die EMRK diese nicht. 2. Austausch des ursprünglichen Spruchkörpers Bei einem Austausch des ursprünglichen Spruchkörpers und einer Zuweisung eines Verfahrens an einen anderen Spruchkörper prüft der EGMR vorrangig die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit.2492

2488

EGMR Nr. 50956/16, Pasquini v San Marino, 02.05.2019, §§ 105, 57. EGMR Nr. 50956/16, Pasquini v San Marino, 02.05.2019, § 103. 2490 EGMR Nr. 50956/16, Pasquini v San Marino, 02.05.2019, §§ 107–108. 2491 Siehe bereits inhaltsgleich wie das Zitat zu Fn. 2489 bei abweichenden Sachverhalts­ konstellationen EGMR Nr. 7577/02, Bochan v Ukraine, 03.05.2007, § 71 (Austausch des Spruchkörpers); Nr. 62936/00, Moiseyev v Russland, 09.10.2008, § 176 (Austausch einzelner Richter); Nr. 30024/02, Sutyagin v Russland, 03.05.2011, § 187 (Austausch einzelner Richter); Nr. 16812/17, Rustavi 2 Broadcasting Company Ltd u. a. v Georgien, 18.07.2019, § 335; siehe ebenso Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 64. 2492 EGMR Nr. 7577/02, Bochan v Ukraine, 03.05.2007, § 71; Nr. 30024/02, Sutyagin v Russland, 03.05.2011, § 187; Nr. 50956/16, Pasquini v San Marino, 02.05.2019, § 103. 2489

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In der Sache Iwańczuk v Polen wurde die Anwendung folgender gesetzlicher Regelung auf ihre Konventionskonformität geprüft: „A judge […] is assigned [to a case] in the order in which the case was filed and by reference to a list of judges of a given court or division which is accessible to the parties. A departure from this rule is permissible only by way of omitting a judge on the ground of his / her illness or on other important grounds and [that circumstance] should be specified in a decision on holding a hearing“.2493

Auf Grundlage dieser Norm verwies der Gerichtspräsident die Streitigkeit des Beschwerdeführers an einen erst kürzlich an das zuständige Gericht beorderten Richter, nachdem der ursprüngliche Richter an ein anderes Gericht versetzt worden war. Dieses Vorgehen stützte der Gerichtspräsident auf die Ausnahme eines „anderen wichtigen Grundes“ (other important ground). Die Notwendigkeit, den neuen Richter mit ausreichend Fällen auszustatten und gleichzeitig eine Überlastung der anderen Richter zu verhindern, waren für den EGMR nachvollziehbare wichtige Gründe.2494 Der generalklauselartige Ausnahmetatbestand reichte dem EGMR als Regelung aus, um das Ermessen des zuständigen Gerichtspräsidenten zu begrenzen. In einigen anderen Urteilen waren die Neuzuweisungen eines konkreten Falls jedoch konventionswidrig. In Bochan v Ukraine bemängelte der EGMR die fehlende Begründung dafür, dass das Oberste Gericht eine Sache zur erneuten Entscheidung nicht an das ursprüngliche erstinstanzliche Gericht zurückverwies, sondern an ein vorher unbeteiligtes Gericht. Durch verschiedene vorherige Versuche, das Verfahren an andere Gerichte zu verweisen, war der Eindruck erweckt worden, dass die Richter des Obersten Gerichts eine vorgefertigte Idee vom Ausgang des Verfahrens hatten, die sie durch die Zuständigkeitsverteilung sicherstellen wollten.2495 In DMD Group v Slowakei wies der neue Gerichtspräsident mittels einer generellen Regelung viele Fälle innerhalb seines Gerichts neuen Spruchkörpern zu.2496 Die Streitigkeit des Beschwerdeführers wies er hingegen durch eine Einzelfallentscheidung seiner eigenen Kammer zu und entschied noch am gleichen Tag darüber.2497 „The Court is of the view that, in such circumstances, the paramount importance of judicial independence and legal certainty for the rule of law call for particular clarity of the rules applied in any one case and for clear safeguards to ensure objectivity and transparency, and, above all, to avoid any appearance of arbitrariness in the assignment of particular cases to judges […].“2498

2493

EGMR Nr. 39279/05, Iwańczuk v Polen (Zul.), 17.11.2009. Zum Vorstehenden EGMR Nr. 39279/05, Iwańczuk v Polen (Zul.), 17.11.2009. 2495 EGMR Nr. 7577/02, Bochan v Ukraine, 03.05.2007, §§ 72–75; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 64. 2496 EGMR Nr. 19334/03, DMD Group, a. s. v Slowakei, 05.10.2010, § 18. 2497 EGMR Nr. 19334/03, DMD Group, a. s. v Slowakei, 05.10.2010, §§ 19, 62. 2498 EGMR Nr. 19334/03, DMD Group, a. s. v Slowakei, 05.10.2010, § 66; dem folgend EGMR Nr. 57774/13, Miracle Europe Kft v Ungarn, 12.01.2016, § 57. 2494

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Der Gerichtspräsident, dessen Zuweisungsaufgaben vom EGMR als exekutive Tätigkeiten eingeordnet wurden, verfügte trotz eines gerichtlichen Geschäftsverteilungsplans (work schedule)  über einen großen Spielraum. Diesen übte er im konkreten Fall aus, ohne objektive Gründe für die Neuzuweisung darzulegen und somit die notwendige Transparenz bei der Ausübung seines Ermessens zu schaffen. Verstärkt wurde der Eindruck einer willkürlichen Entscheidung dadurch, dass der Gerichtspräsident am Tag der Neuzuweisung an sich selbst noch eine Entscheidung in der Sache traf. Somit lag ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK vor.2499 In Miracle Europe v Ungarn verwies die Präsidentin des National Judicial Office eine bereits zugewiesene Rechtssache an ein anderes Gericht, um einen zeitnahen Abschluss des Verfahrens zu gewährleisten.2500 „The Court considers that where the assignment of a case is discretionary in the sense that the modalities thereof are not prescribed by law, that situation puts at risk the appearance of impartiality, by allowing speculation about the influence of political or other forces on the assignee court and the judge in charge, even where the assignment of the case to the specific judge in itself follows transparent criteria. The order in which the individual judge or panel in charge of a certain case within a court is determined in advance, that is, an order based on general and objective principles, is essential for clarity, transparency as well as for judicial independence and impartiality. An element of discretion in the allocation or reassignment of cases could be misused as a means of putting pressure on judges by for instance overburdening them with cases or by assigning them only low-profile ones. It is also possible to direct politically sensitive cases to certain judges and to avoid allocating them to others.“2501

Der EGMR folgte dem ungarischen Verfassungsgericht, das für eine konkretindividuelle Zuweisung eines Falles verlangte, dass der Gesetzgeber transparente, vorbestimmte, eindeutige und objektive Parameter geschaffen hatte, die kein Ermessen zuließen, dass die Zuweisungsentscheidung durch Institutionen des unabhängigen und unparteilichen Gerichtssystems getroffen wurde und dass bei der Zuweisung alle materiellen und prozessualen Vorschriften eingehalten wurden.2502 Im konkreten Fall fehlte es an einer ausreichenden Begründung und an Kriterien für die Verweisung des Falles. Allein die Einschätzung, dass der Fall von dem ursprünglichen Gericht nicht zeitnah entschieden werden könne, reichte dem EGMR nicht aus.2503 Im Vergleich zwischen Iwańczuk v Polen und Miracle Europe v Ungarn zeigt sich, dass im ersten Fall eine objektive Notwendigkeit vorlag, die Streitigkeit neu zuzuweisen, weil der ursprüngliche Richter das zuständige Gericht verließ. In diesem Fall genügte dem EGMR eine allgemein formulierte Ausnahmeregelung, um von der grundsätzlichen gesetzlichen Zuweisungsregelung abzuweichen. In 2499

EGMR Nr. 19334/03, DMD Group, a. s. v Slowakei, 05.10.2010, §§ 65–72. EGMR Nr. 57774/13, Miracle Europe KFT v Ungarn, 12.01.2016, §§ 7–10, 17. 2501 EGMR Nr. 57774/13, Miracle Europe KFT v Ungarn, 12.01.2016, § 58. 2502 EGMR Nr. 57774/13, Miracle Europe KFT v Ungarn, 12.01.2016, § 58. 2503 EGMR Nr. 57774/13, Miracle Europe KFT v Ungarn, 12.01.2016, § 63. 2500

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der Sache Miracle Europe v Ungarn unterlag die Frage, ob die Sache vor dem ursprünglich zuständigen Gericht zeitnah hätte entschieden werden können, einer subjektiven Einschätzung ohne objektive Kriterien und war nicht zwingend. Zudem fehlten Regelungen, die das Ermessen der Präsidentin des National Judicial Office begrenzten und ihre Entscheidung gerichtlich überprüfbar machten. Allein den Auslöser – in diesem Fall ein überlastetes Gericht – festzulegen, reichte dem EGMR nicht aus. Zusammenfassend müssen die Gründe für eine individuelle Neuzuweisung also einerseits gesetzlich geregelt und auf tatsächliche Notwendigkeiten begrenzt sein. DMD Group v Slowakei und Bochan v Ukraine ergänzen diese Anforderungen um die Voraussetzungen, dass individuelle Neuzuweisungen transparent und willkürfrei erfolgen müssen. Soweit ersichtlich, findet sich in der Rechtsprechung des EGMR kein Fall, in dem die Neuzuweisung einer Rechtssache an einen anderen Spruchkörper konventionskonform war, sofern sie nicht aus dem zwingenden Grund erfolgte, dass der ursprüngliche Spruchkörper nicht mehr zur Verfügung stand. 3. Zwischenfazit In der Gesamtschau bevorzugt der EGMR eine Zuweisung durch abstrakt-­ generelle Regelungen gegenüber konkret-individuellen Entscheidungen einzelner Organwalter, die ein größeres Potential haben, die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu beeinträchtigen. An dieser Stelle zeigt sich erneut der enge Zusammenhang zwischen dem parlamentarischen Gesetzesvorbehalt und der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit: Das parlamentarische Gesetz muss Voraussetzungen zur Herstellung und zum Schutz der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit schaffen. Damit ist in den Konventionsstaaten primär der Gesetzgeber zur Herstellung richterlicher Unabhängigkeit verpflichtet. Sofern die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit durch individuelle Zuweisungsentscheidungen nicht gefährdet wird, sind auch diese konventionskonform.2504 Voraussetzung ist, dass das Ermessen des zuständigen Organwalters beschränkt ist. Eine Begründungspflicht der Entscheidung und eine Stellungnahmemöglichkeit der Parteien verlangt der EGMR nur im Fall von Neu-Zuweisungen, um das Verfahren konventionskonform auszugestalten. Entscheidend für die konventionskonforme Neuzuweisung ist somit nicht das handelnde Organ, sondern die transparente, begründete, willkürfreie Vorgehensweise. Die Konventionsstaaten sind also nicht verpflichtet, die Zuweisung einzelner Fälle an gerichtliche Spruchkörper abschließend durch abstrakt-generelle Gesetze 2504 Anderer Ansicht Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 51, der gestützt auf das Urteil DMD Group v Slowakei persönliche Zuweisungen durch Gerichtspräsidenten generell für konventionswidrig hält.

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zu regeln. Der rechtliche Rahmen der gerichtlichen Zuweisung muss entsprechend dem formalen Gesetzesvorbehalt vom parlamentarischen Gesetzgeber gesetzt werden. Jenseits dessen verfügen die Konventionsstaaten über einen Gestaltungsspielraum. Exekutive Organe dürfen ermächtigt werden, die Rahmenregelungen auszugestalten. Die EMRK erlaubt auch individuelle Entscheidungen einzelner Organe, solange diese gesetzlich gebunden sind. Somit enthält Art. 6 Abs. 1 EMRK kein mit Art. 101 GG vergleichbares Recht auf einen gesetzlichen Richter.

IV. Die Zusammensetzung der Spruchkörper Ein gerichtlicher Spruchkörper besteht aus einem Einzelrichter oder mehreren Richtern in einer Kammer. Die Zusammensetzung der Spruchkörper (the composition of the bench in each case) ist vom formalen Organisationsvorbehalt des Art. 6 Abs. 1 EMRK umfasst,2505 sodass der parlamentarische Gesetzgeber auch hierfür den rechtlichen Rahmen setzen muss. Entsprechend des konventionsrechtlichen Rechtmäßigkeitsprinzips muss jede Zusammensetzung eines Spruchkörpers dem innerstaatlichen Recht entsprechen. Dies illustriert das Urteil Volkov v Ukraine. Ein Gerichtspräsident, dessen Amtszeit bereits abgelaufen war, entschied über die Zusammensetzung einer richterlichen Disziplinarkammer. Das Gesetz zur Wahl von Gerichtspräsidenten war für verfassungswidrig erklärt und ein neues Gesetz noch nicht verabschiedet worden. Da es keine gesetzliche Grundlage für die Wahl eines neuen Gerichtspräsidenten gab, übte der ehemalige Gerichtspräsident seine Rolle weiterhin aus. Weil dieses Handeln keine Grundlage in der nationalen Rechtsordnung fand, lag ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK vor.2506 Für die Gewaltenteilung in den innerstaatlichen Zuständigkeitsordnungen ist relevant, welche Organe auf Grundlage der parlamentarischen Gesetze und möglicher exekutiver Ausgestaltungen über die Zusammensetzung der Spruchkörper entscheiden dürfen und wie groß ihr Ermessen sein darf. Konventionsrechtlicher Maßstab ist hier wiederum die richterliche Unabhängigkeit, die durch politisch motivierte Entscheidungen beeinträchtigt sein kann. Daneben stellt sich die Frage, ob die Zusammensetzung der Spruchkörper bestimmten inhaltlichen Vorgaben entsprechen muss, die von den innerstaatlichen Rechtsetzungsorganen beachtet werden müssen.

2505 EGMR Nr. 31657/96, Buscarini v San Marino (Zul.), 04.05.2000; Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 151; Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, § 138; Nr. 26374/18, Guðmundur Andri Ástráðsson v Island (GK), 01.12.2020, § 213. 2506 EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, §§ 152–156.

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1. Zuständige Organe und Verfahren Anders als die Zuweisung von Fällen zu Spruchkörpern kann die persönliche Zusammensetzung der Spruchkörper nicht abschließend durch abstrakt-generelle Regelungen bestimmt werden. Es liegt bereits in der Natur der Sache, dass Richter im Wege von Einzelfallentscheidungen bestimmten Spruchkörpern zugewiesen werden müssen. Typischerweise sind hierfür Organe der Gerichtsverwaltung zuständig. Es ist nicht ersichtlich, dass der EGMR den Konventionsstaaten bislang explizite Vorgaben dazu gemacht hat, welche Organe über die Besetzung von Spruchkörpern entscheiden müssen. a) Entscheidung über Zusammensetzung des Spruchkörpers durch beteiligte Partei In Findlay v Vereinigtes Königreich und den Folgeurteilen sowie Grace Gatt v Malta entschied der EGMR über Fälle, in denen ein Anklageorgan auch für die Entscheidung über die Zusammensetzung des Spruchkörpers zuständig war. Im Urteil Findlay v Vereinigtes Königreich2507 ging es um die Rolle des Gerichtsherrn2508 (convening officer) in der britischen Militärgerichtsbarkeit.2509 Der convening officer war nicht nur für die ad hoc-Ernennung der Richter zuständig,2510 sondern entschied auch darüber, ob in einem militärinternen Strafverfahren Anklage erhoben werden sollte. Außerdem ernannte er die Anklagevertretung, bereitete die Verhandlung für den judge advocate und den prosecuting officer vor, konnte das Militärgericht jederzeit vor dem Verfahren oder währenddessen auflösen und durfte das von den Militärrichtern gefundene Urteil in seiner Funktion als confirming officer in freiem Ermessen bestätigen beziehungsweise das Strafmaß abändern.2511 Bereits 2507 Siehe zu diesen Urteil außerdem – in der Regel im Kontext der Militärgerichtsbarkeit – Rainey / McCormick / Ovey, Jacobs, White, and Ovey, ECHR, S. 303; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 150; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 284; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 545–546 auch m. w. N. zur Folgerechtsprechung; besonders ausführlich Bucherer, Die Vereinbarkeit von Militärgerichten mit dem Recht auf ein faires Verfahren, S. 51–61. 2508 Diese Übersetzung bei Bucherer, Die Vereinbarkeit von Militärgerichten mit dem Recht auf ein faires Verfahren, S. 52; dem folgend Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 90. 2509 Findlay v Vereinigtes Königreich ist das erste Urteil der bekannten Rechtsprechungsreihe zu britischen Militärgerichten Findlay – Morris – Cooper – Grieves. In den Folgeurteilen waren die für Findlay v Vereinigtes Königreich relevanten institutionellen Vorschriften zum convening officer geändert worden, siehe für eine zusammenfassende Darstellung der Änderungen EGMR Nr. 38784/97, Morris v Vereinigtes Königreich, 26.02.2002, §§ 61–63; ausführlich zu den anderen Urteilen unten ab S. 719. 2510 EGMR Nr. 22107/93, Findlay v Vereinigtes Königreich, 25.02.1997, § 34. 2511 Siehe eine Darstellung der Kompetenzen des convening officers in EGMR Nr. 22107/93, Findlay v Vereinigtes Königreich, 25.02.1997, §§ 36–41, 48; Bucherer, Die Vereinbarkeit von Militärgerichten mit dem Recht auf ein faires Verfahren, S. 56: Der Gerichtsherr hat die Oberhoheit des Verfahrens.

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durch die fehlende Bindungswirkung des gerichtlichen Urteils lag kein tribunal im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK vor.2512 Daneben führte auch die Kompetenzfülle des convening officers zu gerechtfertigten Zweifeln an der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Der EGMR rechnete den convening officer der Anklagevertretung zu. Damit galt er als Partei des Verfahrens.2513 Gleichzeitig waren die Militärrichter dem convening officer im Rang untergeordnet und dieser hatte die Befugnis, das Gericht jederzeit aufzulösen.2514 Da der EGMR diese verschiedenen Aspekte in eine Gesamtschau einstellte, kann nicht eindeutig ermittelt werden, ob allein die Kombination aus Ernennungs- und Anklageorgan für Zweifel an der richterlichen Unabhängigkeit gereicht hätte. Im Folgeurteil Miller v Vereinigtes Königreich waren die Richter dem convening officer nicht mehr unmittelbar unterstellt. Dennoch lag eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK vor.2515 Dies deutet darauf hin, dass bereits die Vermischung der Funktionen des convening officers als Organ, das sowohl über Anklage als auch über die Zusammensetzung des Gerichts entschied, geeignet war, Zweifel an der richterlichen Unabhängigkeit hervorzurufen. In Martin v Vereinigtes Königreich griff der EGMR das Findlay-Urteil wieder auf, beschrieb aber vorrangig die hierarchische Abhängigkeit der Richter – und nicht die Funktionenvermischung – als problematisch.2516 Somit ist das Urteil Findlay v Vereinigtes Königreich beziehungsweise die Rechtsprechung zur Militärgerichtsbarkeit alleine nicht aussagekräftig. Das Urteil Grace Gatt v Malta aus dem Jahr 2019 betraf eine Verschränkung zwischen Anklage- und Ernennungsorgan im Kontext eines Disziplinarverfahrens bei der Polizei. Die Kompetenzen des Commissioner of Police waren mit denen des confirming officers in Findlay v Vereinigtes Königreich weitgehend vergleichbar. 2512 EGMR Nr. 22107/93, Findlay v Vereinigtes Königreich, 25.02.1997, § 77; näher zur Verbindlichkeit gerichtlicher Entscheidungen ab S. 489. 2513 Siehe näher zur Rolle der Anklagevertretung als Partei im Strafverfahren ab S. 747. 2514 EGMR Nr. 22107/93, Findlay v Vereinigtes Königreich, 25.02.1997, §§ 74–76; hierzu Kosař, Utrecht LR 13 (2017), S. 112 (116). Findlay folgend EGMR Nr. 24436/94 u. a., Cable u. a. v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, mit leicht verändertem Sachverhalt §§ 20–22; Nr. 25942/94, Coyne v Vereinigtes Königreich, 24.09.1997, § 57; Nr. 27267/95, Hood v Vereinigtes Königreich (GK), 18.02.1999, §§ 76–78; Nr. 36529/97 und 37393/97, Moore und Gordon v Vereinigtes Königreich, 29.09.1999, §§ 20–43; Nr. 37475/97 und 39036/97, Smith und Ford v Vereinigtes Königreich, 29.09.1999, §§ 21–25; Nr. 31145/96 und 35580/97, Wilkinson und Allen v Vereinigtes Königreich, 06.02.2001, §§ 21–25; Nr. 35685/97, Mills v Vereinigtes Königreich, 05.06.2001, §§ 22–27. 2515 EGMR Nr. 45825/99 u. a., Miller u. a. v Vereinigtes Königreich, 26.10.2004, § 30. 2516 EGMR Nr. 40426/98, Martin v Vereinigtes Königreich, 24.10.2006, §§ 45–53, insbesondere § 48: „In expressing concern in Findlay at the lack of independence of the members of the court-martial from the Convening Officer, the Court emphasised in particular three factors. First, all military members of the tribunal were subordinate in rank to the Convening Officer; secondly, three out of five members were directly or ultimately under his command and all served in units that were under his command; and thirdly, the Convening Officer had the power to dissolve the tribunal in prescribed circumstances […].“

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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Der Commissioner of Police war für die Anklage zuständig und entschied über die Zusammensetzung der Disziplinarkammer. Der EGMR stellte jedoch erneut vorrangig darauf ab, dass alle Mitglieder der Disziplinarkammer dem Commissioner of Police hierarchisch untergeordnet waren und unmittelbar seiner Weisung unterlagen.2517 Die zurückhaltend ausgestalteten weiteren Sicherungsmechanismen der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit konnten die fortbestehende Eingliederung der Richter in die polizeiliche Disziplinargewalt und die Verantwortlichkeit des Commissioner of Police für Disziplinarmaßnahmen und Beurteilungen auch gegenüber den Richtern nicht aufwiegen.2518 Daneben finden sich Fälle, in denen Organe, die über die Zusammensetzung der Spruchkörper entschieden, zuvor das Verfahren durch Beschwerden oder die Einlegung von Rechtsmitteln in Gang gesetzt hatten. In der Sache Daktaras v Litauen2519 war der Gerichtspräsident für die Auswahl des Berichterstatters und die Zusammensetzung des Spruchkörpers zuständig und beantragte, ein strafgerichtliches Urteil des Court of Appeal aufzuheben.2520 Hierdurch stellte sich der Gerichtspräsident gegen den Beschwerdeführer und auf die Seite der Strafverfolgungsbehörden und damit auf die Seite einer Prozesspartei. Obwohl – anders als in Findlay v Vereinigtes Königreich – Berufsrichter über die Anklage entschieden, durfte der Beschwerdeführer Zweifel an ihrer Unparteilichkeit haben.2521 „However, when the President of the Criminal Division not only takes up the prosecution case but also, in addition to his organisational and managerial functions, constitutes the court, it cannot be said that, from an objective standpoint, there are sufficient guarantees to exclude any legitimate doubt as to the absence of inappropriate pressure.“2522

Ähnlich stellte sich der Sachverhalt in Igor Kabanov v Russland dar, wo der Präsident des Regional Court eine Beschwerde bei der Rechtsanwaltskammer gegen den Beschwerdeführer einlegte und anschließend über die Zusammensetzung des für die Streitigkeit zuständigen Gerichts entschied. Der EGMR entschied, dass aus einem objektiven Standpunkt nicht genug Garantien für eine unparteilich getroffene Entscheidung vorlagen.2523 In Franz v Deutschland war der Präsident des OLG Celle sowohl Prozesspartei in einem Verfahren vor dem Notarsenat seines Gerichts als auch an der Entscheidung über die Zusammensetzung des Notarsenats beteiligt.2524 Die konkrete Zu 2517

EGMR Nr. 46466/16, Grace Gatt v Malta, 08.10.2019, §§ 81–83. EGMR Nr. 46466/16, Grace Gatt v Malta, 08.10.2019, §§ 84–85. 2519 Siehe zu diesem Urteil inkl. Sachverhaltsdarstellung Steinfatt, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 107; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 268–269. 2520 EGMR Nr. 42095/98, Daktaras v Litauen, 10.10.2000, § 33. 2521 EGMR Nr. 42095/98, Daktaras v Litauen, 10.10.2000, §§ 35–38. 2522 EGMR Nr. 42095/98, Daktaras v Litauen, 10.10.2000, § 36. 2523 EGMR Nr. 8921/05, Igor Kabanov v Russland, 03.02.2011, §§ 40–42; hierzu Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 147–148. 2524 Vgl. die Argumente des Beschwerdeführers EGMR Nr. 29295/16, Franz v Deutschland, 30.01.2020, § 50. 2518

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sammensetzung des Notarsenats ergab sich teilweise aus generellen Vorschriften, teilweise aus konkreten Entscheidungen über den Zuweisungsplan des Präsidiums (executive committee).2525 Das Präsidium bestand aus elf Mitgliedern inklusive des Gerichtspräsidenten, deren Stimmen alle das gleiche Gewicht hatten. Außerdem war die Amtszeit der Richter des Notarsenats auf fünf Jahre begrenzt und der Zuweisungsplan sowie seine korrekte Anwendung konnten gerichtlich überprüft werden, sodass insgesamt ein hohes Schutzniveau vor unzulässigen Einflüssen vorlag.2526 „Nevertheless, the executive committee does indeed decide which judges of the Court of Appeal will sit in the notary senate, be it as the presiding judge, the associate judge or the notary judge as well as substitutes for all three categories of judges. The Court considers in this regard that, since the President is a member of the executive committee, he does have an influence on who will deal with disputes under the Federal Notary Act. Against this background, the influence of the President on the composition of the notary senate must be considered limited, but not negligible.“2527

Daher waren auch in diesem Fall Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Notarsenats objektiv gerechtfertigt.2528 In Franz v Deutschland reichte also bereits ein geringer Einfluss des Gerichtspräsidenten auf die Zusammensetzung für eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK aus. Das Urteil Parlov-Tkalčić v Kroatien zeigt, dass ein Verfahren, bei dem der Gerichtspräsident einige Jahre vor dem aktuellen Prozess auf der Seite des Prozessgegners des Beschwerdeführers stand, keinen Einfluss auf die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit haben muss. Der Gerichtspräsident hatte sechs Jahre vor dem aktuellen Verfahren gegen den Beschwerdeführer einen Strafantrag gestellt. Der Gerichtspräsident hatte aber weder am Ausgang des früheren Strafverfahrens noch am aktuell verhandelten Zivilverfahren ein persönliches Interesse.2529 Die organisatorischen Aufgaben des Gerichtspräsidenten waren streng von seinen richterlichen Aufgaben getrennt, sodass er seine Position nicht ausnutzen konnte, um den zuständigen Richtern Anweisungen in einzelnen Fällen geben zu können. Bei der Zuteilung von Verfahren zu einzelnen Kammern und der Bestimmung des Berichterstatters musste sich der Gerichtspräsident an gesetzliche Regelungen halten, deren Nichteinhaltung disziplinarisch sanktioniert werden konnte.2530 Die Kompetenzen des Gerichtspräsidenten für die Evaluation von Richtern und die Initiierung disziplinarischer Verfahren waren materiell und prozessual beschränkt. Damit war die Kompetenzausstattung des Gerichtspräsidenten insgesamt nicht geeignet, für einen chilling effect hinsichtlich der internen richterlichen Unab-

2525

EGMR Nr. 29295/16, Franz v Deutschland, 30.01.2020, § 67. EGMR Nr. 29295/16, Franz v Deutschland, 30.01.2020, § 70. 2527 EGMR Nr. 29295/16, Franz v Deutschland, 30.01.2020, § 71. 2528 EGMR Nr. 29295/16, Franz v Deutschland, 30.01.2020, § 72. 2529 EGMR Nr. 24810/06, Parlov-Tkalčić v Kroatien, 22.12.2009, §§ 9, 13–17, 85. 2530 EGMR Nr. 24810/06, Parlov-Tkalčić v Kroatien, 22.12.2009, §§ 85–89. 2526

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hängigkeit zu sorgen.2531 Diese gesetzlich geregelten und im Ermessen begrenzten Verwaltungsbefugnisse des Gerichtspräsidenten führten auch in Kombination mit dem früheren Strafantrag nicht zu einem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK.2532 Die Sache Gubler v Frankreich, die ein berufsständisches Disziplinarverfahren durch eine Ärztevereinigung betraf, zeigt, dass der EGMR auf relativ kleine Organisationsstrukturen wie im Falle selbstständiger Körperschaften Rücksicht nimmt. Der Beschwerdeführer wurde von dem Nationalen Rat der Ärztekammer angeklagt, der außerdem die für das Disziplinarverfahren zuständigen Richter wählte und ernannte.2533 „Si la Cour estime qu’en principe un système dans lequel un organe élit des juges appelés à statuer sur des plaintes émanant de ce même organe ne saurait satisfaire aux conditions d’impartialité et d’indépendance exigées par l’article 6 § 1 de la Convention, elle se doit toutefois de rappeler que, dans une cause issue d’une requête individuelle, il lui faut se borner autant que possible à l’examen du cas concret dont on l’a saisie […]. Par ailleurs, s’il est possible d’estimer que ce système est quelque peu archaïque, on ne saurait se fonder in abstracto sur cet élément pour en déduire que son application au requérant a méconnu les exigences de la Convention, ce d’autant plus que l’ ‚archaïsme‘ d’un système procédural ne signifie pas nécessairement qu’il serait ou serait devenu incompatible avec la Convention […].“2534

Die später an der gerichtlichen Disziplinarentscheidung beteiligten Richter hatten die Sitzung des Nationalen Rates der Ärztekammer verlassen, bevor diese sich mit der Anklage gegen den Beschwerdeführer befasste. Daher lag keine individuelle Vorbefassung der im konkreten Fall zuständigen Richter vor.2535 Einen inhaltlichen Einfluss des Rates der Ärztekammer auf die Richter nahm der EGMR ohne konkrete Anhaltspunkte nicht an. Im Ergebnis lag keine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK vor.2536 Obwohl der EGMR grundsätzliche Zweifel an der Struktur erkennen ließ, reichten diese im konkreten Fall nicht für einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK aus. Die Urteile Daktaras v Litauen, Igor Kabanov v Russland und Franz v Deutschland zeigen, dass die richterliche Unabhängigkeit in Frage gestellt wird, wenn ein hoheitliches Organ über die konkrete Zusammensetzung eines Spruchkörpers entscheidet und im gleichen Fall als Antragsteller und damit als Partei in Erscheinung tritt. Parlov-Tkalčić v Kroatien relativiert dieses Ergebnis für Fälle, in denen die Entscheidung über die Zusammensetzung des Spruchkörpers und die Rolle als Prozessgegner der Beschwerdeführer in keinem engen zeitlichen Zusammenhang liegen. Gubler v Frankreich zeigt, dass der EGMR – obwohl ein mit Daktaras oder Kabanov vergleichbarer Sachverhalt vorliegt – für den Sonderfall der Berufskör 2531

EGMR Nr. 24810/06, Parlov-Tkalčić v Kroatien, 22.12.2009, §§ 91–93. EGMR Nr. 24810/06, Parlov-Tkalčić v Kroatien, 22.12.2009, §§ 94–95. 2533 EGMR Nr. 69742/01, Gubler v Frankreich, 27.07.2006, § 28. 2534 EGMR Nr. 69742/01, Gubler v Frankreich, 27.07.2006, § 30. 2535 EGMR Nr. 69742/01, Gubler v Frankreich, 27.07.2006, § 28. 2536 EGMR Nr. 69742/01, Gubler v Frankreich, 27.07.2006, § 31. 2532

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perschaften seine Rechtsprechung anpasst und damit Rücksicht auf die besondere Organisationsstruktur nimmt. Findlay v Vereinigtes Königreich und Grace Gatt v Malta legen außerdem nahe, dass keine Vermischung aus Auswahl- und Anklageorgan vorliegen darf. Da der EGMR in beiden Fällen aber nicht nur die verschiedenen Funktionen der jeweiligen Organe im konkreten Gerichtsverfahren einbezog, sondern maßgeblich auf die Weisungsabhängigkeiten der Richter von den Ernennungs- und Anklageorganen abstellte, sind die Urteile in ihrer Aussage nicht eindeutig. Die beiden Urteile betreffen mit einem Militärgericht und einer Disziplinarkammer der Polizei jeweils Sonderfälle. Die Staatsanwaltschaft als Strafverfolgungsorgan der ordentlichen Gerichtsbarkeit wird vom EGMR in ständiger Rechtsprechung als Prozesspartei eingeordnet. Überträgt man diesen Grundsatz auf Findlay und Grace Gatt, dann muss der EGMR auch ohne Weisungsverhältnis zwischen Richtern und Anklage- beziehungsweise Auswahlorganen einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK feststellen. Für die Konventionsstaaten bedeutet diese Rechtsprechungslage, dass die Zuständigkeitsordnungen keine Mechanismen vorsehen dürfen, wonach Prozessparteien oder Antragsteller für die Entscheidung über die Zusammensetzung des Spruchkörpers zuständig sind. Dies gilt gleichermaßen für Verfahren im strafrechtlichen und im zivilrechtlichen Anwendungsbereich. Ausnahme sind nach dem Gubler-Urteil selbstständige Berufskörperschaften, bei denen aufgrund der kleinen institutionellen Struktur eine Dopplung verschiedener Funktionen der Anklageorgane möglicherweise nicht zu vermeiden ist. Gleichwohl hieß der EGMR auch im Gubler-Urteil die funktionale Dopplung des Nationalen Rates der Ärztekammer nicht gut. Eine Rechtsprechungsänderung, die die Rechtslage für Berufskörperschaften an die übrigen Fälle angleicht, ist somit nicht ausgeschlossen. b) Auswahl von Schöffen Schöffen oder eine strafgerichtliche Jury werden häufig per Los aus einem vorher zusammengestellten Pool bestimmt.2537 Soweit ersichtlich, hat der EGMR dem Auswahlverfahren von Schöffen und Jury bislang keine Aufmerksamkeit zukommen lassen.2538 Legt man die allgemeine Definition der richterlichen Unabhängigkeit zugrunde, müsste das Auswahlverfahren von Schöffen und Jurys genauso wie 2537 Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 228; so auch in EGMR Nr. 14191/88, Holm v Schweden, 25.11.1993, §§ 18–19, 31. 2538 Auch im Schrifttum ist eine Auseinandersetzung mit dieser Frage kaum zu erkennen. Ausnahmen sind Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 228–230 und sehr allgemein Esser, Strafverfahrensrecht, S. 549–550. Selbst die strafrechtlichen Kommentierungen, etwa Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK; Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 6 EMRK gehen über diese Frage hinweg und legen ihren Schwerpunkt auf die sich aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ergebenden Rechte.

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bei Berufs- und Laienrichtern grundsätzlich in die Gesamtschau aller relevanten Aspekte einfließen.2539 In der Sache Holm v Schweden bestimmte der exekutive Regionalrat, in einigen Fällen gemeinsam mit dem Gemeinderat, welche Personen grundsätzlich als Schöffen zur Verfügung standen. Aus dieser Gruppe konnten die Prozessparteien bis zu drei Personen ausschließen. Anschließend wurden die Schöffen ausgelost.2540 Der EGMR stellte lediglich fest, dass die Juroren alle in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise gewählt worden waren und die materiellen Wählbarkeitsvoraussetzungen erfüllten.2541 Näher ging der EGMR auf den Modus der Richterauswahl nicht ein. Das Auswahlverfahren gefährdete die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Schöffen nicht.2542 Die Beteiligung der exekutiven Gemeinde- und Regionalräte war unschädlich, weil sie durch das Losverfahren auf die konkrete Zusammensetzung der Jury keinen Einfluss nehmen konnten.2543 Über das allgemeine Rechtmäßigkeitserfordernis hinaus macht die EMRK keine Vorgaben für den Auswahlprozess der Schöffen und Jurymitglieder. Die im Vergleich zu Berufsrichtern stärkere Gefährdung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit2544 führt nicht zu strengeren konventionsrechtlichen Anforderungen an die institutionellen Regelungen zur Zusammensetzung der Spruchkörper. c) Zwischenfazit Der EGMR macht den Konventionsstaaten kaum verfahrensrechtliche Vorgaben für die Zusammensetzung der Spruchkörper. Dies gilt sowohl für die Auswahl von Schöffen als auch von Experten und Berufsrichtern. Die Konventionsstaaten sollten jedoch durch institutionelle Vorkehrungen verhindern, dass Prozessparteien oder Antragsteller an den Entscheidungen über die Zusammensetzung des Spruchkörpers beteiligt sind. Ausnahmen von dieser Grundregel bestehen aber für Berufskörperschaften sowie für Fälle, in denen die für die Zusammensetzung der Spruchkörper zuständigen Organe in früheren Verfahren einige Jahre zuvor auf der Seite der Prozessgegner der Beschwerdeführer standen.

2539

Esser, Strafverfahrensrecht, S. 549–550, der davon ausgeht, dass die Unabhängigkeit von Schöffen „besonders aufmerksam geprüft“ werden müsse. 2540 EGMR Nr. 14191/88, Holm v Schweden, 25.11.1993, §§ 18–19; zu diesem Urteil auch ­Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 229–230. 2541 EGMR Nr. 14191/88, Holm v Schweden, 25.11.1993, § 31. 2542 Im Ergebnis lag dennoch eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor, weil einige Schöffen Mitglieder einer Partei waren und es sich um eine politische Streitigkeit handelte, siehe hierzu ab S. 664. 2543 Die Aussage Kuijers, The Blindfold of Lady Justice, S. 228, dass die Auswahl der Richter komplett objektiv sei und nicht durch die Exekutive beeinflusst werden könne, geht indes zu weit, weil die Exekutive zunächst geeignete Kandidaten für das Losverfahren auszuwählen. 2544 Siehe hierzu oben ab S. 513.

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2. Inhaltliche Vorgaben Inhaltliche Vorgaben an die Zusammensetzung des Spruchkörpers können die Zahl der Richter betreffen, genauso wie die juristische Ausbildung der Richter, ihre Funktion innerhalb des Gremiums oder ihre sonstige Tätigkeit. Die Entscheidung, mit wie vielen Richtern eine Richterbank besetzt wird, fällt in den alleinigen Gestaltungsspielraum der Konventionsstaaten. Der EGMR machte bislang keine Vorgaben, in welchen Fällen Einzelrichter oder Kammern entscheiden dürfen oder müssen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der EGMR für bestimmte Verfahren eine Beteiligung von Schöffen verlangt. Ein ausschließlich aus Berufsrichtern zusammengesetzter Spruchkörper wirft keine besonderen Probleme der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit auf.2545 Den einzelnen Berufsrichtern unterstellt der EGMR grundsätzlich, unbeeinflusste Entscheidungen treffen zu können, selbst im Falle einer einseitigen Medienberichterstattung oder wenn sie Prozessbeteiligte persönlich kennen.2546 Sofern keine gegenteiligen Anhaltspunkte vorliegen, unterstellt der EGMR den Berufsrichtern ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. In Strafverfahren mit Schöffen- oder Jurybeteiligung ist ebenfalls – ungeachtet der vielen Unterschiede in den konventionsrechtlichen Strafprozessordnungen – stets ein Berufsrichter Mitglied des Gerichts.2547 Die rein akademische Frage, ob ein Strafgericht ohne Beteiligung eines Berufsrichters konventionskonform ausgestaltet sein kann, wird hier daher nicht vertieft. Da den Berufsrichtern aber die Aufgabe zukommt, die Schöffen oder Jurymitglieder zu instruieren und im Falle einer erwiesenen Unparteilichkeit auszutauschen,2548 ist ein Strafgericht ohne mindestens einen juristisch ausgebildeten Richter nur schwer vorstellbar. Laienrichter, Experten und Berufsträger in Disziplinarverfahren haben ebenso wie Schöffen keine juristische Ausbildung, die sie für Gefahren einer beeinflussten Entscheidung sensibilisiert. Bei ihrer Beteiligung stellt sich die Frage, ob der Spruchkörper einen Mindestanteil von Berufsrichtern aufweisen muss. Problematisch für die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sind außerdem Spruchkörper, in denen juristische Laien von Interessenvertretern oder -verbänden ausgewählt wurden.

2545 Siehe für die generelle Vermutung der Unabhängigkeit von Berufsrichtern oben ab S. 510. 2546 Siehe hierzu bereits oben ab S. 510. 2547 Vgl. die Darstellung in EGMR Nr. 926/05, Taxquet v Belgien (GK), 16.11.2010, §§ 46–48. 2548 Siehe hierzu bereits S. 515–516.

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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a) Verwaltungs- oder Disziplinarkammern mit Beteiligung von Experten Den Einsatz von Experten als Laienrichter begrüßt der EGMR grundsätzlich.2549 Auch ohne juristische Ausbildung sind Experten gerade wegen ihres technischen Fachwissens geeignete Richter mit komplizierten Sachverhalten. Bilden Experten oder – in berufsständischen Disziplinarverfahren – Berufsträger zusammen mit Berufsrichtern den Spruchkörper, dann ist diese gemischte Besetzung mit Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbar,2550 sofern die einzelnen Richter unabhängig und unparteilich sind. „[L]’existence d’un collège à composition mixte comprenant des magistrats, des fonctionnaires publics ou des représentants de groupements d’intérêt ne constitue pas en soi une preuve de partialité […].“2551

Bei Disziplinarverfahren gegen Richter verlangte der EGMR explizit, dass Richter Teil des gerichtlichen Spruchkörpers sind.2552 Auch in anderen Verfahren waren Spruchkörper mit mindestens einem Berufsrichter konventionskonform.2553 Eine darüber hinausgehende Anforderung, etwa dass der Spruchkörper mehrheitlich mit Berufsrichtern besetzt sein muss, ist nicht ersichtlich.2554 Die Anwesenheit von Berufsrichtern bedeutet jedoch nicht, dass diese Mängel der Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit von Laienrichtern ausgleichen können. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit wird grundsätzlich für jeden Richter einzeln beurteilt.2555

2549

Siehe die Nachweise in Fn. 2358. EGMR Nr. 6878/75 und 7238/75, Le Compte, Van Leuven und De Meyere v Belgien (Pl.), 23.06.1981, §§ 57–58; Nr. 9787/82, Weeks v Vereinigtes Königreich (Pl.), 02.03.1987, §§ 28, 62; Nr. 9273/81, Ettl u. a. v Österreich, 23.04.1987, §§ 17–18, 36–41; Nr. 34142/96, Siglfirđingur Ehf v Island v Island (Zul.), 07.09.1999; Nr. 39996/98, Ouendeno v Frankreich (Zul.), 09.01.2001; Nr. 47221/99, Pabla Ky v Finnland, 22.06.2004, §§ 15, 32, 35; Nr. 41579/98, AB Kurt Kellermann v Schweden, 26.10.2004, §§ 40, 60–61; Nr. 53025/99, Frankowicz v Polen, 16.12.2008, §§ 64, 67; Nr. 20087/06, Stechauner v Österreich, 28.01.2010, §§ 22, 55. 2551 EGMR Nr. 34197/02, Luka v Rumänien, 21.07.2009, § 41. 2552 EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 109; dem folgend EGMR Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 299. 2553 Vgl. EGMR Nr. 39996/98, Ouendeno v Frankreich (Zul.), 09.01.2001 und dem folgend Nr. 39269/02, Malquarti v Frankreich, 20.06.2006, § 12; Nr. 53025/99, Frankowicz v Polen, 16.12.2008, §§ 64, 67. 2554 Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 32–33; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (609); Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtl, S. 363 (372–373); Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 288. 2555 EGMR Nr. 11179/84, Langborger v Schweden (Pl.), 22.06.1989, § 35; Nr. 41579/98, AB Kurt Kellermann v Schweden, 26.10.2004, §§ 60–61; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 339. Auch die anfängliche Argumentation zu Gunsten der richterlichen Unabhängigkeit, dass neben Ärzten die gleiche Anzahl von Berufsrichtern das Gericht besetzen, von welchen einer auf den Vorsitz führt (EGMR Nr. 6878/75 und 7238/75, Le Compte, Van Leuven und De Meyere v Belgien (Pl.), 23.06.1981, § 57), wiederholte der EGMR nicht mehr. 2550

550

Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Ob ein rein mit Experten besetztes Gremium ebenfalls die Anforderungen des Gerichtsbegriffs gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK erfüllen kann,2556 ist nicht eindeutig zu beantworten. In der Sache Ali Rıza v Türkei mussten die Mitglieder eines sportlichen Schiedskomitees immerhin eine rechtliche Ausbildung und fünf Jahre Berufserfahrung haben, aber – im Umkehrschluss – nicht alle Qualifikationen für das Richteramt vorweisen. Der EGMR betonte ausdrücklich, dass eine ausschließliche Besetzung mit Laienrichtern nicht per se problematisch ist2557 – auch wenn im konkreten Fall eine Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit vorlag.2558 Ob diese auf ein nicht-staatliches Schiedsgericht bezogene Rechtsprechung auch auf staatliche Gerichte übertragen werden kann, muss jedoch bezweifelt werden. Anhaltspunkte gibt es hierfür bislang jedenfalls nicht. Einen weiteren Sonderfall stellt Savino v Italien dar. Der EGMR prüfte die Gerichtsqualität eines parlamentarischen Spruchkörpers für Streitigkeiten mit Angestellten des Parlaments, der ausschließlich mit Abgeordneten besetzt war. Es lag ein Verstoß gegen die richterliche Unparteilichkeit vor, weil die Abgeordneten als Richter Entscheidungen kontrollierten, die sie selbst getroffen hatten.2559 Ob ein ausschließlich mit Abgeordneten, die nicht notwendig über eine juristische Ausbildung verfügten, besetzter Spruchkörper den Anforderungen der gerichtlichen Unabhängigkeit entsprechen konnte, musste der EGMR daher nicht entscheiden. Im Fall Cooper v Vereinigtes Königreich, in dem es um die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit einer militärischen Disziplinarkammer ging, lag schließlich kein Konventionsverstoß vor, obwohl kein juristisch ausgebildeter Richter Teil des Spruchkörpers war. Der juristische Sachverstand wurde in diesem Fall durch einen judge advocat eingebracht, der zwar nicht mit den als Richtern tätigen Militärangehörigen über die Disziplinarmaßnahme entschied, aber die Rechtmäßigkeit des Verfahrens sicherstellte, indem er das Gericht instruierte und vor der geheimen Beratung die Beweise zusammenfasste. Zusätzlich erhielten die Richter briefing notes mit schrittweisen Anleitungen für den Ablauf des Verfahrens.2560

2556 Hierauf geht das Schrifttum selten ein, siehe aber Villiger, Handbuch EMRK, Rn. 497, der die Beteiligung von Berufsrichtern als Voraussetzung der gerichtlichen Unabhängigkeit betrachtet; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 288–289 bezweifelt dies und verweist auf die fehlende explizite Rechtsprechung. 2557 EGMR Nr. 30226/10, Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, § 212. 2558 EGMR Nr. 30226/10, Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, §§ 213–221. Siehe hierzu ausführlich ab S. 554. 2559 EGMR Nr. 17214/05, 42113/04 und 20329/05, Savino u. a. v Italien, 28.04.2009, §§ 105; hierzu unten ab S. 741. 2560 EGMR Nr. 48843/99, Cooper v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.2003, §§ 117–126; siehe zu diesem Urteil auch im Kontext der anderen EGMR-Urteile zur Militärgerichtsbarkeit ab S. 719.

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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In Grace Gatt v Malta war die fehlende juristische Ausbildung eines von mehreren Argumenten gegen die richterliche Unabhängigkeit des als Richter agierenden Polizeibeamten.2561 Der EGMR hat bislang noch nie mit der Begründung, dass kein Berufsrichter oder eine andere Person mit juristischer Ausbildung Teil des Spruchkörpers war, einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt. Abgesehen von Cooper v Vereinigtes Königreich ist aber auch kein Urteil ersichtlich, in dem ein Spruchkörper ohne mindestens eine Person mit juristischer Ausbildung die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK erfüllte. Der Fall Cooper betrifft jedoch den Sonderfall einer Disziplinarentscheidung gegen Militärangehörige durch ein Militärgericht. Daher darf dieses EGMR-Urteil nicht verallgemeinert werden. Zum aktuellen Zeitpunkt ist somit noch nicht klar, ob ein gerichtlicher Spruchkörper ohne mindestens eine juristisch ausgebildete Person auch abseits des Sonderfalls der Militärgerichtsbarkeit konventionskonform sein kann. Typischerweise versucht der EGMR solche generellen Aussagen zu vermeiden. In jedem Fall müssten die sonstigen Sicherungsmechanismen der gerichtlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit besonders gut ausgestaltet sein. Außerdem müssten die Konventionsstaaten – dies zeigt auch Cooper v Vereinigtes Königreich für die Militärgerichtsbarkeit – eine Möglichkeit finden, einen konventionskonformen Ablauf des Gerichtsverfahrens unter Beachtung aller Verfahrensgarantien sicherzustellen. Juristische Laien müssten diesbezüglich instruiert werden. b) Beteiligung von Prozessparteien oder Mitgliedern von Interessenverbänden oder -vertretern Die Besetzung einiger Spezialgerichte erfolgt durch Beteiligung der Prozessparteien oder nicht-staatlicher Interessenverbände oder -vertreter. Die Besonderheit dieser Auswahlverfahren liegt darin, dass die Interessenverbände gerade nicht neutral sind, sodass auch den von ihnen ausgewählten Richtern eine inhaltliche Vorprägung unterstellt werden kann. (1) Ausbalancierte Interessen Sind die Prozessparteien selbst an der Auswahl der Richter für ihr Verfahren beteiligt, muss beiden Parteien der gleiche Einfluss auf die Besetzung des Spruchkörpers eingeräumt werden. Unerheblich ist, ob die Parteien von ihrer Auswahl 2561

EGMR Nr. 46466/16, Grace Gatt v Malta, 08.10.2019, § 84; ebenso EGMR Nr. 19206/05, Dauti v Albanien, 03.02.2009, § 52. In EGMR Nr. 10328/83, Belilos v Schweiz (Pl.), 29.04.1988 mit ähnlichem Sachverhalt wie in Grace Gatt unklar, ob eine juristische Ausbildung der Richter vorlag.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

möglichkeit Gebrauch machen.2562 Darf hingegen nur eine der Parteien Richter auswählen, ist das Gericht ist nicht unparteilich.2563 Auch eine Auswahl der Mitglieder eines gerichtlichen Spruchkörpers durch Interessenverbände verstößt nicht prinzipiell gegen die richterliche Unabhängigkeit. In der Zulässigkeitsentscheidung Siglfirđingur Ehf v Island entschied der EGMR, dass ein Arbeitsgericht, das unter anderem mit jeweils einem Vertreter der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber besetzt war, konventionskonform war: „Article 6 § 1 of the Convention cannot, however, be interpreted in the way that it rules out the possibility in special circumstances of establishing extraordinary courts, with to a certain degree, specific procedures. The Icelandic Labour Court system provides that the interests of both the employers and of the employees are represented in the composition of the Labour Court. This cannot be considered to the contrary of Article 6 § 1, if no imbalance between what might be seen as conflicting interests arises in the case concerned. There must be a guarantee of equality between the parties in regard to the influence they exercise on the composition of the court.“2564

Diese Rechtsprechungslinie verfestigte sich durch mehrere Urteile über Streitigkeiten zwischen Medizinern und Krankenkassen in Österreich. In Thaler v Österreich war die regionale Berufungskommission der Ärztekammer mit einem Berufsrichter als Vorsitzendem besetzt sowie mit jeweils zwei Assessoren, ausgewählt von der regionalen Ärztekammer und vom Hauptverband der Sozialversicherungsträger, in dem auch die Krankenkassen Mitglied waren.2565 Zwischen der regionalen Ärztekammer und dem Verband der Sozialversicherungsträger bestand ein Gesamtvertrag (general agreement), der die Grundlage für die Einzelverträge zwischen den Krankenversicherungen und den Ärzten darstellte. Der beschwerdeführende Arzt griff über seinen Einzelvertrag mit einer Krankenkasse die im Gesamtvertrag geregelte Entlohnung an.2566 Er durfte gerechtfertigt befürchten, dass alle vier Assessoren, die von den Parteien des Gesamtvertrags ausgewählt worden waren, das gemeinsame Interesse verfolgten, den Gesamtvertrag zu erhalten. Im konkreten Fall repräsentierten die von den Verbänden ernannten Richter keine gegensätzlichen Interessen. Vielmehr stand ihr vermeintlich gemeinsames Interesse dem Interesse des Beschwerdeführers gegenüber. Daher war das Erscheinungsbild der Berufungskammer nicht unabhängig und unparteilich.2567 2562 EGMR Nr. 34142/96, Siglfirđingur Ehf v Island v Island (Zul.), 07.09.1999; Nr. 30003/02, Stojakovic v Österreich, 09.11.2006, § 48; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 48, 103. 2563 Vgl. EGMR Nr. 60680/00, Tsfayo v Vereinigtes Königreich, 14.11.2006, § 47; mit diesem Verständnis Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 103. 2564 EGMR Nr. 34142/96, Siglfirđingur Ehf v Island (Zul.), 07.09.1999. 2565 EGMR Nr. 58141/00, Thaler v Österreich, 03.05.2005, § 22. 2566 EGMR Nr. 58141/00, Thaler v Österreich, 03.05.2005, §§ 8–9, 12, 34. 2567 EGMR Nr. 58141/00, Thaler v Österreich, 03.05.2005, §§ 33, 36. Die gleiche Argumentation verwendete der EGMR auch schon in EGMR Nr. 11179/84, Langborger v Schweden (Pl.), 22.06.1989, §§ 31–35; ebenso EGMR Nr. 41579/98, AB Kurt Kellermann v Schweden, 26.10.2004, §§ 63–69.

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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Den Folgeurteilen lag eine geänderte Rechtslage zugrunde. Die Assessoren wurden fortan nicht mehr von den Verbänden selbst bestimmt. Sie wurden vom Justizminister ernannt, auf Vorschlag des Hauptverbands der Sozialversicherungsträger und  – statt der regionalen Ärztekammer  – der Bundesärztekammer.2568 Außerdem durften in der regionalen Berufungskammer keine Angestellten der Gebietskrankenkasse und der regionalen Ärztekammer, die den jeweiligen regionalen Gesamtvertrag ausgehandelt hatten, mehr als Richter tätig sein.2569 Diese geänderte Regelung stellte die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit ausreichend sicher: „[T]he mere fact that other Regional Health Insurance Boards have provisions in their general agreements which are similar or identical to the provisions of the Remuneration Regulation which was in dispute in the present case, does not suffice to cast doubt on the independence and impartiality of the assessors. A finding to the contrary would be tantamount to excluding lay assessors from a large number of cases, thus depriving the Regional Appeals Commissions of their specific expertise on the subject matter. In sum, the Court has not found any circumstances in the present case which would have upset the balance inherent in the participation of lay assessors in the Regional Appeals Board.“2570

Der EGMR legte also eine formale Betrachtungsweise an den Tag, die nur einen möglichen Interessenkonflikt innerhalb des konkreten regionalen Gesamtvertrags einbezog, nicht aber mögliche Parallelfälle. Grund hierfür war die pragmatische Erwägung, dass zu strenge Regelungen zu viele Experten von der richterlichen Tätigkeit ausschließen würden.2571 Insgesamt müssen Spruchkörper, deren Zusammensetzung durch Interessenverbände (mit)bestimmt wird, die verschiedenen Interessen ausgeglichen abbilden.2572 Die verschiedenen im Spruchkörper vertretenen Interessen dürfen nicht gemeinsam gegen das Interesse der Beschwerdeführer stehen. Hierbei betrachtet der EGMR jedoch nur den konkreten Interessenkonflikt, nicht aber parallele Streitigkeiten, wenn ansonsten keine qualifizierten Richter mehr zur Verfügung stehen.

2568 EGMR Nr. 20089/06, Puchstein v Österreich, 28.01.2010, § 54; Nr. 20087/06, Stechauner v Österreich, 28.01.2010, § 58; Nr. 18283/06, Fragner v Österreich, 23.09.2010, § 44. 2569 EGMR Nr. 20089/06, Puchstein v Österreich, 28.01.2010, § 54; Nr. 20087/06, Stechauner v Österreich, 28.01.2010, § 58; Nr. 18283/06, Fragner v Österreich, 23.09.2010, § 44. 2570 EGMR Nr. 20089/06, Puchstein v Österreich, 28.01.2010, § 55; Nr. 20087/06, Stechauner v Österreich, 28.01.2010, § 59; dem folgend EGMR Nr. 18283/06, Fragner v Österreich, 23.09.2010, §§ 44–45. 2571 Dieser Punkt wird auch besonders hervorgehoben im ansonsten knappen Folgeurteil EGMR Nr. 18283/06, Fragner v Österreich, 23.09.2010, § 44. 2572 Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (610); Steinfatt, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 105.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

(2) Beziehung der Richter zu ihrem Ernennungsorgan In der Sache Ali Rıza v Türkei wurde der türkische Fußballverband als autonome Körperschaft durch Gesetz gegründet und ausgestaltet.2573 Das Arbitration Committee entschied in einem gesetzlich vorgesehenen Schiedsgerichtsverfahren über Streitigkeiten zwischen Spielern, Schiedsrichtern, Vereinen und Verband.2574 Der EGMR bemängelte fehlende Sicherungsmechanismen für die richterliche Unabhängigkeit – es gab keine richterliche Immunität, keine richterlichen Verhaltensregeln und keinen Eid.2575 Außerdem konnten die Prozessparteien eine mangelhafte richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht geltend machen.2576 In den Fokus seiner Erwägungen stellte der EGMR aber den Vorstand (Board of Directors) des Fußballverbands, der für die Auswahl der Richter des Schiedsgerichts zuständig war.2577 Das Board of Directors bestand, genau wie das den Vorstand wählende Hauptbeschlussorgan des Verbands, mehrheitlich aus (ehemaligen) Vereinsfunktionären und nur in der Minderheit aus ehemaligen Fußballern und Schiedsrichtern. Diese Beobachtung stützte der EGMR nicht allein auf die Regularien des Verbands, sondern auch auf die tatsächlichen Gegebenheiten.2578 Die Amtszeit der Richter des Schiedsgerichts war an die Amtszeit des Vorstands gebunden.2579 Zwar gab es keine hierarchische Beziehung zwischen dem Board of Directors und den Richtern, wohl aber starke organisatorische und strukturelle Verbindungen, die einen signifikanten Einfluss auf die Richter indizierten.2580 Der hauptsächlich mit ehemaligen Vereinsfunktionären besetzte Vorstand entschied alleine über die Besetzung des Schiedsgerichts. Es durfte daher vermutet werden, dass die Interessen der Vereine im Schiedsgericht stärker vertreten waren als die Interessen der Spieler.2581 Das Urteil Ali Rıza v Türkei illustriert, dass sich das Problem einer nicht ausgeglichenen Interessenlage innerhalb eines gerichtlichen Spruchkörpers auch dann ergeben kann, wenn alle Richter durch ein Organ ausgewählt werden. Die Besetzung und das Ermessen des Board of Directors lassen gerechtfertigt befürchten, dass im Schiedsgericht die Vereinsinteressen stärker als die Spielerinteressen vertreten waren.2582 Somit knüpfte Ali Rıza an den Grundgedanken der Rechtspre 2573

EGMR Nr. 30226/10 u. a., Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, § 46. Siehe im Folgenden auch eine umfassende Darstellung der rechtlichen Grundlagen des Fußballverbands. 2574 EGMR Nr. 30226/10 u. a., Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, §§ 46 ff. 2575 EGMR Nr. 30226/10 u. a., Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, § 212. 2576 EGMR Nr. 30226/10 u. a., Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, § 215. 2577 EGMR Nr. 30226/10 u. a., Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, §§ 210–216. 2578 EGMR Nr. 30226/10 u. a., Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, §§ 210–211. 2579 EGMR Nr. 30226/10 u. a., Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, § 213. 2580 EGMR Nr. 30226/10 u. a., Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, § 216. 2581 EGMR Nr. 30226/10 u. a., Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, § 219. 2582 Anderer Ansicht ist das teilweise zustimmende, teilweise abweichende Sondervotum von Richter Bošnjak zu EGMR Nr. 30226/10 u. a., Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, §§ 7–8, das nicht davon ausging, dass Vereine und Spieler systematisch entgegenstehende Interessen verfolgten. Häufig seien Vereinsfunktionäre auch ehemalige Spieler oder Trainer.

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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chungslinie Siglfirđingur Ehf und Thaler an, ohne explizit auf diese Entscheidungen zu verweisen.2583 Die Argumentation in Ali Rıza v Türkei steht im Kontrast zu dem nur wenig älteren Urteil Mutu und Pechstein v Schweiz, in dem ebenfalls die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines verpflichtenden Schiedsgerichts, des Internationalen Schiedsgerichtshofs, umstritten war. Die für den konkreten Fall zuständigen Schiedsrichter wurden aus einer 300 Personen umfassenden Liste bestimmt. Diese Liste setzte sich zu drei Fünfteln aus Personen zusammen, die von verschiedenen Verbänden vorgeschlagen wurden, zu einem Fünftel aus Personen, die die Interessen der Athleten schützen sollten und zu einem Fünftel aus Personen, die unabhängig von den Verbänden sein sollten. Für die Zusammenstellung der Liste war der International Council of Arbitration for Sport zuständig, dessen Mitglieder von den Sportverbänden ernannt wurden.2584 Die Beschwerdeführerin konnte weder gegen die im konkreten Fall zuständigen Richter noch gegen andere auf der Liste stehende Richter substantiierte Gründe gegen deren Unabhängigkeit vorbringen. Daher lehnte der Gerichtshof eine Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit ab.2585 Gleichwohl lagen im Fall Mutu und Pechstein v Schweiz ähnlich wie in Ali Rıza v Türkei Anhaltspunkte dafür vor, dass die Interessen der Verbände durch das Ernennungsverfahren stärker im Schiedsgericht vertreten waren als die der Athleten.2586 Anders als das in dieser Hinsicht abweichende Sondervotum2587 ging die Mehrheit der Richter aber nicht davon aus, dass die tatsächlichen Verhältnisse der Besetzung zu einem Erscheinungsbild fehlender Unparteilichkeit führten. „While the Court is prepared to acknowledge that the organisations which were likely to be involved in disputes with athletes before the CAS had real influence over the mechanism for appointing arbitrators, as applicable at the relevant time, it cannot conclude that, solely on account of this influence, the list of arbitrators, or even a majority thereof, was composed of arbitrators who could not be regarded as independent and impartial, on an individual basis, whether objectively or subjectively, vis-à-vis those organisations.“2588 2583 Auch Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtl, S. 363 (371–372) bezieht die Rechtsprechungslinie des Interessengleichgewichts bereits auf Schiedsgerichte. 2584 EGMR Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, §§ 32–33, 153–154. 2585 EGMR Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, § 157. 2586 In EGMR Nr. 30226/10 u. a., Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, § 217 verwies der EGMR auch auf das Vorgängerurteil Mutu und Pechstein. 2587 Gemeinsames teilweise abweichendes, teilweise zustimmendes Sondervotum der Richter Keller und Serghides zu EGMR Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, §§ 12–16. 2588 EGMR Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, § 157. Dagegen aber das gemeinsame teilweise abweichende, teilweise zustimmende Sondervotum der Richter Keller und Serghides zu EGMR Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, §§ 12–16.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Der Unterschied zu Ali Rıza v Türkei liegt insbesondere darin, dass sich die verschiedenen Interessen zunächst in der Gestaltung der Liste und nicht unmittelbar in der Besetzung konkreter Spruchkörper niederschlugen. Da sich die Zusammenstellung der Liste, gegen die sich die Beschwerdeführerin wandte,2589 nicht unmittelbar auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts auswirken musste, fehlte dem EGMR ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den von den Verbänden verfolgten Interessen und der Besetzung des Gerichts.2590 (3) Zwischenfazit Der EGMR berücksichtigt bei der Beteiligung nicht-staatlicher Akteure an der Richterauswahl die vom Ernennungsorgan vertretenen Interessen und dessen Zusammensetzung. Das Gewicht dieser Aspekte hängt davon ab, wie sehr die gegenüber stehenden Interessen im konkreten Rechtsstreit relevant werden. Die Auswahl durch Interessenvertreter ist solange unproblematisch, wie widerstreitende Interessen gleichgewichtig im Spruchkörper vertreten sind und wie die im Spruchkörper vertretenen Interessen nicht gemeinsam gegen die Interessen der Prozessparteien stehen. Ist das – alleinige – Auswahlorgan mehrheitlich mit den Vertretern eines bestimmten Interesses besetzt, spricht dies ebenfalls gegen eine ausgeglichene Besetzung des Spruchkörpers. Der Fall Mutu und Pechstein v Schweiz zeigt jedoch, dass – jedenfalls in der Schiedsgerichtsbarkeit – allein die Auswahl potenziell geeigneter Kandidaten durch einen Interessenverband für die richterliche Unabhängigkeit nicht problematisch ist, wenn es keine Zweifel an der konkreten Besetzung des Spruchkörpers gibt. 3. Zwischenfazit Der EGMR lässt den Konventionsstaaten viel Gestaltungsspielraum, das Verfahren für die Zusammensetzung des konkreten Spruchkörpers zu bestimmen. Die einzige zwingende konventionsrechtliche Voraussetzung ist, dass das für die Zusammensetzung zuständige Organ nicht gleichzeitig Prozesspartei – entweder aus eigenem Interesse oder als Anklageorgan – ist. Aus institutioneller Sicht ergibt sich hieraus die Unvereinbarkeit zweier hoheitlicher Tätigkeiten in einem Organ, der Entscheidung über die Zusammensetzung eines gerichtlichen Spruchkörpers und der Erhebung beziehungsweise Vertretung einer Anklage im Gerichtsprozess. 2589

EGMR Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, § 152. Das gemeinsame teilweise abweichende, teilweise zustimmende Sondervotum der Richter Keller und Serghides zu EGMR Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, § 13 wollte die Rechtsprechungslinie zum Interessengleichgewicht jedoch auch auf den Fall Mutu und Pechstein anwenden. 2590

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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Konkrete inhaltliche Vorgaben an die Zusammensetzung gerichtlicher Spruchkörper sind der EGMR-Rechtsprechung ebenfalls nur in geringem Maß zu entnehmen. Ein gemischter Spruchkörper aus Juristen und Laien wird vom EGMR in bestimmten Fällen nicht nur hingenommen, sondern sogar begrüßt. Der EGMR akzeptiert nicht nur Experten, Schöffen oder Angehörige bestimmter Berufe in Disziplinarverfahren als Richter, sondern auch Vertreter gegenläufiger Interessen, sofern diese Interessen im Spruchkörper ausgeglichen vertreten werden beziehungsweise im konkreten Streitfall irrelevant sind. Urteile, in denen ein Gericht den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK entsprach, obwohl keine juristisch ausgebildete Person beteiligt war, sind nicht ersichtlich. Die Beteiligung eines Juristen, sei es bei verwaltungsrechtlichen oder disziplinarrechtlichen Verfahren, trägt jedenfalls zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des gesamten Spruchkörpers bei. An ein rein aus juristischen Laien besetztes Gericht würde der EGMR in jedem Fall hohe Hürden stellen. In strafgerichtlichen Verfahren scheint ein rein aus juristischen Laien besetztes Gericht noch schwieriger vorstellbar. Die Berufsrichter beziehungsweise Juristen haben die Aufgabe, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der juristischen Laien zu beurteilen beziehungsweise wiederherzustellen und den korrekten Ablauf des Verfahrens zu ermöglichen. Um nicht gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK zu verstoßen, sollten die gerichtlichen Spruchkörper also stets mit mindestens einem Berufsrichter besetzt sein. Im Sonderfall der Verhängung von Disziplinarmaßnahmen gegen Militärangehörige durch Militärgerichte war ein Verzicht auf eine mitentscheidende juristisch ausgebildete Person jedoch konventionskonform. Auch in diesem Fall stellte jedoch ein judge advocate den rechtmäßigen Ablauf des Verfahrens sicher.

V. Die Eignung einzelner Richter Nachdem ein Fall einem Spruchkörper zugewiesen wurde, kann sich herausstellen, dass einer der zuständigen Richter aus persönlichen Gründen ungeeignet ist, über die vorliegende Sache zu entscheiden. Der Grundsatz der Unparteilichkeit verbietet eine Entscheidung durch einen voreingenommenen oder vorbefassten Richter.2591 1. Vorbefassung in hoheitlicher Funktion Hat ein Amtsträger bereits in anderer hoheitlicher Funktion Entscheidungen in der konkreten Streitigkeit oder über den Streitgegenstand getroffen, kann er vorbefasst und damit nicht mehr unparteilich sein. Da die Gerichte als Organe der letztverbindlichen Streitentscheidung als letztes hoheitliches Organ mit einem Sach 2591

Siehe zu den Grundlagen des Unparteilichkeitsbegriffs oben ab S. 426.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

verhalt befasst sind, betreffen die Fälle der Vorbefassung im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK grundsätzlich die Vereinbarkeit einer früheren hoheitlichen mit der aktuellen richterlichen Tätigkeit. Anders ist die Lage im Rahmen der richterlichen Vorführung gemäß Art. 5 Abs. 3 EMRK. Hier stellt der EGMR die Frage, ob es theoretisch möglich ist, dass der für die Vorführung zuständige Richter auch am weiteren Verfahren beteiligt sein könnte.2592 Im Rahmen des Art. 5 Abs. 3 EMRK ist somit nicht eine tatsächliche, sondern eine hypothetische zukünftige erneute Befassung des Untersuchungsrichters entscheidend. Ob ein Richter vor seiner richterlichen Tätigkeit bereits in anderer hoheitlicher Funktion mit einer Sache befasst sein durfte, ist eine Frage der personellen Gewaltenteilung. Es geht einerseits um eine mögliche Inkompatibilität der richterlichen mit einer exekutiven oder legislativen Tätigkeit, andererseits um Fragen der innerfunktionalen Gewaltenteilung innerhalb der Judikative. Sind zwei hoheitliche Aufgaben nach der EMRK unvereinbar, sind die Konventionsstaaten dazu verpflichtet, ihre Zuständigkeitsordnung so auszugestalten, dass die Befassung eines einzelnen Amtsträgers mit beiden Aufgaben vermieten wird. Hinter der Rechtsprechung zur Vorbefassung steht also die Frage, wie weit der gerichtliche Prozess vor Einwirkungen durch politische oder andere judikative Gewalten geschützt werden muss. In ständiger Rechtsprechung führt allein die Tatsache, dass ein Richter in der Sache bereits vor dem Verfahren Entscheidungen getroffen hat, nicht zu Zweifeln an der Unparteilichkeit. Maßgeblich sind – sowohl in zivilrechtlichen als auch in strafrechtlichen Verfahren – Reichweite und Natur (scope / extent and nature) der vorhergehenden Entscheidungen.2593 Der EGMR beurteilt also den jeweiligen Einzelfall individuell.2594 a) Im Gesetzgebungsverfahren Eine Vorbefassung im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens ist möglich, wenn ein Richter zu einem früheren Zeitpunkt Abgeordneter war oder dies zeitgleich mit seinem Richteramt noch ist. Daneben finden sich Fälle, in denen Richter als Mitglieder von Staatsräten die parlamentarischen Gesetzgebungsorgane bei der Verabschiedung neuer Vorhaben beraten haben.

2592

Siehe hierzu bereits oben ab S. 394. EGMR Nr. 12981/87, Sainte-Marie v Frankreich, 16.12.1992, § 32; Nr. 14396/88, Fey v Österreich, 24.02.1993, § 30; Nr. 13924/88, Nortier v Niederlande, 24.08.1993, § 33; Nr. 28972/95, Ninn-Hansen v Dänemark (Zul.), 18.05.1999; Nr. 34130/96, Morel v Frankreich, 06.06.2000, § 45; Nr. 65411/01, Sacilor Lormines v Frankreich, 09.11.2006, § 61; Nr. 36073/04, Fazlı Aslaner v Türkei, 04.03.2014, § 31; Nr. 37537/13, Borg v Malta, 12.01.2016, § 84; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (604). 2594 EGMR Nr. 17574/07 und 25235/07, Dāvidsons and Savins v Lettland, 07.01.2016, § 48. 2593

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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(1) Als Mitglied des Parlaments Die Sache McGonnell v Vereinigtes Königreich2595 betraf eine staatsorganisatorische Sonderkonstellation im britischen Kronbesitz der Vogtei Guernsey. Der Bailiff of Guernsey war als Gerichtspräsident neben weiteren Laienrichtern für die gerichtliche Streitigkeit des Beschwerdeführers zuständig und in seinem früheren Amt als Deputy Bailiff Vorsitzender der parlamentarischen States of Deliberation gewesen, die den streitentscheidenden Rechtsakt erlassen hatten.2596 Entsprechend seinem Auftrag, allein den jeweiligen Einzelfall zu entscheiden, beurteilte der EGMR die Rolle des Bailiff, der Teil aller drei Staatsgewalten war, nicht abstrakt.2597 Im konkreten Fall führte die Vorbefassung des Bailiff als damaliger Vorsitzender der States of Deliberation dazu, dass sein Erscheinungsbild als Richter nicht mehr objektiv unparteilich war.2598 „With particular respect to his presiding, as Deputy Bailiff, over the States of Deliberation in 1990, the Court considers that any direct involvement in the passage of legislation, or of executive rules, is likely to be sufficient to cast doubt on the judicial impartiality of a person subsequently called on to determine a dispute over whether reasons exist to permit a variation from the wording of the legislation or rules at issue. In the present case, in addition to the chairing role as such, the Deputy Bailiff could exercise a casting vote in the event of even voting […].“2599

Die Tatsache, dass der damalige Deputy Bailiff als Präsident der States of Deliberation nur dann abstimmen durfte, wenn das Abstimmungsergebnis wegen der gleichen Anzahl von Ja- und Nein-Stimmen nicht eindeutig war,2600 wurde vom EGMR nicht in die Erwägung einbezogen. Die Beteiligung des Bailiffs am Rechtsetzungsprozess als Vorsitzender des Organs reichte aus, um das objektiv unparteiliche Erscheinungsbild zu beeinträchtigen.2601 Auf das Argument des Ver 2595 Zu diesem Urteil Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 345–346; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 142–144; Ress, Separation of Powers and the Function of the Judiciary, in: Barcellona / Carrino, I diritti umani, S. 187 (199–201); Popović, ECtHR and the Concept of Separation of Powers, in: Prabhakar, The Separation of Powers, S. 194 ff. mit ausführlicher Darstellung der verfassungsrechtlichen Kompetenzen des Bailiff of Guernsey. 2596 EGMR Nr. 28488/95, McGonnell v Vereinigtes Königreich, 08.02.2000, §§ 10, 16. Streitentscheidend war im konkreten Fall kein parlamentarisches Gesetz. Der Beschwerdeführer begehrte die Änderung eines Detailed Development Plan, um auf einem ihm gehörenden Grundstück seinen Wohnsitz begründen zu dürfen. 2597 EGMR Nr. 28488/95, McGonnell v Vereinigtes Königreich, 08.02.2000, §§ 17–22, 51; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 345. 2598 EGMR Nr. 28488/95, McGonnell v Vereinigtes Königreich, 08.02.2000, §§ 51, 57. 2599 EGMR Nr. 28488/95, McGonnell v Vereinigtes Königreich, 08.02.2000, § 55. 2600 EGMR Nr. 28488/95, McGonnell v Vereinigtes Königreich, 08.02.2000, §§ 17–18. 2601 Masterman, Separation of Powers, S. 81 spricht von einer ausreichenden Nähe zwischen der legislativen und der judikativen Rolle (sufficient proximity between the legislative and the judicial roles) als Maßstab für eine fehlende richterliche Unabhängigkeit.

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einigten Königreichs, die Rolle des Deputy Bailiff in den States of Deliberation sei vorrangig „zeremoniell“, entgegnete der Gerichtshof, dass auch solche Ämter eine hoheitliche Funktion ausübten.2602 Bei der Prüfung des Einzelfalls legte der EGMR also strenge Maßstäbe an. Dies zeigt, dass der EGMR einer Vermischung legislativer und judikativer Tätigkeiten grundsätzlich kritisch gegenübersteht. Der Gerichtshof stellte darauf ab, dass der damalige Deputy Bailiff am Beschluss des streitentscheidenden Rechtsakts formal beteiligt war. Damit implizierte er, dass die EMRK eine gleichzeitige oder zeitlich aufeinander folgende hoheitliche Tätigkeit als Abgeordneter und Richter nicht per se verbietet.2603 Die frühere Tätigkeit eines Richters als Abgeordneter oder Mitglied eines parlamentarischen Organs allein führt noch nicht zur Befangenheit. Zusammenfassend etablierte der Gerichtshof ein generelles Rechtfertigungsbedürfnis für den Fall, dass ein ehemaliger Parlamentssprecher oder -präsident als Richter Streitigkeiten über Normen entscheidet, die er in seiner parlamenta­ rischen Funktion mitbeschlossen hat. Unklar blieb jedoch, ob die Anforderungen des EGMR auf die richterliche Tätigkeit einfacher Abgeordneter übertragen werden können, denen keine zeremonielle Funktion zukommt, die jedoch nicht nur ausnahmsweise an Abstimmungen teilnehmen. In Pabla Ky v Finnland2604 war ein wegen seiner Expertise hinzugezogener Laienrichter während seiner richterlichen Tätigkeit Mitglied des finnischen Parlaments.2605 Der EGMR erwähnte die Gewaltenteilung als konventionsrechtliches Prinzip, betonte aber, allein den Einzelfall zu prüfen.2606 Allein die Mitgliedschaft des Richters in einer politischen Partei ließ noch nicht auf eine Voreingenommenheit schließen. Darüber hinaus gab es keine Anhaltspunkte dafür, dass der Expertenrichter am Gesetzgebungsprozess der streitentscheidenden Normen beteiligt war.2607 „Even assuming therefore that participation by  a member of parliament in, for example, the adoption of a general legislative measure could cast doubt on later judicial functions, it

2602

EGMR Nr. 28488/95, McGonnell v Vereinigtes Königreich, 08.02.2000, § 52. Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 346; Masterman, Separation of Powers, S. 81. 2604 Zu diesem Urteil auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 138–141; Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33 (44–45); Popović, ECtHR and the Concept of Separation of Powers, in: Prabhakar, The Separation of Powers, S. 194, der Pabla Ky in die übrige Gewaltenteilungs-Rechtsprechung des EGMR einordnet; ebenso Masterman, Separation of Powers, S. 81–84; Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (12). 2605 EGMR Nr. 47221/99, Pabla Ky v Finnland, 22.06.2004, § 12. 2606 EGMR Nr. 47221/99, Pabla Ky v Finnland, 22.06.2004, § 34, siehe hierzu bereits ab S. 118. Anders das abweichende Sondervotum von Richter Borrego Borrego zu EGMR Nr. 47221/99, Pabla Ky v Finnland, 22.06.2004, das mit Verweis auf Montesquieu eine abstrakte und strenge Trennung zwischen legislativer und judikativer Funktion befürwortete und als Ausprägung des Unabhängigkeits-Prinzips im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK betrachtete. 2607 EGMR Nr. 47221/99, Pabla Ky v Finnland, 22.06.2004, § 33; kritisch zum Vorgehen des EGMR Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 139. 2603

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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cannot be asserted in this case that M. P. was involved in any other capacity with the subject matter of the applicant company’s case through his position as a member of parliament.“2608

Im Ergebnis lag kein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK vor.2609 Allein die gleichzeitige Tätigkeit als Abgeordneter und als Richter führt ohne weitere Anhaltspunkte also nicht zu einer Gefährdung der richterlichen Unparteilichkeit2610 – beide Tätigkeiten sind nach der Konventionsrechtsordnung nicht absolut unvereinbar.2611 Dies gilt erst recht, wenn das parlamentarische Mandat bereits beendet ist. Damit bestätigte der EGMR seinen Ansatz aus McGonnell v Vereinigtes Königreich. Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beurteilung des EGMR anders ausgefallen wäre, wenn es um einen Berufsrichter, nicht um einen Experten gegangen wäre. Da der EGMR für Berufsrichter wie für Laien die gleichen Maßstäbe an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit anlegt2612 und in der konkreten Anwendung bei Laienrichtern typischerweise schneller einen Mangel der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit feststellt als bei Berufsrichtern, gibt es keinen Grund zur Annahme, dass der EGMR für Berufsrichter eine Unvereinbarkeit mit einer Abgeordnetentätigkeit annehmen könnte. Die in McGonnell v Vereinigtes Königreich offen gebliebene Frage, ob die reine Beteiligung eines Abgeordneten am Gesetzgebungsprozess der streitentscheidenden Norm für dessen Voreingenommenheit als Richter ausreicht, konnte der Gerichtshof erneut umgehen. Auch in Savino u. a. v Italien ließ der EGMR keine Bedenken hinsichtlich einer gleichzeitigen Tätigkeit als Abgeordneter und als Richter erkennen. Die Commission juridictionnelle pour le personnel de la Chambre des députés, eine gerichtliche Instanz innerhalb des italienischen Abgeordnetenhauses für Streitigkeiten des Parlaments mit seinen Angestellten, wurde ausschließlich mit Abgeordneten besetzt, die Mitglieder des parlamentarischen Präsidiums (bureau) waren. Das Präsidium war zuständig für alle Verwaltungsangelegenheiten der Abgeordnetenkammer inklusive der Organisation des Bewerbungsprozesses für neues Personal. Auch die im konkreten Fall streitigen Rechtsakte wurden vom Präsidium beschlossen. Schließlich benannte das Präsidium in Streitigkeiten zwischen der Abgeordnetenkammer und ihren Angestellten den Vertreter der Abgeordnetenkammer.2613 Problematisch für die richterliche Unparteilichkeit war nicht die richterliche Tätigkeit der Abgeordneten an sich,2614 sondern die Beteiligung der Präsidiumsmitglieder. Die Zweifel an der Unparteilichkeit ergaben sich einerseits daraus, 2608

EGMR Nr. 47221/99, Pabla Ky v Finnland, 22.06.2004, § 33. EGMR Nr. 47221/99, Pabla Ky v Finnland, 22.06.2004, § 35. 2610 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 141; Popović, ECtHR and the Concept of Separation of Powers, in: Prabhakar, The Separation of Powers, S. 194 ff. 2611 So auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 138; Labayle / Sudre, RFDA 2005, S. 985 (988–989); knapp Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK, Rn. 165. 2612 Siehe hierzu bereits oben S. 509. 2613 EGMR Nr. 17214/05, 42113/04 und 20329/05, Savino u. a. v Italien, 28.04.2009, § 104. 2614 EGMR Nr. 17214/05, 42113/04 und 20329/05, Savino u. a. v Italien, 28.04.2009, § 104. 2609

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dass das Präsidium als Streitpartei an der Auswahl der Richter beteiligt war.2615 Andererseits kontrollierte das Gericht die vom Präsidium getroffenen Entscheidungen, sodass die Richter bereits in gestaltender Funktion mit der gleichen Sache befasst waren.2616 Entscheidend für die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK war also nicht, dass ein Gericht innerhalb des Parlaments eingerichtet und ausschließlich mit Abgeordneten besetzt wurde, sondern dass die Richter ihre eigenen im Präsidium gefassten Entscheidungen kontrollierten. Das Urteil Savino v Italien wurde über den allgemeinen Grundsatz gelöst, dass ein hoheitliches Organ sich nicht selbst kontrollieren darf. Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Parlamenten und Gerichten lässt das Urteil viele Fragen offen. Nicht zuletzt bleibt unklar, ob der EGMR ein innerparlamentarisches Gremium ohne zwingende Beteiligung eines Juristen als Gericht anerkannt hätte2617 und ob ein parlamentarisches Gremium grundsätzlich Gerichtsqualität haben kann2618. Zusammenfassend ist der EGMR-Rechtsprechung keine Unvereinbarkeit einer gleichzeitigen oder aufeinander folgenden parlamentarische und richterliche Tätigkeit zu entnehmen. Das Urteil Pabla Ky zeigt, dass die Ausübung beider hoheitlicher Funktionen für die richterliche Unparteilichkeit jedenfalls solange unproblematisch ist, wie der Richter in seiner Funktion als Abgeordneter nicht am Rechtsetzungsverfahren der anwendbaren Norm beteiligt war. Auf der anderen Seite legt das Urteil McGonnell v Vereinigtes Königreich nahe, dass das richter­liche Erscheinungsbild nicht mehr unparteilich ist, wenn ein Richter als Abgeordneter einen streitrelevanten Rechtsakt mitbeschlossen hat. Wie intensiv der Richter an der inhaltlichen Arbeit des konkreten Rechtsetzungsverfahrens beteiligt war und ob er tatsächlich an der Abstimmung teilgenommen hat, scheint unerheblich zu sein. (2) Als Mitglied eines Staatsrates oder Beratungsorgans Staatsräte sind hoheitliche Organe, die einerseits beratend im Gesetzgebungsverfahren tätig werden, indem sie Stellungnahmen zu aktuellen Gesetzesvorhaben abgeben und andererseits Verwaltungsgerichte sind.2619 In einer Rechtsprechungs 2615 EGMR Nr. 17214/05, 42113/04 und 20329/05, Savino u. a. v Italien, 28.04.2009, § 105. Siehe zu diesem Problem bei der Zusammensetzung von Spruchkörpern bereits oben ab S. 541. 2616 EGMR Nr. 17214/05, 42113/04 und 20329/05, Savino u. a. v Italien, 28.04.2009, § 105. 2617 Siehe hierzu bereits ab S. 550. 2618 Siehe unten ab S. 741. 2619 EGMR Nr. 14570/89, Procola v Luxemburg, 28.09.1995, §§ 24–26 für den luxembur­ gischen Staatsrat; Nr. 39343/98 u. a., Kleyn u. a. v Niederlande (GK), 06.05.2003, §§ 131–141; Nr. 65411/01, Sacilor Lormines v Frankreich, 09.11.2006, § 35. Siehe zur Beratungstätigkeit des französischen Staatsrates Marsch, Rechtsetzung, in: Marsch / Vilain / Wendel, Franzö­ sisches und Deutsches Verfassungsrecht, § 5 Rn. 36.

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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linie ausgehend von Procola v Luxemburg2620 äußerte sich der EGMR mehrfach in unterschiedlichen Sachverhaltskonstellationen zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Staatsräte bei ihrer verwaltungsgerichtlichen Tätigkeit.2621 In Kleyn v Niederlande setzte der EGMR die Rechtsprechungslinie in den Kontext des konventionsrechtlichen Gewaltenteilungsverständnisses.2622 Besonders in den frühen Urteilen thematisierte der EGMR die persönliche Vorbefassung von Richtern, die bereits an beratenden Stellungnahmen mitgewirkt hatten. In der Sache Procola v Luxemburg2623 wurde der luxemburgische Conseil d’Etat mit der Streitigkeit über ein Gesetz befasst, zu dem er während des Gesetzgebungsverfahrens eine Stellungnahme abgegeben hatte. Vier von fünf Richtern waren sowohl am Beratungs- als auch am Gerichtsverfahren beteiligt. In beiden Verfahren stand die Rechtmäßigkeit einer Verordnung in Frage.2624 „The Court notes that four members of the Conseil d’Etat carried out both advisory and judicial functions in the same case. In the context of an institution such as Luxembourg’s Conseil d’Etat the mere fact that certain persons successively performed these two types of function in respect of the same decisions is capable of casting doubt on the institution’s structural impartiality. In the instant case, Procola had legitimate grounds for fearing that the members of the Judicial Committee had felt bound by the opinion previously given. That doubt in itself, however slight its justification, is sufficient to vitiate the impartiality of the tribunal in question […].“2625

Somit lag eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK vor.2626 Auch wenn der EGMR grundsätzliche Zweifel an der Doppelfunktion des Staatsrats anklingen ließ, war entscheidend, dass vier der fünf Richter bereits zweimal mit dem Streitgegenstand befasst waren und daher die Gefahr ihrer vorherigen inhaltlichen Festlegung bestand.2627

2620 Zu dieser Rechtsprechungsreihe Masterman, Separation of Powers, S. 80–85; Popović, ECtHR and the Concept of Separation of Powers, in: Prabhakar, The Separation of Powers, S. 194 ff., der die Staatsrats-Rechtsprechung in eine chronologische Darstellung der Gewaltenteilungs-Rechtsprechung des EGMR integriert; Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33 (41–46). Knapp Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (605–606); ­Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 94. 2621 Siehe zur generellen Frage der Doppelfunktion der Staatsräte als Beratungsorgane und Gerichte, unabhängig von der personellen Vorbefassung einzelner Richter, unten ab S. 737. 2622 EGMR Nr. 39343/98 u. a., Kleyn u. a. v Niederlande (GK), 06.05.2003, § 193. Siehe hierzu bereits oben ab S. 109. 2623 Siehe zu diesem Urteil Steinfatt, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 97; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 141–144; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 590–591 inkl. Sachverhaltsdarstellung. 2624 EGMR Nr. 14570/89, Procola v Luxemburg, 28.09.1995, §§ 12–13, 16, 44. 2625 EGMR Nr. 14570/89, Procola v Luxemburg, 28.09.1995, § 45. 2626 EGMR Nr. 14570/89, Procola v Luxemburg, 28.09.1995, § 46. 2627 Masterman, Separation of Powers, S. 83 ist nicht darin zuzustimmen, dass Procola v Luxemburg ein Beispiel dafür ist, dass der EGMR eine strenge personelle Gewaltenteilung favorisiert.

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Auch in der Sache Kleyn v Niederlande musste der Staatsrat über die Anwendung eines Gesetzes entscheiden, zu dem er während des Gesetzgebungsverfahrens bereits eine beratende Stellungnahme abgegeben hatte.2628 Obwohl ein Richter an beiden Verfahren beteiligt war,2629 lag kein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK vor, weil unterschiedliche rechtliche Fragen Gegenstand des Beratungs- und des Gesetzgebungsverfahrens waren. Im Beratungsverfahren äußerte sich der Staatsrat zu Verfahrensregelungen im Entscheidungsprozess großer infrastruktureller Planungsprojekten. Im Gerichtsverfahren ging es um die materielle Rechtmäßigkeit eines solchen Planungsprojektes. Damit entschied der Staatsrat in beiden Verfahren nicht über den gleichen Fall beziehungsweise traf er nicht die gleiche Entscheidung.2630 Auch die Tatsache, dass der Staatsrat bereits in seiner beratenden Stellungnahme explizit auf das später streitige Projekt Bezug nahm, führte zu keiner abweichenden Bewertung.2631 Kleyn v Niederlande präzisierte die Rechtsprechung von Procola v Luxemburg und McGonnell v Vereinigtes Königreich,2632 indem das Urteil Kriterien für eine unzulässige Vorbefassung in hoheitlicher Funktion während des Gesetzgebungsverfahrens explizit benannte. Entscheidend ist, ob ein gleicher Fall oder eine gleiche Entscheidung (the same case / the same decision) Gegenstand der vorherigen hoheitliche Entscheidung war. In den Folgeurteilen dieser Rechtsprechungslinie lag keine persönliche Vorbefassung mehr vor, da die Konventionsstaaten inzwischen eine doppelte Befassung der Organwalter vermieden.2633 In der Sache Chim und Przywieczerski v Polen arbeitete ein Richter in einem Beratungsorgan des polnischen Parlaments für zukünftige Gesetzgebung mit, das 2628 EGMR Nr. 39343/98 u. a., Kleyn u. a. v Niederlande (GK), 06.05.2003, §§ 196, 199; hierzu Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 114; Popović, ECtHR and the Concept of Separation of Powers, in: Prabhakar, The Separation of Powers, S. 194 ff. inkl. Sachverhaltsdarstellung. 2629 EGMR Nr. 39343/98 u. a., Kleyn u. a. v Niederlande (GK), 06.05.2003, § 195. 2630 Auch wenn die Formulierung in EGMR Nr. 14570/89, Procola v Luxemburg, 28.09.1995, § 45 bereits ähnlich war (siehe das wörtliche Zitat zu Fn. 2625), wird dieses Merkmal vom Schrifttum besonders im Kontext des Kleyn-Urteils hervorgehoben, so etwa bei Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (606); Masterman, Separation of Powers, S. 81; Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33 (43) bezeichnet das Kriterium ausdrücklich aus neu. 2631 EGMR Nr. 39343/98 u. a., Kleyn u. a. v Niederlande (GK), 06.05.2003, §§ 199–202. 2632 Masterman, Separation of Powers, S. 83 sowie Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33 (44), die in Kleyn v Niederlande eine Abweichung zur vorherigen Rechtsprechung sehen, ist nicht zuzustimmen. 2633 EGMR Nr. 65411/01, Sacilor Lormines v Frankreich, 09.11.2006, § 73 noch unter Anwendung des Kriteriums, obwohl keine Vorbefassung vorlag; anschließend schlicht mit Verweis darauf, dass keine Person an beiden Verfahren beteiligt war EGMR Nr. 39699/03, Union fédérale des Consommateurs Que Choisir de Côte d’Or v Frankreich (Zul.), 30.06.2009; Nr. 34538/08 u. a., Greneche u. a. v Frankreich (Zul.), 15.10.2013, § 24; Nr. 33014/08 u. a., Ryon u. a. v Frankreich, 15.10.2013, § 30; Nr. 32191/09, Adefdromil v Frankreich, 02.10.2014, §§ 65–66; siehe zu den Reformen in Luxemburg Spielmann, Luxembourg, in: Blackburn /  Polakiewicz, Fundamental Rights in Europe, S. 531 (556–557).

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neue Gesetzesvorschläge für das Strafrecht vorbereitete. Die Beschwerdeführer machte die fehlende Unparteilichkeit des Richters geltend. Der Richter hatte während des gegen den Beschwerdeführer laufenden Verfahrens am Entwurf eines Änderungsgesetzes mitgearbeitet, das die Strafverfolgungsfristen von solchen Vergehen verlängern sollte, für die der Beschwerdeführer angeklagt war.2634 Der Gesetzesvorschlag wurde ins Parlament eingebracht, bevor im Verfahren gegen den Beschwerdeführer ein Urteil gesprochen war.2635 Das geänderte Gesetz trat jedoch erst später in Kraft, sodass es im Verfahren gegen den Beschwerdeführer nicht mehr anwendbar war. Weil das geänderte Gesetz nicht Grundlage des Urteils gegen den Beschwerdeführer war, lag keine richterliche Vorbefassung in einem gleichen Fall vor. Allein die Tätigkeit des Richters im parlamentarischen Beratungsgremium war für den EGMR ohne weitere Anhaltspunkte kein Grund, an der richterlichen Unparteilichkeit zu zweifeln.2636 Das Urteil Chim und Przywieczerski v Polen zeigt somit, dass Richter, die parallel zu ihrer richterlichen Tätigkeit in einem Beratungsorgan der Gesetzgebung tätig sind, nicht allein deswegen befangen sind. (3) Analyse (a) Keine strenge Gewaltenteilung Der EGMR lehnt eine strenge personelle Gewaltenteilung zwischen der legislativen und der judikativen Gewalt ab.2637 Die Urteile Pabla Ky v Frankreich sowie Chim und Przywieczerski v Polen zeigen, dass die EMRK keine generelle Inkompatibilität von gesetzgebenden beziehungsweise beratenden2638 und richterlichen Tätigkeiten vorgibt. Sowohl im Urteil Pabla Ky v Finnland als auch in Kleyn v Niederlande konnten sich die Richter, die aus Art. 6 Abs. 1 EMRK strenge perso 2634 EGMR Nr. 36661/07 und 38433/07, Chim und Przywieczerski v Polen, 12.04.2018, §§ 146–148, 171, 164. 2635 So das Vorbringen des Beschwerdeführers, EGMR Nr. 36661/07 und 38433/07, Chim und Przywieczerski v Polen, 12.04.2018, § 148, der auch darauf abstellte, dass der Richter an der inhaltlichen Vorbereitung des Gesetzes schon beteiligt war, bevor der Gesetzes-Entwurf veröffentlicht wurde. 2636 EGMR Nr. 36661/07 und 38433/07, Chim und Przywieczerski v Polen, 12.04.2018, § 174. 2637 Bezogen auf Pabla Ky v Frankreich und McGonnell v Vereinigtes Königreich: Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 140, 144; Masterman, EHRLR 2005, S. 628 (636). Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 53 geht jedoch – ohne Anhaltspunkt in der Rechtsprechung – von einer personellen Inkompatibilität einer verfassungsrichterlichen Tätigkeit mit einem Abgeordnetenmandat aus. 2638 Zwar ordnet jedenfalls Frankreich seinen Conseil d’Etat als Teil der Exekutive ein, EGMR Nr. 65411/01, Sacilor Lormines v Frankreich, 09.11.2006, § 66; Nr. 39699/03, Union fédérale des Consommateurs Que Choisir de Côte d’Or v Frankreich (Zul.), 30.06.2009. Auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 141–144 behandelt die Procola-Rechtsprechung unter der gemeinsamen Ausübung judikativer und exekutiver Funktionen. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Beratung des Staatsrates im weitesten Sinne eine gesetzgebende Tätigkeit ist, vgl. auch Masterman, Separation of Powers, S. 81.

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nelle Gewaltenteilung herauslesen wollten, nicht durchsetzen. In beiden Sondervoten wurde vertreten, dass ein Richter nicht gleichzeitig Mitglied eines anderen hoheitlichen Organs sein durfte.2639 Ein Konventionsverstoß liegt nur dann vor, wenn eine individuelle Vorbefassung oder Voreingenommenheit vorliegt. (b) Der „gleiche Fall“ und die „gleiche Entscheidung“ In der Staatsrats-Rechtsprechung beurteilte der EGMR die Unparteilichkeit in zwei Schritten. Zunächst prüfte er, ob am Beratungs- und im Gerichtsverfahren die gleichen Personen beteiligt waren. Wenn das der Fall war, durften beide Verfahren nicht den „gleichen Fall“ beziehungsweise die „gleiche Entscheidung“ betreffen.2640 Maßgeblich ist somit, ob ein Richter bereits in einem früheren hoheitlichen Verfahren mit den gleichen rechtlichen Fragen zu tun hatte wie im Gerichtsverfahren und sich daher schon im Vorhinein eine Meinung über die zu entscheidenden Fragen gebildet haben könnte. Auch in Pabla Ky und Savino wurde dieses Kriterium angewendet.2641 Das Urteil McGonnell hätte mit dem erst später eingeführten Kriterium inhaltsgleich gelöst werden können. Die Rechtsprechung zu den Staatsräten ist also auf andere Sachverhalte übertragbar.2642 Wann genau ein „gleicher Fall“ oder eine „gleiche Entscheidung“ vorliegen, hat der EGMR nicht abstrakt definiert.2643 Somit kann nicht abschließend bestimmt werden, wie stark sich die rechtlichen Fragen in Beratungs- beziehungsweise Gesetzgebungsverfahren und Gerichtsverfahren ähneln dürfen. Die Sondervoten zu 2639 Abweichendes Sondervotum von Richter Borrego Borrego zu EGMR Nr. 47221/99, Pabla Ky v Finnland, 22.06.2004; abweichendes Sondervotum der Richterin Tsatsa-Nikolovska, beigetreten von den Richter Strážnická und Ugrekhelidze zu EGMR Nr. 39343/98 u. a., Kleyn u. a. v Niederlande (GK), 06.05.2003. Masterman, Separation of Powers, S. 82–84 setzt diese Sondervoten wenig überzeugend mit der Linie des Procola-Urteils gleich. 2640 Siehe die Nachweise in Fn. 2633. 2641 EGMR Nr. 47221/99, Pabla Ky v Finnland, 22.06.2004, § 34; Nr. 17214/05, 42113/04 und 20329/05, Savino u. a. v Italien, 28.04.2009, § 105. 2642 Die Urteile werden auch vom Schrifttum gemeinsam betrachtet, Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (605–606); Masterman, Separation of P ­ owers, S. 80–82; Popović, ECtHR and the Concept of Separation of Powers, in: Prabhakar, The Separation of Powers, S. 194; Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33 (41–46); Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 141–144 untersucht allein Procola und McGonnell, nicht aber die weitere Rechtsprechung zu den Staatsräten. 2643 Eine Präzisierung im Rahmen der Staatsratsrechtsprechung ist auch nicht mehr zu erwarten. Die Konventionsstaaten, die an diesem Organ festhalten, haben inzwischen sichergestellt, dass es bei der beratenden und der rechtsprechenden Tätigkeit nicht mehr zu personellen Überschneidungen kommt, siehe bereits für die französische Rechtslage EGMR Nr. 65411/01, Sacilor Lormines v Frankreich, 09.11.2006, § 73; Nr. 39699/03, Union fédérale des Consommateurs Que Choisir de Côte d’Or v Frankreich (Zul.), 30.06.2009; Nr. 8615/08, Escoffier v Frankreich (Zul.), 08.03.2011; Nr. 34538/08 u. a., Greneche u. a. v Frankreich (Zul.), 15.10.2013, § 24; Nr. 33014/08 u. a., Ryon u. a. v Frankreich, 15.10.2013, § 30; Nr. 32191/09, Adefdromil v Frankreich, 02.10.2014, §§ 65–66.

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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Kleyn v Niederlande deuten darauf hin, dass die Definition auch unter den Richtern nicht unumstritten war. In seinem zustimmenden Sondervotum forderte Richter Ress, dass der Gegenstand der Streitigkeit (subject matter) identisch sein müsse. „The subject matter of different sets of proceedings is the same if the facts of the case are (more or less) the same and if the legal questions addressed in the proceedings on the basis of these facts are identical. One could also, as a third element, refer to the parties to the proceedings and ask the question whether they are different or the same.“2644

Die Tatsache, dass in Kleyn v Niederlande zum Zeitpunkt der beratenden Stellungnahme das später strittige Planungsverfahren als eines von zwei großen von dieser Änderung betroffenen Vorhaben bereits absehbar war und sogar explizit in der Stellungnahme angesprochen wurde, reichte der Mehrheit des EGMR nach diesem Verständnis nicht aus.2645 Anders sahen das jedoch die Richter Thomassen und Zagrebelsky, die das Kriterium weiter auslegen wollten und auf strafrechtliche Parallelfälle verwiesen, in denen eine Vorbefassung des Richters als Staatsanwalt oder als Untersuchungsrichter in Rede stand.2646 Nach ihrem Verständnis lagen bereits ausreichende Zweifel an der Unparteilichkeit vor, weil das später streitige Infrastrukturprojekt bereits während des Gesetzgebungsverfahrens Gegenstand von Diskussionen war und somit eine hinreichend starke Verbindung zwischen beiden Verfahren vorlag.2647 Der Ansatz der Richter Thomassen und Zagrebelsky unterschied sich von dem Ansatz Ress’ dadurch, dass ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen Beratungs- beziehungsweise Gesetzgebungsverfahren ausreicht, ohne dass die sich stellenden rechtlichen Fragen identisch sein müssen. Nach beiden Ansätzen liegt jedenfalls kein Zweifel an der richterlichen Unparteilichkeit vor, wenn ein Richter zwar formal bereits an einem Gesetzgebungs- oder Beratungsverfahren zur im Rechtsstreit anwendbaren beteiligt war, aber ansonsten kein inhaltlicher Zusammenhang zwischen beiden hoheitlichen Entscheidungen besteht. Auch die Urteile Procola v Luxemburg und McGonnell v Vereinigtes Königreich, können herangezogen werden, um den „gleichen Fall“ näher zu definieren. Zwar ergingen beide Urteile vor Kleyn v Niederlande. Gleichwohl lag ihnen bereits der gleiche Ansatz zugrunde. Hiernach handelt es sich um einen „gleichen Fall“, wenn sowohl im Beratungs- beziehungsweise Gesetzgebungsverfahren als auch im gerichtlichen Verfahren die Rechtmäßigkeit des beschlossenen Gesetzes oder die Abweichung von einer bisherigen Vorschrift in Rede standen.2648 Das Urteil Chim und Przywieczerski v Polen zeigt, dass eine Beratung zu einem Gesetz, das 2644 Zustimmendes Sondervotum von Richter Ress zu EGMR Nr. 39343/98 u. a., Kleyn u. a. v Niederlande (GK), 06.05.2003. 2645 EGMR Nr. 39343/98 u. a., Kleyn u. a. v Niederlande (GK), 06.05.2003, § 201. 2646 Siehe zu dieser Fallgruppe später ab S. 570. 2647 Abweichendes Sondervotum der Richterin Thomassen, beigetreten von Richter Zagrebelsky zu EGMR Nr. 39343/98 u. a., Kleyn u. a. v Niederlande (GK), 06.05.2003. 2648 Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 145.

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möglicherweise in Zukunft ein im konkreten Streitfall anwendbares Gesetz abändern oder ersetzen könnte, nicht zu einer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK relevanten Vorbefassung führt. In Sacilor Lormines v Frankreich lehnte der EGMR eine Vorbefassung ab, obwohl die Auslegung und Anwendung des streitentscheidenden Gesetzes Gegenstand des Beratungsverfahrens war und sich im Gerichtsverfahren eine konkrete Auslegungsfrage stellte. „Without denying the existence of a relationship between the legal questions raised in the opinion […] and those arising in the litigation brought by the applicant company, the Court is unable to find that the issues involved in the opinion, having been addressed in a general and abstract manner, entailed any bias on the part of the members of the Judicial Division when they came to examine, three years later, the issues concerning the applicant company’s concrete interests in the management of the termination of its mining operations, its disused mines being numerous and in different legal situations. Under those circumstances, the advisory opinion and the subsequent proceedings involving appeals […] cannot be regarded as representing the ‚same case‘ or the ‚same decision‘ […].“2649

Da in diesem Verfahren allerdings bereits keine personelle Überschneidung der Mitglieder des Beratungsorgans und der späteren Richter vorlag, hätte es auf das Vorliegen eines „gleichen Falls“ ohnehin nicht ankommen dürfen.2650 Es ist daher zweifelhaft, ob diese Wertung des EGMR auf andere Fälle übertragen werden kann. Zusammenfassend liegt eine unzulässige Vorbefassung jedenfalls vor, wenn in beiden Verfahren über identische Rechtsfragen verhandelt wurde. Allein die Tatsache, dass das Beratungs- beziehungsweise Gesetzgebungsverfahren das gleiche Gesetz betrafen wie das Gerichtsverfahren, reicht für die Annahme eines „gleichen Falls“ jedoch noch nicht aus. Alle Grenzfälle kann man anhand dieser Rechtsprechung jedoch noch nicht entscheiden. Um Rechtsunsicherheiten im Einzelfall zu vermeiden, sollten die Konventionsstaaten die Zusammensetzung der Staatsräte in ihrer verwaltungsgerichtlichen Funktion so regeln, dass eine Beteiligung aller zuvor am Beratungsverfahren beteiligten Personen vermieden wird. (c) Die Qualität der vorherigen Befassung Besonders, wenn ein Richter als Abgeordneter tätig ist oder war, können gerechtfertigte Zweifel an der Unparteilichkeit eines Richters auch davon abhängen, 2649

EGMR Nr. 65411/01, Sacilor Lormines v Frankreich, 09.11.2006, § 74. Vgl. auch die Folgeentscheidungen, in denen der EGMR das Vorliegen eines „gleichen Falls“ nicht mehr prüfte, EGMR Nr. 39699/03, Union fédérale des Consommateurs Que Choisir de Côte d’Or v Frankreich (Zul.), 30.06.2009; Nr. 34538/08 u. a., Greneche u. a. v Frankreich (Zul.), 15.10.2013, § 24; Nr. 33014/08 u. a., Ryon u. a. v Frankreich, 15.10.2013, § 30; Nr. 32191/09, Adefdromil v Frankreich, 02.10.2014, §§ 65–66. 2650

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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welche Qualität seine Mitwirkung im Rechtsetzungsverfahren der anwendbaren Norm hatte. In Pabla Ky v Frankreich war der Expertenrichter im Rahmen seiner Abgeordnetentätigkeit überhaupt nicht mit dem Erlass oder der Änderung der im konkreten Rechtsstreit anwendbaren Normen befasst.2651 In diesem Fall waren beide hoheitlichen Tätigkeiten vereinbar. Im Fall McGonnell v Vereinigtes Königreich reichte die Beteiligung des Parlamentssprechers beziehungsweise Parlamentspräsidenten am Beschluss eines im Gerichtsverfahren streitigen Rechtsakts bereits aus, um eine konventionswidrige Vorbefassung anzunehmen. Seine im Gleichstand entscheidende Stimme musste der Deputy Bailiff im konkreten Fall nicht abgeben. Er war also am Beschluss des streitigen Rechtsakts nicht aktiv beteiligt.2652 Entscheidend für die Frage der Vorbefassung war also nicht der individuelle Beitrag des damaligen Deputy Bailiff zum Gesetzgebungsverfahren, sondern dass er formal am Beschluss des Gesetzes teilgenommen hatte.2653 Hierbei stellte der EGMR auf die unterschiedliche Mitwirkungsqualität am Rechtsetzungsverfahren von den parlamentarischen States of Deliberation und dem Staatsrat in Procola v Luxemburg ab: „[T]he States of Deliberation in Guernsey was the body which passed the regulations at issue. It can thus be seen to have had a more direct involvement with them than had the advisory panel of the Conseil d’Etat with the regulations at issue in the Procola case […].“2654

Es verwundert, dass der EGMR allein den Vorsitz in den States of Deliberation und die abstrakte Möglichkeit, durch Stimmabgabe am Gesetzesbeschluss beteiligt zu sein, ausreichen ließ, um eine Vorbefassung anzunehmen. Seiner einzelfall­ bezogenen Herangehensweise hätte es entsprochen, den tatsächlichen Einfluss des Richters auf den Erlass des konkreten Rechtsakts zu untersuchen. Da der damalige Deputy Bailiff an der Abstimmung zum streitgegenständlichen Rechtsakt nicht teilgenommen hätte, wäre hiernach eine Vorbefassung abzulehnen gewesen. Ein möglicher Erklärungsansatz liegt in der besonderen Rolle des Deputy Bailiff als Parlamentssprecher. Sollte diese herausgehobene Rolle für den EGMR – wie er andeutet2655 – entscheidend gewesen sein, dann könnte die Rechtsprechung nicht auf einfache Abgeordnete übertragen werden. Ob somit die schlichte Beteiligung eines Abgeordneten am Erlass oder der Änderung einer Norm, die in einem Gerichtsverfahren, an dem er als Richter beteiligt ist, streitentscheidend ist, zur konventionswidrigen Vorbefassung führt, ist vom EGMR bislang nicht geklärt.

2651

EGMR Nr. 47221/99, Pabla Ky v Finnland, 22.06.2004, § 33. EGMR Nr. 28488/95, McGonnell v Vereinigtes Königreich, 08.02.2000, § 55. 2653 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 143–144. 2654 EGMR Nr. 28488/95, McGonnell v Vereinigtes Königreich, 08.02.2000, § 55. 2655 Siehe das wörtliche Zitat zu Fn. 2599. 2652

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b) Im Ermittlungs- oder Anklageverfahren Das Ermittlungs- und Anklageverfahren umfasst alle Verfahrensschritte, die ein strafgerichtliches Verfahren und somit eine Entscheidung über die Schuld und möglicherweise über ein Strafmaß vorbereiten. Die Beteiligung eines Richters im Ermittlungs- und Anklageverfahren können, abhängig vom Einzelfall, seine richterliche Unparteilichkeit gefährden.2656 Aus staatsorganisatorischer Sicht ist hier das Verhältnis zwischen den für die Ermittlung und Anklage zuständigen Organen inklusive der hierfür zuständigen Gerichte und den Gerichten in der Hauptsache relevant. (1) Als Mitglied der Anklagebehörde Es ist nicht ungewöhnlich, dass Berufsrichter in einem früheren Karriereschritt als Staatsanwälte tätig waren. Das Leiturteil zu dieser Sachverhaltskonstellation ist Piersack v Belgien.2657 Der vorsitzende Richter eines Schöffengerichts war eineinhalb Jahre als Staatsanwalt in einer Führungsposition tätig gewesen. Die von ihm geleitete Abteilung hatte gegen den Beschwerdeführer ermittelt.2658 Mit Verweis auf die Verfassungstraditionen lehnte der EGMR eine grundsätzliche Unvereinbarkeit einer früheren strafermittelnden und anklagenden Tätigkeit mit einer späteren richterlichen Tätigkeit ab. „It would be going too far to the opposite extreme to maintain that former judicial officers in the public prosecutor’s department were unable to sit on the bench in every case that had been examined initially by that department, even though they had never had to deal with the case themselves. So radical a solution, based on an inflexible and formalistic conception of the unity and indivisibility of the public prosecutor’s department, would erect a virtually impenetrable barrier between that department and the bench. It would lead to an upheaval in the judicial system of several Contracting States where transfers from one of those offices to the other are a frequent occurrence. Above all, the mere fact that a judge was once a member of the public prosecutor’s department is not a reason for fearing that he lacks impartiality […].“2659

Im konkreten Fall führte jedoch die frühere Führungsposition des Richters in der Staatsanwaltschaft dazu, dass er die Befugnis gehabt hätte, persönlich auf die Strafverfolgung gegen den Beschwerdeführer Einfluss zu nehmen. Unabhängig 2656 Siehe mit vielen verschiedenen Fallgestaltungen Steinfatt, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 74–89; Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 69–74; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 564–566, 574–589. 2657 Siehe hierzu auch Esser, Strafverfahrensrecht, S. 565–566 inkl. Sachverhaltsdarstellung; Steinfatt, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 74; Kierzkowski, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 146–147. 2658 EGMR Nr. 8692/79, Piersack v Belgien, 01.10.1982, §§ 28–31. 2659 EGMR Nr. 8692/79, Piersack v Belgien, 01.10.1982, § 30 (b); dem fast wortgleich folgend EGMR Nr. 27549/02, Giuseppe Jerino’ v Italien (Zul.), 02.09.2004; knapper EGMR Nr. 54574/07, Paunović v Serbien, 03.12.2019, § 41.

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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davon, ob der Richter von dieser Möglichkeit tatsächlich Gebrauch gemacht hatte, durfte der Beschwerdeführer objektiv gerechtfertigt an der richterlichen Unparteilichkeit zweifeln.2660 Entscheidend war somit, ob der Richter in seiner früheren Position als leitender Staatsanwalt theoretisch mit dem Fall hätte befasst sein können.2661 In der Konsequenz gilt auch jeder Richter, der selbst zuvor als Staatsanwalt in einem von ihm verhandelten Verfahren entschieden hat, als vorbefasst. Der Grundgedanke, dass der Organwalter, der bereits im Vorhinein mit Ermittlung oder der Anklage befasst war, nicht als Richter in der Hauptsache auftreten darf, findet sich auch in Fall von (richterlichen) Disziplinarverfahren und bei der Militärgerichtsbarkeit wieder.2662 Hingegen führt die frühere Tätigkeit eines Richters als Staatsanwalt nicht zu einer konventionswidrigen Vorbefassung, wenn keine Berührungspunkte zwischen der früheren staatsanwaltlichen Tätigkeit des Richters und dem gerichtlichen Verfahren vorliegen und wenn der Richter den ermittelnden Staatsanwälten nicht hierarchisch übergeordnet und weisungsbefugt war.2663 (2) Als Untersuchungs- oder Haftrichter Untersuchungs- oder Haftrichter ordnen Ermittlungsmaßnahmen beziehungsweise Untersuchungshaft an. Ausgehend von den Entscheidungen de Cubber v Belgien2664 für Untersuchungsrichter sowie Hauschildt v Dänemark2665 für Haftrichter hat sich eine einheitliche Rechtsprechungslinie für die Fälle einer Vorbefassung der Richter in der Hauptsache etabliert. Verfügt ein Untersuchungsrichter über weitreichende Anordnungsbefugnisse und macht von ihnen Gebrauch, spricht dies für seine Vorbefassung im Hauptver-

2660

EGMR Nr. 8692/79, Piersack v Belgien, 01.10.1982, § 31. Diese Deutung auch bei Esser, Strafverfahrensrecht, S. 565; vgl. auch Grabenwarter /  Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn.  59. 2662 EGMR Nr. 48843/99, Cooper v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.2003, § 114 (Militärangehörige, die an der Untersuchung und Strafverfolgung beteiligt waren, durften nicht Mitglied des Militärgerichts sein; dies wurde als Argument für die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Spruchkörpers gewertet); Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 115 (Mitglieder des Disziplinarorgans untersuchten den Fall und beantragten die Entlassung des Beschwerdeführers; eine dieser vorbefassten Personen hatte den Vorsitz über die Disziplinarkammer); Nr. 18640/10 u. a., Grande Stevens u. a. v Italien, 04.03.2014, § 137; Nr. 69916/10 und 36531/11, Poposki und Duma v Mazedonien, 07.01.2016, §§ 47–48. 2663 EGMR Nr. 27549/02, Giuseppe Jerino’ v Italien (Zul.), 02.09.2004; Nr. 54574/07, Paunović v Serbien, 03.12.2019, §§ 38–41; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 564. 2664 EGMR Nr. 9186/80, De Cubber v Belgien, 26.10.1984, §§ 27–30; siehe hierzu Esser, Strafverfahrensrecht, S. 579–580; Steinfatt, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 42–43. 2665 EGMR Nr. 10486/83, Hauschildt v Dänemark (Pl.), 24.05.1989, §§ 49–53; siehe zur Vorbefassung von Untersuchungsrichtern Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 346–350; Steinfatt, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 74–89. 2661

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fahren.2666 Ordnete ein Richter eine Untersuchungshaft an, weil ein Tatverdacht vorlag, sodass die Schuldfrage noch nicht geklärt werden musste, ist er im Falle einer späteren Beteiligung am Hauptverfahren grundsätzlich unparteilich.2667 Wird jedoch deutlich, dass der Richter bereits bei der Anordnung der Untersuchungshaft von der Schuld des Angeklagten überzeugt war, durfte dieser gerechtfertigt an der richterlichen Unvoreingenommenheit zweifeln.2668 Entscheidend ist somit, ob sich der Untersuchungs- beziehungsweise Haftrichter bereits eine Meinung über die Schuld der angeklagten Person gebildet hat. Als Anhaltspunkte zieht der EGMR sowohl die innerstaatlichen Rechtsgrundlagen als auch das tatsächliche Verhalten des Untersuchungs- beziehungsweise Haftrichters heran.2669 (3) Zwischenfazit Sowohl bei der Vorbefassung im Rahmen der Strafverfolgung als auch als Untersuchungs- oder Haftrichter stellt der EGMR nicht ausschließlich auf die gesetzlichen Regelungen, sondern auch auf das tatsächliche Erscheinungsbild ab. Vorgaben für die Ausgestaltung der nationalen Rechtsordnung lassen sich somit schwierig ableiten. Die Konventionsstaaten müssen eine Rechtslage etablieren, nach der Staats­ anwälte, die mit einer Sache bereits direkt befasst waren oder als leitende Staats­ anwälte auf die Ermittlungen Einfluss hätten nehmen können, als Richter im Hauptverfahren nicht mehr zuständig sein können. Eine generelle Unvereinbarkeit einer früheren staatsanwaltlichen mit einer aktuellen richterlichen Tätigkeit lässt sich aus der EMRK jedoch nicht ableiten. Im Falle einer früheren Befassung des Strafrichters im Hauptverfahren als Untersuchungs- oder Haftrichter sind die Konventionsstaaten verpflichtet, Richter, die sich vor dem Hauptverfahren bereits über die Schuld des Angeklagten eine Meinung bilden mussten oder dies getan haben, auszuschließen. Betrifft die Befassung im Vorverfahren keine Entscheidung über die Schuld der angeklagten 2666 EGMR Nr. 9186/80, De Cubber v Belgien, 26.10.1984, § 29; Nr. 24954/94, 24971/94 und 24972/94, Tierce u. a. v San Marino, 25.07.2000, §§ 78–80. 2667 EGMR Nr. 10486/83, Hauschildt v Dänemark (Pl.), 24.05.1989, § 50; Nr. 12981/87, Sainte-Marie v Frankreich, 16.12.1992, § 33; Nr. 13924/88, Nortier v Niederlande, 24.08.1993, § 35; Nr. 30865/96, Jasiński v Polen, 20.12.2005, §§ 55–57; Nr. 68955/11, Dragojević v Kroatien, 15.01.2015, §§ 116–119; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 79. 2668 EGMR Nr. 10486/83, Hauschildt v Dänemark (Pl.), 24.05.1989, § 52; Nr. 65559/01, Nestak v Slowakei, 27.02.2007, § 101; Nr. 22875/02, Romenskiy v Russland, 13.06.2013, § 28; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 79. 2669 Steinfatt, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 89.

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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Person müssen die Konventionsstaaten die Doppelbefassung des Richters nicht per se ausschließen. Sie müssen aber Mechanismen vorsehen, wonach Richter, die im Vorverfahren zwar noch nicht über die Schuld des Angeklagten entscheiden mussten, sich dazu aber bereits eine Meinung gebildet haben, im konkreten Fall nicht im Hauptverfahren zum Einsatz kommen. c) Im Gerichtsverfahren Für die Vorbefassung in vorherigen Phasen des strafgerichtlichen Hauptverfahrens ist ebenfalls entscheidend, ob sich ein Richter bereits eine Meinung über die Schuld des Angeklagten gebildet hat.2670 Auch im Zivilprozess ist die Reichweite der bisherigen Entscheidungen relevant. Gleichen diese der Begründetheitsentscheidung im Hauptverfahren, spricht dies gegen die Unparteilichkeit. „In particular, it is necessary to consider whether the link between substantive issues determined at various stages of the proceedings is so close as to cast doubt on the impartiality of the judge participating in the decision-making at these stages […].“2671

In organisatorischer Sicht betrifft diese Fallgruppe die innerfunktionale Gewaltenteilung innerhalb der Judikative. Hat ein Richter vor der Entscheidung in der Hauptsache bereits prozessuale Entscheidungen getroffen, etwa indem er die Sache zur weiteren Ermittlung verwiesen hat oder indem er über ein Ablehnungsgesuch eines erstinstanzlichen Richters entschieden hat, schränkt dies seine Unparteilichkeit nicht ein.2672 Hingegen darf ein Rechtsmittelgericht nicht mit Richtern besetzt sein, die das vorinstanzliche Urteil gefällt haben, da sie in diesem Fall ihre eigenen Entscheidungen kontrollieren würden.2673 Verweist ein Rechtsmittelgericht eine Sache nach Aufhebung eines unterinstanzlichen Urteils zurück an das ursprüngliche Gericht oder sind immerhin teilweise die gleichen Richter beteiligt, bestehen jedoch – genauso wie bei der 2670

So zusammenfassend Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 59; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 160; Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 114. 2671 EGMR Nr. 29995/08, Toziczka v Polen, 24.07.2012, § 36; Nr. 56134/08, Korzeniak v Polen, 10.01.2017, § 50. 2672 EGMR Nr. 48799/99, Priebke v Italien, 05.04.2001; Nr. 65518/01, Salov v Ukraine, 06.09.2005, § 85 (im konkreten Fall lag jedoch aus anderen Gründen ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK vor); Nr. 11082/06 und 13772/05, Khodorkovskiy und Lebedev v Russland, 25.07.2013, §§ 539–540; Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 145. 2673 EGMR Nr. 22839/93, De Haan v Niederlande, 26.08.1997, § 51; Nr. 33771/02, Driza v Albanien, 13.11.2007, §§ 79–81; Nr. 36073/04, Fazlı Aslaner v Türkei, 04.03.2014, § 35; ähnlich EGMR Nr. 77562/01, San Leonard Band Club v Malta, 29.07.2004, § 64 (die Richter mussten ihre eigene Rechtsanwendung kontrollieren); Nr. 56134/08, Korzeniak v Polen, 10.01.2017, §§ 56–60; Nr. 36318/18, Scerri v Malta, 07.07.2020, § 78; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 163; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 93; Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 144.

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Wiederaufnahme des Verfahrens durch den gleichen Spruchkörper – keine grundsätzlichen Zweifel an der richterlichen Unparteilichkeit.2674 Die Konventionsstaaten sind somit nicht verpflichtet, in ihren Zuständigkeitsordnungen nach Aufhebung durch ein Rechtsmittelgericht einen Wechsel der ersten Instanz vorzusehen. Entscheidet ein Richter in zwei verschiedenen Gerichtszweigen über den gleichen Sachverhalt, dann liegt nur dann eine Vorbefassung vor, wenn sich die zu entscheidenden rechtlichen Fragen sehr ähneln.2675 Hat ein Richter bereits in vergleichbaren Fällen oder gegen einen Mitangeklagten in gleicher Sache entschieden, gilt er nur dann als befangen, wenn er in den früheren Verfahren bereits die Schuld des Angeklagten festgestellt hat.2676 d) Zwischenfazit Die EGMR-Rechtsprechung zur Vorbefassung ist trotz ihrer vielen verschiedenen Einzelfälle kohärent und trotz abweichender Formulierungen über alle Fallgruppen hinweg einheitlich.2677 In keinem Fall führt allein die Tatsache, dass ein Richter früher einmal eine andere hoheitliche Aufgabe ausübte, zum Verstoß gegen die richterliche Unparteilichkeit.2678 Der EGMR trifft grundsätzlich Einzelfallentscheidungen.2679 Ausschlaggebend für die Frage, ob ein bereits vorbefasster Richter im Hauptsacheverfahren (mit)entscheiden darf, ist, wie sehr er hinsichtlich der rechtlichen Fragen bereits festgelegt ist beziehungsweise wie sehr er sich bereits festgelegt haben könnte.2680 Das Kriterium des „gleichen Falls“ beziehungsweise der „glei 2674

EGMR Nr. 2614/65, Ringeisen v Österreich, 16.07.1971, § 97; Nr. 18160/91, Diennet v Frankreich, 26.09.1995, §§ 38–39; Nr. 17602/91, Thomann v Schweiz, 10.06.1996, §§ 33–37; Nr. 18306/04, Stow und Gai v Portugal (Zul.), 04.10.2005; Nr. 4455/10, Marguš v Kroatien (GK), 27.05.2014, § 86; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 93; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 108; Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 145; Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtl, S. 363 (377). 2675 EGMR Nr. 40984/07, Fatullayev v Aserbaidschan, 22.04.2010, § 139; Steinfatt, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 103; Kierzkowski, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 161–162. 2676 EGMR Nr. 75737/01, Schwarzenberger v Deutschland, 10.08.2006, § 42; Nr. 32271/04, Poppe v Niederlande, 24.03.2009, § 26; Nr. 21698/06, Kriegisch v Deutschland (Zul.), 23.11.2010; Nr. 11082/06 und 13772/05, Khodorkovskiy und Lebedev v Russland, 25.07.2013, §§ 544–557. 2677 Auch eine Unterscheidung in den Maßstäben für die Zulässigkeit verschiedener hoheit­ licher Tätigkeiten zwischen Zivilverfahren und Strafverfahren, wie Esser, Strafverfahrensrecht, S. 540 annimmt, ist nicht zu erkennen. 2678 So auch Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 160 zur Vorbefassung im Ermittlungsverfahren. 2679 So ausdrücklich in EGMR Nr. 50956/16, Pasquini v San Marino, 02.05.2019, § 148. 2680 Ausführlich zur Deutung der Rechtsprechung über die Vorbefassung in strafverfolgender oder richterlicher Tätigkeit Esser, Strafverfahrensrecht, S. 577–589; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 346–365.

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chen Entscheidung“ aus den Fällen einer legislativen Vorbefassung entspricht der Abgrenzung nach Reichweite und Natur (scope / extent and nature) in den übrigen Urteilen. Ausnahmsweise strengere Anforderungen formuliert der EGMR jedoch bei einer früheren Tätigkeit eines Richters als Staatsanwalt. Hier reicht es bereits aus, wenn der Richter als leitender Staatsanwalt nicht persönlich mit der Ermittlung befasst war, sich aber aufgrund seiner Weisungsbefugnis gegenüber den zuständigen Staatsanwälten in die Ermittlungen hätte einschalten können – unabhängig davon, ob er tatsächlich Einfluss auf die Ermittlungen genommen hat. In diesem Fall ist also keine inhaltliche Vorfestlegung erforderlich, um eine Befangenheit des Richters anzunehmen. Der EGMR erklärt somit gesetzgebende, beratende oder strafverfolgende Tätigkeiten nicht generell inkompatibel mit dem Richteramt. Er gibt den Konventionsstaaten aber einen Maßstab für die Vermischung der verschiedenen hoheitlichen Funktionen in einer Person an die Hand. Dies zeigt, dass die Unparteilichkeit von Richtern, die zuvor andere hoheitliche Aufgaben im gleichen Verfahren ausübten, einer besonders genauen Kontrolle unterliegt.2681 Mindestvoraussetzung für die Zulässigkeit der Funktionenvermischung ist eine klare organisatorische Trennung zwischen den verschiedenen Tätigkeiten.2682 Diese müssen die Konventionsstaaten in ihren Zuständigkeitsordnungen umsetzen. Darüber hinaus sind sie verpflichtet, Mechanismen zu etablieren, um vorbefasste Richter im konkreten Fall auszutauschen oder bereits nicht einem entsprechenden Fall zuzuweisen. Für die richterliche Vorbefassung in verwaltender Funktion liegen, soweit ersichtlich, keine Beispiele vor. Die Rechtsprechungsgrundsätze zur Vorbefassung können hierauf jedoch übertragen werden. Eine frühere verwaltende Tätigkeit eines Richters führt nicht per se zu dessen Befangenheit. Er darf jedoch nicht in verwaltender und rechtsprechender Funktion „den gleichen Fall“ entscheiden. Insbesondere darf er seine eigenen Rechtsanwendungsentscheidungen nicht selbst kontrollieren. Anhaltspunkte dafür, dass die strengere Rechtsprechungslinie hinsichtlich einer früheren Tätigkeit als Staatsanwalt auf eine frühere verwaltende Tätigkeit übertragen werden kann, gibt es bislang nicht.

2681 Esser, Strafverfahrensrecht, S. 563: „Wenngleich eine Aufgabenpluralität oder Funktionshäufung den gerichtlichen Charakter einer Stelle nicht per se berührt, so können sich doch gerade hier erhebliche Zweifel an ihrer objektiven Unparteilichkeit ergeben.“ 2682 Esser, Strafverfahrensrecht, S. 563 spricht bezogen auf strafrechtliche Verfahren von einer „klaren inhaltlichen Abgrenzung bei der Ausübung der verschiedenen Funktionen“. Vgl. auch Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 60, der aus seiner Analyse schließt, dass jedenfalls dann kein Problem mit der Unparteilichkeit vorliegt, wenn Beamte als Richter tätig sind, die einer anderen als der vom Prozess betroffenen Verwaltungseinheit angehören.

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2. Richterliche Voreingenommenheit Richterliche Voreingenommenheit ist der Oberbegriff für jede Form der Befangenheit eines Richters, die nicht auf eine Vorbefassung in hoheitlicher Funktion zurückgeht. Viele Formen der richterlichen Voreingenommenheit haben keine Relevanz für die innerstaatlichen Zuständigkeitsordnungen.2683 An dieser Stelle werden nur diejenigen Fälle der Voreingenommenheit betrachtet, die sich auf die Gewaltenteilung in den Konventionsstaaten auswirken. a) Richter als Partei des Rechtsstreits Sind Richter selbst von der Streitigkeit betroffen sind oder treten sie als Partei in einem Rechtsstreit auf, darf an ihrer Unparteilichkeit objektiv gerechtfertigt gezweifelt werden. (1) Richter als Antragsteller In einigen Fällen wurden Richter durch ihre hoheitlichen Funktionen zur Partei des Rechtsstreits. In Svetlana Naumenko v Ukraine legte der Gerichtspräsident einen protest gegen ein Urteil ein und entschied anschließend selbst als Mitglied des Spruchkörpers zu Lasten des Beschwerdeführers. Hier nahm der EGMR sogar einen Mangel der subjektiven Unparteilichkeit an.2684 In Volkov v Ukraine war der Richter, der den Antrag auf Entlassung des beschwerdeführenden Richters gestellt hatte, Mitglied des Disziplinarorgans.2685 Daneben sind auch Insolvenzrichter, die im laufenden Verfahren selbst Anträge stellen und anschließend darüber entscheiden, nicht unparteilich.2686 (2) Richter als geschädigte Personen Im Urteil Demicoli v Malta hatten die Beschwerdeführer in einem satirischen Kommentar Bezug auf zwei Parlamentsabgeordnete genommen. Über die durch die beiden Abgeordneten initiierte Anklage wegen übler Nachrede entschied das maltesische Repräsentantenhaus.2687 Der EGMR sprach dem Parlament zwar eine 2683

Siehe bereits für einen Überblick oben ab S. 426. EGMR Nr. 41984/98, Svetlana Naumenko v Ukraine, 09.11.2004, §§ 97–98; ähnlicher Sachverhalt bei EGMR Nr. 33771/02, Driza v Albanien, 13.11.2007, § 78; siehe auch Steinfatt, Richterliche Unparteilichkeit, S. 108. 2685 EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 115. 2686 EGMR Nr. 26760/95, Werner v Polen, 15.01.2001, §§ 41–44; Nr. 27225/05, Gajewski v Polen, 21.12.2010, §§ 42–45; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 102. 2687 EGMR Nr. 13057/87, Demicoli v Malta, 27.08.1991, §§ 10–11; hierzu Steinfatt, Richterliche Unparteilichkeit, S. 112. 2684

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rechtsprechende Funktion zu,2688 stellte aber im konkreten Fall einen Verstoß gegen den Grundsatz der Unparteilichkeit fest, weil die beiden geschädigten Abgeordneten an der gerichtlichen Entscheidung beteiligt waren.2689 (3) Contempt of Court-Verfahren Schließlich sind Richter typischerweise auch bei contempt of court-Verfahren, also Verfahren wegen Fehlverhaltens vor dem Gericht, die geschädigten Personen. Das Fehlverhalten beruht häufig auf einem persönlichen Angriff gegen die Richter oder ihr Verhalten.2690 Leiturteil hierfür ist Kyprianou v Zypern.2691 Der Beschwerdeführer hatte als prozessbeteiligter Anwalt die Art und Weise kritisiert, in der die Richter das Gerichtsverfahren führten und war deswegen zu einer Gefängnisstrafe von fünf Tagen verurteilt worden.2692 Der EGMR stellte einen seltenen Verstoß gegen die subjektive Unparteilichkeit fest,2693 verfolgte diesen Ansatz in den Folgeurteilen zu contempt of court-Verfahren aber nicht weiter.2694 Mit Verweis auf Demicoli v Malta stellte der EGMR zusätzlich eine Verletzung der objektiven Unparteilichkeit fest: „The present case relates to contempt in the face of the court, aimed at the judges personally. They had been the direct object of the applicant’s criticisms as to the manner in which they had been conducting the proceedings. The same judges then took the decision to prosecute, tried the issues arising from the applicant’s conduct, determined his guilt and imposed the 2688

EGMR Nr. 13057/87, Demicoli v Malta, 27.08.1991, § 40; zur Einordnung eines Parlaments als Gericht näher ab S. 741. 2689 EGMR Nr. 13057/87, Demicoli v Malta, 27.08.1991, §§ 41–42; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 562; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 102; Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 146; Steinfatt, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 112. 2690 EGMR Nr. 73797/01, Kyprianou v Zypern (GK), 15.12.2005, § 127; Nr. 66484/09, Mariusz Lewandowski v Polen, 03.07.2012, § 45; Nr. 44901/05, Alenka Pečnik v Slowenien, 27.09.2012, § 42; Nr. 68924/12, Słomka v Polen, 06.12.2018, § 45 (in diesem Fall stand der Richter nicht persönlich, sondern als Teil der Gerichtsbarkeit in der Kritik; dies führt aber gleichfalls zu einem Verstoß gegen die objektive Unparteilichkeit). 2691 Siehe hierzu auch Steinfatt, Richterliche Unparteilichkeit, S. 119–120. 2692 EGMR Nr. 73797/01, Kyprianou v Zypern (GK), 15.12.2005, §§ 16–18, 127. 2693 EGMR Nr. 73797/01, Kyprianou v Zypern (GK), 15.12.2005, §§ 129–133; kritisch hierzu das zustimmenden Sondervotum der Richter Bratza und Pellonpää zu EGMR Nr. 73797/01, Kyprianou v Zypern (GK), 15.12.2005. Siehe zur Prüfung der subjektiven Unparteilichkeit Steinfatt, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 119–120; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 117–118; ebenso Schabas, ECHR, Art. 6, S. 296. 2694 EGMR Nr. 66484/09, Mariusz Lewandowski v Polen, 03.07.2012, §§ 48–49 (ausschließliche Prüfung der objektiven Unparteilichkeit); Nr. 44901/05, Alenka Pečnik v Slowenien, 27.09.2012, §§ 41–42 (Prüfung der subjektiven Unparteilichkeit wurde ausdrücklich offen gelassen, Anwendung der Kyprianou-Kriterien zur objektiven Unparteilichkeit an); Nr. 68924/12, Słomka v Polen, 06.12.2018, §§ 44–52 (ausschließliche Prüfung der objektiven Unparteilichkeit); Nr. 42010/06, Deli v Moldawien, 22.10.2019, §§ 38–46 (subjektive Unparteilichkeit konnte nicht zweifelsfrei bewiesen werden, die objektive Unparteilichkeit lag nicht vor).

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sanction, in this case  a term of imprisonment. In such  a situation the confusion of roles between complainant, witness, prosecutor and judge could self-evidently prompt objectively justified fears as to the conformity of the proceedings with the time-honoured principle that no one should be a judge in his or her own cause and, consequently, as to the impartiality of the bench […].“2695

Indem der EGMR auf seine Rechtsprechung zur Vermischung der strafverfolgenden und der richterlichen Tätigkeit verwies,2696 stellte er nicht allein auf die persönliche Betroffenheit ab, sondern auch darauf, dass die Richter innerhalb eines Verfahrens verschiedene hoheitliche Aufgaben übernahmen. Am Maßstab des Urteils Demicoli v Malta hätte bereits die Tatsache, dass die persönlich angegriffenen Richter über das contempt of court-Vergehen entschieden, ausreichen müssen, um einen Verstoß gegen den Grundsatz der Unparteilichkeit festzustellen. Ob er einen veränderten Maßstab anwendete, weil im Gegensatz zur Sache Demicoli v Malta vorliegend Berufsrichter und keine Abgeordneten betroffen waren, erläuterte der EGMR nicht. In dem Urteil Chmelíř v Tschechien hob der EGMR die persönliche Betroffenheit der Richter stärker hervor. „In the Court’s opinion, it would be academic to claim that the judge was acting without any personal interest and was simply defending the court’s authority and status. In reality, courts are not impersonal institutions and operate through the intermediary of the judges on the bench. Since, in the instant case, the contempt of court was constituted by an insolent and unprecedented attack on the president of the division, this indicates that the applicant’s conduct was assessed by the judge concerned in relation to his personal understanding, his feelings, his sense of dignity and his standards of behaviour, since he felt personally targeted and insulted. Thus, his own perception and assessment of the facts and his own judgment were involved in the process of determining whether the court had been insulted in that specific case.“2697

In jüngeren Urteilen verwies der EGMR vorrangig auf die Rechtsprechung zur fehlenden Anklagevertretung im Hauptverfahren2698 und begründete den Konventionsverstoß somit mit der Doppelfunktion der Richter. Im Unterschied zu Kyprianou v Zypern entschieden die verletzten Richter in diesen Fällen allerdings auch nicht selbst über die Ordnungsmaßnahmen.2699 Die richterliche Unparteilichkeit kann in contempt of court-Verfahren also auf zwei verschiedene Weisen beeinträchtigt werden  – indem der verletzte Richter 2695

EGMR Nr. 73797/01, Kyprianou v Zypern (GK), 15.12.2005, § 127. Ähnliche und ausdrücklich Kyprianou folgende Argumentationen bei EGMR Nr. 66484/09, Mariusz Lewandowski v Polen, 03.07.2012, §§ 47–50; Nr. 44901/05, Alenka Pečnik v Slowenien, 27.09.2012, § 42; Nr. 68924/12, Słomka v Polen, 06.12.2018, §§ 45–51. 2696 EGMR Nr. 73797/01, Kyprianou v Zypern (GK), 15.12.2005, § 126. 2697 EGMR Nr. 64935/01, Chmelíř v Tschechien, 07.06.2005, § 67. 2698 Siehe hierzu ausführlich unten ab S. 749. 2699 EGMR Nr. 10644/08, Mikhaylova v Ukraine, 06.03.2018, §§ 58–60, 62–67; Nr. 42010/06, Deli v Moldawien, 22.10.2019, §§ 43–45.

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selbst entscheidet oder indem die zuständigen Richter gleichzeitig die Aufgabe der Anklage übernehmen. Durch eine entsprechende Ausgestaltung ihrer gerichtlichen Zuständigkeitsordnung können die Konventionsstaaten diese Gefährdungen der richterlichen Unparteilichkeit umgehen. Insbesondere muss ein Spruchkörper, in dem der angegriffene Richter selbst nicht Mitglied ist, über den Fall entscheiden. (4) Zwischenfazit Konventionsstaaten sind verpflichtet, ihre Zuständigkeitsordnungen so zu gestalten, dass Antragsteller in einem gerichtlichen Verfahren nicht gleichzeitig Mitglied des Spruchkörpers sein können. Ebenso müssen sie verhindern, dass die in einer Streitigkeit verletzte oder angegriffene Person selbst in der Sache entscheidet. Die Rolle des Richters muss streng von allen anderen Prozessparteien getrennt sein. b) Potenzielle Betroffenheit wegen gleicher Gefahrenlage Indes müssen die Konventionsstaaten nicht dafür sorgen, dass Richter, die sich potenziell in der Zukunft in einer vergleichbaren Situation wie eine der Prozessparteien befinden können oder die sich schon einmal in einer solchen Situation befunden haben, für den jeweiligen Fall ungeeignet sind. Diese besonderen Situationen entstehen insbesondere in Disziplinarverfahren. Für die Mitglieder der Berufungskammer einer Ärztevereinigung entschied der EGMR bereits in Debled v Belgien, dass allein die Mitgliedschaft in der berufsständischen Vereinigung oder die Möglichkeit, selbst disziplinarisch sanktioniert zu werden, der richterlichen Unparteilichkeit nicht schadet.2700 Für Disziplinarverfahren gegen Richter stellte der EGMR in Ramos Nunes de Carvalho v Portugal klar: „[T]he Court considers it normal that judges, in the performance of their judicial duties and in various contexts, should have to examine a variety of cases in the knowledge that they may themselves, at some point in their careers, be in a similar position to one of the parties, including the defendant. However, a purely abstract risk of this kind cannot be regarded as apt to cast doubt on the impartiality of a judge in the absence of specific circumstances pertaining to his or her individual situation. Even in the context of disciplinary cases a theoretical risk of this nature, consisting in the fact that judges hearing cases are themselves still subject to a set of disciplinary rules, is not in itself a sufficient basis for finding a breach of the requirements of impartiality.“2701 2700 EGMR Nr. 13839/88, Debled v Belgien, 22.09.1984, § 37; zusammenfassend Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 Rn. 165. 2701 EGMR Nr. 55391/13 u. a., Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 163; dem folgend EGMR Nr. 29295/16, Franz v Deutschland, 30.01.2020, § 75; knapper EGMR Nr. 35121/09, Yuriy Koval v Ukraine, 23.01.2020, § 143 (im Rahmen der Art. 5 Abs. 3 und 4 EMRK).

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Damit präzisierte und bestätigte der EGMR seine Rechtsprechung aus Volkov v Ukraine und Denisov v Ukraine.2702 c) Polizisten als Schöffen In den meisten Staaten des Europarats sind Polizisten gesetzlich von einer Schöffentätigkeit ausgeschlossen2703 – anders im Vereinigten Königreich. Aus den unterschiedlichen Sachverhaltskonstellationen in den Urteilen Hanif und Khan v Vereinigtes Königreich und Peter Armstrong v Vereinigtes Königreich lassen sich Anhaltspunkte für eine zulässige Beteiligung von Polizisten als Schöffen in einem Strafverfahren ermitteln. In der Sache Peter Armstrong v Vereinigtes Königreich lag keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor. Im Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer waren ein ehemaliger und ein aktiver Polizeibeamter Teil der Jury.2704 Die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit war ausreichend abgesichert, insbesondere wurde die Jury über ihre Aufgaben und die von ihr zu entscheidenden Fragen belehrt und auf die Möglichkeit hingewiesen, auf ihre eigene Befangenheit aufmerksam zu machen.2705 Das Urteil zeigt, dass die Beteiligung von Polizisten als Schöffen oder Jurymitglieder im Gerichtsverfahren nicht in besonderem Maße rechtfertigungsbedürftig ist. Die EMRK verbietet Polizisten die Tätigkeit als Schöffen also nicht grundsätzlich. Der Sachverhalt in Hanif und Khan v Vereinigtes Königreich zeigt jedoch die typische Gefahr, dass Polizisten als Schöffen schnell befangen sein können. Die Beschwerdeführer machten zwei verschiedene Aspekte geltend: einerseits die – entfernte  – persönliche Bekanntschaft und gelegentliche Zusammenarbeit des Schöffen mit den Polizisten, die im Prozess als Zeugen aussagten, und andererseits einen Streit über die Auswertung der von der Polizei vorgelegten Beweise. Beide Aspekte gemeinsam führten zu einem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK.2706 Ob einer der beiden Punkte isoliert ausgereicht hätte, um eine Befangenheit des Schöffen anzunehmen, blieb offen. Gleichwohl zeigt Hanif und Khan v Vereinigtes Königreich, dass die Beteiligung von Polizisten als Schöffen schnell dazu führen 2702 EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 130; Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, § 79; zusammenfassend EGMR Nr. 55391/13 u. a., Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, §§ 157–158. 2703 Siehe hierzu die Übersicht in EGMR Nr. 52999/08 und 61779/08, Hanif und Khan v Vereinigtes Königreich, 20.12.2011, §§ 93–125, 144, die sogar nicht-europäische Staaten einbezieht. 2704 EGMR Nr. 65282/09, Peter Armstrong v Vereinigtes Königreich, 09.12.2014, § 23. 2705 EGMR Nr. 65282/09, Peter Armstrong v Vereinigtes Königreich, 09.12.2014, §§ 39–45; die gleichen Voraussetzungen nannte der EGMR auch in EGMR Nr. 52999/08 und 61779/08, Hanif und Khan v Vereinigtes Königreich, 20.12.2011, § 143. 2706 EGMR Nr. 52999/08 und 61779/08, Hanif und Khan v Vereinigtes Königreich, 20.12.2011, §§ 130, 146–148.

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kann, dass die Unparteilichkeit des Gerichts nach seinem Erscheinungsbild bezweifelt werden darf. Während persönliche Bekanntschaften zwischen Schöffen und Polizisten bereits früh im Prozess auffallen können, stellt sich ein Streit über die Auswertung der Beweise und Indizien möglicherweise erst spät im Prozess heraus. Zu diesem Zeitpunkt kann ein Austausch von Schöffen wegen des strafgerichtlichen Unmittelbarkeitsprinzips weitreichende Folgen für den Ablauf des Prozesses haben. Insofern scheint eine Beteiligung von Polizisten als Schöffen, obwohl die EMRK sie nicht schlechthin verbietet, für die Konventionsstaaten wenig ratsam. d) Zwischenfazit Anders als im Rahmen der Vorbefassung findet sich bei der Voreingenommenheit keine einheitliche Rechtsprechungslinie mit Relevanz für die innerstaatliche Gewaltenteilung. Dies liegt daran, dass die Fälle der Voreingenommenheit grundsätzlich persönliche Eigenschaften, Beziehungen und Erfahrungen der Richter betreffen, nicht aber deren institutionelle Einbindung. Es kann aber festgehalten werden, dass Richter nicht als unparteilich gelten, wenn sie als Prozesspartei, Antragsteller oder Geschädigte ein persönliches Interesse an einem Fall haben. Richter dürfen also nicht über ihre eigenen Streitigkeiten entscheiden. Eine potenzielle eigene Betroffenheit in einer späteren Streitigkeit macht Richter hingegen nicht voreingenommen. Darüber hinaus ist eine Schöffentätigkeit von Polizisten nicht schlechthin konventionswidrig. Gleichwohl ist hierdurch die richterliche Unparteilichkeit stärker gefährdet, sodass den Konventionsstaaten eher davon abgeraten ist, Polizisten als Schöffen einzusetzen. 3. Zwischenfazit Die EMRK verpflichtet die Konventionsstaaten nicht, strenge Inkompatibilitäten des Richteramts mit anderen hoheitlichen Tätigkeiten vorzusehen. Gleichwohl können Richter für einzelne Gerichtsverfahren nicht geeignet sein. Im Falle einer hoheitlichen Vorbefassung ist entscheidend, ob ein einzelner Richter sich bereits im Rahmen einer anderen hoheitlichen Tätigkeit über die vom Gericht zu entscheidenden Fragen eine gefestigte Ansicht bilden konnte. Lediglich bei einer früheren Tätigkeit als Staatsanwalt stellt der EGMR strengere Voraussetzungen auf. Von den vielen Fällen der Vorbefassung ist insbesondere die Vorgabe, dass Richter nicht über ihre eigenen Streitigkeiten entscheiden dürfen, relevant. Die Konventionsstaaten müssen Vorkehrungen treffen, sodass vorbefasste oder voreingenommene Richter nicht Teil des zuständigen Spruchkörpers sind. Gerade Fälle der Voreingenommenheit können aber nicht im Vorhinein durch abstraktgenerelle Regelungen verhindert werden. Dann müssen die Konventionsstaaten Mechanismen zum Austausch der Richter vorsehen.

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VI. Austausch von Richtern 1. Aus organisatorischen Gründen Ein Austausch von Richtern nach Beginn des Prozesses kann aus organisatorischen Gründen erforderlich werden. Schon allein deswegen kann ein Richteraustausch gar nicht per se konventionswidrig sein.2707 Entsprechend dem formellen Organisationsvorbehalt müssen Austauschgründe und -verfahren gesetzlich vorgesehen sein.2708 Zu weit formulierte Austauschgründe müssen im Sinne der gerichtlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK ausgelegt werden.2709 Das Verfahren muss für die Prozessparteien transparent und rechtmäßig ablaufen. Dies ist zum Beispiel nicht der Fall, wenn die zeitweilige Abordnung eines Richters an ein anderes Gericht erst nachträglich gebilligt wurde.2710 Die Austauschgründe müssen erkennbar sein.2711 Schließlich darf die Auswechselung der Richter für die Prozessparteien nicht überraschend kommen.2712 Der Gestaltungsspielraum der Konventionsstaaten hinsichtlich der Zuweisung von Fällen an Spruchkörper umfasst auch die Möglichkeit, ausnahmsweise von der standardmäßigen Zuordnung abzuweichen und aus einem bestimmten Grund, zum Beispiel Ressourcen, Qualifikationen oder Interessenkonflikte, eine abweichende Zuweisung vorzunehmen. Auch die neue Zuweisung muss den Vorgaben der gerichtlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit entsprechen.2713 Der EGMR legt die gleichen Maßstäbe an wie an die Bestimmung und den Wechsel des gesamten Spruchkörpers.2714 In strafrechtlichen Verfahren ist darüber hinaus der Grundsatz der Unmittelbarkeit (principle of immediacy) zu beachten, wonach der Richter, der den Fall entscheidet, auch das Verfahren durchgeführt und insbesondere die Zeugen befragt haben muss.2715 Wird ein Richter oder ein Schöffe ausgetauscht, kann daher eine 2707 EGMR Nr. 57836/00, Mellors v Vereinigtes Königreich (Zul.), 30.01.2003; Nr. 53150/12, Cutean v Rumänien, 02.12.2014, § 61; Nr. 6962/13, Škaro v Kroatien, 06.12.2016, § 24 (alle für strafrechtliche Verfahren); Esser, Strafverfahrensrecht, S. 614.  2708 Vgl. in diesem Kontext EGMR Nr. 31264/04, Wieczorek v Polen (Zul.), 18.05.2010; Nr. 59000/08, Kontalexis v Griechenland, 31.05.2011, § 42. 2709 EGMR Nr. 62936/00, Moiseyev v Russland, 09.10.2008, §§ 181–185; Nr. 30024/02, Sutyagin v Russland, 03.05.2005, §§ 184–191; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 64–65; Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 148. 2710 EGMR Nr. 54809/07, Richert v Polen, 25.10.2011, §§ 7–14, 50. 2711 EGMR Nr. 62936/00, Moiseyev v Russland, 09.10.2008, § 181; Nr. 59000/08, Kontalexis v Griechenland, 31.05.2011, §§ 43–44. 2712 EGMR Nr. 10590/83, Barberà, Messegué und Jabardo v Spanien, 06.12.1988, §§ 71–72; hierzu Esser, Strafverfahrensrecht, S. 614–615. 2713 Siehe bereits das wörtliche Zitat zu Fn. 2489 außerdem EGMR Nr. 62936/00, Moiseyev v Russland, 09.10.2008, § 176; Nr. 30024/02, Sutyagin v Russland, 03.05.2011, § 187. 2714 Siehe hierzu bereits oben ab S. 534. 2715 EGMR Nr. 53791/11, Chernika v Ukraine, 12.03.2020, § 47.

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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erneute Beweisaufnahme erforderlich werden.2716 Ob stattdessen die Lektüre des Vernehmungsprotokolls ausreichend ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.2717 Das Unmittelbarkeitsprinzip verhindert den Austausch von Richtern nicht per se. Es gebietet aber abhängig vom konkreten Verfahren und dessen Fortschritt die Wiederholung bestimmter Verfahrensschritte. Dies kann im Extremfall dazu führen, dass das gesamte Gerichtsverfahren wiederholt werden muss. Somit verbietet der Grundsatz der Unmittelbarkeit den Austausch von Richtern auch bei fortgeschrittenen Verfahren nicht, führt aber zu weitreichenden Konsequenzen. In der Sache Wieczorek v Polen ordnete ein Unterstaatssekretär des Justizministeriums (Under-Secretary of State at the Ministry of Justice)  einen Richter kurzfristig an das für den Prozess des Beschwerdeführers zuständige Gericht ab. Der EGMR folgte dem Obersten Gericht, das keine Zweifel an der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit hatte, weil die Abordnung mit Zustimmung des Richters erfolgt war. Da das Oberste Gericht die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in seine Erwägungen einbezogen hatte und seine Auslegung nicht offenkundig rechtswidrig war, hinterfragte der EGMR das Auslegungsergebnis nicht eigenständig. Darüber hinaus lagen keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vor, dass der Richter nicht unabhängig oder unparteilich sein könnte.2718 Diese Zulässigkeitsentscheidung unterstreicht, dass Einzelfallentscheidungen der Exekutive über Zuständigkeit und Zusammensetzung der Spruchkörper nach der EMRK nicht unzulässig sind.2719 Allerdings verwundert es, dass der EGMR sich auch hinsichtlich der Beurteilung der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit auf die Auslegung des obersten nationalen Gerichts verließ. Zwar entspricht es dem allgemeinen Rechtmäßigkeitsprinzip und seiner auf das Kon 2716

EGMR Nr. 68953/01, Ceylan v Türkei (Zul.), 30.08.2005; Nr. 32489/03, Hasan Polat v Türkei, 22.09.2009, § 14; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 85. 2717 EGMR Nr. 37442/97, P. K. v Finnland (Zul.), 09.07.2002 (im konkreten Fall lag kein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK vor, weil zwar der Vorsitzende, nicht aber die drei Schöffen ausgetauscht wurden, weil die Glaubwürdigkeit des Zeugen nicht in Frage gestellt wurde und weil die Zeugenaussage nicht entscheidend für die Verurteilung war); Nr. 10075/02, Graviano v Italien, 10.02.2005, §§ 39–40 (Austausch eines von acht Richtern war nicht schädlich, weil dieser die Protokolle lesen konnte); Nr. 46221/99, Öcalan v Türkei (GK), 12.05.2005, §§ 114–118 (der Richteraustausch erfolgte so spät im Verlauf des Prozesses, dass der neue Richter an verschiedenen Anhörungen sowie einstweiligen Entscheidungen mit Bedeutung für die Entscheidung in der Hauptsache nicht beteiligt war, die anschließend nicht nachgeholt wurden; daher war Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt); Nr. 53150/12, Cutean v Rumänien, 02.12.2014, §§ 62–73 (in diesem Fall kam es maßgeblich auf die Zeugenaussagen an, die nur von den ursprünglich zuständigen Richtern gehört wurden, sodass eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vorlag); Nr. 28226/04, Çamlar v Türkei, 10.11.2015, §§ 42–45 (Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK, weil relevante Verfahrensschritte nicht wiederholt wurden); Nr. 6962/13, Škaro v Kroatien, 06.12.2016, §§ 25–31 (nur ein Richter hatte nicht alle relevanten Zeugenaussagen gehört, daher kein Verstoß). 2718 EGMR Nr. 31264/04, Wieczorek v Polen (Zul.), 18.05.2010. 2719 Siehe so bereits bezogen auf die Auswahl des zuständigen Spruchkörpers oben ab S. 534.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

ventionsrecht beschränkten Prüfungskompetenz, dass der EGMR die Einhaltung des nationalen Rechts nur ausnahmsweise prüft.2720 Unabhängigkeit und Unparteilichkeit im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK bestimmen sich jedoch nach konventionsrechtlichen Maßstäben und unterfallen daher der uneingeschränkten Kontrolle des EGMR. Indem der EGMR allein auf die Rechtmäßigkeit abstellte, beraubte er sich seiner effektiven Kontrollmöglichkeit. Das einzige inhaltliche Argument des Obersten Gerichts, dass die Abordnung mit Zustimmung des betroffenen Richters erfolgt ist, sollte nicht ausreichen, um dessen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit anzunehmen. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Justizministerium oder eine andere exekutive Stelle den Richter auf informellem Weg beeinflusst hat, sodass sich dieser genötigt sah, der Abordnung formal zuzustimmen. In Wieczorek v Polen stellte der EGMR somit die nach innerstaat­lichen Maßstäben beurteilte Rechtmäßigkeit in den Vordergrund und legte weniger Wert auf die konventionsrechtlichen Maßstäbe der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Das Urteil Haarde v Island zeigt, dass im Einzelfall ein gesetzlich vorgesehener Austausch von (Laien-)Richtern die gerichtliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit stärker gefährden kann als die Beibehaltung der ursprünglichen Besetzung. Im Amtsenthebungsverfahren gegen den ehemaligen isländischen Premierminister waren acht von fünfzehn Richtern des Court of Impeachment Laien und wurden vom Parlament für eine bestimmte Amtszeit ernannt. Ihnen wurde eine besondere Expertise in politischen Angelegenheiten zugesprochen.2721 Weil die Amtszeit der Laienrichter im vorgerichtlichen Verfahren geendet hätte, änderte das Parlament das relevante Gesetz, sodass die Amtszeit der Laienrichter für das restliche Verfahren gegen den Beschwerdeführer verlängert wurde. „While Parliament thereby intervened in relation to the composition of the court, the Court considers that the measure was, in the circumstances, fully justified. The only alternative to the action chosen was to appoint new lay judges. As, effectively, they would have been appointed specifically for the case at hand, their participation could have given rise to justifiable doubts with regard to independence and impartiality. Conversely, the lay judges already sitting on the Court of Impeachment had been appointed years before the relevant events of the case took place and before the proceedings against the applicant started. Furthermore, there had been parliamentary elections in the meantime and the sitting lay judges had thus not been appointed by the same Parliament that had decided to prosecute the applicant. Finally, in regard to the applicant’s assertion that Parliament may have opted to prolong the term of the sitting lay judges because the Court of Impeachment had so far ruled predominantly in favour of the prosecution, the Court finds that no evidence has been presented which would give reason to believe that the lay judges, or the court as a whole, had acted in a biased manner.“2722

Um eine Politisierung der Neubesetzung zu verhindern, akzeptierte der EGMR die Verlängerung der richterlichen Amtszeit. Während in manchen Fällen eine 2720

Siehe hierzu bereits ab S. 302. EGMR Nr. 66847/12, Haarde v Island, 23.11.2017, §§ 105–106. 2722 EGMR Nr. 66847/12, Haarde v Island, 23.11.2017, § 107. 2721

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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Veränderung der richterlichen Besetzung geboten scheint, war hier gerade das Gegenteil notwendig, um ein Höchstmaß an richterlicher Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu gewährleisten. 2. Wegen richterlicher Vorbefassung oder Voreingenommenheit Ist ein Richter ausnahmsweise befangen, sieht der EGMR verschiedene Konsequenzen vor. Ist der befangene Richter Teil eines größeren Spruchkörpers, der einstimmig über das Urteil entschieden hat, führt seine Beteiligung nicht zu einem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK.2723 Sind jedoch zu viele Richter eines Spruchkörpers nicht unparteilich,2724 oder hatte der befangene Richter eine leitende Rolle im Gerichtsverfahren,2725 liegt ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK vor. Für die Anforderungen an die innerstaatliche Gewaltenteilung der Konventionsstaaten kann eine genaue Auseinandersetzung mit der Frage, wie sich die fehlende Unparteilichkeit eines Richters auf die Unparteilichkeit des gesamten Spruchkörpers auswirkt, unterbleiben. Die Frage, ob ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unparteilichkeit eine Konventionsverletzung nach sich zieht, ist primär aus konventionsrechtlicher Perspektive relevant, nicht aber für die Ausgestaltung der innerstaatlichen Zuständigkeitsordnung. Die Konventionsstaaten müssen in jedem Fall darauf hinwirken, dass Richter, sobald sie befangen sind, nicht mehr über den konkreten Rechtsstreit entscheiden. Sobald Richter sich selbst in einer Sache für nicht unabhängig oder nicht unparteilich halten, wird von ihnen erwartet, sich aus dem konkreten Fall zurückzuziehen.2726 Wird ein von Richtern selbst vorgeschlagener Rückzug von den entscheidungsbefugten Stellen jedoch abgelehnt, weil diese keine Anhaltspunkte für eine fehlende Unparteilichkeit erkennen, dann verstößt dies nicht gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK.2727 In einem nicht eindeutigen Fall sind die Richter verpflichtet, die Parteien zu informieren, damit diese die Möglichkeit haben, einen Befangenheitsantrag stellen.2728 Darüber hinaus müssen die Konventionsstaaten dafür sorgen, dass die Parteien eine fehlende richterliche Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit geltend machen können. Die Konventionsstaaten sind verpflichtet, entsprechende Verfahren zu etablieren und dadurch die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu schützen. Die Ausgestaltung des Befangenheitsverfahrens liegt im Gestaltungs 2723 EGMR Nr. 16812/17, Rustavi 2 Broadcasting Company Ltd u. a. v Georgien, 18.07.2019, § 363 m. w. N. 2724 EGMR Nr. 33771/02, Driza v Albanien, 13.11.2007, § 81. 2725 EGMR Nr. 38715/06, Cardona Serrat v Spanien, 26.10.2010, § 37; Nr. 36073/04, Fazlı Aslaner v Türkei, 04.03.2014, § 39 m. w. N. 2726 Siehe bereits die Nachweise in Fn. 1964. 2727 EGMR Nr. 68955/11, Dragojević v Kroatien, 15.01.2015, §§ 120–122. 2728 EGMR Nr. 41382/17, Sigríður Elín Sigfúsdóttir v Island, 25.02.2020, § 35.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

spielraum der Konventionsstaaten. Die Wirksamkeit dieser Verfahren bezieht der EGMR aber als einen Aspekt in seine Gesamtbeurteilung der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit ein.2729 Über die Befangenheitsbeschwerde muss inklusive aller vorgebrachten Argumente2730 in einem unabhängigen Verfahren entschieden werden.2731 Lehnt das zuständige, konventionskonforme Gericht den Befangenheitsantrag ab, ist den Anforderungen der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit Genüge getan.2732 Wird der Antrag auf Überprüfung der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit jedoch nicht beachtet oder mit generellen Formulierungen ohne Bezug zum Einzelfall abgetan, liegt eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK vor.2733 Betreffen die Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit Schöffen oder Jurymitglieder in einem Strafverfahren, dann ist der zuständige Berufsrichter verpflichtet, durch geeignete Maßnahmen wie eine erneute Belehrung der Zeugen deren Tauglichkeit für den Prozess sicherzustellen. Ein Austausch von Schöffen und Jurymitgliedern ist erst dann erforderlich, wenn die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit auf keine andere Weise sichergestellt werden kann.2734 3. Zwischenfazit Sobald das gerichtliche Verfahren begonnen hat, ist ein Austausch von Richtern aus dem Spruchkörper grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig. Die gesetzlich definierten sachlichen Gründe begrenzen das Ermessen der für einen Austausch zuständigen Organe. Sind die sachlichen Austauschgründe in der innerstaatlichen Rechtsordnung zu allgemein formuliert, müssen sie im Lichte der Konvention eng ausgelegt werden. Ein Austausch ohne sachlichen Grund weckt die Befürchtung, dass unzulässig Einfluss auf das Verfahren genommen werden soll. Die innerstaatlichen Regelungen zum Austausch von Richtern müssen dem Spannungsverhältnis gerecht werden, dass die Beständigkeit der Kammer die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit fördert, dass in einigen Fällen ein Richtertausch aber nicht zu vermeiden ist. In anderen Fällen, das zeigt Haarde v Island, führt gerade der Austausch von Richtern dazu, dass das Erscheinungsbild des Gerichts nicht mehr unabhängig ist. 2729

EGMR Nr. 16839/90, Remli v Frankreich, 23.04.1996, §§ 47–48; Nr. 71615/01, Mežnarić v Kroatien, 15.07.2005, § 27; Nr. 17056/06, Micallef v Malta (GK), 15.10.2009, § 99; Nr. 58688/11, Harabin v Slowakei, 20.11.2012, § 132; Nr. 50956/16, Pasquini v San Marino, 02.05.2019, § 144; Nr. 54574/07, Paunović v Serbien, 03.12.2019, § 36; Nr. 58138/09, Mikhail Mironov v Russland, 06.10.2020, § 28. 2730 EGMR Nr. 58688/11, Harabin v Slowakei, 20.11.2012, § 136. 2731 EGMR Nr. 16839/90, Remli v Frankreich, 23.04.1996, § 48; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 158; Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 142. 2732 EGMR Nr. 8162/13, Biagioli v San Marino (Zul.), 08.07.2014, § 85. 2733 EGMR Nr. 8921/05, Igor Kabanov v Russland, 03.02.2011, § 43; Nr. 88/05, Danilov v Russland, 01.12.2020, § 100. 2734 Siehe hierzu bereits oben ab S. 515–516.

D.  Anforderungen an die Ernennung und die Zuweisung eines Richters  

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Darüber hinaus müssen die innerstaatlichen Rechtsordnungen die Möglichkeit für die Prozessbeteiligten enthalten, selbst eine fehlende Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit geltend zu machen. Über entsprechende Anträge muss in einem gesetzlich vorgesehenen und seinerseits unabhängigen und unparteilichen Verfahren entschieden werden, das zum Austausch der Richter führt, sofern die Zweifel begründet waren. Zusammenfassend sind die Konventionsstaaten verpflichtet, durch geeignete Verfahrensvorschriften zum Austausch von Richtern die gerichtliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu sichern.

VII. Fazit Richter können nicht nur Menschen mit juristischer Ausbildung sein. Der EGMR erkannte auch fachliche Experten, Berufsangehörige und politische Amtsträger in Disziplinarverfahren sowie Schöffen oder Jurymitglieder als Richter an. Bislang hat der EGMR keine Person oder Personengruppe von der richterlichen Tätigkeit ausgeschlossen. Unklar ist bislang, ob – abgesehen vom Sonderfall der Militärgerichtsbarkeit – auch ausnahmslos mit Laien besetzte Spruchkörper ein Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK sein können. Jedenfalls fördert die Beteiligung eines Berufsrichters oder einer Person mit juristischer Ausbildung die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des gesamten Spruchkörpers. In Schöffengerichten kommt dem Berufsrichter die Aufgabe zu, durch Anleitung der Schöffen einen unabhängigen und unparteilichen Prozess sicherzustellen. Bei der Gestaltung des Verfahrens zur Auswahl und Ernennung von Richtern verfügen die Konventionsstaaten über einen weiten Gestaltungsspielraum. Nicht jeder Richter muss formal und dauerhaft ernannt werden. Richter dürfen auch für einzelne Verfahren bestimmt werden und müssen ihrer Richtertätigkeit nicht hauptberuflich nachkommen. Der EGMR hat kein Organ per se vom Ernennungsverfahren ausgeschlossen und formuliert auch keine verpflichtenden Ernennungskriterien oder -verfahren. Entscheidend ist vielmehr, wie das Verhältnis zwischen Ernennungsorgan und Richtern nach dem Ernennungsverfahren, also während der richterlichen Tätigkeit ausgestaltet ist und ob die Ernennungsorgane also Einfluss auf die richterlichen Entscheidungen nehmen können. Allein die Wahl des Ernennungsorgans oder die Gestaltung des Ernennungsverfahrens führte bislang nicht zum Verstoß gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit. Waren jedoch exekutive Organe an der Ernennung beteiligt, wertet der EGMR dies als Indiz gegen die richterliche Unabhängigkeit. Zwingende Anforderungen an die innerstaatliche Gewaltenteilung lassen sich hieraus jedoch nicht ableiten. Ebenso wenig macht die EMRK weitreichende Vorgaben für die Zuweisung einzelner Verfahren zu bestimmten Spruchkörpern. Die EMRK erlaubt sowohl eine abstrakt-generelle Zuweisung als auch gesetzlich vorgesehene Einzelfallent-

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

scheidungen. Strengere Vorgaben gelten jedoch für den Austausch des Spruchkörpers während des laufenden Verfahrens. Austauschgründe müssen gesetzlich vorgesehen sein und auf einer objektiven Notwendigkeit beruhen. Somit müssen die innerstaatlichen Parlamente die Austauschverfahren jedenfalls in ihren Grundzügen regeln. Nimmt das Organ, das über die Zusammensetzung des Spruchkörpers entscheidet, aber gleichzeitig die Rolle einer Prozesspartei ein, spricht dies gegen ein unabhängiges und unparteiliches Erscheinungsbild der ausgewählten Richter. Die EMRK verlangt also eine strenge Trennung zwischen den für die Besetzung des Gerichts zuständigen Organen und den Prozessparteien. Hingegen verbietet die EMRK nicht, dass Interessenverbände an der Auswahl von Richtern beteiligt sind. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass gegenläufige Interessen gleichstark vertreten sind und dass die Richter nicht gemeinsam ein Interesse vertreten, das dem Interesse einer Prozesspartei entgegensteht. Auch für den Austausch eines Richters während des laufenden Verfahrens muss ein sachlicher Grund vorliegen. Ein Austausch kann aus organisatorischen Gründen notwendig werden oder weil ein Richter befangen ist. Die Konventionsstaaten sind verpflichtet, den Prozessparteien eine Möglichkeit einzuräumen, ein Verfahren zum Austausch eines befangenen Richters anzustrengen. In welchen Fällen ein Richter befangen, also persönlich vorbefasst oder voreingenommen ist, ergibt sich aus der Unparteilichkeitsrechtsprechung. Nicht alle Fälle der persönlichen Voreingenommenheit betreffen aus sich heraus die innerstaatliche Gewaltenteilung. Sie begründen aber jedenfalls eine konventionsstaatliche Austauschverpflichtung. Ist ein Richter gleichzeitig Partei des Rechtsstreits, gilt er als voreingenommen. Insofern besteht eine Parallele zur Rechtsprechung, nach der auch Organe, die über die Zusammensetzung eines Spruchkörpers entscheiden, nicht gleichzeitig Prozesspartei sein dürfen. Die Konventionsstaaten sind verpflichtet, die Rolle der Richter von allen anderen Prozessbeteiligten und anderen hoheitlichen Gewalten zu trennen. Die Rechtsprechung zur Vorbefassung in hoheitlicher Tätigkeit zeigt, dass sich aus Art. 6 Abs. 1 EMRK keine generellen Inkompatibilitäten der richterlichen mit anderen hoheitlichen Tätigkeiten ergeben. Entscheidend ist, ob sich der Richter in früheren Verfahren bereits eine vorgefestigte Meinung über die zu entscheidenden Fragen gebildet hat und ob die Qualität der Vorbefassung ausreichend war, um eine Gefährdung der Unparteilichkeit annehmen zu können. Im Falle einer vorherigen Tätigkeit als Staatsanwalt reicht es jedoch bereits aus, wenn der Richter als leitender Staatsanwalt unabhängig von tatsächlichen Aktionen die Möglichkeit gehabt hätte, steuernd in die Ermittlungen einzugreifen. Zusammenfassend dienen die materiellen und verfahrensrechtlichen Vorgaben für die Ernennung der Richter, ihrer Zuweisung zum konkreten Fall und der Zusammensetzung der einzelnen Spruchkörper der Herstellung und Erhaltung der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit.

E. Die richterlichen Statusrechte  

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E. Die richterlichen Statusrechte  Richterliche Statusrechte dienen nicht den Richtern als Privatpersonen, sondern dem Schutz des richterlichen Amtes und damit der Gewährleistung eines wirksamen Rechtsschutzes gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK. Die Anforderungen an die institutionelle Stellung der Richter ergeben sich vorrangig aus der Rechtsprechung zur Unabhängigkeit. Die Definition der richterlichen Unabhängigkeit verlangt von den Konventionsstaaten, eine weisungsfreie richterliche Tätigkeit für die Dauer der vorgesehenen Amtszeit ohne Sorge vor einer vorzeitigen Absetzung zu gewährleisten.2735 Eine Verletzung dieser Statusrechte wird vor dem EGMR in der Regel nicht von den Richtern selbst geltend gemacht, sondern von Prozessparteien innerstaatlicher Gerichtsverfahren. Als Konvention bürgerlicher Freiheiten bietet die EMRK den Richtern über Art. 6 EMRK keine Möglichkeit, ihre eigenen Statusrechte einzuklagen. Daneben prüft der EGMR im Rahmen eines Eingriffs in das Recht auf Zugang zum Gericht, ob die Konventionsstaaten zum Schutz der richterlichen Unabhängigkeit eine richterliche Immunität einrichten dürfen. Die richterlichen Statusrechte betreffen die personelle Gewaltenteilung, da sie vorgeben, wie die Rolle des Richters in den Konventionsstaaten ausgestaltet sein muss, um eine unabhängige und funktionsfähige Gerichtsbarkeit sicherzustellen.

I. Freiheit von Weisungen und gezielter Einflussnahme Gerichte müssen ihre Entscheidung allein auf gesetzlicher Grundlage treffen.2736 Ein Element der richterlichen Unabhängigkeit sind daher Schutzmechanismen vor äußerem Druck (the existence of guarantees / safeguards against outside pressures)2737 durch exekutive,2738 legislative2739 oder andere judikative2740 Organe.

2735

Siehe das wörtliche Zitat zu Fn. 1938. Siehe hierzu bereits die Nachweise in Fn. 1868. 2737 Siehe die Nachweise in Fn. 1938. 2738 EGMR Nr. 7819/77 und 7878/77, Campbell und Fell v Vereinigtes Königreich, 28.06.1984, § 78; Nr. 23614/08, Henryk Urban and Ryszard Urban v Polen, 30.11.2010, § 45; Nr. 33530/06, Pohoska v Polen, 10.01.2012, § 34; Nr. 2312/08 und 34179/08, Maktouf und Damjanović v Bosnien und Herzegowina, 18.07.2013, § 49; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 48; Kühne, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 296 (2009); Meyer, in: Karpenstein / Mayer, Art. 6 Rn. 53; Schabas, ECHR, Art. 6, S. 294. 2739 Im Rahmen der allgemeinen Unabhängigkeitsdefinition EGMR Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 289. 2740 Beispielhaft EGMR Nr. 65518/01, Salov v Ukraine, 06.09.2005, §§ 83–86; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 75; Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 141. 2736

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Die Weisungsfreiheit schützt die Richter vor inhaltlicher Einflussnahme auf ihre Entscheidungen. Sie verlangt einerseits die faktische Zurückhaltung aller hoheitlichen Organe gegenüber Richtern und andererseits Gesetze, die anderen Organen und Prozessparteien verbieten, sich einzumischen oder Druck auszuüben.2741 Die richterliche Weisungsfreiheit begrenzt die institutionelle Interaktion, indem sie andere hoheitliche Organe von einer Mitwirkung an der gerichtlichen Entscheidung ausschließt, und ist damit ein Aspekt der Gewaltenteilung. Die Beachtung der Weisungsfreiheit durch die innerstaatlichen hoheitlichen Organe stellt der EGMR als ein Aspekt in die Gesamtbeurteilung einer richterlichen Unabhängigkeit ein. Der Begriff der Weisungsfreiheit2742 als Schutzmechanismus vor Druck und Einflussnahme ist weit zu verstehen. Gemeint ist nicht nur der Schutz vor tatsächlichen Weisungen im engeren Sinne, also vor verpflichtenden Anweisungen innerhalb eines hierarchischen Abhängigkeitsverhältnisses. Solche Fälle, in denen ein offensichtlicher Verstoß gegen den Grundsatz der richterlichen Unparteilichkeit vorläge, kommen in der EGMR-Rechtsprechung, soweit ersichtlich, nicht vor. Die Eingliederung eines Richters in ein Abhängigkeitsverhältnis ist auch ohne tatsächliche Weisung ein für die richterliche Unabhängigkeit relevanter Aspekt. Gleiches gilt für sonstige Formen der direkten Einflussnahme auf Richter, etwa im Wege öffentlicher Äußerungen. 1. Freiheit vor Beeinflussung durch exekutive und legislative Organe In vielen europäischen Verfassungssystemen ist eine Interaktion zwischen Judikative und Exekutive angelegt  – sei es durch Ernennungsverfahren, Disziplinarverfahren oder die Einrichtung eines Richterrates, der als Organ der Gerichtsverwaltung zur Exekutive gezählt werden kann und nicht selten mit exekutiven Amtsträgern besetzt ist. Neben diesen in den Rechtsordnungen angelegten Interaktionsformen können exekutive Organe informell und tatsächlich auf den Inhalt eines Urteils Einfluss nehmen. Aufgrund der vielfältigen exekutiven Handlungsmöglichkeiten besteht ein besonderes Bedürfnis, die Gerichte vor exekutivem Einfluss zu schützen.2743 Dies wird auch durch die vielen verschiedenen Fallkonstella 2741 Vgl. Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 107: „[D]ie Richter [müssen] strukturellen Schutz gegen sachwidrige äußere Einflussnahmen insbesondere durch den Staat genießen.“ 2742 Mit diesem Begriff im vorliegenden Kontext auch etwa Grabenwarter / Pabel, in: Dörr /  Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn.  51; Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 53; Kühne, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 304 (2009); Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 52; ­Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtel, S. 363 (373–374); Steinfatt, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 130 spricht hingegen von „Einflussnahme“. 2743 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 110–113; vgl. auch Ress, Separation of Powers and the Function of the Judiciary, in: Barcellona / Carrino, I diritti umani, S.187 (207), wonach die Frage, wie frei Richter von Instruktionen der Exekutive sind, stets die entscheidende Frage der Gewaltenteilung war.

E. Die richterlichen Statusrechte  

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tionen deutlich, in denen der EGMR bereits über eine unzulässige Einflussnahme durch ein exekutives Organ entscheiden musste. Fälle, in denen Organwalter der Legislative versuchen, Einfluss auf gerichtliche Entscheidungen zu nehmen, sind in der EGMR-Rechtsprechung seltener zu finden. In den Sachen Agrokompleks v Ukraine, Sovtransavto Holding v Ukraine und Kinský v Tschechien wirkten jedoch sowohl exekutive als auch legislative Organwalter auf die Richter ein. Der EGMR legte einheitliche Maßstäbe für Einflussnahmen durch politische Organwalter an und differenzierte nicht, von wem die Einflussnahme ausging.2744 a) Inhaltliche Aufforderung, ein Urteil mit bestimmtem Inhalt zu sprechen Äußern sich Mitglieder der Exekutive oder der Legislative vor der gerichtlichen Entscheidung dazu, wie eine anhängige Streitigkeit entschieden werden sollte, ist dies die direkteste Form der Einflussnahme. Exekutive oder legislative Organwalter können die Richter persönlich oder schriftlich ansprechen oder sich öffentlich über die Medien äußern. (1) Direkte Aufforderung an die Richter In der Sache Sovtransavto Holding v Ukraine forderten sowohl die Parlamentssprecher als auch der ukrainische Staatspräsident die Richter auf, bei der Entscheidung eines Rechtsstreits die Interessen der ukrainischen Bevölkerung und des Staates zu wahren. Hierdurch stellten sich auf die Seite des Prozessgegners des beschwerdeführenden Unternehmens.2745 „[T]he Court can but note that the Ukrainian authorities acting at the highest level intervened in the proceedings on a number of occasions. Whatever the reasons advanced by the Government to justify such interventions, the Court considers that, in view of their content and the manner in which they were made […], they were ipso facto incompatible with the notion of an ‚independent and impartial tribunal‘ within the meaning of Article 6 § 1 of the Convention.

2744

EGMR Nr. 48553/99, Sovtransavto Holding v Ukraine, 25.07.2002, §§ 18, 22, 80; Nr. 23465/03, Agrokompleks v Ukraine, 06.10.2011, §§ 130–134; Nr. 42856/06, Kinský v Tschechien, 09.02.2012, §§ 86–94. 2745 EGMR Nr. 48553/99, Sovtransavto Holding v Ukraine, 25.07.2002, §§ 18, 22; zum Urteil auch Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 52–53; Steinfatt, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 131; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 249; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 110; Ress, Separation of Powers and the Function of the Judiciary, in: Barcellona / Carrino, I diritti umani, S.187 (210); Background paper for the Judicial Seminar 2018: The Authority of the Judiciary (Fn. 464), S. 4–5. Daneben betraf Sovtransavto Holding v Ukraine auch die Bindungswirkung gerichtlicher Urteile, siehe bereits ab S. 490.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

The Court sees no reason to speculate on what effect such interventions may have had on the course of the proceedings in issue, but finds that in the circumstances of the present case the applicant company’s concerns as to the independence and impartiality of the tribunals were not unreasonable. Coming from the executive branch of the State, such interventions nonetheless reveal a lack of respect for judicial office itself.“2746

Ohne zu untersuchen, ob sich die Einflussnahme auf das Urteil ausgewirkt hatte, führte der Versuch einer inhaltlichen Beeinflussung der Richter ipso facto zu einem Konventionsverstoß. Anders als sonst im Rahmen der Unabhängigkeit üblich, prüfte der EGMR keine weiteren Elemente des Unabhängigkeitsbegriffs, etwa das Ernennungsverfahren oder die Amtszeit und Unabsetzbarkeit, um alle Erwägungen in eine Gesamtabwägung einzustellen. Die gesetzlichen Schutzmechanismen der richterlichen Unabhängigkeit in der innerstaatlichen Rechtsordnung waren in diesem deutlichen Fall unerheblich. Der EGMR wiederholte dieses Vorgehen in der Sache Agrokompleks v Ukraine. In einem Rechtsstreit zwischen dem beschwerdeführenden Unternehmen und einem sich mehrheitlich in staatlicher Hand befindlichen Öl-Unternehmen mischten sich mehrfach, teils auf Initiative des beklagten Öl-Unternehmens, Vertreter der Legislative und der Exekutive ein. Der stellvertretende Parlamentssprecher, der Premierminister sowie weitere Mitglieder der Regierung und der State Property Fund wandten sich insbesondere an den Präsidenten des zuständigen Higher Arbitration Courts.2747 Außerdem war der Gerichtspräsident verpflichtet, die politischen Organe schriftlich über den Stand des Verfahrens zu informieren und tat dies auch.2748 Die Urteilsbegründung in Agrokompleks setzte diesen Sachverhalt in Zusammenhang mit der Gewaltenteilung.2749 Erneut ordnete der Gerichtshof jeden Versuch eines politischen Organwalters, sich direkt in das Gerichtsverfahren einzumischen, als Verstoß gegen die richterliche Unabhängigkeit ein.2750 Auch die Tatsache, dass ein Urteil gegen das staatliche Öl-Unternehmen eine große finanzielle und infrastrukturelle Relevanz für den Staat hatte, rechtfertigte keine Einmischung in den Prozess.2751 „The Court emphasises in this connection that the scope of the State’s obligation to ensure a trial by an ‚independent and impartial tribunal‘ under Article  6 § 1 of the Convention is 2746

EGMR Nr. 48553/99, Sovtransavto Holding v Ukraine, 25.07.2002, § 80. EGMR Nr. 23465/03, Agrokompleks v Ukraine, 06.10.2011, §§ 28–29, 34–35, 42, 51, 60, 74. 2748 EGMR Nr. 23465/03, Agrokompleks v Ukraine, 06.10.2011, §§ 43, 56, 63. Außerdem veranlasste die Regierung auch in diesem Fall eine Neuüberprüfung des bereits rechtskräftigen Urteils, siehe zu dieser Fallgruppe bereits oben ab S. 491. 2749 EGMR Nr. 23465/03, Agrokompleks v Ukraine, 06.10.2011, §§ 131–132. 2750 EGMR Nr. 23465/03, Agrokompleks v Ukraine, 06.10.2011, §§ 133–134; als Aspekt der Weisungsfreiheit eingeordnet auch bei Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 111–112; Wojtyczek, ERPL 32 (2020), S. 185 (205–206). 2751 EGMR Nr. 23465/03, Agrokompleks v Ukraine, 06.10.2011, § 135. 2747

E. Die richterlichen Statusrechte  

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not limited to the judiciary. It also implies obligations on the executive, the legislature and any other State authority, regardless of its level, to respect and abide by the judgments and decisions of the courts, even when they do not agree with them. Thus, the State’s respecting the authority of the courts is an indispensable precondition for public confidence in the courts and, more broadly, for the rule of law. For this to be the case, the constitutional safeguards of the independence and impartiality of the judiciary do not suffice. They must be effectively incorporated into everyday administrative attitudes and practices.“2752

In Sovtransavto Holding v Ukraine und Agrokompleks v Ukraine forderte der EGMR den Respekt aller politischen Organe für die unabhängige Gerichtsbarkeit insbesondere bei faktischem und informellem Handeln ein.2753 Um die unabhängigen, rechtsstaatlichen Gerichtsverfahren vor politischer Einflussnahme zu schützen, zog der EGMR eine absolute Grenze für exekutives und legislatives Handeln: Die Exekutive und die Legislative dürfen sich nicht durch Äußerungen während des Verfahrens in die Urteilsfindung der Gerichte einmischen. Liegen solche Äußerungen vor, können gesetzliche Schutzmechanismen wie eine gesetzliche Garantie der Weisungsfreiheit oder der Unabsetzbarkeit den Zweifel an der richterlichen Unabhängigkeit nicht mehr aufheben, da das faktische Handeln der politischen Organe den Eindruck vermittelt, dass die Gerichtsbarkeit als verlängerter Arm der politischen Organe agiert.2754 Von dieser Rechtsprechung ist der EGMR bisher nicht abgewichen. Allerdings zeigen die Folgeurteile, dass dieser unheilbare Verstoß gegen die richterliche Unabhängigkeit nur unter strengen Voraussetzungen vorliegt. In der Zulässigkeitsentscheidung Agrotehservice v Ukraine traf das zuständige nationale Gericht trotz mehrfacher Einflussnahme durch exekutive Organe eine Entscheidung zugunsten des beschwerdeführenden Unternehmens. Diesem fehlte somit die Opfereigenschaft im Sinne des Art. 34 EMRK, sodass die Beschwerde unzulässig war.2755 Auch wenn der EGMR in Sovtransavto v Ukraine nicht prüfte, ob sich die Einflussnahme auf das Urteil ausgewirkt hatte, so lässt er dennoch nicht außer Acht, wenn eindeutig feststeht, dass kein Nachteil für die Prozessparteien vorliegt. In anderen Fällen reichten dem EGMR die Beweise für die Einflussnahme nicht aus.2756

2752

EGMR Nr. 23465/03, Agrokompleks v Ukraine, 06.10.2011, § 136. Background paper for the Judicial Seminar 2018: The Authority of the Judiciary (Fn. 464), S. 4 erwähnt die Sovtransavto-Entscheidung ebenfalls im Kontext eines lack of respect for judicial office. Ress, Separation of Powers and the Function of the Judiciary, in: Barcellona / Carrino, I diritti umani, S.187 (210) weist darauf hin, dass die Art der Einflussnahme nicht zwingend öffentlich ablaufen muss. Auch ein Telefonanruf ist unzulässig. 2754 Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 53 begrüßt dieses Vorgehen des EGMR. 2755 EGMR Nr. 62608/00, Agrotehservis v Ukraine (Zul.), 19.10.2004. 2756 EGMR Nr. 30475/03, Moldovahidromaş v Moldawien (Zul.), 04.04.2006; ebenso bei EGMR Nr. 33556/07, 34734/07 und 34740/07, Linkevičienė u. a. v Litauen (Zul.), 20.07.2017, § 85, wo es allerdings nicht um die Beeinflussbarkeit eines Richters, sondern eines Prosecutor Generals ging. 2753

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Teilweise ließ der EGMR die Entscheidung, ob eine unzulässige Einflussnahme vorlag, auch offen, weil aus anderen Gründen einen Konventionsverstoß vorlag.2757 Zusammenfassend verstößt der Versuch legislativer und exekutiver Organe, sich in die gerichtliche Urteilsfindung einzumischen, ohne Abwägung weiterer Aspekte der gerichtlichen Unabhängigkeit gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK, wenn die Einflussnahme ausreichend bewiesen ist und hierdurch ein Nachteil für die Prozessparteien nicht ausgeschlossen ist. (2) Öffentliche Äußerungen von Regierungsmitgliedern zu laufenden Prozessen In der Sache Kinský v Tschechien äußerten sich der Premierminister, der Kulturminister, der Präsident und verschiedene Abgeordnete öffentlich zum Verfahren und kritisierten die vorinstanzlichen Entscheidungen.2758 Zusätzlich forderte das Justizministerium die Richter auf, regelmäßig über den Stand des Verfahrens zu unterrichten.2759 Der EGMR folgte seiner Linie der Sovtransavto Holding-Rechtsprechung und spekulierte nicht darüber, ob die Äußerungen den Ausgang des Verfahrens tatsächlich beeinflusst hatten. Auch in Gerichtsverfahren, die wegen ihrer potenziell hohen finanziellen Belastung des Staatshaushalts aus Folgeverfahren legitimerweise das politische Interesse weckten, durften Politiker es nicht an Respekt für die gerichtlichen Entscheidungen fehlen lassen. Daher waren die Bedenken des Beschwerdeführers hinsichtlich der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts nicht unbegründet (the applicant’s concerns […] were not un­ reasonable).2760 Außerdem stufte der EGMR die Aufforderung des Justizministeriums als besorgniserregend ein. Das Justizministerium durfte zwar nach innerstaatlichem Recht von den Gerichten Informationen sammeln, um den Ablauf der Verfahren in Bezug auf die Würde des richterlichen Verhaltens und der richterlichen Ethik zu evaluieren sowie um unnötige Verzögerungen zu verhindern. Vorliegend begründete das Justizministerium die Berichtspflichten allerdings mit dem großen medialen Interesse am Verfahren und verlangte zu weitgehende Auskünfte. Gleichzeitig lag die Disziplinargewalt über die Richter beim Justizministerium. Die Tatsache, dass es kein Indiz dafür gab, dass das Justizministerium die Auskünfte sachwidrig

2757

EGMR Nr. 16695/04, Gazeta Ukraina-Tsentr v Ukraine, 15.07.2010, §§ 26, 33; Nr. 53427/09, Cosmos Maritime Trading and Shipping Agency v Ukraine, 27.06.2019, §§ 24, 76. 2758 EGMR Nr. 42856/06, Kinský v Tschechien, 09.02.2012, §§ 14–21; zu diesem Urteil auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 111–113. 2759 EGMR Nr. 42856/06, Kinský v Tschechien, 09.02.2012, §§ 22–26. 2760 EGMR Nr. 42856/06, Kinský v Tschechien, 09.02.2012, §§ 90–94.

E. Die richterlichen Statusrechte  

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verwendete, war für den EGMR unerheblich.2761 In der Gesamtbetrachtung aller Aspekte durfte der Beschwerdeführer gerechtfertigt an der richterlichen Unparteilichkeit zweifeln.2762 Ob die öffentlichen Äußerungen der politischen Organwalter isoliert zu einer Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK geführt hätten, blieb somit noch offen. Im Urteil Ivanovski v Mazedonien klärte der EGMR diese Frage im Sinne der Sovtransavto-Rechtsprechung. Das beschwerdegegenständliche innerstaatliche Gerichtsverfahren betraf die Entlassung des beschwerdeführenden Verfassungsgerichtspräsidenten aufgrund eines Lustrationsverfahrens, also eine politische Angelegenheit. Der Premierminister in seiner Funktion als Vorsitzender der Regierungspartei hatte den Beschwerdeführer während des laufenden Verfahrens in einem offenen Brief, gestützt auf die ersten Ergebnisse der Lustrationskommission, als Kollaborateur des Geheimdienstes des früheren Regimes bezeichnet.2763 Weil das Lustrationsverfahren zulasten des Beschwerdeführers ausging und Inhalt und Art und Weise der Einmischung des Premierministers ipso facto mit dem Verständnis eines unabhängigen und unparteilichen Gerichts unvereinbar waren, lag kein unparteiliches Erscheinungsbild mehr vor. Die Auswirkungen der Äußerungen auf das Verfahren waren erneut unerheblich.2764 In Fällen, in denen Richter eindeutig nicht im Sinne der öffentlichen Äußerungen entschieden, besteht genauso wie bei direkten Einflussnahmen auf die Richter, kein objektiv gerechtfertigter Anlass an der richterlichen Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit zu zweifeln.2765 Außerdem beeinträchtigen nur solche öffentlichen Äußerungen die richterliche Unabhängigkeit, die sich auf ein konkretes aktuelles Gerichtsverfahren beziehen. Aussagen politischer Organwalter, die zwar im Zusammenhang mit Gerichtsverfahren stehen, aber ein allgemeines politisches Problem betreffen, verstoßen nicht gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK.2766 Zusammenfassend beurteilt der EGMR mediale Äußerungen politischer Organwalter zu laufenden Gerichtsverfahren genauso wie eine an die Richter persönlich gerichtete Aufforderung. Sofern ausreichend Nachweise über Art und Inhalt der Äußerung vorliegen und das Verfahren zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgeht, ist die richterliche Unabhängigkeit ohne weiteres beeinträchtigt. Ein Nach 2761

EGMR Nr. 42856/06, Kinský v Tschechien, 09.02.2012, §§ 95–98. EGMR Nr. 42856/06, Kinský v Tschechien, 09.02.2012, § 99. Auch in der Sache EGMR Nr. 10640/05, Industrial Financial Consortium Investment Metallurgical Union v Ukraine, 26.06.2018 nahm der EGMR eine Gesamtbetrachtung vor, sodass die öffentlichen Stellungnahmen von Präsident und Premierminister nicht der einzige Grund für die Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK waren, §§ 164–165, 167–168. 2763 EGMR Nr. 29908/11, Ivanovski v Mazedonien, 21.01.2016, §§ 146, 32. 2764 EGMR Nr. 29908/11, Ivanovski v Mazedonien, 21.01.2016, § 147. 2765 EGMR Nr. 77938/11, Dimitrov u. a. v Bulgarien, 01.07.2014, §§ 162–163, 90; Nr. 21218/12, Čivinskaitė v Litauen, 15.09.2020, § 136. 2766 EGMR Nr. 21218/12, Čivinskaitė v Litauen, 15.09.2020, §§ 133–134; Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 296. 2762

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

weis über unzulässige Versuche der Einflussnahme über die Medien dürfte einfacher zu beweisen sein als eine persönliche Korrespondenz zwischen Richtern und politischen Organwaltern. (3) Aufforderung an die zuständige Behörde, das Urteil nicht umzusetzen In mehreren Urteilen gegen Rumänien entschied der EGMR über Fälle, in denen Regierungsorgane die zuständigen Verwaltungsbehörden aufforderten, Urteile eines bestimmten Inhalts nicht umzusetzen. Der EGMR löste die Fälle nicht über die Umsetzungsverpflichtung, weil der rumänische Präsident die Anweisung zur Nicht-Umsetzung bereits erteilte, bevor das Urteil gesprochen wurde. Die Beschwerdeführer machten geltend, dass das zuständige Gericht seine Rechtsprechung aufgrund der Aussicht, dass das Urteil nicht umgesetzt würde, geändert habe.2767 „La Cour note que les déclarations du Président de la Roumanie, sans doute critiques à l’égard du pouvoir judiciaire, s’adressaient en premier lieu à l’administration chargée d’exécuter les décisions de justice et non pas aux tribunaux. Or, rien ne permet à la Cour de conclure qu’en l’espèce ses déclarations auraient influencé les juges de la Cour suprême qui ont statué dans l’affaire des requérantes.“2768

In der Sovtransavto-Rechtsprechungslinie verlangte der EGMR nur einen Beweis für die an die Richter gerichteten Äußerungen der politischen Organe, nicht jedoch dafür, dass die Einflussnahme sich tatsächlich auf das Urteil ausgewirkt hatte. In den Urteilen gegen Rumänien verlangte der EGMR einen solchen Kausalitätsnachweis jedoch.2769 Dieser wird von den Beschwerdeführern in der Regel nicht geführt werden können, da eine Änderung der Rechtsprechung immer auch aus rechtlichen Erwägungen erfolgen kann.2770 Diese unterschiedliche Herangehensweise könnte damit erklärt werden, dass die Einflussnahme durch die an die Umsetzungsorgane gerichtete Aufforderung

2767

EGMR Nr. 32943/96, Falcoianu u. a. v Rumänien, 09.07.2002, §§ 35, 37; Nr. 29053/95, Ciobanu v Rumänien, 16.07.2002, § 42; Nr. 29769/96, Curutiu v Rumänien, 22.10.2002, § 42; Nr. 33176/96, Mosteanu u. a. v Rumänien, 26.11.2002, § 39; Nr. 31551/96, Stoicescu v Rumänien, 04.03.2003, § 29; Nr. 36017/97, Dickmann v Rumänien, 22.07.2003, § 40; hierzu Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 53–54; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 252. 2768 EGMR Nr. 32943/96, Falcoianu u. a. v Rumänien, 09.07.2002, § 37; ebenso EGMR Nr. 29053/95, Ciobanu v Rumänien, 16.07.2002, § 44; Nr. 29769/96, Curutiu v Rumänien, 22.10.2002, § 44; Nr. 33176/96, Mosteanu u. a. v Rumänien, 26.11.2002, § 42; Nr. 31551/96, Stoicescu v Rumänien, 04.03.2003, § 31; Nr. 36017/97, Dickmann v Rumänien, 22.07.2003, §§ 40, 42, zusammenfassend Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 141. 2769 Diese Deutung auch bei Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 252, der den EGMR als zu nachsichtig kritisiert. Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unabhängigkeit, S. 54. 2770 Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 252.

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weniger unmittelbar war. Richter direkt anzusprechen stuft der EGMR offensichtlich als größere Gefahr für die richterliche Unabhängigkeit ein, als ihnen lediglich in Aussicht zu stellen, dass ihre Urteile nicht umgesetzt werden.2771 (4) Zwischenfazit Die EMRK verlangt von den politischen Organen, sich mit Äußerungen zu laufenden gerichtlichen Verfahren zurückzuhalten. Inhaltliche Einflussnahmen auf die Richter beeinträchtigen die gerichtliche Unabhängigkeit2772 unabhängig davon, ob die Richter persönlich angesprochen werden oder ob sich Politiker öffentlich über die Medien äußern. Ausgehend vom Leiturteil Sovtransavto Holding v Ukraine ist ein Gericht nicht mehr unabhängig, wenn ein ausreichender Nachweis für den Versuch einer Einflussnahme vorliegt und das Urteil zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgegangen ist. Der Beweis ist im Falle einer direkten Äußerung gegenüber dem Richter in der Regel schwieriger zu erbringen. Der Angriff auf die richterliche Unabhängigkeit ist so schwer, dass gesetzliche Sicherungsmechanismen diese nicht ausgleichen können. Der EGMR stellt die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK also fest, ohne alle Aspekte der richterlichen Unabhängigkeit in eine Gesamtschau einzustellen. Sofern hohe politische Amtsträger von den Umsetzungsbehörden verlangen, ein Urteil nicht umzusetzen, liegt ein Verstoß gegen die Grundsätze der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nur dann vor, wenn nachgewiesen werden kann, dass sich die Äußerungen tatsächlich auf die Urteile ausgewirkt haben. In diesem Fall ist die richterliche Unabhängigkeit also weniger stark gefährdet. Anders als bei der Beteiligung von legislativen und exekutiven Organen am richterlichen Ernennungsverfahren unterscheidet der EGMR im Fall der direkten Einflussnahme auf die richterliche Tätigkeit nicht zwischen legislativen und exekutiven Organen. Er fordert von allen politischen Organen gleichermaßen Zurückhaltung.

2771 Kritisch hierzu Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unabhängigkeit, S. 54, die im Fall Falcoianu als erwiesen ansieht, dass sich die Anordnung zur Nichtumsetzung auf das Urteil auswirkte. 2772 Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 52; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn.  51; Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 53 („Entscheidungsautonomie“); Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 247 (instructions or even recommendations); vgl. auch Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 141.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

b) Weisungs- und Abhängigkeitsverhältnisse Die Weisungsfreiheit ist auch betroffen, wenn Richter zu einer Prozesspartei oder einem Disziplinarorgan in einem hoheitlichen Abhängigkeitsverhältnis stehen. Werden Laien, Beamte oder Militärangehörige als Richter tätig, können sie nicht nur wie Berufsrichter in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Disziplinarorganen stehen, sondern wegen ihrer parallelen nicht-richterlichen auch zu anderen hoheitlichen Organen. Die Gewaltenteilung ist sowohl bei einem Weisungsverhältnis zwischen Richter und Ernennungs- beziehungsweise Disziplinarorgan betroffen als auch bei einem Weisungsverhältnis zwischen Richter und Prozesspartei. Einerseits wird die Weisungsfreiheit als richterliches Statusrecht näher definiert. Andererseits werden die Verhältnisse der Richter zu anderen hoheitlichen Organen näher ausgestaltet. Soweit ersichtlich, betreffen die bisher vom EGMR entschiedenen Fälle zum Weisungs- und Hierarchieverhältnis ausschließlich Organe der Exekutive, nicht der Legislative. (1) Zwischen Richter und Ernennungs- beziehungsweise Disziplinarorgan Obwohl die Unabhängigkeitsdefinition das Ernennungsverfahren als eines von vier Elementen in ständiger Rechtsprechung wiederholt, konnte in dieser Arbeit bereits gezeigt werden, dass Ernennungsorgan und -verfahren alleine nur geringe Auswirkungen auf die richterliche Unabhängigkeit haben.2773 Der EGMR betrachtet vorrangig, in welchem Verhältnis die Richter während ihrer Amtszeit zu anderen hoheitlichen Organen stehen. Nach der richterlichen Ernennung können vorrangig die Disziplinarorgane in einer Position sein, Druck auf Richter auszuüben. Denkbar ist auch ein Abhängigkeitsverhältnis zu hoheitlichen Organen, die Richter beurteilen, über ihre Beförderung oder im Fall einer zeitlich begrenzten und erneuerbaren Amtszeit über die Fortsetzung ihrer richterlichen Tätigkeit entscheiden. Werden Spruchkörper für ein bestimmtes Verfahren zusammengesetzt, kann sich auch ein Weisungsverhältnis auch zwischen den Richtern und dem Auswahlorgan bestehen. (a) Berufsrichter Allein die Tatsache, dass ein Exekutivorgan ein richterliches Disziplinarverfahren eröffnen darf, führt nicht zu einem Verstoß gegen die richterliche Unabhängigkeit.2774 Sofern die Gründe für die Absetzung eines Richters gesetzlich geregelt 2773 2774

Siehe bereits das Zwischenfazit auf S. 530. EGMR Nr. 41211/98, Iovchev v Bulgarien (Zul.), 18.11.2004.

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und konventionskonform sind, das zuständige Exekutivorgan seine Entscheidung begründen muss und eine Entlassungsentscheidung gerichtlich überprüfbar ist, wird die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht gefährdet.2775 Die Weisungsfreiheit steht also in einem engen Zusammenhang zur Unabsetzbarkeit. Darüber hinaus verlangt der EGMR sowohl für eine versuchte Einflussnahme durch die Ernennungs- als auch durch Disziplinarorgane Nachweise, welche die Beschwerdeführer häufig nicht erbringen konnten.2776 Beispielhaft sei auf das Urteil Flux v Moldawien Nr. 2 verwiesen.2777 Der umstrittene Richter war von der parlamentarischen Fraktion der Kommunistischen Partei zum Präsidenten eines Regionalgerichts ernannt worden. Anschließend entschied der Richter in verschiedenen Verleumdungsprozessen immer zugunsten des Fraktionsvorsitzenden ebenjener Partei, obwohl er die als Voraussetzung einer zulässigen Klage notwendigen Gerichtsgebühren nicht gezahlt hatte und bei den Gerichtsverfahren nicht anwesend war. Wenige Jahre später wurde der Richter vom Regionalgericht unmittelbar zum Obersten Gericht befördert.2778 Nach den innerstaatlichen gesetzlichen Regelungen war der Richter während seiner gesetzlich festgelegten Amtszeit unabsetzbar. Eine inhaltliche Beeinflussung des Richters durch die Kommunistische Partei oder das Parlament konnte die beschwerdeführende Zeitung nicht beweisen.2779 Der EGMR argumentierte formal auf Grundlage der gesetzlichen Regelungen. Dass der Inhalt der richterlichen Entscheidungen in Kombination mit der ungewöhnlich zügigen Beförderung darauf hindeutete, dass der Richter voreingenommen war, reichte dem EGMR nicht aus.2780 In der Sache Baş v Türkei war der Justizminister Mitglied des Council of Judges und Prosecutors, er durfte den Richtern aber keine Weisungen erteilen und die Richter waren dem Justizminister nicht hierarchisch untergeordnet.2781 „In so far as the applicant alleged that the executive controlled the judiciary in general – either because judges gave decisions along similar lines to statements by the executive, or because sanctions were imposed on them (transfers or reassignments) for adopting particular decisions or for supporting the YARSAV trade union for judges and prosecutors  – the Court notes

2775

So der Fall in EGMR Nr. 23695/02, Clarke v Vereinigtes Königreich (Zul.), 25.08.2005. Siehe genauer hierzu ab S. 620. 2776 EGMR Nr. 28972/95, Ninn-Hansen v Dänemark (Zul.), 18.05.1999; Nr. 57861/00, Absandze v Georgien (Zul.), 15.10.2002; Nr. 10526/02, Filippini v San Marino (Zul.), 26.08.2003; Nr. 75117/01, Majorana v Italien (Zul.), 26.05.2005; Nr. 38240/02, Zolotas v Griechenland, 02.06.2005, § 26; Nr. 23695/02, Clarke v Vereinigtes Königreich (Zul.), 25.08.2005; Nr. 26986/03, Galstyan v Armenien, 15.11.2007, § 62; Nr. 66847/12, Haarde v Island, 23.11.2017, § 105. 2777 Siehe hierzu Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 45–46. 2778 EGMR Nr. 31001/03, Flux v Moldawien Nr. 2, 03.07.2007, § 24. 2779 EGMR Nr. 31001/03, Flux v Moldawien Nr. 2, 03.07.2007, §§ 26–27. 2780 Kritisch dazu Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 46 sowie das abweichende Sondervotum zu EGMR Nr. 31001/03, Flux v Moldawien Nr. 2, 03.07.2007, § 14. 2781 EGMR Nr. 66448/17, Baş v Türkei, 03.03.2020, § 274.

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that this amounts to criticism of the judiciary in general, and not of the magistrates’ courts specifically. It should be emphasised in this connection that in the context of the present case, the Court’s task is to examine whether the magistrates who ordered the applicant’s initial and continued detention and those who examined his applications for release and his objections were independent and impartial.“2782

Der Beschwerdeführer konnte keinen Zusammenhang zwischen Äußerungen exekutiver Organwalter und den richterlichen Haftprüfungsentscheidungen beziehungsweise zwischen der Haftprüfung und den anschließenden Versetzungen der zuständigen Richter darlegen. Er berief sich auf Stellungnahmen und Berichte, insbesondere von der Venedig-Kommission, über generelle Defizite richterlicher Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in Teilen des türkischen Gerichtssystems. Dies reichte dem EGMR jedoch aus, um im Einzelfall einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 4 EMRK anzunehmen.2783 Eine Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit wegen des Verhältnisses der Richter zu ihren Ernennungs- oder Disziplinarorganen beurteilt der EGMR formal auf Grundlage der gesetzlichen Regelungen.2784 Sind die gesetz­ lichen Schutzmechanismen ausreichend, ist eine Beschwerde nur begründet, wenn die Beschwerdeführer – wie bereits beschrieben – tatsächliche Einflussnahmen auf die Richter im konkreten Fall belegen können.2785 Die tatsächlichen Verhältnisse in den Konventionsstaaten lässt der EGMR außer Acht, selbst wenn strukturelle Zweifel an der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines gesamten innerstaatlichen Gerichtssystems bestehen. Indem der EGMR auf seine auf Einzelfallentscheidungen beschränkte Kompetenz verweist, entgeht er dem Vorwurf von ultra vires-Handeln. Gleichzeitig verzichtet er aber darauf, strukturelle Beeinträchtigungen der richterlichen Unabhängigkeit aufzudecken und hierdurch zu einer rechtsstaatlichen Entwicklung beizutragen. (b) Laienrichter, insbesondere Beamte Laienrichter üben neben ihrer richterlichen Tätigkeit typischerweise einen weiteren Beruf aus. Gefährdungen für die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit ergeben sich nicht nur aus ihrer häufig fehlenden juristischen Ausbildung2786, sondern auch aus ihren dienstlichen Verhältnissen zu anderen Hoheitsorganen. 2782

EGMR Nr. 66448/17, Baş v Türkei, 03.03.2020, § 275. EGMR Nr. 66448/17, Baş v Türkei, 03.03.2020, §§ 276–278. Diesbezüglich war die Beschwerde daher offensichtlich unbegründet, EGMR Nr. 66448/17, Baş v Türkei, 03.03.2020, § 281. Jedoch lag eine Verletzung des Rechts auf Haftprüfung gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK vor, weil der Beschwerdeführer zu lange auf die Haftprüfung warten musste, EGMR Nr. 66448/17, Baş v Türkei, 03.03.2020, §§ 211–231. 2784 Hierzu kritisch Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 42: Gesetzliche Garantien sagen noch nichts über den tatsächlich praktischen Schutz aus. 2785 Siehe hierzu bereits ab S. 591. 2786 Siehe hierzu bereits oben ab S. 511. 2783

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Gerade wenn Beamte als Laienrichter tätig sind, kann ihre Einordnung in eine exekutive Weisungshierarchie ihrer richterlichen Unabhängigkeit entgegenstehen.2787 In der Sache Ettl v Österreich waren der Landesagrarsenat und der Oberste Agrarsenat (Provincial and Supreme Land Reform Board)  mehrheitlich mit  – zum Teil in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehenden  – Beamten besetzt.2788 Die Einordnung der Beamten in die hierarchische exekutive Organisationsstruktur schadete ihrer richterlichen Unabhängigkeit nicht, weil die weisungsbefugten Behörden nicht als Partei am Prozess beteiligt waren. Damit erteilte der EGMR der noch von der EKMR in der gleichen Sache vertretenen organisatorischen Argumentation2789 eine Absage. Im konkreten Fall lagen keine Anhaltspunkte für eine unzulässige Einflussnahme vor und die richterliche Tätigkeit der Beamten war gesetzlich vor Weisungen geschützt. Daher lag keine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK vor.2790 Spätere, ebenfalls Österreich betreffende EGMR-Entscheidungen bestätigten, dass eine Beteiligung von Verwaltungsbeamten in gerichtlichen Organen nicht konventionswidrig ist, sofern ihre richterliche Tätigkeit ausreichend vor Einflussnahme geschützt ist.2791 Das aktuelle Urteil Grace Gatt v Malta stellt das Gegenbeispiel zu Ettl v Österreich dar. In diesem Fall war ein polizeiliches Disziplinarorgan mit Polizisten besetzt, die dem für die ad hoc-Ernennung zuständigen Commissioner of Police hierarchisch untergeordnet und unmittelbar weisungsgebunden waren. Außerdem unterstanden die Polizisten auch im Rahmen ihrer richterlichen Tätigkeit der polizeilichen Disziplinargewalt und der Beurteilung ihrer Leistung durch den Commissioner of Police. Diese Organisationsstruktur der polizeilichen Diszipli 2787 Gleiches gilt für Militärangehörige, die Mitglieder von Militärgerichten sind. Wegen des besonderen Charakters der Militärgerichtsbarkeit wird auf das besondere militärische Weisungsverhältnis an anderer Stelle eingegangen, siehe ab S. 715. 2788 Drei Beamte bekleideten ihr Amt als Experten, also Laienrichter, aber auch die Vorsitzenden der Senate und die Berichterstatter waren Beamte, EGMR Nr. 9273/81, Ettl u. a. v Österreich, 23.04.1987, § 35; zu diesem Urteil auch Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 32–33; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 145–147; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 279; Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 59. Auch in dem deutlich früheren Urteil EGMR Nr. 2614/65, Ringeisen v Österreich, 16.07.1971, § 97 lag bei Beteiligung von Beamten keine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK vor. Diese Entscheidung ist aber nicht als Referenzfall geeignet, da die Begründung sehr knapp ausfiel. 2789 EKMR Nr. 9273/81, Ettl u. a. v Österreich (Rep.), 03.07.1985, Ser. B, 100-A, §§ 95–100. 2790 EGMR Nr. 9273/81, Ettl u. a. v Österreich, 23.04.1987, §§ 38–39; mit dieser Schlussfolgerung auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 146–147. 2791 EGMR Nr. 67950/01, Rozsa v Österreich (Zul.), 06.04.2004; Nr. 30003/02, Stojakovic v Österreich, 09.11.2006, §§ 27, 49–50; Nr. 17169/96, Feller v Österreich (Zul.), 04.02.2010; siehe auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 145; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 279; Rainey / McCormick / Ovey, Jacobs, White, and Ovey, S. 303; Kosař / Lixinski, AJIL 190 (2015), S. 713 (727–728); Ress, Separation of Powers and the Function of the Judiciary, in: ­Barcellona / Carrino, I diritti umani, S. 187 (205); anderer Ansicht wohl Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 59, der die Ettl-Rechtsprechung des EGMR kritisiert. Siehe für weitere Urteile zu österreichischen Verwaltungskammern Fn. 2356.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

narkammer rechtfertigte objektive Zweifel des Beschwerdeführers an der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit.2792 Auch in Fällen gegen die Slowakei, Tschechien und Polen stellte der EGMR eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK fest, weil Angestellte der lokalen und regionalen Behörden von der Exekutive als Richter ernannt wurden und zusätzlich keine gesetzlichen Garantien gegen äußere Einflussnahme vorlagen.2793 Ob sich das Weisungsverhältnis der Laienrichter auf ihre Unabhängigkeit auswirkt, beurteilt der EGMR also auf Grundlage der gesetzlichen Regelungen. Unklar ist, wie sich die Begründung des EGMR in der Sache Belilos v Schweiz in diese Rechtsprechung einfügt. In Frage stand die Gerichtsqualität des Police Boards, das geringe Vergehen bestrafen durfte und mit einem juristisch ausgebildeten Polizisten des höheren Dienstes (senior civil servant) besetzt war. Dieser entschied in persönlicher Kapazität und unterlag im Rahmen seiner richterlichen Tätigkeit keinen Weisungen. Es bestand die Möglichkeit, dass er in der Zukunft wieder in den Polizeidienst zurückkehren würde.2794 „The ordinary citizen will tend to see him as a member of the police force subordinate to his superiors and loyal to his colleagues. A situation of this kind may undermine the confidence which must be inspired by the courts in a democratic society.“2795

Allein die Zugehörigkeit zur Polizei und die absehbare Rückkehr in eine exekutive Funktion reichten dem EGMR aus, um Zweifel an der Unabhängigkeit und der organisatorischen Unparteilichkeit gerechtfertigt erscheinen zu lassen und somit einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK anzunehmen.2796 Die gesetzlichen Sicherungsmechanismen der Unabsetzbarkeit und der Weisungsfreiheit konnten den tatsächlichen Eindruck der fehlenden Unparteilichkeit nicht ausgleichen. In dieser Sache legte der EGMR den Fokus auf das Erscheinungsbild und stellte nicht allein auf die gesetzlichen Regelungen ab. Aufgelöst hat der Gerichtshof diesen Widerspruch nicht. Da Belilos v Schweiz aber vor allen anderen Urteilen zur richterlichen Unabhängigkeit von Beamten entschieden wurde, kann davon ausgegangen werden, dass sich die Rechtsprechung seitdem weiterentwickelt hat. Nach aktueller Rechtsprechungslage ist allein auf die gesetzlichen Schutzmechanismen zur richterlichen Unabhängigkeit abzustellen. Einen besonderen Fall musste der EGMR in der Sache Woś v Polen entscheiden. Umstritten war die Gerichtsqualität von Organen der Stiftung „Polnisch-Deutsche Aussöhnung“. Die Mitglieder der Streitentscheidungsorgane wurden vom Vorstand (management board) und vom Aufsichtsrat (supervisory board), deren Mitglieder ihrerseits in freiem Ermessen von der Regierung ernannt. Die Regierung kontrollierte außerdem die Tätigkeiten der Stiftung. Die Mitglieder der Streitentschei 2792

EGMR Nr. 46466/16, Grace Gatt v Malta, 08.10.2019, §§ 83–85. Siehe bereits die Nachweise in Fn. 2438. 2794 EGMR Nr. 10328/83, Belilos v Schweiz (Pl.), 29.04.1988, §§ 16–19, 65–67. 2795 EGMR Nr. 10328/83, Belilos v Schweiz (Pl.), 29.04.1988, § 67. 2796 EGMR Nr. 10328/83, Belilos v Schweiz (Pl.), 29.04.1988, § 67. 2793

E. Die richterlichen Statusrechte  

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dungsorgane hatten keine Amtszeit und es gab keine gesetzlich vorgeschriebene Prozessordnung.2797 Selbst wenn in diesem Fall die Ernennung nicht unmittelbar durch die Regierung erfolgte, lagen dem EGMR keine ausreichenden gesetzlichen Sicherungsmechanismen vor, um die Streitentscheidungsorgane als unabhängig einzuordnen. Dieses Urteil zeigt, dass auch mittelbare Abhängigkeitsverhältnisse nach Art. 6 Abs. 1 EMRK rechtfertigungsbedürftig sind. (2) Zwischen Richter und Partei Bedenken gegen die richterliche Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit liegen auch vor, wenn der Richter in einem Abhängigkeitsverhältnis zu einer der Prozessparteien steht oder stand. Richter können ein dienstliches Interesse am Ausgang eines Verfahrens haben, wenn sie eine der beteiligten Parteien zuvor im gleichen oder einem anderen Verfahren vertreten haben.2798 Gleiches ist der Fall, wenn ein Professor in einem Verfahren gegen seine eigene Universität zu Gericht sitzt.2799 In diesen Fällen ist die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit beeinträchtigt. Die Konventionsstaaten müssen organisatorische Vorkehrungen dafür treffen, dass die Richter nicht im Lager einer Prozesspartei stehen. Liegt die Tätigkeit des Richters für eine Prozesspartei jedoch bereits einige Jahre zurück, sind Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht mehr gefährdet.2800 Besteht das (ehemalige) dienstliche Verhältnis des Richters zu einem privaten Mandanten, Auftraggeber oder Unternehmen, hat die EGMR-Rechtsprechung mit Ausnahme der Anforderung, dass die nationale Rechtsordnung einen Mechanismus für den Austausch eines voreingenommenen Richters vorsehen muss,2801 keine Relevanz für die innerstaatliche Gewaltenteilung. Relevant sind hingegen Fallgestaltungen, in denen Richter in einem Weisungs- oder Abhängigkeitsverhältnis zu einer hoheitlichen Prozesspartei stehen. Die betrifft besonders Beamte mit richterlichen Aufgaben. In der Grundsatzentscheidung Sramek v Österreich2802 war ein Beamter als Berichterstatter Teil des streitgegenständlichen Spruchkörpers. Sein Vorgesetzter, der Transaction Officer, vertrat die Landesregierung im Prozess. Zwar gab es keine Hinweise dafür, dass der Transaction Officer versuchte, auf den Bericht 2797

EGMR Nr. 22860/02, Woś v Polen, 06.08.2006, § 94. EGMR Nr. 33958/96, Wettstein v Schweiz, 21.12.2000, §§ 45–50; Nr. 71615/01, Mežnarić v Kroatien, 15.07.2005, §§ 34–37; Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 146. 2799 EGMR Nr. 62435/00, Pescador Valero v Spanien, 17.06.2003, §§ 27–29; Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 146. 2800 EGMR Nr. 37372/97, Walston v Norwegen (Zul.), 11.12.2001; Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 146. 2801 Siehe hierzu bereits oben ab S. 585. 2802 Zu diesem Urteil Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 59; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 278. 2798

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

erstatter Einfluss zu nehmen. Eine solche Möglichkeit war auch gesetzlich nicht vorgesehen.2803 „Nonetheless, the Court cannot confine itself to looking at the consequences which the subordinate status of the rapporteur vis-à-vis the Transactions Officer might have had as a matter of fact. In order to determine whether a tribunal can be considered to be independent as required by Article 6 […], appearances may also be of importance […]. Where, as in the present case, a tribunal’s members include a person who is in a subordinate position, in terms of his duties and the organisation of his service, vis-à-vis one of the parties, litigants may entertain a legitimate doubt about that person’s independence. Such a situation seriously affects the confidence which the courts must inspire in a democratic society […].“2804

Ausschlaggebend für die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK waren somit nicht die unzureichenden gesetzlichen Schutzmechanismen der richterlichen Unabhängigkeit, sondern das Verhältnis zwischen Richter und hoheitlicher Prozesspartei im Einzelfall.2805 Damit folgte der EGMR nicht der organisatorischen Argumentation des Sondervotums, das einen strukturellen Mangel der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit annahm, weil Beamte in ihrer exekutiven Tätigkeit dafür verantwortlich waren, das anwendbare Recht nach den Vorgaben der Regierung anzuwenden und auszugestalten.2806 In der Sache Sacilor Lormines2807 wurde einer der zuständigen Richter nach der Beratung des Urteils zum Generalsekretär des Wirtschaftsministeriums ernannt. Das Ministerium war als Gegner des beschwerdeführenden Unternehmens an der Streitigkeit beteiligt.2808 Der EGMR ging davon aus, dass der Richter und das Wirtschaftsministerium bereits während des gerichtlichen Verfahrens über den Wechsel verhandelt hatten. Daher lehnte der EGMR ein neutrales und damit unparteiliches Erscheinungsbild des Richters ab.2809 Hieraus darf jedoch nicht geschlossen werden, dass bereits die Bewerbung eines Richters auf einen Posten in der Regierung oder Verwaltung seine richterliche Unparteilichkeit einschränkt. Ausschlaggebend war die Beteiligung des zukünftigen Dienstherrn als Partei im Gerichtsverfahren. 2803

EGMR Nr. 8790/79, Sramek v Österreich (Pl.), 22.10.1984, § 41. EGMR Nr. 8790/79, Sramek v Österreich (Pl.), 22.10.1984, § 42; zusammenfassend Villiger, AJP 1995, S. 163 (167). 2805 Ebenso in ähnlicher Sachverhaltskonstellation im Militärgericht EGMR Nr. 29279/95, Şahiner v Türkei, 25.09.2001, § 45; in einer Verwaltungskammer EGMR Nr. 60860/00, Tsfayo v Vereinigtes Königreich, 14.11.2006, §§ 41, 47. 2806 Zustimmendes Sondervotum der Richter Ganshof van der Meers und Evrigenis zu EGMR Nr. 8790/79, Sramek v Österreich (Pl.), 22.10.1984. 2807 Siehe zu diesem Urteil auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 179–180. 2808 EGMR Nr. 65411/01, Sacilor Lormines v Frankreich, 09.11.2006, §§ 18, 42, 63. 2809 EGMR Nr. 65411/01, Sacilor Lormines v Frankreich, 09.11.2006, § 69. Siehe aber auch die Kritik im gemeinsamen teilweise abweichenden Sondervotum der Richter Zupančič, Bîrsan und Long zu EGMR Nr. 65411/01, Sacilor Lormines v Frankreich, 09.11.2006, die vertreten, dass die Theorie des Erscheinungsbildes (theory of appearances) zu weit ausgedehnt wurde, da nicht einmal belegt sei, wann genau die Verhandlungen über den Wechsel des Richters in das Ministerium tatsächlich begonnen haben. 2804

E. Die richterlichen Statusrechte  

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In der Sache Thiam v Frankreich war der damalige französische Staatspräsident Sarkozy Vorsitzender des Richterrates (Conseil supérieur de la magistrature) und gleichzeitig Prozessgegner in einem Verfahren gegen den Beschwerdeführer. Der Beschwerdeführer befürchtete, dass der Staatspräsident auf die Karrieren der von diesem ernannten und im konkreten Fall zuständigen Richter Einfluss nehmen könnte und dass daher die richterliche Unabhängigkeit eingeschränkt war.2810 Nachweise für eine tatsächliche Einflussnahme gab es jedoch nicht. Zudem stand die Streitigkeit nicht in Verbindung mit der politischen Tätigkeit des Staatspräsidenten. Schließlich wurde das Urteil erst gesprochen, als Sarkozy bereits nicht mehr Vorsitzender des Richterrates war. Zwar bestätigte der EGMR, dass die Beteiligung hochrangiger Organwalter mit Einfluss auf die Richterkarrieren im Gerichtsverfahren als Prozesspartei legitime Zweifel an der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit hervorrufen konnte. Vorliegend war dies jedoch nicht der Fall.2811 Im Vergleich zu Sramek v Österreich und Sacilor Lormines v Frankreich zeigt Thiam v Frankreich, dass der EGMR einen Mangel der richterlichen Unabhängigkeit bei Berufsrichtern (ohne Wechselwunsch in die Regierung) zurückhaltender annimmt, wenn das Ernennungsorgan als Prozesspartei an einem Gerichtsverfahren beteiligt ist. Das Urteil Anželika Šimaitienė v Litauen bestätigte die Rechtsprechungslinie des EGMR aus Thiam v Frankreich. Die Beschwerdeführerin, eine ehemalige Richterin, ging gegen ihre Entlassung vor. Prozessgegner war der Staatspräsident, der ihre Entlassung verfügt hatte und der gleichzeitig Einfluss auf die Karrieren der für die Streitigkeit zuständigen Richter nehmen konnte.2812 „[O]ne may not hold that the mere fact that the President of the Republic decides questions of judges’ professional careers is grounds to consider that there is no court in Lithuania which is independent and able to impartially examine a case in which the President of the Republic is a party […].“2813

Beweise dafür, dass der Staatpräsident tatsächlich Einfluss auf die Richter genommen hatte, gab es nicht. Kurz nach dem Urteil zugunsten des Staatspräsidenten wurden die zuständigen Richter an das Oberste Gericht befördert. Auch hierin sah der EGMR keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der Gerichtshof argumentierte, dass die zuständigen Richter zum Zeitpunkt des Urteils noch nicht hätten absehen können, dass zeitnah zwei Posten am Obersten Gericht vakant werden würden. Außerdem sei die Beförderung nicht vom Staatspräsidenten, sondern vom Präsidenten des Obersten Gerichts vorgeschlagen und begründet worden und der Richterrat habe diesem Vorschlag einstimmig zugestimmt.2814 2810

EGMR Nr. 80018/12, Thiam v Frankreich, 18.10.2018, § 83. EGMR Nr. 80018/12, Thiam v Frankreich, 18.10.2018, §§ 84–85. Der EGMR hatte auch hier zuvor die gesetzliche Ausgestaltung der richterlichen Statusrechte (§§ 75–79) des Ernennungsprozesses geprüft (§§ 81–82). 2812 EGMR Nr. 36093/13, Anželika Šimaitienė v Litauen, 21.04.2020, §§ 23, 29–30. 2813 EGMR Nr. 36093/13, Anželika Šimaitienė v Litauen, 21.04.2020, § 81. 2814 EGMR Nr. 36093/13, Anželika Šimaitienė v Litauen, 21.04.2020, §§ 81–82. 2811

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Zusammenfassend ist die Unabhängigkeit von Berufsrichtern nicht bereits dadurch beeinträchtigt, dass am Prozess ein Organwalter als Partei beteiligt ist, zu dem der Richter in einer dienstlichen Beziehung steht. Vielmehr verlangt der EGMR einen Nachweis für eine tatsächlich erfolgte Einflussnahme. Betrifft die dienstliche Beziehung jedoch ein aktuelles oder zukünftiges Beamtenverhältnis, in dem Weisungsabhängigkeiten stärker ausgestaltet sind, nimmt der EGMR einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK an, wenn ein dem Richter übergeordneter Organwalter als Prozesspartei auftritt. (3) Zwischenfazit Sowohl Berufs- als auch Laienrichter können sich in Abhängigkeits- oder Weisungsverhältnissen zu hoheitlichen Ernennungs- beziehungsweise Disziplinarorganen oder hoheitlichen Prozessparteien befinden. Werden Berufsrichter von Exekutiv- oder Legislativorganen ernannt oder unterliegen sie deren Disziplinargewalt, führt dies nicht automatisch zu einem Mangel an Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit. Genauso wie das Ernennungsverfahren müssen Disziplinarverfahren und sachliche Gründe für Disziplinarmaßnahmen gesetzlich geregelt sein, sodass das (politische) Ermessen der Disziplinarorgane eingeschränkt wird. Erfüllen die Konventionsstaaten diese organisatorischen Anforderungen, nimmt der EGMR einen Verstoß gegen die richterliche Unabhängigkeit aus dem Abhängigkeitsverhältnis nur an, wenn Nachweise für eine konkrete Einflussnahme im Einzelfall vorliegen. Deuten hingegen die Urteilsinhalte oder die Reaktionen der Ernennungs- oder Disziplinarorgane – etwa durch eine Beförderung an ein höheres Gericht – darauf hin, dass der Richter befangen war oder sind lediglich generelle strukturelle Mängel der richterlichen Unabhängigkeit zu erkennen, die sich jedoch nicht auf den konkreten Fall beziehen, reichen diese Indizien dem EGMR nicht aus. Die Urteile Flux v Moldawien Nr. 2 und Baş v Türkei zeigen, dass der EGMR das Erscheinungsbild der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in diesen Sachverhaltskonstellationen nicht betrachtet. Kritische Stimmen finden sich nicht nur im Schrifttum,2815 sondern auch in dem furiosen Sondervotum von Richter Bonello zu Flux v Moldawien Nr. 2.2816 Stellt der EGMR allein auf die gesetzliche Ausgestaltung ab, verschließt er die Augen vor informell in Aussicht gestellten Anreizen, etwa einer baldigen Beförderung auf einen höheren Richterposten.2817 2815

Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 41–46 mit Nachweisen auf frühere Sondervoten und Entscheidungen der EKMR. 2816 Teilweise abweichendes Sondervotum von Richter Bonello zu EGMR Nr. 31001/03, Flux v Moldawien Nr. 2, 03.07.2007. 2817 Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 46. Vgl. auch Richter Bonello zu EGMR Nr. 31001/03, Flux v Moldawien Nr. 2, 03.07.2007, § 14. „I would have been gratified had the Court asked how often judge I. M., and other candidates for the heroes of the resistance award, found against the ruling party or its exponents in politically sensitive law­ suits.“

E. Die richterlichen Statusrechte  

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Ein effektiver Schutz der Konventionsrechte wird durch diese Herangehensweise erschwert.2818 Durch diese strenge Rechtsprechung beharrt der EGMR auf seiner auf Einzelfälle begrenzte Entscheidungsbefugnis und vermeidet es, zu strukturellen Problemen richterlicher Unabhängigkeit und Unparteilichkeit einzelner Staaten Stellung nehmen zu müssen. Das Urteil Thiam v Frankreich zeigt, dass der EGMR die gleichen Maßstäbe im Falle einer disziplinarischen Beziehung des Richters zu einer der Prozessparteien anlegt. Für Berufsrichter gilt somit, dass deren Einordnung in ein Disziplinarverhältnis selbst dann ihre richterliche Unabhängigkeit nicht beeinträchtigt, wenn die Disziplinarorgane Prozesspartei sind, solange keine Nachweise für einen Versuch der Einflussnahme vorliegen. Auch die richterliche Tätigkeit von Beamten führt trotz ihrer Einordnung in eine exekutive Weisungshierarchie so lange nicht zu einem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK, wie sich das Abhängigkeitsverhältnis nicht unmittelbar auf die gerichtliche Entscheidung auswirkt. Voraussetzung für eine konventionskonforme richterliche Tätigkeit von Beamten ist, dass sie in diesem Rahmen weisungsfrei entscheiden, keiner Beurteilung unterliegen und vor externer Einflussnahme geschützt sind. Wenn hingegen das exekutive Weisungsverhältnis in das Gerichtsverfahren hineinwirkt, insbesondere wenn die weisungsbefugte Stelle als Prozesspartei beteiligt ist, ist ein Beamter nicht unabhängig und unparteilich. In diesen Fällen ist, anders als bei Berufsrichtern, kein Nachweis für eine tatsächliche Einflussnahme erforderlich. Für die Gewaltenteilung in den Konventionsstaaten bedeutet dies, dass der richterliche Status der Beamten ausreichend gesetzlich abgesichert sein sollte. Außerdem dürfen Beamte nicht richterlich tätig werden, wenn ihnen vorgesetzte Organe oder Organwalter als Prozessparteien auftreten. Bezogen auf die Berufsrichter zeigt die Rechtsprechung, dass die üblichen Beurteilungs-, Beförderungs- und Disziplinarmechanismen, die häufig auch Organe der Exekutive beteiligen, nicht gegen die institutionellen Vorgaben des Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßen. c) Prozessuale Absprachen von Gerichten mit verfahrensbeteiligten Ministerien Das aktuelle Urteil Svilengaćanin v Serbien behandelte einen Sonderfall. Eine große Zahl aktiver und früherer Militärangehöriger klagte gegen das Verteidigungsministerium wegen der Berechnung ihrer Löhne.2819 In Anbetracht der vielen erstinstanzlichen Verfahren trafen sich der Präsident des obersten Gerichts, der Präsident eines erstinstanzlichen Gerichts sowie Vertreter des Verteidigungs 2818 2819

Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 43, 46. EGMR Nr. 50104/10 u. a., Svilengaćanin u. a. v Serbien, 12.01.2021, §§ 6–9.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

ministeriums und einigten sich auf ein prozedurales Vorgehen, das auch außergerichtliche Einigungen ermöglichte.2820 Später gab das oberste Gericht auf Antrag verschiedener erstinstanzlicher Gerichte eine Stellungnahme ab, welche die bisher uneinheitliche Rechtsprechung harmonisieren sollte.2821 Der EGMR grenzte den vorliegenden Fall ausdrücklich von Fällen einer „unklaren Gewaltenteilung oder internen strukturellen Unparteilichkeit“ wie Procola v Luxemburg und Kleyn v Niederlande ab. Zentral war vielmehr die Frage, ob das Treffen des Präsidenten des obersten Gerichts mit den Vertretern des Verteidigungsministeriums, das als Partei in den Verfahren auftrat, Zweifel an der richterlichen Unparteilichkeit hervorrief.2822 „[T]he cases before the domestic courts involved a large number of litigants […] against an executive authority, namely the Ministry of Defence, concerning a complex factual and legal issue, which could also have significantly affected the military budget […]. Against such a background, the Court accepts that it is legitimate for the Supreme Court to seek methods to effectively deal with a large influx of cases at domestic level, particularly if they raise preliminary jurisdictional issues that fall within its competence […], or if, for example, the outcome may indeed lead to out-of-court settlements […]. In that regard, the courts may enter into institutional relations to the extent that is consistent with the impartiality required of judges. They should, in particular, strike an appropriate balance between the need to maintain the impartiality and the appearance of impartiality on the one hand, and the courts’ interest in obtaining information relevant to adjudication or effectively dealing with an influx of cases on the other. Meetings with any interested party, even the more so with a State body, on issues which are the subject of pending or foreseeable litigation should be held in a way which does not undermine the decision-making process and the public confidence that the courts must inspire.“2823

Im Ergebnis lag keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor. Zwar kritisierte der EGMR, dass es kein Protokoll des Treffens gab, das den Inhalt der Gespräche hätte transparent machen können.2824 Für die richterliche Unparteilichkeit sprach jedoch, dass das Gespräch nicht im Rahmen eines konkreten anhängigen Verfahrens mit nur einer von beiden Parteien stattfand. Zudem entschieden im obersten Gericht ausschließlich Berufsrichter mit einer garantierten Amtszeit, für deren Befangenheit es keinerlei Anhaltspunkte gab. Schließlich stand die vom obersten Gerichtshof später getroffene Entscheidung im Einklang mit seiner früheren Rechtsprechung.2825 „There remains the issue that the applicants might not have seen the Supreme Court as being totally free from bias after the meeting. However, the existence of such sentiments and fears on their part is not sufficient to establish that they were objectively justified within the meaning of the Court’s case-law […].“2826 2820

EGMR Nr. 50104/10 u. a., Svilengaćanin u. a. v Serbien, 12.01.2021, § 20. EGMR Nr. 50104/10 u. a., Svilengaćanin u. a. v Serbien, 12.01.2021, § 15. 2822 EGMR Nr. 50104/10 u. a., Svilengaćanin u. a. v Serbien, 12.01.2021, §§ 65–66. 2823 EGMR Nr. 50104/10 u. a., Svilengaćanin u. a. v Serbien, 12.01.2021, § 67. 2824 EGMR Nr. 50104/10 u. a., Svilengaćanin u. a. v Serbien, 12.01.2021, § 68. 2825 EGMR Nr. 50104/10 u. a., Svilengaćanin u. a. v Serbien, 12.01.2021, §§ 71–73. 2826 EGMR Nr. 50104/10 u. a., Svilengaćanin u. a. v Serbien, 12.01.2021, § 74. 2821

E. Die richterlichen Statusrechte  

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Die Besonderheit dieses Falles liegt darin, dass das Treffen zwischen den Richtern und den Vertretern des Ministeriums auf Augenhöhe stattfand und ein gemeinsamer Umgang mit der sich abzeichnenden großen Zahl von Gerichtsverfahren gefunden werden sollte. Auffällig ist die formale Argumentation des EGMR, der darauf abstellt, dass am obersten Gericht zum relevanten Zeitpunkt noch kein Verfahren anhängig war und das Ministerium daher noch nicht die Rolle einer Prozesspartei einnahm. Die Tatsache, dass das Ministerium in den erwarteten Verfahren eindeutig Prozesspartei sein würde, ließ der EGMR außer Betracht. Nicht ausdrücklich angesprochen, aber erkennbar den Erwägungen zugrunde liegt der Gedanke einer funktionsfähigen Gerichtsbarkeit. Eine Schwemme gleichartiger Verfahren ist geeignet, die Dauer vieler Gerichtsverfahren in die Länge zu ziehen und Gerichte langfristig zu überlasten. Die formale Argumentation sowie das Vertrauen des EGMR in die obersten Richter führen dazu, dass die Konventionsordnung den Gerichten eine Möglichkeit lässt, sich mit der Exekutive zu beraten, sofern es um strukturelle, einzelfallunabhängige Fragen geht. Allein diese Beratung ruft noch keine Zweifel an der richterlichen Unparteilichkeit hervor. d) Wahrnehmung der parlamentarischen Kontrollfunktion Schließlich stand in zwei jüngeren Urteilen das Verhältnis von Gerichtsverfahren und parlamentarischen Kontrollrechten in Rede.2827 In Rywin v Polen fand gleichzeitig mit dem streitgegenständlichen Gerichtsverfahren gegen den Beschwerdeführer ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss statt.2828 In beiden Verfahren ging es um mögliche Korruption im Rahmen einer Gesetzesänderung. „[T]he principle of the separation of powers prevents a [parliamentary] commission from interfering in the exercise of the prerogatives vested in the judiciary. Thus, where a judicial procedure is opened concerning the same facts as those being examined by a commission, the latter must maintain the requisite distance between its own investigations and the parallel procedure; in particular, it must refrain from making any statements as to the merits of decisions taken by the courts or as to how the judicial proceedings are being conducted.“2829

Während im Gerichtsverfahren über die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Beschwerdeführers entschieden wurde, untersuchte das parlamentarische Verfahren Verfehlungen von Organwaltern im Rahmen der Gesetzesänderung. Der Untersuchungsausschuss äußerte sich nicht zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Beschwerdeführers und hatte keine gesetzlich vorgesehene Möglichkeit, das Gerichtsverfahren zu beeinflussen. Er durfte zwar Informationen an das Gericht weitergeben. Das Gericht wertete die Beweise jedoch eigenständig aus. Insgesamt lag kein Verstoß gegen die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit

2827

Siehe hierzu Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 119–121. EGMR Nr. 6091/06, 4047/07 und 4070/07, Rywin v Polen, 18.02.2016, § 224. 2829 EGMR Nr. 6091/06, 4047/07 und 4070/07, Rywin v Polen, 18.02.2016, § 225. 2828

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

vor.2830 Ausschlaggebend war, dass der parlamentarische Untersuchungsausschuss eine ausreichende Distanz zum Gerichtsverfahren wahrte.2831 In der Sache Haarde v Island übte das Parlament seine Kontrollfunktion aus, indem es ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Beschwerdeführer initiierte.2832 „[T]he High Contracting Parties have adopted, as part of their constitutional framework, varied approaches to questions concerning the criminal liability of members of government for acts or omissions that have taken place in the exercise of their official duties. […] The Court acknowledges that these issues involve important and sensitive questions about how to strike an appropriate balance between political accountability and criminal liability for persons holding and exercising the highest executive offices in each state, and that the solutions adopted are linked with complex matters of checks and balances in each constitutional order. This being so, it is not for the Court to seek to impose any particular model on the Contracting Parties. Its task is to conduct a review of the concrete circumstances of the case on the basis of the complaints brought before it.“2833

Da letztendlich ein Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK über die Amtsenthebung entschied und dadurch Willkür verhinderte, war die parlamentarische Beteiligung zu Beginn des Verfahrens selbst dann unschädlich, wenn bei der Abstimmung parteipolitische Aspekte tatsächlich eine Rolle spielten. Daher lag keine Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit vor.2834 Die Initiierung des Verfahrens durch das Parlament führte somit nicht zu einer Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Zusammenfassend gefährden parlamentarische Kontrollfunktionen die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht, wenn die Gerichte ihre Entscheidungen ohne direkten parlamentarischen Einfluss treffen können. e) Zwischenfazit Die EMRK verpflichtet exekutive und legislative Organe grundsätzlich zur Zurückhaltung, sich nicht in laufende Verfahren einzumischen, indem sie von Richtern persönlich oder öffentlich eine bestimmte Entscheidung fordern. Somit dürfen die Rechtsordnungen der Konventionsstaaten keine gesetzlichen Möglichkeiten zur Einmischung vorsehen. Daneben richtet sich die Zurückhaltungspflicht auch unmittelbar an jedes hoheitliche Organ. Die Abhängigkeit von ihren Ernennungs- oder Disziplinarorganen beeinträchtigt die richterliche Unabhängigkeit von Berufsrichtern prinzipiell nicht. Das gilt 2830 EGMR Nr. 6091/06, 4047/07 und 4070/07, Rywin v Polen, 18.02.2016, §§ 226, 228–231, 239–240. 2831 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 119–120. 2832 EGMR Nr. 66847/12, Haarde v Island, 23.11.2017, § 86. 2833 EGMR Nr. 66847/12, Haarde v Island, 23.11.2017, § 84. 2834 EGMR Nr. 66847/12, Haarde v Island, 23.11.2017, §§ 86–87; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 120–121.

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sogar dann, wenn die Disziplinarorgane als Prozessparteien am Gerichtsverfahren beteiligt sind. Die Verpflichtung aller hoheitlichen Organe, rechtmäßig auf Grundlage der Gesetze und somit nicht willkürlich zu handeln sowie die juristische Ausbildung, welche die Berufsrichter für unzulässige Einflussnahmen sensibilisiert, reichen als Sicherungsmechanismen aus. Die Konventionsstaaten sind somit verpflichtet, Ernennungs- und Disziplinarverfahren gesetzlich zu regeln und für Disziplinarverfahren sachliche Gründe vorzusehen, welche die richterliche Unabhängigkeit schützen. Insbesondere dürfen die Richter nicht wegen des Inhalts einer konkreten Entscheidung belohnt oder sanktioniert werden. Strenger ist der EGMR jedoch, wenn Beamte richterlich tätig sind. Während eine Beeinflussung von Berufsrichtern stets bewiesen werden muss, zweifelt der EGMR an der Unabhängigkeit von Beamten, wenn die vorgesetzten Organe oder Organwalter als Prozessparteien am Gerichtsverfahren beteiligt sind. Grund für die strengere Rechtsprechung des EGMR ist die Einbindung der Beamten in die exekutive Weisungshierarchie, die eine besondere Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit erfordert. Diese kann im Fall einer Beteiligung der vorgesetzten Organe beziehungsweise Organwalter nicht mehr erreicht werden. Der Fall Svilengaćanin v Serbien zeigt schließlich, dass nicht jede richterliche Absprache über das weitere prozessuale Vorgehen mit einer anderen hoheitlichen, in der Sache beteiligten Partei gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit verstößt. Gerade wenn das Vorgehen anderen konventionsrechtlich geschützten Werten wie der funktionsfähigen Gerichtsbarkeit dient und wenn kein Bezug zu einem einzelnen Fall erkennbar ist, sind solche Absprachen zulässig. Genauso sind die Konventionsstaaten nicht daran gehindert, parallel zu Gerichtsverfahren parlamentarische Untersuchungsverfahren durchzuführen, solange das gerichtliche Verfahren ohne unzulässige Einflussnahme entschieden wird. Zusammenfassend ist die Rechtsprechung zur Weisungsfreiheit gerade bei Berufsrichtern zurückhaltend. Unzulässig ist allein die direkte oder öffentliche Aufforderung an die Richter durch ein hoheitliches Organ, einen Rechtsstreit auf eine bestimmte Weise zu entscheiden. Andere Abhängigkeitsverhältnisse oder Formen der Zusammenarbeit sind solange zulässig, wie es keine Nachweise für eine unzulässige Einflussnahme gibt. 2. Freiheit vor Anordnungen durch judikative Organe und interne Unabhängigkeit Die Weisungsfreiheit schützt Richter auch vor Beeinflussungen durch andere Richter.2835 2835 EGMR Nr. 23465/03, Agrokompleks v Ukraine, 06.10.2011, § 137; inhaltsgleich EGMR Nr. 24810/06, Parlov-Tkalčić v Kroatien, 22.12.2009, § 86.

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„[T]he internal judicial independence requires that they be free from directives or pressures from the fellow judges or those who have administrative responsibilities in the court such as the president of the court or the president of a division in the court […].“2836

In seine Prüfung bezieht der EGMR sowohl die konkreten gesetzlichen Schutzmechanismen der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit ein als auch die tatsächlichen Handlungen der Richter beziehungsweise Gerichtspräsidenten. In den vom EGMR entschiedenen Fällen ging die Einflussnahme typischerweise von Organen der gerichtlichen Selbstverwaltung, insbesondere Gerichtspräsidenten, aus. Wie bei den Fällen zur richterlichen Abhängigkeit von exekutiven Disziplinarorganen ist somit erneut das Verhältnis der Richter zu einem hoheitlichen Organ betroffen, das Einfluss auf den richterlichen Status oder die richterliche Karriere nehmen kann. In der Sache Agrokompleks v Ukraine erteilte der Gerichtspräsident zwei Richtern die Anweisung, ein Urteil erneut zu überdenken.2837 „The Court considers such influence by a judicial superior on the course of the proceedings to be contrary to the principle of internal judicial independence […].“2838

Auf die organisatorischen, administrativen oder disziplinarischen Aufgaben des Gerichtspräsidenten ging der EGMR nicht ein. Dies zeigt, dass – wie bei politischen Organen  – direkte Einflussnahmen auf die richterliche Tätigkeit durch Organe der Gerichtsverwaltung gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit verstoßen. Eine Abwägung aller für und gegen den Konventionsverstoß sprechenden Aspekte ist in diesen eindeutigen Fällen nicht erforderlich. In Khrykin v Russland und Baturlova v Russland durften die Beschwerdeführer gerechtfertigte Zweifel an der Unabhängigkeit der Richter des Town Court haben, weil die Präsidentin eines höherinstanzlichen Gerichts sie in einem Brief aufforderte, ein bereits rechtskräftiges Urteil erneut zu untersuchen, nachdem neue Umstände bekannt geworden waren.2839 Der Town Court änderte daraufhin seine Rechtsprechung. Die Gerichtspräsidentin war befugt, Disziplinarverfahren gegen die zuständigen Richter zu initiieren. Da die den Richtern vorgeworfene fehler-

2836

EGMR Nr. 24810/06, Parlov-Tkalčić v Kroatien, 22.12.2009, § 86; dem folgend EGMR Nr. 23465/03, Agrokompleks v Ukraine, 06.10.2011, § 137. Dieses Zitat auch bei Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (601); knapper bei Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 75. 2837 EGMR Nr. 23465/03, Agrokompleks v Ukraine, 06.10.2011, § 138. Daneben ist das Urteil auch relevant im Rahmen der gerichtlichen Bindungswirkung, siehe hierzu ab S. 489 sowie wegen der Einflussnahme durch politische Organe, siehe ab S. 589. 2838 EGMR Nr. 23465/03, Agrokompleks v Ukraine, 06.10.2011, § 139. 2839 EGMR Nr. 33186/08, Khrykin v Russland, 19.04.2011, §§ 32, 8; Nr. 33188/08, Baturlova v Russland, 19.04.2011, §§ 32, 8. Damit umging der Gerichtspräsident die anwendbaren zivilprozessualen Vorschriften; zu diesen Urteilen Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 147; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 76.

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hafte Rechtsanwendung einen Disziplinargrund darstellte,2840 waren die Zweifel an der richterlichen Unabhängigkeit gerechtfertigt. Unproblematisch für die richterliche Unabhängigkeit ist hingegen, wenn ein Gerichtspräsident disziplinarische Gewalt über Richter ausüben kann. Allein die Eingliederung von Richtern in ein disziplinarisches System führt nicht dazu, dass ihre richterliche Unabhängigkeit beeinträchtigt wird, selbst wenn das Disziplinarorgan am konkreten Gerichtsverfahren beteiligt ist.2841 Auch diesbezüglich gleicht die Rechtsprechung zur internen richterlichen Unabhängigkeit der Rechtsprechung zum Schutz vor exekutiver oder legislativer Einflussnahme. 3. Zwischenfazit Die Rechtsprechung zu direkten Einwirkung judikativer Organwalter, insbesondere der Gerichtsverwaltung, auf andere Richter ist genauso streng wie bei Aufforderungen durch politische Organe. Liegen beweisbare direkte Einflussnahmen auf Richter vor, führen diese automatisch und unabhängig davon, welcher Organwalter tätig wurde, zu einem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK. Die weiteren gesetzlichen Sicherungsmechanismen der richterlichen Unabhängigkeit wägt der EGMR nicht weiter ab, weil der Mangel an richterlicher Unabhängigkeit nicht mehr ausgeglichen werden kann. Ebenso ist – parallel zur Weisungsfreiheit von politischen Organen – die Eingliederung von Richtern in ein Disziplinarsystem der gerichtlichen Selbstverwaltung unschädlich für die richterliche Unabhängigkeit. Sie führt bei Berufsrichtern selbst dann nicht zu einem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK, wenn das Disziplinarorgan selbst als Partei an einem vom Richter geführten Verfahren beteiligt ist. Der EGMR legt hier unabhängig davon, welches Organ für die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen zuständig ist, einheitliche Maßstäbe an.

2840

EGMR Nr. 33186/08, Khrykin v Russland, 19.04.2011, §§ 33–39; Nr. 33188/08, Baturlova v Russland, 19.04.2011, §§ 33–40. 2841 EGMR Nr. 24810/06, Parlov-Tkalčić v Kroatien, 22.12.2009, §§ 87–97; Nr. 35121/09, Yuriy Koval v Ukraine, 23.01.2020, §§ 140–149.

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II. Ausübung des Amtes für die Dauer der vorgesehenen Amtszeit Neben dem Ernennungsverfahren und der Weisungsfreiheit ist die Amtszeit das dritte Element der Definition der richterlichen Unabhängigkeit.2842 Der EGMR äußert sich sowohl zur Länge der Amtszeit als auch zur Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit. 1. Dauer der Amtszeit Die Ernennung eines Richters erfolgt entweder auf Lebenszeit beziehungsweise bis zum Erreichen einer gesetzlich bestimmten Altersgrenze oder für eine bestimmte, im Vorhinein festgelegte Dauer.2843 Nach dem Ende der richterlichen Amtszeit dürfen Richter nicht mehr streitentscheidend tätig werden – dies ergibt sich aus der Rechtmäßigkeitsanforderung des Gesetzesvorbehalts aus Art. 6 Abs. 1 EMRK.2844 a) Bis zum Erreichen der Altersgrenze oder auf Lebenszeit Die Ernennung eines Richters auf Lebenszeit oder bis zum Erreichen einer gesetzlich festgelegten Altersgrenze ist in Europa das vorrangige Modell.2845 Soweit ersichtlich, wurde die Konventionskonformität einer Ernennung auf Lebenszeit oder bis zu einer gesetzlich definierten Altersgrenze vor dem EGMR noch nie in Frage gestellt. Dies verwundert nicht, weil eine Ernennung auf Lebenszeit oder bis zum Erreichen einer gesetzlich definierten Altersgrenze die richterliche Unabhängigkeit fördert.2846 Eine solche Regelung verspricht die größtmögliche Si 2842 EGMR Nr. 7819/77 und 7878/77, Campbell und Fell, 28.06.1984, § 80; Nr. 38784/97, Morris v Vereinigtes Königreich, 26.02.2002, § 68; Nr. 65411/01, Sacilor Lormines v Frankreich, 09.11.2006, § 67; Le Bonniec, RFDC 106 (2016), S. 335 (345). Siehe auch schon das wörtliche Zitat zu Fn. 1938. 2843 Venedig-Kommission, CDL-AD(2010)004, Report on the Independence of the Judicial System, Part I. Independence of Judges, angenommen am 12.–13.03.2010, §§ 33–35; CCJE, Opinion No. 1 on Standards Concerning the Independence of the Judiciary and the Irre­ movability of Judges, 23.11.2001, §§ 48–53, wobei beide Institutionen die Ernennung auf Lebenszeit bevorzugen. 2844 EGMR Nr. 36455/02, Gurov v Moldawien, 11.07.2006, §§ 34–38. 2845 Venedig-Kommission, CDL-AD(2010)004, Report on the Independence of the Judicial System, Part I. Independence of Judges, angenommen am 12.–13.03.2010, §§ 34–35; CCJE, Opinion No. 1 on Standards Concerning the Independence of the Judiciary and the Irremovability of Judges, 23.11.2001, § 48; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 231. 2846 Venedig-Kommission, CDL-AD(2010)004, Report on the Independence of the Judicial System, Part I. Independence of Judges, angenommen am 12.–13.03.2010, §§ 34–35; CCJE, Opinion No. 1 on Standards Concerning the Independence of the Judiciary and the Irre­ movability of Judges, 23.11.2001, § 48; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 231.

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cherheit für die Richter, weil sie sich keine Sorgen über ihre Karriere nach dem Ende einer Amtszeit machen müssen. Vorgaben dazu, wann Richter frühestens eine Altersgrenze für ihre hoheitliche Tätigkeit erreichen dürfen oder spätestens erreichen müssen, machte der EGMR den Konventionsstaaten bislang nicht. Eine solche Rechtsprechung könnte auch nur schwierig am Merkmal der richterlichen Unabhängigkeit angeknüpft werden. b) Für eine bestimmte Dauer Die Ernennung eines Richters für eine begrenzte Dauer birgt mehr Risiken für die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit als eine Ernennung auf Lebenszeit oder bis zu einer Altersgrenze.2847 Bereits im Jahr 1988 erklärte die EKMR, dass die EMRK keine Ernennung auf Lebenszeit verlangt.2848 Anschließend wurde diese Aussage von den Konventionsorganen, soweit ersichtlich, nicht mehr wiederholt.2849 Im Schrifttum ist diese Annahme noch präsent.2850 Ist die richterliche Amtszeit begrenzt, stellt der EGMR dies als einen Abwägungsfaktor in die Beurteilung der richterlichen Unabhängigkeit ein. Welche Dauer einer richterlichen Amtszeit der EGMR für ausreichend erachtet, hängt vom Einzelfall ab.2851 Die pauschale Annahme, dass der EGMR eine Mindestdauer der richterlichen Amtszeit von drei Jahren fordert,2852 ist daher unzutreffend. Dem

2847

Vgl. Venedig-Kommission, CDL-AD(2003)019, Opinion on three Draft Laws proposing Amendments to the Constitution of Ukraine, angenommen am 12.–13.12.2003, § 39: „[T]imelimited appointments as a general rule can be considered a threat to the independence and impartiality of judges.“ 2848 EKMR Nr. 8209/78, Sutter v Schweiz (Zul.), 01.03.1979, DR 16, S. 171 (174); Nr. 12717/87, Dupuis v Belgien (Zul.), 08.09.1988, DR 58, S. 203 (208). 2849 Siehe aber das zustimmende Sondervotum Garlicki, beigetreten von Richter Pellonpää, zu EGMR Nr. 36455/02, Gurov v Moldawien, 11.07.2006. 2850 Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (600); Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 231–232; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 49. 2851 Siehe für einen Überblick zur Rechtsprechung Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 50–51; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 231–233. 2852 So aber bei Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 49, die die Rechtsprechung zwar so deuten, dass die Amtszeit regelmäßig eine Mindestdauer von drei Jahren haben sollte, jedoch darüber hinaus eine Mindestdauer von fünf bis sechs Jahren fordern; Laptew, Recht auf ein faires Gerichtsverfahren, S. 140; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 50; Laptew, Recht auf ein faires Gerichtsverfahren, S. 140 geht von einer Mindestdauer der Amtszeit von drei Jahren aus, erwartet aber angesichts der relativ alten Rechtsprechungslage eine Rechtsprechungsänderung; Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtel, S. 363 (372); Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 55 hält eine Mindestamtszeit von drei Jahren für deutlich zu kurz. Siehe auch das abweichende Sondervotum der Richter Thór Vilhjálms-

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steht nicht entgegen, dass der EGMR in verschiedenen Einzelfällen eine richterliche Amtszeit von drei Jahren für verschiedene Richter für ausreichend erachtete: In der Sache Sramek v Österreich akzeptierte der EGMR die dreijährige Amtszeit des Berufsrichters sowie der Beamten und Experten der Landesgrundverkehrsbehörde als konventionskonform.2853 In Campbell und Fell v Vereinigtes Königreich wurden die Mitglieder eines ebenfalls teilweise mit Laien besetzten Prison Board of Visitors sogar für maximal drei Jahre, möglicherweise aber auch für einen kürzeren Zeitraum ernannt.2854 In Siglfirđingur Ehf v Island betrug die Amtszeit die Mitglieder eines Schiedsgerichts drei Jahre.2855 In Maktouf und Damjanović reichte dem EGMR sogar eine Amtszeit von zwei Jahren für die internationalen Richter, die Mitglieder des State Court waren.2856 Gleichwohl betrachtet der EGMR eine Amtszeit von zwei bis drei Jahren als durchaus kurz.2857 In Campbell und Fell v Vereinigtes Königreich argumentierte der EGMR, dass die Mitglieder der Prison Board of Visitors unbezahlt tätig waren und es sich als schwierig hätte erweisen können, Freiwillige für eine längerfristigere zeitliche Verpflichtung zu finden.2858 In Maktouf und Damjanović lag ebenfalls eine außergewöhnliche Situation vor, weil übergangsweise internationale Richter zur Unterstützung Bosnien und Herzegowinas in einem innerstaatlichen Gericht eingesetzt wurden.2859 In vielen anderen Urteilen waren längere Amtszeiten unter dem Gesichtspunkt der richterlichen Unabhängigkeit unproblematisch.2860 In Urteilen zur Beteiligung

son, Gölcüklü, Matscher, Foighel, Freeland, Lopes Rocha, Wildhaber und Gotchev zu EGMR Nr. 22678/93, Incal v Türkei (GK), 09.06.1998, welche von einer grundsätzlich zulässigen Mindestdauer von drei Jahren auszugehen scheinen. 2853 EGMR Nr. 8790/79, Sramek v Österreich (Pl.), 22.10.1984, §§ 24, 26, 38; ähnlich EGMR Nr. 11179/84, Langborger v Schweden (Pl.), 22.06.1989, §§ 21–22, 32 (hier ging es um den Housing and Tenancy Court, welcher sich aus Juristen – in der Regel Richtern –, Experten und Laienrichtern zusammensetzte. Auf die Amtszeit von drei Jahren ging der EGMR in seinen Erwägungsgründen nicht näher ein). 2854 EGMR Nr. 7819/77 und 7878/77, Campbell und Fell, 28.06.1984, §§ 80, 32. 2855 EGMR Nr. 34142/96, Siglfirđingur Ehf v Island (Zul.), 07.09.1999. 2856 EGMR Nr. 2312/08 und 34179/08, Maktouf und Damjanović v Bosnien und Herzegowina (GK), 18.07.2013, § 51. 2857 So ausdrücklich in EGMR Nr. 34142/96, Siglfirđingur Ehf v Island (Zul.), 07.09.1999. 2858 EGMR Nr. 7819/77 und 7878/77, Campbell und Fell, 28.06.1984, § 80. 2859 EGMR Nr. 2312/08 und 34179/08, Maktouf und Damjanović v Bosnien und Herzegowina (GK), 18.07.2013, § 51: „Admittedly, their term of office was relatively short, but this is understandable given the provisional nature of the international presence at the State Court and the mechanics of international secondments.“ 2860 EGMR Nr. 6878/75 und 7238/75, Le Compte, van Leuven und de Meyere v Belgien (Pl.), 23.06.1981, §§ 57, 26 (sechs Jahre für die als Richter tätigen Ärzte eines berufsständischen Disziplinargerichts); Nr. 9273/81, Ettl u. a. v Österreich, 23.04.1987, § 41 (fünfjährige Amtszeit eines Sonderverwaltungsgerichts (Provincial und Supreme Land Reform Board)); Nr. 10328/83, Belilos v Schweiz (Pl.), 29.04.1988, § 66 (vierjährige Amtszeit des Mitglieds des Police Boards, das über geringfügige Straftaten entscheiden durfte; die objektiv begründeten Zweifel an der Unabhängigkeit stützte der EGMR auf andere Erwägungen, § 67); Nr. 57861/00, Absandze v Georgien (Zul.), 15.10.2002 (zehn Jahre für Richter des obersten Gerichts);

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von Militärrichtern an türkischen Sicherheitsgerichten wertete der EGMR eine vierjähre und erneuerbare Amtszeit hingegen als Indiz gegen die Unabhängigkeit der Militärrichter.2861 In seine Gesamtabwägung stellte der EGMR nicht allein die kurze Amtszeit, sondern außerdem das Ernennungsverfahren, die Einordnung der Richter in die Militärdisziplin und das Erscheinungsbild ein.2862 Diese Rechtsprechung ist jedoch, selbst wenn man eine Mindestamtszeit von drei Jahren grundsätzlich als ausreichend erachtet, keine Abweichung von diesem Grundsatz:2863 Die Unabhängigkeit von Militärrichtern erfordert wegen der strengen militä­ rischen Hierarchie und Weisungsstruktur typischerweise besonders weitreichende Sicherungsmechanismen.2864 Eine Untergrenze, ab der eine richterliche Amtszeit per se konventionswidrig ist, ist aus der Rechtsprechung nicht ersichtlich. In weiteren Urteilen über türkische Militärrichter, deren Amtszeit nur ein Jahr betrug, griff der EGMR auf weitere fehlende Sicherungsmechanismen zurück, um den Verstoß gegen die Prinzipien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu begründen.2865 Die kurze Amtszeit allein war somit nicht ausschlaggebend für den Konventionsverstoß. Im Urteil Cooper v Vereinigtes Königreich zur Beteiligung von militärangehörigen Laienrichtern in einem Militärgericht führte sogar eine auf das konkrete Verfahren begrenzte Amtszeit ad hoc benannter Richter nicht zu einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK.2866 Die weiteren Sicherungsmechanismen – der für mehrere Jahre ernannte Gerichtspräsident, die Anwesenheit eines judge advocate, die geheimen Urteilsberatungen, Informationen der Laienrichter zum Ablauf des Verfahrens über briefing notes sowie die wirksame Garantie, dass die Laienrichter wegen ihrer gerichtlichen Entscheidungen keine Sanktionen oder Nachteile befürchten mussten – reichten

Nr. 38191/12, A. K. v Liechtenstein Nr. 1, 09.07.2015, § 76 (fünfjährige Amtszeit der Verfassungsrichter); Nr. 51160/06, Di Giovanni v Italien, 09.07.2013, § 57 (vier Jahre für die Mitglieder einer richterlichen Disziplinarkammer); Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, §§ 155, 157 (vierjährige, unbegrenzt erneuerbare Amtszeit der Mitglieder des Internationalen Sportgerichtshofs); Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 297 (nicht erneuerbare Amtszeit von fünf Jahren wurde als „relativ kurz“ bezeichnet, war im konkreten Fall aber unproblematisch); siehe auch die Zusammenstellung bei Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 232. 2861 Anders aber das abweichende Sondervotum der Richter Thór Vilhjálmsson, Gölcüklü, Matscher, Foighel, Freeland, Lopes Rocha, Wildhaber und Gotchev zu EGMR Nr. 22678/93, Incal v Türkei (GK), 09.06.1998, das die Amtszeit von vier Jahren für ausreichend erachtet; ebenso das abweichende Sondervotum von Richter Gölcüklü zu EGMR Nr. 19601/92, Çıraklar v Türkei, 28.10.1998. 2862 EGMR Nr. 22678/93, Incal v Türkei (GK), 09.06.1998, §§ 67–69, 73; Nr. 19601/92, Çıraklar v Türkei, 28.10.1998, §§ 39–41. 2863 So aber Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 50. 2864 Siehe hierzu auch ab S. 715. 2865 EGMR Nr. 39429/98, İrfan Bayrak v Türkei, 03.05.2007, §§ 38–40; Nr. 27341/02, Veyisoğlu v Türkei, 26.06.2007, § 30; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig /  Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 67. 2866 EGMR Nr. 48843/99, Cooper v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.2003, §§ 120, 126.

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aus, um die Militärrichter vor unzulässiger Einflussnahme zu schützen.2867 Cooper v Vereinigtes Königreich zeigt, dass selbst eine auf ein Verfahren begrenzte Amtszeit durch ausreichende Sicherungsmechanismen ausgeglichen werden kann. Die Urteile zur richterlichen Amtszeit beziehen sich auf Militärgerichte, Schiedsgerichte, Verwaltungsbehörden mit Rechtsprechungsaufgaben oder staatliche Gerichte mit Sonderzuständigkeiten und nicht auf ordentliche Zivil- oder Strafgerichte.2868 Wegen der den einzelnen Urteilen zugrunde liegenden unterschiedlichen Umstände ist es schwierig, allgemeine Schlussfolgerungen aus der Rechtsprechungslage zu ziehen. Mangels Rechtsprechung zu einer begrenzten Amtszeit von Richtern solcher Gerichte, die in die allgemeinen gerichtlichen Organisationsstrukturen der Konventionsstaaten eingefügt sind, kann davon ausgegangen werden, dass diese Richter in den meisten Fällen auf Lebenszeit ernannt werden. Darüber hinaus besteht für Berufsrichter der ordentlichen Gerichte und der Verwaltungsgerichte eine grundsätzliche Vermutung, sich von äußeren Einflüssen auf ihre richterliche Tätigkeit frei machen zu können.2869 Dieser Grundgedanke könnte auf eine mögliche Verunsicherung der Richter wegen einer kurzen Amtszeit übertragen werden. Auf der anderen Seite kann mangels einschlägiger Rechtsprechung nicht ausgeschlossen werden, dass der EGMR für Berufsrichter in der ordentlichen Gerichtsbarkeit strengere Anforderungen an die Amtszeit verlangt als bei den angesprochenen Sonderfällen.2870 Solange der EGMR jedoch noch kein entsprechendes Urteil gesprochen hat, muss davon ausgegangen werden, dass für die Amtszeit von Berufsrichtern die allgemeinen Rechtsprechungsprinzipien zur richterlichen Unabhängigkeit gelten. Soweit ersichtlich, hat eine zu kurze Amtszeit allein noch nie für sich genommen einen Verstoß gegen die richterliche Unabhängigkeit verursacht. Eine Mindestdauer eines richterlichen Mandats gibt die EGMR-Rechtsprechung weder allgemein noch für bestimmte Sonderfälle vor.2871 Eine lange Amtszeit ist grundsätzlich ein Indiz für die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, eine kurze Amtszeit ein Anhaltspunkt dagegen.2872 Der Gerichtshof bezieht in seine Gesamtabwägung sowohl den Sinn und Zweck der Regelungen über die richterliche Amtszeit2873 als auch weitere gesetzliche Sicherungsmechanismen ein, die das Defizit einer (zu) kurzen Amtszeit möglicherweise ausgleichen konnten.2874 Welche Amtszeiten der 2867

EGMR Nr. 48843/99, Cooper v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.2003, §§ 119–126. Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. S. 51; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 232–233. 2869 Hierzu bereits oben ab S. 510. 2870 Diese Frage wird auch aufgeworfen von Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 233. 2871 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 174 Fn. 710. 2872 Esser, Strafverfahrensrecht, S. 543. 2873 Vgl. auch Esser, Strafverfahrensrecht, S. 543, der von einem „verständlichen Grund“ für eine verhältnismäßig kurze Amtszeit spricht. 2874 So ist wohl auch die Äußerung von Richter Gölcüklü im abweichenden Sondervotum zu EGMR Nr. 19601/92, Çıraklar v Türkei, 28.10.1998 zu deuten: „In several cases the Court has 2868

E. Die richterlichen Statusrechte  

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EGMR als lang oder kurz einordnet, hängt vom Einzelfall ab. Das Cooper-Urteil zeigte, dass Laienrichter auch lediglich für ein Verfahren ausgewählt werden können.2875 Gleiches gilt auch für Schöffen als Mitglieder von Strafgerichten. Einige innerstaatliche Rechtsordnungen sehen für Richter mit zeitlich begrenzten Amtszeiten die Möglichkeit einer Wiederwahl oder Wiederernennung vor. Eine solche gesetzliche Regelung spricht in der Gesamtabwägung des EGMR grundsätzlich gegen die richterliche Unabhängigkeit,2876 führt aber alleine nicht zu einem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK. c) Zwischenfazit Die Dauer der Amtszeit ist ein Aspekt zur Beurteilung der richterlichen Unabhängigkeit. Alleine für einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK ausschlaggebend waren die nationalen Regelungen zur richterlichen Amtszeit jedoch bislang nicht.2877 Während eine Ernennung auf Lebenszeit oder bis zum Erreichen einer gesetzlich bestimmten Altersgrenze die richterliche Unabhängigkeit fördert, ist das Rechtsprechungsbild bei zeitlich begrenzten richterlichen Amtszeiten vielfältig. Ob eine drei- bis vierjährige Amtszeit für oder gegen die richterliche Unabhängigkeit spricht, hängt von den konkreten Umständen, etwa der Art des Gerichts und den weiteren Sicherungsmechanismen, ab. In jedem Fall gilt: Je länger die richterliche Amtszeit, desto stärker ist die richterliche Unabhängigkeit. Die Möglichkeit der Wiederernennung schadet der richterlichen Unabhängigkeit, ist aber alleine ebenfalls nicht ausschlaggebend. Die Konventionsstaaten sind also angehalten, die richterlichen Amtszeiten möglichst lang und idealerweise ohne Möglichkeit der Wiederernennung auszugestalten.

held that neither a judge’s term of office nor the existence of disciplinary rules are decisive factors vitiating a tribunal’s independence and impartiality […].“ 2875 Bereits Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 233 betrachtet bei Schöffen die Amtszeit nicht als relevantes Kriterium für deren Unabhängigkeit. 2876 EGMR Nr. 22678/93, Incal v Türkei (GK), 09.06.1998, § 68; Nr. 19601/92, Çıraklar v Türkei, 28.10.1998, § 39. 2877 Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 239 schließt hieraus, dass die Dauer der Amtszeit in der EGMR-Rechtsprechung keine große Rolle spielt. Dies überzeugt nicht, da die Gesamtabwägung typischerweise alle für und gegen die richterliche Unabhängigkeit sprechenden Aspekte gleichermaßen einbezieht.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

2. Unabsetzbarkeit Die Unabsetzbarkeit der Richter während ihrer Amtszeit ist eine logische Folge (corollary) der richterlichen Unabhängigkeit.2878 Sie sichert als Schlüsselelement der richterlichen Unabhängigkeit2879 die weisungs- und einflussfreie richterliche Entscheidung. Solange Richter nicht befürchten müssen, wegen des Inhalts ihrer Entscheidungen abgesetzt (oder versetzt) zu werden, können sie sich unzulässigen Einflussnahmen leichter ohne Angst um ihren eigenen Status widersetzen.2880 Richter müssen darauf vertrauen können, dass sie während ihrer Amtszeit nicht abgesetzt oder entlassen werden, sofern sie keine disziplinarisch relevanten Verfehlungen begangen haben. a) Keine grundlose vorzeitige Absetzung oder Entlassung Die EMRK verbietet nicht jede, wohl aber eine grundlose oder willkürliche Absetzung.2881 Aus konventionsrechtlicher Perspektive unproblematisch sind innerstaatliche Regelungen, die sachlich gerechtfertigte Absetzungsgründe abschließend aufzählen und den Wertungen der EMRK nicht widersprechen.2882 Die Unabsetzbarkeit schützt die Richter davor, sich aus Sorge um ihren Status unzulässigem Druck beugen zu müssen. 2878

EGMR Nr. 7819/77 und 7878/77, Campbell und Fell v Vereinigtes Königreich, 28.06.1984, § 80; Nr. 48843/99, Cooper v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.2003, § 118; Nr. 65411/01, Sacilor Lormines v Frankreich, 09.11.2006, § 67; Nr. 23614/08, Henryk Urban and Ryszard Urban v Polen, 30.11.2010, § 45; Nr. 8014/07, Fruni v Slowakei, 21.06.2011, § 145; Nr. 2312/08 und 34179/08, Maktouf und Damjanović v Bosnien und Herzegowina (GK), 18.07.2013, § 49; Nr. 80018/12, Thiam v Frankreich, 18.10.2018, § 59; Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 298; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 62; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 174. 2879 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 172. 2880 Vgl. für den Zusammenhang zwischen sachlicher und persönlicher Unabhängigkeit, die der Weisungsfreiheit und der Unabsetzbarkeit entspricht, Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 1, § 23 Rn. 54; Morgenthaler, in: Epping / Hillgruber, Beck’scher OK GG, Art. 97 Rn. 14; Gröpl, Staatsrecht I, Rn. 1435. 2881 Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 241; Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtel, S. 363 (372); Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (600); siehe auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 174: die Absetzbarkeit von Richtern ist nicht automatisch eine Verletzung von Art. 6 EMRK; Wojtyczek, ERPL 32 (2020), S. 185 (203): „The requirement [the irremovability of judges] is applied by the Court with flexibility.“; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 143: Absetzung „nur aufgrund besonderer und genau festgelegter Umstände“; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote /  Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 50: „Die Möglichkeit der Absetzung beseitigt für sich die Unabhängigkeit nicht.“; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 246. 2882 So etwa bei EGMR Nr. 8790/79, Sramek v Österreich (Pl.), 22.10.1984, §§ 38, 26; Nr. 9273/81, Ettl u. a. v Österreich, 23.04.1987, §§ 41, 20; Nr. 8014/07, Fruni v Slowakei, 21.06.2011, § 145 („[J]udges could be recalled if they ceased to meet the vetting criteria“); Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 62–63.

E. Die richterlichen Statusrechte  

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Hinsichtlich der Absetzungsgründe zeigte sich der EGMR bislang großzügig.2883 Er akzeptierte eine Entlassung aus dem Grund, dass ein Richter die Voraussetzungen für die Ernennung nicht mehr erfüllte2884 und wenn ein Richter, sein Amt, etwa aus gesundheitlichen Gründen, längerfristig oder dauerhaft nicht mehr ausüben konnte2885. Ein Richter darf auch aufgrund eines rechtmäßig durchgeführten Disziplinarverfahrens aus dem Amt enthoben werden.2886 Dies gilt insbesondere für Fälle, in denen Beamte oder Militärangehörige eine richterliche Tätigkeit ausüben und sich das Disziplinarverfahren auf ihre exekutive Tätigkeit bezieht.2887 Das Handeln der exekutiven oder judikativen Disziplinarorgane ist durch den gesetzlichen Rahmen begrenzt und dadurch kontrollierbar. Die richterliche Weisungsfreiheit ist nicht bereits dadurch gefährdet, dass Richter in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Disziplinarorganen stehen.2888 Soweit ersichtlich, waren alle Absetzungsgründe, über die der EGMR bislang entschieden hat, von dem Zweck getragen, das Vertrauen in die Integrität der Gerichtsbarkeit zu schützen. Sollte eine Rechtsordnung den politischen Gewalten zu viel Einfluss auf die Gerichtsbarkeit einräumen, kann dem stets auf die Wahrung der gerichtlichen Unabhängigkeit bedachten EGMR unterstellt werden, solche Regelungen oder jedenfalls deren Anwendung im Einzelfall für konventionswidrig zu erklären.2889 Findet sich in der innerstaatlichen Rechtsordnung keine ausdrückliche gesetzliche Garantie der richterlichen Unabsetzbarkeit, ist dies unschädlich, sofern die hoheitlichen Organe diesen Grundsatz in der Praxis beachten. „[T]he absence of a formal recognition of this irremovability in the law does not in itself imply lack of independence provided that it is recognised in fact and that the other necessary guarantees are present […].“2890 2883

Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 63. EGMR Nr. 8790/79, Sramek v Österreich (Pl.), 22.10.1984, §§ 38, 26; Nr. 9273/81, Ettl u. a. v Österreich, 23.04.1987, §§ 41, 20. 2885 EGMR Nr. 8790/79, Sramek v Österreich (Pl.), 22.10.1984, §§ 38, 26; Nr. 9273/81, Ettl u. a. v Österreich, 23.04.1987, §§ 41, 20; Nr. 23695/02, Clarke v Vereinigtes Königreich (Zul.), 25.08.2005 („incapacity“). 2886 EGMR Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 313. 2887 EGMR Nr. 9273/81, Ettl u. a. v Österreich, 22.10.1984, §§ 41, 20; Nr. 23695/02, Clarke v Vereinigtes Königreich (Zul.), 25.08.2005. 2888 So ausdrücklich EGMR Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 298; siehe dazu, dass die richterliche Unabhängigkeit insgesamt durch das Abhängigkeitsverhältnis der Richter zu ihren Disziplinarorganen nicht grundsätzlich verletzt ist ab S. 598. 2889 Kühne, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 302 (2009) geht jedoch davon aus, dass, solange die rechtlichen Regelungen zur Absetzung im Voraus festgeschrieben sind, eine vorzeitige Absetzung unproblematisch ist und geht nicht näher auf zulässige oder unzulässige Gründe für eine Absetzung ein. 2890 EGMR Nr. 7819/77 und 7878/77, Campbell und Fell v Vereinigtes Königreich, 28.06.1984, § 80; inhaltsgleich EGMR Nr. 38784/97, Morris v Vereinigtes Königreich, 26.02.2002, § 68; Nr. 48843/99, Cooper v Vereinigtes Königreich, 16.12.2003, § 118; Nr. 65411/01, Sacilor ­L ormines v Frankreich, 09.11.2006, § 67; Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, 2884

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Aus diesem Grund legte der EGMR zum Beispiel in Campbell und Fell v Vereinigtes Königreich keinen Wert auf weitreichende gesetzliche Schutz­ mechanismen. „The Court notes that the Rules contain neither any regulation governing the removal of members of a Board nor any guarantee for their irremovability. Although it appears that the Home Secretary could require the resignation of a member, this would be done only in the most exceptional circumstances and the existence of this possibility cannot be regarded as threatening in any respect the independence of the members of a Board in the performance of their judicial function.“2891

Ist die Anwendungspraxis der Absetzungsgründe hingegen weniger zurückhaltend, kann dies  – zusammen mit unzureichend ausgestalteten gesetzlichen Schutzmechanismen der richterlichen Unabhängigkeit – zu einem Verstoß gegen die richterliche Unabhängigkeit führen: In der Entscheidung Urban v Polen wurde eine Richterin auf Probe vom Justizminister ernannt, für nicht mehr als vier Jahre einem Regionalgericht (district court) zugeteilt und konnte, die Zustimmung des Richterausschusses des Regionalgerichts (board of judges of  a regional court) vorausgesetzt, jederzeit ohne Angabe von Gründen wieder entlassen werden.2892 „[T]he assessor B. R.-G. lacked the independence required by Article 6 § 1 of the Convention, the reason being that she could have been removed by the Minister of Justice at any time during her term of office and that there were no adequate guarantees protecting her against the arbitrary exercise of that power by the Minister […]. It is not necessary to consider other aspects of the status of assessors since their removability by the executive is sufficient to vitiate the independence of the Lesko District Court which was composed of the assessor B. R.-G.“2893

Auf den besonderen Status der Richterin auf Probe ging der EGMR nicht ein. Da sich Richter auf Probe zunächst noch für ein dauerhaftes Richteramt empfehlen müssen, spricht das Schutzbedürfnis einer funktionsfähigen und leistungsfähigen Gerichtsbarkeit dafür, sie in Anwendung weniger strenger Voraussetzungen absetzen zu können. Weil für Richter auf Probe also jedenfalls keine strengeren Absetzungsregelungen gelten dürfen als für dauerhaft oder langfristig ernannte Berufsrichter, kann die Linie des Urteils Urban v Polen auf bereits erprobte Berufsrichter

§ 298; hierzu auch Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn.  50; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (600–601); Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 174–177; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 62–63; Le Bonniec, RFDC 106 (2016), S. 335 (345). 2891 EGMR Nr. 7819/77 und 7878/77, Campbell und Fell v Vereinigtes Königreich, 28.06.1984, § 80. 2892 EGMR Nr. 23614/08, Henryk Urban and Ryszard Urban v Polen, 30.11.2010, § 47; hierzu Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 180–181. 2893 EGMR Nr. 23614/08, Henryk Urban and Ryszard Urban v Polen, 30.11.2010, § 53; bestätigt in EGMR Nr. 33530/06, Pohoska v Polen, 10.01.2012, §§ 46–47, wo die gleiche verfassungswidrige Rechtsgrundlage angewendet wurde.

E. Die richterlichen Statusrechte  

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übertragen werden.2894 Hiernach verstößt eine Rechtslage, die eine Absetzung ohne sachlichen Grund und ohne gerichtliche Kontrollmöglichkeit erlaubt, gegen das konventionsrechtliche Prinzip der richterlichen Unabsetzbarkeit. Während die Konventionsstaaten also nicht gesetzlich verpflichtet sind, die Unabsetzbarkeit zu garantieren, so sind sie gleichwohl verpflichtet, Absetzungsgründe und -verfahren gesetzlich zu regeln und somit einer willkürlichen Rechtsanwendung zu entziehen. Auch in Bryan v Vereinigtes Königreich ordnete der EGMR den inspector – einen Beamten, der den Verstoß gegen eine Baugenehmigung kontrollieren sollte – nicht als Richter im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK ein, weil er jederzeit vom Innenminister abberufen werden konnte. „In the context of planning appeals the very existence of this power available to the Executive, whose own policies may be in issue, is enough to deprive the inspector of the requisite appearance of independence, notwithstanding the limited exercise of the power in practice as described by the Government and irrespective of whether its exercise was or could have been in issue in the present case.“2895

In diesem Fall reichte die Tatsache, dass der Innenminister von dieser Kompetenz keinen Gebrauch machte, also nicht aus. Entscheidend war, dass die innerstaatliche Rechtsordnung der hinsichtlich der Planungsentscheidungen kontrollierten Exekutive die Möglichkeit einer grundlosen Abberufung eröffnete.2896 Grund für die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK war somit die kaum vorhandene Trennung zwischen Exekutive und Judikative. Anders als Urban v Vereinigtes Königreich ist dieser Fall nicht ohne Weiteres auf Berufsrichter übertragbar, weil sich die enge Verzahnung zwischen Exekutive und Judikative im konkreten Fall insbesondere daraus ergibt, dass hier ein Beamter als Richter tätig war. Zusammenfassend bezieht der EGMR in seine Beurteilung der richterlichen Unabsetzbarkeit sowohl die Gestaltung der gesetzlichen Regelungen als auch deren praktische Anwendung ein.2897 Zusätzlich bezog der EGMR ein, ob die Absetzungsentscheidung begründet werden musste und ob die Möglichkeit einer gerichtlichen Kontrolle dieser Entscheidung bestand.2898

2894 Wojtyczek, ERPL 32 (2020), S. 185 (204) bezeichnet Urban v Polen als Ausnahme – normalerweise führe die Absetzbarkeit des Richters nicht zu einer Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK. 2895 EGMR Nr. 19178/91, Bryan v Vereinigtes Königreich, 22.11.1995, § 38. 2896 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 181–182. 2897 So ausdrücklich in EGMR Nr. 8014/07, Fruni v Slowakei, 21.06.2011, § 146; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 175. 2898 EGMR Nr. 8014/07, Fruni v Slowakei, 21.06.2011, §§ 147–149; Nr. 23695/02, Clarke v Vereinigtes Königreich (Zul.), 25.08.2005 („[B]efore any power of removal could be e­ xercised, the Lord Chancellor would have been required to give reasons, and the decision could have been subjected to judicial review“); Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, §§ ­120–122; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 175.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

b) Verkürzung der aktuellen Amtszeit durch Gesetzesänderung Im Urteil der Großen Kammer in der Sache Baka v Ungarn kontrollierte der EGMR keine bestehende Rechtslage oder ihre Anwendung, sondern eine Gesetzesänderung, welche die ursprünglich sechsjährige Amtszeit des beschwerdeführenden Gerichtspräsidenten des Obersten Gerichts vorzeitig beendete. Den Posten als Richter des Obersten Gerichts behielt der Beschwerdeführer.2899 Im Vorfeld der Gesetzesänderung hatte sich der Beschwerdeführer in seiner Funktion als Präsident des Supreme Courts und des National Council of Justice mehrfach kritisch zu geplanten Reformen des Gerichtssystems geäußert.2900 Ein Zusammenhang zwischen den kritischen Äußerungen und der Beendigung seines Amtes lag nahe.2901 Mit knapper Begründung stellte der EGMR eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK fest, weil die vorzeitige Beendung der Amtszeit als Gerichtspräsident nicht gerichtlich überprüfbar war.2902 „This lack of judicial review was the result of legislation whose compatibility with the requirements of the rule of law is doubtful […]. [T]he Court cannot but note the growing importance which international and Council of Europe instruments […] are attaching to procedural fairness in cases involving the removal or dismissal of judges, including the intervention of an authority independent of the executive and legislative powers in respect of every decision affecting the termination of office of a judge […]. Bearing this in mind, the Court considers that the respondent State impaired the very essence of the applicant’s right of access to a court.“2903

Baka v Ungarn zeigt einerseits, dass die richterliche Unabsetzbarkeit auch durch Gesetzesänderungen betroffen sein kann, welche die Dauer der bereits begonnenen Amtszeit verkürzen. Besonders gefährdet durch solche gesetzlichen Änderungen sind Richter und Gerichtspräsidenten der obersten Gerichte, die häufiger als erstinstanzliche Richter politisch relevante Entscheidungen treffen. Für diese besonderen Gerichte können Gesetzesänderungen so gezielt ausgestaltet werden, dass nur bestimmte Richter betroffen sind.2904 Hier liegt der Verdacht eines politisch motivierten Vorgehens bei der Gesetzesänderung besonders nahe. Andererseits zeigt das Urteil, dass die von der Verkürzung ihrer Amtszeit betroffenen Richter zwar keinen Verstoß gegen den konventionsrechtlichen Grund 2899

EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, §§ 88, 172. EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, §§ 15–23. 2901 Siehe zur Meinungsfreiheit im Rahmen des Richteramts ab S. 641. 2902 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, §§ 120–122. 2903 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 121. 2904 In der Sache EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016 veränderte der Gesetzgeber die Regelungen für die Wahl des Präsidenten des neuen obersten Gerichts, der Kúria, das der Rechtsnachfolger des Supreme Court war. Nach diesen neuen gesetzlichen Regelungen war der Beschwerdeführer nicht mehr wählbar, weil er – als ehemaliger Richter am EGMR – nicht ausreichend viele Jahre als Richter an einem ungarischen Gericht tätig gewesen war (§§ 29, 35). 2900

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satz der Unabsetzbarkeit geltend machen können. Ihnen muss aber ein Weg zum Gericht gegen diese Entscheidung zur Verfügung stehen, da sie persönlich von der Absetzungsentscheidung unmittelbar betroffen sind.2905 Dies gilt sowohl für gesetzliche Verkürzungen der Amtszeit als auch für richterliche Absetzungen aufgrund einer Einzelfallentscheidung. c) Zwischenfazit Das Prinzip der Unabsetzbarkeit schützt Richter und Gerichtspräsidenten vor einer grundlosen oder willkürlichen Absetzung durch exekutive oder legislative Rechtsakte. Hierdurch wird die freie Entscheidung der Richter ohne äußeren Druck oder unzulässige Einflüsse im Sinne der Weisungsfreiheit ermöglicht. Der EGMR hat bereits verschiedene sachliche Gründe anerkannt, die eine vorzeitige Absetzung rechtfertigen. Zusammenfassend dürfen Richter vorzeitig abgesetzt werden, wenn dies dem Schutz der Integrität der Gerichtsbarkeit dient. Der EGMR betrachtet sowohl die innerstaatliche Rechtslage als auch die konkrete Rechtsanwendung im jeweiligen Konventionsstaat. Die innerstaatlichen Gesetzgebungsorgane sind einerseits verpflichtet, die Gründe für eine vorzeitige Absetzung definieren und andererseits für die verfahrensrechtliche Absicherung durch Begründungspflicht und Zugang zum Gericht sorgen. Die Anwendungsorgane müssen bei ihren konkret-individuellen Entscheidungen und bei der Auslegung der gesetzlichen Grundlagen die konventionsrechtlichen Wertungen beachten. Sofern die Exekutive zurückhaltend agiert, verlangt der EGMR keine weitreichenden gesetzlichen Garantien der richterlichen Unabsetzbarkeit.2906 Somit sind die konventionsrechtlichen Anforderungen an die innerstaatlichen Gesetzgebungsorgane geringer, wenn die Rechtsanwendungsorgane von sich aus die richterliche Unabhängigkeit in ihren Entscheidungen respektieren. Insgesamt führt der Grundsatz der Unabsetzbarkeit nur selten für sich genommen zu einem Konventionsverstoß.2907 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Absetzungsentscheidung nicht auf einen sachlichen Grund gestützt werden muss und hiergegen kein Rechtsbehelf zur Verfügung steht. Das Urteil Baka v Ungarn zeigt, dass der Rechtsweg auch im Falle einer Verkürzung der Amtszeit durch eine Gesetzesänderung nicht ausgeschlossen sein darf. 2905 Siehe zur Möglichkeit der Richter, ihre persönlichen Rechte einzuklagen, unten ab S. 677. 2906 Kritisch zu dieser Rechtsprechung Esser, Strafverfahrensrecht, S. 544; Esser, in: LöweRosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 143. 2907 Wojtyczek, ERPL 32 (2020), S. 185 (204); Esser, Strafverfahrensrecht, S. 543 betrachtet die Unabsetzbarkeit als im Vergleich zur Dauer der Amtszeit wichtigeres Kriterium. Andere Stimmen in der Literatur betrachten den Schutz der richterlichen Unabhängigkeit durch die Grundsätze der Unabsetzbarkeit als gering, Kuijers, The Blindfold of Lady Justice, S. 246; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 62–63; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 176–177.

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3. Unversetzbarkeit Die richterliche Unversetzbarkeit hat die gleiche Schutzrichtung wie die Unabsetzbarkeit.2908 Im Vergleich zur Absetzung ist die Versetzung gegen den Willen des Richters eine mildere Maßnahme. Sofern Prozessparteien eine fehlende Unabhängigkeit der für sie zuständigen Richter geltend machten, finden sich in der Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK, soweit ersichtlich, keine Urteile, die eine dauerhafte Versetzung eines Richters gegen dessen Willen zum Gegenstand hatten. In der Sache Kleuver v Norwegen übernahm der Präsident des Eidsivating High Court jedoch zweimal für eine begrenzte Zeit vertretungsweise einen Sitz im Supreme Court. Der EGMR sah keine Gefährdung der richterlichen Unparteilichkeit, weil der Richter nach seiner Verfügbarkeit gefragt wurde und mit der Abordnung einverstanden war.2909 Darüber hinaus: „The judge in question normally served as a permanent member of the High Court, with all the guarantees of independence and impartiality befitting members of the judiciary generally. Each one of his assignments with the Supreme Court had been of a fixed duration with the specific purpose of replacing members of that court. In the light of this, the Court does not find that the relatively short duration of each term of temporary replacement could reasonably call into doubt the judge’s independence and impartiality.“2910

Außerdem schloss der EGMR mögliche Interessenskonflikte aus, weil der Präsident des High Court sich zum damaligen Zeitpunkt nicht auf einen Posten im Supreme Court beworben hatte.2911 In Richert v Polen wurde die kurzfristige Abordnung von Richtern an andere Gerichte im Rahmen des Gesetzesvorbehalts thematisiert.2912 Der EGMR sprach die richterliche Unabhängigkeit indirekt im Rahmen seiner Rechtmäßigkeitsprüfung2913 an. Voraussetzungen einer Abordnung waren, dass diese auf dreißig Tage pro Jahr begrenzt war, dass Verfahrensvorschriften eingehalten werden mussten und dass im Vorhinein bereits die Daten der Verhandlungen feststehen sollten. Durch diese Voraussetzungen sollte die richterliche Unabhängigkeit geschützt

2908 Die Unversetzbarkeit als Aspekt der Unabsetzbarkeit auch bei Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 239–240; Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtel, S. 363 (372). 2909 EGMR Nr. 45837/99, Kleuver v Norwegen (Zul.), 30.04.2002; zu dieser Entscheidung Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 232; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 50 Fn. 158 unter dem Gesichtspunkt der Länge der Amtszeit. 2910 EGMR Nr. 45837/99, Kleuver v Norwegen (Zul.), 30.04.2002. 2911 EGMR Nr. 45837/99, Kleuver v Norwegen (Zul.), 30.04.2002. 2912 So auch eingeordnet bei Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 37. 2913 EGMR Nr. 54809/07, Richert v Polen, 25.10.2011, §§ 44–57; siehe hierzu auch schon oben ab S. 582.

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werden. Auch in diesem Fall war es vorteilhaft, wenn der abgeordnete Richter mit seiner Abordnung einverstanden war.2914 Beide Entscheidungen deuten darauf hin, dass die kurzfristige Abordnung an ein anderes Gericht jedenfalls konventionskonform ist, wenn der betroffene Richter zustimmt und wenn über die Abordnung kein unzulässiger politischer Einfluss auf die späteren Entscheidungen ausgeübt werden kann. Es muss allerdings bezweifelt werden, dass tatsächlich sichergestellt werden kann, dass alle Richter ihre Zustimmung aus eigenem Antrieb geben oder ob sie doch informellen, nicht nachweisbaren Einflussnahmen ausgesetzt waren. Darüber hinaus kann auch ein sachlicher Zweck der gesetzlichen Versetzungsgrundlage, etwa eine unzureichende Besetzung des Zielgerichts, in die Abwägung der richterlichen Unabhängigkeit einbezogen werden. Im Falle einer dauerhaften unfreiwilligen Versetzung müssten diese sachlichen Gründe schwerer wiegen als bei einer kurzfristigen, freiwilligen Abordnung. Die Rechtsprechung des EGMR gibt jedoch keinen Grund zur Annahme, dass der EGMR eine unfreiwillige Versetzung per se ausschließt.2915 In der Sache Bilgen v Türkei machte ein Richter das Recht auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend, nachdem er gegen seinen Willen an ein Gericht versetzt wurde, dass weit von seinem vorherigen Gericht und damit seinem Wohnort entfernt war und in der gerichtlichen Hierarchie unter seinem vorherigen Gericht stand. Gegen diese Versetzungsentscheidung stand ihm kein gerichtlicher Rechtsbehelf zur Verfügung.2916 Im Rahmen der Prüfung des Anwendungsbereichs, ob ein innerstaatliches Recht vorlag, legte der EGMR die nationalen Normen zum Schutz der richterlichen Unabsetzbarkeit im Lichte der EMRK und weiterer völkerrechtlicher Normen aus.2917 Da die vom EGMR herangezogenen völkerrechtlichen Normen für alle Konventionsstaaten gleichermaßen gelten, muss davon ausgegangen werden, dass das Recht eines Richters auf Unversetzbarkeit in jeder konventionsstaatlichen Rechtsordnung verankert ist. In zusätzlicher Anwendung der Vilho Eskelinen-Kriterien2918 führt dies typischerweise dazu, dass der zivilrechtliche Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK eröffnet ist. Daher müssen sich Richter gegen unfreiwillige Versetzungen gerichtlich zur Wehr setzen können. Die nationalen Gerichte müssen bei ihrer Entscheidung die richterliche Unabhängigkeit und speziell die konventionsrechtlichen Anforderungen an die Unversetzbarkeit beachten. „The question before the Court is not whether  a particular system or method of transfer or appointment of judges is to be preferred over another one, but is limited to whether the

2914

EGMR Nr. 54809/07, Richert v Polen, 25.10.2011, §§ 44–48. Noch weitgehender Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtel, S. 363 (372), der eine Versetzung als „unbedenklich“ einstuft, solange die betroffene Person weiter unabsetzbarer Richter bleibt. 2916 EGMR Nr. 1571/07, Bilgen v Türkei, 09.03.2021, §§ 12–15. 2917 Siehe hierzu bereits ab S. 440. 2918 Siehe hierzu im konkreten Fall EGMR Nr. 1571/07, Bilgen v Türkei, 09.03.2021, §§ 69–81. 2915

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

complete absence of a judicial review of the non-voluntary transfer of a judge is compatible with the rule of law and Article  6 § 1 of the Convention. The Court stresses the growing importance attached to the separation of powers and to the necessity of safeguarding the independence of the judiciary […]. It further notes the existing consensus on the necessity to have in place procedural safeguards and the possibility of appeal against decisions affecting the career, including the status, of a judge […]. Furthermore, various international reports express concern about the improper use of the transfer mechanism in Turkey against judges, which is exacerbated further by the fact that no judicial remedy is available for such measures […]. […] In view of the important role that judges play in securing Convention rights, it is imperative that there exist procedural safeguards in order to ensure that their judicial autonomy is not jeopardised by undue external or internal influences. What is also at stake is public trust in the functioning of the judiciary. In matters concerning their career, as in the present case where a unilateral decision was taken against a judge calling for his transfer, there should be weighty reasons exceptionally justifying the absence of a judicial review, which have not been provided to the Court in this case.“2919

Auch wenn sich die Ausführungen des EGMR wie eine Abwägung lesen, lag bereits kein legitimes Ziel vor, auf das die Beschränkung des Rechts auf Zugang zum Gericht gestützt werden konnte.2920 Die von der Regierung vorgebrachten Gründe, dass die von Richtern angestrengten Gerichtsverfahren das Justizsystem über Gebühr belasten und das obligatorische Rotationssystem sinnlos machen würden,2921 reichten dem EGMR nicht aus. Die Schutzbedürftigkeit des innerstaatlichen Gerichtssystems wirkte sich also schon auf die Auswahl der zulässigen legitimen Gründe und nicht erst in der Abwägung aus. Das Urteil Bilgen v Türkei entfaltet in den Konventionsstaaten über die Anforderungen an die richterliche Unversetzbarkeit hinaus Wirkung. Der EGMR forderte, dass hoheitliche statusrechtlich relevante Maßnahmen gegen Richter gerichtlich überprüfbar sein müssen. Damit können die Richter zwar noch nicht unmittelbar ihre eigene Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit einklagen. Sie können diese Grundsätze aber mittelbar geltend machen, wenn sie persönlich nachteilige oder sanktionierende Maßnahmen erdulden mussten. In die Rechtfertigungsprüfung eines Eingriffs in ein privates Recht auf Zugang zum Gericht eines Richters stellte der EGMR Erwägungen zur gerichtlichen Autonomie, zur Funktionsfähigkeit der Gerichtsbarkeit sowie zum Schutz der Richter vor unzulässigen externen oder internen Einflüssen ein. Der besondere richterliche Status wirkt sich also auf die Prüfung des Rechts auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK aus.

2919

EGMR Nr. 1571/07, Bilgen v Türkei, 09.03.2021, § 96. EGMR Nr. 1571/07, Bilgen v Türkei, 09.03.2021, § 97. 2921 EGMR Nr. 1571/07, Bilgen v Türkei, 09.03.2021, § 95. 2920

E. Die richterlichen Statusrechte  

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4. Absetzbarkeit von Richtern auf Probe In vielen europäischen Staaten werden Richter, bevor sie lebenslang oder für eine längere Amtsperiode ernannt werden, für eine kürzere Zeit auf Probe tätig.2922 Solange die dauerhafte Ernennung noch aussteht, besteht die Gefahr, dass die Richter geneigt sind, Urteile im Sinne der Personen oder Organe zu sprechen, die schließlich über ihre dauerhafte Ernennung befinden müssen.2923 EGMR-Rechtsprechung zu den Besonderheiten von Proberichtern findet sich, soweit ersichtlich, nicht. In Urban v Polen wurde zwar eine Richterin auf Probe (junior judge2924) abgesetzt. Allerdings knüpfte die Begründung des EGMR nicht an diesem besonderen richterlichen Status,2925 sondern allein an der jederzeitigen voraussetzungslosen Absetzbarkeit der Richterin an.2926 Somit gilt für Proberichter wie für dauerhaft oder langfristig ernannte Berufsrichter, dass sie nicht ohne Sachgrund und ohne gerichtliche Kontrollmöglichkeit abgesetzt werden dürfen. Der besondere Status eines Proberichters war jedoch Gegenstand der EKMREntscheidung Stieringer v Deutschland,2927 auf die auch Urban v Polen verwies.2928 Der Beschwerdeführer machte wegen der Beteiligung zweier Proberichter an einer gerichtlichen Entscheidung gegen ihn einen Verstoß gegen die gerichtliche Unabhängigkeit gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend. Die Erprobungszeit betrug drei Jahre. Eine Entlassung im Laufe oder am Ende der Erprobungszeit konnte gerichtlich kontrolliert werden und die richterliche Tätigkeit der Proberichter war umfassend gesetzlich geregelt. Neben den rechtlichen Vorschriften bezog die EKMR auch deren praktische Anwendung ein.2929 „Under the German system, the participation of probationary judges serves at the same time the purposes of training and selecting candidates for appointment as permanent judges and of allowing the courts to benefit from the work of these judges who, following legal studies and

2922

Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 237. Die Venedig-Kommission, CDL-AD(2010)004, Report on the Independence of the Judicial System, Part I. Independence of Judges, angenommen am 12.–13.03.2010, §§ 36–38 betrachtet die richterliche Unabhängigkeit der Proberichter kritisch. 2923 Diese Gefahr wird auch in der Literatur gesehen, Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 237. So auch die Venedig-Kommission, CDL-AD(2010)004, Report on the Independence of the Judicial System, Part I. Independence of Judges, angenommen am 12.–13.03.2010, § 38; CDL-AD(2007)028, Report on Judicial Appointments, angenommen am 16.–17.03.2007, § 40, jedoch schließt sie die Ernennung eines Richters auf Probe nicht grundsätzlich aus, § 41. 2924 EGMR Nr. 23614/08, Henryk Urban and Ryszard Urban v Polen, 30.11.2010, § 9. 2925 EGMR Nr. 23614/08, Henryk Urban and Ryszard Urban v Polen, 30.11.2010, § 53, siehe bereits das Zitat zu Fn. 2893. 2926 Siehe hierzu bereits S. 622–623. 2927 Hierzu Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 65; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 238–239. 2928 EGMR Nr. 23614/08, Henryk Urban and Ryszard Urban v Polen, 30.11.2010, § 53. 2929 EKMR Nr. 28899/95, Stieringer v Deutschland (Zul.), 25.11.1996.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

training, obtained the general qualification to exercise the functions of judges. In the exercise of their function as judges, they enjoy the full guarantees as to their objective independence. The fact that for the sole purpose of training, they remain for a period regularly not longer than three years liable to removal by the judicial authorities does not justify the conclusion that their objective independence is no longer established. Accordingly, in the Commission’s view, this system does not, in itself, amount to a situation which could seriously affect the confidence which the courts must inspire in a democratic society.“2930

Die Einschränkung der richterlichen Unabhängigkeit wurde durch das Ziel einer guten richterlichen Ausbildung und somit einer gut funktionierenden und qualitativ hochwertigen Gerichtsbarkeit gerechtfertigt. Hiernach widerspricht das Institut des Proberichters dem konventionsrechtlichen Unabhängigkeitskonzept nicht.2931 Legt man Urban und Polen sowie die weitere Rechtsprechung zur richterlichen Unabsetzbarkeit zugrunde, muss Richtern auf Probe, die nicht dauerhaft ernannt werden, ein Rechtsbehelf zur Verfügung stehen und eine sachliche Begründung geliefert werden.2932 5. Zwischenfazit Die Vorgaben der EMRK sowohl zur richterlichen Amtszeit als auch zur Unabsetzbarkeit und zur Unversetzbarkeit gestalten den richterlichen Status aus und sind daher ein wichtiger Aspekt der innerstaatlichen, personellen Gewaltenteilung. Während die Dauer der Amtszeit bisher nie für sich genommen ausschlaggebend für einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK war, kann ein gravierender Mangel der richterlichen Unabsetzbarkeit den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit so stark beeinträchtigen, dass dieser auch durch besonders wirksame Schutzmechanismen nicht mehr ausgeglichen werden kann. In weniger eindeutigen Fällen stellt der EGMR die gesetzlichen Regelungen zur richterlichen Unabsetzbarkeit und ihre Anwendung in die Gesamtabwägung ein. Eine lebenslange Amtszeit oder eine Amtszeit bis zu einer gesetzlich definierten Altersgrenze fördert die richterliche Unabhängigkeit. Amtszeiten, die auf eine bestimmte Dauer begrenzt sind, können der richterlichen Unabhängigkeit schaden, wenn sie knapp bemessen sind. Gleiches gilt für solche Fälle, in denen die Richter nur für ein Verfahren hinzugezogen werden und für die Möglichkeit der Wiederwahl. Auch die Art der Streitigkeit und des Gerichts spielen bei der Beurteilung 2930

EKMR Nr. 28899/95, Stieringer v Deutschland (Zul.), 25.11.1996. Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 238. Kühne, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 303 (2009) weist jedoch darauf hin, dass jedenfalls Richter auf Probe in Deutschland versetzbar und absetzbar sind und hält dies für konventionswidrig; ebenso Lippold, NJW 1991, S. 2383 (2385). 2932 Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 65–66; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 239 geht noch nicht davon aus, dass diese Faktoren einbezogen werden, fordert dies aber. 2931

E. Die richterlichen Statusrechte  

631

eine Rolle. So ist es bei Laienrichtern und Schöffen leichter zu begründen, warum eine Amtszeit kurz ist oder sie nur für ein Verfahren ausgewählt werden. Die Unabsetzbarkeit versteht die EMRK nicht absolut. Richter sind lediglich vor willkürlichen und grundlosen Absetzungen, nicht jedoch vor Absetzungen aus sachlichen Gründen, geschützt. Diesbezüglich korrespondiert die Rechtsprechung zur Unabsetzbarkeit mit der Rechtsprechung zur Weisungsfreiheit. Für den EGMR ist es unerheblich, ob eine Absetzung aufgrund einer rechtsanwendenden oder einer rechtsetzenden Entscheidung erfolgt. Die innerstaatlichen Gesetzgebungsorgane sind verpflichtet, einen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen Absetzungsentscheidungen einzurichten. Zudem müssen die konkreten Absetzungsentscheidungen begründet werden. Besonderen Wert legt der EGMR aber darauf, wie häufig und in welchen Fällen die Exekutive von ihrer Möglichkeit, einen Richter abzusetzen Gebrauch gemacht hat. Somit waren die tatsächlichen Verhältnisse in diesem Fall relevanter als die gesetzlichen Grundlagen. Je größer der Respekt der Disziplinarorgane vor der richterlichen Unabsetzbarkeit, desto geringer gestalten sich die Anforderungen an die gesetzlichen Grundlagen. Dies räumt den Konventionsstaaten einen großen Spielraum beim Umgang mit der richterlichen Unabsetzbarkeit ein. Liegt keine Absetzung, sondern eine weniger eingreifende Versetzung eines Richters vor, gelten grundsätzlich die gleichen Rechtsprechungsprinzipien. Die geringere Intensität eines möglichen Angriffs auf die richterliche Unabhängigkeit wird in der Gesamtabwägung beachtet. Bei einer Ernennung eines Richters auf Probe können weniger strenge Vorschriften zur Unabsetzbarkeit dadurch gerechtfertigt sein, eine Ausbildung geeigneter neuer Richter sicherzustellen. Die Urteile Baka v Ungarn und Bilgen v Türkei zeigen, dass Richter die Möglichkeit haben müssen, sowohl gegen Absetzungs- als auch gegen Versetzungsentscheidungen gerichtlich vorzugehen. Im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung eines Eingriffs in das Recht auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK, weil den Richtern ein entsprechender Rechtsbehelf nicht zur Verfügung stand, lässt der EGMR die besondere Bedeutung unabhängiger Richter für eine funktionsfähige Gerichtsbarkeit einfließen.

III. Vergütung Auch die richterliche Vergütung trägt dazu bei, die richterliche Unabhängigkeit vor unerwünschten Einflüssen abzusichern.2933 Das Recht auf Vergütung mag kein Statusrecht im engeren Sinne sein, das sich unmittelbar auf die hoheitliche Tätigkeit bezieht. Es geht allerdings mit der hauptberuflichen richterlichen Tätigkeit einher, sodass eine Erörterung an dieser Stelle sinnvoll ist. 2933 Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 66; Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 55.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Bereits die EKMR entschied, dass die Kompetenz eines Finanzministers, die Höhe der richterlichen Vergütung festzulegen, im konkreten Fall keinen Anhaltspunkt dafür bot, dass der Finanzminister in missbräuchlicher Weise Einfluss auf die Entscheidungen des Gerichts genommen hatte und lehnte die Beschwerde in der Sache Eccles v Irland daher als offensichtlich unbegründet ab.2934 In der EGMR-Rechtsprechung ist zur richterlichen Vergütung keine einheit­ liche Rechtsprechungslinie zu erkennen. In der Zulässigkeitsentscheidung Clarke v Vereinigtes Königreich führte der EGMR die gesetzlich festgelegte Vergütung als einen von mehreren Aspekten an, die für die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter sprachen.2935 In Nordbø v Vereinigtes Königreich wurden Zweifel an der richterlichen Unabhängigkeit, die dadurch hervorgerufen wurden, dass die Vergütung durch legislative und exekutive Organe mitbestimmt werden konnte, in zweiter Instanz geheilt.2936 In Volkov v Ukraine wertete der EGMR die Tatsache, dass einige Mitglieder des Richterrates ein Gehalt aus einer anderen Tätigkeit erhielten, in deren Rahmen sie von ihrem primären Dienstherren abhängig waren, als Anhaltspunkt, der gegen die richterliche Unabhängigkeit sprach.2937 In Xhoxhaj v Albanien erhielt eine vom EGMR als Gericht qualifizierte Kommission am Ende des Jahres einen Vergütungsbonus zur Anerkennung ihrer Arbeit. Da die Kommission aber gesetzlich zur Unabhängigkeit verpflichtet war, wurde durch die Sonderzahlung kein Zweifel an der richterlichen Unabhängigkeit hervorgerufen.2938 Schließlich erwähnte der EGMR den Zusammenhang zwischen Vergütung und richterlicher Unabhängigkeit auch unter dem Gesichtspunkt des Eigentumsrechts aus Art. 1 ZP.2939 In der Zulässigkeitsentscheidung Savickas v Litauen wurden die ursprünglich geschuldeten richterlichen Bezüge nach einer vorübergehenden Kürzung wegen einer Wirtschafts- und Finanzkrise nur anteilig zurückgezahlt.2940 Von dieser Reduzierung waren nicht nur die Richter, sondern alle Staatsbediensteten betroffen. Der EGMR folgte der Einschätzung des nationalen Verfassungsgerichts, dass die zeitweise geringere Vergütung die Richter nicht daran hinderte, ihre hoheitlichen Aufgaben mit der erforderlichen Würde auszuüben.2941 In seine Abwägung bezog der EGMR also die – im konkreten Fall geringen – Auswirkungen der Gehaltseinbuße auf die richterliche Tätigkeit ein. Dies zeigt, dass die richterliche Vergütung dazu dient, eine wirksame richterliche Tätigkeit zu ermöglichen. 2934

EKMR Nr. 12839/87, Eccles u. a. v Irland (Zul.), 09.12.1988; hierzu Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 255–256. 2935 EGMR Nr. 23695/02, Clarke v Vereinigtes Königreich (Zul.), 25.08.2005; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 67 Fn. 223. 2936 EGMR Nr. 67122/14, Nordbø v Vereinigtes Königreich (Zul.), 16.01.2017, §§ 29, 33, 48. 2937 EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 113. 2938 EGMR Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 301. 2939 Siehe zur Bedeutung des persönlichen Eigentumsrechts für Richter ab S. 685. 2940 EGMR Nr. 66365/09, Savickas u. a. v Litauen (Zul.), 15.10.2013, §§ 4, 46, 90; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 193 Fn. 803. 2941 EGMR Nr. 66365/09, Savickas u. a. v Litauen (Zul.), 15.10.2013, §§ 93–94, 44.

E. Die richterlichen Statusrechte  

633

Im Urteil Zubko v Ukraine wurden die Ansprüche der beschwerdeführenden Richter auf eine nachträgliche Gehaltszahlung über zu lange Zeit nicht umgesetzt.2942 „[T]he failure of the State to provide judicial benefits to judges in a timely manner is incompatible with the need to ensure their ability to exercise their judicial functions independently and impartially, in order to be shielded from outside pressures aimed at influencing their decisions and behaviour […].“2943

In diesem Fall schadete also die fehlende Umsetzung der Verurteilung zur nachträglichen Gehaltszahlung der richterlichen Unabhängigkeit. Insgesamt nimmt die richterliche Vergütung in der EGMR-Rechtsprechung eine nachrangige Rolle ein. Der EGMR erkennt jedoch an, dass die richterliche Vergütung dazu beitragen kann, die Funktionsfähigkeit der Gerichtsbarkeit und die unabhängige gerichtliche Tätigkeit sicherzustellen. Wird das in Aussicht gestellte richterliche Gehalt nicht rechtzeitig oder ausreichend gezahlt, dann kann hierdurch die richterliche Unabhängigkeit gefährdet werden. Die Richter haben die Möglichkeit, dies selbst über das Eigentumsrecht aus Art. 1 ZP geltend zu machen. Hingegen ergeben sich aus der EMRK keine Anhaltspunkte dafür, wie hoch die richterliche Vergütung ausfallen muss oder welche hoheitlichen Organe darüber entscheiden sollten.

IV. Richterliche Immunität Die richterliche Immunität wird nicht im Rahmen der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit relevant, sondern als Eingriff in das Recht auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie im Rahmen der Rechtfertigung eines Eingriffs in das Recht der persönlichen Freiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 EMRK. Anders als bei der Weisungsfreiheit, der gesicherten Amtszeit und der Unabsetzbarkeit sind die Konventionsstaaten also nicht verpflichtet, Richtern Immunität gegen bestimmte gegen sie gerichtete (An-)Klagen zu verschaffen. Der EGMR prüft vielmehr, ob die richterliche Immunität im konkreten Fall einem legitimen Ziel dient und verhältnismäßig ist.2944 Die EGMR-Urteile zur richterlichen Immunität zeigen, in welchen Formen die richterliche Immunität konventionskonform beziehungsweise konventionswidrig sind, ohne dass in allen Staaten Regelungen zur richterlichen Immunität existieren müssen. 2942 EGMR Nr. 3955/04 u. a., Zubko u. a. v Ukraine, 26.04.2006, § 64. Dieses Urteil auch bei Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 66; Leach, European Court of Human Rights, Rn. 6.773 im Kontext der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in das Eigentumsrecht aus Art. 1 ZP. 2943 EGMR Nr. 3955/04 u. a., Zubko u. a. v Ukraine, 26.04.2006, § 68. 2944 Siehe zu den allgemeinen Grundlagen des Rechts auf Zugang zum Gericht inklusive der Rechtfertigungsvoraussetzungen oben ab S. 383.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Für die Gewaltenteilung bedeutet die richterliche Immunität, dass bestimmte richterliche Handlungen einer gerichtlichen Kontrolle entzogen sind. Die richterliche Immunität gestaltet den richterlichen Status und das Kontrollverhältnis der Gerichte zu anderen hoheitlichen Organen aus. 1. Gegen zivilrechtliche Klagen Eine auf hoheitliche Handlungen der Richter begrenzte richterliche Immunität gegen zivilrechtliche Klagen widerspricht den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht. Seit dem Leiturteil Ernst v Belgien2945 akzeptiert der EGMR das legitime Ziel, das ordnungsgemäße Funktionieren der Gerichtsbarkeit (bon fonctionnement de la justice / proper administration of justice) sicherzustellen.2946 Dies begründete der EGMR sowohl mit der langen Verfassungstradition in Belgien als auch mit einem rechtsvergleichenden Blick in die Rechtsordnungen der anderen Konventionsstaaten.2947 In Gryaznov v Russland präzisierte der EGMR: „[The judicial immunity for civil actions] permits judges to do their work in complete independence and free from fear that the exercise of their discretion and judgment may make them liable for damages. Finally, it permits judges to devote themselves entirely to their judicial duties without being constantly disrupted by civil actions lodged by losing parties.“2948

In die Verhältnismäßigkeitsabwägung in Ernst v Belgien bezog der EGMR ein, ob den klagenden Personen andere Rechtsmittel wie eine Staatshaftungsklage zur Verfügung standen, sodass sie ihre Rechte auf anderem Wege geltend machen können. Eine solche Möglichkeit sprach für die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs.2949 In der Sache Gryaznov v Russland stand dem Beschwerdeführer zwar kein anderer Rechtsbehelf zur Verfügung.2950 Dennoch lag keine Verletzung des Rechts auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK vor: 2945

Ebenfalls zitiert bei Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (554); Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 262; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 194 Fn. 807; Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 217. 2946 EGMR Nr. 33400/96, Ernst u. a. v Belgien, 15.07.2003, § 50; dem folgend EGMR Nr. 20347/03, Plakhteyev und Plakhteyeva v Russland, 12.03.2009, § 36; Nr. 19673/03, Gryaznov v Russland, 12.06.2012, §§ 76, 78; Nr. 5682/06, Sergey Zubarev v Russland, 05.02.2015, § 32; siehe auch Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 80; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 194 Fn. 807. 2947 EGMR Nr. 33400/96, Ernst u. a. v Belgien, 15.07.2003, § 50; der Verweis auf andere Konventionsstaaten auch in EGMR Nr. 72491/12, Klaedes v Zypern (Zul.), 22.09.2015, § 34. 2948 EGMR Nr. 19673/03, Gryaznov v Russland, 12.06.2012, § 78; dem folgend EGMR Nr. 5682/06, Sergey Zubarev v Russland, 05.02.2015, § 32. Zum Schutz der richterlichen Unabhängigkeit durch die richterliche Immunität auch Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 262. Anders wohl Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 194 Fn. 807: die richterliche Immunität ist nicht an deren Unabhängigkeit geknüpft. 2949 EGMR Nr. 33400/96, Ernst u. a. v Belgien, 15.07.2003, §§ 53, 55. 2950 EGMR Nr. 19673/03, Gryaznov v Russland, 12.06.2012, §§ 25, 74, 77.

E. Die richterlichen Statusrechte  

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„The Court notes that the immunity from civil claims for damage caused as part of the administration of justice is not of  a blanket or non-rebutted nature. In particular,  a civil action can be lodged in most serious cases where damage has been caused through unlawful conviction, unlawful prosecution, unlawful placement in custody or order not to leave the place of residence, unlawful administrative arrest or correctional work, irrespective of any fault on the part of judges or law-enforcement officials. A civil action for damages can also be lodged in cases where judicial acts have been done with malicious intent or corruptly and the judge’s guilt has been established in a final criminal conviction. The limitation in question cannot be therefore regarded as an arbitrary removal of the courts’ jurisdiction to determine a whole range of civil claims.“2951

Entscheidend war, dass der alternative Rechtsweg nicht willkürlich ausgeschlossen war. Diese Linie bestätigte der EGMR in Sergey Zubarev v Russland: Der beschwerdeführende Anwalt wollte wegen Verleumdung (defamation) gegen eine Richterin vorgehen. Diese hatte sich an den Präsidenten der Rechtsanwaltskammer (Tula Bar Association) gewandt, um ein Disziplinarverfahren gegen den Beschwerdeführer anzustrengen, weil er ein anhängiges Gerichtsverfahren unnötig in die Länge gezogen und sich öffentlich über das Verfahren beschwert hatte.2952 „[I]t is not [the Court’s] task to substitute its own view for that of the national legislature as to what would be the most appropriate policy as regards the judicial immunity from liability in circumstances such as those of the present case. It is for the national authorities to determine the extent to which the individual’s interests in full protection of his or her reputation should yield to the requirements of the public’s interest in the normal functioning of the judicial system […].“2953

Den Konventionsstaaten steht bei der gesetzlichen Ausgestaltung der richter­ lichen Immunität als Einschränkung des Rechts auf Zugang zum Gericht und eines möglichen alternativen Rechtsmittels im Rahmen der Staatshaftung also ein großer Gestaltungsspielraum zu. Selbst wenn den Betroffenen kein alternativer Rechtsweg zur Verfügung steht, kann die nationale Rechtslage konventionskonform sein, solange sie nicht willkürlich ausgestaltet ist.2954 Ob eine richterliche Immunität auch für nicht-hoheitliche Handlungen oder Unterlassungen des Richters verhältnismäßig wäre, hat der EGMR, soweit ersichtlich, bislang noch nicht entschieden.2955 Legt man allerdings die vom EGMR

2951

EGMR Nr. 19673/03, Gryaznov v Russland, 12.06.2012, § 80. EGMR Nr. 5682/06, Sergey Zubarev v Russland, 05.02.2015, § 7. 2953 EGMR Nr. 5682/06, Sergey Zubarev v Russland, 05.02.2015, § 37; siehe zur gesamten Begründung §§ 35–38. 2954 Nach diesen neueren Urteilen geht Gundels Deutung in Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 81 Fn. 317 nicht mehr weit genug: Er weist darauf hin, dass der EGMR nur die Zulässigkeit einer Staatshaftungsklage kontrolliert, nicht hingegen, ob auch tatsächlich ein Anspruch besteht. Gleiches gilt für Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 217. 2955 Vgl. Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 81: Die genaue Reichweite der richterlichen Immunität wurde vom EGMR noch nicht thematisiert. 2952

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

zur parlamentarischen Immunität etablierten Grundsätze zugrunde,2956 wäre eine so weitgehende richterliche Immunität nicht gerechtfertigt.2957 Zudem könnte sich eine solche Regelung nicht auf den Zweck, eine funktionsfähige Justiz zu erhalten, stützen.2958 2. Gegen strafrechtliche Anklagen Zur strafrechtlichen Immunität von Richtern äußerte sich der EGMR erstmals in der Entscheidung Alparslan Altan v Türkei. Nach dem versuchten Militärputsch in der Türkei im Juli 2016 wurde der Beschwerdeführer, ein Richter des Verfassungsgerichts, festgenommen. Das nationale Verfassungsgerichtsgesetz erlaubte eine Festnahme des Richters wegen dringenden Tatverdachts nur nach einer Plenumsentscheidung des Verfassungsgerichts oder wenn ein Richter in flagranti bei der Begehung einer Straftat entdeckt wurde.2959 „The Court observes that judicial protection of this kind is granted to judges not for their own personal benefit but in order to safeguard the independent exercise of their functions […]. As the Government rightly pointed out, such protection does not mean impunity. Its purpose is to ensure that the judicial system in general and its members in particular are not subjected, while discharging their judicial functions, to unlawful restrictions by bodies outside the judiciary, or even by judges performing a supervisory or review function. In this connection, it is important to note that Turkish legislation does not prohibit the detention of a member of the Constitutional Court, provided that the safeguards enshrined in the Constitution and Law no. 6216 are observed. Indeed, judicial immunity may be lifted by the Constitutional Court itself and prosecutions may be brought and preventive measures ordered, such as pre trial detention, in accordance with the procedure set out in sections 16 and 17 of that Law.“2960

Der EGMR erwähnte außerdem, dass Regelungen, die der steigenden Bedeutung der Gewaltenteilung und dem Schutz der Gerichtsbarkeit dienen, besonderer Beachtung bedürfen.2961 Das nationale Verfassungsgericht hatte den Begriff des in flagrante delicto so weit ausgelegt, dass den Richtern kein tatsächliches kriminelles Vergehen nachgewiesen werden musste, wenn sie Mitglied einer kriminellen Organisation waren.

2956

Siehe dazu oben ab S. 344. Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (554) verallgemeinern den Grundsatz zur parlamentarischen Immunität ebenfalls; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 262 bezogen auf Richter. 2958 Auch die Venedig-Kommission befürwortet eine richterliche Immunität nur im Rahmen der hoheitlichen Tätigkeit, Venedig-Kommission, CDL-AD(2010)004, Report on the Independence of the Judicial System, Part I: Independence of Judges, angenommen am 12.–13.03.2010, § 61. 2959 EGMR Nr. 12778/17, Alparslan Altan v Türkei, 16.04.2019, §§ 16, 49. 2960 EGMR Nr. 12778/17, Alparslan Altan v Türkei, 16.04.2019, § 113. 2961 EGMR Nr. 12778/17, Alparslan Altan v Türkei, 16.04.2019, § 102. 2957

E. Die richterlichen Statusrechte  

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Im Rahmen der Prüfung, ob die Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1 EMRK gerechtfertigt war, untersuchte der EGMR, ob diese extensive Auslegung der in flagranti-Ausnahme gegen das Prinzip der Rechtssicherheit verstieß. Die richterliche Immunität wurde also nicht als Schranke des Art. 6 Abs. 1 EMRK herangezogen, sondern um die Rechtfertigung einer Freiheitsentziehung gemäß Art. 5 Abs. 1 EMRK zu prüfen.2962 In staatsorganisatorischer Hinsicht verdeutlicht dieses Urteil, wie wichtig gesetzliche Schutzmechanismen zum Schutz der Judikative auch im Kontext anderer Konventionsrechte sind. Die extensive Auslegung des Ausnahmetatbestands ohne vorherige Zustimmung durch das Plenum des Verfassungsgerichts nährt die Befürchtung, dass der Richter aus politischen Gründen festgenommen wurde, damit er sein Amt nicht mehr ausüben konnte. Dies konnte der EGMR in seine Abwägung einbeziehen. Darüber hinaus erkannte der EGMR die richterliche Immunität durch Alparslan Altan v Türkei erstmals auch in strafrechtlichen Fällen als schützenswertes Rechtsgut an. 3. Zwischenfazit Die Rechtsprechungslage zur richterlichen Immunität ist dünn. Die bisherigen Urteile zeigen aber, dass der EGMR die richterliche Immunität im Hinblick auf die Ausübung einer hoheitlichen Tätigkeit grundsätzlich als verhältnismäßige Einschränkung des Rechts auf Zugang zum Gericht anerkennt, sofern die gesetzliche Ausgestaltung nicht willkürlich ist. Die Möglichkeit, einen anderen Rechtsbehelf, etwa aus dem Staatshaftungsrecht, zu ergreifen, fördert die Verhältnismäßigkeit der Einschränkung, ist aber keine zwingende Voraussetzung. Zur richterlichen Immunität in Strafsachen hat sich der EGMR bislang lediglich im Rahmen des Art. 5 Abs. 1 EMRK geäußert. Eine Regelung, welche die Festnahme eines Richters erst nach Plenumsentscheidung des Verfassungsgerichts erlaubte, ordnete er als begrüßenswerten Schutz der Gerichtsbarkeit ein. Dies zeigt jedenfalls, dass der EGMR auch eine richterliche Immunität in Strafsachen als taugliches Instrument zum Schutze einer funktionsfähigen Gerichtsbarkeit einordnet. Die Konventionsstaaten sind nicht verpflichtet, Regelungen zur richterlichen Immunität einzurichten. Innerhalb der beschriebenen Grenzen sind solche Regeln aber konventionskonform, sodass ihre Einrichtung allein im Ermessen der Kon 2962

EGMR Nr. 12778/17, Alparslan Altan v Türkei, 16.04.2019, §§ 104–115. Siehe hierzu auch das teilweisende abweichende Sondervotum von Richters Mert zu EGMR Nr. 12778/17, Alparslan Altan v Türkei, 16.04.2019. Siehe ausführlich zur Prüfung des Art. 5 Abs. 1 EMRK unten ab S. 683.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

ventionsstaaten steht. Die Konventionsstaaten dürfen somit bestimmte Handlungen der Richter einer gerichtlichen Kontrolle entziehen und somit die gerichtlichen Zuständigkeiten einschränken.

V. Fazit Die in der EMRK enthaltenen richterlichen Statusrechte schützen und fördern die richterliche Unabhängigkeit und die funktionsfähige Gerichtsbarkeit. Die Weisungsfreiheit, die gesetzlich festgelegte Amtszeit und die Unabsetzbarkeit leiten sich unmittelbar aus der in Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährleisteten richterlichen Unabhängigkeit ab. Die Konventionsstaaten sind verpflichtet, diese Statusrechte gesetzlich auszugestalten. Außerdem müssen die hierdurch gesetzten Grenzen von allen hoheitlichen Organen beachtet werden. Zur richterlichen Vergütung äußerte sich der EGMR nicht nur im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK, sondern auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsabwägung im Eigentumsrecht aus Art. 1 ZP. Hinsichtlich der genauen Ausgestaltung verfügen die Konventionsstaaten über einen weiten Gestaltungsspielraum. Typischerweise beurteilt der EGMR alle Aspekte der richterlichen Unabhängigkeit in einer Gesamtschau. Hierdurch lassen sich kaum Anforderungen aus der Konventionsrechtsprechung ableiten, die unabhängig vom konkreten Einzelfall auf alle Richter anwendbar sind. Hinsichtlich der Unabsetzbarkeit verlangt der EGMR jedoch für jede vorzeitige Beendigung der richter­ lichen Amtszeit stets einen sachlichen Grund. Die Weisungsfreiheit ist auf jeden Fall beeinträchtigt, wenn ein hoheitliches Organ einen Richter direkt auffordert, ein Urteil in seinem Sinne zu sprechen. Der EGMR beurteilt auch die tatsächliche Beachtung der richterlichen Weisungsfreiheit und der Unabsetzbarkeit. Fehlt eine gesetzliche ausdrückliche Garantie der Unabsetzbarkeit, ist dies für die Beurteilung der richterlichen Unabhängigkeit unschädlich, sofern die richterliche Unabsetzbarkeit in der Praxis geachtet wird. Genauso schadet der richterlichen Weisungsfreiheit nicht die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit, dass Richter Disziplinarmaßnahmen unterliegen und dass die für Disziplinarentscheidungen gegen Berufsrichter zuständigen Organe Prozessparteien sein dürfen. Entscheidend ist stets, ob eine tatsächliche Einflussnahme nachweisbar ist. Somit sind sowohl die Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der innerstaatlichen Zuständigkeitsordnung als auch die rechtsanwendenden Organe verpflichtet, die Grundsätze der Weisungsfreiheit und der Unabsetzbarkeit in ihrem Handeln zu berücksichtigen. Zur Einrichtung einer richterlichen Immunität sind die Konventionsstaaten nicht verpflichtet. Da die richterliche Immunität für zivilrechtliche Ansprüche, die wegen einer hoheitlichen Entscheidung des Richters geltend gemacht werden, jedoch eine verhältnismäßige und damit konventionskonforme Einschränkung des Rechts auf Zugang zum Gericht ist, dürfen die Konventionsstaaten solche Regelungen treffen.

F. Die persönlichen richterlichen Freiheitsrechte  

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Zusammenfassend begrenzen die richterlichen Statusrechte die Einwirkungen hoheitlicher Organe allgemein und besonders politischer Organe auf die richterliche Tätigkeit. Hierbei verbietet die EMRK nicht kategorisch jede Interaktion. So dürfen hoheitliche Organe insbesondere über Disziplinarmaßnahmen, die vorzeitige Absetzung eines Richters aus anderen Gründen und die Vergütung entscheiden.

F. Die persönlichen richterlichen Freiheitsrechte Mängel der richterlichen Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK können von den Prozessparteien geltend gemacht werden. Ein Richter kann sich hinsichtlich eines von ihm geleiteten Gerichtsverfahrens nicht persönlich auf Art. 6 Abs. 1 EMRK berufen. Art. 6 Abs. 1 EMRK enthält also kein subjektives Recht der Richter auf ihre eigene Unabhängigkeit und Unparteilichkeit.2963 Wie alle anderen Bürger können Richter aber ihre privaten Konventionsrechte geltend machen.2964 Soweit die Ausübung der richterlichen Freiheitsrechte im Zusammenhang mit einer richterlichen Tätigkeit steht, gestaltet die diesbezügliche Rechtsprechung die hoheitliche Stellung der Richter ergänzend zu den sich aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ergebenden Statusrechten aus.2965 Aus der Rechtsprechung zu den persönlichen richterlichen Freiheitsrechten ergeben sich materielle Vorgaben für Disziplinarverfahren, Absetzungen und Sanktionen gegen Richter.2966 Da in diesen Fällen üblicherweise auch der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK eröffnet ist,2967 haben sie außerdem das Recht auf eine gerichtliche Überprüfung der gegen sie gerichteten Disziplinarmaßnahmen. Richter haben über die materiellen und prozessualen Konventionsrechte somit indirekt die Möglichkeit, einen Verstoß gegen den Grundsatz der richterlichen Unabsetzbarkeit geltend zu machen. Aus einer institutionellen Perspektive betrachtet, ergänzt die Rechtsprechung zu den materiellen Freiheitsrechten das sich ansonsten vorrangig aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ergebende Verständnis der richterlichen Unabhängigkeit und gestaltet somit den richterlichen Status näher aus. Die besondere institutionelle Stellung der 2963 Die Entwicklung der Rechtsprechung hin zu einem solchen subjektiven Recht auf richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit forderte aber Richter Sicilianos in seinem zustimmenden Sondervotum zu EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, insb. §§ 13–15; hingegen zählt Richter Wojtyczek die gerichtliche Unabhängigkeit in seinem abweichenden Sondervotum zu EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 5 ausschließlich zum objektiven Recht. 2964 Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 82. Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (2) bezeichnet die persönlichen Freiheiten der Richter zusammenfassend als judicial freedom. 2965 Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (1). 2966 Vgl. Kosař / Lixinski, AJIL 190 (2015), S. 713 (735). 2967 Siehe hierzu bereits ab S. 440.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Richter wirkt sich auf die Auslegung ihrer Freiheitsrechte aus. Dies ist nicht nur dann der Fall, wenn Disziplinarmaßnahmen, Sanktionen oder Entlassungen von Richtern im Raum stehen, sondern auch dann, wenn sich der freiheitsrechtliche Eingriff nicht unmittelbar auf die hoheitliche Tätigkeit auswirkt.

I. Kein Recht auf Zugang zu öffentlichen Ämtern Die EMRK enthält kein Recht auf Zugang zu öffentlichen Ämtern. Dies stellte der EGMR im Urteil Glasenapp v Deutschland zunächst für exekutive Ämter,2968 anschließend in Wille v Liechtenstein auch für Richter fest.2969 Der EGMR begründete diese Rechtsprechungslinie damit, dass die Konventionsstaaten in ihren Beratungen ein solches Recht bewusst ausgeschlossen hatten.2970 Ein Bewerber für ein Richteramt kann hiernach nicht dagegen vorgehen, dass er – selbst wenn er alle Voraussetzungen für das Richteramt erfüllt und im Vergleich am besten qualifiziert ist – nicht zum Richter ernannt wird.2971 Gleiches gilt für den Fall, dass die zeitlich begrenzte Amtszeit eines Richters nicht verlängert wird.2972 Da das akzessorische Diskriminierungsverbot aus Art. 14 EMRK die Anknüpfung an ein Freiheitsrecht der EMRK verlangt,2973 kann hierüber auch keine ungerechtfertigte Bevorzugung eines anderen Bewerbers geltend gemacht werden. Ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 1 ZP 12 würde ein gesetzlich niedergelegtes Recht auf Zugang zu öffentlichen Ämtern voraussetzen.2974 Aus Art. 1 ZP 12 kann sich ein Recht auf Zugang zu öffentlichen Ämtern also nur in Kombination mit der jeweiligen innerstaatlichen Rechtsordnung ergeben.

2968

EGMR Nr. 9228/80, Glasenapp v Deutschland (Pl.), 28.08.1986, § 48; so auch Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn.  50. 2969 EGMR Nr. 28396/95, Wille v Liechtenstein (GK), 28.10.1999, § 41; Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, § 46. 2970 EGMR Nr. 9228/80, Glasenapp v Deutschland (Pl.), 28.08.1986, § 48; Nr. 28396/95, Wille v Liechtenstein (GK), 28.10.1999, § 41. 2971 Vgl. auch Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 327, der erwähnt, dass ein Richter keine Beschwerde vor dem EGMR einreichen kann, weil er wegen seiner persönlichen Ansichten nicht ernannt wird. 2972 In EGMR Nr. 28396/95, Wille v Liechtenstein (GK), 28.10.1999 lag gleichwohl eine Verletzung der Meinungsfreiheit, Art. 10 EMRK, des Beschwerdeführers vor. Nicht die Entscheidung des Prinz von Liechtenstein, den Richter nicht erneut zu ernennen, stellte den Eingriff dar, sondern ein Brief des Prinzen während der ersten Amtszeit des Richter, in dem er den Richter für seine Äußerungen kritisierte und in Aussicht erstellte, ihn in der Zukunft nicht ein zweites Mal zu ernennen; siehe dazu S. 640. 2973 Meyer-Ladewig / L ehner, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  14 Rn. 5–6; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 26 Rn. 4. 2974 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 26 Rn. 39; Peters / Altwicker, EMRK, § 34 Rn. 4.

F. Die persönlichen richterlichen Freiheitsrechte  

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II. Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 EMRK Die Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 EMRK schützt die freie Rede und hat in einer demokratischen Rechtsordnung die wichtige Aufgabe, den demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozess zu ermöglichen und zu fördern.2975 In den bisherigen Urteilen beriefen sich Richter auf Art. 10 EMRK, nachdem sie öffentlich ihre Meinung geäußert hatte, um gegen Entlassungen,2976 Versetzungen oder andere Disziplinarmaßnahmen2977 oder die Ablehnung der Verlängerung ihrer Amtszeit2978 vorzugehen.2979 Die richterliche Verpflichtung, unabhängig und unparteilich über Streitigkeiten zu entscheiden, steht in einem Spannungsverhältnis zum Recht, sich öffentlich zu äußern und somit möglicherweise das neutrale Erscheinungsbild zu verlieren.2980 1. Anwendungsbereich und Eingriff Aus dem hoheitlichen Status der Richter ergeben sich Besonderheiten für den persönlichen und den sachlichen Anwendungsbereich der Meinungsfreiheit aus Art. 10 EMRK. a) Persönlicher Anwendungsbereich: Richter als Berechtigte der Meinungsfreiheit Im Rahmen des persönlichen Anwendungsbereichs stellt sich die Frage, ob beziehungsweise in welchen Fällen Richter als Träger hoheitlicher Gewalt sich auf die Meinungsfreiheit berufen dürfen. Die Anwendbarkeit könnte in Zweifel gezogen werden, wenn der hoheitliche Eingriff in die Meinungsfreiheit eine Äußerung betrifft, die im Zusammenhang mit der hoheitlichen Tätigkeit des Richters steht.2981 2975

Mensching, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 10 Rn. 1; Daiber, in: Meyer-Ladewig /  Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 10 Rn. 3. Siehe zum Demokratiebegriff der EMRK und der Funktion des Art. 10 EMRK in diesem Zusammenhang bereits ab S. 134, außerdem zur von Art. 10 EMRK geschützten Freiheit des politischen Diskurses ab S. 358. 2976 EGMR Nr. 62584/00, Harabin v Slowakei (Zul.), 29.06.2004; Nr. 29492/05, Kudeshkina v Russland, 26.02.2009, § 53; Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 88. 2977 EGMR Nr. 38406/97, Albayrak v Türkei, 31.01.2008, §§ 18, 22 (Versetzung); Nr. 965/12, Guz v Polen, 15.10.2020, § 36 (Warnung). 2978 EGMR Nr. 28396/95, Wille v Liechtenstein (GK), 28.10.1999, §§ 8–21; ähnlich EGMR Nr. 965/12, Guz v Polen, 15.10.2020, §§ 12, 16–17, wo die unerwünschte Meinungsäußerung eine Beförderung des Beschwerdeführers verhinderte. 2979 Siehe auch die Aufzählung und Zusammenfassung in Background paper for the Judicial Seminar 2018: The Authority of the Judiciary (Fn. 464), S. 6–8. 2980 Siehe zu den sich hieraus ergebenden rechtlichen Fragen auch Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (4–11). 2981 Vgl. Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (3).

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Beschwerden exekutiver Organe oder Organwalter erklärte der EGMR bereits für unzulässig, weil sie innerstaatliche Organstreitigkeiten betrafen. Dies gilt nicht nur für den Fall, dass eine Kollegialkörperschaft statt ihrer Mitglieder selbst Konventionsverletzungen geltend machte.2982 In der Sache Demirbaş v Türkei machten die beschwerdeführenden Mitglieder eines Gemeinderates Verletzungen von Art. 10 EMRK und Art. 1 ZP geltend, nachdem der Gemeinderat gegen ihren Willen von übergeordneten Organen aus politischen Gründen aufgelöst worden war. Zwar waren die Gemeinderatsmitglieder von der Auflösung persönlich betroffen. Allerdings wurde die Auflösung mit den vom Gemeinderat gefassten Beschlüssen, also der hoheitlichen Tätigkeit, begründet. Daher erklärte der EGMR die Beschwerde für offensichtlich unbegründet.2983 Im Rahmen der richterlichen Meinungsfreiheit hat der EGMR diese Frage bislang allerdings noch nicht aufgeworfen.2984 Gerade in der Sache Baka v Ungarn hätte es auf der Hand gelegen, die Opfereigenschaft des Beschwerdeführers jedenfalls anzusprechen. Der beschwerdeführende Präsident des ungarischen Supreme Court äußerte sich mehrfach kritisch zu den geplanten Justizreformen in Ungarn, einerseits öffentlich in Pressemeldungen, andererseits in seiner Funktion als Vorsitzender des Nationalen Justizrates in Reden vor dem ungarischen Parlament.2985 In dieser Funktion war er gesetzlich dazu verpflichtet, sich zu aktuellen Entwicklungen der Gerichtsbarkeit zu äußern.2986 Der Beschwerdeführer übte also eine gesetzliche Stellungnahmepflicht aus und handelte jedenfalls bei seiner Rede im Parlament nicht aufgrund einer privaten Entscheidung.2987 Eine Verfassungsänderung, die in einem schnellen Gesetzgebungsverfahren beschlossen wurde, beendete Bakas Amtszeit als Präsident des Supreme Courts vorzeitig und verhinderte durch neu geschaffene gesetzliche Anforderungen für das Amt des Gerichtspräsidenten, dass er Präsident der Kúria, des neugegründeten Obersten Gerichts, werden konnte.2988

2982 So etwa bei EGMR Nr. 52559/99, Danderyds Kommun v Schweden (Zul.), 07.06.2001; Nr. 53984/00, Radio France u. a. v Frankreich (Zul.), 23.09.2003, § 26. 2983 EGMR Nr. 1093/08 u. a., Demirbaş u. a. v Türkei (Zul.), 09.11.2010. 2984 So Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (3). In EGMR Nr. 62584/00, Harabin v Slowakei (Zul.), 29.06.2004 riss der EGMR diese Frage immerhin an, ließ die Antwort aber offen, weil die Beschwerde aus anderen Gründen offensichtlich unbegründet war. 2985 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 145. Siehe außerdem die Darstellung in Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 186; Vincze, EPL 2015, S. 445 (447–450); Kosař / Šipulová, Hague Journal on the Rule of Law 10 (2018), S. 83 (92–94). 2986 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 44. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit bezog der EGMR diesen Aspekt sogar in seine Abwägung ein, § 168. Das ausführliche abweichende Sondervotum von Richter Wojtyczek, §§ 4–8 deutet jedenfalls darauf hin, dass der Großen Kammer diese Problematik nicht entgangen sein kann. 2987 Vgl. das abweichende Sondervotum von Richter Wojtyczek zu EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 7. 2988 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, §§ 34, 146–147. Siehe bereits zur Verkürzung der aktuellen Amtszeit durch eine Gesetzesänderung im Kontext der Unabsetzbarkeit oben ab S. 624.

F. Die persönlichen richterlichen Freiheitsrechte  

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Sowohl in Demirbaş v Türkei als auch in Baka v Ungarn verloren die Beschwerdeführer ihre Ämter, nachdem sie ihrer hoheitlichen Funktion nachgekommen waren. Ein Erklärungsansatz für das unterschiedliche Vorgehen des EGMR könnte sein, dass Beschwerdeführer Baka sich zusätzlich öffentlich in den Medien und damit nicht ausschließlich in hoheitlicher Funktion geäußert hatte. Eine Differenzierung zwischen den Pressemeldungen und der Stellungnahme im Parlament nahm der EGMR jedoch nicht vor. Darüber hinaus machten die Beschwerdeführer in Demirbaş v Türkei Rechte des staatlichen Organs gegen die vorzeitige Auflösung geltend, sodass eindeutig eine Organstreitigkeit vorlag. Schließlich zeigt die Rechtsprechung zu Art. 10 EMRK, dass der EGMR diese Fragen nicht ignoriert, sondern über die Abgrenzung zwischen offiziellen und privaten Äußerungen im sachlichen Anwendungsbereich entscheidet. Dieses Vorgehen ist nachvollziehbar, da bei Streitigkeiten zwischen Richtern und ihren Disziplinarorganen nicht von vorneherein feststeht, ob die sanktionierte Äußerung in einem hoheitlichen oder einem privaten Zusammenhang getätigt wurde. Es ist also kontextabhängig zu entscheiden, ob die Meinungsfreiheit anwendbar ist oder nicht. Ob der persönliche Anwendungsbereich eröffnet ist, kann hingegen nicht einzelfallabhängig, sondern für eine Person nur einheitlich entschieden werden. Daher ist die Klärung dieser Frage im sachlichen Anwendungsbereich vorzugswürdig.2989 b) Sachlicher Anwendungsbereich: Abgrenzung zwischen Meinungsfreiheit und dem Recht auf Zugang zu öffentlichen Ämtern Im sachlichen Anwendungsbereich grenzt der EGMR seit dem Wille-Urteil in ständiger Rechtsprechung bei richterlichen Meinungsäußerungen ab, ob im Schwerpunkt die Meinungsfreiheit oder der Zugang zu öffentlichen Ämtern betroffen ist.2990 Auch wenn die EMRK kein Recht auf Zugang zu öffentlichen Ämtern enthält, so können öffentliche Bedienstete (civil servants) dennoch ihre persönlichen Freiheitsrechte geltend machen, wenn sie entlassen werden.2991 Für 2989

Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (3) erwartet hingegen eine Problematisierung in der Zulässigkeit. 2990 EGMR Nr. 28396/95, Wille v Liechtenstein (GK), 28.10.1999, §§ 41–42; Nr. 62584/00, Harabin v Slowakei (Zul.), 29.06.2004; Nr. 29492/05, Kudeshkina v Russland, 26.02.2009, § 79; Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 140; Nr. 75255/10, Simić v Bosnien und Herzegowina (Zul.), 15.11.2016, § 32; Nr. 65717/14, Augustė v Litauen (Zul.), 26.02.2019, § 32; Nr. 76521/12, Eminağaoğlu v Türkei, 09.03.2021, § 127; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 184; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 235 mit Verweis auf die travaux préparatoires; Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (4). 2991 EGMR Nr. 28396/95, Wille v Liechtenstein (GK), 28.10.1999, § 41; Nr. 9704/82, Kosiek v Deutschland (Pl.), 28.08.1986, § 35; Nr. 51160/06, di Giovanni v Italien, 09.07.2013, § 69; so auch bereits für exekutive Bedienstete EGMR Nr. 9228/80, Glasenapp v Deutschland (Pl.), 28.08.1986, § 49; Nr. 17851/91, Vogt v Deutschland (GK), 26.09.1995, § 53; Nr. 14277/04, Guja v Moldawien (GK), 12.02.2008, § 70; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 91, 315.

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die Abgrenzung setzt der EGMR die angegriffene Maßnahme in den Kontext der zugrundeliegenden Tatsachen und des anwendbaren Rechts (the scope of the measure must be determined by putting it in the context of the facts of the case and of the relevant legislation).2992 Hierdurch trägt der EGMR dem Umstand Rechnung, dass die Eingriffe in die persönliche Meinungsfreiheit der Richter häufig in Form von disziplinarischen Maßnahmen erfolgen,2993 die sich auf die Ausübung des Richteramtes auswirken. Wird das disziplinarische Verfahren geführt, weil der Richter eine Meinung in privatem Kontext – etwa in einer Vorlesung oder einem Interview – geäußert hat, ist der sachliche Anwendungsbereich eröffnet.2994 Hingegen ist die Meinungsfreiheit nicht anwendbar, wenn eine disziplinarische Maßnahme wegen einer mangelhaften Ausübung der richterlichen Tätigkeit verhängt wird,2995 so zum Beispiel in der Zulässigkeitsentscheidung Harabin v Slowakei.2996 Zwar äußerte sich der beschwerdeführende Gerichtspräsident zum Entwurf einer Verfassungsänderung. Die gegen ihn verhängten Sanktionen wurden jedoch mit Verfehlungen in Ausübung seines Amtes begründet. Der Beschwerdeführer hatte es unterlassen, ein erforderliches Disziplinarverfahren gegen einen weiteren Richter zu initiieren und bei der Auswahl neuer Richter des Supreme Courts nicht die notwendige professionelle und ethische Haltung gezeigt.2997 Dieses Beispiel zeigt, dass der EGMR auf den Schwerpunkt abstellt, wenn verschiedene Gründe für Sanktionen gegen die Richter vorliegen, die nur teilweise in den Anwendungsbereich des Art. 10 EMRK fallen.2998 Im Urteil Wille v Liechtenstein prüfte der EGMR zwar, soweit ersichtlich, zum ersten Mal die richterliche Meinungsfreiheit. In dogmatischer Sicht stellt die Sachverhaltskonstellation aber einen Sonderfall dar. Der Prinz von Liechtenstein

2992

EGMR Nr. 28396/95, Wille v Liechtenstein (GK), 28.10.1999, § 43; Nr. 58688/11, Harabin v Slowakei, 20.11.2012, § 149; Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 140; Nr. 65717/14, Augustė v Litauen (Zul.), 26.02.2019, § 32. 2993 Siehe hierzu bereits die Nachweise in Fn. 2976 und Fn. 2977. 2994 In EGMR Nr. 29492/05, Kudeshkina v Russland, 26.02.2009, §§ 19–21 gab die Richterin Interviews im Rahmen ihrer Kandidatur für ein Abgeordnetenmandat; in EGMR Nr. 38406/97, Albayrak v Türkei, 31.01.2008, § 13 äußerte der Beschwerdeführer in einem privaten Kontext Sympathien für die kurdische PKK.  2995 Siehe hierzu die Übersicht der bisherigen relevanten Rechtsprechung (Wille v Liechtenstein, Kudeshkina v Russland, Harabin v Slowakei) in EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, §§ 141–142 und die daraus gezogenen Schlüsse mit Verweis auf EGMR Nr. 28396/95, Wille v Liechtenstein (GK), 28.10.1999, § 50; außerdem EGMR Nr. 62584/00, Harabin v Slowakei (Zul.), 29.06.2004; Nr. 29492/05, Kudeshkina v Russland, 26.02.2009, §§ 79–80. 2996 EGMR Nr. 62584/00, Harabin v Slowakei (Zul.), 29.06.2004; hierzu auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 183–184; Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (4). 2997 EGMR Nr. 62584/00, Harabin v Slowakei (Zul.), 29.06.2004; vergleichbare Argumentation bei EGMR Nr. 65717/14, Augustė v Litauen (Zul.), 26.02.2019, §§ 34–35. 2998 Bestätigt wird dies auch durch die Formulierung in EGMR Nr. 28396/95, Wille v Liechtenstein (GK), 28.10.1999, § 44: „[T]he recruitment to the civil service does not lie at the heart of the issue […].“; Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (4).

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weigerte sich, den Beschwerdeführer als Gerichtspräsident in zweiter Amtszeit zu ernennen und kündigte dies dem Beschwerdeführer bereits während dessen erster Amtszeit an.2999 Es ging in diesem Fall also nicht um eine disziplinarische Maßnahme. Die in Aussicht gestellte Weigerung des Prinzen ordnete der EGMR als Ermahnung und damit als Eingriff in die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers ein, sodass der Anwendungsbereich des Art. 10 Abs. 1 EMRK eröffnet war.3000 Äußerungen des Richters innerhalb eines gerichtlichen Verfahrens werden seiner hoheitlichen Funktion zugeschrieben, sodass sich der Richter diesbezüglich nicht auf seine Meinungsfreiheit berufen kann. Dies gilt insbesondere für vorzeitig geäußerte Einschätzungen in einer anhängigen Rechtssache. Solche Äußerungen schaden stattdessen dem unparteilichen Erscheinungsbild der Richter.3001 c) Analyse Im Grundsatz ist die Rechtsprechung des EGMR zur Eröffnung des sachlichen Anwendungsbereichs von Art. 10 EMRK bei richterlichen Meinungsäußerungen klar: Richter können sich unstrittig auf die Meinungsfreiheit aus Art. 10 EMRK berufen, wenn sie ihre Meinung in einem eindeutig privaten Kontext äußern und hierfür sanktioniert werden. Auch Disziplinarmaßnahmen, die an Äußerungen in privatem Kontext anknüpfen, sich aber auf ihre hoheitliche Tätigkeit auswirken, können Eingriffe in die Meinungsfreiheit darstellen. Der sachliche Anwendungsbereich ist jedoch nicht eröffnet, wenn Disziplinarmaßnahmen für Verfehlungen bei der richterlichen Tätigkeit verhängt werden. Wie bei den richterlichen Statusrechten unterscheidet der EGMR nicht, ob ein Beschwerdeführer in seinem Amt als Richter oder als Gerichtspräsident sanktioniert wurde, auch wenn der Verlust des Amts des Gerichtspräsidenten nicht automatisch auch den Verlust des Richterstatus bedeuten muss.3002

2999

EGMR Nr. 28396/95, Wille v Liechtenstein (GK), 28.10.1999, § 11. Siehe für eine Zusammenfassung des Sachverhalts Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 234–235. 3000 EGMR Nr. 28396/95, Wille v Liechtenstein (GK), 28.10.1999, §§ 48–50; siehe zu den Zweifeln an dem Vorgehen des EGMR auch Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 235; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 184–185. 3001 EGMR Nr. 29569/95, Buscemi v Italien, 16.09.1999, §§ 67–69; Nr. 22330/05, Olujić v Kroatien, 05.02.2009, § 65; Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (2, 11–17) bezieht in den Begriff der judicial freedom auch die Äußerungen im Rahmen gerichtlicher Verfahren mit ein, geht allerdings ebenfalls davon aus, dass diese nur von den Prozessparteien im Rahmen einer auf Art. 6 Abs. 1 EMRK basierenden Beschwerde geltend gemacht werden könnten. 3002 Vgl. EGMR Nr. 28396/95, Wille v Liechtenstein (GK), 28.10.1999, wo es um die Verlängerung des Amts des Gerichtspräsidenten ging; Nr. 62584/00, Harabin v Slowakei (Zul.), 29.06.2004, wo allein der Posten des Beschwerdeführers als Präsident des slowakischen Supreme Courts streitig war; Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016; kritisch zu diesem Vorgehen in Baka v Ungarn Kosař / Šipulová, Hague Journal on the Rule of Law 10 (2018), S. 83 (95–96).

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Fragen wirft jedoch die Eröffnung des sachlichen Anwendungsbereichs in Baka v Ungarn auf. Der Beschwerdeführer äußerte sich sowohl öffentlich als auch in seiner Funktion als Vorsitzender des Justizrates.3003 Der EGMR prüfte nur den Eingriff3004 und unterstellte damit die Eröffnung des Anwendungsbereichs. So thematisierte der EGMR nicht, dass er teils über eine private Streitigkeit des Beschwerdeführers mit dem Staat über die Verkürzung seiner Amtszeit entschied und teils über eine Organstreitigkeit des (ehemaligen) Vorsitzenden des Justizrates mit dem verfassungsändernden Gesetzgeber über die Unabsetzbarkeitsgarantie. In seinem abweichenden Sondervotum widersprach Richter Wojtyczek dem Vorgehen der Mehrheit der Großen Kammer. Er plädierte dafür, die richterliche Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit als rein objektives Recht zu sehen, das von den Richtern auch nicht über den Umweg des Art. 10 EMRK persönlich geltend gemacht werden kann. „The guarantees of judicial independence are not special human rights granted to individual persons holding judicial office, and they do not increase the degree of protection that individuals holding judicial office enjoy as human rights holders. Equally, they do not broaden the scope of the human rights enjoyed by those individuals. On the contrary, judicial integrity and independence may justify deeper interference with judges’ rights than in the case of ordinary citizens. These remarks apply a fortiori to the stability of tenure of a court’s president, including the president of a Supreme Court. Stability of tenure is granted to a court’s president for the sake of the proper exercise of judicial power. No individual interests motivate it. The person holding this office does not have any individual (subjective) right to retain office.“3005

Mit dieser Ansicht stellte sich Wojtyczek nicht nur gegen die Mehrheitsentscheidung in Baka v Ungarn, sondern grundsätzlich gegen die Anwendung von Art. 10 Abs. 1 EMRK bei Eingriffen in die richterlicher Meinungsfreiheit, die sich auf die Ausübung ihrer hoheitlichen Tätigkeit auswirken. Fielen all diese Fälle aus dem Anwendungsbereich des Art. 10 EMRK heraus, wäre der Schutz der richterlichen Meinungsfreiheit für private Äußerungen stark eingeschränkt. Wegen ihres hoheitlichen Status könnten sich Richter auch bei Auswirkungen auf ihren privaten Lebensbereich nur eingeschränkt auf den Schutz der Meinungsfreiheit aus Art. 10 Abs. 1 EMRK berufen. Dieses Ergebnis widerspräche dem konventionsrecht­lichen Grundgedanken eines möglichst effektiven Grundrechtsschutzes. Eine solche Rechtsprechung schadete auch dem (objektiven) Wert der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, weil Mitglieder der Judikative sich nicht ohne Sorge um ihre eigene Position für eben diese Werte öffentlich stark machen können. 3003

Siehe näher zum Sachverhalt bereits oben ab S. 642. Auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 186 hebt hervor, dass sich der Beschwerdeführer in seiner offiziellen Funktion äußerte. 3004 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, §§ 143–152. Vorher stellte er lediglich den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Äußerungen und der Verkürzung der Amtszeit dar. 3005 Abweichendes Sondervotum von Richter Wojtyczek zu EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 6.

F. Die persönlichen richterlichen Freiheitsrechte  

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Im Folgenden kritisierte Richter Wojtyczek konkret die Anwendbarkeit des Art. 10 Abs. 1 EMRK auf die offiziellen Stellungnahmen Bakas in seiner Funktion als Präsident des Nationalen Justizrates.3006 „Speech is, by its very nature, an instrument of action that is available to every individual. Utterances are factual acts which usually do not produce legal effects, and must be distinguished from acts of State authority, which are open only to public organs invested with State power. However, official speech is  a very specific way of exercising public power, which has the potential to influence the behaviour of individuals and the attitude of other State organs. […] The function of official speech is not to express private views. Speakers must remember that they present the official point of view of the official organ in question. They speak in the name of the State organ they represent, in order to achieve specific aims. One of the purposes of official speech is to interact with other State organs, within the broader framework of the checks and balances which ensure the separation of powers. In this context, official speech may be used as a tool to protect or assert a State organ’s powers vis-à-vis other State organs. In any event, official speech is not a matter of freedom but, at most, a matter of discretion in the exercise of public power […].“3007

Art. 10 EMRK dürfe nicht auf die Rede in hoheitlicher Funktion (official speech) angewendet werden.3008 „Applying Article 10 guarantees to official speech would mean that the manner in which a State organ speaks is to be considered a matter of personal freedom. Every communication which is not explicitly prohibited would be permitted. No specific legal basis for State organs to speak would be required and any restriction on official speech would have to comply with Article 10 § 2 of the Convention. […] A situation in which official speech interferes with the rights of another person could not be treated as mere State interference with that person’s rights, but would instead represent a situation of conflict between the freedom of speech of the public official on the one hand, and the rights of that third person on the other. […] The approach taken by the majority, consisting in applying Article 10 to official speech, turns a matter of discretion in the exercise of a specific public power into a free act, covered by the guarantees of individual freedom. The extension of Article  10 to official speech thus undermines the effective protection of the individual against the State.“3009

3006 Abweichendes Sondervotum von Richter Wojtyczek zu EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 6; diese Deutung auch bei Wojtyczek, ERPL 32 (2020), S. 185 (215–217). 3007 Abweichendes Sondervotum von Richter Wojtyczek zu EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 6. Hierbei beruft sich Wojtyczek auf die deutsche Grundrechtsdogmatik und zitiert Bethge, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 5 Rn. 39–40 = aktuell Bethge, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 5 Rn. 39–40. 3008 Hierfür verwies das abweichende Sondervotum von Richter Wojtyczek zu EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 8 erneut auf die deutsche Dogmatik, etwa BVerwGE 104, 323 (326) = BVerwG, 8 C 5/96, 18.04.1997, Rn. 17 (juris); Jarass, in: Jarass /  Pieroth, GG, 7. Aufl. 2004, Art. 5 Rn. 8 = aktuell Jarass, in: Jarass / K ment, GG, Art. 5 Rn. 14. 3009 Abweichendes Sondervotum von Richter Wojtyczek zu EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 8.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Folgt man Wojtyczek nur in diesem Argument, wäre der Anwendungsbereich des Art. 10 EMRK in Baka v Ungarn nicht eröffnet gewesen. Indem der EGMR nicht unter den Anwendungsbereich subsumierte, sondern direkt das Vorliegen eines Eingriffs prüfte, umging er, sich zu dem Problem direkt äußern zu müssen. Daher bleibt unklar, ob der EGMR vorrangig auf die medialen Äußerungen des Beschwerdeführers abstellte, bei denen – anders als bei den Äußerungen im Parlament als Vorsitzender des Nationalen Justizrates – der Bezug zur hoheitlichen Tätigkeit nicht zweifelsfrei hergestellt werden konnte. Selbst dann hätte der EGMR aber die Folgefrage beantworten müssen, wie es sich auf die Eröffnung des sachlichen Anwendungsbereichs auswirkt, wenn ähnliche Äußerungen sowohl in privater als auch in hoheitlicher Funktion gemacht wurden. Sofern der EGMR bei seiner Linie aus dem Urteil Baka v Ungarn bleibt, deutet sich ein konzeptioneller Umbruch der EMRK und die Entwicklung einer institutionellen Dimension an.3010 Für diese Entwicklung spricht, dass der EGMR die Anwendbarkeit der Meinungsfreiheit für Äußerungen in hoheitlicher Funktion auch für Abgeordnete anerkannt hat.3011 Allerdings ist die Rolle der Abgeordneten – anders als die der Richter – in der innerstaatlichen Zuständigkeitsordnung gerade durch den freien parlamentarischen Diskurs geprägt. Das Vorgehen in Baka v Ungarn zeigt den unbedingten Willen des EGMR, die Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit der innerstaatlichen Gerichtssysteme mit allen Mitteln zu schützen. Angesichts der besorgniserregenden Entwicklungen nicht nur im ungarischen Gerichtssystem drängt sich der Eindruck auf, dass sich der EGMR eine Handhabe schaffen wollte, Einfluss auf diese Entwicklungen nehmen zu können. Gleichwohl darf das verständliche Anliegen, die Rechtsstaatlichkeit in den Konventionsstaaten schützen zu wollen, nicht dazu führen, dass der EGMR das völkerrechtliche Prinzip der begrenzten Ermächtigung missachtet und dadurch das Vertrauen der Konventionsstaaten in sich verletzt. Umso dringender wären eine ausführliche Prüfung des Anwendungsbereichs und eine Begründung des EGMR erforderlich gewesen. 2. Rechtfertigungsvoraussetzungen Sowohl hinsichtlich des Eingriffs in die Meinungsfreiheit als auch hinsichtlich der gesetzlichen Eingriffsgrundlage bestehen für die private Meinungsfreiheit der Richter keine Besonderheiten.

3010 Abweichendes Sondervotum Richter Wojtyczek zu EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 18; Wojtyczek, ERPL 32 (2020), S. 185 (215–216). 3011 Siehe hierzu ab S. 363.

F. Die persönlichen richterlichen Freiheitsrechte  

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a) Legitimer Zweck Einschränkungen der richterlichen Meinungsfreiheit dienen regelmäßig dem in Art. 10 Abs. 2 EMRK genannten Zweck, die Autorität und Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu wahren (maintaining the authority and impartiality of the judiciary / garantir l’autorité et l’impartialité du pouvoir judiciaire).3012 Dies war zum Beispiel der Fall, als eine Richterin einer Prozesspartei einen vorteilhaften Ausgang eines Verfahrens versprach, wenn diese der Kirche beitrat3013 oder als ein Richter öffentlich und innerhalb der Richterschaft über Missstände der Gerichtsbarkeit und das Verhalten anderer Richterkollegen berichtete.3014 Da der Beschwerdeführer in Baka v Ungarn kein Fehlverhalten gezeigt hatte, welches das unabhängige Erscheinungsbild der Gerichtsbarkeit in Frage stellte, lehnte der EGMR in diesem Fall bereits das Vorliegen eines legitimen Zwecks der Eingriffe in die Meinungsfreiheit ab.3015 Der EGMR stellt also den objektiven Wert einer funktionsfähigen und unabhängigen Gerichtsbarkeit als Gegenpol zur Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 Abs. 1 EMRK in die Abwägung ein. Disziplinarmaßnahmen gegen Richter können grundsätzlich gerechtfertigt sein, wenn ihre Äußerungen geeignet sind, das Ansehen der Gerichtsbarkeit in der Bevölkerung oder die Funktionsfähigkeit des Gerichtssystems zu beeinträchtigen. Daneben akzeptierte der EGMR auch den legitimen Zweck, den guten Ruf oder die Rechte einer anderen Person zu schützen.3016

3012 Noch ohne explizite Prüfung bei EGMR Nr. 28396/95, Wille v Liechtenstein (GK), 28.10.1999, §§ 54, 56; Nr. 29492/05, Kudeshkina v Russland, 26.02.2009, §§ 69, 81, weil die Maßnahme jeweils eindeutig unverhältnismäßig war: ausdrücklich aber bei EGMR Nr. 47936/99, Pitkevich v Russland (Zul.), 08.02.2001; Nr. 38406/97, Albayrak v Türkei, 31.01.2008, § 38; Nr. 51160/06, di Giovanni v Italien, 09.07.2013, § 74; Nr. 9964/06, Lishnyak v Russland (Zul.), 17.09.2019, § 52; Nr. 965/12, Guz v Polen, 15.10.2020, § 82; Nr. 76521/12, Eminağaoğlu v Türkei, 09.03.2021, § 131; allgemein zu diesem Rechtfertigungsgrund oben ab S. 399. 3013 EGMR Nr. 47936/99, Pitkevich v Russland (Zul.), 08.02.2001. 3014 EGMR Nr. 29492/05, Kudeshkina v Russland, 26.02.2009, §§ 69, 81; Nr. 965/12, Guz v Polen, 15.10.2020, §§ 82, 85. 3015 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, §§ 155–157. Obwohl die Prüfung des EGMR an dieser Stelle eigentlich hätte beendet werden können, prüfte der EGMR – wohl in Anbetracht der besonderen Umstände des Falls und der Vorbringungen der Parteien – anschließend außerdem, ob die vorzeitige Absetzung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, also verhältnismäßig, war. 3016 EGMR Nr. 47936/99, Pitkevich v Russland (Zul.), 08.02.2001; Nr. 51160/06, di Giovanni v Italien, 09.07.2013, § 74; Nr. 9964/06, Lishnyak v Russland (Zul.), 17.09.2019, § 56; Nr. 965/12, Guz v Polen, 15.10.2020, § 82.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

b) Abwägungskriterien Die Prüfung, ob eine disziplinarische Maßnahme gegen Richter wegen einer Meinungsäußerung „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war, erfordert eine Verhältnismäßigkeitsabwägung.3017 Entsprechend der allgemeinen Rechtfertigungsgrundsätze zur Meinungsfreiheit werden die Natur und der Inhalt der Äußerung, die Intensität des Eingriffs beziehungswiese der Sanktionen und die Fairness des zur Einschränkung führenden Verfahrens in die Abwägung einbezogen.3018 Im Baka-Urteil fasste die Große Kammer – obiter dictum, nachdem sie das Vorliegen eines Eingriffszweckes abgelehnt hatte3019 – die Besonderheiten für die Abwägung bei richterlichen Meinungsäußerungen auf Grundlage der bisherigen Rechtsprechung zusammen.3020 Ausgangspunkt sind die in Art. 10 Abs. 2 EMRK erwähnten „Pflichten und Verantwortlichkeiten“ (duties and responsibilities) bei der Ausübung der Meinungsfreiheit, die für Staatsdiener von besonderer Bedeutung sind. Die Konventionsstaaten dürfen von Organwaltern der Judikative erwarten, dass sie ihre Meinungsfreiheit zurückhaltend ausüben, sodass die Autorität und Unparteilichkeit der Gerichtsbarkeit nicht gefährdet wird.3021 „The Court has on many occasions emphasised the special role in society of the judiciary, which, as the guarantor of justice, a fundamental value in a law-governed State, must enjoy public confidence if it is to be successful in carrying out its duties […]. It is for this reason that judicial authorities, in so far as concerns the exercise of their adjudicatory function, are required to exercise maximum discretion with regard to the cases with which they deal in order to preserve their image as impartial judges […].“3022

3017

Siehe zur Ableitung des Verhältnismäßigkeitserfordernisses aus der Formulierung „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ im Kontext der Meinungsfreiheit statt vieler Grote / Wenzel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  18 Rn.  95; Lavrysen, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 307 (315–321); Weiß, Das Gesetz im Sinne der EMRK, S. 126–137. 3018 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, §§ 158–161; die Relevanz des prozessualen Schutzes wird speziell für die richterliche Meinungsfreiheit auch betont bei EGMR Nr. 76521/12, Eminağaoğlu v Türkei, 09.03.2021, § 126. 3019 Kritisch hierzu das abweichende Sondervotum von Richter Wojtyczek zu EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 11, der argumentierte, dass eine Abwägung nur dann vorgenommen werden kann, wenn auch ein legitimer Zweck vorliegt. 3020 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, §§ 162–167; dem wörtlich folgend EGMR Nr. 965/12, Guz v Polen, 15.10.2020, § 84; mit inhaltlich fast identischen Grundsätzen, aber ohne regelmäßigen Rückgriff auf Baka v Ungarn EGMR Nr. 76521/12, Eminağaoğlu v Türkei, 09.03.2021, §§ 120–126. 3021 EGMR Nr. 28396/95, Wille v Liechtenstein (GK), 28.10.1999, § 64; Nr. 29492/05, Kudeshkina v Russland, 26.02.2009, § 86; Nr. 51160/06, di Giovanni v Italien, 09.07.2013, § 71; Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 164; Nr. 9964/06, Lishnyak v Russland (Zul.), 17.09.2019, § 56; Nr. 76521/12, Eminağaoğlu v Türkei, 09.03.2021, § 121. 3022 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 164; Nr. 76521/12, Eminağaoğlu v Türkei, 09.03.2021, § 122.

F. Die persönlichen richterlichen Freiheitsrechte  

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Im Vergleich zu anderen Bürgern kann die richterliche Meinungsfreiheit daher leichter eingeschränkt werden. Das Interesse des Richters an einer Meinungsäußerung tritt zurück, wenn er seine Meinung unsachlich oder beleidigend formuliert. In der Sache Simić v Bosnien und Herzegowina durfte der beschwerdeführende Verfassungsrichter gerechtfertigt aus seinem Amt entlassen werden. In öffent­lichen Briefen und Interviews hatte er den Ruf des Verfassungsgerichts und einzelner Richter beschädigt, sodass er wegen seiner fehlenden Zurückhaltung nicht mehr die für sein Amt notwendigen persönlichen Qualitäten und Qualifikationen aufwies.3023 Beruhen richterliche Äußerungen auf einer tatsächlichen Grundlage3024 oder äußert ein Richter seine Meinung in einem innerjustiziellen Kontext ohne Außenwirkung,3025 wird die Rechtfertigung eines Eingriffs erschwert. Gleiches gilt für den Fall, dass ein Richter sich zu Fragen der Gewaltenteilung und der richterlichen Unabhängigkeit äußert: „At the same time, the Court has also stressed that having regard in particular to the growing importance attached to the separation of powers and the importance of safeguarding the independence of the judiciary, any interference with the freedom of expression of a judge in a position such as the applicant’s calls for close scrutiny on the part of the Court […]. Furthermore, questions concerning the functioning of the justice system fall within the public interest, the debate of which generally enjoys a high degree of protection under Article 10 […]. Even if an issue under debate has political implications, this is not in itself sufficient to prevent a judge from making a statement on the matter […]. Issues relating to the separation of powers can involve very important matters in a democratic society which the public has a legitimate interest in being informed about and which fall within the scope of political debate […].“3026

Schließlich bezieht der EGMR auch einen durch den Eingriff in die Meinungsfreiheit möglichen chilling effect ein, der andere Richter davon abhalten könnte, an der öffentlichen Debatte über Fragen der Gerichtsbarkeit und der Gerichtsverwaltung teilzunehmen.3027 3023

EGMR Nr. 75255/10, Simić v Bosnien und Herzegowina (Zul.), 15.11.2016, §§ 33–35. EGMR Nr. 29492/05, Kudeshkina v Russland, 26.02.2009, §§ 91–92 (dem EGMR reichte es aber aus, dass die von der Beschwerdeführerin angebrachten Anschuldigungen nicht überzeugend abgewiesen werden konnten); Nr. 9964/06, Lishnyak v Russland (Zul.), 17.09.2019, § 53; Nr. 965/12, Guz v Polen, 15.10.2020, § 93; Nr. 76521/12, Eminağaoğlu v Türkei, 09.03.2021, § 138. Hierbei handelt es sich um ein allgemeines Rechtsprechungsprinzip, siehe etwa bezogen auf Journalisten EGMR Nr. 14087/08, Novaya Gazeta und Borodyanskiy v Russland, 28.03.2013, § 40. 3025 EGMR Nr. 965/12, Guz v Polen, 15.10.2020, §§ 85, 91 (Beschwerdeführer äußerte sich während einer Versammlung der Richter seines Gerichts). 3026 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 165 mit Verweis auf EGMR Nr. 28396/95, Wille v Liechtenstein (GK), 28.10.1999, § 64; Nr. 62584/00, Harabin v Slowakei (Zul.), 29.06.2004; Baka wörtlich folgend EGMR Nr. 76521/12, Eminağaoğlu v Türkei, 09.03.2021, § 123; knapper schon EGMR Nr. 29492/05, Kudeshkina v Russland, 26.02.2009, § 86; Nr. 51160/06, di Giovanni v Italien, 09.07.2013, § 71; Nr. 75255/10, Simić v Bosnien und Herzegowina (Zul.), 15.11.2016, § 33. 3027 EGMR Nr. 29492/05, Kudeshkina v Russland, 26.02.2009, §§ 99–100; Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 167; Nr. 965/12, Guz v Polen, 15.10.2020, § 96; Nr. 76521/12, Eminağaoğlu v Türkei, 09.03.2021, § 124. 3024

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Richterliche Meinungsäußerungen sind also trotz der sich aus ihrem hoheitlichen Status ergebenden Zurückhaltungspflicht besonders geschützt, wenn sich Richter zu Fragen des öffentlichen Interesses wie der Gewaltenteilung allgemein oder der Unabhängigkeit der Justiz äußern.3028 Wollen Richter durch ihre Äußerungen die Gerichtsbarkeit stärken, sind Eingriffe somit schwieriger zu rechtfertigen.3029 Sofern eine Äußerung etwa zu anstehenden Justizreformen in angemessener Form erfolgt, überwiegt das hohe öffentliche Interesse an diesen Fragen.3030 Sind richterliche Äußerungen politischer Natur, kann dies die Rechtfertigung eines Eingriffs erschweren. In Wille v Liechtenstein war der EGMR noch zurückhaltend, als er feststellte, dass die politische Relevanz der Äußerungen des Beschwerdeführers nicht dazu führte, dass er diese Äußerung im akademischen Diskurs nicht hätte vornehmen dürfen. Der beschwerdeführende Präsident des Verfassungsgerichts hatte vertreten, dass das Verfassungsgericht die Zuständigkeit für Entscheidungen über Streitigkeiten zwischen der Regierung und dem Parlament über die Auslegung der Verfassung hatte. Die politische Relevanz dieser Frage führte nicht dazu, dass Wille diese Äußerung im akademischen Diskurs nicht hätte vornehmen dürfen.3031 In Baka v Ungarn maß der EGMR den Äußerungen des Beschwerdeführers innerhalb seines Amtes als Vorsitzender des Justizrates gerade deswegen besondere Bedeutung zu, weil er die Aufgabe hatte, sich zum Einfluss von Gesetzesänderungen auf die unabhängige Gerichtsbarkeit zu äußern.3032 Der besondere Schutz des Art. 10 Abs. 1 EMRK für politische Äußerungen entspricht den allgemeinen Rechtsprechungsprinzipien des EGMR, die zum Beispiel auch bei Meinungsäußerungen von Abgeordneten relevant werden.3033 Der verstärkte Schutz des Art. 10 Abs. 1 EMRK kommt auch Richtern zu Gute, deren Rolle im gewaltenteiligen Verfassungsgefüge eigentlich eine unpolitische ist. Die Abwägung zwischen der ungestörten Meinungsäußerung und den Gründen für einen Eingriff fällt typischerweise zugunsten der Seite aus, die im Sinne einer funktionsfähigen und unabhängigen Gerichtsbarkeit handelt – im Falle einer unangemessenen Meinungsäußerung zugunsten der Disziplinarorgane, im Falle einer richterlichen Äußerung zu einer Frage von allgemeinem Interesse zugunsten des 3028

So auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 187; kritisch zu dieser Rechtsprechung Kosař / Šipulová, Hague Journal on the Rule of Law 10 (2018), S. 83 (96), die darauf verweisen, dass es innerhalb der Konventionsstaaten hierfür keinen Konsens gibt, weil viele Staaten von den Richtern eher die richterliche Zurückhaltung erwarten. 3029 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 186. 3030 Vgl. EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 171; ähnlich EGMR Nr. 76521/12, Eminağaoğlu v Türkei, 09.03.2021, §§ 145–148, wo ebenfalls Aussagen zum Gerichtssystem im Vordergrund standen. 3031 EGMR Nr. 28396/95, Wille v Liechtenstein (GK), 28.10.1999, §§ 8, 67; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 185. 3032 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 168; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 186. Diese Deutung wohl auch in Background paper for the Judicial Seminar 2018: The Authority of the Judiciary (Fn. 464) S. 17. 3033 Siehe hierzu bereits oben ab S. 358.

F. Die persönlichen richterlichen Freiheitsrechte  

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Richters. Richter können in sachlicher Form auf Missstände in der Justiz aufmerksam machen oder Kritik an einer Justizreform äußern, ohne deswegen disziplinarische Maßnahmen befürchten zu müsen. Hierdurch werden die Gewaltenteilung und die Autorität und Unabhängigkeit in besonderem Maße vom EGMR geschützt. Die Abwägung im Urteil Kudeshkina v Russland zeigt, wie stark der EGMR das öffentliche Interesse an Informationen über den Zustand der Gerichtsbarkeit im Vergleich zur von Richtern erwarteten Loyalität gewichtet.3034 Die beschwerdeführende Richterin bewarb sich für ein Abgeordnetenmandat. Im Rahmen des Wahlkampfes kritisierte sie in Interviews den Zustand der Gerichtsbarkeit, die Beeinflussbarkeit der Richter und die vorherrschende Korruption in deutlichen Worten.3035 Auch wenn der EGMR zunächst hervorhob, dass von Richtern eine besondere Loyalität und Diskretion erwartet werden dürfe und dass Richter bei ihren Meinungsäußerungen das Vertrauen der demokratischen Gesellschaft in das Gerichtssystem nicht beeinträchtigten dürften,3036 lag im Ergebnis eine Verletzung von Art. 10 Abs. 1 EMRK vor. Der EGMR nahm keinen Anstoß daran, dass die Äußerungen im Rahmen des Wahlkampfs ein persönliches Interesse verfolgten.3037 Der Beschwerdeführerin schadete auch nicht, dass sie ihre Äußerungen nicht mit Tatsachen belegen konnte, solange ihre Anschuldigungen von Russland nicht zerstreut werden konnten.3038 Ausschlaggebend für die Konventionsverletzung waren letzthin drei Faktoren: die ungenügenden verfahrensrechtlichen Garantien, die wichtige Angelegenheit des öffentlichen Interesses, die einer freien Debatte in der demokratischen Gesellschaft zugänglich sein sollte, und der chilling effect für zukünftige Meinungsäußerungen.3039 Schließlich können die prozeduralen Sicherungsmechanismen im Rahmen einer Abwägung zugunsten der Verhältnismäßigkeit sprechen. Fehlen eine Begründung der Disziplinarmaßnahme oder die Möglichkeit, hiergegen Rechtsmittel einzulegen, ist eine Einschränkung der richterlichen Meinungsfreiheit schwieriger zu rechtfertigen.3040 3034

Gleichwohl war diese Entscheidung mit vier zu drei Stimmen auch innerhalb des EGMR nicht unumstritten, siehe mit einer deutlichen Gegenposition das abweichende Sondervotum von Richter Kovler, beigetreten von Richterin Steiner zu EGMR Nr. 29492/05, Kudeshkina v Russland, 26.02.2009. 3035 Siehe für einen Überblick ihrer Äußerungen EGMR Nr. 29492/05, Kudeshkina v Russland, 26.02.2009, § 88. 3036 EGMR Nr. 29492/05, Kudeshkina v Russland, 26.02.2009, §§ 85–86. 3037 EGMR Nr. 29492/05, Kudeshkina v Russland, 26.02.2009, § 95. 3038 EGMR Nr. 29492/05, Kudeshkina v Russland, 26.02.2009, § 92. 3039 EGMR Nr. 29492/05, Kudeshkina v Russland, 26.02.2009, §§ 94–99. Das abweichende Sondervotum von Richter Kovler, beigetreten von Richterin Steiner zu EGMR Nr. 29492/05, Kudeshkina v Russland, 26.02.2009 argumentierte nachdrücklich dafür, die Loyalitäts- und Zurückhaltungspflicht stärker zu gewichten, um zu verhindern, dass ein Richter durch ihre Äußerungen die Autorität der Gerichtsbarkeit beschädigen. 3040 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, §§ 161, 174; Nr. 76521/12, Eminağaoğlu v Türkei, 09.03.2021, §§ 126, 149–151.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Zusammenfassend umfasst die Abwägung die Konsequenzen der Äußerung des Richters für die Autorität und Unparteilichkeit der Gerichtsbarkeit, die Schwere der Sanktionen, die chilling effects als negative Auswirkung für die Gesellschaft, den Beitrag der Äußerung zu einer aktuellen öffentlichen Debatte, den Beweggrund des Richters für die Äußerung, die Art und Weise der Äußerung und schließlich das Vorliegen eines fairen Verfahrens auf nationaler Ebene zur Einschränkung der Meinungsfreiheit.3041 Hinter allen Kriterien steht – entsprechend des legitimen Zwecks – die Intention, die unabhängige und funktionsfähige Gerichtsbarkeit zu schützen. Äußern sich Richter zu einem politischen Thema und insbesondere zur Entwicklung der innerstaatlichen Justiz, verlangt die EMRK einerseits Zurückhaltung hinsichtlich Art und Weise der Äußerung, andererseits aber auch Zurückhaltung der politischen Organe, die politisch unbequeme Äußerungen von Richtern nicht sanktionieren dürfen. c) Verengter margin of appreciation für die Konventionsstaaten Soweit der EGMR den Mitgliedstaaten für bestimmte Fragen einen Gestaltungsspielraum (margin of appreciation) zugesteht, nimmt der Gerichtshof seine eigene Kontrolle zurück,3042 behält aber stets die Kontrolle über die Einhaltung der Grenzen des Gestaltungsspielraums (supervisory jurisdiction).3043 Je größer der staatliche Gestaltungsspielraum, desto weniger zwingend sind die konventionsrechtlichen Vorgaben. Hat sich innerhalb der Konventionsstaaten noch kein Konsens über die zu entscheidende Frage herausgebildet, ist der Gestaltungsspielraum typischerweise weit.3044 Wenn gesellschaftlich oder politisch relevante Themen betroffen sind, ist der Spielraum typischerweise besonders eng (particularly narrow).3045 Zu diesen politisch und gesellschaftlich relevanten Themen zählt die Funktionsfähigkeit der Gerichtsbarkeit.3046 Mit dem steigenden öffentlichen Interesse 3041

Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (8–10). Siehe allgemein zum margin of appreciation Baade, Der EGMR als Diskurswächter, S. 170–236; Nußberger, The European Court of Human Rights, S. 88–94; Gerards, General Principles of the ECHR, S. 160–197; Arai-Takahashi, The Margin of Appreciation Doctrine; Greer, UCL Human Rights Review (3) 2010, S. 1–14; siehe auch die Nachweise bei Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (5 Fn. 19). 3043 EGMR Nr. 5493/72, Handyside v Vereinigtes Königreich (Pl.), 07.12.1976, § 49; Nr. 4260/04, Andrushko v Russland, 14.10.2010, § 44; Grote / Wenzel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 18 Rn. 95; Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (5). 3044 EGMR Nr. 44362/04, Dickinson v Vereinigtes Königreich, 04.12.2007, § 78 (zu Art. 8 EMRK). 3045 EGMR Nr. 29369/10, Morice v Frankreich (GK), 23.04.2015, § 125; dem folgend EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 159; Nr. 13274/08, Tagiyev und Huseynov v Aserbaidschan, 05.12.2019, § 37; Nr. 76521/12, Eminağaoğlu v Türkei, 09.03.2021, § 144. 3046 EGMR Nr. 29492/05, Kudeshkina v Russland, 26.02.2009, § 86; Nr. 59545/10, Błaja News Sp. z o. o. v Polen, 26.11.2013, § 60 (bezogen auf Äußerungen in der Presse); Nr. 29369/10, Morice v Frankreich (GK), 23.04.2015, §§ 125, 152–153 (bezogen auf Äußerungen eines 3042

F. Die persönlichen richterlichen Freiheitsrechte  

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an der richterlichen Meinungsäußerung verringert sich der konventionsstaatliche Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der disziplinarischen Maßnahme. Auf der anderen Seite führen die in Art. 10 Abs. 2 EMRK erwähnten Pflichten und Verantwortlichkeiten (duties and responsibilities) bei Meinungsäußerungen von Beamten3047 und Richtern3048 zu einem „gewissen“ Beurteilungsspielraum (certain margin of appreciation) bei der Wahl des legitimen Zwecks sowie der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme.3049 „Given the prominent place among State organs which is occupied by the judiciary in  a democratic society, the Court considers that this is particularly so in case of restriction on freedom of expression of a judge in connection with the performance of his functions, albeit the judiciary is not part of the ordinary civil service.“3050

Während der margin of appreciation also einerseits durch die besondere, von Beamten und insbesondere Richtern erwartete Loyalitätsbeziehung zum Staat3051 erweitert und dem Staat dadurch die Einschränkung der Meinungsfreiheit erleichtert wird, verengt sich der Spielraum andererseits in den Fällen, in denen Richter in ihren Meinungsäußerungen Fragen des öffentlichen Interesses ansprechen, etwa den aktuellen Zustand und die Entwicklung der staatlichen Gerichtsbarkeit. Bereits in Wille v Liechtenstein prüfte der EGMR den Eingriff in die richter­ liche Meinungsfreiheit genau (close scrutiny). Auch hier bezog sich die Meinungsäußerung auf ein politisches Thema und die Zuständigkeiten der Gerichtsbarkeit.3052Auch in Baka v Ungarn lag ein enger staatlicher Beurteilungsspielraum vor: „[T]he applicant expressed his views and criticisms on constitutional and legislative reforms affecting the judiciary, on issues related to the functioning and reform of the judicial system, the independence and irremovability of judges and the lowering of the retirement age for judges, all of which are questions of public interest […]. His statements did not go beyond mere criticism from  a strictly professional perspective. Accordingly, the Court considers

Rechtsanwalts); Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 159. Siehe zum margin of appreciation im Kontext der richterlichen Meinungsfreiheit Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (4–6). 3047 EGMR Nr. 17851/91, Vogt v Deutschland (GK), 26.09.1995, §§ 52, 53; dem folgend EGMR Nr. 22954/93, Ahmed u. a. v Vereinigtes Königreich, 02.09.1998, § 61; Nr. 51160/06, di Giovanni v Italien, 09.07.2013, § 70. 3048 Dem Vogt-Urteil folgend EGMR Nr. 28396/95, Wille v Liechtenstein (GK), 28.10.1999, §§ 61–62, 70; Nr. 47936/99, Pitkevich v Russland (Zul.), 08.02.2001; Nr. 38406/97, Albayrak v Türkei, 31.01.2008, § 41; Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 162; Nr. 76521/12, Eminağaoğlu v Türkei, 09.03.2021, § 120. 3049 Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (5). 3050 EGMR Nr. 47936/99, Pitkevich v Russland (Zul.), 08.02.2001; Nr. 38406/97, Albayrak v Türkei, 31.01.2008, § 42; Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 163; hierzu auch Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (5). 3051 So ausdrücklich in EGMR Nr. 29492/05, Kudeshkina v Russland, 26.02.2009, §§ 85–86 (bound by a duty of loyalty and discretion). 3052 EGMR Nr. 28396/95, Wille v Liechtenstein (GK), 28.10.1999, §§ 64–70.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

that the applicant’s position and statements, which clearly fell within the context of a debate on matters of great public interest, called for a high degree of protection for his freedom of expression and strict scrutiny of any interference, with a correspondingly narrow margin of appreciation being afforded to the authorities of the respondent State.“3053

Anders als in der Sache Baka v Ungarn3054 lagen in Kudeshkina v Russland mit dem durch die Meinungsäußerung verfolgten persönlichen Interesse und der Art und Weise der Äußerung durchaus Aspekte vor, die den Beurteilungsspielraum hätten erweitern können. Weil sich die Beschwerdeführerin aber zur Funktionsfähigkeit der Gerichtsbarkeit äußerte, war der Beurteilungsspielraum Russlands gleichwohl beschränkt, sodass dem öffentlichen Diskurs Vorrang vor dem Loyalitätsverhältnis des Richters zum Staat eingeräumt werden musste.3055 Die Verurteilungen in den Urteilen Baka v Ungarn und Kudeshkina v Russland zeigen, dass der EGMR in der konkreten Anwendung seiner Prinzipien den Beurteilungsspielraum eher aufgrund der politisch und gesellschaftlich relevanten Fragen verkürzt, statt den Staaten die Sanktionierung der Staatsbediensteten durch einen weiteren Spielraum zu erleichtern.3056 Hierdurch erschwert der EGMR zusätzlich die Rechtfertigung von Eingriffen in die richterliche Meinungsfreiheit bei Äußerungen zu politischen Themen des Allgemeininteresses. 3. Auswirkungen auf die Garantie der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK Aus der Perspektive des Art. 6 Abs. 1 EMRK stellt sich die Frage, wie sich öffentliche richterliche Meinungsäußerungen auf die Beurteilung ihrer Unabhängigkeit und Unparteilichkeit auswirken. In der Zulässigkeitsentscheidung Previti v Italien äußerten sich Mitglieder der nationalen Richtervereinigung zum politischen Klima in einem Gerichtsprozess, zu der Verteidigungsstrategie des Beschwerdeführers sowie zu aktuellen Gesetzesreformen. Die Beschwerde wegen einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK war offensichtlich unbegründet. Die sich äußernden Richter waren selbst nicht am konkreten Verfahren beteiligt und machten keine Aussagen über die Schuld des Beschwerdeführers. Die richterliche Unparteilichkeit der zuständigen Richter war durch Äußerungen unbeteiligter Richter zu dem von ihnen entschiedenen Rechtsstreit nicht gefährdet, Der EGMR gestand es Richtern als Experten des Rechts

3053

EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 171. Hier erwog der EGMR ausschließlich Aspekte, die gegen die Verhältnismäßigkeit sprachen, EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, §§ 168–176. 3055 EGMR Nr. 29492/05, Kudeshkina v Russland, 26.02.2009, §§ 86–97; Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (6). 3056 Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (5–6), die hierin eine Abweichung der Leitlinie eines certain margin of appreciation aus der Pitkevich-Entscheidung und dem Albayrak-Urteil sieht. 3054

F. Die persönlichen richterlichen Freiheitsrechte  

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(experts en matière juridique)  zu, öffentlich ihre Kritik an neuen Gesetzesvorhaben zu äußern.3057 Äußert sich hingegen ein zuständiger Richter öffentlich abfällig über eine Prozesspartei, liegt ein Verstoß gegen die Unparteilichkeit des Gerichts vor.3058 Fordert eine Richterin die Angeklagten öffentlich dazu auf, darzulegen, warum sie nicht schuldig sind und deutet sie in diesem Zusammenhang an, dass sie einen vollständigen Freispruch des Beschwerdeführers ausschließt, liegt ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung aus Art. 6 Abs. 2 EMRK vor.3059 Selbst wenn der EGMR in diesen Fällen den Anwendungsbereich der Meinungsfreiheit für eröffnet angesehen hätte, wäre eine Disziplinarmaßnahme mangels richterlicher Zurückhaltung und zum Schutz des öffentlichen Vertrauens in die Gerichtsbarkeit jedenfalls gerechtfertigt gewesen. Eine Meinungsäußerung, die nach Art. 10 Abs. 2 EMRK nicht gerechtfertigt eingeschränkt werden kann, beeinträchtigt die richterliche Unabhängigkeit im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht. Ist jedoch eine Disziplinarmaßnahme wegen eines Fehlverhaltens im Rahmen einer konkreten gerichtlichen Verfahrens am Maßstab des Art. 6 Abs. 1 EMRK gerechtfertigt, liegt auch ein Verstoß gegen die Grundsätze des Art. 6 Abs. 1 EMRK nahe. Auf diese Weise gestaltet der EGMR eine widerspruchsfreie Konventionsordnung der Art. 6 und 10 EMRK. 4. Zwischenfazit Die Rechtsprechung zur richterlichen Meinungsfreiheit betrifft die grundsätzliche Frage, ob beziehungsweise in welchen Fällen sich Organwalter auf ihre privaten Konventionsrechte berufen dürfen. Die hybride Stellung der Richter als Träger von Hoheitsgewalt und als Privatpersonen wird besonders relevant, wenn sich die Richter über aktuelle (politische) Entwicklungen der Gerichtsbarkeit äußern. Anders als bei Äußerungen von Kollegialorganen fällt es bei der Äußerung eines einzelnen Richters bisweilen schwer zu identifizieren, ob er als Privatperson oder in seiner hoheitlichen Funktion gesprochen hat.3060 Die dogmatischen Schwierigkeiten der persönlichen Meinungsfreiheit von Richtern werden auch dadurch deutlich, dass die entsprechenden EGMR-Entscheidungen verhältnismäßig häufig von Sondervoten begleitet werden.3061 3057

EGMR Nr. 45291/06, Previti v Italien (Zul.), 08.12.2009, § 253; eine Zusammenfassung bei Background paper for the Judicial Seminar 2018: The Authority of the Judiciary (Fn. 464) S. 16. 3058 EGMR Nr. 29569/95, Buscemi v Italien, 16.09.1999, §§ 67–69; Nr. 22330/05, Olujić v Kroatien, 05.02.2009, § 65. 3059 EGMR Nr. 58442/00, Lavents v Lettland, 28.11.2002, §§ 127–128. 3060 Abweichendes Sondervotum Richter Wojtyczek zu EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 4. 3061 EGMR Nr. 28396/95, Wille v Liechtenstein (GK), 28.10.1999 mit zwei Sondervoten; Nr. 29492/05, Kudeshkina v Russland, 26.02.2009 mit zwei Sondervoten; Nr. 51160/06, di Giovanni v Italien, 09.07.2013; Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016 mit vier Sondervoten.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Die Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 Abs. 1 EMRK stellt eine materielle Grenze für Disziplinarverfahren gegen Richter dar. Der Anwendungsbereich der Meinungsfreiheit ist für Richter nicht nur eröffnet, wenn sie sich im eindeutig privaten Bereich äußern. Auch Äußerungen mit Bezug zu ihrer hoheitlichen Tätigkeit, insbesondere zum Zustand und zur Entwicklung der innerstaatlichen Gerichtsbarkeit sind umfasst. Durch das Baka-Urteil hat der EGMR die richterliche Meinungsfreiheit sogar auf Meinungsäußerungen ausgeweitet, in denen sich Richter in hoheitlicher, wenngleich nicht in rechtsprechender, Funktion äußern. Damit wirkt sich das subjektive Konventionsrecht unmittelbar staatsorganisatorisch aus. Zwar wird auf diese Weise noch kein subjektives Recht der Richter auf ihre eigene Unabhängigkeit begründet. Art. 10 Abs. 1 EMRK ermöglicht Richtern aber, sich und ihre Statusrechte gegen ungerechtfertigte Disziplinarmaßnahmen zu verteidigen.3062 Der legitime Zweck, die Unparteilichkeit und Autorität der Rechtsprechung zu schützen, wird vom EGMR bei Eingriffen in die richterliche Meinungsfreiheit sehr schwer gewichtet. In seine Abwägung bezieht der EGMR neben den allgemeinen Rechtfertigungskriterien der Meinungsfreiheit wie den prozessualen Schutzmechanismen regelmäßig das besondere Loyalitätsverhältnis der Richter zum Staat ein, dass diese zur Zurückhaltung in der Art und Weise ihrer Meinungsäußerungen zwingt. Tragen die Richter durch ihre Äußerungen dazu bei, Missstände im aktuellen Gerichtssystem oder Mängel in einer die Gerichtsbarkeit betreffenden Gesetzesreform aufzudecken, dann spricht dies gegen eine Rechtfertigung.3063 Indem der EGMR Kriterien wie die Art und Weise der Äußerung sowie mögliche Auswirkungen eines chilling effects in die Abwägung einbezieht, stellt er – genauso wie bei der Prüfung eines Verstoßes gegen die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK – nicht nur auf eine tatsächliche Gefährdung des Gerichtssystems ab, sondern auch auf das für die demokratische Gesellschaft wahrnehmbare Erscheinungsbild. Die Bevölkerung soll weder durch überzogene oder abwegige Äußerungen von Richtern noch durch unverhältnismäßig strenge Einschränkungen der richterlichen Meinungsfreiheit Zweifel an der Integrität des Gerichtssystems bekommen. Die Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK zeigt, dass eine zulässige und angemessene richterliche Meinungsäußerung außerhalb des Gerichtssaals ohne weitere Anhaltspunkte nicht dazu führt, dass ein Richter als parteilich oder abhängig wahrgenommen wird. Das Spannungsverhältnis zwischen dem richterlichen Loyalitätsverhältnis zum Staat einerseits und dem Schutz der Teilnahme am Diskurs über die unabhängige Gerichtsbarkeit andererseits findet sich auch in der Reichweite des konventionsstaatlichen Beurteilungsspielraums bei Entscheidungen über Eingriffe in die richterliche Meinungsfreiheit wieder. Sofern die Konventionsstaaten das Loyalitätsverhältnis und die erforderliche richterliche Zurückhaltung durchsetzen wollen, 3062

Kritisch hierzu Vincze, EPL 2015, S. 445 (451–452). Ähnlich Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 183: Richter sind vor Abberufung durch die Exekutive geschützt, wenn sie ihre Meinung über Probleme in der Justiz äußern. 3063

F. Die persönlichen richterlichen Freiheitsrechte  

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haben sie hierfür einen gewissen Gestaltungsspielraum. Wollen sie hingegen die Diskussion über politische Fragen im Allgemeininteresse erschweren, kontrolliert der EGMR dies genau. Vor dem Hintergrund der Rechtsstaatlichkeitskrisen in Europa können Richter geschützt durch Art. 10 Abs. 1 EMRK zu Wächtern der unabhängigen und unparteilichen Gerichtsbarkeit werden, sofern sie persönlich von Angriffen auf ihre Unabhängigkeit betroffen sind. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der gesetzlichen Verkürzung der Amtszeit des Beschwerdeführers, obwohl bereits kein legitimer Zweck vorlag, zeigt, wie dringend der EGMR die Rechtsprechung zur richterlichen Meinungsfreiheit weiterentwickeln wollte. Machen Richter Beschwerden wegen ungerechtfertigter Sanktionen gegen politisch unerwünschte Äußerungen anhängig, kann sich der EGMR zum Disziplinarsystem des betroffenen Konventionsstaats äußern. Indem der Gerichtshof den Gestaltungsspielraum der Staaten bei Eingriffen in die politische Meinungsfreiheit stark reduziert hat, ermöglicht er sich eine genaue Kontrolle der jeweiligen Situation. Betreffen die sanktionierten Äußerungen, wie in Baka v Ungarn, Äußerungen in eindeutig hoheitlicher Funktion, kann sich der EGMR im Rahmen des Art. 10 EMRK zu institutionellen Fragen der Gewaltenteilung und der richterlichen Unabhängigkeit in den Konventionsstaaten äußern.3064 Insgesamt zeigt die Rechtsprechung zur richterlichen Meinungsfreiheit, dass der Verfassungswert einer funktionsfähigen und unabhängigen Gerichtsbarkeit einen hohen Stellenwert hat. Außerdem verdeutlicht der EGMR in diesem Zusammenhang, dass Richter zwar ihrer Unabhängigkeit verpflichtet, deswegen aber nicht vom politischen Diskurs ausgeschlossen sind. Die konventionsrechtlichen Vorgaben der Meinungsfreiheit bilden eine materielle Grenze für innerstaatliche Disziplinarmaßnahmen und sonstige Sanktionen gegen Richter.

III. Vereinigungsfreiheit gemäß Art. 11 EMRK Das Recht, eine Vereinigung3065 zu gründen, ihr beizutreten, in ihr mitzuwirken oder ihr fernzubleiben3066 schützt Richter als Privatpersonen wie jeden anderen Träger von Konventionsrechten. Für Angehörige des öffentlichen exekutiven Dienstes gibt es in Art. 11 Abs. 2 S. 2 EMRK einen eigenständigen Rechtfertigungsgrund.3067

3064

Vgl. Kosař / Šipulová, Hague Journal on the Rule of Law 10 (2018), S. 83 (100), die diesem Vorgehen kritisch gegenüber stehen. 3065 Siehe zur Definition der „Vereinigung“ Daiber, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 11 Rn. 7; Bröhmer, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  19 Rn.  51. 3066 Siehe für eine Darstellung des sachlichen Schutzbereichs der allgemeinen Vereinigungsfreiheit etwa Blanke, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 142 Rn. 37; Bröhmer, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  19 Rn.  59–62. 3067 Siehe hierzu zusammenfassend etwa Bröhmer, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 19 Rn. 98–102.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Für Richter sind hingegen die allgemeinen Rechtfertigungsprinzipien nach Art. 11 Abs. 2 S. 1 EMRK anwendbar. Die Besonderheit der richterlichen Vereinigungsfreiheit besteht in dem Spannungsverhältnis zwischen der freiheitsrechtlich geschützten Mitgliedschaft in einer – möglicherweise politischen – Vereinigung einerseits und der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit andererseits.3068 Urteile, in denen Richter eine Verletzung der Vereinigungsfreiheit geltend machten, gab es bislang nur wenige. In allen Fällen ging es um die Mitgliedschaft bei den Freimaurern in Italien. Über die Mitgliedschaft von Richtern in einer politischen Partei hat der EGMR im Rahmen des Art. 11 EMRK, soweit ersichtlich, noch nicht entschieden. Im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK spielte die Parteimitgliedschaft genauso wie die Mitgliedschaft in einer Richtervereinigung bereits eine Rolle. 1. Mitgliedschaft von Richtern in einer Vereinigung In N. F. v Italien3069 und Maestri v Italien wirkten sich die disziplinarischen Maßnahmen gegen Richter, die Mitglieder bei den Freimaurern waren, negativ auf ihre weitere Karriere aus.3070 Der EGMR setzte ohne nähere Prüfung voraus, dass Art. 11 EMRK anwendbar war und dass ein Eingriff vorlag.3071 Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung, wonach der Anwendungsbereich von Art. 11 EMRK eröffnet ist, wenn Organwaltern wegen der Ausübung ihrer Vereinigungsfreiheit disziplinarische Maßnahmen auferlegt werden.3072 Weil die disziplinarische Maßnahme als Auslegungsergebnis der rechtlichen Grundlage für die Beschwerdeführer bereits nicht vorhersehbar war,3073 fehlte in den Urteilen N. F. v Italien und Maestri v Italien die Abwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit.3074 In einer abweichenden Meinung zum Maestri-Urteil gingen jedoch mehrere Richter davon aus, dass eine Mitgliedschaft bei den Freimaurern in Italien per se mit dem Richteramt und den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK unverein 3068

Vgl. auch Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 264, der sozialen und faktischen Druck als Problem der richterlichen Unabhängigkeit einordnet. 3069 Hierzu inkl. Sachverhaltsdarstellung Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 324–325. 3070 EGMR Nr. 37119/97, N. F. v Italien, 02.08.2001, §§ 8–9, 11, 13; Nr. 39748/98, Maestri v Italien, 17.02.2004, §§ 11–13, 16.  3071 EGMR Nr. 37119/97, N. F. v Italien, 02.08.2001, § 22; Nr. 39748/98, Maestri v Italien, 17.02.2004, § 26. 3072 In einer allgemeinen Zusammenfassung ohne Bezug zu Richtern EGMR Nr. 4241/03, Trofimchuk v Ukraine, 28.10.2010, § 35; Nr. 44873/09, Ognevenko v Russland, 20.11.2018, § 61; so in der konkreten Anwendung bereits EGMR Nr. 17851/91, Vogt v Deutschland (GK), 26.09.1995, § 65. 3073 EGMR Nr. 37119/97, N. F. v Italien, 02.08.2001, §§ 24–34; Nr. 39748/98, Maestri v Italien, 17.02.2004, §§ 30–42; siehe zur Vorhersehbarkeit bereits oben ab S. 270. 3074 Vgl. Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (6).

F. Die persönlichen richterlichen Freiheitsrechte  

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bar sei. Die von den Freimaurern erwartete Loyalität und Solidarität stünde im Widerspruch zur richterlichen Unabhängigkeit.3075 Diese rechtliche Einordnung ist ein Indiz für das Ergebnis einer möglichen Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des Art. 11 EMRK.3076 Danach wären die Disziplinarmaßnahmen gegen die Richter wegen ihrer Mitgliedschaft bei den Freimaurern nach Art. 11 EMRK gerechtfertigt gewesen. Ein gegenteiliges Indiz findet sich jedoch in den beiden Urteilen Grande Oriente d’Italia di Palazzo Giustiniani v Italien Nr. 1 und Nr. 2.3077 In diesen Fällen beschwerten sich nicht die Richter, sondern die Freimaurer. In dem ersten Fall mussten Bewerbungen für nicht-richterliche öffentliche Ämter eine Versicherung enthalten, dass der Bewerber kein Mitglied der Freimaurer war,3078 im zweiten Fall waren Bewerber verpflichtet, ihre Mitgliedschaft bekannt zu machen.3079 In die Verhältnismäßigkeitsprüfung bezog der EGMR sowohl die Interessen der beschwerdeführenden Vereinigung als auch der Bewerber für den öffentlichen Dienst ein.3080 „[F]reedom of association is of such importance that it cannot be restricted in any way, even in respect of a candidate for public office, so long as the person concerned does not himself commit any reprehensible act by reason of his membership of the association.“3081

Für öffentliche nicht-richterliche Ämter darf also die Mitgliedschaft in einer Vereinigung allein, selbst wenn diese im Verborgenen agiert und von ihren Mitgliedern ein besonderes Maß an Loyalität und Solidarität verlangt, nicht dazu führen, dass ein ansonsten geeigneter Bewerber nicht ernannt wird.3082 Ob die für nicht-richterliche Ämter entwickelten Grundsätze der Urteile Grande Oriente d’Italia di Palazzo Giustiniani v Italien auch auf Richter angewendet werden können, blieb bislang offen. Die besonderen konventionsrechtlichen An 3075 Gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richter Bonello, Strážnická, Bîrsan, Jungwiert und del Tufo zu EGMR Nr. 39748/98, Maestri v Italien, 17.02.2004, § 15. 3076 Ähnlich Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (13–14). 3077 Siehe hierzu auch Bröhmer, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 19 Rn. 101. 3078 EGMR Nr. 35972/97, Grande Oriente d’Italia di Palazzo Giustiniani v Italien Nr. 1, 02.08.2001, § 8. 3079 EGMR Nr. 26740/02, Grande Oriente d’Italia di Palazzo Giustiniani v Italien Nr. 2, 31.05.2007, § 9. Anders als im ersten Fall führte die Mitgliedschaft nicht automatisch dazu, dass eine Ernennung in einen öffentlichen Posten ausgeschlossen wurde (§§ 37, 54). 3080 EGMR Nr. 35972/97, Grande Oriente d’Italia di Palazzo Giustiniani v Italien Nr. 1, 02.08.2001, §§ 25–26. 3081 EGMR Nr. 35972/97, Grande Oriente d’Italia di Palazzo Giustiniani v Italien Nr. 1, 02.08.2001, § 26; dem folgend EGMR Nr. 26740/02, Grande Oriente d’Italia di Palazzo Giustiniani v Italien Nr. 2, 31.05.2007, § 53. 3082 In EGMR Nr. 26740/02, Grande Oriente d’Italia di Palazzo Giustiniani v Italien Nr. 2, 31.05.2007, §§ 54–56 prüfte der EGMR eine Verletzung von Art. 14 i. V. m. Art. 11 EMRK. In diesem Fall beanstandete der EGMR, dass die Freimaurer anders als andere Vereinigungen behandelt wurden, insbesondere auch anders als Vereinigungen, die wegen der von ihnen verfolgten Ziele eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellten.

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forderungen an unabhängige und unparteiliche Richter könnte eine strengere Regelung rechtfertigen. Anders als bei der Meinungsfreiheit kann die Frage, ob eine Mitgliedschaft in einer Vereinigung konventionskonform ist, nicht über die verpflichtende Zurückhaltung, also die Art und Weise der Ausübung des Konventionsrechts geklärt werden. Richter sind entweder Mitglied in einer Vereinigung oder nicht. Zurückhaltung könnte höchstens hinsichtlich einer aktiven Beteiligung – in Abgrenzung zu einer passiven Mitgliedschaft – gefordert werden. Auch eine Beschränkung der richterlichen Mitgliedschaft auf Vereinigungen, die den Grundsätzen der richterlichen Unabhängigkeit und den Grundwerten einer demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung nicht entgegenstehen, wäre denkbar. Die aktuelle Rechtsprechungslage erlaubt also noch kein abschließendes Fazit. 2. Auswirkungen auf die Garantie der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK Wie sich die Mitgliedschaft eines Richters in einer Vereinigung auf seine richterliche Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK auswirkt, konnte der EGMR schon in verschiedenen Sachverhaltskonstellationen entscheiden. a) Mitgliedschaft bei den Freimaurern In Kiiskinen und Kovalainen v Finnland und Salaman v Vereinigtes Königreich machten die Beschwerdeführer die mangelnde richterliche Unparteilichkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend, weil sowohl die Richter als – vermutlich – auch die Prozessgegner beziehungsweise die Zeugen Freimaurer waren.3083 Allein die Mitgliedschaft bei den Freimaurern beeinträchtigte die Unparteilichkeit der zuständigen Richter nicht. Ob die Prozessgegner beziehungsweise die Zeugen tatsächlich Freimaurer waren, blieb offen. Somit lagen die vom EGMR verlangten Nachweise für eine konkrete Beeinträchtigung im Einzelfall nicht vor.3084 Der EGMR musste sich folglich nicht mit der Frage auseinandersetzen, ob die Richter im Fall einer Prozessbeteiligung anderer Freimaurer unparteilich gewesen wären. In anderen Kontexten traut der EGMR jedenfalls Berufsrichtern grundsätzlich zu, ihre persönlichen Interessen und Einstellungen nicht in die Gerichtsentscheidung einfließen zu lassen.3085 Überträgt man diesen Grundsatz auf den vorliegen 3083

EGMR Nr. 26323/95, Kiiskinen und Kovalainen v Finnland (Zul.), 01.06.1999; Nr. 43505/98, Salaman v Vereinigtes Königreich (Zul.), 15.06.2000; hierzu knapp Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (13). 3084 EGMR Nr. 26323/95, Kiiskinen und Kovalainen v Finnland (Zul.), 01.06.1999; Nr. 43505/98, Salaman v Vereinigtes Königreich (Zul.), 15.06.2000. 3085 Siehe hierzu ab S. 510.

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den Fall, kann davon ausgegangen werden, dass die richterliche Unparteilichkeit nicht bereits beeinträchtigt ist, wenn andere Freimaurer am Verfahren beteiligt sind. Vielmehr müsste ein konkreter Nachweis für eine tatsächliche Beeinflussung der Richter vorliegen. b) Mitgliedschaft in einer Richtervereinigung In der neueren Entscheidung Rustavi 2 Broadcasting Company v Georgien zweifelten die beschwerdeführenden Unternehmen an der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, weil sowohl der erstinstanzliche Richter als auch der berufungsinstanzliche Richter Gründungsmitglieder der georgischen Richtervereinigung (Union of Judges of Georgia) waren.3086 Während des Gerichtsverfahrens hatte die Richtervereinigung dem Direktor des Unternehmens vorgeworfen, den erstinstanzlichen Richter beleidigt zu haben. Zudem sollte der Direktor versucht haben, anlässlich des Gerichtsverfahrens die Öffentlichkeit auf seine Seite zu ziehen. Schließlich hatte die Richtervereinigung die Öffentlichkeit und die Medien aufgerufen, zu einer respektvollen und ruhigen Umgebung für das Verfahren beizutragen.3087 Der EGMR bestätigte, dass Richter ihre Vereinigungsfreiheit ausüben dürfen – aber: „[I]n exercising these rights, he or she should conduct himself or herself in such a manner as to preserve the dignity of the judicial office and the impartiality and independence of the judiciary […].“3088

Der EGMR stellte also eine Verbindung zwischen der richterlichen Vereinigungsfreiheit gemäß Art. 11 Abs. 1 EMRK und der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit her. Hiermit deutet der EGMR an, dass eine Einschränkung der richterlichen Vereinigungsfreiheit gerechtfertigt ist, sobald die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit anders nicht mehr sichergestellt werden kann. Dies entspricht dem Verhältnis zwischen richterlicher Meinungsfreiheit und richterlicher Unabhängigkeit.3089 Genauso wie die Mitgliedschaft bei den Freimaurern begründete die Mitgliedschaft in einer Richtervereinigung für sich genommen keine Zweifel an der richterlichen Unparteilichkeit. Dies galt auch im vorliegenden Fall, in dem sowohl der 3086 EGMR Nr. 16812/17, Rustavi 2 Broadcasting Company Ltd u. a. v Georgien, 18.07.2019, § 348. 3087 EGMR Nr. 16812/17, Rustavi 2 Broadcasting Company Ltd u. a. v Georgien, 18.07.2019, §§ 135, 179–181. 3088 EGMR Nr. 16812/17, Rustavi 2 Broadcasting Company Ltd u. a. v Georgien, 18.07.2019, § 349. 3089 Vgl. auch die Verweise auf die Rechtsprechung zur richterlichen Meinungsfreiheit in EGMR Nr. 16812/17, Rustavi 2 Broadcasting Company Ltd u. a. v Georgien, 18.07.2019, § 349.

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Richter der ersten Instanz als auch der Richter der Berufungsinstanz der gleichen Richtervereinigung angehörten.3090 Diese Rechtsprechung ist überzeugend, da gerade Richtervereinigungen zu einem offenen Diskurs über die Entwicklung der Gerichtsbarkeit in einem Staat beitragen und hierdurch eine funktionsfähige und unabhängige Justiz erhalten beziehungsweise herstellen helfen. Ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK ist nur denkbar, wenn im konkreten Fall Anhaltspunkte für eine fehlende Unparteilichkeit vorliegen. In der Sache Rustavi 2 Broadcasting v Georgien war dies nicht der Fall: Die Richtervereinigung durfte den erstinstanzlichen Richter verteidigen, nachdem der Direktor des beschwerdeführenden Unternehmens sich mit dem Ziel, den Richter zu provozieren, öffentlich geäußert hatte.3091 „[T]he Court does not find anything unfitting in the judicial association’s decision to issue public statements in defence of the judiciary in general and Judge T. U. in particular, especially since the latter was precluded himself from replying by a duty of discretion […].“3092

Solange die Richtervereinigung also im Sinne der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sowie sachlich und zurückhaltend tätig wird, schadet eine Mitgliedschaft der richterlichen Unparteilichkeit nicht. Insofern liegt eine Parallele zur Rechtsprechung über die Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 Abs. 1 EMRK vor, die der EGMR selbst allerdings nicht ausdrücklich benennt. c) Mitgliedschaft in einer politischen Partei Der Schutzbereich der Vereinigungsfreiheit aus Art. 11 Abs. 1 EMRK umfasst auch die Mitgliedschaft in einer politischen Partei.3093 Da bislang keine Urteile ersichtlich sind, in denen Richter eine Verletzung von Art. 11 EMRK wegen ihrer Mitgliedschaft in einer politischen Partei geltend machten, ist noch unklar, ob der EGMR, wie bei der Meinungsfreiheit, besondere Abwägungskriterien anwenden würde. Eine richterliche Parteimitgliedschaft thematisierte der EGMR bislang allein im Rahmen der Unparteilichkeit gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK. Leiturteil ist Holm 3090 EGMR Nr. 16812/17, Rustavi 2 Broadcasting Company Ltd u. a. v Georgien, 18.07.2019, § 349. Der EGMR verwies in diesem Zusammenhang auf die Bangalore Principles of Judicial Conduct von 2002 und den dazu im März 2007 veröffentlichten Kommentar (§§ 224–225). Nach Prinzip 4.13 darf ein Richter Richtervereinigungen und allen anderen Vereinigungen beitreten, welche die Interessen der Richter vertreten; nach Rn. 65 des Kommentars sieht die Judicial Group on Strengthening Judicial Integrity vor allem eine parteipolitische Aktivität von Richtern, nicht aber einen Beitritt zu anderen Vereinigungen kritisch. 3091 EGMR Nr. 16812/17, Rustavi 2 Broadcasting Company Ltd u. a. v Georgien, 18.07.2019, §§ 350–352. 3092 EGMR Nr. 16812/17, Rustavi 2 Broadcasting Company Ltd u. a. v Georgien, 18.07.2019, § 351. 3093 Siehe die Nachweise in Fn. 534.

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v Schweden.3094 Einige Schöffen waren aktive Mitglieder einer Partei, gegen die sich die vom Beschwerdeführer gegründete Organisation inhaltlich positioniert hatte.3095 Zudem war der Prozessgegner bei einem Verlag angestellt, der vormals im Eigentum dieser Partei gestanden hatte und typischerweise parteipolitische Schriften herausgab. Die Parteien stritten darüber, ob ein vom Verlag herausgegebenes Buch den Beschwerdeführer verleumdete.3096 In dieser Streitigkeit zwischen zwei politischen Gegnern weckte die Zugehörigkeit der Schöffen zu einer jedenfalls mittelbar beteiligten Partei den Eindruck der Voreingenommenheit.3097 Ausschlaggebend für den Konventionsverstoß war nicht die Zugehörigkeit der Richter zu einer Partei an sich, sondern der politische Bezug der Streitigkeit im konkreten Einzelfall.3098 Allein die Mitgliedschaft von Richtern in einer politischen Partei beeinträchtigt ihre richterliche Unparteilichkeit also nicht. Unklar blieb, ob sich auf die EGMR-Entscheidung auswirkte, dass im konkreten Fall Schöffen und keine Berufsrichter Mitglied einer Partei waren. Grundsätzlich gelten für die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von Laien- und Berufsrichter die gleichen Maßstäbe.3099 Gleichwohl unterstellt der EGMR Berufsrichtern, trotz unerwünschter Beeinflussungen eine unparteiliche Entscheidung treffen zu können, sofern keine eindeutigen Nachweise dafür vorliegen, dass sich ein Richter tatsächlich hat beeinflussen lassen. Bei Richtern ohne juristische Ausbildung befürchtet der EGMR, dass sie sich unzulässiger Einflussnahmen oder Einflüsse nicht in vergleichbarem Maße bewusst sind wie Berufsrichter.3100 Es wäre also vorstellbar, dass der EGMR keinen Verstoß gegen den Grundsatz der richterlichen Unparteilichkeit festgestellt hätte, wenn das Gericht ausschließlich mit Berufsrichtern besetzt gewesen wäre. In der Zulässigkeitsentscheidung Otegi Mondragon v Spanien hatte der Präsident des Verfassungsgerichts seine Parteimitgliedschaft eineinhalb Jahre vor Beginn eines Gerichtsverfahrens aufgegeben, das zu Ungunsten des Beschwerde 3094

Siehe hierzu zur Entscheidung von EKMR und EGMR inkl. Zusammenfassung der Sondervoten Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 318–319, der die Entscheidung aber vor allem unter dem Blickpunkt politischer Aktivitäten und Sympathien und nicht unter dem Blickpunkt der Mitgliedschaft in einer Vereinigung betrachtet; darstellend Steinfatt, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 109–110; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 139–140 in Fn. 549; Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (12). 3095 EGMR Nr. 14191/88, Holm v Schweden, 25.11.1993, §§ 7, 11–12. 3096 EGMR Nr. 14191/88, Holm v Schweden, 25.11.1993, §§ 8–9. 3097 EGMR Nr. 14191/88, Holm v Schweden, 25.11.1993, §§ 32–33. So auch bei Tsampi, Séparation des Pouvoirs. S. 139–140 in Fn. 540. Die Schlussfolgerung in Steinfatt, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 109, dass eine Verbindung zwischen dem Richter und dem Beklagten ausschlaggebend sei, greift zu kurz. Hierbei handelt es sich um eine Möglichkeit, warum im konkreten Fall die Unparteilichkeit in Frage gestellt werden kann, jedoch nicht um die einzige. 3098 EGMR Nr. 14191/88, Holm v Schweden, 25.11.1993, § 33. 3099 EGMR Nr. 14191/88, Holm v Schweden, 25.11.1993, § 30. Siehe hierzu auch ausführlich ab S. 509. 3100 Siehe so schon auf S. 513. Hierzu im vorliegenden Kontext Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (12).

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führers entschieden wurde.3101 Da kein Bezug zum Streitgegenstand des Verfahrens hergestellt werden konnte, erkannte der EGMR in der ehemaligen Parteimitgliedschaft keinen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK.3102 Der EGMR ergänzte, dass der Gerichtspräsident passives Mitglied gewesen und nicht in die Führung der Partei eingebunden war.3103 Der EGMR verwies mutatis mutandis auf Holm v Schweden sowie auf das Urteil Pabla Ky v Finnland.3104 In Pabla Ky hatte allein die Parteimitgliedschaft eines als Experten herangezogenen Laienrichters keine Auswirkung auf dessen Unparteilichkeit, weil kein unmittelbarer Bezug zwischen seiner Abgeordneten- und seine Richtertätigkeit vorlag.3105 Da die Tätigkeit als Abgeordneter typischerweise mit einer Parteimitgliedschaft einhergeht, entspricht es dem Grundsatz einer einheitlichen Interpretation der EMRK, dass beide Fallgruppen einheitlich behandelt werden. 3. Analyse Weder die Mitgliedschaft bei den Freimaurern noch in einer Richtervereinigung oder einer Partei führt automatisch dazu, dass ein Richter nicht mehr unparteilich ist. Liegen jedoch Anhaltspunkte dafür vor, dass sich ein Richter wegen seiner Mitgliedschaft in einer Vereinigung tatsächlich in seiner gerichtlichen Entscheidung beeinflussen ließ, ist ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht ausgeschlossen. Im Fall von Berufsrichtern verlangt der EGMR hierfür jedoch konkret Nachweise einer Beeinflussung. Allein die Tatsache, dass eine Prozesspartei in der gleichen Vereinigung Mitglied ist wie der Richter, reicht als Anhaltspunkt nicht aus. Auch wenn der EGMR bislang nur wenige Fälle entschieden hat, dürften die dargestellten Rechtsprechungsprinzipien auch für richterliche Mitgliedschaften in weiteren Vereinigungen gelten. Unklar ist jedoch, wie sich eine richterliche Mitgliedschaft in einer Vereinigung, deren Grundsätze gegen die grundlegenden demokratischen und rechtsstaatlichen Verfassungsprinzipien der jeweiligen Konventionsstaaten und der EMRK stehen, auf die richterliche Unparteilichkeit auswirken würde. Sind Schöffen Mitglied einer politischen Partei, dann liegt ein Anhaltspunkt für eine fehlende Unparteilichkeit vor, wenn das von den Schöffen zu entscheidende Verfahren auch politische Fragen betrifft. Da die Gefährdung der richter­ 3101

EGMR Nr. 4184/15 u. a., Otegi Mondragon u. a. v Spanien (Zul.), 03.11.2015, §§ 12–13, 15; vergleiche mit einem ähnlichen Sachverhalt bereits die Entscheidung EKMR Nr. 12952/87, Ruiz-Mateos v Spanien (Zul.), 06.11.1990, DR 67, S. 190 (199) (ein Verfassungsrichter war unparteilich, obwohl er in der Vergangenheit für die aktuell regierende Partei kandidiert hatte); Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 309. 3102 EGMR Nr. 4184/15 u. a., Otegi Mondragon u. a. v Spanien (Zul.), 03.11.2015, §§ 22–26. 3103 EGMR Nr. 4184/15 u. a., Otegi Mondragon u. a. v Spanien (Zul.), 03.11.2015, § 27. 3104 EGMR Nr. 4184/15 u. a., Otegi Mondragon u. a. v Spanien (Zul.), 03.11.2015, § 26. 3105 EGMR Nr. 47221/99, Pabla Ky v Finnland, 22.06.2004, § 33. Siehe zu dieser Entscheidung sowie zur Vereinbarkeit eines Abgeordnetenmandats mit einer richterlichen Tätigkeit ab S. 559.

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lichen Unparteilichkeit bei juristischen Laien grundsätzlich schneller angenommen wird als bei Berufsrichtern, kann diese Rechtsprechung nicht ohne Weiteres auf Berufsrichter übertragen werden. Die Frage, ob ein Richter Mitglied einer Partei sein darf, betrifft die Abgrenzung der judikativen von den politischen Gewalten, die ebenso in Frage steht, wenn ein Abgeordneter zeitgleich als Richter tätig ist oder ein Richter sein Amt niederlegen muss, um für ein Abgeordnetenmandat zu kandidieren.3106 Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der EGMR an die Vereinbarkeit einer Parteimitgliedschaft mit dem Richteramt andere Maßstäbe anlegt als bei einer Mitgliedschaft in einer anderen Vereinigung. Somit schadet die Mitgliedschaft eines Richters in einer politischen Vereinigung nicht per se seiner richterlichen Unparteilichkeit. Holm v Schweden zeigt auf der anderen Seite, dass es Fälle geben kann, in denen die Mitgliedschaft eines Schöffen in einer Partei im konkreten Fall der richterlichen Unparteilichkeit schadet. Entscheidend ist eine Beurteilung des Einzelfalls anhand des zeitlichen Zusammenhangs zwischen Mitgliedschaft in einer Vereinigung und Gerichtsverfahren, des Streitgegenstands und der Nachweise über eine tatsächliche Beeinflussung. Urteile, in denen sich Richter wegen disziplinarischer Maßnahmen gegen sie auf ihre Vereinigungsfreiheit gemäß Art. 11 EMRK berufen, gibt es kaum. Da die Ausübung der Vereinigungsfreiheit aber genauso wie eine Meinungsäußerung eine „politische Aktivität“ darstellt,3107 dürften die zur richterlichen Meinungsfreiheit angestellten Erwägungen sinngemäß auf die richterliche Vereinigungsfreiheit anwendbar sein. Daher deutet nichts darauf hin, dass disziplinarische Maßnahmen gegen Richter, die allein an die Mitgliedschaft in einer Vereinigung anknüpfen, nach Art. 11 EMRK gerechtfertigt sein können. Die denkbare Ausnahme könnte vorliegen, wenn der Zweck der Vereinigung grundlegend gegen demokratische und rechtsstaatliche Grundsätze verstößt. Dies entspräche der Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit, wonach Richter bei der Ausübung ihrer politischen Freiheiten eine gewisse Zurückhaltung zeigen müssen. Sie dürfen die geschützten freiheitlichen Tätigkeiten grundsätzlich ausüben, also Mitglieder in Vereinigungen und Parteien werden oder eine Richtervereinigung zur Vertretung ihrer eigenen Interessen gründen. Aber sie müssen beachten, dass eine zu radikale Positionierung das Vertrauen der Allgemeinheit in die funktionsfähige und unabhängige Gerichtsbarkeit gefährden könnte.

IV. Religionsfreiheit gemäß Art. 9 EMRK In der Zulässigkeitsentscheidung Pitkevich v Russland prüfte der EGMR neben der Meinungsfreiheit auch die Religionsfreiheit gemäß Art. 9 EMRK. Die Äuße­ rung der Richterin im Gerichtssaal, mit der sie versuchte, die Prozessparteien 3106

Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 139–140 in Fn. 549. Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 318–319; Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1

3107

(12).

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zum Beitritt zu ihrer Glaubensgemeinschaft zu bringen, ordnete der EGMR als Gefährdung für die Autorität des Gerichtssystems ein. Nachdem der EGMR bereits die auf Art. 10 Abs. 1 EMRK gestützte Beschwerde als offensichtlich unbegründet abgelehnt hatte, stellte er für Art. 9 Abs. 1 EMRK lediglich fest, dass die Beschwerde aus ähnlichen Gründen (for similar reasons) ebenfalls offensichtlich unbegründet war.3108 Richter müssen also ihre Religionsfreiheit so ausüben, dass sie keinen Eindruck der Voreingenommenheit oder Befangenheit aufgrund ihres Glaubens vermitteln. Insbesondere dürfen sie ihre Religion nicht im Rahmen des Gerichtsverfahrens thematisieren. Für Richter gelten grundsätzlich die gleichen Anforderungen wie für andere öffentliche Bedienstete.3109 „Although it is legitimate for a State to impose on public servants, on account of their status, a duty to refrain from any ostentation in the expression of their religious beliefs in public, public servants are individuals and, as such, qualify for the protection of Article 9 of the Convention. It therefore falls to the Court, having regard to the circumstances of each case, to determine whether a fair balance has been struck between the fundamental right of the individual to freedom of religion and the legitimate interest of a democratic State in ensuring that its public service properly furthers the purposes enumerated in Article 9 § 2 […].“3110

So hat der EGMR bisher an öffentliche Bedienstete gerichtete Verbote, ihren Glauben durch Zeichen oder Kleidungsstücke wie Kopftücher öffentlich zu machen, für verhältnismäßig erklärt.3111 Legitime Zwecke dieser Maßnahme waren der Schutz von Rechten und Freiheiten anderer und die öffentliche Ordnung.3112 Bei der Abwägung war der Gerichtshof großzügig. Daher darf davon ausgegangen werden, dass auch ein Kopftuchverbot für Richterinnen oder ein Verstoß gegen eine andere religionsbezogene Verhaltensvorschrift im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens beziehungsweise im Gerichtssaal gerechtfertigt wäre. Die Religionsfreiheit ist anders als die Meinungsfreiheit und die Vereinigungsfreiheit kein politisches Recht. Die Ausübung der richterlichen Religionsfreiheit kann daher nicht der Erhaltung einer funktionsfähigen und unabhängigen Gerichtsbarkeit dienen. Die Religionsfreiheit von Richtern ist somit nicht besonders geschützt und der Gestaltungsspielraum der Konventionsstaaten ist nicht eingeschränkt.

3108 EGMR Nr. 47936/99, Pitkevich v Russland (Zul.), 08.02.2001. Auch Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (2) erwähnt zwar, dass hier auch die Religionsfreiheit einschlägig war, konzentriert sich aber auf die Meinungsfreiheit (S. 5–6, 8). 3109 Vgl. EGMR Nr. 57792/15, Hamidović v Bosnien und Herzegowina, 05.12.2017, § 40. 3110 EGMR Nr. 65500/01, Kurtulmuş v Türkei (Zul.), 24.01.2006 mit Verweis auf Urteile zu Art. 10 EMRK. 3111 EGMR Nr. 42393/98, Dahlab v Schweiz (Zul.), 15.02.2001; Nr. 65500/01, Kurtulmuş v Türkei (Zul.), 24.01.2006; zusammenfassend und kritisch Walter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 17 Rn. 138. 3112 EGMR Nr. 42393/98, Dahlab v Schweiz (Zul.), 15.02.2001; Nr. 65500/01, Kurtulmuş v Türkei (Zul.), 24.01.2006; zusammenfassend Uerpmann-Wittzack, Höchstpersönliche Rechte und Diskriminierungsverbot, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 3 Rn. 36.

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Wegen der von ihnen geforderten Zurückhaltung können Eingriffe in die Religionsfreiheit von Richtern also wegen ihres hoheitlichen Status leichter gerechtfertigt werden als bei anderen Personen.

V. Recht auf ein ungestörtes Privatleben gemäß Art. 8 EMRK Art. 8 Abs. 1 EMRK schützt unter anderem das ungestörte Privatleben. Anders als bei der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit werden die spannenden dogma­ tischen Fragen zum Schutz des richterlichen Privatlebens im Anwendungsbereich aufgeworfen.3113 1. Anwendungsbereich und Eingriff Nach einer wechselhaften Rechtsprechung hat sich inzwischen eine einheitliche Rechtsprechungslinie zu der Frage etabliert, ob eine Entlassung als disziplinarische Maßnahme gegen Richter einen Eingriff in das Recht auf ein geschütztes Privatleben gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellt. Im ersten Urteil der Rechtssprechungslinie, Özpınar v Türkei,3114 wurde die beschwerdeführende Richterin aus ihrem Amt entlassen, nachdem ihr vorgeworfen worden war, zu spät und zu geschminkt im Gericht zu erscheinen, sich laut im Gericht mit ihrer Mutter am Telefon gestritten zu haben sowie eine Beziehung zu einem verheirateten Anwalt zu unterhalten und die von ihm vertretenen Parteien bevorteilt zu haben.3115 Voraussetzung für die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Art. 8 Abs. 1 EMRK für berufliche Tätigkeiten war, dass die Art und Weise betroffen war, wie die Beschwerdeführerin ihre soziale Identität durch die Beziehungen zu ihren Mitmenschen entwickelte (la façon dont l’individu forge son identité sociale par le développement des relations avec ses semblables).3116 Weil die Beschwerdeführerin wegen ihres privaten Verhaltens entlassen wurde und weil durch die Anschuldigungen ihr Ruf angegriffen wurde, stellte die Entlassung einen Eingriff in das Recht auf Privatleben gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK dar.3117 In der Sache Volkov v Ukraine wurde der Beschwerdeführer wegen Eidbruchs (breach of oath) entlassen, nachdem ihm Fehlverhalten im Amt vorgeworfen wor 3113

Hierzu zusammenfassend Background paper for the Judicial Seminar 2018: The Authority of the Judiciary (Fn. 464), S. 13. 3114 Siehe hierzu auch die Darstellung bei Kosař / Lixinski, AJIL 190 (2015), S. 713 (736–737). 3115 EGMR Nr. 20999/04, Özpınar v Türkei, 19.10.2010, §§ 8, 16. 3116 EGMR Nr. 20999/04, Özpınar v Türkei, 19.10.2010, § 46. Dies entspricht den Anforderungen an die Eröffnung des Anwendungsbereichs von Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn die Berufsträger keine hoheitliche Gewalt ausüben, vgl. EGMR Nr. 13710/88, Niemietz v Deutschland, 16.12.1992, § 29. 3117 EGMR Nr. 20999/04, Özpınar v Türkei, 19.10.2010, §§ 47–48.

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den war.3118 Anders als bei Özpınar v Türkei lag der Disziplinargrund nicht im privaten Lebensbereich. Durch die Entlassung des beschwerdeführenden Richters wurden einerseits dessen berufliche Beziehungen beeinträchtigt, andererseits war seine Familie durch den fortan fehlenden Lebensunterhalt betroffen.3119 Daher war auch in diesem Fall der Anwendungsbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK eröffnet. In Erményi v Ungarn wurde der ehemalige Vizepräsident des ungarischen Supreme Courts durch eine Gesetzesänderung von seinen administrativen Aufgaben entbunden, blieb aber Richter der neu geschaffenen Kúria.3120 Grund für die Absetzung aus dem Verwaltungsposten war der Plan des Parlaments, die Gerichtsverwaltung im Rahmen der Neuorganisation des Obersten Gerichts neu zu besetzen. Der Beschwerdeführer selbst berief sich zunächst auf Art. 6, 13, 14 EMRK und Art. 1 ZP und erst im Laufe des Verfahrens auch auf Art. 8 Abs. 1 EMRK.3121 Die Eröffnung des Anwendungsbereichs und das Vorliegen eines Eingriffs begründete der EGMR allein mit Verweisen auf Özpınar v Türkei und Volkov v Ukraine, ohne eigenständige Ausführungen zum konkreten Fall zu machen. Allerdings war diese rechtliche Frage zwischen den Prozessparteien auch nicht umstritten.3122 Das abweichende Sondervotum von Richter Kūris plädierte hingegen dafür, nicht automatisch von einer Entlassung auf die Eröffnung des Anwendungsbereichs zu schließen. Es müsse im Einzelfall geprüft werden, ob sich die Entlassung tatsächlich auf das Privatleben des Betroffenen und dessen Beziehungen auswirkt. Im vorliegenden Fall bezweifelte Kūris, dass diese Voraussetzung vorlag, weil der Beschwerdeführer zwar seinen Verwaltungsposten aufgeben musste, aber weiterhin als Richter am Obersten Gericht tätig war.3123 Das vom Sondervotum vorgeschlagene Vorgehen ist überzeugend, weil die Absetzung aus dem Amt des Vizepräsidenten allein die Beziehung zwischen dem Richter und dem Parlament betrifft. Das Parlament wollte die Amtszeit des Beschwerdeführers aus politischen Gründen, nicht wegen dessen Leistung im Amt oder wegen seines Verhaltens kürzen. Der Beschwerdeführer war weiterhin in seinem früheren beruflichen Umfeld tätig. Es 3118

EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, §§ 17–18, 27. EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 166; dem ohne eigenständige Begründung folgend EGMR Nr. 5114/09 u. a., Kulykov u. a. v Russland, 19.01.2017, § 138; zu Volkov siehe Kosař / Lixinski, AJIL 190 (2015), S. 713 (737–739). 3120 EGMR Nr. 22254/14, Erményi v Ungarn, 22.11.2016, § 9 zur Sachverhaltsdarstellung. Das Urteil ist damit eng verwandt mit der Sache Baka v Ungarn, die im Rahmen der richterlichen Meinungsfreiheit thematisiert wurde. 3121 EGMR Nr. 22254/14, Erményi v Ungarn, 22.11.2016, § 18. Das abweichende Sondervotum von Richter Kūris zu EGMR Nr. 22254/14, Erményi v Ungarn, 22.11.2016, §§ 5–7 legte offen und kritisierte, dass der Beschwerdeführer sich erst auf Art. 8 Abs. 1 EMRK berief, als die Kammer des EGMR erkennen ließ, dass diese Norm einschlägig sei, dass der EGMR also gezielt darauf Einfluss genommen hat, welches Recht Gegenstand der Individualbeschwerde war. 3122 EGMR Nr. 22254/14, Erményi v Ungarn, 22.11.2016, § 30. 3123 Abweichendes Sondervotum von Richter Kūris zu EGMR Nr. 22254/14, Erményi v Ungarn, 22.11.2016, §§ 9–10. 3119

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ist auch nicht erkennbar, dass sein Ruf durch die Gesetzesänderung gelitten hatte. Da allein die Rechtmäßigkeit der Absetzung von einem Verwaltungsposten ohne Bezug zum Privatleben in Frage stand, hätte Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht anwendbar sein dürfen. Die Entscheidung der Kammermehrheit legte hingegen nahe, dass Art. 8 Abs. 1 EMRK als Auffangrecht für Streitigkeiten über Richterentlassungen auch ohne Bezug zum Privatleben immer anwendbar sein könnte, wenn sich die Richter nicht auf ein spezielleres Freiheitsrecht berufen konnten. Das Leiturteil der Großen Kammer in der Sache Denisov v Ukraine präzisierte und vereinheitlichte schließlich die bisherige Rechtsprechung.3124 Wie im Fall Erményi wurde der Beschwerdeführer von seinem Posten des Gerichtspräsidenten entlassen, blieb aber weiterhin als Richter tätig.3125 Der EGMR verschob die Prüfung des Anwendungsbereichs in die Zulässigkeit und glich die Rechtsprechung zum Schutz des Privatlebens von Richtern somit dem üblichen Prüfungsaufbau des Art. 8 Abs. 1 EMRK an.3126 Außerdem wich der EGMR von seiner fast grenzenlosen Auslegung des Anwendungsbereichs aus dem Erményi-Urteil wieder ab. Bei Streitigkeiten über öffentlich-rechtliche Anstellungsverhältnisse3127 gibt es nach dem Denisov-Urteil nun zwei Möglichkeiten, wie der Anwendungsbereich des Rechts auf Privatleben eröffnet sein kann: „(α)  identification of the ‚private life‘ issue as the reason for the dispute (reason-based approach) and (β) deriving the ‚private life‘ issue from the consequences of the impugned measure (consequence-based approach).“3128

Nach dem reason-based approach ist der Anwendungsbereich eröffnet, wenn die belastenden Maßnahmen mit dem privaten Verhalten der Beschwerdeführer begründet wurden, wie dies in der Entscheidung Özpınar v Türkei der Fall war.3129 Nach dem consequence-based approach greifen auch solche Maßnahmen in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK ein, die zwar nicht am privaten Verhalten der betroffenen Person anknüpfen, die sich aber ernsthaft negativ auf das Privatleben auswirken, wie dies in Volkov v Ukraine der Fall war.3130 Solche Konsequenzen liegen in folgenden Fällen vor:

3124 Diese Rechtsprechungslinie wird auch bei Lehrern angewendet in EGMR Nr. 36607/06, Yilmaz v Türkei, 04.06.2019, §§ 37–41; ebenso bei Beamten und Staatsanwälten, EGMR Nr. 58812/15 u. a., Polyakh u. a. v Ukraine, 17.10.2019, §§ 205–211. 3125 EGMR Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, §§ 20, 25. 3126 EGMR Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, §§ 93–94. Dem folgend EGMR Nr. 45434/12 u. a., J. B. u. a. v Ungarn (Zul.), 27.11.2018, §§ 125–126; Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, §§ 358–364; Nr. 11423/19, Gumenyuk u. a. v Ukraine, 22.07.2021, §§ 86–90. 3127 Für einen Überblick über verschiedene öffentlich-rechtliche Anstellungsverhältnisse siehe EGMR Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, § 101. 3128 EGMR Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, § 102. 3129 EGMR Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, §§ 103–106. 3130 EGMR Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, §§ 107–109.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

„(i) impact on the individual’s ‚inner circle‘, in particular where there are serious material consequences, (ii) the individual’s opportunities ‚to establish and develop relationships with others‘, and (iii) the impact on the individual’s reputation.“3131

Nach dem consequence-based approach müssen die Auswirkungen der streitigen Maßnahme auf das Privatleben des Beschwerdeführers eine gewisse Intensität haben.3132 Von der weiten Auslegung des Erményi-Urteils wendete sich der EGMR ab: „In the recent case of Erményi the Court found that the applicant’s dismissal from the administrative position of Vice-President of the Supreme Court constituted an interference with his right to respect for private life […]. Even though the Court did not elaborate on this point, in the absence of the parties’ submissions in that regard, it implied that the impugned measure had seriously affected the applicant’s private life. That finding cannot be read as presuming that the applicant’s dismissal had ‚automatically‘ generated an issue in the sphere of private life. In that regard the Court reiterates that the threshold of severity occupies an important place in cases where the existence of a private-life issue is examined according to the consequence-based approach.“3133

Obwohl ein mit Erményi v Ungarn vergleichbarer Sachverhalt vorlag, war der Anwendungsbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK in Denisov v Ukraine nicht eröffnet. Weil die Vergütung für die richterliche Tätigkeit erhalten blieb, beeinträchtigten die finanziellen Einbußen durch den Verlust des Verwaltungspostens den Beschwerdeführer und seine Familie nicht ernsthaft. Als Richter des obersten Gerichts hatte er auch weiterhin die Möglichkeit, sich auf oberster richterlicher Ebene zu vernetzen und seine bisher bestehenden Kontakte aufrechtzuerhalten. Die Absetzung des Beschwerdeführers vom Posten des Gerichtspräsidenten wurde mit dessen mangelhaften Verwaltungsfähigkeiten, nicht aber mit einer fehlenden richterlichen Qualifikation oder einer mangelhaften richterlichen Tätigkeit begründet. Daher konnte der Beschwerdeführer im konkreten Fall nicht darlegen, dass die Entlassung seinem Ruf und seinen zukünftigen beruflichen Aussichten nachhaltig geschadet habe.3134 Auch wenn der EGMR nicht ausdrücklich von Erményi v Ungarn abwich, wäre der Anwendungsbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK in dieser Sache nach den neuen Kriterien des consequence-based approach nicht eröffnet gewesen. Da die Entlassung auf einer politischen Entscheidung beruhte und weder am beruflichen noch am privaten Verhalten des Beschwerdeführers anknüpfte, war sie nicht rufschädigend. Da der Beschwerdeführer seinen Posten als Richter behielt, kann unterstellt werden, dass die Einkommenseinbußen ihn und seine Familie nicht

3131

EGMR Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, § 107. EGMR Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, §§ 110–112. 3133 EGMR Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, § 113. 3134 EGMR Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, §§ 118–134. 3132

F. Die persönlichen richterlichen Freiheitsrechte  

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ernsthaft in Bedrängnis brachten. Seine beruflichen Kontakte konnte er ebenfalls weiter unterhalten.3135 Durch die Denisov-Rechtsprechung hat der EGMR klargestellt, dass Art. 8 Abs. 1 EMRK in beruflichen Streitigkeiten und insbesondere in richterlichen Disziplinarverfahren nicht die Funktion eines Auffang-Konventionsrechts erfüllt. Eigenständige Voraussetzung der Eröffnung des Anwendungsbereichs von Art. 8 Abs. 1 EMRK ist ein ausreichend starker Bezug zum Privatleben des Richters. Verliert ein Richter nicht nur einen judikativen Verwaltungsposten, sondern sein Richteramt an sich, sollte, selbst wenn der Grund für die Entlassung nicht im privaten Verhalten lag, der Anwendungsbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK aber in jedem Fall nach dem consequence-based approach eröffnet sein: Der Einkommensverlust und der Verlust des bisherigen beruflichen Umfeldes mit den darin entwickelten Beziehungen wirkt sich in diesem Fall ausreichend nachteilig auf das Privatleben des Richters aus. Der Denisov-Ansatz hat sich durchgesetzt.3136 In J. B. u. a. v Ungarn verloren Richter vorzeitig ihre Richterposten, weil das Rentenalter für Richter kurzfristig herabgesetzt worden war.3137 Da die Richter allein aufgrund ihres Alters und nicht aufgrund ihres privaten Verhaltens entlassen wurden, kam der reason-based approach nicht in Betracht. Im Rahmen des consequence-based approach prüfte der EGMR, wie negativ sich die Maßnahme auf das Privatleben der Richter ausgewirkt hatte. Eine rufschädigende Wirkung der vorzeitigen Absetzungen lehnte der EGMR ab, weil die Herabsetzung des Rentenalters durch eine allgemeine Gesetzgebung erfolgte. Die individuelle Ausübung des Richteramtes, die Persönlichkeit der Richter, ihr Charakter und ihre moralischen Werte spielten daher keine Rolle. Da die beschwerdeführenden Richter aufgrund einer weiteren Gesetzesänderung zu einem späteren Zeitpunkt entweder auf ihren ehemaligen Richterposten oder einem Vertretungsposten wieder eingesetzt wurden, waren auch ihre beruflichen Beziehungen nicht nachhaltig beeinträchtigt. Schließlich war dem EGMR die Argumentation, dass die Richter bis zu ihrer Wiedereinsetzung für einige Monate auf einen wesentlichen Anteil ihres Einkommens verzichten mussten, nicht substantiiert genug. Der Gerichtshof forderte individuelle Nachweise darüber, dass

3135 Vgl. auch die Deutung im abweichenden Sondervotum von Richter Kūris zu EGMR Nr. 26238/10, Brisc v Rumänien, 11.12.2018, § 32: „In Denisov [….] the Court backed away from this all-inclusive approach. It found a complaint under Article 8, in many respects similar to that examined in Erményi, to be incompatible ratione materiae with the Convention and thus inadmissible (albeit without formally denouncing Erményi).“ Siehe ebenfalls das abweichende Sondervotum von Richter Kūris zu EGMR Nr. 41720/13, Nicolae Virgiliu Tănase v Rumänien, 25.06.2019, § 80. 3136 Siehe die Darstellung der allgemeinen Rechtsprechungsprinzipien in EGMR Nr. 45434/12 u. a., J. B. u. a. v Ungarn (Zul.), 27.11.2018, §§ 127–129; Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, §§ 359–361; Nr. 11423/19, Gumenyuk u. a. v Ukraine, 22.07.2021, § 86. 3137 EGMR Nr. 45434/12 u. a., J. B. u. a. v Ungarn (Zul.), 27.11.2018, §§ 11–14.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

das finanzielle Auskommen der Beschwerdeführer und ihrer Familien tatsächlich gefährdet war.3138 Somit war die Beschwerde unzulässig. Die Entlassung aus dem Richteramt ohne anschließende Wiedereinsetzung in Xhoxhaj v Albanien fiel schließlich nach dem consequence-based approach unproblematisch in den Anwendungsbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK. Der Verlust ihres gesamten Einkommens hatte ernsthafte negative Konsequenzen für die Beschwerdeführerin und ihre Familienmitglieder. Außerdem vermittelte die Entlassung den Eindruck, sie sei des Richteramts unwürdig.3139 In der Sache Gumenyuk v Ukraine konnten die Beschwerdeführer ihr Richteramt am Obersten Gericht nach einer Gesetzesänderung nicht mehr ausüben, obwohl sie nicht formal entlassen worden waren. Zwar erhielten sie ihr Gehalt weiterhin, sodass sie keine Einkommenseinbußen hinnehmen mussten. Aber: „[T]he impugned measures deprived [the applicants] of the opportunity to continue their judicial work and to live in the professional environment where they could pursue their goals of professional and personal development.“3140

Hiernach ist der Anwendungsbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK also auch eröffnet, wenn keine finanziellen Einbußen vorliegen. Zusammenfassend hat Denisov v Ukraine eine neue Grundlage für Richter – und andere Staatsbedienstete – geschaffen, um gestützt auf Art. 8 Abs. 1 EMRK wirksam gegen Disziplinarmaßnahmen und Entlassungen vorzugehen. Gleichzeitig begrenzt Denisov die Anwendbarkeit des Art. 8 Abs. 1 EMRK auf solche Fälle, in denen das richterliche Privatleben tatsächlich beeinträchtigt wurde. Die Zulässigkeitsentscheidung J. B. v Ungarn zeigt, dass das Privatleben für die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht nur am Rande oder kurzfristig betroffen sein darf. Eine Einkommenseinbuße ist keine zwingende Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Art. 8 Abs. 1 EMRK. Auch Auswirkungen auf die Ausübung der beruflichen Tätigkeit und die Schädigung des professionellen Rufs können ausreichen, um den Anwendungsbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK zu eröffnen. 2. Rechtfertigungsvoraussetzungen Die Rechtfertigungsvoraussetzungen des Art. 8 Abs. 2 EMRK für Entlassungen von Richtern orientieren sich an den allgemeinen Rechtsprechungsprinzipien. Für den materiellen Gesetzesvorbehalt gelten die üblichen Anforderungen an Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit.3141 Die Gründe für Disziplinarmaßnahmen dürfen 3138

EGMR Nr. 45434/12 u. a., J. B. u. a. v Ungarn (Zul.), 27.11.2018, §§ 131–136. EGMR Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, §§ 362–364. 3140 EGMR Nr. 11423/19, Gumenyuk u. a. v Ukraine, 22.07.2021, § 88. 3141 Siehe zu den Anforderungen an den materiellen Gesetzesbegriff oben ab S. 239, speziell zur Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit ab S. 264. 3139

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durchaus allgemein formuliert sein, da die Gesetzgeber nicht alle Gründe für Disziplinarmaßnahmen abschließend und konkret formulieren können.3142 Da diese geringen Voraussetzungen an die Bestimmtheit der Rechtsgrundlage teilweise nicht eingehalten wurden und bereits deswegen eine Konventionsverletzung vorlag,3143 prüfte der EGMR bislang nur selten die Verhältnismäßigkeit einer Richterentlassung im Rahmen des Art. 8 Abs. 2 EMRK. Den legitimen Zweck der Einschränkung leitete der EGMR aus der konventionsstaatsübergreifend üblichen richterlichen Verpflichtung ab, sich in ihrem Verhalten zu mäßigen (obligation de retenue), um die Unabhängigkeit und Autorität der Gerichtsbarkeit zu wahren. Allerdings ist die Autorität und Unparteilichkeit der Rechtsprechung anders als im Rahmen des Art. 10 Abs. 2 EMRK kein geschriebener Rechtfertigungsgrund des Art. 8 Abs. 2 EMRK. Der EGMR griff daher auf die Aufrechterhaltung der Ordnung, den Schutz der nationalen Sicherheit und den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer zurück.3144 Die politisch gewünschte Neu-Organisation des Gerichtssystems in Erményi v Ungarn unterfiel keinem der in Art. 8 Abs. 2 EMRK aufgezählten legitimen Zwecke.3145 In der Abwägung, ob die Sanktion in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, stützte sich der EGMR auf die im Rahmen der Art. 9 und 10 EMRK anerkannte Pflicht von Beamten und Richtern, sich mit Meinungsäußerungen und religiösen Bekundungen zurückzuhalten. In Özpınar v Türkei stellte der EGMR nur die mit dem Privatleben der Richterin begründeten Maßnahmen in die Abwägung ein, nicht aber solche Sanktionen, die in ihrem professionellen Verhalten begründet waren.3146 „[L]es devoirs déontologiques d’un magistrat peuvent empiéter sur sa vie privée, lorsque par son comportement – fût-il privé –, le magistrat porte atteinte à l’image ou à la réputation de l’institution judiciaire.“3147

Weitere Abwägungsaspekte waren die Intensität des Eingriffs – im vorliegenden Fall eine Entlassung aus dem Richteramt mit der Konsequenz, dass die Beschwerdeführerin auch keine Rechtsanwältin mehr werden konnte  – sowie das angewendete Verfahren.3148 3142 Vgl. EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, §§ 174–178; außerdem bereits ausführlicher ab S. 272. 3143 EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, §§ 173–187; Nr. 11423/19, Gumenyuk u. a. v Ukraine, 22.07.2021, §§ 97–101. 3144 EGMR Nr. 20999/04, Özpınar v Türkei, 19.10.2010, §§ 55–56; Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 393. 3145 EGMR Nr. 22254/14, Erményi v Ungarn, 22.11.2016, §§ 35–37. Dies entsprach der Linie des EGMR in Baka v Ungarn, siehe hierzu Fn. 3015. 3146 EGMR Nr. 20999/04, Özpınar v Türkei, 19.10.2010, §§ 68, 71. 3147 EGMR Nr. 20999/04, Özpınar v Türkei, 19.10.2010, § 71. 3148 EGMR Nr. 20999/04, Özpınar v Türkei, 19.10.2010, §§ 73–79; siehe auch die Darstellung zu den Abwägungsaspekten in Özpınar v Türkei bei Kosař / Lixinski, AJIL 190 (2015), S. 713 (736–737).

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

In der Sache Xhoxhaj v Albanien wurde die Beschwerdeführerin, eine ehemalige Verfassungsrichterin, entlassen, weil sie in einem Überprüfungsverfahren zum Zwecke der Korruptionsbekämpfung eine Wohnung nicht angegeben hatte. In der Abwägung spielte die Härte der Sanktion eine Rolle – die Beschwerdeführerin wurde entlassen und lebenslang für einen Posten in der Gerichtsbarkeit gesperrt.3149 Außerdem deuteten fehlerhafte Angaben über das Vermögen und dessen Herkunft in einem Verfahren zur Korruptionsbekämpfung darauf hin, dass die Beschwerdeführerin die an Richter gestellten, hohen Integritätsstandards nicht erfüllte.3150 Während der EGMR für typische Disziplinarverfahren verlangt, dass die Rechtsgrundlagen abgestufte Sanktionen ermöglichen, übertrug der EGMR diese Voraussetzungen auf die sui generis-Lustrationsverfahren zur Korruptionsbekämpfung nicht.3151 Bezogen auf das lebenslange Verbot, in der Justiz zu arbeiten, führte der EGMR aus: „[J]udges, and especially those occupying posts entailing  a high degree of responsibility such as the posts in which the applicant wishes to resume employment, wield a portion of the State’s sovereign power. The lifetime ban imposed on the applicant […] on grounds of serious ethical violations is not inconsistent with or disproportionate to the legitimate objective pursued by the State to ensure the integrity of judicial office and public trust in the justice system […]. This is especially so within the national context of ongoing consolidation of the rule of law.“3152

Der EGMR erlaubt den Konventionsstaaten also, ihre Gerichtsbarkeit vor privatem richterlichem Verhalten zu schützen, das geeignet ist, das Vertrauen der Bevölkerung in die Gerichtsbarkeit zu erschüttern. Verstoßen die Richter gegen ihre Zurückhaltungspflicht, dürfen die Konventionsstaaten Disziplinarmaßnahmen gegen Richter verhängen. Das Urteil Xhoxhaj v Albanien verdeutlicht, dass Maßnahmen, die ein strukturelles Defizit der unabhängigen Gerichtsbarkeit beheben sollen, auch dann gerechtfertigt werden können, wenn das Vergehen vergleichsweise gering und die Sanktion verhältnismäßig streng ist.3153 Durch die konventionsrechtlichen Anforderungen an das anwendbare Verfahren und die den Maßnahmen zugrunde liegenden gesetzlichen Grundlagen sind die Richter davor geschützt, dass Gründe ihrer privaten Lebensführung nur vorgeschoben werden, um sie aus politischen Gründen aus dem Dienst zu entlassen.

3149

EGMR Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, §§ 403, 412–413. EGMR Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, §§ 406–409. 3151 EGMR Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 412. 3152 EGMR Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 413. 3153 Kritisch hierzu jedoch das abweichende Sondervotum von Richter Serghides zu EGMR Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 28. 3150

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3. Zwischenfazit Zusammenfassend können Richter das Recht auf ein geschütztes Privatleben gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK geltend machen, wenn sie entweder wegen ihres privaten Verhaltens disziplinarisch sanktioniert werden oder weil sich eine am beruflichen Verhalten angeknüpfte Disziplinarmaßnahme besonders stark auf ihr Privatleben auswirkt. Im Rahmen der Rechtfertigung wird dem Schutz der unabhängigen Gerichtsbarkeit ein besonderes Gewicht eingeräumt, auch wenn dieser Grund nicht explizit in Art. 8 Abs. 2 EMRK aufgeführt ist.

VI. Recht auf gerichtliche Prüfung statusrelevanter Maßnahmen gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK Richter können sich wie jede andere Privatperson auf das Recht auf Zugang zu einem unabhängigen und unparteilichen Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK berufen. Streiten Richter mit anderen hoheitlichen Organen über statusrelevante Maßnahmen – sei es eine disziplinarische Sanktion, eine vorzeitige Absetzung oder eine Unregelmäßigkeit beim Ernennungsverfahren –, dann kommt den Gerichten die Kontrollaufgabe über diese Streitigkeit zwischen zwei Trägern hoheitlicher Gewalt zu. Diese Streitigkeiten haben eine besondere Relevanz für die innerstaatliche Gewaltenteilung, weil hier über ein institutionelles Verhältnis gestritten wird. Hinter allen statusrechtlichen Streitigkeiten von Richtern steht der Grundgedanke, dass die richterliche Unabhängigkeit des einzelnen Richters sowie die Unabhängigkeit der gesamten Gerichtsbarkeit geschützt werden müssen. 1. Überprüfung von Disziplinarmaßnahmen Richter haben nach Art. 6 Abs. 1 EMRK ein Recht auf die Überprüfung von Disziplinarmaßnahmen und einer vorzeitigen Beendigung ihrer Amtszeit. Der zivilrechtliche Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK ist für diese Streitigkeiten typischerweise eröffnet.3154 Das Bestreben des EGMR, richterrechtlichen Streitigkeiten den Rechtsweg zu eröffnet, zeigt sich besonders an der stetigen Ausweitung des Anwendungsbereichs, zunächst durch die Vilho Eskelinen-Rechtsprechung, nach der richterrechtliche Streitigkeiten nur in streng begrenzten Ausnahmefällen nicht zivilrechtlicher Natur sind. Letzthin legte der EGMR in der Sache Bilgen v Türkei die Anwendungsvoraussetzung des subjektiven innerstaatlichen Rechts extensiv im Lichte konventions- und völkerrechtlicher Normen aus.3155 Durch seine Auslegung der richterlichen Statusrechte im Sinne der konventions-

3154 3155

Siehe hierzu und zu den seltenen Ausnahmen bereits oben ab S. 440. Siehe hierzu bereits ab S. 627.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

rechtlichen Grundwerte harmonisiert der EGMR die nationalen Rechtsordnungen und eröffnet den zivilrechtlichen Anwendungsbereich zuverlässig für statusrechtliche Streitigkeiten. Richter beriefen sich bereits auf das Recht auf ein unabhängiges und unparteiliches Gericht, um vorzeitige Absetzungen der Richter aus ihrer richterlichen Tätigkeit allgemein3156 oder von ihren Posten der Gerichtsverwaltung3157, um unfreiwillige Versetzungen3158 oder auch um sonstige Disziplinarmaßnahmen3159 zu kontrollieren. Das Recht besteht unabhängig davon, ob die beschwerenden Maßnahmen durch exekutive Einzelfallentscheidung oder unmittelbar durch Gesetz angeordnet werden.3160 Erfüllt das Disziplinarorgan, zum Beispiel der Richterrat, selbst alle Gerichtsmerkmale des Art. 6 Abs. 1 EMRK, muss anschließend keine weitere gerichtliche Kontrolle mehr erfolgen. Werden die Disziplinarmaßnahmen aber durch ein nichtgerichtliches Organ verhängt, muss ein gerichtlicher Rechtsbehelf zur Verfügung stehen.3161 Hinsichtlich der institutionellen Anforderungen gelten die allgemeinen Gerichtsmerkmale,3162 insbesondere die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Diesbezüglich gelten für die Rechte von Richtern keine Besonderheiten. In Ramos Nunes v Portugal stellte der EGMR klar, dass die abstrakte Gefahr, dass ein Richter über eine Situation entscheidet, in die er selbst potenziell einmal kommen könnte, nicht zur Beeinträchtigung der Unparteilichkeit führt: „[T]he Court considers it normal that judges, in the performance of their judicial duties and in various contexts, should have to examine a variety of cases in the knowledge that they may themselves, at some point in their careers, be in a similar position to one of the parties, including the defendant. However, a purely abstract risk of this kind cannot be regarded as apt to cast doubt on the impartiality of a judge in the absence of specific circumstances pertaining to his or her individual situation. Even in the context of disciplinary cases a theoretical risk of this nature, consisting in the fact that judges hearing cases are themselves still subject to a set of disciplinary rules, is not in itself a sufficient basis for finding a breach of the requirements of impartiality.“3163

3156

EGMR Nr. 22330/05, Olujić v Kroatien, 05.02.2009; Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013; Nr. 69916/10 und 36531/11, Poposki und Duma v Mazedonien, 07.01.2016; Nr. 45729/05, Sturua v Georgien, 28.03.2017; Nr. 147/07, Kamenos v Zypern, 31.10.2017. 3157 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016; Nr. 26691/18 und 27367/18, Broda und Bojara v Polen, 29.06.2021. 3158 EGMR Nr. 1571/07, Bilgen v Türkei, 09.03.2021. 3159 EGMR Nr. 33392/12, Paluda v Slowakei, 23.05.2017 (temporäre Suspendierung). 3160 Siehe für den Sonderfall einer gesetzlichen Verkürzung der richterlichen Amtszeit EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, §§ 120–122; Nr. 26691/18 und 27367/18, Broda und Bojara v Polen, 29.06.2021, §§ 137–150. 3161 Siehe hierzu bereits oben ab S. 445. 3162 Siehe zu Richterräten als Gerichte im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK unten ab S. 732. 3163 EGMR Nr. 55391/13 u. a., Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 163. Siehe hierzu bereits ab S. 579.

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In Eminağaoğlu v Türkei fasste der EGMR die Bedeutung eines gerichtlichen Rechtsbehelfs gegen richterliche Disziplinarmaßnahmen zusammen: „[D]isciplinary measures may have serious consequences for the lives and careers of the member of judiciary concerned […] who was accused of acts that rendered him liable for dismissal, that is to say, for very serious sanctions which carried  a significant degree of stigma […]. The judicial review carried out must be appropriate to the subject-matter of the dispute, that is to say, in the instant case, to the disciplinary nature of the administrative decisions in question. This consideration applies with even greater force to disciplinary proceedings against judges and prosecutors, who must enjoy the respect that is necessary for the performance of their duties. When a member State brings such disciplinary proceedings, public confidence in the functioning and independence of the judiciary is at stake; in  a democratic State, this confidence guarantees the very existence of the rule of law […].“3164

Der richterliche Status wirkt sich auf die Rechtfertigungsprüfung im Falle eines Eingriffs in das Recht auf Zugang zum Gericht aus. Hierzu sind mehrere Urteile in jüngerer Vergangenheit ergangen. In Baka v Ungarn wurde die Amtszeit des Gerichtspräsidenten durch eine Gesetzesänderung vorzeitig beendet, gegen die dem Beschwerdeführer kein Rechtsweg zur Verfügung stand. „[T]he Court cannot but note the growing importance which international and Council of Europe instruments, as well as the case-law of international courts and the practice of other international bodies, are attaching to procedural fairness in cases involving the removal or dismissal of judges, including the intervention of an authority independent of the executive and legislative powers in respect of every decision affecting the termination of office of a judge […]. Bearing this in mind, the Court considers that the respondent State impaired the very essence of the applicant’s right of access to a court.“3165

Auch in Gumenyuk v Ukraine war das Recht der beschwerdeführenden Richter aus Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt, weil ihnen gegen das Gesetz, das sie an der Ausübung ihres Richteramts hinderte, kein innerstaatlicher Rechtsbehelf zur Verfügung stand.3166 In Paluda v Slowakei stand dem Beschwerdeführer gegen seine Suspendierung kein Rechtsbehelf zur Verfügung, weil es sich um eine vorläufige Maßnahme handelte.3167 Ob ein legitimer Zweck für diese Regelung vorlag, bezweifelte der EGMR, ließ diese Frage aber in Anbetracht der Unverhältnismäßigkeit des Eingriffs offen.3168 Das Recht auf Zugang zum Gericht hätte aus einer Gesamtschau

3164

EGMR Nr. 76521/12, Eminağaoğlu v Türkei, 09.03.2021, § 97. Damit baute er auf auf EGMR Nr. 55391/13 u. a., Ramos Nunes de Carvalho  e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 196. 3165 EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, § 121; dem im Grundsatz folgend EGMR Nr. 33392/12, Paluda v Slowakei, 23.05.2017, § 45; Nr. 26691/18 und 27367/18, Broda und Bojara v Polen, 29.06.2021, § 143. 3166 EGMR Nr. 11423/19, Gumenyuk u. a. v Ukraine, 22.07.2021, §§ 70–76. 3167 EGMR Nr. 33392/12, Paluda v Slowakei, 23.05.2017, § 44. 3168 EGMR Nr. 33392/12, Paluda v Slowakei, 23.05.2017, § 46.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

verschiedener Gründe nicht ausgeschlossen werden dürfen. Nicht alle Gründe betrafen den richterlichen Status des Beschwerdeführers. Problematisch war, dass der Präsident des Obersten Gerichts, den der Beschwerdeführer kritisiert hatte, Mitglied des Disziplinarorgans war, das wegen dieser Äußerungen Sanktionen verhing. Außerdem dauerte die Suspendierung, während der dem Beschwerdeführer kein Rechtsbehelf zur Verfügung stand, zwei Jahre.3169 „[T]he Court considers it important to draw a clear distinction between the arguably compelling reasons for suspending a judge facing a certain type of disciplinary charge and the reasons for not allowing him or her access to a tribunal in respect of that suspension. In the Court’s view, the importance of this distinction is amplified by the fact that the body taking that measure and the procedure in the course of which it was taken fell short of the requirements of Article 6 § 1 of the Convention and the fact that the measure was taken within as particular a context as that pertaining to the present case.“3170

Der EGMR verlangt von den Konventionsstaaten also, den Richtern einen Rechtsbehelf gegen Disziplinarmaßnahmen zu eröffnen, weil der Grund für die Disziplinarmaßnahmen nicht gleichzeitig die Versagung des Rechtsbehelfs rechtfertigt. Durch diese deutliche Trennung stellt der EGMR sicher, dass Richter nicht strukturell daran gehindert werden, gegen Disziplinarmaßnahmen vorzugehen. In der Sache Broda und Bojara v Polen wurden die beiden Vizepräsidenten eines Regionalgerichts vorzeitig von diesem Verwaltungsposten entlassen. Grundlage hierfür war ein Gesetz, das dem Justizminister innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten die Befugnis einräumte, Gerichtspräsidenten und -vizepräsidenten ohne weitere materielle Voraussetzungen und ohne Begründung zu entlassen. Ein Rechtsbehelf gegen diese Absetzung stand den Beschwerdeführern nicht zur Verfügung.3171 Dieses Urteil ist aufsehenerregend, weil der EGMR in die Rechtfertigungsprüfung eines Eingriffs in das richterliche Recht auf Zugang zum Gericht die von der Konvention vorgegebene Rolle der Richter und der unabhängigen Gerichtsbarkeit in der innerstaatlichen Rechtsordnung einbezog. Die gesetzliche Grundlage für die Absetzung entsprach nicht rechtsstaatlichen Anforderungen. Der EGMR stellte fest, dass der einzige wirksame Schutz der Richter vor einer willkürlichen Absetzung in einer unabhängigen gerichtlichen Rechtmäßigkeitskontrolle bestand.3172 „La Cour souligne l’importance accordée tant à la nécessité de sauvegarder l’indépendance du pouvoir judiciaire qu’au respect de l’équité procédurale dans les affaires concernant la carrière de juges. En l’espèce, elle constate non seulement que le cadre juridique national qui était applicable au moment de la révocation des requérants ne précisait pas clairement

3169

EGMR Nr. 33392/12, Paluda v Slowakei, 23.05.2017, § 44. EGMR Nr. 33392/12, Paluda v Slowakei, 23.05.2017, § 54. 3171 EGMR Nr. 26691/18 und 27367/18, Broda und Bojara v Polen, 29.06.2021, §§ 5–6, 8, 33, 144. 3172 EGMR Nr. 26691/18 und 27367/18, Broda und Bojara v Polen, 29.06.2021, § 146. 3170

F. Die persönlichen richterlichen Freiheitsrechte  

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les conditions dans lesquelles un chef de juridiction pouvait être révoqué par dérogation au principe d’inamovibilité des juges en cours de mandat […], mais aussi que la quasi-totalité des pouvoirs en la matière ont été concentrés entre les mains du seul représentant du pouvoir exécutif […], les organes d’auto-administration judiciaire […] ayant été simultanément exclus de ce processus […]. La Cour note en outre les circonstances entourant la révocation des requérants, telles que, notamment, l’exclusion dans le chef des intéressés du droit d’être entendu et du droit de connaître les motifs des décisions ministérielles les concernant et l’absence d’un quelconque contrôle par une instance indépendante du ministre de la Justice impliqué des décisions de révocation critiquées.“3173

Die prozeduralen Anforderungen des Rechts auf Zugang zum Gericht orientierten sich also an der Schutzbedürftigkeit der Richter als Garanten der Rechtsstaatlichkeit. In diesem Zusammenhang verwies der EGMR auf das Urteil Guðmundur Andri Ástráðsson v Island, in dem der EGMR bereits über das Gerichtsmerkmal des formellen Gesetzesvorbehalts strukturelle Vorgaben zum richterlichen Ernennungsprozess gemacht hatte. Solange die gesetzliche Übergangsvorschrift in Kraft war, war die richterliche Unabsetzbarkeit für judikative Verwaltungsposten nicht mehr garantiert.3174 „Compte tenu de l’importance du rôle qui est dévolu aux juges en matière de protection des droits garantis par la Convention, la Cour estime qu’il est impératif que des garanties procédurales propres à assurer une protection adéquate de l’autonomie judiciaire contre les influences externes (législatives et exécutives) ou internes indues soient mises en place. Ce qui est en jeu est la confiance dans le pouvoir judiciaire […]. La Cour considère que lorsqu’il est question de la carrière de juges, comme dans la présente affaire, où le ministre de la Justice a décidé unilatéralement et de manière anticipée de révoquer les requérants, il devrait y avoir des raisons sérieuses propres à justifier une absence exceptionnelle de contrôle juridictionnel.“3175

Daher war auch in diesem Fall der Kernbereich des Rechts auf Zugang zum Gericht verletzt.3176 Der EGMR schützt die richterlichen Statusrechte also über die prozedurale Garantie des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Die Sache Grzęda v Polen betraf schließlich keine Disziplinarmaßnahme im engeren Sinne. Der beschwerdeführende Richter verlor durch eine Gesetzesänderung ohne vorherige Ankündigung seinen Posten im Nationalen Richterrat vor dem Ende seiner ursprünglich vorgesehenen Amtszeit von vier Jahren. Hiergegen stand ihm kein gerichtlicher Rechtsbehelf zur Verfügung.3177 Grzęda v Polen betraf die gleiche Gesetzesänderung zum Besetzungsverfahren des nationalen Richterrates, die der EGMR auch in Reczkowicz v Polen und den Folgeurteilen beurteilte.3178

3173

EGMR Nr. 26691/18 und 27367/18, Broda und Bojara v Polen, 29.06.2021, § 147. EGMR Nr. 26691/18 und 27367/18, Broda und Bojara v Polen, 29.06.2021, § 148. 3175 EGMR Nr. 26691/18 und 27367/18, Broda und Bojara v Polen, 29.06.2021, § 148. 3176 EGMR Nr. 26691/18 und 27367/18, Broda und Bojara v Polen, 29.06.2021, § 149. 3177 EGMR Nr. 43572/18, Grzęda v Polen (GK), 15.03.2022, §§ 31, 54. 3178 Siehe hierzu ab S. 317. 3174

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Weil der Richterrat die Aufgabe hatte, die gerichtliche Unabhängigkeit zu sichern, mussten nach Ansicht des EGMR für dessen Mitglieder im Falle einer vorzeitigen Absetzung die gleichen prozessualen Sicherheiten gelten wie für Richter selbst.3179 „The Court further emphasises the need to protect a judicial council’s autonomy, notably in matters concerning judicial appointments, from encroachment by the legislative and executive powers, and its role as a bulwark against political influence over the judiciary. In assessing any justification for excluding access to  a court with regard to membership of judicial governance bodies, the Court considers it necessary to take into account the strong public interest in upholding the independence of the judiciary and the rule of law. It also has regard to the overall context of the various reforms undertaken by the Polish Government – of which the present case reflects one problematic aspect – which have resulted in the weakening of judicial independence and adherence to rule-of-law standards.“3180

Das Urteil bestätigte, dass in Polen die gerichtliche Unabhängigkeit substantiell geschwächt und Einmischungen legislativer und exekutiver Organe ausgesetzt wurde. Insgesamt stellte der EGMR einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in den Wesensgehalt des Rechts auf Zugang zum Gericht fest.3181 2. Überprüfung von Ernennungsverfahren In Tsanova-Gecheva v Bulgarien klagte die Beschwerdeführerin, Vizepräsidentin eines bulgarischen Gerichts, vor dem innerstaatlichen Gericht, nachdem im Bewerbungsprozess für den Posten des Gerichtspräsidenten ihres Gerichts eine andere Kandidatin ernannt worden war, die als enge Freundin des Justizministers galt. Diese Ernennungsentscheidung wurde öffentlich stark kritisiert.3182 Im Vordergrund des Verfahrens vor dem EGMR stand die Frage, ob das innerstaatliche oberste Verwaltungsgericht eine ausreichende Prüfungsbefugnis gegenüber der Entscheidung des Richterrates hatte.3183 „Certes, les allégations de la requérante concernant l’absence de transparence et l’ingérence du pouvoir politique dans la procédure de nomination en cause, ainsi que les critiques formulées à cet égard par des organismes internationaux compétent en la matière […] sont préoccupantes. Tout en étant consciente de l’importance des procédures de nominations et de promotion des juges et de leur impact sur l’indépendance et le bon fonctionnement de la justice, la Cour rappelle qu’il ne lui appartient pas, dans le cadre de la présente requête qui concerne le caractère équitable de la procédure judiciaire sur le recours d’une candidate non retenue par le CSM, de se prononcer sur l’opportunité du choix effectué par cet organisme ou sur les critères qui devraient être pris en compte […].“3184

3179

EGMR Nr. 43572/18, Grzęda v Polen (GK), 15.03.2022, § 345. EGMR Nr. 43572/18, Grzęda v Polen (GK), 15.03.2022, § 346. 3181 EGMR Nr. 43572/18, Grzęda v Polen (GK), 15.03.2022, §§ 348–349. 3182 EGMR Nr. 43800/12, Tsanova-Gecheva v Bulgarien, 15.09.2015, §§ 5, 9, 11. 3183 Siehe hierzu ab S. 481. 3184 EGMR Nr. 43800/12, Tsanova-Gecheva v Bulgarien, 15.09.2015, § 104. 3180

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Anders als bei Verfahren gegen Disziplinarmaßnahmen bezog der EGMR die materiellen Wertungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK also nicht in die Beurteilung seines konkreten Rechtsstreits ein, sondern wendete schlicht die allgemeinen Grundsätze zur gerichtlichen Prüfungsbefugnis an.

3. Zwischenfazit In den Urteilen zum richterlichen Recht auf Zugang zum Gericht wird die Bedeutung der Richter für die innerstaatliche Rechtsstaatlichkeit deutlich. Nicht immer, siehe etwa Tsanova-Gecheva v Bulgarien, beeinflusst der besondere richterliche Status die Auslegung des Rechts auf Zugang zum Gericht. Gleichwohl erwähnt der EGMR auch in diesem Urteil die Schutzbedürftigkeit einer unabhängigen und funktionsfähigen Justiz. Die Urteile Baka, Paluda und Broda und Bojara zeigen, dass der EGMR das richterliche Recht auf Zugang zum Gericht gegen Disziplinarmaßnahme in den letzten Jahren herangezogen hat, um jedenfalls punktuell Einfluss auf die Entwicklungen der innerstaatlichen Gerichtssysteme zu nehmen. Indem der EGMR den Schutz der richterlichen Unabsetzbarkeit der Beschwerdeführer in die Prüfung des Recht auf Zugang zum Gericht integriert, können Richter zwar immer noch nicht unmittelbar ihre eigenen Statusrechte vor dem EGMR geltend machen. Über Art. 6 Abs. 1 EMRK sichert der EGMR den Richtern zuverlässig eine innerstaatliche gerichtliche Kontrolle der Disziplinarmaßnahmen. Diese müssen sich wiederum an den konventionsrechtlichen materiellen Vorgaben insbesondere aus der Meinungsfreiheit, der Versammlungsfreiheit und dem Recht auf ein geschütztes Privatleben orientieren. Auch in den Gewährleistungsgehalt dieser materiellen Freiheitsrechte fließen die konventionsrechtlichen Anforderungen an eine unabhängige Gerichtsbarkeit ein. Zwar ist nicht gesichert, dass die materiellen freiheitsrechtlichen Vorgaben jede disziplinarrechtliche Sanktion gegen Richter begrenzen. Der EGMR hat aber über die materiellen Freiheitsrechte gemeinsam mit der neuen Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK aus Broda und Bojara einen weitgehenden Schutz der Richter vor ungerechtfertigten Disziplinarmaßnahmen etabliert.

VII. Persönliche Freiheit, Art. 5 Abs. 1 EMRK Im Kontext des versuchten Staatsstreichs in der Türkei im Jahr 2016 äußerte sich der EGMR erstmals nach Stafford v Vereinigtes Königreich zur Gewaltenteilung im Rahmen der persönlichen Freiheit aus Art. 5 Abs. 1 EMRK. Der EGMR entschied über die Verletzung der persönlichen Freiheit von türkischen Richtern, die im Anschluss an den versuchten Militärputsch 2016 in Untersuchungshaft genommen worden waren. In den Urteilen wurden die Gewaltenteilung und der richterliche Status relevant, obwohl die Beschwerdeführer nicht gegen eine Diszi-

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

plinarmaßnahme vorgingen. Die türkischen Behörden verdächtigten die Richter, Mitglieder einer bewaffneten Terrororganisation zu sein. Sie stützten ihr Vorgehen auf eine innerstaatliche Rechtsgrundlage, die eine Festnahme von Richtern nur erlaubte, wenn diese in flagranti bei der Begehung einer Tat erwischt wurden.3185 „[J]udicial protection of this kind is granted to judges not for their own personal benefit but in order to safeguard the independent exercise of their functions […]. Its purpose is to ensure that the judicial system in general and its members in particular are not subjected, while discharging their judicial functions, to unlawful restrictions by bodies outside the judiciary, or even by judges performing a supervisory or review function.“3186

Vor dem EGMR stritten die Prozessparteien – unabhängig von den jeweiligen Besonderheiten der einzelnen Sachverhalte – darüber, ob die ursprüngliche Festnahme beziehungsweise die Fortführung der Untersuchungshaft rechtmäßig waren. Nach der Auslegung der zuständigen nationalen Gerichte wurde bereits der Verdacht, dass ein Richter Mitglied in einer verbotenen Terrororganisation war, als in flagranti-Delikt ausgelegt.3187 Diese Auslegung hielt der EGMR für offensichtlich unangemessen (manifestly unreasonable),3188 sodass er ausnahmsweise die streitentscheidenden nationalen Normen selbst nach ihrem Sinn und Zweck und im Sinne der Rechtssicherheit auslegte.3189 Grundlage des EGMR-Urteils war, wie bereits bei der Auslegung des Gewährleistungsgehalts der Meinungsfreiheit in Baka v Ungarn, die Schutzbedürftigkeit der Judikative: „The Court has on many occasions emphasised the special role in society of the judiciary, which, as the guarantor of justice, a fundamental value in a State governed by the rule of law, must enjoy public confidence if it is to be successful in carrying out its duties […]. This consideration, set out in particular in cases concerning the right of judges to freedom of expression, is equally relevant in relation to the adoption of a measure affecting the right to liberty of a member of the judiciary. In particular, where domestic law has granted judicial protection to members of the judiciary in order to safeguard the independent exercise of their functions, it is essential that such arrangements should be properly complied with. Given the prominent place that the judiciary occupies among State organs in a democratic society and the growing importance attached to the separation of powers and to the necessity of

3185

EGMR Nr. 12778/17, Alparslan Altan v Türkei, 16.04.2019, §§ 16–18, 20, 104; Nr. 66448/17, Baş v Türkei, 03.03.2020, §§ 23–24, 29; Nr. 6158/18, Tercan v Türkei, 29.06.2021, §§ 17–21; Nr. 75805/16 u. a., Turan u. a. v Türkei, 23.11.2021, §§ 20–21 (siehe zu diesen Urteilen bereits ab S. 114). 3186 EGMR Nr. 12778/17, Alparslan Altan v Türkei, 16.04.2019, § 113; Nr. 66448/17, Baş v Türkei, 03.03.2020, § 154. 3187 EGMR Nr. 12778/17, Alparslan Altan v Türkei, 16.04.2019, §§ 107–109; Nr. 66448/17, Baş v Türkei, 03.03.2020, §§ 148–150; Nr. 6158/18, Tercan v Türkei, 29.06.2021, §§ 129–138. 3188 EGMR Nr. 12778/17, Alparslan Altan v Türkei, 16.04.2019, § 115; dem folgend EGMR Nr. 66448/17, Baş v Türkei, 03.03.2020, §§ 148, 156; ähnlich Nr. 6158/18, Tercan v Türkei, 29.06.2021, § 138. 3189 EGMR Nr. 12778/17, Alparslan Altan v Türkei, 16.04.2019, §§ 111–114; Nr. 66448/17, Baş v Türkei, 03.03.2020, §§ 153–158; beiden Urteilen folgend EGMR Nr. 75805/16 u. a., Turan u. a. v Türkei, 23.11.2021, §§ 84–96.

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safeguarding the independence of the judiciary […], the Court must be particularly attentive to the protection of members of the judiciary when reviewing the manner in which a detention order was implemented from the standpoint of the provisions of the Convention.“3190

Die Tendenz des EGMR, die Unabhängigkeit und Integrität der Gerichtsbarkeit durch die persönlichen Freiheitsrechte der Richter zu schützen, setzt sich also mit diesen Urteilen fort. Über Art. 5 Abs. 1 EMRK kann der EGMR Angriffe auf die unabhängige Gerichtsbarkeit sanktionieren, die sich auf die persönliche Freiheit des Richters auswirken. Da die Eingriffe in die persönliche Freiheit der Richter in allen Fällen bereits nicht rechtmäßig waren, prüfte der EGMR die Verhältnismäßigkeit nicht. Es liegt daher noch keine Rechtsprechung dazu vor, welche Abwägungsaspekte der EGMR in die Prüfung einstellt.

VIII. Eigentumsfreiheit, Art. 1 ZP Erhalten Richter die vorgesehene Vergütung nicht oder nicht in vollem Umfang, ist das Eigentumsrecht aus Art. 1 ZP betroffen.3191 In Savickas v Litauen wurden die Gehälter der Richter wegen einer staatlichen Haushaltskrise, genauso wie die Gehälter anderer Staatsbediensteter, gekürzt und die Rückstände anschließend nur anteilig zurückgezahlt.3192 Die Vergütung wurde also nicht als disziplinarische Maßnahme, sondern zur Konsolidierung des Staatshaushalts gekürzt. Die Beschwerde war offensichtlich unbegründet. Der EGMR gestand den Konventionsstaaten einen weiten Gestaltungsspielraum zu, um die Ausgaben im Staatshaushalt zu verteilen. Darüber hinaus war die Haushaltskrise nicht vorhersehbar. Die konventionsstaatliche Verpflichtung, die Unabhängigkeit der Richter zu wahren, rechtfertigte nicht, sie anders als exekutive Beamte zu behandeln, deren Bezüge ebenfalls gekürzt wurden. Ebenso führte die Tatsache, dass die fehlenden Gehälter später nur anteilig zurückgezahlt wurden, nicht zu einer Gefährdung der richterlichen Unabhängigkeit.3193 In Zubko v Ukraine setzten die Konventionsstaaten Urteile nicht um, die Richtern Ansprüche auf nachträgliche Gehaltszahlungen zusprachen. Auch wenn der Staat ein legitimes Interesse daran hatte, im Rahmen einer Reform des Gerichtssystems auch die gerichtliche Finanzverwaltung anzupassen, musste er den Status der Beschwerdeführer als unabhängige Richter beachten. Auch durch ihre Ver 3190

EGMR Nr. 12778/17, Alparslan Altan v Türkei, 16.04.2019, § 102; dem folgend EGMR Nr. 66448/17, Baş v Türkei, 03.03.2020, § 144; Nr. 75805/16 u. a., Turan u. a. v Türkei, 23.11.2021, § 82. 3191 Vom Schutzbereich des Eigentumsrechts sind auch Gehaltszahlungen erfasst, EGMR Nr. 66365/09 u. a., Savickas u. a. v Litauen (Zul.), 15.0.2013, § 91; ebenso (nicht auf Richter bezogen) bereits EGMR Nr. 37452/02, Stummer v Österreich (GK), 07.07.2011, § 82. Siehe bereits zur Vergütung als richterliches Statusrecht oben ab S. 631. 3192 EGMR Nr. 66365/09, Savickas u. a. v Litauen (Zul.), 15.10.2013, §§ 4, 46, 90. 3193 EGMR Nr. 66365/09, Savickas u. a. v Litauen (Zul.), 15.10.2013, §§ 92–94.

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gütung werden Richter vor Druck und Einflussnahme von außen geschützt. Die Nichtumsetzung der Ansprüche war daher geeignet, die motivierte Ausübung der richterlichen Tätigkeit zu behindern.3194 In J. B. u. a. v Ungarn verloren mehrere Richter vorzeitig ihren Posten, weil die Altersgrenze für die richterliche Tätigkeit gesetzlich gesenkt wurde.3195 Nachdem das nationale Verfassungsgericht die Gesetzesänderung für verfassungswidrig erklärt hatte,3196 wurde die Altersgrenze wieder angehoben. Die betroffenen Richter konnten daraufhin entscheiden, als Vertretungsrichter mit unregelmäßiger, aber verringerter Arbeitslast 80 Prozent ihres vorherigen Gehalts zu verdienen, auf einen ordentlichen Richterposten zurückzukehren  – hierbei bestand allerdings keine Garantie, dass sie auch ihren vorherigen Verwaltungsposten wiedererlangten  – oder keine richterlichen Aufgaben mehr zu übernehmen und eine Abfindungssumme in Höhe eines Jahresgehalts zu bekommen.3197 Die Richter machten eine Verletzung des Eigentumsrechts aus Art. 1 ZP geltend, weil ihre legitimen Erwartungen (legitimate expectations) enttäuscht worden seien, ihre vollständige Entlohnung bis zur ursprünglich vorgesehenen Altersgrenze zu bekommen.3198 Der EGMR lehnte diese Beschwerde als offensichtlich unbegründet ab und stützte sich auf die ständige Rechtsprechung, dass nur bereits bestehendes Eigentum, nicht aber das Recht, Eigentum zu erlangen von Art. 1 ZP geschützt ist. Zukünftiges Einkommen zählt nur ausnahmsweise als Eigentum, wenn es bereits verdient wurde oder unter allen Umständen gezahlt werden muss (unless it has already been earned or is definitely payable). Diese Voraussetzungen lagen nicht vor.3199 Soweit sich die Richter dagegen entschieden, wieder eingesetzt zu werden, taten sie dies aus freiem Willen. Sie konnten daher nicht geltend machen, ratione personae Opfer einer Rechtsverletzung geworden zu sein.3200 Zum richterlichen Eigentumsrecht nach Art. 1 ZP liegen nur wenige EGMREntscheidungen vor. In Savickas v Litauen und J. B. v Ungarn war der richter­ liche Status für die Entscheidung irrelevant – der EGMR wendete die allgemeinen Rechtsprechungsgrundsätze zu Art. 1 ZP an. In Zubko v Ukraine spielte die Ausübung richterlicher Tätigkeiten eine Rolle am Rande. Der bisherige Umgang des EGMR mit Art. 1 ZP ist noch nicht geeignet, das Schutzniveau der richterlichen Unabhängigkeit zu verbessern. 3194

EGMR Nr. 3955/04 u. a., Zubko u. a. v Ukraine, 26.04.2006, §§ 66–70; siehe hierzu schon oben S. 633. 3195 EGMR Nr. 45434/12 u. a., J. B. u. a. v Ungarn (Zul.), 27.11.2018, §§ 11, 13. Siehe zu diesem Urteil bereits im Rahmen des Rechts auf ein geschütztes Privatleben ab S. 673. 3196 EGMR Nr. 45434/12 u. a., J. B. u. a. v Ungarn (Zul.), 27.11.2018, § 17. 3197 EGMR Nr. 45434/12 u. a., J. B. u. a. v Ungarn (Zul.), 27.11.2018, §§ 23–26. 3198 EGMR Nr. 45434/12 u. a., J. B. u. a. v Ungarn (Zul.), 27.11.2018, § 98. 3199 EGMR Nr. 45434/12 u. a., J. B. u. a. v Ungarn (Zul.), 27.11.2018, §§ 99, 101; ebenso bereits EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn, 27.05.2014, § 105; Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, § 137. Allgemein zur Anwendbarkeit des Art. 1 ZP bei noch nicht verdientem Einkommen EGMR Nr. 73049/01, Anheuser-Busch Inc. v Portugal (GK), 11.01.2007, § 63. 3200 EGMR Nr. 45434/12 u. a., J. B. u. a. v Ungarn (Zul.), 27.11.2018, §§ 102–103.

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IX. Passives Wahlrecht, Art. 3 ZP Eingriffe in das passive Wahlrecht von Richtern schränken ihre Möglichkeit ein, sich zur Wahl zu stellen. Damit stellt sich im Kontext der Gewaltenteilung die Frage, ob die Konventionsstaaten zum Schutze der richterlichen Unabhängigkeit und des unparteilichen Erscheinungsbildes die Kandidatur von Richtern auf ein Abgeordnetenmandat verbieten oder beschränken dürfen. In Briķe v Lettland wurde die beschwerdeführende Richterin von der Kandidatenliste zur Parlamentswahl gestrichen, weil sie ihr Richteramt nicht zuvor niedergelegt hatte. Der EGMR wendete die allgemeinen Rechtsprechungsgrundsätze zum passiven Wahlrecht an.3201 Danach haben die Konventionsstaaten einen großen Gestaltungsspielraum, Einschränkungen müssen aber einen legitimen Zweck verfolgen und verhältnismäßig sein. Unwählbarkeitsvorschriften von Richtern finden sich in mehreren Konventionsstaaten. Der EGMR akzeptierte das legitime Ziel, hierdurch die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Neutralität der Gerichtsbarkeit zu sichern. Da die Beschwerdeführerin ihre Unwählbarkeit selbst hätte beenden können, indem sie ihr Richteramt rechtzeitig niedergelegt hätte, bewertete der EGMR den Eingriff in das Wahlrecht aus Art. 3 ZP auch nicht als besonders intensiv. Somit war die Beschwerde offensichtlich unbegründet.3202 Dies entspricht der bisherigen Rechtsprechung des EGMR, wonach auch die Kandidatur von Inhabern anderer öffentlicher Ämter gerechtfertigt untersagt werden durfte.3203

X. Analyse Durch die von Richtern eingebrachten Individualbeschwerden nahm der EGMR in den letzten Jahren vermehrt Einfluss auf die nationalen Gerichtssysteme und verpflichtete die Konventionsstaaten zu einem besonderen Schutz der richterlichen Unabhängigkeit. Nach älteren Entscheidungen zum passiven Wahlrecht, zur Vereinigungsfreiheit, zur Religionsfreiheit und zur Eigentumsfreiheit ist aktuell besonders die Rechtsprechung zur richterlichen Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 Abs. 1 EMRK, zum Recht auf ein ungestörtes Privatleben gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK sowie zur persönlichen Freiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 EMRK und zum Recht auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK beachtlich. Die Meinungs-, Vereinigungs-, die Religionsfreiheit und das Recht auf Zugang zum Gericht sind bei einer Verhängung von Disziplinarmaßnahmen anwendbar. Die Entscheidungen zu den übrigen materiellen Freiheitsrechten betrafen Streitigkeiten unabhängig vom

3201

Siehe hierzu bereits zusammenfassend ab S. 139 und S. 145. EGMR Nr. 47135/99, Briķe v Lettland, 29.06.2000. 3203 Der EGMR verwies auf EGMR Nr. 18747/91 u. a., Gitonas u. a. v Griechenland, 01.07.1997, §§ 29, 44; Nr. 22954/93, Ahmed u. a. v Vereinigtes Königreich, 02.09.1998, §§ 73, 75. 3202

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Vorliegen einer Disziplinarmaßnahme. Im Fall des Art. 5 Abs. 1 EMRK und Art. 3 ZP stritten die Richter über Hindernisse, ihr Amt (weiter) auszuüben, im Fall des Art. 1 ZP über eine verringerte Vergütung. Bis auf den Fall Holm v Schweden betrafen bislang alle Urteile zu richterlichen Freiheitsrechten Berufsrichter. Dies verwundert nicht, weil Disziplinarmaßnahmen oder Entlassungen aus dem Richteramt bei Experten, Laien oder Schöffen, die neben ihrer richterlichen Tätigkeit einen anderen Beruf ausüben, weniger wahrscheinlich sind. 1. Besonderheiten in der Grundrechtsprüfung Die Tatsache, dass Richter hoheitliche Gewalt ausüben und qua Amt einer unabhängigen und unparteilichen Justiz verpflichtet sind, wirkt sich sowohl auf die Prüfung der sachlichen Anwendungsbereiche als auch auf die Rechtfertigungsprüfung der richterlichen Konventionsrechte aus. Auf den sachlichen Anwendungsbereich wirkt sich der Richterstatus sowohl bei der Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 Abs. 1 EMRK als auch beim Recht auf ein ungestörtes Privatleben gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK aus. In den Anwendungsbereich des Rechts auf ein ungestörtes Privatleben gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK fallen nur solche Disziplinarmaßnahmen, die im Privatleben begründet sind oder sich aufs Privatleben auswirken.3204 Im Rahmen der Meinungsfreiheit ist grundsätzlich zu klären, ob die Sanktion eine richterliche Äußerung im Rahmen seiner Amtsführung oder in privatem Kontext betrifft. Seit dem Fall Baka v Ungarn, in dem auch die Äußerung eines Gerichtspräsidenten in seiner Funktion als Vorsitzender des Justizrates im Parlament als Meinungsäußerung eingeordnet wurde, ist diese Abgrenzung aber nicht mehr eindeutig.3205 Bei den anderen Konventionsrechten machte es für die Eröffnung des Anwendungsbereichs keinen Unterschied, ob es sich beim Beschwerdeführer um einen Richter handelte. Bei den Rechtfertigungsprüfungen zeigen sich Parallelen zwischen den Konventionsrechten. Maßnahmen gegen Richter werden typischerweise – teils neben anderen legitimen Zwecken – mit dem Schutz der Autorität und Unparteilichkeit der Gerichtsbarkeit begründet. Während dieser Rechtfertigungsgrund in Art. 10 Abs. 2 EMRK ausdrücklich genannt ist, subsumierte der EGMR im Rahmen des Art. 8 EMRK den Schutz der Gerichtsbarkeit unter andere Gründe, etwa den Schutz der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung.3206 Auch in den Urteilen Grande Oriente d’Italia di Palazzo Giustiniani v Italien Nr. 1 und Nr. 2, die sich indirekt auf die Vereinigungsfreiheit von Richtern bezogen, ist die Intention, die

3204

Siehe hierzu ab S. 669. Siehe hierzu ab S. 643. 3206 Siehe hierzu ab S. 649 und ab S. 674. 3205

F. Die persönlichen richterlichen Freiheitsrechte  

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funktionsfähige Gerichtbarkeit zu schützen, erkennbar.3207 Im Rahmen der implied limitations des passiven Wahlrechts aus Art. 3 ZP erkannte der EGMR den legitimen Zweck ebenfalls an.3208 Darüber hinaus dürfen die Konventionsstaaten von Richtern verlangen, ihre privaten Freiheitsrechte mit einer gewissen Zurückhaltung auszuüben. Dies gilt sowohl für Meinungsäußerungen, religiöse Bekenntnisse, die Mitgliedschaft in einer Vereinigung als auch das sonstige private Verhalten im Rahmen des Art. 8 Abs. 1 EMRK.3209 Sogar die Entscheidung Briķe v Lettland zum passiven Wahlrecht kann man in diese Kategorie einordnen: Die Konventionsstaaten dürfen gerechtfertigt die Ausübung des passiven Wahlrechts der Richter auf den Zeitpunkt beschränken, nachdem sie ihr Richteramt niedergelegt haben.3210 Die geforderte Zurückhaltung bedeutet nicht, dass Richter ihre Freiheiten gar nicht ausüben dürfen. Von Richtern darf aber gefordert werden, sich in Art und Weise ihrer Äußerungen, Glaubensbekundungen oder ihres sonstigen Verhaltens zu mäßigen. Zeigen Richter diese Zurückhaltung nicht, wirkt sich das für sie negativ in der Abwägung aus, sodass Disziplinarmaßnahmen und andere Eingriffe leichter zu rechtfertigen sind. Die Konventionsstaaten dürfen also von Richtern verlangen, sich in ihrem Privatleben so zu verhalten, dass das Vertrauen der Allgemeinheit in die unabhängige Gerichtsbarkeit nicht in Mitleidenschaft gezogen wird. Wollen Richter durch die Ausübung ihrer Freiheitsrechte jedoch zu einer unabhängigen und funktionsfähigen Gerichtsbarkeit beitragen, fällt die Abwägung in der Verhältnismäßigkeit üblicherweise zugunsten der Richter aus. Dies ist vorrangig im Rahmen der Meinungsfreiheit der Fall. Der EGMR ordnet entsprechende Äußerungen als politische Rede ein, die wegen ihrer konstitutiven Funktion für den Erhalt einer demokratischen Ordnung besonders geschützt sind, sodass konventionsstaatliche Eingriffe vom EGMR genau kontrolliert werden.3211 In den Urteilen zur persönlichen Freiheit aus Art. 5 Abs. 1 EMRK von Richtern bezog der EGMR die Schutzbedürftigkeit der Gerichtsbarkeit sogar in die Anforderungen des Gesetzesvorbehalts ein.3212 Der EGMR betonte, dass die gerichtliche Unabhängigkeit nicht die Richter persönlich, sondern ihre hoheitliche Funktion schützt. Darüber hinaus zog der EGMR eine Parallele zum Urteil Baka v Ungarn, in dem es um die richterliche Meinungsfreiheit ging: Sofern die nationale Rechtsordnung Mitgliedern der Judikative einen speziellen Schutz gewähre,

3207

EGMR Nr. 35972/97, Grande Oriente d’Italia di Palazzo Giustiniani v Italien Nr. 1, 02.08.2001, § 19; Nr. 26740/02, Grande Oriente d’Italia di Palazzo Giustiniani v Italien Nr. 2, 31.05.2007, §§ 51–52. 3208 Siehe hierzu ab S. 687. 3209 Siehe hierzu ab S. 650, ab S. 667 und ab S. 674 sowie zur Vereinigungsfreiheit das Zitat zu Fn. 3088. 3210 EGMR Nr. 47135/99, Briķe v Lettland, 29.06.2000. 3211 Siehe S. 652. 3212 Siehe hierzu ab S. 683.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

müssten diese Regelungen auch eingehalten werden.3213 Im Fall der persönlichen Freiheit bestanden diese Regelungen darin, dass Richter nicht unter den gleichen Voraussetzungen wie andere Personen in Gewahrsam und in Untersuchungshaft genommen werden durften. Die Verhältnismäßigkeitsabwägung bei Eingriffen in die persönlichen Freiheitsrechte der Richter ist also von einem Spannungsverhältnis geprägt: Die Richter müssen einerseits in der Art und Weise der Ausübung ihrer Freiheitsrechte zurückhaltend sein. Andererseits genießen sie wegen ihrer Bedeutung für eine unabhängige und funktionsfähige Justiz einen erhöhten Schutz, der sich sowohl auf die Auslegung der Vorhersehbarkeit im Rahmen des Gesetzesbegriffs als auch auf die Abwägung in der Verhältnismäßigkeit sowie die Größe des Gestaltungsspielraums auswirkt. Indem der EGMR diese besondere Schutzbedürftigkeit der Richter im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung einfließen lässt, bekommt die Abwägung eine institutionelle Komponente. Die Konventionsstaaten müssen die richterliche Unabhängigkeit in allen denkbaren Kontexten, auch im Rahmen privater Freiheitsrechte von Richtern, beachten. 2. Kohärenz mit dem Schutz der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit Die Rechtslage zur Einschränkbarkeit von richterlichen Freiheitsrechten ist mit den Anforderungen an ein unabhängiges und unparteiliches Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK kohärent. Soweit die Ausübung eines Freiheitsrechts nicht konventionskonform eingeschränkt werden kann, wirkt sie sich auch nicht negativ auf die richterliche Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit aus. Allein die Äußerung einer Meinung oder einer religiösen Ansicht im privaten Kontext oder die Mitgliedschaft in einer Vereinigung führt nicht zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Unparteilichkeit. Der EGMR stellt nur dann einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK fest, wenn bei der Ausübung eines privaten Freiheitsrechts durch einen Richter besondere Umstände vorliegen, die den Richter ausnahmsweise im konkreten Fall ungeeignet erscheinen lassen. Dies war etwa der Fall, als sich ein Richter abfällig über die Parteien äußerte oder sich bereits vor dem Urteilsspruch inhaltlich festlegte3214 oder als eine Richterin versuchte, Prozessparteien zum Beitritt zu ihrer Religionsgemeinschaft zu bewegen.3215 Das Urteil Holm v Schweden zeigt, dass auch wegen der Mitgliedschaft eines Richters in einer politischen Partei ein Verstoß gegen Art. 6

3213

EGMR Nr. 12778/17, Alparslan Altan v Türkei, 16.04.2019, § 102; Nr. 66448/17, Baş v Türkei, 03.03.2020, § 144. 3214 Siehe hierzu ab S. 656. 3215 Siehe hierzu ab S. 667.

F. Die persönlichen richterlichen Freiheitsrechte  

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Abs. 1 EMRK denkbar ist, wenn weitere Faktoren hinzukommen. Im konkreten Fall waren Schöffen betroffen, die über eine Streitigkeit entscheiden mussten, in der parteipolitische Themen eine Rolle spielten.3216 3. Indirekte Geltendmachung richterlicher Statusrechte durch persönliche Freiheitsrechte Da die EMRK grundsätzlich die bürgerlichen Rechte gegen hoheitliche Eingriffe schützt, können Richter ihre eigene richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht nach Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend machen.3217 Die EMRK enthält keine unmittelbaren Regelungen für das Verhältnis hoheitlicher Organe und der EGMR verfügt über keine Kompetenz zur Entscheidung von Organstreitigkeiten.3218 Daher verwundert es, dass der EGMR Beschwerden, die sich eindeutig auf die Ausübung ihres hoheitlichen Amtes bezogen und Organstreitigkeiten sind – insbesondere Baka v Ungarn –, nicht für unzulässig erklärte.3219 Die Unzulässigkeit solcher Beschwerden ergibt sich im deutschen Verfassungsrecht aus dem „Konfusionsargument“: Ein Richter, der in seiner hoheitlichen Funktion handelt, ist an die Grund- beziehungsweise Konventionsrechte gebunden.3220 Er kann innerhalb eines Sachverhalts nicht gleichzeitig berechtigt und verpflichtet sein.3221 In Fällen, in denen Ärztekammern oder Gemeinderäte Beschwerdeführer waren, lehnte der EGMR die Beschwerden als ratione personae unzulässig ab.3222 Bei Richtern prüfte der EGMR diese Zulässigkeitsfragen bislang nicht. Sie können daher nach der aktuellen Rechtsprechungslage über ihre Freiheitsrechte indirekt ihre Statusrechte der Unabsetzbarkeit und der Weisungsfreiheit geltend machen.

3216

Siehe zu diesen Fällen ab S. 662. Siehe hierzu ab S. 677. 3218 Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (3). 3219 Soweit ersichtlich, hat der EGMR keine Beschwerde im Rahmen des Art. 8–11 EMRK mit dem Verweis auf eine Organstreitigkeit für unzulässig erklärt, Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (3). Kritisch hierzu das Sondervotum von Richter Wojtyczek zu EGMR Nr. 20261/12, Baka v Ungarn (GK), 23.06.2016, §§ 6–8. 3220 Vgl. auch EGMR Nr. 52559/99, Danderyds Kommun v Schweden (Zul.), 07.06.2001: „Moreover, to consider  a Swedish municipality  a non-governmental organisation is clearly contradicted by the fact that its acts can engage the responsibility of the Swedish State under the Convention.“ 3221 So der EGMR explizit in EGMR Nr. 8895/10, Ärztekammer für Wien und Dorner v Österreich, 16.02.2016, § 35; Nr. 54155/16, Slowenien v Kroatien (Zul.) (GK), 18.11.2020, § 61. 3222 EGMR Nr. 45129/98, The Municipal Section of Antilly v Frankreich (Zul.), 23.11.1999; Nr. 52559/99, Danderyds Kommun v Schweden (Zul.), 07.06.2001; Nr. 1093/08 u. a., Demirbaş u. a. v Türkei, 09.11.2010. Auch die Ärztekammer für Wien ordnete der EGMR als hoheitliche Stelle (governmental organisation) und lehnte daher die Beschwerde als ratione personae unzulässig ab, EGMR Nr. 8895/10, Ärztekammer für Wien und Dorner v Österreich, 16.02.2016, §§ 35–45; Dijkstra, Utrecht LR 13 (2017), S. 1 (3). 3217

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Die in den letzten Jahren vermehrten Urteile zur Meinungsfreiheit, zum Recht auf ein ungestörtes Privatleben und zum Recht auf Zugang zum Gericht zeigen, dass Richter über die Geltendmachung ihrer materiellen und prozessualen Konventionsrechte dazu beitragen können, die unabhängige Gerichtsbarkeit in ihren Staaten zu fördern. Gehen Richter gegen Maßnahmen vor, die sie in der Ausübung ihrer hoheitlichen Tätigkeit hindern oder beeinträchtigen, spielt ihr unabhängiger Status in der EGMR-Prüfung stets eine entscheidende Rolle. Im Falle einer wirksamen Beschwerde erlangen abgesetzte Richter zwar nicht automatisch ihren früheren Posten zurück. Die Feststellung des EGMR verpflichtet die Konventionsstaaten jedoch indirekt, vergleichbare Verstöße in der Zukunft zu unterlassen. Sie sind verpflichtet, bei allen Maßnahmen gegen Richter stets das objektive Erfordernis einer unabhängigen Gerichtsbarkeit einzubeziehen. Dies bedeutet aus organisatorischer Perspektive, dass Richtern ein gerichtlicher Rechtsbehelf zur Verfügung stehen muss, um Disziplinar- und andere Maßnahmen gegen sie auch im Lichte der konventionsrechtlichen Anforderungen zu kontrollieren. Andererseits müssen Disziplinarmaßnahmen gesetzlich so präzise geregelt sein, dass eine willkürliche Sanktionierung verhindert wird. Und schließlich müssen alle Maßnahmen gegen Richter den Anforderungen der materiellen Konventionsrechte entsprechen. Indem Richter ihre Konventionsrechte geltend machen, treten sie somit vor dem EGMR und auch vor innerstaatlichen Gerichten als Wächter einer unabhängigen und unparteilichen nationalen Gerichtsbarkeit auf. Durch ihre Beschwerden ermöglichen die nationalen Richter dem EGMR, sich immerhin punktuell zum Zustand der Gerichtsbarkeit in den Konventionsstaaten äußern zu können.3223 Die Rechtsprechungsentwicklung zu Art. 8 Abs. 1 EMRK zeigt, dass die Frage, wie weit sich der EGMR über die privaten Rechte der Richter in statusrechtliche Streitigkeiten einmischt, noch im Fluss ist.3224 Ob der EGMR in Zukunft auch von der weiten Auslegung des sachlichen Anwendungsbereichs der Meinungsfreiheit aus dem Baka-Urteil zurückrudert, bleibt abzuwarten.

XI. Fazit Während Art. 6 Abs. 1 EMRK den Richtern die Möglichkeit eröffnet, prozessual gegen ungerechtfertigte Disziplinarmaßnahmen vorzugehen, stellen die materiellen Freiheitsrechte inhaltliche Grenzen für Sanktionen gegen Richter auf, die sich auf ihre hoheitliche Tätigkeit auswirken. Disziplinarmaßnahmen gegen Richter müssen den Anforderungen der Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 Abs. 1 EMRK, der Vereinigungsfreiheit gemäß Art. 11 Abs. 1 EMRK, der Religionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 1 EMRK sowie dem Recht auf ein ungestörtes Privatleben gemäß

3223

Vgl. Kosař / Lixinski, AJIL 190 (2015), S. 713 (718). Siehe hierzu ab S. 669.

3224

G. Das innerstaatliche Gerichtssystem  

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Art. 8 Abs. 1 EMRK entsprechen. Für die Rechtsetzung und Rechtsanwendung in den Konventionsstaaten bedeutet dies, dass die Rechtsordnungen keine Entlassungsgründe vorsehen dürfen, die gegen die materiellen Konventionsrechte der Richter verstoßen und dass auch jede einzelne Entlassung nach den Maßstäben des anwendbaren materiellen Freiheitsrechts gerechtfertigt sein muss. Sofern die Richter also vor einem nationalen Gericht gegen Disziplinarmaßnahmen vorgehen, können sie hier auch ihre materiellen Konventionsrechte geltend machen. Der EGMR macht somit Vorgaben für das hoheitliche Verhältnis zwischen Richtern und ihren Disziplinarorganen. Der richterliche Status wird durch die konventionsrechtlichen Vorgaben besonders geschützt. Daneben können Richter sich auch außerhalb disziplinarischer Streitigkeiten auf ihre Konventionsrechte berufen. Die Konventionsstaaten müssen die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gegenüber den Richtern als objektiven Verfassungswert jederzeit beachten und herstellen, sei es bei Disziplinarmaßnahmen, dem Verbot sich zur Wahl zu stellen, Einkommenseinbußen oder Freiheitsentziehungen. Die Urteile der letzten Jahre zeigen, dass Individualbeschwerden von Richtern dem EGMR die Gelegenheit eröffnen, sich zu den rechtsstaatsgefährdenden Entwicklungen in unterschiedlichen europäischen Staaten zu äußern. Die Konventionsstaaten sind auch gegenüber ihren Richtern verpflichtet, die richterliche Unabhängigkeit zu schützen. Da die Konventionsrechte allerdings grundsätzlich den privaten Lebensbereich schützen und nicht auf statutorische Streitigkeiten ausgelegt sind, ist der Schutz lückenhaft. Gleichwohl hat der EGMR eine sich stetig erweiternde Handhabe gegen Angriffe auf die Rechtsstaatlichkeit geschaffen.

G. Das innerstaatliche Gerichtssystem Schließlich ergeben sich aus den Gerichtsmerkmalen des Art. 6 Abs. 1 EMRK, den sonstigen konventionsrechtlichen Vorgaben zur gerichtlichen Tätigkeit und dem Richterstatus Anforderungen für das innerstaatliche Gerichtssystem. Für die Gewaltenteilung und die innerstaatliche Zuständigkeitsordnung stellt sich einerseits die Frage, ob die Konvention Vorgaben für das Verhältnis verschiedener gerichtlicher Instanzen zueinander macht. Hierbei handelt es sich um eine Frage der innerfunktionalen Gewaltenteilung. Für das Verhältnis der verschiedenen gerichtlichen Instanzen zueinander ist besonders relevant, welche Gerichte unter welchen Voraussetzungen unterinstanzliche Urteile kontrollieren müssen. Andererseits ergibt sich aus der Gesamtschau verschiedener Urteile zu Art. 6 Abs. 1 EMRK, welche hoheitlichen Organe außerhalb der normalen Gerichtsstruktur Gerichte im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK sein können und welche Organe die Gerichtsmerkmale typischerweise nicht erfüllen.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

I. Gerichtliches Mehrebenensystem Die innerstaatlichen Gerichtssysteme setzen sich aus verschiedenen Gerichtszweigen und -instanzen zusammen. Zur Aufteilung der einzelnen Gerichtszweige macht die EMRK keine Vorgaben, sodass deren Gestaltung ausschließlich im Spielraum der Konventionsstaaten liegt.3225 Insbesondere sind die Konventionsstaaten nicht verpflichtet, alle Entscheidungen über strafrechtliche Anklagen spezialisierten Strafgerichten zuzuweisen.3226 Auch über Verurteilungen aufgrund von strafrechtliche Anklage muss lediglich ein Spruchkörper mit den Merkmalen des Art. 6 Abs. 1 EMRK entscheiden, unabhängig davon, wie dieser institutionell eingebunden ist. Auch das Verhältnis der einzelnen Gerichtszweige zueinander wird von der EMRK kaum ausgestaltet. Aus der EGMR-Rechtsprechung ergibt sich lediglich, dass Richter nicht in zwei verschiedenen Gerichtszweigen mit der gleichen Streitigkeit befasst sein dürfen, sofern sich die zu entscheidenden rechtlichen Fragen stark ähneln.3227 Durch den gerichtlichen Instanzenzug ist die innerfunktionale Gewaltenteilung innerhalb der Judikative besonders ausgeprägt. In seinen Entscheidungen verwendete der EGMR den Begriff der Gewaltenteilung bislang stets im Verhältnis zwischen zwei verschiedenen Gewalten zugeordneten Organen und deren Tätigkeit.3228 Die Überprüfung eines Urteils durch eine höhere gerichtliche Instanz entspricht der Aufgabe einer gewaltenteiligen Zuständigkeitsordnung, eine Kontrolle ausgeübter Hoheitsgewalt zu ermöglichen. Da die Grundsätze der Rechtskraft und Bindungswirkung gerichtlicher Urteile verhindern, dass nicht-gerichtliche Organe Urteile in Frage stellen oder sogar aufheben,3229 bietet der gerichtliche Instanzenzug die einzige Möglichkeit, gerichtliche Entscheidungen kontrollieren zu lassen. Jenseits dieser Mindestanforderungen sind die Konventionsstaaten frei in ihrer Ausgestaltung. „The Contracting States enjoy considerable freedom in the choice of the means calculated to ensure that their judicial systems are in compliance with the requirements of Article 6.“3230

3225

So bezogen auf die gesamte Gestaltung des Gerichtssystems Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 107. 3226 Esser, Strafverfahrensrecht, S. 598. 3227 Siehe hierzu bereits die Nachweise in Fn. 2675. 3228 Siehe zu den Fällen, in denen der EGMR ausdrücklich von „Gewaltenteilung“ spricht das zweite Kapitel ab S. 105. 3229 Siehe hierzu bereits ab S. 488. 3230 EGMR Nr. 926/05, Taxquet v Belgien (GK), 16.11.2010, § 84; Nr. 34238/09, Lhermitte v Belgien, 26.05.2015, § 29; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 107.

G. Das innerstaatliche Gerichtssystem  

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1. Eine gerichtliche Instanz verpflichtend Nach ständiger Rechtsprechung gewährleistet Art. 6 Abs. 1 EMRK keinen Zugang zu einer zweiten gerichtlichen Instanz.3231 Welches Gericht, welche Instanz und welche Besetzung zuständig ist, unterfällt der staatlichen Organisationsgewalt. Die Rechtsprechung des EGMR erlaubt in verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten und in strafrechtlichen Verfahren wegen geringer Vergehen, dass erstinstanzlich ein nicht-gerichtliches Organ entscheidet, sofern anschließend der Weg zum Gericht ermöglicht wird.3232 Zudem können Rechtsmittelgerichte unter bestimmten Voraussetzungen auch Verstöße der ersten Instanz gegen die Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK heilen.3233 2. Rechtsmittel-Instanzen a) Zivilrechtliche Streitigkeiten: Keine Verpflichtung zur Einrichtung einer zweiten Instanz Nach dem Gewährleistungsgehalt des Art. 6 Abs. 1 EMRK ist die Einrichtung einer zweiten gerichtlichen Instanz für alle Fälle im Anwendungsbereich dieses Konventionsrechts nicht verpflichtend.3234 Art. 6 Abs. 1 EMRK verlangt „einen Schutz durch den Richter, aber nicht gegen den Richter“.3235 Ob und für welche Fälle die Konventionsstaaten Rechtsmittelgerichte einrichten, steht damit komplett in ihrem Gestaltungsspielraum. Sie dürfen auch eingerichtete Rechtsmittel oder Instanzen wieder abschaffen.3236 Sofern die nationalen Rechtsordnungen ein zweitinstanzliches Verfahren vorsehen oder ermöglichen, müssen die Rechtsmittelgerichte gleichwohl die Gerichtsmerkmale inklusive der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit und die Anforderun 3231

EGMR Nr. 26737/95, 26737/95, Brualla Gómez de la Torre v Spanien, 19.12.1997, § 37; Nr. 38460/97, Platakou v Griechenland, 11.01.2001, § 38; Nr. 55707/00, Andrejeva v Lettland (GK), 18.02.2009, § 97; Nr. 5643/07, Jung v Deutschland (Zul.), 29.09.2009; Nr. 40160/12, Zubac v Kroatien (GK), 05.04.2018, § 80; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 123; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 55, 63; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 59; Meyer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 6 Rn. 62; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 88; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 123; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 73; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 98; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 131. 3232 Siehe dieses Ergebnis bereits oben ab S. 435 und S. 456. 3233 Siehe hierzu ausführlich sogleich ab S. 702. 3234 Siehe bereits die Nachweise in Fn. 3231. 3235 Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 59. 3236 EGMR Nr. 5643/07, Jung v Deutschland (Zul.), 29.09.2009; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 59.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

gen an das faire Verfahren erfüllen.3237 Der Gewährleistungsgehalt des Art. 6 Abs. 1 EMRK trägt dabei den Besonderheiten der Rechtsmittelverfahren Rechnung,3238 die den Konventionsstaaten größeren Spielraum ermöglichen. So dürfen die Zulässigkeitsvoraussetzungen für Rechtsmittelverfahren strenger ausgestaltet sein als bei erstinstanzlichen Verfahren.3239 Außerdem kann auf eine mündliche Verhandlung verzichtet werden, wenn die Rechtsmittelinstanz nur noch über rechtliche, aber nicht mehr über tatsächliche Fragen entscheidet und sofern eine mündliche Verhandlung bereits in der ersten Instanz stattgefunden hat.3240 Ebenso darf die Prüfungsbefugnis der Rechtsmittelinstanzen auf rechtliche Fragen beschränkt sein.3241 An die Entscheidungsbefugnis zweiter Instanzen stellt der EGMR jedoch die gleichen Anforderungen wie bei erstinstanzlichen gerichtlichen Entscheidungen.3242 Rechtsmittelgerichte müssen in der Lage sein, einer zulässigen und begründeten Beschwer abzuhelfen. Darüber hinaus müssen Rechtsmittelgerichte eine Sache, nachdem sie eine rechtswidrige Entscheidung aufgehoben haben, an ein unterinstanzliches Gericht zurückverweisen oder selbst eine neue Entscheidung treffen können.3243 Wird eine Sache an die erste Instanz zurückverwiesen, dürfen die erstinstanzlich zuständigen Richter erneut über die Sache entscheiden. In diesem Fall besteht keine Vermutung einer unzulässigen richterlichen Vorbe 3237 EGMR Nr. 26737/95, Brualla Gómez de la Torre v Spanien, 19.12.1997, § 37; Nr. 38736/04, FC Mretebi v Georgien, 31.07.2007, § 39; Nr. 55707/00, Andrejeva v Lettland (GK), 18.02.2009, § 97; Nr. 40160/12, Zubac v Kroatien (GK), 05.04.2018, § 80; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn.  88; Meyer-Ladewig /  Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 59; ­Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 123; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 132–133. 3238 Grundlegend EGMR Nr. 2689/65, Delcourt v Belgium, 17.01.1970, § 25; aktueller EGMR Nr. 34658/07, Chatellier v Frankreich, 31.03.2011, § 35; Nr. 18499/08, Shamoyan v Armenien, 07.07.2015, § 29; Nr. 3450/09,  Sorokin v Ukraine, 18.12.2018; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 123–124; Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 780. 3239 EGMR Nr. 21920/93, Levages Prestations Services v Frankreich, 23.10.1996, § 45; Nr. 26737/95, Brualla Gómez de la Torre v Spanien, 19.12.1997, § 37; Nr. 18880/15, Papaioannou v Griechenland, 02.06.2016, § 46; Nr. 40160/12, Zubac v Kroatien (GK), 05.04.2018, § 82; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 124; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 61; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 3240 EGMR Nr. 32911/96, 35237/97 und 34595/97, Meftah u. a. v Frankreich (GK), 26.07.2002, § 41 m. w. N.; Nr. 28394/95, Döry v Schweden, 12.11.2002, §§ 37–45; Nr. 45106/04, Marcello Viola v Italien, 05.10.2006, § 56; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 124; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 175. 3241 EGMR Nr. 32911/96, 35237/97 und 34595/97, Meftah u. a. v Frankreich (GK), 26.07.2002, § 41; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 124. 3242 Vgl. zu den Anforderungen an die gerichtliche Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen ab S. 435 und ab S. 456. 3243 EGMR Nr. 35605/97, Kingsley v Vereinigtes Königreich (GK), 28.05.2002, §§ 32, 34; Nr. 55391/13 u. a., Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 184; in der konkreten Anwendung EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 125.

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fassung.3244 Die richterliche Unparteilichkeit kann jedoch gefährdet sein, wenn die zweite Instanz (teilweise) mit Richtern besetzt ist, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren Teil des Spruchkörpers waren.3245 Zusammenfassend muss das Berufungsgericht also nicht notwendigerweise alle institutionellen Anforderungen erfüllen, die für die erstinstanzlichen Gerichte gelten. Ob eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK vorliegt, beurteilt der EGMR durch eine Gesamtbetrachtung der Verfahren vor allen Gerichtsinstanzen.3246 Entspricht bereits die erste Instanz allen Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK, stellt der EGMR an zweite Instanzen geringere Anforderungen. Diese Anforderungen orientieren sich daran, welche strukturellen und verfahrensrechtlichen Vorgaben für eine wirksame Kontrolle notwendig sind. b) Strafrechtliche Verurteilung: Zweite Instanz verpflichtend Anders als bei zivilrechtlichen Verfahren wird bei strafrechtlichen Verfahren nach Art. 2 Abs. 1 ZP 7 im Falle einer Verurteilung ein Recht auf Zugang zum Gericht in zweiter Instanz garantiert. Für die Staaten, die das siebte Zusatzprotokoll nicht ratifiziert haben,3247 gilt nach Art. 6 Abs. 1 EMRK die gleiche Rechtslage wie bei zivilrechtlichen Streitigkeiten. Die Verfahrensrechte in Rechtsmittelverfahren ergeben sich für alle Konventionsstaaten aus Art. 6 Abs. 1 EMRK.3248 (1) Anwendungsvoraussetzungen des Art. 2 ZP 7 Das Recht auf Zugang zu einem Rechtsmittelgericht gemäß Art. 2 Abs. 1 ZP 7 findet nur Anwendung, wenn eine erstinstanzliche Verurteilung wegen einer Straftat vorliegt. Eine Verurteilung wegen einer Straftat setzt wiederum voraus, dass ein Gericht eine Entscheidung im strafrechtlichen Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK, getroffen3249 und eine strafrechtliche Verantwortlichkeit der ange 3244

Siehe die Nachweise in Fn. 2674. Siehe hierzu die Nachweise in Fn. 2673. 3246 EGMR Nr. 21920/93, Levages Prestations Services v Frankreich, 23.10.1996, § 45; Nr. 40160/12, Zubac v Kroatien (GK), 05.04.2018, § 82. 3247 Das siebte Zusatzprotokoll trat am 01.011.1988 in Kraft und wurde bislang von 43 Staaten, allen Staaten des Europarates außer Deutschland, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich, ratifiziert. 3248 Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 1000; Sinner, in: Karpenstein /  Mayer, EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 7. 3249 EGMR Nr. 61406/00, Gurepka v Ukraine, 06.09.2005, § 55; Nr. 65022/01, Zaicevs v Lettland, 31.07.2007, § 53; Nr. 26986/03, Galstyan v Armenien, 15.11.2007, § 120; Sinner, in: Karpen­stein / Mayer, EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 3; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 993 nennt die „strafrechtliche Anklage“ unmittelbar als Anwendungsvoraussetzung des Art. 2 ZP 7. Siehe bereits zum Begriff der strafrechtlichen Anklage oben ab S. 448. 3245

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klagten Person festgestellt hat. Wurde jemand aus Mangel an Beweisen oder wegen eines fehlenden Schuldnachweises freigesprochen, ist der Anwendungsbereich des Art. 2 Abs. 1 ZP 7 nicht eröffnet.3250 Wurde eine Sanktion zunächst durch eine Verwaltungsbehörde ohne Gerichtsqualität verhängt, ist Art. 2 ZP 7 erst im Falle einer Bestätigung der Verurteilung durch das erstinstanzliche Gericht anwendbar – auch in diesem Fall muss den Betroffenen also Zugang zu zwei gerichtlichen Instanzen gewährt werden.3251 Art. 2 Abs. 1 ZP 7 erweitert den Rechtsschutz der angeklagten beziehungsweise verurteilten Personen in strafrechtlichen Verfahren. In diesen Fällen sahen die Staaten offensichtlich, anders als in den übrigen Fällen des Art. 6 Abs. 1 EMRK, eine besondere Schutzbedürftigkeit der Betroffenen und eine verstärkte Notwendigkeit, die Rechtmäßigkeit gerichtlicher Entscheidungen sicherzustellen. (2) Institutionelle Anforderungen Verurteilte Personen haben gemäß Art. 2 ZP 7 Anspruch auf eine gerichtliche Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils durch ein übergeordnetes Gericht. Bereits aus dem Wortlaut der Norm (higher tribunal / juridiction supérieur) geht hervor, dass eine Überprüfung durch ein Gericht gleicher Instanz nicht ausreichend ist.3252 Das eingelegte Rechtsmittel muss einen Devolutiveffekt haben.3253 Der Gerichtsbegriff des Art. 2 ZP 7 entspricht dem Gerichtsbegriff des Art. 6 Abs. 1 EMRK.3254 Bei der Unabhängigkeit, der Unparteilichkeit sowie der gesetzlichen Grundlage gibt es keine Unterschiede im Vergleich zu den Anforderungen an erste Instanzen. Das Recht aus Art. 2 Abs. 1 ZP 7 gewährleistet eine substanzielle Überprüfung der erstinstanzlichen Verurteilung durch ein übergeordnetes Gericht.3255 Die Prüfungskompetenz des Rechtsmittelgerichts muss allerdings nicht so umfassend ausgestaltet sein wie die des erstinstanzlichen Gerichts. Auch eine auf Rechtsfragen beschränkte Prüfungsbefugnis entspricht den Anforderungen des Art. 2 ZP 73256 3250

Sinner, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 4; Meyer-Ladewig / Harrendorf /  König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 2; Grabenwarter /  Struth, Justiz- und Verfahrensgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 6 Rn. 68. 3251 Siehe die Nachweise in Fn. 1774. 3252 Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 1000. 3253 Meye, in: Wolter, SK-StPO, Annex zu Art. 7 EMRK Rn. 4; Sinner, in: Karpenstein /  Mayer, EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 6. 3254 Vgl. EGMR Nr. 34311/96, Hubner v Österreich (Zul.), 31.08.1999, wo der EGMR nicht zwischen den Anforderungen aus Art. 6 Abs. 1 und Art. 2 ZP 7 differenzierte. 3255 Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 3; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 994, 1000. 3256 EGMR Nr. 27618/95 und 27619/95, Pesti und Frodl v Österreich (Zul.), 18.01.2000; Nr. 37301/03, Hauser-Sporn v Österreich, 07.12.2006, § 52; Sinner, in: Karpenstein / Mayer,

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genauso wie ein Rechtsmittel, das nur den Schuldspruch oder die Strafzumessung überprüft.3257 Es ist den Staaten im Rahmen ihres Gestaltungsspielraums freigestellt, ob sie das Rechtsmittel als Berufung oder als Revision ausgestalten.3258 Ist das Rechtsmittel begründet, muss das Rechtsmittelgericht das angegriffene Urteil aufheben und die Sache entweder selbst neu entscheiden oder an eine untere Instanz zurückverweisen können.3259 Das Berufungsgericht darf auch eine schwerere Strafe verhängen als das erstinstanzliche Gericht.3260 Den Anforderungen des Art. 2 ZP 7 wird auch bereits dadurch genügt, dass ein Gericht zunächst darüber entscheidet, ob eine Berufung oder eine Revision überhaupt zugelassen wird.3261 Zusammenfassend weist die EMRK den Rechtsmittelgerichten die Aufgabe zu, erstinstanzliche Verurteilungen zu kontrollieren. In der EMRK ist die innerfunktionale Gewaltenteilung zwischen verschiedenen gerichtlichen Ebenen jedenfalls für strafrechtliche Verurteilungen angelegt. Die Konventionsstaaten müssen also für strafrechtliche Anklagen einen mindestens zwei Instanzen umfassenden Instanzenzug einrichten. Auch das zweitinstanzliche Gericht muss grundsätzlich die Gerichtsmerkmale des Art. 6 Abs. 1 EMRK erfüllen. Es darf aber im Vergleich zu einem erstinstanzlichen Gericht einen eingeschränkten Prüfungsmaßstab haben. (3) Beschränkungsmöglichkeiten mit institutioneller Relevanz Der Gewährleistungsgehalt des Art. 2 ZP 7 kann durch geschriebene und implizite Schranken eingeschränkt werden. Während die implied limitations vor allem für die Gewaltenteilung irrelevante Zulässigkeitsvoraussetzungen betreffen,3262 wirken sich einige der geschriebenen Schranken des Art. 2 Abs. 2 ZP 7 auf die konventionsstaatlichen Zuständigkeitsordnungen aus. EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 16; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Annex zu Art. 7 EMRK Rn. 4; MeyerLadewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 3; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 994. 3257 Sinner, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 16; Meyer-Ladewig / Harrendorf /  König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 3. 3258 Explanatory Report to the Protocol No. 7 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, (siehe Fn. 959), § 18; Meye, in: Wolter, SK-StPO, Annex zu Art. 7 EMRK Rn. 4. 3259 Meye, in: Wolter, SK-StPO, Annex zu Art. 7 EMRK Rn. 4; Flinterman, in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 971 (973); Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 994. 3260 Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 999. 3261 EGMR Nr. 34311/96, Hubner v Österreich (Zul.), 31.08.1999; Nr. 37301/03, HauserSporn v Österreich, 07.12.2006, § 52; Grabenwarter / Struth, Justiz- und Verfahrensgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 6 Rn. 68; Esser, in: LöweRosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 994; Sinner, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 17; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 3. 3262 Siehe für einen Überblick zu den verschiedenen Beschränkungsmöglichkeiten des Art. 2 ZP 7 schon ab S. 390.

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Nach Art. 2 Abs. 2 ZP 7 muss erstens für Straftaten geringfügiger Art kein Zugang zum Rechtsmittelgericht eingerichtet werden. Ob eine Straftat geringfügig ist, bestimmt sich nach ihrer abstrakten Strafandrohung und der rechtlich zulässigen Höchststrafe.3263 Wird für eine Straftat eine Freiheitsstrafe angeordnet, ist sie nicht geringfügig.3264 Ordnungswidrigkeiten unterfallen dieser Ausnahme hingegen typischerweise.3265 Dies führt dazu, dass gerade in Fällen, in denen die EGMRRechtsprechung eine Verhängung von Sanktionen durch nicht-gerichtliche Organe erlaubt,3266 eine zweitinstanzliche gerichtliche Kontrolle nicht notwendig ist. In diesen typischerweise verwaltungsrechtlichen Verfahren, etwa wegen Verkehrsvergehen oder Steuerstrafzahlungen, liegt also ein unmittelbares Kontrollverhältnis zwischen Verwaltung und Gericht vor, jedoch keine zusätzlich verpflichtende innerfunktionale Gewaltenteilung. Zweitens ist ein Rechtsmittel gegen eine Verurteilung entbehrlich, wenn bereits das erstinstanzliche Verfahren vor dem obersten Gericht stattgefunden hat. Dies ist in einigen Staaten etwa bei Ministeranklagen der Fall.3267 In Deutschland beträfe dies, im Falle einer Ratifizierung des siebten Zusatzprotokolls, die bislang in der Praxis noch nicht relevant gewordene Präsidentenanklage gemäß Art. 61 GG vor dem Bundesverfassungsgericht.3268 Die Konventionsstaaten dürfen also eine Prozessordnung etablieren, nach der die obersten Strafgerichte in gesetzlich definierten Fällen erstinstanzlich zuständig sind. Deren Urteile müssen nicht kontrolliert werden. Dies ist auch aus der Perspektive des Grundrechtsschutzes erträglich, weil das oberste Gericht typischerweise mit besonders qualifizierten Richtern besetzt ist.3269 Zudem handelt es sich, das zeigen die Beispiele der Ministeranklage und der Präsidentenanklage, bei den den obersten Gerichten zugewiesenen Verfahren häufig um politische Streitigkeiten oder Streitigkeiten mit einer starken politischen Komponente. Gerade bei solchen Streitigkeiten lässt der EGMR den Konventionsstaaten grundsätzlich einen größeren Spielraum.3270 Drittens müssen die Konventionsstaaten auch dann keinen Zugang zu einer weiteren strafgerichtlichen Instanz einräumen, wenn die angeklagte Person in der 3263 Sinner, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 2 ZP  7 Rn. 13; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 3; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 997; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 173. 3264 EGMR Nr. 75101/01, Grecu v Rumänien, 30.11.2006, § 82; Nr. 26986/03, Galstyan v Armenien, 15.11.2007, § 124; Nr. 31001/02, Kamburov v Bulgarien, 23.04.2009, §§ 25–26; Sinner, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 13; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 997; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 173. 3265 Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 5; Sinner, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Art. 2 ZP 7 Rn. 13. 3266 Siehe zu diesen Fällen ausführlich ab S. 456. 3267 Vgl. Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 998. 3268 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 173. 3269 Vgl. Meye, in: Wolter, SK-StPO, Annex zu Art. 7 EMRK Rn. 8. 3270 Vgl. nur die Tatsache, dass der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK gerade bei politischen Streitigkeiten häufig nicht eröffnet ist, S. 465.

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erstinstanzlichen Entscheidung freigesprochen, aber in einer durch die Anklagebehörde angerufenen zweiten Instanz erstmalig verurteilt wurde. Hierdurch wird verhindert, dass die Konventionsstaaten zur Einrichtung dreier strafgerichtlicher Instanzen verpflichtet sind. c) Haftprüfung gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK Im Falle einer Haftprüfung gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK wird nur der Zugang zu einer, nicht aber zu einer zweiten gerichtlichen Instanz geschützt. Sieht allerdings die innerstaatliche Rechtslage eine zweite Instanz vor, so muss auch das zweitinstanzliche Verfahren den Anforderungen an den Zugang zum Gericht und an das Verfahren aus Art. 5 Abs. 4 EMRK entsprechen.3271 Die Rechtslage des Art. 5 Abs. 4 EMRK entspricht der des Art. 6 Abs. 1 EMRK. d) Zwischenfazit Während Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 5 Abs. 4 EMRK keine Einrichtung einer zweiten Instanz für zivilrechtliche Streitigkeiten und Haftprüfungen fordern, enthält Art. 2 ZP 7 eine Sonderregelung für den Fall einer strafrechtlichen Verurteilung. Die Konventionsstaaten, die das siebte Zusatzprotokoll ratifiziert haben, sind also im strafrechtlichen Gerichtszweig verpflichtet, mindestens zwei Instanzen einzurichten. Entscheiden sich die Konventionsstaaten auch im Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 4 EMRK, eine zweite gerichtliche Instanz einzurichten, so muss auch diese grundsätzlich den institutionellen konventionsrechtlichen Anforderungen genügen, die allerdings an die besonderen Erfordernisse des Rechtsmittelverfahrens angepasst sind. Die verfahrensrechtlichen Anforderungen an die Rechtsmittelverfahren sind im Vergleich zu erstinstanzlichen Verfahren geringer. Auch der Prüfungsumfang darf im Vergleich zur ersten Instanz begrenzt sein. Die Anforderungen an die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sowie an die Entscheidungsbefugnisse sind jedoch die gleichen wie im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK.

3271 EGMR Nr. 61287/12, Čović v Bosnien und Herzegowina, 03.10.2017, § 33; Nr. 10211/12 und 27505/14, Ilnseher v Deutschland (GK), 04.12.2018, § 254; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 5 Rn. 97, 99; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 368; Kley-Struller, Der richterliche Rechtsschutz gegen die öffentliche Verwaltung, S. 141–142.

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3. Heilung von Konventionsverstößen der ersten Instanz durch das Rechtsmittelgericht Eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 oder Art. 5 Abs. 4 EMRK stellt der EGMR aufgrund einer Gesamtbetrachtung des innerstaatlichen gerichtlichen Verfahrens fest.3272 Daher können Verfahrensfehler oder eine mangelhafte Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit durch ein Rechtsmittelverfahren geheilt werden. a) Im Zivilverfahren Wenn eine erste zivilgerichtliche Instanz nicht unabhängig oder unparteilich war, können diese Fehler unter bestimmten Voraussetzungen in der zweiten In­ stanz geheilt werden. „[A] violation of Article 6 § 1 of the Convention cannot be grounded on the alleged lack of independence or impartiality of a decision-making tribunal or the breach of an essential procedural guarantee by that tribunal if the decision taken was subject to subsequent control by a judicial body that has full jurisdiction and ensures respect for the guarantees laid down in that provision […].“3273

Das Rechtsmittelgericht muss nicht nur über eine umfassende Prüfungskompetenz (full jurisdiction) verfügen, es muss auch alle anderen Gerichtsmerkmale des Art. 6 Abs. 1 EMRK aufweisen und die anwendbaren Verfahrensvorschriften beachten.3274 Außerdem muss das Gericht die Kompetenz haben, den Fehler zu beheben und dies auch tatsächlich tun.3275 Das fehlerhafte Urteil muss gerade wegen

3272

EGMR Nr. 21920/93, Levages Prestations Services v Frankreich, 23.10.1996, § 45; Nr. 40160/12, Zubac v Kroatien (GK), 05.04.2018, § 82. 3273 EGMR Nr. 20772/92, Helle v Finnland, 19.12.1997, § 46; Nr. 74181/01, Vera FernandezHuidobro v Spanien, 06.01.2010, § 131; Nr. 16812/17, Rustavi 2 Broadcasting Company Ltd u. a. v Georgien, 18.07.2019, § 345; Nr. 50199/10, Storozhuk v Ukraine (Zul.), 07.07.2020, § 44; inhaltsgleich EGMR Nr. 33399/18, Pişkin v Türkei, 15.12.2020, § 126. Diese umfassende Formulierung verwendete der EGMR selten. Allein bezogen auf die Heilung eines Fehlers der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit EGMR Nr. 29295/16, Franz v Deutschland, 30.01.2020, § 80. Ähnlich in EGMR Nr. 35443/13, Ghulyan v Armenien, 24.01.2019, § 53; Nr. 31885/10, Köksoy v Türkei, 13.10.2020, § 36. 3274 Siehe bereits das wörtliche Zitat zu Fn. 3273 (ensure respect for the guarantees laid down in that provision); ausdrücklicher noch in EGMR Nr. 19589/92, British-American Tobacco Company Ltd v Niederlande, 20.11.1995, § 78 (independent judicial body that did have sufficient jurisdiction and did itself provide the safeguards required by Article 6 para. 1); sehr deutlich auch EGMR Nr. 42509/05, Crompton v Vereinigtes Königreich, 27.10.2009, §§ 70–71; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 126 (vor allem bezogen auf Fälle innerhalb des strafrechtlichen Anwendungsbereichs); Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 33–34. 3275 EGMR Nr. 22839/93, de Haan v Niederlande, 26.08.1997, § 54; Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, §§ 125–126, 129; Nr. 41214/08 und 49440/08, Editorial Board of Grivna Newspaper v Ukraine, 16.04.2019, § 68.

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des Konventionsverstoßes aufgehoben und entweder vom Rechtsmittelgericht neu entschieden oder an die untere Instanz zurückverwiesen werden.3276 Soll das Rechtsmittelgericht einen erstinstanzlichen Verstoß heilen, muss seine Prüfungskompetenz umfassender ausgestaltet sein als nach den allgemeinen für Rechtsmittelgerichte geltenden Anforderungen. Eine etwa nur auf Rechts- oder Schuldfragen eingeschränkte Prüfungskompetenz reicht für eine Heilung nicht aus. Grundsätzlich muss das Rechtsmittelgericht alle tatsächlichen und recht­lichen Fragen umfassend prüfen dürfen. Allerdings beurteilt der EGMR, wie bei der Prüfungsbefugnis erstinstanzlicher Gerichte,3277 die individuellen Einzelfälle und nicht die abstrakte Rechtslage.3278 Danach ist eine eingeschränkte Prüfungskompetenz so lange unschädlich, wie das zuständige Rechtsmittelgericht gleichwohl alle vorgebrachten Streitpunkte entscheiden kann.3279 Das Konzept der sufficient jurisdiction ist also auch im Verhältnis zwischen erstgerichtlicher fehlerhafter Entscheidung und zweitinstanzlicher Heilung anwendbar.3280 b) Im Strafverfahren Auch für Strafverfahren ergeben sich die Voraussetzungen einer Heilung aus Art. 6 Abs. 1 EMRK, nicht aus Art. 2 ZP 7. Hier gelten im Prinzip die gleichen Grundsätze wie bei der Heilung eines Fehlers in zivilrechtlichen Verfahren. „[D]’après [l]a jurisprudence constante, un constat de violation de l’article 6 § 1 de la Convention ne peut être fondé sur le manque allégué d’indépendance ou d’impartialité d’un organe juridictionnel, ni sur le manquement par cet organe à une garantie procédurale essentielle si la décision rendue était soumise au contrôle subséquent d’un organe judiciaire doté de la plénitude de juridiction et offrant les garanties de l’article 6 […]. Une juridiction supérieure ou suprême peut bien entendu, dans certains cas, redresser les défauts de la procédure de première instance […].“3281

3276

EGMR Nr. 22839/93, de Haan v Niederlande, 26.08.1997, § 54; Nr. 73797/01, Kyprianou v Zypern (GK), 15.12.2005, § 134; Nr. 62936/00, Moiseyev v Russland, 09.10.2008, § 183; bezogen auf die Heilung von Verfahrensverstößen im ersten gerichtlichen Verfahren EGMR Nr. 61913/15, Merisalu v Estland (Zul.), 02.10.2018, § 24; Nr. 24245/09, Bacaksız v Türkei, 10.12.2019, § 57; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 34 Fn. 71. 3277 Siehe hierzu bereits ab S. 475. 3278 EGMR Nr. 42509/05, Crompton v Vereinigtes Königreich, 27.10.2009, § 79; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 34. 3279 So eindeutig für Rechtsmittelgerichte EGMR Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, § 73. 3280 Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 34. Siehe zu dieser Einschränkung des Konzepts der full jurisdiction oben ab S. 477. 3281 EGMR Nr. 74181/01, Vera Fernández-Huidobro v Spanien, 06.01.2010, § 131; knapper und allein auf die Unparteilichkeit bezogen EGMR Nr. 55225/14, Pastörs v Deutschland, 03.10.2019, § 65; allein auf die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bezogen EGMR Nr. 29295/16, Franz v Deutschland, 30.01.2020, § 80.

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Voraussetzung einer Heilung ist, dass das Rechtsmittelgericht alle Gerichtsmerkmale des Art. 6 Abs. 1 EMRK aufweist und die Verfahrensvorschriften einhält. Auch für die full jurisdiction und den Inhalt der Entscheidung gelten grundsätzlich die gleichen Anforderungen wie in Zivilverfahren.3282 Außerdem muss das zweitinstanzliche Gericht den Mangel auch tatsächlich heilen, indem es das vorherige Urteil aufhebt.3283 Im Unterschied zur Rechtslage im zivilrechtlichen Anwendungsbereich sind Vorgehensweise und Formulierungen des EGMR bezüglich einer Heilung von Fehlern in Strafverfahren noch nicht einheitlich. Der Gerichtshof verwendet die Begriffe der Heilung (remedy) und der Wiedergutmachung (make reparation) synonym.3284 Hieraus allein ergibt sich jedoch keine inhaltliche Abweichung. Allerdings wirft ein Blick auf zwei ältere Urteile, De Cubber v Belgien und Findlay v Vereinigtes Königreich, die Frage auf, ob schwerwiegende Fehler der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, die sich auf die Besetzung des erst-instanzlichen Gerichts ausgewirkt haben, tatsächlich durch ein Art. 6-konformes Rechtsmittelverfahren geheilt werden können.3285 In De Cubber v Belgien war ein Richter der Hauptsache bereits als Untersuchungsrichter mit dem Fall befasst und daher vorbefasst gewesen.3286 Eine Heilung lehnte der EGMR ab: „The particular defect in question did not bear solely upon the conduct of the first-instance proceedings: its source being the very composition of the Oudenaarde criminal court, the defect involved matters of internal organisation and the Court of Appeal did not cure that defect since it did not quash on that ground the [former judgment] in its entirety.“3287

Nach einer – naheliegenden – Lesart verlangte der EGMR für die Heilung, dass das erstinstanzliche Urteil gerade wegen (on that ground) der fehlenden Unparteilichkeit aufgehoben wurde und nicht als Nebenprodukt einer anderen Streitigkeit. Der EGMR selbst deutete dieses Zitat 2018 jedoch so, dass ein Verstoß gegen die

3282

EGMR Nr. 46601/99, M. S. v Finnland, 22.03.2005, § 35 mit Verweis auf die Rechtsprechung im zivilrechtlichen Anwendungsbereich; speziell auf einen Mangel der Unparteilichkeit bezogen EGMR Nr. 4835/12, Sedlák v Tschechien (Zul.), 30.08.2016. 3283 EGMR Nr. 73797/01, Kyprianou v Zypern (GK), 15.12.2005, § 134; Nr. 62936/00, Moiseyev v Russland, 09.10.2008, § 183; Nr. 42224/02, Krivoshapkin v Russland, 27.01.2011, § 45; Nr. 54809/07, Richert v Polen, 25.10.2011, § 54; Nr. 32953/13, Škrlj v Kroatien, 11.07.2019, § 47. 3284 Siehe etwa EGMR Nr. 23614/08, Henryk Urban and Ryszard Urban v Polen, 30.11.2010, § 54; Nr. 31269/06, Pop u. a. v Rumänien, 24.03.2015, § 56; Nr. 68939/12 und 68949/12, Cerovšek and Božičnik v Slowenien, 07.03.2017, § 46, wo der EGMR beide Formulierungen verwendet. 3285 Vgl. Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 85; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 592. 3286 EGMR Nr. 9186/80, De Cubber v Belgien, 26.10.1984, §§ 9, 23–30. 3287 EGMR Nr. 9186/80, De Cubber v Belgien, 26.10.1984, § 33 (Hervorhebung durch die Verfasserin).

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richterliche Unparteilichkeit, die sich auf die Besetzung des Gerichts auswirkt, im Unterschied zu reinen Verfahrensverstößen, nicht geheilt werden könne.3288 In der Sache Findlay v Vereinigtes Königreich wurde ein Soldat von einem Militärgericht zu zwei Jahren Haft verurteilt.3289 Der EGMR erkannte fundamentale Fehler (fundamental flaws) der gerichtlichen Unabhängigkeit.3290 Eine Heilung lehnte der EGMR ab, weil der Beschwerdeführer wegen eines schweren Vergehens angeklagt war.3291 „Since the applicant’s hearing was concerned with serious charges classified as ‚criminal‘ under both domestic and Convention law, he was entitled to a first-instance tribunal which fully met the requirements of Article 6 para. 1 […].“3292

Während der EGMR in De Cubber die Heilung ablehnte, weil der Mangel sich auf die Besetzung des Gerichts ausgewirkt hatte und das erstinstanzliche Urteil nicht aus diesem Grund aufgehoben worden war, begründete der Gerichtshof in Findlay die fehlende Heilung mit der Schwere des Vergehens.3293 Die beiden Urteile wichen also aus unterschiedlichen Gründen von den allgemeinen, für Zivil- und Strafverfahren anerkannten Heilungsgrundsätzen ab.3294 Lange Zeit spielten die beiden Ausnahmen aus den Urteilen De Cubber und Findlay in der EGMR-Rechtsprechung keine Rolle mehr.3295 Im Jahr 2019 knüpfte der EGMR jedoch wieder an die Urteile De Cubber und Findlay an. In der Sache Pastörs v Deutschland machte der Beschwerdeführer eine fehlende Unparteilichkeit geltend, weil einer der Revisionsrichter am Oberlandesgericht der Ehemann der erstinstanzlich zuständigen Amtsrichterin war. Aus Anlass der Befangenheitsbeschwerde des Beschwerdeführers nahm der Revisionsrichter schriftlich Stellung, dass seine Ehefrau ihn zwar über den Gang des Verfahrens informiert habe, dass beide sich hierüber aber nicht unterhalten hatten. Die

3288 So jedenfalls das Verständnis in EGMR Nr. 68273/14 und 68271/14, Gestur Jónsson und Ragnar Halldór Hall v Island, 30.10.2018, § 64. Die Große Kammer konnte in ihrer zweitinstanzlichen Entscheidung auf diese Frage nicht mehr eingehen, da sie den strafrechtlichen Anwendungsbereich nicht für eröffnet ansah. 3289 EGMR Nr. 22107/93, Findlay v Vereinigtes Königreich, 25.02.1997, §§ 7, 23. 3290 EGMR Nr. 22107/93, Findlay v Vereinigtes Königreich, 25.02.1997, §§ 73–78. Siehe zu den genauen Gründen dieser Entscheidung sowie den Folgeurteilen ab S. 541. 3291 So auch das Verständnis bei Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig /  Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 85; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 592. 3292 EGMR Nr. 22107/93, Findlay v Vereinigtes Königreich, 25.02.1997, § 79. 3293 Die Begründung hinsichtlich der Qualität der Anklage ergibt sich aus dem wörtlichen Zitat zu Fn. 3292. 3294 Esser, Strafverfahrensrecht, S. 592 geht davon aus, dass der EGMR zwar keine Heilung ermöglichte, wohl aber eine Wiedergutmachung, wenn das von einem konventionswidrig zusammengesetzten Gericht gesprochene Urteil nicht nur aufgehoben wird, sondern das Verfahren von neuem beginnt. Die Differenzierung zwischen Heilung und Wiedergutmachung hat aber keine Grundlage in der Rechtsprechung. 3295 Siehe die Nachweise in Fn. 3281.

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in der Hauptsache zuständige Kammer des OLG, in welcher der betroffene Richter Mitglied war, wies die Parteilichkeitsbeschwerde als unzulässig ab.3296 Nach der Entscheidung des OLG in der Hauptsache legte der Beschwerdeführer eine weitere Befangenheitsbeschwerde gegen die drei Richter der Kammer ein. Über diese Beschwerde entschied eine andere Kammer des OLG.3297 Der EGMR befand, dass der Beschwerdeführer legitimerweise Zweifel an der Unparteilichkeit des Revisionsrichters haben durfte3298 und prüfte anschließend, ob dieser Mangel durch die zweite Beschwerde vor der anderen Kammer des OLG geheilt werden konnte. Weil im vorliegenden Fall lediglich das Verfahren im Rahmen der ersten Befangenheitsbeschwerde unzureichend war – der streitgegenständliche Revisionsrichter hätte hieran nicht beteiligt sein dürfen –, fiel die fehlende Unparteilichkeit im Vergleich zu den Fällen Findlay und De Cubber weniger ins Gewicht.3299 Daher konnte der institutionelle Mangel durch die Entscheidung über die zweite Befangenheitsbeschwerde durch eine andere Kammer geheilt werden. Es war unschädlich, dass keine höhere Instanz über die zweite Beschwerde entschied. Pastörs v Deutschland zeigt, dass eine Heilung nicht immer ein neues Hauptsacheverfahren voraussetzt. Jedenfalls in diesem Einzelfall reichte eine zweite Befangenheitsbeschwerde vor einer anderen Kammer aus. Der Rückgriff auf die Urteile De Cubber und Findlay könnte nahelegen, dass der EGMR an der Differenzierung zwischen schweren, unheilbaren und heilbaren leichten Mängeln der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit festhält. Gegen diese Deutung spricht jedoch, dass der EGMR in der Sache Franz v Deutschland die Heilung einer mangelhaften Unabhängigkeit bestätigte, ohne auf die Differenzierung einzugehen oder die Urteile Findlay und De Cubber zu zitieren.3300 Stattdessen wendete der EGMR die Grundsätze der Heilung in zivilrechtlichen Streitigkeiten an.3301 Der Rückgriff auf De Cubber und Findlay könnte auch damit erklärt werden, dass der EGMR herausstellen wollte, dass wegen des geringen, nur prozessualen Mangels ausnahmsweise eine Entscheidung der gleichen Instanz für eine Heilung ausreichte. Jedenfalls ergibt sich aus Pastörs v Deutschland keine generelle Unheilbarkeit von schwerwiegenden Fehlern der gerichtlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit erster Instanz. Nach aktueller Rechtsprechungslage können erstinstanzliche Verstöße gegen die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in strafgerichtlichen Verfahren somit nach den gleichen Grundsätzen behandelt werden wie in Verfahren zivilrechtlicher Natur.3302 3296

EGMR Nr. 55225/14, Pastörs v Deutschland, 03.10.2019, §§ 7–8, 16–19. EGMR Nr. 55225/14, Pastörs v Deutschland, 03.10.2019, §§ 22–23. 3298 EGMR Nr. 55225/14, Pastörs v Deutschland, 03.10.2019, § 61. 3299 EGMR Nr. 55225/14, Pastörs v Deutschland, 03.10.2019, § 65. 3300 EGMR Nr. 29295/16, Franz v Deutschland, 30.01.2020, §§ 80–88. 3301 Ebenso bereits EGMR Nr. 74181/01, Vera Fernández-Huidobro v Spanien, 06.01.2010, § 133. 3302 Anderer Ansicht Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 166, der mit Verweis auf de Cubber und Findlay davon ausgeht, dass zwingend das erstinstanzliche Verfahren den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK entsprechen muss. 3297

G. Das innerstaatliche Gerichtssystem  

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c) Bei der Haftprüfung gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK Auch im Rahmen der Haftprüfung gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK können institutionelle und verfahrensrechtliche Mängel geheilt werden. Voraussetzung ist eine weitere Instanz, die alle Anforderungen des Art. 5 Abs. 4 EMRK erfüllt, um einen Konventionsverstoß zu vermeiden.3303 Die Anforderungen an die Prüfungskompetenz und die Entscheidungsbefugnis sind die gleichen wie für eine Heilung im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK. d) Analyse Sollen Rechtsmittelgerichte in der Lage sein, Verstöße der ersten Instanz gegen die richterliche Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit zu heilen, müssen ihre Prüfungs- und Entscheidungsbefugnisse so weitreichend ausgestaltet sein wie die der erstinstanzlichen Gerichte. Die Voraussetzungen einer Heilung sind sowohl im zivilrechtlichen als auch im strafrechtlichen Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK und bei der Haftprüfung gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK einheitlich. Die Möglichkeit einer Heilung durch ein fehlerfreies Verfahren einer unabhängigen und unparteilichen höheren gerichtlichen Instanz ist auch im Schrifttum anerkannt.3304 Die Anforderungen an ein zweitinstanzliches Gericht, das Fehler der ersten Instanz heilt, sind die gleichen wie die Anforderungen an eine erstinstanzliche gerichtliche Entscheidung, die eine nicht-gerichtliche Streitentscheidung oder Verhängung von Sanktionen kontrolliert.3305 Ursprünglich verwendete der EGMR den Begriff der Heilung (remedy) ausschließlich, wenn es um verschiedene gerichtliche Instanzen ging.3306 Inzwischen verwendet der EGMR diese Begrifflichkeit auch, wenn die erste Streitentscheidung nicht von einem gerichtlichen, sondern von einem Verwaltungs- oder Disziplinarorgan getroffen wurde.3307

3303

EGMR Nr. 62400/10, Soliyev v Russland, 05.06.2012, § 51; Nr. 64809/10, Khodzhamberdiyev v Russland, 05.06.2012, § 104; Nr. 73455/11, Sidikovy v Russland, 20.06.2013, § 177. 3304 Laptew, Recht auf ein faires Verfahren, S. 130; Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 356; ebenso, wenn auch einschränkend, Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 137. 3305 Siehe zu den Anforderungen in zivilrechtlichen Verfahren bereits oben ab S. 435 sowie für strafrechtliche Verfahren ab S. 456. 3306 So z. B. EGMR Nr. 19589/92, British-American Tobacco Company Ltd v Niederlande, 20.11.1995, § 78; Nr. 42509/05, Crompton v Vereinigtes Königreich, 27.10.2009, § 71; Nr. 41214/08 und 49440/08, Editorial Board of Grivna Newspaper v Ukraine, 16.04.2019, § 68. 3307 Für Disziplinarorgane EGMR Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, § 78; Nr. 55391/13 u. a., Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 132; Nr. 46466/16, Grace Gatt v Malta, 08.10.2019, §§ 80, 88.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

„[A] defect at first instance may be remedied on appeal, as long as the appeal body has full jurisdiction to quash the impugned decision and either to take the decision itself, or to remit the case for a new decision […].“3308

Aus konventionsrechtlicher Perspektive ist es unerheblich, ob zunächst ein Verwaltungsorgan die eigentlich gerichtliche Aufgabe übernommen hat und eine Streitigkeit entschieden oder eine Sanktion verhängt hat, die anschließend von einem Gericht kontrolliert wird3309 oder ob eine zweite gerichtliche Instanz die Fehler des erstinstanzlichen gerichtlichen Verfahrens heilt. Entscheidend ist, dass am Ende des Instanzenzuges ein konventionskonformes Verfahren durchgeführt wurde. Auch die Prüfungsreihenfolge des EGMR ist bei der gerichtlichen Verwaltungskontrolle und der Kontrolle erstinstanzlicher gerichtlicher Entscheidungen die gleiche. Zunächst prüft der EGMR, ob das erste streitentscheidende oder sanktionierende Organ ein Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK war.3310 Ist dies nicht der Fall, prüft der EGMR die Gerichtsqualität des nächsten Organs.3311 Aus innerstaatlicher Perspektive unterscheiden sich die Fälle der Verwaltungskontrolle von den Fällen der Heilung erstinstanzlicher Fehler dadurch, dass das erste streitentscheidende Organ in verwaltungs- und disziplinarrechtlichen Fällen im nationalen Recht gerade nicht als Gericht eingeordnet wird und dadurch noch gar nicht die Intention besteht, die Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK in diesem Verfahrensschritt zu erfüllen. Da der EGMR den Gerichtsbegriff jedoch autonom definiert und somit die Einordnung im innerstaatlichen Recht nicht mehr als ein Indiz sein kann, ist für ihn diese innerstaatliche Einordnung irrelevant. 4. Zwischenfazit Art. 2 ZP 7 verpflichtet die Konventionsstaaten, in Strafsachen ein mindestens zwei Instanzen umfassendes gerichtliches Mehrebenensystem einzurichten. Ansonsten überlässt die EMRK den Konventionsstaaten die Entscheidung darüber, wie viele Ebenen und welche Gerichtszweige sie einrichten wollen. Haben die Konventionsstaaten Rechtsmittelverfahren eingerichtet, müssen diese den verfahrensrechtlichen und institutionellen Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 beziehungs 3308 EGMR Nr. 61913/15, Merisalu v Estland (Zul.), 02.10.2018, § 24; ebenso EGMR Nr. 24245/09, Bacaksiz v Türkei, 10.12.2019, § 57; bezogen auf konkrete Fehler EGMR Nr. 46601/99, M. S. v Finnland, 22.03.2005, § 35; Nr. 6427/05, Gasanov v Russland (Zul.), 09.01.2018, § 22; Nr. 35443/13, Ghulyan v Armenien, 24.01.2019, § 53; Nr. 31885/10, Köksoy v Türkei, 13.10.2020, § 36. Für die Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen siehe das inhaltsgleiche wörtliche Zitat zu Fn. 2012. 3309 Siehe hierzu ab S. 435 und ab S. 456. 3310 Siehe z. B. für die fehlende Unabhängigkeit des Notarsenats des OLG Celle EGMR Nr. 29295/16, Franz v Deutschland, 30.01.2020, §§ 61–79; für die Kontrolle einer Disziplinarentscheidung gegen Polizisten EGMR Nr. 46466/16, Grace Gatt v Malta, 08.10.2019, §§ 80–88. 3311 Siehe beispielhaft EGMR Nr. 29295/16, Franz v Deutschland, 30.01.2020, §§ 80–88; Nr. 46466/16, Grace Gatt v Malta, 08.10.2019, §§ 88–89.

G. Das innerstaatliche Gerichtssystem  

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weise des Art. 5 Abs. 4 EMRK entsprechen, auch wenn der Standard im Vergleich zu erstinstanzlichen Verfahren abgesenkt ist. Soll das Rechtsmittelgericht jedoch in der Lage sein, Fehler des erstinstanzlichen Verfahrens zu heilen, entsprechen die institutionellen und prozessualen Anforderungen den Anforderungen an die erste gerichtliche Instanz. Auch wenn die EMRK – mit Ausnahme der Fälle des Art. 2 ZP 7 – grundsätzlich nur den Zugang zu einer gerichtlichen Instanz verlangt, so muss es sich hierbei nicht um die erste gerichtliche Instanz handeln.3312 Solange im Laufe des gesamten Verfahrens eine Instanz den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK entspricht, erfüllt der Konventionsstaat seine konventionsrechtlichen Verpflichtungen. Diese Rechtslage räumt den Konventionsstaaten einen großen Spielraum bei der Gestaltung ihrer Rechtsschutzsysteme ein.

II. Als Gerichte anerkannte Organe Der funktionale Gerichtsbegriff der EMRK ist derart weit gefasst, dass auch Gerichte außerhalb der allgemeinen gerichtlichen Instanzenzüge beziehungsweise Gerichtszweige als Gerichte eingeordnet werden können. Die Einordnung eines Organs in der innerstaatlichen Rechtsordnung ist nicht ausschlaggebend. Entscheidend für die Gerichtsqualität eines Organs ist allein, ob die Gerichtsmerkmale des Art. 6 Abs. 1 EMRK3313 vorliegen. „[F]or the purposes of Article  6 para. 1 […]  a tribunal need not be  a court of law integrated within the standard judicial machinery. […] What is important to ensure compliance with Article 6 para. 1 […] are the guarantees, both substantive and procedural, which are in place […].“3314

3312

Anders noch EGMR Nr. 9186/80, De Cubber v Belgien, 26.10.1984, § 32. Siehe die Darstellung ab S. 407. 3314 EGMR Nr. 23196/94, Rolf Gustafson v Schweden, 01.07.1997, § 45; ähnlich bereits EGMR Nr. 9006/80 u. a., Lithgow u. a. v Vereinigtes Königreich (Pl.), 08.07.1986, § 201; Nr. 7819/77 und 7878/77, Campbell und Fell v Vereinigtes Königreich, 28.06.1984, § 76; Nr. 19589/92, British-American Tobacco Company Ltd v Niederlande, 20.11.1995, § 77; knapper EGMR Nr. 15227/19, Xhoxhaj v Albanien, 09.02.2021, § 284; ähnlich außerdem EGMR Nr. 22330/05, Olujić v Kroatien, 05.02.2009, § 37; Nr. 17214/05 u. a., Savino u. a. v Italien, 28.04.2009, § 91; Nr. 1643/06, Suda v Tschechien, 28.10.2010, § 48; Nr. 30226/10 u. a., Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, § 173; vgl. im Schrifttum Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 29; Villiger, Handbuch EMRK, Rn. 492; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 180; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 29; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 137; zu Art. 5 Abs. 4 EMRK EGMR Nr. 7215/75, X v Vereinigtes Königreich, 05.11.1981, § 53; Nr. 9787/82, Weeks v Vereinigtes Königreich (Pl.), 02.03.1987, § 61; Nr. 28212/95, Benjamin und Wilson v Vereinigtes Königreich, 26.09.2002, § 33; Nr. 50272/99, Hutchison Reid v Vereinigtes Königreich, 20.02.2003, § 64; Nr. 74012/01, Gavril Yosifov v Bulgarien, 06.11.2008, § 56; Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 5 EMRK Rn. 322; Kley-Struller, Der richterliche Rechtsschutz gegen die öffentliche Verwaltung, S. 137. 3313

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Die EGMR-Rechtsprechung zur Gerichtsqualität einzelner Organe kann in Fallgruppen eingeteilt werden. Da der EGMR stets Einzelfallentscheidungen trifft, beurteilt er die Organe einer Fallgruppe stets in Anbetracht ihrer konkreten institutionellen Ausgestaltung. Damit verbieten sich generalisierende Aussagen über die Gerichtsqualität der Organe einzelner Fallgruppen. Innerhalb der Fallgruppen treten jedoch typischerweise die gleichen rechtlichen Fragen auf. 1. Spezial- und Sondergerichte Der EGMR hat keine Vorbehalte gegen die Einrichtung von Spezial- beziehungsweise Sondergerichten3315,3316 also solche Gerichte, die eine Sonderzuständigkeit für eine bestimmte Art von Streitigkeiten haben. Als Gerichte im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK anerkannt wurden zum Beispiel Mietengerichte,3317 Arbeitsgerichte,3318 spezielle Anhörungskammern für Kinder in familienrechtlichen Streitigkeiten (childrens hearing), die mit pädagogisch geschulten Personen besetzt waren3319 sowie spezielle Strafgerichte für Korruption und organisierte Kriminalität3320. Sondergerichte werden häufig eingerichtet, wenn Entscheidungen über bestimmte Sachverhalte ein besonderes Fachwissen verlangen.3321 Aus diesem Grund waren in vielen der Sondergerichte Laienrichter als Experten tätig.3322 3315 Beide Begriffe können synonym verwendet werden. Teilweise wird nur von Sonder­ gerichten gesprochen, so z. B. Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 105; M ­ üßig, Recht und Justizhoheit, S. 410. Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtl, S. 363 (368) und ihm folgend Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 46 unterscheiden zwischen beiden Begriffen, verdeutlichen aber das Differenzierungskriterium nicht. 3316 Zusammenfassend EGMR Nr. 49429/99, Capital Bank AD v Bulgarien, 24.11.2005, § 113; ebenso die Analyse im Schrifttum, Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 46; Kühne, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 292 (2009) (nur bezogen auf zeitlich unbeschränkt eingerichtete Gerichte); Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 105; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 546–547; Müßig, Recht und Justizhoheit, S. 410; Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtl, S. 363 (368). Für Art. 5 Abs. 4 EMRK EGMR Nr. 9787/82, Weeks v Vereinigtes Königreich (Pl.), 02.03.1987, § 61. 3317 EGMR Nr. 11179/84, Langborger v Schweden (Pl.), 22.06.1989, § 34; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn.  46; Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtl, S. 363 (368). 3318 EGMR Nr. 41579/98, AB Kurt Kellermann v Schweden, 26.10.2004, § 60. 3319 EGMR Nr. 16424/90, McMichael v Vereinigtes Königreich, 24.02.1995, § 80. 3320 EGMR Nr. 8014/07, Fruni v Slowakei, 21.06.2011, § 142; Kosař / Lixinski, AJIL 190 (2015), S. 713 (727). 3321 EGMR Nr. 16424/90, McMichael v Vereinigtes Königreich, 24.02.1995, § 80; Nr. 19589/92, British American Tobacco Company Ltd. v Niederlande, 20.11.1995, § 77; Nr. 8014/07, Fruni v Slowakei, 21.06.2011, § 142; aus dem Schrifttum Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 180; Kosař / Lixinski, AJIL 190 (2015), S. 713 (727). 3322 So zum Beispiel EGMR Nr. 11179/84, Langborger v Schweden (Pl.), 22.06.1989, §§ 9, 19, 31; Nr. 41579/98, AB Kurt Kellermann v Schweden, 26.10.2004, §§ 26, 60.

G. Das innerstaatliche Gerichtssystem  

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Die richterliche Tätigkeit juristischer Laien widerspricht den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht.3323 Das Schrifttum grenzt die grundsätzlich konventionskonformen Sonder- und Spezialgerichte von konventionswidrigen Ausnahmegerichten beziehungsweise ad hoc-Gerichten3324 ab3325 – allerdings ohne hierfür einen Nachweis aus der Rechtsprechung zu zitieren. Ausnahmegerichte werden  – durch Gesetz oder Verwaltungsakt  – spontan für eine Einzelfallentscheidung eingerichtet und existierten somit noch nicht zu dem Zeitpunkt, in dem die Streitigkeit entstand.3326 Aufgrund ihrer Sonderzuständigkeit sind solche Ausnahmegerichte nach der hier verwendeten Definition ebenfalls Sondergerichte. Gegen die Konventionskonformität von Ausnahmegerichten kann das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage sprechen.3327 Der formelle Gesetzesvorbehalt verlangt eine vom parlamentarischen Gesetzgeber beschlossene Rechtsgrundlage und soll verhindern, dass die Einrichtung von Gerichten und die Regelung ihrer Tätigkeit exekutivem oder judikativem Ermessen überlassen werden.3328 Die Einrichtung eines Ausnahmegerichts durch eine exekutive oder judikative Entscheidung, die sich nicht auf eine formell-gesetzliche Grundlage stützen kann, ist hiernach konventionswidrig. Unklarer stellt sich die Situation jedoch dar, wenn der parlamentarische Gesetzgeber für bereits entstandene Fälle nachträglich ein Gericht einrichtet. In diesem Fall läge eine gesetzliche Grundlage vor, die jedoch noch nicht existierte, als die Streitigkeit entstand oder das Delikt begangen wurde. Nach der in dieser Arbeit vertretenen Ansicht, dass der formelle Organisationsvorbehalt aus Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht abstrakt-genereller Natur sein muss,3329 ergibt sich daraus,

3323

Siehe hierzu bereits oben ab S. 511. Als Ausnahmegerichte bezeichnet bei Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 105; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 46; Villiger, Handbuch EMRK, Rn. 495; Müßig, Recht und Justizhoheit, S. 409; beide Begriffe verwendend Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtl, S. 363 (368). 3325 Diese Abgrenzung etwa bei Gaede, in: Knauer, MüKo-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 105; ­Villiger, Handbuch EMRK, Rn. 496; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 44, 47; Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtl, S. 363 (368). 3326 Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 47 (bezogen auf die deutsche Rechtsordnung); Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 24 Rn. 31; Müßig, Recht und Justizhoheit, S. 409; Kühne, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 291 (2009); Villiger, Handbuch EMRK, Rn. 496. 3327 So Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 44; Kühne, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 291 (2009); Müßig, Recht und Justizhoheit, S. 409. 3328 Siehe das wörtliche Zitat zu Fn. 1379. 3329 Siehe hierzu ab S. 323. 3324

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dass ein Ausnahmegericht, das für einen Einzelfall eingerichtet wurde, keine Konventionswidrigkeit.3330 Entscheidend ist vielmehr, ob die gesetzliche Grundlage schon vorliegen muss, bevor der Fall entstanden ist. Es handelt sich also um eine Frage des rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbots. Müßig geht davon aus, dass der Gesetzesvorbehalt established by law als previously established by law zu lesen ist und argumentiert mit der Entstehungsgeschichte der Norm.3331 Im Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 EMRK findet sich diese Voraussetzung jedoch nicht wieder. Darüber hinaus kennt die EMRK nur ausnahmsweise für Entscheidungen über die strafrechtliche Verantwortlichkeit und das Strafmaß ein absolutes Rückwirkungsverbot aus Art. 7 EMRK.3332 Für strafrechtliche Verjährungsvorschriften gilt diese Vorgabe bereits nicht mehr.3333 Bei einer Rückwirkung in zivilrechtlichen Streitigkeiten nimmt der EGMR eine Abwägung aller beteiligten Interessen im konkreten Fall vor.3334 Auch eine rückwirkende Änderung des Verfahrensrechts ist grundsätzlich konventionskonform.3335 Anhand der konventionsrechtlichen Anforderungen an den Erlass rückwirkender Gesetze lässt sich somit nicht begründen, dass die formellgesetzliche Einrichtung eines ad hoc-Gerichts unzulässig ist. Schließlich enthält die EMRK kein Recht auf einen gesetzlichen Richter, wonach bereits im Voraus klar sein muss, welchem Richter eine Streitigkeit zugewiesen wird.3336 Der EGMR lässt auch Einzelfallentscheidungen hinsichtlich der Zuweisung einzelner Fälle an bestimmte Spruchkörper zu.3337 Somit finden sich in der Rechtsprechungslage keine Anhaltspunkte dafür, dass ein durch parlamentarisches Gesetz eingerichtetes Ausnahmegericht prinzipiell konventionswidrig ist. Die Anforderungen der gerichtlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit stellen sicher, dass die spontane Einrichtung eines Ausnahmegerichts kein Einfallstor für eine unzulässige Einflussnahme politischer Organe auf das Gerichtsverfahren ist. Somit ist nicht ausgeschlossen, dass ad hoc-Gerichte konventionskonform sein können. 2. Insbesondere: Staatlich eingerichtete Schiedsgerichte und nicht-staatliche obligatorische Schlichtungsverfahren Prozessparteien können übereinstimmend die staatliche Gerichtsbarkeit ausschließen und ihre Streitigkeit im Rahmen eines freiwilligen privaten Schiedsverfahrens lösen. In diesem Fall verzichten sie freiwillig auf die Gewährleistungen des 3330

Anderer Ansicht ist Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtl, S. 363 (368), der allein auf den Einzelfall abstellt. 3331 Müßig, Recht und Justizhoheit, S. 409. 3332 Siehe hierzu S. 417. 3333 Siehe die Nachweise in Fn. 1897. 3334 Siehe hierzu ab S. 417. 3335 Siehe die Nachweise in Fn. 1923. 3336 Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 187–188. 3337 Siehe hierzu ab S. 534.

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Art. 6 Abs. 1 EMRK.3338 Private Schiedsgerichte unterfallen dem Gerichtsbegriff des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht. Sie wurden nicht durch ein Gesetz, sondern durch eine private Vereinbarkeit eingerichtet.3339 Da private Schiedsgerichte keine hoheitliche Gewalt ausüben, sind sie für die Untersuchung zur Gewaltenteilung irrelevant. Staatlich eingerichtete Schiedsgerichte sind eine besondere Form von Sondergerichten. Sie gelten als Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK, sofern sie alle Gerichtsmerkmale erfüllen.3340 Sofern die Auswahl und Ernennung der Schiedsrichter durch Verbandsrepräsentanten erfolgt, müssen die Konventionsstaaten besonderes Augenmerk auf die Gefährdungen der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit aufgrund des Ernennungsverfahrens legen.3341 Das Urteil Mutu und Pechstein v Schweiz hat diesen zwei Kategorien von Schiedsgerichten einen Sonderfall hinzugefügt. Umstritten war, ob sich die Beschwerdeführerin der Gerichtsbarkeit des Internationalen Sportgerichtshofs freiwillig unterworfen und somit wirksam auf die Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK verzichtet hatte.3342 Die Beschwerdeführerin hatte eine Schiedsklausel akzeptiert, um als Profisportlerin ihren Lebensunterhalt durch die Teilnahme an Wettkämpfen bestreiten zu können. Alternativ hätte sie auf ein Leben als Hochleistungssportlerin verzichten müssen. Nach dem EGMR unterwarf sich die Beschwerdeführerin der Schiedsklausel wegen des faktischen Zwangs nicht freiwillig3343 und hatte somit nicht wirksam auf die Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK verzichtet. Außerdem ordnete der EGMR den Internationalen Sportgerichtshof als Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK ein. „[E]ven though the CAS was the emanation of a private-law foundation […], it was endowed with full jurisdiction to entertain, on the basis of legal rules and after proceedings conducted in  a prescribed manner, any question of fact or law submitted to it in the context of the disputes before it […]. Its awards resolved such disputes in a judicial manner and they could be appealed against to the Federal Court in the circumstances exhaustively enumerated in sections 190 to 192 of the PILA. 3338 EGMR Nr. 1643/06, Suda v Tschechien, 28.10.2010, § 48; Nr. 41069/12, Tabbane v Schweiz (Zul.), 01.03.2016, § 27; Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, § 96; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn.  46; Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtl, S. 363 (368); Kühne, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 293 (2009); ausführlich Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 140–143. 3339 EGMR Nr. 1643/06, Suda v Tschechien, 28.10.2010, § 53; Matscher, Der Gerichtsbegriff der EMRK, in: Prütting, FS Baumgärtl, S. 363 (368). 3340 EGMR Nr. 9006/80 u. a., Lithgow v Vereinigtes Königreich (Pl.), 08.07.1986, § 201; Nr. 30226/10 u. a., Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, § 181. 3341 Hierzu bereits oben ab S. 554. 3342 EGMR Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, §§ 97–123. 3343 EGMR Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, §§ ­113–114; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  14 Rn. 46; auch im Urteil Suda v Tschechien lag kein freiwilliger Verzicht auf die Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK vor, obwohl das Schiedsverfahren nicht gesetzlich angeordnet war, EGMR Nr. 1643/06, Suda v Tschechien, 28.10.2010, §§ 50–55.

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Moreover, the Federal Court, in its settled case-law, has regarded the CAS awards as ‚proper judgments comparable with those of a national court‘ […].“3344

Auf die wegen der privatrechtlichen Struktur des Internationalen Sportgerichtshofs besonders spannende Frage nach einer formell-gesetzlichen Grundlage ging der EGMR nicht ein. Insbesondere erläuterte der Gerichtshof nicht, ob die Berufungsmöglichkeit gegen die Urteile des Sportgerichtshofs vor dem Schweizer Bundesgericht,3345 relevant waren. Der EGMR prüfte lediglich die sonstigen Voraussetzungen des tribunal-Begriffs.3346 Das in dieser Hinsicht abweichende Sondervotum der Richter Keller und Serghides kritisierte, dass die Kammermehrheit ein konstitutives Merkmal des Gerichtsbegriffs ohne Begründung „unter den Tisch fallen“ ließ.3347 „Even though that finding related to a discretionary executive power rather than to private-law bodies, a completely private tribunal is no more ‚established by law‘ than a tribunal set up by executive decree“.3348

Das Sondervotum überzeugt: Der EGMR hätte wenigstens begründen müssen, warum er das Merkmal der gesetzlichen Grundlage in diesem Sonderfall annahm.3349 Indem der EGMR die Effektivität der Schiedsgerichtsbarkeit im internationalen Leistungssport betonte, lieferte er einen Hinweis für seine Beweggründe: „In the specific case of sports arbitration, the Court takes the view that it is certainly of interest for the settlement of disputes arising in a professional sports context, especially those with an international dimension, to refer them to a specialised body which is able to give a ruling swiftly and inexpensively. High-level international sports events are held in various countries by organisations based in different States, and they are open to athletes from all over the world. Recourse to a single and specialised international arbitral tribunal facilitates a certain procedural uniformity and strengthens legal certainty; all the more so where the awards of that tribunal may be appealed against before the supreme court of a single country, in this case the Swiss Federal Court, whose ruling is final.“3350

Hätte der EGMR dem Internationalen Sportgerichtshof die Gerichtsqualität mangels gesetzlicher Grundlage abgesprochen, könnte er keine konventionskon 3344

EGMR Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, § 149. EGMR Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, §§ 40, 98. 3346 EGMR Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, §§ 148–150. 3347 Gemeinsames teilweise abweichendes, teilweise zustimmendes Sondervotum der Richter Keller und Serghides zu EGMR Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, § 23. 3348 Gemeinsame teilweise abweichende, teilweise zustimmende Sondervotum der Richter Keller und Serghides zu EGMR Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, § 23. 3349 Gemeinsame teilweise abweichende, teilweise zustimmende Sondervotum der Richter Keller und Serghides zu EGMR Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, § 25. 3350 EGMR Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, § 97; ähnlich EGMR Nr. 30226/10 u. a., Ali Rıza u. a. v Türkei, 28.01.2020, § 179. 3345

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formen Verfahren durchführen, sofern sich die Sportler – wie die Beschwerdeführerin – nicht freiwillig der Schiedsgerichtsbarkeit unterworfen und somit nicht wirksam auf den Schutz des Art. 6 Abs. 1 EMRK verzichtet haben. Möglicherweise wollte der EGMR durch seine Entscheidung verhindern, dass sich der Internationale Sportgerichtshof der Kontrolle des EGMR entzieht, indem er seinen Sitz außerhalb des europäischen Rechtsraums verlegt.3351 Es bleibt abzuwarten, ob der EGMR seine Einordnung des Internationalen Sportgerichtshofs in zukünftigen Urteilen bestätigt. Nach dem Urteil Mutu und Pechstein v Schweiz können jedoch auch private Organe, die nicht durch einen hoheitlichen Rechtsakt eingerichtet wurden, als Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK anerkannt sein. Der EGMR stellt also den durch private Entscheidungen gegründeten und nicht demokratisch legitimierten Internationalen Sportgerichtshof hoheitlichen Gerichten gleich. Eine Interaktion mit nicht-gerichtlichen Organen, etwa im Ernennungsverfahren, findet nicht statt. Anders als bei den ebenfalls als Gericht anerkannten berufsständischen Disziplinarkammern3352 wurde auch nicht die Trägerorganisation durch Gesetz gegründet. Allerdings ist der Sportgerichtshof in die staatliche Organisation eingebunden ist, indem gegen seine Urteile eine Berufungsmöglichkeit zum Schweizer Bundesgericht formell-gesetzlich vorgesehen ist.3353 3. Insbesondere: Militärgerichte Militärgerichte sind einerseits Gerichte, die unabhängig von ihrer Zuständigkeit teilweise oder ausschließlich mit Angehörigen der Streitkräfte besetzt sind. Andererseits können Militärgerichte auch als Gerichte definiert werden, die sich unabhängig von ihrer Besetzung mit militärinternen Streitigkeiten befassen.3354 In diesem Fall sind Militärgerichte Sondergerichte.3355 Häufig liegt eine Kombination beider Aspekte vor. Der EGMR selbst definiert den Begriff des Militärgerichts nicht. Im Folgenden werden die Gerichte betrachtet, die mindestens nach einer der beiden Definitionen Militärgerichte sind. Bereits 1976 erkannte der EGMR in dem eigentlich für die Definition des strafrechtlichen Anwendungsbereichs bekannten3356 Urteil Engel v Niederlande an, dass 3351 Der EGMR äußerte sich zu dieser abstrakten Gefahr nicht, die Schweizer Regierung war diese Sorge aber auf, EGMR Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, § 99. 3352 Siehe hierzu näher ab S. 731. 3353 EGMR Nr. 40575/10 und 67474/10, Mutu und Pechstein v Schweiz, 02.10.2018, §§ 40, 98. 3354 Bucherer, Die Vereinbarkeit von Militärgerichten mit dem Recht auf ein faires Verfahren, S. 7–8; siehe dort im Folgenden auch noch ausführlich zu Besonderheiten und möglichen Kategorisierungen verschiedener Militärgerichte. 3355 Kühne, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 292 (2009). 3356 Siehe hierzu bereits oben ab S. 449.

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ein Militärgericht ein gesetzlich vorgesehenes, unabhängiges und unparteiliches Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK darstellen kann.3357 Der niederländische Supreme Military Court war die zweite Instanz eines militärischen Disziplinargerichts.3358 Er war mit vier Militärangehörigen (military officers) und zwei Zivilrichtern, beide Angehörige des Obersten Gerichts (Hoog Raad) oder des Berufungsgerichts in Den Haag und einer davon Vorsitzender des Supreme Military Courts, besetzt. Geschriebene Sicherungsmechanismen gegen eine grundlose Absetzung existierten nicht. Die Militärangehörigen übernahmen das Amt als Richter aber üblicherweise als letzten Schritt ihrer militärischen Karriere. Außerdem mussten sie sich für ihre gerichtlichen Entscheidungen nicht rechtfertigen. Die Militärrichter blieben zwar Mitglieder der Armee und in die Befehlskette eingeordnet. Im Rahmen ihrer richterlichen Tätigkeit waren sie aber an das Recht gebunden und verpflichtet, unparteilich zu entscheiden.3359 Der EGMR bestätigte die Gerichtsqualität des Supreme Military Court ohne Begründung mit einem Satz.3360 Auch in der Sache Cooper v Vereinigtes Königreich3361 war das Militärgericht konventionskonform ausgestaltet. In jüngerer Zeit erklärte der EGMR mehrfach rumänische Militärgerichte für konventionskonform.3362 Diese Beispiele zeigen, dass Militärgerichte prinzipiell konventionskonform sein können. Ob Militärgerichte alle Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK erfüllen, hängt maßgeblich vom Status der Richter ab.3363 Bestehen bereits Zweifel an der Beteiligung eines Militärangehörigen in einem aus Berufsrichtern und Laien gemischt zusammen gesetzten Spruchkörper, gelten diese umso mehr, wenn ein Spruchkörper ausschließlich aus Militärangehörigen zusammengesetzt ist.3364 Daneben hängen die Anforderungen an eine konventionskonforme Ausgestaltung von Militärgerichten davon ab, in welchen Streitigkeiten sie zuständig sind. Seit der Sache Ergin v Türkei Nr. 6 unterscheidet der EGMR ausdrücklich zwischen zivil- beziehungsweise verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten und strafrechtlichen 3357 EGMR Nr. 5100/71 u. a., Engel v Niederlande (Pl.), 08.06.1976, § 89; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 281; Kosař, Utrecht LR 13 (2017), S. 112 (116); Kühne, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 292 (2009); Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 88 (allerdings ohne Verweis auf Engel). 3358 EGMR Nr. 5100/71 u. a., Engel v Niederlande (Pl.), 08.06.1976, § 14. 3359 EGMR Nr. 5100/71 u. a., Engel v Niederlande (Pl.), 08.06.1976, § 30; Bucherer, Die Vereinbarkeit von Militärgerichten mit dem Recht auf ein faires Verfahren, S. 48–49. 3360 EGMR Nr. 5100/71 u. a., Engel v Niederlande (Pl.), 08.06.1976, § 89. 3361 EGMR Nr. 48843/99, Cooper v Vereinigtes Königreich, 16.12.2003, §§ 116–126. 3362 EGMR Nr. 40238/02, Bucur und Toma, 08.01.2013, §§ 139–141; Nr. 37702/06, Mureşan v Rumänien (Zul.), 16.12.2014, §§ 19–23. 3363 Siehe außerdem zu der Frage, ob Militärangehörige als Experten für die nationale Sicherheit über Zivilpersonen richten dürfen, bereits ab S. 516; außerdem zu Militärangehörigen als Ernennungsorgane für Richter ab S. 529. 3364 EGMR Nr. 47533/99, Ergin v Türkei Nr. 6, 04.05.2006, § 44; dem folgend EGMR Nr. 59892/00, Maszni v Rumänien, 21.09.2006, § 45; Nr. 1230/17, Mustafa v Bulgarien, 28.11.2019, § 33.

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Verfahren. Bei strafrechtlichen Verfahren differenziert der EGMR zusätzlich zwischen Verfahren gegen Zivilpersonen und Verfahren gegen Militärangehörige.3365 a) Bei zivil- und verwaltungsgerichtlichen Verfahren von Militärangehörigen In mehreren Zulässigkeitsentscheidungen bestätigte der EGMR die Gerichtseigenschaft des mit Militärangehörigen besetzten türkischen Obersten Militärverwaltungsgerichts (Supreme Military Administrative Court), das für zivilrechtliche Streitigkeiten zwischen Militärangehörigen und dem Verteidigungsministerium zuständig war. Das Gericht setzte sich aus juristisch ausgebildeten Militärrichtern und weiteren Militärangehörigen3366 zusammen. Die Unabhängigkeit aller Richter und ihre Unabsetzbarkeit während der Amtszeit waren verfassungsrechtlich garantiert. Auch mussten sich die Richter für ihre gerichtlichen Entscheidungen nicht gegenüber einer militärischen oder anderen exekutiven Stelle verantworten. Die juristisch ausgebildeten Richter wurden auf Lebenszeit, die nicht juristisch ausgebildeten Militärangehörigen für eine Amtszeit von vier Jahren ernannt. Die Amtszeit von vier Jahren wertete der EGMR als förderlich für die richterliche Unabhängigkeit. Auch das Ernennungsverfahren durch den Staatspräsidenten, teils auf Vorschlag anderer Richter, teils auf Vorschlag des Chief of General Staff, beanstandete der EGMR nicht.3367 Ein weiteres Beispiel für eine konventionskonforme Ausgestaltung eines – an ein Strafverfahren angehängtes  – zivilen Entschädigungsverfahrens vor einem Militärgericht findet sich im Urteil Mikhno v Ukraine: „167. […] According to the applicable law, these judges were on the staff of the Armed Forces subordinate to the Ministry of Defence. However, in examining the practicalities of their status, the Court observes that nothing in it suggests that they reported on their performance to any military official. In fact, the applicable law expressly prohibited military judges from carrying out any duties other than adjudication of cases. Eligibility criteria for a post of a military judge (apart from being a military officer) and procedures concerning their appointment, promotion, disciplining and removal were analagous to those in place for their 3365 EGMR Nr. 47533/99, Ergin v Türkei Nr. 6, 04.05.2006, §§ 39–41; Nr. 59892/00, Maszni v Rumänien, 21.09.2006, §§ 41–44; Nr. 1230/17, Mustafa v Bulgarien, 28.11.2019, §§ 29–31; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 88. 3366 Anders als etwa in den britischen Fällen zur Militärgerichtsbarkeit ging der EGMR in dieser Entscheidung nicht explizit darauf ein, dass sich das Oberste Militärverwaltungsgericht jedenfalls zum Teil aus Laienrichtern zusammensetzte. In der sehr knappen Entscheidung EGMR Nr. 39080/97, Arslan v Türkei (Zul.), 21.09.1999, die ebenfalls eine Verhandlung vor dem türkischen Supreme Military Administrative Court betraf, ordnete der EGMR diesen Umstand aber als unproblematisch ein. 3367 EGMR Nr. 29870/96, Yavuz v Türkei (Zul.), 25.05.2000; Nr. 40079/98 u. a., Çimen, Yilmaz, Öztürk u. a. v Türkei (Zul.), 25.05.2000; ohne eigenständige Subsumtion EGMR Nr. 59741/00, Aksoy (Eroğlu) v Türkei (Zul.), 03.11.2005.

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civilian counterparts. Nothing in the relevant legal framework or the applicants’ submissions indicates that either the Ministry of Defence or any career military officers were involved in these procedures. 168. The Court further notes that, according to the applicable law, military courts were integrated into the system of ordinary courts of general jurisdiction. They operated under the same rules of procedure as the ordinary courts in determination of criminal cases. This procedure provided for the applicants the same opportunities to participate in the proceedings, as would have been afforded to them in civilian courts […].“3368

Entscheidend war also, dass die Schutzmechanismen für die richterliche Tätigkeit von Militärangehörigen vergleichbar mit dem Schutz ziviler Richter waren und dass die Militärgerichte in die ordentliche Gerichtsbarkeit integriert waren. In der Sache Miroshnik v Ukraine waren die Militärrichter dem Verteidigungsministerium unterstellt, das Richter bei Bedarf mit Häusern oder Wohnungen ausstattete und für die Finanzierung der Militärgerichte zuständig war. Hierin lag ein Verstoß gegen die gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK geschützte richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit.3369 In Tanışma v Türkei führten die fortbestehende Einbindung von Laienrichtern in die Organisationsstruktur der Armee, die für Entlohnung und Beförderung zuständig war, die Ernennung durch militärische Vorgesetzte sowie die fehlenden gesetzlichen Sicherungsmechanismen zu einem Konventionsverstoß.3370 In beiden Fällen waren die Militärrichter stark von ihrem Ernennungs- und Disziplinarorgan abhängig. Im Vergleich fällt auf, dass bei nichtmilitärischen Berufsrichtern die Einordnung in ein Disziplinarverhältnis der richterlichen Unabhängigkeit nicht schadet.3371 Die Beurteilung der militärrichterlichen Unabhängigkeit ähnelt hingegen den Ausführungen des EGMR zur Unabhängigkeit von richterlich tätig werdenden Beamten3372. b) Bei Disziplinar- und Strafverfahren gegen Soldaten Die EMRK verbietet nicht, dass Militärgerichte über strafrechtliche Anklagen gegen Militärangehörige entscheiden, solange die Anforderungen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK eingehalten werden.3373 3368 EGMR Nr. 32514/12, Mikhno v Ukraine, 01.09.2016, §§ 167–168; wortgleich EGMR Nr. 36314/06 u. a., Svitlana Atamanyuk u. a. v Ukraine, 01.09.2016, §§ 177–178; ohne weitere Subsumtion folgend EGMR Nr. 32604/12 u. a., Khramkovy u. a. v Ukraine, 29.8.2017, § 62; Nr. 32545/12 u. a., Makarovy u. a. v Ukraine, 29.8.2017, § 36; Nr. 1227/06 u. a., Gavrylova u. a. v Ukraine, 19.12.2017, § 99. 3369 EGMR Nr. 75804/01, Miroshnik v Ukraine, 27.11.2008, §§ 62–64; hierzu Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 152; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 89–90. 3370 EGMR Nr. 32219/05, Tanışma v Türkei, 17.11.2015, § 81. 3371 Siehe hierzu ab S. 598. 3372 Siehe hierzu ab S. 600. 3373 EGMR Nr. 47533/99, Ergin v Türkei Nr. 6, 04.05.2006, § 40; Nr. 59892/00, Maszni v Rumänien, 21.09.2006, § 42; Nr. 40426/98, Martin v Vereinigtes Königreich, 24.10.2006,

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Außerdem sind Militärgerichte typischerweise für disziplinarische Maßnahmen gegen Militärangehörige zuständig und entscheiden über Entzug des Ranges oder die Entlassung aus dem Militär.3374 (1) Die britischen Fälle In den Fällen der Rechtsprechungslinie Morris  – Cooper  – Grieves wurden gegen die Beschwerdeführer disziplinarische Maßnahmen wie die Herabstufung des Rangs oder die Entlassung aus dem Dienst verhängt. Zudem standen strafrechtliche Sanktionen, insbesondere eine Freiheitsentziehung, in Rede.3375 In Cooper und Morris wurden die Beschwerdeführer von einem Militärgericht verurteilt, das sich aus einem für mehrere Jahre ernannten Präsidenten und zwei ad hoc ernannten weiteren Richtern zusammensetzte, die allesamt nicht juristisch ausgebildet waren.3376 Obwohl die Beteiligung von Laienrichtern als solche nicht gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstößt,3377 wollte der EGMR nicht auf einen ausreichenden juristischen Sachverstand innerhalb des Spruchkörpers verzichten. Der § 43; Nr. 39429/98, İrfan Bayrak v Türkei, 03.05.2007, § 33; Nr. 27341/02, Veyisoğlu v Türkei, 26.06.2007, § 26; Nr. 20448/02, Begu v Rumänien, 15.03.2011, § 104; Nr. 5260/07, Feti Demirtaş v Türkei, 17.01.2012, § 118; Nr. 42730/05, Savda v Türkei, 12.06.2012, § 104; Nr. 40238/02, Bucur und Toma v Rumänien, 08.01.2013, § 139; Nr. 37702/06, Mureşan v Rumänien, 16.12.2014, § 19; Nr. 32514/12, Mikhno v Ukraine, 01.09.2016, § 164; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 149; Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig /  Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 70; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (607). 3374 Siehe auch Bucherer, Die Vereinbarkeit von Militärgerichten mit dem Recht auf ein faires Verfahren, S. 44–51 für eine Darstellung der von ihr als „frühe Fälle“ bezeichneten Entscheidungen der EKMR, welche die Verhängung disziplinarischer Maßnahmen zum Gegenstand hatten. 3375 EGMR Nr. 38784/97, Morris v Vereinigtes Königreich, 26.02.2002, § 15: Der Beschwerdeführer wurde aus der Armee entlassen und zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt; Nr. 48843/99, Cooper v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.2003, § 11: Der Beschwerdeführer wurde wegen Diebstahls aus dem Dienst entlassen, ihm wurde sein Rang entzogen (reduced to the ranks) und er wurde zu einer Freiheitsstrafe von 56 Tagen verurteilt; Nr. 57067/00, Grieves v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.2003, § 11: Der Beschwerdeführer wurde zu drei Jahren Haft verurteilt, aus dem Dienst entlassen und ihm wurde sein Rang entzogen. Siehe zu dieser Rechtsprechungsreihe Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 284–286 (inklusive ausführlicher Darstellung der Erwägungsgründe); Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 90–91; Milano, Le droit à un tribunal, Rn. 496–497; Barkhuysen u. a., in: van Dijk u. a., Theory and Practice of the ECHR, S. 497 (607–608); Kosař, Utrecht LR 13 (2017), S. 112 (116–117); Kosař / Lixinski, AJIL 190 (2015), S. 713 (725–727); knapp auch Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 67–68; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 150. 3376 EGMR Nr. 38784/97, Morris v Vereinigtes Königreich, 26.02.2002, §§ 15, 70, 72; Nr. 48843/99, Cooper v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.2003, §§ 31, 33, 118, 123; siehe zu Cooper v Vereinigtes Königreich bereits knapp ab S. 550. 3377 EGMR Nr. 48843/99, Cooper v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.2003, § 123.

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EGMR betrachtete die Anwesenheit eines zivilen, juristisch ausgebildeten judge advocats im gerichtlichen Verfahren als wichtigen Sicherungsmechanismus.3378 Der judge advocat entschied zwar nicht zusammen mit den Richtern über die Verurteilung der Beschwerdeführer, stellte aber auf andere Weise die Rechtmäßigkeit des Verfahrens sicher. Er instruierte das Gericht in öffentlicher Verhandlung über seine Aufgabe und fasste vor der geheimen Beratung des Gerichts die bisherigen Beweise zusammen.3379 Dennoch reichte dem EGMR in Morris v Vereinigtes Königreich diese Siche­ rung der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit durch den judge advocate nicht aus. Die Richter waren der Militärdisziplin unterworfen.3380 Der Gerichtspräsident hatte zwar eine ausreichend lange Amtszeit, war faktisch unabsetzbar, aus der Befehlskette ausgeschlossen, übernahm das Amt üblicherweise als letzten Karriereschritt und musste keine negativen Evaluierungen über den Inhalt seiner gerichtlichen Entscheidungen fürchten, sodass an seiner Unabhängigkeit nicht gezweifelt wurde.3381 Die anderen Richter hatten hingegen einen verhältnismäßig niedrigen militärischen Rang und wurden ad hoc ernannt.3382 Daher lag in Morris v Vereinigtes Königreich ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK vor. In der Sache Cooper v Vereinigtes Königreich hatte sich die Rechtslage im Vergleich zum Morris-Urteil nicht verändert. Die britische Regierung legte jedoch neue Informationen zur richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der ad hoc ernannten Richter vor3383 und ermöglichte eine umfassendere Würdigung durch den EGMR. Der Gerichtshof wertete die Ausgabe von briefing notes mit einer Schritt-für-Schritt-Anleitung für das gesamte gerichtliche Verfahren und einer Zusammenfassung der Rolle aller Beteiligten als wichtigen Sicherungsmechanismus der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit.3384 Außerdem betonte der EGMR die verfahrensrechtlichen Absicherungen: Die richterlichen Beratungen waren vertraulich, die Richter mit dem niedrigsten Rang mussten zuerst ihre Meinung äußern und ihre Stimme abgeben und die Richter durften sich später nicht zum Inhalt der Beratungen und zum Abstimmungsverhalten äußern. 3378 EGMR Nr. 38784/97, Morris v Vereinigtes Königreich, 26.02.2002, § 71; Nr. 48843/99, Cooper v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.2003, § 117. 3379 EGMR Nr. 38784/97, Morris v Vereinigtes Königreich, 26.02.2002, § 26; Nr. 48843/99, Cooper v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.2003, §§ 28, 29. Auch Bucherer, Die Vereinbarkeit von Militärgerichten mit dem Recht auf ein faires Verfahren, S. 58 ordnet die Rechtsprechung zum judge advocate als Frage der juristischen Vorbildung der Gerichtsmitglieder ein. 3380 EGMR Nr. 38784/97, Morris v Vereinigtes Königreich, 26.02.2002, § 72. 3381 EGMR Nr. 38784/97, Morris v Vereinigtes Königreich, 26.02.2002, §§ 68–69; Nr. 48843/99, Cooper v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.2003, § 118. 3382 EGMR Nr. 38784/97, Morris v Vereinigtes Königreich, 26.02.2002, § 70; Nr. 48843/99, Cooper v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.2003, § 120. 3383 EGMR Nr. 48843/99, Cooper v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.2003, § 124; zustimmendes Sondervotum von Richter Costa zu EGMR Nr. 48843/99, Cooper v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.2003. 3384 EGMR Nr. 48843/99, Cooper v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.2003, §§ 123–124.

G. Das innerstaatliche Gerichtssystem  

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In der Gesamtschau reichte dies dem EGMR aus, um anzunehmen, dass die Richter keine negativen Evaluationen oder Sanktionen aus ihrer richterlichen Tätigkeit befürchten mussten.3385 Anders als im Fall Cooper war der judge advocat im am gleichen Tag veröffentlichten Urteil Grieves v Vereinigtes Königreich keine Zivilperson, sondern ebenfalls Militärangehöriger, der innerhalb des Militärs noch weitere Aufgaben hatte und dessen gerichtliche Tätigkeit Gegenstand von Leistungsbewertungen sein konnte. Somit fehlte im Vergleich zu Cooper v Vereinigtes Königreich der Schutz der richterlichen Unabhängigkeit durch die Anwesenheit einer zivilen Person im Gerichtsverfahren.3386 Außerdem wurde der Gerichtspräsident nicht auf Lebenszeit ernannt.3387 Auch die briefing notes waren weniger detailreich und weniger klar formuliert als im Fall Cooper. Die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Laienrichter des Marinegerichts war daher nicht ausreichend geschützt.3388 (2) Die türkischen Fälle In den zwei eindeutigen Urteilen İrfan Bayrak und Veyisoğlu beurteilte der EGMR die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit vor allem abhängig davon, wie ein militärangehöriger Richter während und nach seiner Amtszeit in die militärische Hierarchie und Beurteilungsstruktur eingebunden war. In den beiden Fällen erfolgte die Ernennung der Richter durch höherrangige Militärangehörige. Es lagen keine gesetzlichen Schutzmechanismen gegen inhaltliche Einflussnahme vor. Die Beurteilung der richterlichen Tätigkeit konnte sich auf die weitere militärische Karriere auswirken. Außerdem war die Amtszeit auf ein Jahr begrenzt und nicht alle Richter konnten eine juristische Ausbildung aufweisen. Schließlich wurde jeweils der Einfluss der höherrangigen Militärangehörigen noch dadurch verstärkt, dass in beiden Fällen der Antragsteller im Disziplinarverfahren den Richtern nach deren Rang übergeordnet war.3389 Ausschlaggebend für die eindeutigen Verstöße gegen die richterliche Unabhängigkeit war nicht ein einzelner Aspekt, sondern die Gesamtschau aller Argumente. Die Entscheidung İbrahim Gürkan ist besonders aussagekräftig, weil die Richter keiner der Prozessparteien hierarchisch untergeordnet waren und weil der EGMR die einzelnen Abwägungsaspekte gewichtete. Der EGMR stufte die fehlende rechtliche Ausbildung bei einem von drei Richtern nicht als Mangel der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit ein. Ausschlaggebend für den Konventionsverstoß waren die Ernennung durch übergeordnete Militärangehörige, das Fehlen 3385

EGMR Nr. 48843/99, Cooper v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.2003, §§ 121, 125. EGMR Nr. 57067/00, Grieves v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.2003, §§ 85–87, 89. 3387 EGMR Nr. 57067/00, Grieves v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.2003, § 81. 3388 EGMR Nr. 57067/00, Grieves v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.2003, §§ 90–91. 3389 EGMR Nr. 39429/98, İrfan Bayrak v Türkei, 03.05.2007, §§ 35–38; Nr. 27341/02, Veyisoğlu v Türkei, 26.06.2007, §§ 29–30. 3386

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

gesetzlicher Sicherungsmechanismen und die auch während des Richteramts fortdauernde Einbindung in die Militärdisziplin.3390 Insgesamt zeigt sich in den türkischen Fällen, dass die Ernennung durch übergeordnete Militärorgane und die Einbindung in die Militärdisziplin während der richterlichen Tätigkeit der Unabhängigkeit schaden. Diese Gefährdung müsste mindestens durch besondere Sicherungsmechanismen zum Schutz vor konkreter inhaltlicher Einflussnahme und der Beurteilung der richterlichen Leistung im Rahmen der weiteren militärischen Karriere ausgeglichen werden. (3) Die rumänischen Fälle Die jüngeren Urteile gegen Rumänien, in denen die Militärgerichte konventionskonform ausgestaltet waren, bestätigen das Cooper-Urteil. Die richterliche Unabhängigkeit inklusive der Unabsetzbarkeit der – juristisch ausgebildeten – Militärrichter war verfassungsrechtlich in gleicher Weise garantiert wie für zivile Richter. Die Auswahl und Ernennung der Richter erfolgte durch politische und richterliche, nicht aber durch militärische Organe. Die Richter mussten sich für ihre gerichtlichen Entscheidungen nicht vor irgendeiner exekutiven Stelle verantworten. Der Gerichtspräsident hatte denselben militärischen Rang wie der Staatsanwalt. Angeklagte durften einzelne Richter ablehnen. Außerdem fanden die Beratungen des Gerichts im Geheimen statt.3391 (4) Zwischenfazit Militärangehörige dürfen grundsätzlich als Richter über disziplinar- und strafrechtliche Sanktionen gegen andere Militärangehörige entscheiden.3392 Für die richterliche Unabhängigkeit sind das Verhältnis der Richter zu anderen Militärangehörigen und die Einordnung in die übergeordneten militärischen Strukturen ausschlaggebend. Wegen der sich aus der Militärhierarchie ergebenden Gefährdungen der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sind die Anforderungen an weitere Sicherungsmechanismen besonders hoch.

3390

EGMR Nr. 10987/10, İbrahim Gürkan v Türkei, 03.07.2012, §§ 18–19. Dem Urteil deutlich knapper folgend EGMR Nr. 15069/05, Aymelek v Türkei, 30.1.2018, §§ 31–33; Nr. 57878/10, Sevinç v Türkei, 24.03.2020, §§ 16–18; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 151. 3391 EGMR Nr. 20448/02, Begu v Rumänien, 15.03.2011, §§ 105–106; dem folgend EGMR Nr. 40238/02, Bucur und Toma v Rumänien, 08.01.2013, § 140; ähnlich auch EGMR Nr. 37702/06, Mureşan v Rumänien (Zul.), 16.12.2014, wo der EGMR vergleichbare Erwägungen anstellt, jedoch nicht stringent vor allem auf das Urteil EGMR Nr. 59892/00, Maszni v Rumänien, 21.09.2006 verweist, welches das Strafverfahren gegen eine Zivilperson zum Gegenstand hatte. 3392 Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 284.

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In seine Abwägung stellt der EGMR das Ernennungsverfahren, den militä­ rischen Status während und nach der richterlichen Tätigkeit sowie die juristische Ausbildung ein. Es schadet der richterlichen Unabhängigkeit von Militärangehörigen, wenn sie neben ihrer richterlichen Tätigkeit weitere militärische Aufgaben wahrnehmen und in die Befehls- und Beurteilungsstruktur eingebunden bleiben. Die Gefahr für die richterliche Unabhängigkeit ist jedoch geringer, wenn die Militärangehörigen bereits einen verhältnismäßig hohen militärischen Rang erreicht haben, sodass Beurteilungen für sie weniger relevant sind.3393 Sind neben den Militärangehörigen auch Zivilpersonen an den Verfahren beteiligt, stellt dies einen weiteren wichtigen Sicherungsmechanismus dar. Sofern sich der gesamte Spruchkörper aus juristischen Laien zusammensetzt, muss der juristische Sachverstand durch andere Beteiligte in den Prozess eingebracht werden. Da Militärgerichte durch ihre besondere Gefährdung der richterlichen Unabhängigkeit einerseits und anderseits durch ihr auf militärische Disziplinar- und Strafverfahren begrenztes Tätigkeitsfeld einen Sonderfall darstellen, kann aus der Rechtsprechungsreihe Morris – Cooper – Grieves jedoch nicht verallgemeinernd geschlossen werden, dass die Beteiligung einer juristisch ausgebildeten Person an der gerichtlichen Entscheidung grundsätzlich nicht erforderlich ist. Diese Schlussfolgerung gilt zunächst ausschließlich für Militärgerichte. Schließlich zeigen die Urteile gegenüber Rumänien, dass die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von Militärrichtern gefördert wird, wenn ihr Status dem Status von Zivilrichtern möglichst stark ähnelt. c) Bei Strafverfahren gegen zivile Personen Für die Beteiligung militärangehöriger Richter an Strafverfahren gegen Zivilpersonen stellte der EGMR in den Leiturteilen Incal v Türkei und Ergin v Türkei Nr. 6 hohe Hürden auf. Fallkonstellationen, in denen ein Militärgericht über ziviloder verwaltungsrechtliche Streitigkeiten von Zivilpersonen entschied, sind in der EGMR-Rechtsprechung nicht ersichtlich.3394 Seit Ergin v Türkei Nr. 6 erlaubt der EGMR den Einsatz von Militärrichtern in Strafverfahren gegen Zivilpersonen ausschließlich zum Schutz der nationalen Sicherheit. Prozessökonomische Gründe, wie der Zusammenhang einer Straftat einer Zivilperson mit Straftaten von Militärangehörigen, reichen dem EGMR genauso wenig aus wie eine privatrechtliche Anstellung der angeklagten Person beim Militär. Außerdem müssen die Zivilgerichte in jedem Einzelfall prüfen, ob

3393

Vgl. Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 89. Siehe hierzu auch schon im Rahmen der Frage, ob Militärangehörige in Fragen nationaler Sicherheit überhaupt taugliche Richter sind ab S. 516. Siehe dort ebenfalls zur Definition einer „Zivilperson“. 3394

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

ein zwingender Grund für die Beteiligung eines Militärrichters vorliegt.3395 Diese Voraussetzung knüpfte der EGMR an der richterlichen Unabhängigkeit und am Erscheinungsbild der objektiven Unparteilichkeit an.3396 Daneben müssen selbstverständlich auch alle übrigen Gerichtsmerkmale vorliegen. Die Gerichtsmerkmale von Militärgerichten in Verfahren gegen Zivilpersonen prüfte der EGMR erstmals bereits einige Jahre vor Ergin v Türkei Nr. 6 in den Urteilen Incal v Türkei3397 sowie Çıraklar v Türkei. Die Beschwerdeführer waren vor einem National Security Court wegen politischer Straftaten angeklagt.3398 Der EGMR bezog neben den formalen statutorischen Sicherungsmechanismen der Militärrichter auch das gerichtliche Erscheinungsbild ein. Für die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sprach, dass die Militärrichter juristisch ausgebildet und rechtlich zivilen Richtern gleichgestellt waren, nicht vorzeitig abberufen werden konnten, weisungsfrei agierten und ihre Entscheidungen in persönlicher Kapazität trafen.3399 Gefährdet wurde die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit hingegen dadurch, dass die Militärrichter Mitglied der Streitkräfte blieben, der Militärdisziplin unterworfen waren und evaluiert wurden. Zudem wurden die Militärrichter von Verwaltungsbehörden und der Armee ernannt. Auch die Amtszeit von (nur) vier Jahren und die Möglichkeit der Wiederernennung führte der EGMR als Argumente an.3400 In der Gesamtabwägung stellte der EGMR schließlich eine Verletzung des Rechts auf ein unabhängiges und unparteiliches Gericht aus Art. 6 Abs. 1 EMRK fest.3401

3395

Siehe hierzu bereits ab S. 517. EGMR Nr. 47533/99, Ergin v Türkei Nr. 6, 04.05.2006, §§ 38, 50. 3397 Siehe zu diesem Urteil Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. ­93–94 (auch zu den Folgeurteilen); Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 151; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 281–283; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 547; besonders ausführlich Bucherer, Die Vereinbarkeit von Militärgerichten mit dem Recht auf ein faires Verfahren, S. 61–82; Ress, Separation of Powers and the Function of the Judiciary, in: Barcellona / Carrino, I diritti umani, S. 187 (204–205); Kosař / Lixinski, AJIL 190 (2015), S. 713 (724–725). 3398 EGMR Nr. 22678/93, Incal v Türkei (GK), 09.06.1998, §§ 9–15 (Versuch, zu Hass und Feindseligkeiten anzustacheln); Nr. 19601/92, Çıraklar v Türkei, 28.10.1998, § 8 (Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration, gewaltsamer Widerstand gegen die Polizei, Verbreitung separatistischer Propaganda). 3399 EGMR Nr. 22678/93, Incal v Türkei (GK), 09.06.1998, § 67; Nr. 19601/92, Çıraklar v Türkei, 28.10.1998, § 39. 3400 EGMR Nr. 22678/93, Incal v Türkei (GK), 09.06.1998, § 68; Nr. 19601/92, Çıraklar v Türkei, 28.10.1998, § 40. 3401 EGMR Nr. 22678/93, Incal v Türkei (GK), 09.06.1998, § 73; Nr. 19601/92, Çıraklar v Türkei, 28.10.1998, § 41. Die gleiche Argumentationsstruktur verwendete der EGMR auch in zahlreichen weiteren Urteilen, so beispielweise EGMR Nr. 23168/94, Karataş v Türkei, 08.07.1999, §§ 61–63; Nr. 24246/94, Okçuoğlu v Türkei (GK), 08.07.1999, §§ 57–59; Nr. 23536/94 und 24408/94, Başkaya und Okçuoğlu v Türkei (GK), 08.07.1999, §§ 78–80; Nr. 24919/94, Gerger v Türkei (GK), 08.07.1999, §§ 60–62; Nr. 45718/99, Karakurt v Türkei, 20.09.2005, §§ 20–22; Nr. 47874/99, Yilmaz und Barim v Türkei, 22.06.2006, §§ 14–16. Siehe auch Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 93–94. Die Türkei hat inzwischen ihre institu 3396

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Das Sondervotum von acht Richtern der Großen Kammer in Incal v Türkei, die gegen die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK stimmten, zeigt, dass die Abwägung des EGMR auch anders hätte ausfallen können.3402 Die abweichenden Richter zogen Parallelen zur Rechtsprechung über nicht-militärische Expertenrichter3403 und maßen den gesetzlichen Sicherungsmechanismen ein stärkeres Gewicht zu als der fortbestehenden Einordnung der Militärrichter in die militärische Disziplin. Außerdem argumentierten die abweichenden Richter, dass in Fällen ohne Militärbezug eine Ernennung der Richter durch die Exekutive sowie eine Amtszeit von vier Jahren mit der Möglichkeit der Wiederernennung nicht zu einer mangelhaften Unabhängigkeit der Richter führten.3404 Die Gegenüberstellung von Mehrheitsmeinung und Sondervotum zeigt, dass gerade die fortbestehende Einordnung der Richter in die militärische Hierarchie und die Evaluationsverfahren ausschlaggebend für die Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK waren.3405 Einige Folgeurteile, in denen die Militärrichter eine für die Beschwerdeführer vorteilhafte Entscheidung trafen und dennoch eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vorlag,3406 deuten darauf hin, dass der Ausgang des Verfahrens für die Beurteilung der richterlichen Unabhängigkeit irrelevant ist. In Ergin v Türkei Nr. 6 verallgemeinerte der EGMR die Aussagen der IncalRechtsprechung: „43. [T]he Court has attached importance in numerous previous judgments to the fact that a civilian has had to appear before a court composed, if only in part, of members of the armed forces […]. It has held that such a situation seriously undermined the confidence that courts ought to inspire in a democratic society […].

tionelle Ausgestaltung der National Security Courts an die Vorgaben des EGMR angepasst, Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 93 mit Verweis auf EGMR Nr. 22279/93, Altay v Türkei, 22.05.2001, §§ 35, 71; Nr. 29900/96 u. a., Sadak u. a. v Türkei Nr. 1, 17.07.2001, § 38, wo aber jeweils noch nicht über die neue Rechtslage entschieden wurde; ebenso Bucherer, Die Vereinbarkeit von Militärgerichten mit dem Recht auf ein faires Verfahren, S. 64; Kosař / Lixinski, AJIL 190 (2015), S. 713 (724–725). 3402 Siehe hierzu auch Bucherer, Die Vereinbarkeit von Militärgerichten mit dem Recht auf ein faires Verfahren, S. 73–76. 3403 So auch noch einmal Richter Gölcüklü im abweichenden Sondervotum zu EGMR Nr. 19601/92, Çıraklar v Türkei, 28.10.1998. 3404 Gemeinsames, teilweise abweichendes Sondervotum der Richter Thór Vilhjámsson, Gülcüklü, Matscher, Foighel, Freeland, Lopes Rocha, Wildhaber und Gotchev zu EGMR Nr. 22678/93, Incal v Türkei, 09.06.1998. Siehe zu den Unabhängigkeitsparametern der Dauer der Amtszeit ab S. 615 sowie ab S. 523 zur Ernennung durch exekutive Organe. 3405 Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 94. Das zustimmende Sondervotum von Richter Türmen zu EGMR Nr. 47533/99, Ergin v Türkei Nr. 6, 04.05.2006 ging davon aus, dass die Gesamtschau aller gegen die gerichtliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sprechenden Aspekte ausschlaggebend waren. 3406 EGMR Nr. 23536/94 und 24408/94, Başkaya und Okçuoğlu v Türkei (GK), 08.07.1999, §§ 75, 78–80; Nr. 24919/94, Gerger v Türkei (GK), 08.07.1999, §§ 13, 60–62; Bucherer, Die Vereinbarkeit von Militärgerichten mit dem Recht auf ein faires Verfahren, S. 71–72.

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44. That concern, which is all the more valid when a court is composed solely of military judges, leads the Court to affirm that only in very exceptional circumstances could the determination of criminal charges against civilians in such courts be held to be compatible with Article 6.“3407

Der EGMR deutete also an, dass die Beurteilung der gerichtlichen Unabhängigkeit nicht allein von der Einzelbetrachtung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit einzelner Richter, sondern auch von der Zusammensetzung des gesamten Spruchkörpers abhängt. „A judicial system in which a military court is empowered to try a person who is not a member of the armed forces may easily be perceived as reducing to nothing the distance which should exist between the court and the parties to criminal proceedings, even if there are sufficient safeguards to guarantee that court’s independence.“3408

In Ergin v Türkei Nr. 6 stellte der EGMR eine Konventionsverletzung fest, weil der Beschwerdeführer, der zur Verweigerung des Militärdienstes aufgerufen hatte, von einem ausschließlich aus Militärrichtern zusammengesetzten Gericht verurteilt wurde. Die Straftat hatte sich also direkt gegen das Militär gerichtet. Der EGMR stellte die Militärrichter – quasi als Verletzte – einer Prozesspartei gleich, sodass der Beschwerdeführer gerechtfertigt eine fehlende Unparteilichkeit bezweifeln durfte.3409 Dies entsprach dem allgemeinen Rechtsprechungsgrundsatz, dass Richter, die in einer Streitigkeit selbst Partei oder Geschädigte sind, nicht in der Sache entscheiden dürfen.3410 In Maszni v Rumänien sprachen für die richterliche Unabhängigkeit die juristische Ausbildung der Richter, die verfassungsrechtlichen Garantien, die den Garantien der zivilen Richter entsprachen, sowie die Auswahl und Ernennung durch politische, nicht aber durch militärische Organe. Ausschlaggebend gegen die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit wertete der EGMR aber, dass die Militärrichter weiterhin Mitglied der Streitkräfte blieben, vom Verteidigungsministerium entlohnt wurden sowie der militärischen Hierarchie und den Leistungsbewertungen unterworfen waren, die auch für eine Beförderung innerhalb der Armee relevant waren.3411 Außerdem deutete der EGMR in diesem Urteil bereits an, dass eine Heilung der fehlenden Unabhängigkeit und Unparteilichkeit in Betracht 3407

EGMR Nr. 47533/99, Ergin v Türkei Nr. 6, 04.05.2006, §§ 43–44. EGMR Nr. 47533/99, Ergin v Türkei Nr. 6, 04.05.2006, § 49; zusammenfassend MeyerLadewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art.  6 Rn. 70. 3409 EGMR Nr. 47533/99, Ergin v Türkei Nr. 6, 04.05.2006, § 54; dem ohne eigene Subsumtion folgend EGMR Nr. 56827/00, Düzgören v Türkei, 09.11.2006, §§ 20–21; ähnlich EGMR Nr. 5260/07, Feti Demirtaş v Türkei, 17.01.2012, § 125; Nr. 42730/05, Savda v Türkei, 12.06.2012, § 111; Nr. 14017/08, Buldu u. a. v Türkei, 03.06.2014, § 97. 3410 Siehe zu den verschiedenen Fallgestaltungen oben ab S. 576. 3411 EGMR Nr. 59892/00, Maszni v Rumänien, 21.09.2006, §§ 55–56; dem folgend EGMR Nr. 31269/06, Pop u. a. v Rumänien, 24.03.2015, §§ 53–54. Diese Deutung auch bei Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 149. 3408

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kommt, wenn dem Beschwerdeführer in höherer oder letzter Instanz ein rein ziviles Gericht zur Verfügung steht3412 – dies bestätigte der EGMR anschließend.3413 In Martin v Vereinigtes Königreich unterstanden alle  – zwei zivile und vier militärische – Richter im militärischen Rang dem confirming officer, der die Anklage vertrat. Zwischen einigen Richtern und dem confirming officer bestand ein unmittelbares Weisungsverhältnis. Außerdem konnte der confirming officer das Gericht in eigenem Ermessen auflösen. Die Anwesenheit zweier ziviler Richter war nicht in der Lage, den Einfluss einer hierarchischen Unterordnung auszugleichen und die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit abzusichern.3414 Insgesamt stellt der EGMR sehr hohe Hürden für die Zuständigkeit von Militärgerichten in Strafverfahren gegen Zivilpersonen auf. Die allgemeinen Grundsätze der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, die wegen der besonderen Weisungs- und Militärhierarchie des Militärs ohnehin besonderen Herausforderungen ausgesetzt sind, werden durch das Erfordernis eines zwingenden Grundes für den Einsatz von Militärrichtern beziehungsweise eines gesamten Militärgerichts ergänzt.3415 Der EGMR verbietet solche Regelungen nicht per se, macht es den Staaten durch die strengen Voraussetzungen aber sehr schwierig, die Anforderungen einzuhalten.3416 Für ausschließlich mit Militärangehörigen besetzte Gerichte erscheint es einerseits wegen des zwingenden Grundes, andererseits wegen der strengen Anforderungen an die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit fast unmöglich, konventionskonform über die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Zivilpersonen zu entscheiden.3417

3412

EGMR Nr. 59892/00, Maszni v Rumänien, 21.09.2006, § 58: Der EGMR lehnte das Argument, der Beschwerdeführer habe den Rechtsweg nicht erschöpft, mit dem Argument ab, dass auch in höherer Instanz nur Militärgerichte zur Verfügung standen. 3413 EGMR Nr. 37702/06, Mureşan v Rumänien (Zul.), 16.12.2014, § 22: Die Beschwerde war offensichtlich unbegründet, weil auf höherer Instanz ein rein ziviles Gericht angerufen werden konnte; Nr. 31269/06, Pop u. a. v Rumänien, 24.03.2015, § 56: Im konkreten Fall scheiterte eine Heilung vor dem zivilen Gericht daran, dass es die vorhandenen Beweise nicht eigenständig bewertete (siehe zu den grundsätzlichen Anforderungen an die Gerichtmerkmale im Falle einer Heilung im Strafverfahren ab S. 703). 3414 EGMR Nr. 40426/98, Martin v Vereinigtes Königreich, 24.10.2006, §§ 49–54. Hierbei baute der EGMR maßgeblich auf der Rechtsprechungslinie Findlay  – Morris  – Cooper  – Grieves auf, in denen Militärangehörige, nicht Privatpersonen angeklagt waren (siehe zu diesen Urteilen bereits oben ab S. 719). 3415 Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 70; vgl. auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 149. Zu knapp die Schlussfolgerung von Esser, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Art. 6 EMRK Rn. 144, dass allein die Beteiligung von Militärrichtern an Strafgerichten die Besorgnis fehlender Unabhängigkeit begründen könne. 3416 Meyer-Ladewig / Harrendorf / König, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 6 Rn. 70; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 93–94, die allerdings ein generelles Verbot befürwortet. 3417 Kosař, Utrecht LR 13 (2017), S. 112 (117) spricht von einem „de facto-Verbot“.

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d) Zwischenfazit Militärgerichte und Militärrichter unterfallen den gleichen Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit wie zivile Gerichte beziehungsweise Richter. Dies gilt sowohl für zivil- und verwaltungsrechtliche Streitigkeiten von Militärangehörigen mit ihren Dienstherren als auch in straf- und disziplinarrecht­ lichen Verfahren gegen Militärangehörige.3418 Die militärische Weisungshierarchie, in die Militärrichter eingebunden sind, waren oder nach Ende ihres richterlichen Mandats zurückkehren, führt jedoch typischerweise zu einer stärkeren Gefährdung der richterlichen Unabhängigkeit, die durch den sonstigen Richterstatus ausgeglichen werden muss. Die ausschlaggebenden Faktoren fasste der EGMR wie folgt zusammen: „The Court reiterates that in its previous cases relating to the determination of the independence of military servicemen engaged in administering justice it has had regard to a number of elements determining their status and the manner of operation of the military courts. These elements included the quality of the procedure under which the military courts operated, in particular as regards confidentiality of deliberations and availability of review by an ordinary court, availability of appropriate training for officers involved in the adjudication of cases; the manner of their appointment, promotion and discipline (in particular, whether those officers remained subject to army appraisal reports and whether those reports could evaluate the quality of their judicial decision-making), and other elements […].“3419

Es ist vorteilhaft für die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, wenn die gesetzlichen Sicherungsmechanismen für Militärrichter mit den für zivile Richter typischen Absicherungen vergleichbar sind,3420 wenn der Spruchkörper gemischt aus zivilen und militärischen Richtern besetzt ist3421 und wenn das Rechtsmittelgericht ausschließlich mit zivilen Richtern besetzt ist. Förderlich ist ebenso, wenn die Richter über eine juristische Ausbildung verfügen und wenn die Richter bereits einen gewissen Dienstgrad erreicht haben. Gleiches gilt für eine längere Amtszeit der Richter, eine richterliche Tätigkeit vor allem gegen Ende der eigenen militärischen Karriere sowie eine Ernennung, die nicht durch die unmittelbaren Vorgesetzten erfolgt.3422

3418 Vgl. auch Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 88–91, die nicht zwischen den verschiedenen Verfahrensarten unterscheidet, obwohl das Ergin-Urteil bereits ergangen war. 3419 EGMR Nr. 32514/12, Mikhno v Ukraine, 01.09.2016, § 166; Nr. 36314/06 u. a., Svitlana Atamanyuk u. a. v Ukraine, 01.09.2016, § 176. 3420 So auch Kühne, in: Pabel / Schmahl, Internationaler Kommentar, Art. 6 Rn. 300 (2009); Kosař, Utrecht LR 13 (2017), S. 112 (117). 3421 Kosař / Lixinski, AJIL 190 (2015), S. 713 (727) schließen aus Cooper v Vereinigtes Königreich und Grieves v Vereinigtes Königreich, dass eine gemischte Zusammensetzung von zivilen und militärischen Richtern zwingend ist. 3422 Siehe die verschiedenen Gesichtspunkte ebenfalls zusammenfassend Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 88–89.

G. Das innerstaatliche Gerichtssystem  

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Das größte und grundsätzlich negative Gewicht auf die richterliche Unabhängigkeit hat jedoch die Einordnung der Militärrichter in die militärische Hierarchie, insbesondere ihre Weisungsgebundenheit und die Auswirkung der richterlichen Tätigkeit auf Leistungsbeurteilungen und spätere Beförderungen.3423 Wie genau sich dieser Aspekt auswirkt, hängt davon ab, ob auch die richterliche Tätigkeit der Militärangehörigen beurteilt wird und welche Konsequenzen an der Beurteilung hängen. Die Weisungsabhängigkeit wirkt besonders gravierend, wenn übergeordnete oder weisungsbefugte Militärangehörige als Parteien am Gerichtsverfahren beteiligt sind. Diese hierarchische Unterordnung ist der Grund, warum der EGMR bei Militärgerichten verhältnismäßig häufig einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK feststellt. Wegen des besonderen Spannungsverhältnisses militärangehöriger Richter zwischen richterlicher Unabhängigkeit und militärischer Hierarchie dürfen die Wertungen des EGMR nicht ohne weiteres auf nicht-militärische Richter und Gerichte übertragen werden. Sollen Militärgerichte über die strafrechtliche Verantwortlichkeit einer Zivilperson entscheiden, ergänzt der EGMR die allgemeinen Voraussetzungen der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit um eine besondere Anforderung: Für den Einsatz von Militär- statt zivilen Richtern muss ein zwingender Grund bestehen, dessen Vorliegen in jedem Einzelfall geprüft werden muss. Darüber hinaus müssen die Sachverhalte die nationale Sicherheit betreffen.3424 Das größere Schutzbedürfnis ergibt sich daraus, dass Zivilpersonen sich nicht freiwillig der militärischen Hierarchie unterworfen haben. Außerdem möchte der EGMR die Gefahr vermeiden, dass Zivilpersonen vor Militärgerichten anders behandelt und härter sanktioniert werden als von zivilen Gerichten. Durch diese strengen Voraussetzungen ist Einsatz von Militärrichtern gegenüber Zivilpersonen regelmäßig konventionswidrig, ohne dass der EGMR ein generelles Verbot aussprechen musste. 4. Verfassungsgerichte Nicht alle Staaten haben eine separate Verfassungsgerichtsbarkeit. Einige Rechtsordnungen weisen allen Gerichten oder dem obersten ordentlichen Gericht die Aufgabe der Verfassungsmäßigkeitskontrolle zu.3425 Unabhängig davon, welchem Organ die innerstaatliche Rechtsordnung die Verfassungsmäßigkeitskontrolle zuschreibt – ob das jeweilige Organ ein Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK ist, hängt von der Subsumtion unter die Gerichtsmerkmale ab. 3423 So auch Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 58, die von einer „faktischen Weisungsunabhängigkeit“ spricht, sich allerdings allein auf das Urteil Incal v Türkei bezieht; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 149–153; Le Bonniec, RFDC 106 (2016), S. 335 (346). 3424 Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 91. 3425 Popović, Judicial Review of Legislation, in: Hänni, FS Fleiner, S. 559 (564–566) unterscheidet zwischen dem american pattern, wonach jedes Gericht die Kompetenz zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit hat und dem european pattern, wonach es ein spezialisiertes Organ gibt.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK kann in Anwendung der allgemeinen Rechtsprechungsprinzipien auch bei verfassungsrechtlichen Streitigkeiten eröffnet sein.3426 Allein aus dem verfassungsrechtlichen Charakter einer Streitigkeit ergibt sich die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK aber nicht.3427 Ist in verfassungsrechtlichen Streitigkeiten der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK eröffnet, muss eine nach nationalem Recht zuständige gerichtliche Instanz den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK entsprechen.3428 Soweit dem verfassungsgerichtlichen Verfahren ein Verfahren vor den ordentlichen oder den Verwaltungsgerichten vorausgeht,3429 dürfte sich das Recht auf Zugang zum Gericht typischerweise nicht mehr auf letztinstanzliche Verfassungsgerichte erstrecken. Jedenfalls verpflichtet die EMRK die Konventionsstaaten nicht zur Einrichtung einer eigenständigen Verfassungsgerichtsbarkeit. Ist in der konventionsstaatlichen Rechtsordnung jedoch ein verfassungsrecht­ liches Verfahren vorgesehen, dann gelten – wie im Rechtsmittelverfahren innerhalb des allgemeinen Instanzenzuges3430 – die institutionellen und verfahrensrechtlichen Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK, die jedoch an die Besonderheiten des verfassungsgerichtlichen Verfahrens angepasst sein dürfen.3431 So sollte für die Gerichtsqualität unschädlich sein, wenn die verfassungsgerichtliche Prüfungs­ befugnis auf verfassungsrechtliche Erwägungen beschränkt ist. Von den Grundsätzen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit darf jedoch nicht abgewichen werden. Soweit ersichtlich, waren die institutionellen Besonderheiten von Verfassungsgerichten jedoch noch nicht Gegenstand einer EGMR-Entscheidung.3432

3426

Siehe die Nachweise in Fn. 2002. EGMR Nr. 34932/04, Paksas v Litauen (GK), 06.01.2011, § 66 (keine Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK für die Streitigkeiten über das Amtsenthebungsverfahren gegen den Staatspräsidenten). 3428 Siehe zu dem auf Zugang zu einer gerichtlichen Instanz beschränkten Gewährleistungsgehalt des Art. 6 Abs. 1 EMRK ab S. 695. 3429 Diese Voraussetzung besteht jedenfalls für die Verfassungsbeschwerde nach deutschem Recht, § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG. Vgl. auch EGMR Nr. 20024/92, Süssmann v Deutschland (GK), 16.09.1996, § 40, wo der EGMR von vorherigen Urteilen zur überlangen Verfahrensdauer vor Verfassungsgerichten abgrenzte, weil im konkreten Fall ausnahmsweise keine Verfahren im ordentlichen Instanzenzug vorlagen. 3430 Siehe hierzu ab S. 695. 3431 Für die verfahrensrechtlichen Anforderungen EGMR Nr. 12952/87, Ruiz-Mateos v Spanien (Pl.), 23.06.1993, §§ 61–68; Nr. 20024/92, Süssmann v Deutschland (GK), 16.09.1996, §§ 47–62; Nr. 20950/92, Probstmeier v Deutschland, 01.07.1997, § 48; Nr. 16563/11, Arribas Antón v Spanien, 20.01.2015, § 50; Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 767; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 19. Siehe bei Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 138–139 für einen Überblick zu typischen Verfahrensrechten, die im Kontext verfassungsgerichtlicher Verfahren relevant werden. 3432 In der Sache EGMR Nr. 4907/18, Xero Flor w Polsce sp. z o. o. v Polen, 07.05.2021 (siehe hierzu bereits ab S. 316) ging es nicht um die Anforderungen an die Besetzung des Verfassungsgerichts, sondern an die Rechtmäßigkeit des Besetzungsverfahrens. 3427

G. Das innerstaatliche Gerichtssystem  

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5. Berufsständische Disziplinarorgane Berufsständische Disziplinarverfahren eröffnen den zivilrechtlichen Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK.3433 Dem Recht auf Zugang zum Gericht wird einerseits entsprochen, wenn ein Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK die Disziplinarmaßnahmen kontrolliert.3434 In diesem Fall ist die institutionelle Ausgestaltung des Disziplinarorgans aus konventionsrechtlicher Perspektive irrelevant. Den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK wird andererseits auch entsprochen, wenn das Disziplinarorgan selbst die Gerichtsmerkmale des Art. 6 Abs. 1 EMRK erfüllt.3435 Die Beispiele Debled v Belgien, Gubler v Frankreich und Frankowicz v Polen haben gezeigt, dass berufsständische Disziplinarkammern so ausgestaltet sein können, dass sie tatsächlich alle Gerichtsmerkmale erfüllen.3436 In diesem Fall muss eine Disziplinarmaßnahme nicht durch eine weitere Instanz kontrolliert werden können. Die berufsständischen Kammern und deren Disziplinarorgane wurden in den vom EGMR entschiedenen Fällen durch parlamentarische Gesetze eingerichtet oder ermöglicht.3437 Allerdings prüfte der EGMR das Vorliegen eines formellen Gesetzesvorbehalts in keinem Urteil ausdrücklich.3438 Auch die Prüfungs- und Entscheidungskompetenz der Gerichte erwähnte der Gerichtshof nicht. Spannend aus organisatorischer Sicht war regelmäßig die „objektive und strukturelle Unparteilichkeit“ der berufsständischen Disziplinarkammern.3439 Unter diesem Stichwort prüfte der EGMR, ob das Ernennungsverfahren und die weite 3433

Siehe die Nachweise in Fn. 2015. Siehe hierzu ab S. 445. 3435 EGMR Nr. 7299/75 und 7496/76, Albert und Le Compte v Belgien (Pl.), 10.02.1983, § 29; Nr. 21257/93 u. a., Gautrin u. a. v Frankreich, 20.05.1998, § 57; Nr. 69742/01, Gubler v Frankreich, 27.06.2007, § 25; Nr. 53025/99, Frankowicz v Polen, 16.12.2008, § 60. 3436 EGMR Nr. 13829/88, Debled v Belgien, 22.09.1994, §§ 22–25; Nr. 69742/01, Gubler v Frankreich, 27.07.2006, §§ 25–31; Nr. 53025/99, Frankowicz v Polen, 16.12.2008, §§ 60–67. Siehe außerdem EGMR Nr. 7299/75 und 7496/76, Albert und Le Compte v Belgien (Pl.), 10.02.1983, §§ 29–32 (eine Konventionsverletzung lag hier nur wegen des Verstoßes gegen das Recht auf ein öffentliches Verfahren vor); Nr. 8950/80, H v Belgien (Pl.), 30.11.1987, §§ 50–52 (Konventionsverletzung nur wegen Verfahrensfehlern, nicht wegen fehlender Gerichtseigenschaften); Nr. 21257/93 u. a., Gautrin u. a. v Frankreich, 20.05.1998, §§ 57–60 (Konventionsverletzung nur wegen der Besetzung des Gerichts); siehe hierzu auch Esser, Strafverfahrensrecht, S. 566–568 (nicht nur bezogen auf die Disziplinarkammern, sondern auch die Besetzung durch Laienrichter). 3437 EGMR Nr. 13829/88, Debled v Belgien, 22.09.1994, § 36; Nr. 69742/01, Gubler v Frankreich, 27.07.2006, § 20; Nr. 53025/99, Frankowicz v Polen, 16.12.2008, §§ 19–20. 3438 In EGMR Nr. 13829/88, Debled v Belgien, 22.09.1994, §§ 32–33 brachte der Beschwerdeführer die fehlende gesetzliche Grundlage erst beim EGMR, nicht aber schon bei der EKMR vor, sodass der EGMR diesen Punkt nicht prüfen durfte. 3439 Mit dieser Formulierung EGMR Nr. 13829/88, Debled v Belgien, 22.09.1994, § 36; Nr. 53025/99, Frankowicz v Polen, 16.12.2008, § 64. Siehe auch EGMR Nr. 7299/75 und 7496/76, Albert und Le Compte v Belgien (Pl.), 10.02.1983, § 32: „impartiality judged from an objective and organisational point of view“. 3434

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

ren Sicherungsmechanismen das Disziplinarorgan unabhängig und unparteilich erscheinen ließen. Typischerweise problematisch war die Beteiligung der beruflichen Selbstverwaltungskörperschaften an der richterlichen Ernennung.3440 Dies ist so lange unschädlich für die richterliche Unabhängigkeit, wie ein Richter nicht als Repräsentant des Ernennungsorgans auftritt. Außerdem handelte es sich bei den Richtern – jedenfalls teilweise – um Berufsträger der jeweiligen Selbstverwaltungskörperschaft und nicht um juristisch ausgebildete Berufsrichter. In den vom EGMR entschiedenen Fällen war jedoch stets mindestens ein Richter juristisch ausgebildet. Damit standen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des gesamten Spruchkörpers nicht mehr in Frage.3441 Auch die Tatsache, dass die Richter dem gleichen Berufsstand wie die Prozessparteien angehörten, schadete der richterlichen Unparteilichkeit nicht.3442 6. Richterräte Genauso wie berufsständische Disziplinarkammern können auch Richterräte Gerichtsqualität besitzen. Erfüllen Richterräte die Gerichtsmerkmale, muss eine durch sie getroffene Disziplinarentscheidung nicht mehr durch ein weiteres Gericht überprüfbar sein. Die grundsätzliche Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Disziplinarverfahren gegen Richter steht seit der Vilho Eskelinen-Rechtsprechung fest.3443 Die Prüfung des ersten Eskelinen-Kriteriums, also ob der Konventionsstaat in der nationalen Rechtsordnung explizit den Zugang zum Gericht für das konkrete Disziplinarverfahren ausgeschlossen hat,3444 führt dazu, dass die Gerichtsqualität von Richterräten häufig jedenfalls teilweise in der Eröffnung des Anwendungsbereichs geprüft wird.3445 Die Konventionsstaaten gestalten ihre Richterräte sehr unterschiedlich aus.3446 Gleichwohl zeigt das Urteil di Giovanni v Italien, dass es Richterräte gibt, welche die Gerichtsmerkmale des Art. 6 Abs. 1 EMRK erfüllen, in diesem Fall die Disziplinarkammer des obersten Richterrates. Der EGMR stellte auf die gesetz­ liche Grundlage, die Prüfungskompetenz sowie das vorgesehene Verfahren ab, das eine Beweisaufnahme ermöglichte und öffentlich war.3447 Im Rahmen der Prüfung der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sprach der EGMR die be 3440

Siehe dazu bereits oben S. 529. Siehe dazu bereits oben ab S. 549. 3442 Siehe hierzu bereits oben ab S. 579. 3443 Siehe hierzu bereits ausführlich ab S. 440. 3444 Siehe das wörtliche Zitat zu Fn. 2027. 3445 So zum Beispiel bei EGMR Nr. 22330/05, Olujić v Kroatien, 05.02.2009, §§ 37–43; Nr. 45729/05, Sturua v Georgien, 28.03.2017, § 27. 3446 Siehe die Nachweise in Fn. 2402. 3447 EGMR Nr. 51160/06, di Giovanni v Italien, 09.07.2013, § 53. 3441

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kannten Aspekte an – eine vierjährige Amtszeit, die Unabsetzbarkeit, keine hierarchische Abhängigkeit, ausreichende gesetzliche Garantien.3448 Allein die Tatsache, dass Richter über Disziplinarmaßnahmen gegen andere Richter entschieden, schadete der Unparteilichkeit ebenfalls nicht.3449 Da der Richter, gegen den die Beschwerdeführerin unsubstantiierte Gerüchte verbreitet hatte, kein Mitglied der Disziplinarkammer war, lag auch keine Befangenheit wegen persönlicher Betroffenheit vor.3450 In den meisten Urteilen lehnte der EGMR die Gerichtsqualität von Richterräten jedoch ab. In verschiedenen Fällen gegen Mazedonien ordnete der EGMR den State Judicial Council nicht als Gericht ein, weil in den Verfahren gegen die beiden Beschwerdeführer jeweils die Person, die das vermeintliche professionale Fehlverhalten der Beschwerdeführer gemeldet und damit das Verfahren in Gang gesetzt hatte, Teil des Spruchkörpers war. Parallel zur Rechtsprechung über die Rolle der Staatsanwaltschaft im gerichtlichen Verfahren lag keine ausreichende Trennung zwischen Anklageorgan und Gericht vor. Hierbei war es unerheblich, dass nur eins von fünfzehn Mitgliedern des Richterrates voreingenommen war.3451 In Sturua v Georgien scheiterte die Einordnung des in zweiter Instanz zuständigen Disziplinarrats daran, dass vier seiner acht Mitglieder bereits in erster Instanz an der Verhängung der Disziplinarmaßnahme beteiligt waren und somit ihre eigene Entscheidung kontrollierten.3452 Gleichwohl stellte der EGMR bei der Prüfung der Vilho Eskelinen-Kriterien fest, dass der Disziplinarrat eine „judikative Funktion“ (judicial function) ausübte. Soweit es aus dem Urteil erkennbar ist, scheiterte die Einordnung des Disziplinarrats als Gericht allein an der erstinstanzlichen Vorbefassung der Richter. Eine solche könnten die Konventionsstaaten durch entsprechende organisatorische Vorschriften aber leicht vermeiden. In Olujić v Kroatien3453 prüfte der EGMR alle Gerichtsmerkmale bis auf die Unparteilichkeit im Rahmen der Eskelinen-Formel. Der EGMR legte Wert auf das Vorliegen eines formellen Gesetzes und die Anwendbarkeit der strafprozessualen Verfahrensordnungen.3454 „As to the NJC’s independence, the Court notes that the resources for its functioning are secured in the State Budget and allocated by Parliament. Distribution of these resources is in the hands of the President of the NJC. It is independent of the executive and its members 3448

EGMR Nr. 51160/06, di Giovanni v Italien, 09.07.2013, § 57. EGMR Nr. 51160/06, di Giovanni v Italien, 09.07.2013, § 57. 3450 EGMR Nr. 51160/06, di Giovanni v Italien, 09.07.2013, § 58. 3451 EGMR Nr. 6899/12, Mitrinovski v Mazedonien, 30.04.2015, §§ 38–46; Nr. 69916/10 und 36531/11, Poposki und Duma v Mazedonien, 07.01.2016, §§ 44–49; Nr. 48783/07, Gerovska Popčevska v Mazedonien, 07.01.2016, §§ 47–56; Nr. 56381/09 und 58738/09, Jakšovski and Trifunovski v Mazedonien, 07.01.2016, §§ 40–45. 3452 EGMR Nr. 45729/05, Sturua v Georgien, 28.03.2017, § 35. 3453 Siehe hierzu Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 194; Aquilina, IHRLR 3 (2014), S. 248 (258–260). 3454 EGMR Nr. 22330/05, Olujić v Kroatien, 05.02.2009, §§ 38–39, 41. 3449

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

are not bound by any instruction in the exercise of their functions. They are appointed by Parliament for an eight-year term of office and enjoy the same immunities as judges. They are elected from among the members of the judiciary, the State Attorney’s Office, the Croatian Bar Association and law professors, and are all to be persons of high standing. They act in their personal capacity and do not take orders in the exercise of their powers, and swear an oath that they will abide by the Constitution and the laws. They can be dismissed by Parliament only for the reasons specifically enumerated in the National Judicial Council Act and in compliance with the procedure prescribed by that Act.“3455

Bei der Unabhängigkeitsprüfung im Rahmen der Eröffnung des Anwendungsbereichs konzentrierte sich der EGMR auf strukturelle Fragen. Im Rahmen des Gewährleistungsgehalts ging der EGMR auf die persönliche Befangenheit dreier Richter ein, die sich nach der Disziplinarentscheidung durch den Richterrat öffentlich abfällig gegenüber dem Beschwerdeführer geäußert hatten.3456 Dass die strukturellen Fragen im Rahmen der Unabhängigkeit und die einzelfallbezogenen Fragen eher im Rahmen der Unparteilichkeit thematisiert werden, entspricht der grundsätzlichen, wenngleich nicht immer durchgehaltenen Unterscheidung dieser beiden Merkmale.3457 Die Sache Volkov v Ukraine3458 ist schließlich aus institutioneller Perspektive besonders spannend, weil der EGMR abstrakte – und weitgehende – Vorgaben für die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von richterlichen Disziplinarorganen mit Gerichtsqualität formulierte.3459 Der Richterrat muss zu einem erheblichen Anteil mit Richtern besetzt sein (substantial representation of judges).3460 Hierbei stützte sich der EGMR auf ein altes Zitat aus Le Compte, van Leuven und de Meyere v Belgien, wonach ein starker Indikator für die Unparteilichkeit vorliegt, wenn mindestens die Hälfte der Mitglieder eines gerichtlichen Spruchkörpers Berufsrichter sind.3461 Vorliegend waren unter den sechzehn Richtern, die über die Entlassung des Beschwerdeführers entschieden, nur drei Berufsrichter.3462 Daneben forderte der EGMR eine Reduzierung des politischen Einflusses bei der Zusammensetzung des Richterrates, sodass mindestens die Hälfte der Richter durch Organe der richterlichen Selbstverwaltung ernannt werden sollten. Auch dies war vorliegend nicht der Fall, weil viele, gerade die nicht-richterlichen Mitglieder des Richter 3455

EGMR Nr. 22330/05, Olujić v Kroatien, 05.02.2009, § 40. EGMR Nr. 22330/05, Olujić v Kroatien, 05.02.2009, §§ 61–67. 3457 Siehe zur unklaren Abgrenzung ab S. 430. 3458 Siehe hierzu Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 196–197; Kosař / Lixinski, AJIL 190 (2015), S. 713 (756); Aquilina, IHRLR 3 (2014), S. 248 (260–262). 3459 Dieses Verständnis auch bei EGMR Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, § 68. 3460 EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 109; dem folgend Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, § 68; Nr. 55391/13, 57728/13 und 74041/13, Ramos Nunes de Carvalho e Sá v Portugal (GK), 06.11.2018, § 75. 3461 EGMR Nr. 6878/75 und 7238/75, Le Compte, van Leuven und de Meyere v Belgien (Pl.), 23.06.1981, § 58. 3462 EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 111. 3456

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rates von Regierungsorganen ernannt wurden. Zudem waren der Justizminister oder Oberste Staatsanwalt ex officio Mitglieder des Richterrates.3463 Schließlich kritisierte der EGMR, dass nur vier Personen hauptamtliche Mitglieder des Richterrates waren.3464 „The other members continue to work and receive a salary outside the HCJ, which inevitably involves their material, hierarchical and administrative dependence on their primary employers and endangers both their independence and impartiality. In particular, in the case of the Minister of Justice and the Prosecutor General, who are ex officio members of the HCJ, the loss of their primary job entails resignation from the HCJ.“3465

Daneben konnten die Zweifel hinsichtlich der Unparteilichkeit des Richterrates auch auf die Beteiligung einzelner Mitglieder des Richterrates gestützt werden. „In particular, the Prosecutor General is placed at the top of the hierarchy of the prosecutorial system and supervises all prosecutors. In view of their functional role, prosecutors participate in many cases which judges have to decide. The presence of the Prosecutor General on a body concerned with the appointment, disciplining and removal of judges creates a risk that judges will not act impartially in such cases or that the Prosecutor General will not act impartially towards judges of whose decisions he disapproves […]. The same is true with respect to the other members of the [High Council of Justice] appointed by the All-Ukrainian Conference of Prosecutors on a quota basis.“3466

Schließlich waren auch die Richter, die das Verfahren gegen den Beschwerdeführer in Gang gesetzt hatten, und ein Richter, der sich öffentlich gegen den Beschwerdeführer geäußert hatte, Mitglieder des Richterrates.3467 In Denisov v Ukraine bestätigte der EGMR sein Volkov-Urteil.3468 In beiden Fällen ging es um den gleichen Richterrat. Gleichwohl zeigen die Urteile Sturua und Poposki, die beide zeitlich zwischen Volkov und Denisov ergingen, dass Volkov kein Leiturteil ist, nach dem sich fortan die gesamte Rechtsprechung richtet. Während der EGMR in den übrigen Urteilen die allgemeinen Voraussetzungen der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit anwendete, formulierte der EGMR in Volkov strengere Voraussetzungen. Gerade die ersten drei in Volkov formulierten Anforderungen – die substanzielle Beteiligung von Richtern, die Ernennung durch nicht-richterliche Organe und die hauptberufliche Tätigkeit – formen einen engen Rahmen für die konventionsstaatlichen institutionellen Entscheidungen. Auch wenn sich der EGMR auf Le Compte, van Leuven und de Meyere v Belgien stützte, so ergibt sich doch aus der aktuellen Rechtsprechungslage höchstens, dass ein Spruchkörper mindestens mit einem Be-

3463

EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, §§ 110, 112. EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 113. 3465 EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 113. 3466 EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 114. 3467 EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, §§ 115–116. 3468 EGMR Nr. 76639/11, Denisov v Ukraine (GK), 25.09.2018, §§ 68–72. 3464

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

rufsrichter besetzt sein muss, aber kein darüber hinausgehendes Quorum.3469 Auch die hauptberufliche richterliche Tätigkeit thematisiert der EGMR ansonsten nicht. Ebenso kann eine Richterernennung durch exekutive Organe zwar Zweifel an der richterlichen Unabhängigkeit wecken, jedoch für sich genommen nicht zu einem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK führen.3470 Eine solche Abweichung von den ansonsten anerkannten Rechtsprechungsprinzipien könnte sich dadurch erklären, dass die unabhängige Gerichtsbarkeit durch die Disziplinarentscheidung besonders gefährdet ist. Dies ist dann der Fall, wenn  – wie in Volkov v Ukraine3471  – nach der disziplinarischen Entscheidung durch den Richterrat kein weiteres Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK zur Verfügung steht. Können die sanktionierten oder entlassenen Richter hingegen nach der Disziplinarentscheidung ein weiteres Gericht anrufen, so wird die unabhängige Gerichtsbarkeit bereits dadurch geschützt, dass die Disziplinarmaßnahme oder Entlassung einer unabhängigen Kontrolle unterliegt. In diesem Fall besteht kein Anlass für strengere Voraussetzungen nach Art. 6 Abs. 1 EMRK. Sofern der EGMR also an den strengen Volkov-Voraussetzungen festhält, ist davon auszugehen, dass er diese allein für Disziplinarentscheidungen durch Richterräte mit vermeintlicher Gerichtsqualität verlangt, nicht aber für anschließende gerichtliche Rechtsbehelfe. Auf der Grundlage des Volkov-Urteils ist die institutionelle Ausgestaltung von Richterräten mit Gerichtsqualität, nach deren Entscheidung kein weiterer Rechtsbehelf mehr zur Verfügung steht, klar vorbestimmt.3472 7. Verwaltungsspruchkörper Durch die späte Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Österreich hatte der EGMR die Möglichkeit, sich mehrfach mit der Gerichtsqualität von Verwaltungsspruchkörpern auseinanderzusetzen. Gemeint sind streitentscheidende Vergabekammern innerhalb von Verwaltungsbehörden. Haben Verwaltungsspruchkörper selbst Gerichtsqualität, dann erfüllt  – wie bei Disziplinarkammern mit Gerichtsqualität – bereits das vor ihnen geführte Verfahren die Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK, Zugang zu einer gerichtlichen Instanz zu ermöglichen. Eine Kontrolle dieser durch ein Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK getroffenen Verwaltungsentscheidung ist dann nicht erforderlich. Das Urteil Ettl v Österreich bewies, dass auch Verwaltungsspruchkörper Gerichtsqualität haben können. Im konkreten Fall ging es um den Landesagrarsenat (Provincial Land Reform Board) und den Obersten Agrarsenat (Supreme Land 3469

Siehe hierzu ab S. 549. Siehe zur Ernennung von Richtern durch exekutive Organe oben ab S. 523. 3471 Eine Heilung in zweiter Instanz scheiterte, EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, §§ 123–131. 3472 Kritisch Kosař / Lixinski, AJIL 190 (2015), S. 713 (756), die von micromanagement des EGMR sprechen. 3470

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Reform Board), die jeweils gemischt mit Richtern und Beamten besetzt waren.3473 Im Fokus der Entscheidung standen in beiden Spruchkörpern die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Beamten. Diese waren für eine Amtszeit von fünf Jahren unabsetzbar im Amt. Beamte standen zwar grundsätzlich in einem hierarchischen Abhängigkeitsverhältnis. Für ihre richterliche Tätigkeit waren die Unabhängigkeit von Exekutive und Parteien sowie ihre Weisungsfreiheit gesetzlich abgesichert. Zudem befürwortete der EGMR den Einsatz von Expertenrichtern in komplizierten Sachverhalten. Insgesamt lag kein Mangel der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit vor.3474 Gleiches gilt für weitere Beschwerden über österreichische Verwaltungsspruchkörper.3475 Die Einordnung des Beamten in die exekutive Hierarchie begründet stets einen Anhaltspunkt, die richterliche Unabhängigkeit in Zweifel zu ziehen.3476 Allerdings können besondere Schutzmaßnahmen die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gleichwohl herstellen, wie die Urteile gegen Österreich zeigen. Normale Verwaltungsbehörden können wegen der Kontrolle durch die Regierung und der fehlenden Weisungsfreiheit typischerweise den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht entsprechen.3477 8. Staatsräte Die Staatsräte in den Benelux-Ländern und Frankreich vereinigen die Beratung des parlamentarischen Gesetzgebers mit einer verwaltungsgerichtlichen Tätigkeit in einem Organ.3478 Ihre institutionelle Ausgestaltung hat sich durch die Rechtsprechung des EGMR verändert.3479 3473

EGMR Nr. 9273/81, Ettl u. a. v Österreich, 23.04.1987, §§ 8–10, 17–18, 35–36. EGMR Nr. 9273/81, Ettl u. a. v Österreich, 23.04.1987, §§ 37–41. 3475 EGMR Nr. 11796/85, W v Österreich (Zul.), 10.07.1989; Nr. 14696/89 und 14697/89, Stallinger und Kuso v Österreich, 23.04.1997, § 37; Nr. 27648/95, Pfleger v Österreich (Zul.), 24.11.1998; Nr. 29544/95, Entleitner v Österreich, 01.08.2000, § 17; Nr. 38185/97, Alge v Österreich (Zul.), 10.04.2003; Nr. 67950/01, Rozsa v Österreich (Zul.), 06.04.2004; Nr. 30003/02, Stojakovic v Österreich, 09.11.2006, §§ 27, 49–50; Nr. 20087/06, Stechauner v Österreich, 28.01.2010, §§ 22, 55–60; Nr. 17169/96, Feller v Österreich (Zul.), 04.02.2010. 3476 Siehe hierzu bereits oben ab S. 600. 3477 EGMR Nr. 26138/95, Lauko v Slowakei, 02.09.1998, § 64; Nr. 27061/95, Kadubec v Slowakei, 02.09.1998, § 57; Nr. 33071/96, Malhous v Tschechien (GK), 12.07.2001, § 57; Nr. 47227/99, Baková v Slowakei, 15.11.2002, § 32; Nr. 54723/00, Brudnicka u. a. v Polen, 03.03.2005, § 41; Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 88 Rn. 301; Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 181. 3478 Siehe bereits die Nachweise in Fn. 2619. 3479 Siehe etwa die in EGMR Nr. 39343/98 u. a., Kleyn u. a. v Niederlande (GK), 06.05.2003, §§ 142–145 dargestellte Reaktion der Niederlande auf das Procola-Urteil. Vgl. auch Popović, ECtHR and the Concept of Separation of Powers, in: Prabhakar, The Separation of Powers, S. 194; Spielmann, Luxembourg, in: Blackburn / Polakiewicz, Fundamental Rights in Europe, S. 531 (556–557). 3474

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Entscheidend für die Gerichtsqualität von Staatsräten ist ausschließlich, ob das Organ in seiner rechtsprechenden Funktion alle Gerichtsmerkmale erfüllt.3480 Das Urteil Kleyn v Niederlande, in dem der EGMR keinen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK feststellte,3481 zeigte, dass die Doppelfunktion der Staatsräte als solche nicht gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstößt.3482 „Toutefois, le simple fait qu’une institution cumule des fonctions consultatives et des fonctions juridictionnelles ne suffit pas pour mettre en cause l’impartialité de cette institution exerçant ses fonctions juridictionnelles […].“3483

Dies entspricht der Rechtsprechungslinie, dass die EMRK die Konventionsstaaten nicht verpflichtet, sich einem bestimmten theoretischen Gewaltenteilungskonzept zu unterwerfen.3484 Die Konventionsstaaten müssen lediglich dafür sorgen, dass die Bündelung verschiedener hoheitlicher Funktionen in einem Organ nicht zu einer unzulässigen Vorbefassung eines Richters führt. „Il lui revient seulement de déterminer dans chaque espèce si l’avis rendu par la haute juridiction  a constitué ‚une sorte de préjugement‘ de l’arrêt  critiqué, entraînant un doute sur l’impartialité ‚objective‘ de la formation de jugement du fait de l’exercice successif des fonctions consultatives et juridictionnelles […].“3485

Problematisch in den ersten Urteilen war die Beteiligung der gleichen Richter sowohl im Beratungs- als auch im Gerichtsverfahren.3486 In Kleyn v Niederlande formulierte der EGMR den Grundsatz, dass Richter vorbefasst sind, wenn sie zuvor in einer anderen hoheitlichen Funktion mit demselben Fall oder derselben Entscheidung befasst waren.3487 Die Vorbefassung war danach unzulässig, wenn 3480

Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 32. EGMR Nr. 39343/98 u. a., Kleyn u. a. v Niederlande (GK), 06.05.2003, § 202. 3482 Auch in den Folgeurteilen lag keine Vorbefassung der zuständigen Richter im Beratungsverfahren und somit kein Verstoß gegen Art. 6 EMRK vor, EGMR Nr. 39699/03, Union fédérale des Consommateurs Que Choisir de Côte d’Or v Frankreich (Zul.), 30.06.2009; Nr. 34538/08 u. a., Greneche u. a. v Frankreich (Zul.), 15.10.2013, § 24; Nr. 33014/08 u. a., Ryon u. a. v Frankreich, 15.10.2013, § 30; Nr. 32191/09, Adefdromil v Frankreich, 02.10.2014, §§ ­65–66. Auch das Schrifttum sieht in der Doppelfunktion des Staatsrates keinen Konventionsverstoß, Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 94; Masterman, Separation of Powers, S. 80; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 143–144; Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33 (44). 3483 EGMR Nr. 34538/08 u. a., Greneche u. a. v Frankreich (Zul.), 15.10.2013, § 24. Vergleiche in anderem Kontext ein ähnliches Zitat bereits in EGMR Nr. 8950/80, H v Belgien (Pl.), 30.11.1987, § 50. 3484 So in diesem Zusammenhang auch bei EGMR Nr. 39343/98 u. a., Kleyn u. a. v Niederlande (GK), 06.05.2003, § 193; Nr. 65411/01, Sacilor Lormines v Frankreich, 09.11.2006, § 71; Nr. 39699/03, Union fédérale des Consommateurs Que Choisir de Côte d’Or v Frankreich (Zul.), 30.06.2009; ähnlich, wenn auch ohne Bezug zur Gewaltenteilung bei EGMR Nr. 28488/95, McGonnell v Vereinigtes Königreich, 08.02.2000, § 51. 3485 EGMR Nr. 39699/03, Union fédérale des Consommateurs Que Choisir de Côte d’Or v Frankreich (Zul.), 30.06.2009; Nr. 8615/08, Escoffier v Frankreich (Zul.), 08.03.2011. 3486 Siehe hierzu bereits ab S. 562. 3487 EGMR Nr. 39343/98 u. a., Kleyn u. a. v Niederlande (GK), 06.05.2003, §§ 199–200. 3481

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erstens ein Richter in beiden Verfahren beteiligt war und zweitens in beiden Verfahren die gleichen rechtlichen Fragen entschieden wurden.3488 Der EGMR beurteilt also die Beteiligung einzelner Personen an zwei verschiedenen hoheitlichen Funktionen, nicht die kompetenzielle Ausstattung des Organs.3489 Die Konventionsstaaten, deren Rechtsordnungen einen Staatsrat können, müssen ihre Zuständigkeitsordnungen also so ausgestalten, dass eine personale Überschneidung zwischen Beratungs- und Rechtsprechungstätigkeit innerhalb des Staatsrates vermieden wird und dass es für Zweifelsfälle ein wirksames Verfahren für die Prozessparteien gibt, die Vorbefassung des Richters geltend zu machen. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, bestehen keine Bedenken an der Gerichtsqualität des Staatsrates. Das Urteil Diennet v Frankreich zeigt, dass die Gerichtsqualität der Staatsräte abhängig vom Einzelfall beurteilt werden muss. Der französische Conseil d’Etat war neben seiner verwaltungsgerichtlichen und beratenden Tätigkeit auch für Rechtsmittelverfahren gegen von der ärztlichen Selbstverwaltungskörperschaft verhängte Disziplinarmaßnahmen zuständig.3490 In dieser Funktion durfte der Staatsrat die Verhältnismäßigkeit der Sanktion nicht prüfen, sodass der Conseil d’Etat keine ausreichende Prüfungskompetenz hatte. Das Verfahren vor dem Conseil d’Etat erfüllte die Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht und konnte daher den Fehler der erstinstanzlichen Disziplinarkammer nicht heilen.3491 Selbst wenn der Conseil d’Etat also in seiner verwaltungsgerichtlichen Funktion typischerweise alle Gerichtsmerkmale erfüllt, kann dies im Einzelfall ausnahmsweise nicht der Fall sein.

3488 Beide Kriterien geprüft bei EGMR Nr. 65411/01, Sacilor Lormines v Frankreich, 09.11.2006, §§ 72–74; in der Folge prüfte der EGMR nicht mehr, ob „der gleiche Fall“ vorlag, wenn in beiden Verfahrensabschnitten keine Überschneidungen der persönlich beteiligten Hoheitsträger vorlagen, EGMR Nr. 39699/03, Union fédérale des Consommateurs Que Choisir de Côte d’Or v Frankreich (Zul.), 30.06.2009; Nr. 34538/08 u. a., Greneche u. a. v Frankreich (Zul.), 15.10.2013, § 24; Nr. 33014/08 u. a., Ryon u. a. v Frankreich, 15.10.2013, § 30; Nr. 32191/09, Adefdromil v Frankreich, 02.10.2014, § 65. Siehe auch Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 114; Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 146 Rn. 94 geht davon aus, dass allein eine personelle Überschneidung bereits zum Konventionsverstoß führt. 3489 Dies wird auch deutlich bei Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 138–144, welche die Ausübung zweier Funktionen durch eine Person untersucht und somit die Fälle der StaatsratsRechtsprechung mit den Fällen der Inkompatibilität zusammenfasst. 3490 EGMR Nr. 18160/91, Diennet v Frankreich, 26.09.1995, §§ 16–17. 3491 EGMR Nr. 18160/91, Diennet v Frankreich, 26.09.1995, §§ 34–35; dem folgend EGMR Nr. 69742/01, Gubler v Frankreich, 27.07.2006, § 26; Nr. 32976/04, Merigaud v Frankreich, 24.09.2009, § 69.

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9. Supervisionsorgane der Verwaltung In Campbell und Fell v Vereinigtes Königreich war das Board of Visitors nicht nur für die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen gegen Strafgefangene zuständig. Es hörte auch Beschwerden der Strafgefangenen an, überwachte die Gefängnisverwaltung und die Behandlung der Strafgefangenen und berichtete hierüber an den Innenminister.3492 Die Unabhängigkeit der einzelnen Richter war nicht gefährdet, obwohl der Innenminister einerseits für ihre Ernennung zuständig war und andererseits Leitlinien für die Tätigkeit des Board of Visitors erlassen durfte. Die Regelungen zur Amtszeit und zur Unabsetzbarkeit entsprachen den konventionsrechtlichen Vorgaben.3493 Da der EGMR keinen Mangel an richterlicher Unabhängigkeit feststellen konnte, war er anschließend gezwungen, die – einzelfallunabhängige – Doppelfunktion des Spruchkörpers zu untersuchen. Als Supervisionsorgan stand das Board sowohl mit der Gefängnisverwaltung als auch mit den Gefangenen in Kontakt. „The impression which prisoners may have that Boards are closely associated with the executive and the prison administration is a factor of greater weight, particularly bearing in mind the importance in the context of Article 6 […] of the maxim ‚justice must not only be done: it must also be seen to be done‘. However, the existence of such sentiments on the part of inmates, which is probably unavoidable in  a custodial setting, is not sufficient to establish a lack of ‚independence‘. This requirement of Article 6 […] would not be satisfied if prisoners were reasonably entitled, on account of the frequent contacts between a Board and the authorities, to think that the former was dependent on the […]; however, the Court does not consider that the mere fact of these contacts, which exist also with the prisoners themselves, could justify such an impression.“3494

Der EGMR verlangte also neben der Doppelfunktion weitere Anhaltspunkte, die auf eine tatsächliche Unabhängigkeit im Einzelfall hindeuteten. Die Doppelfunktion alleine begründete keinen Konventionsverstoß. Der Verweis auf den besonderen Kontext der Strafgefangenen (in a custodial setting) zeigt aber, dass diese Schlussfolgerung nicht verallgemeinert werden darf.3495

3492

EGMR Nr. 7819/77 und 7878/77, Campbell und Fell v Vereinigtes Königreich, 28.06.1984,

§ 33.

3493

EGMR Nr. 7819/77 und 7878/77, Campbell und Fell v Vereinigtes Königreich, 28.06.1984, §§ 79–80. 3494 EGMR Nr. 7819/77 und 7878/77, Campbell und Fell v Vereinigtes Königreich, 28.06.1984, § 81. 3495 Vgl. auch die Erwägungen zur Unparteilichkeit in EGMR Nr. 7819/77 und 7878/77, Campbell und Fell v Vereinigtes Königreich, 28.06.1984, § 85, wo der EGMR ebenfalls auf die besonderen Umstände verwies.

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10. Zwischenfazit Viele verschiedene Organe können die Gerichtsmerkmale des Art. 6 Abs. 1 EMRK erfüllen – auch Organe, die von den Konventionsstaaten nicht als Gerichte bezeichnet werden und Organe, die neben ihrer rechtsprechenden Tätigkeit noch andere hoheitliche Tätigkeiten ausüben. Entscheidend ist stets die institutionelle Ausgestaltung im Einzelfall. Der Blick auf die Fallgruppen illustriert, welche typischen Gefahren für die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit die Konventionsstaaten ausräumen müssen, wenn sie bestimmten Organen die Aufgabe der hoheitlichen Streitentscheidung zuweisen wollen. So ist bei Verwaltungsspruchkörpern, die zum Teil mit Beamten besetzt werden, die Weisungsfreiheit ebenjener problematisch, genauso wie die Einordnung der Militärrichter in die Militärhierarchie. Im Fall von Organen mit verschiedenen hoheitlichen Funktionen stellt sich prominent das Problem der Vorbefassung einzelner Richter im „gleichen Fall“, bei beruflichen Disziplinarorganen besteht die Gefahr, dass die gleichen Organe, die für die Besetzung der Spruchkörper zuständig sind, auch als Prozesspartei auftreten. Richterräte als gerichtliche Disziplinarorgane müssen besonders hohe Anforderungen an die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit erfüllen, weil im Anschluss kein weiterer gerichtlicher Rechtsbehelf gegen die Disziplinarentscheidung zur Verfügung stehen muss.

III. Organe ohne Gerichtsqualität Schließlich gibt es einige Fallgruppen hoheitlicher Organe, in denen der EGMR die Einordnung als Gericht konsequent ablehnte. In diesen Fallgruppen scheint es auch im Einzelfall schwierig bis unmöglich, alle Gerichtsmerkmale, insbesondere die der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, zu erfüllen. 1. Parlamente und parlamentarische Kammern Zwar hat die Rechtsprechung zur richterlichen Vorbefassung gezeigt, dass eine generelle Inkompatibilität der richterlichen Tätigkeit mit einem Abgeordnetenmandat nicht besteht.3496 Somit ist eine rechtsprechende Tätigkeit von Parlamenten nicht bereits wegen der Inkompatibilität der richterlichen Tätigkeit mit dem Abgeordnetenmandat ausgeschlossen. In der bisherigen EGMR-Rechtsprechung gibt es aber keinen Fall, indem ein Parlament als Gericht alle Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK erfüllte. Über solche Fallgestaltungen entschied der EGMR bislang nur selten. 3496

Siehe hierzu die Analyse ab S. 565.

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Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

Erstmals war der EGMR in der Sache Demicoli v Malta mit der Gerichtsqualität von Parlamenten befasst.3497 Der beschwerdeführende Herausgeber eines satirischen Magazins wurde vom Parlament zu einer Geldstrafe verurteilt, nachdem er einen beleidigenden Artikel über zwei Abgeordnete verfasst hatte.3498 Der Beschwerdeführer war weder Abgeordneter des Parlaments, noch wurde die bestrafte Handlung im Parlament beziehungsweise im Kontext des parlamentarischen Verfahrens begangen.3499 Die nationale Zuständigkeitsordnung wies dem Parlament die Rechtsprechungskompetenz für den vorliegenden Fall allein deswegen zu, weil die geschädigten Personen Abgeordnete waren. Der EGMR stellte fest, dass das Parlament eine gerichtliche Funktion ausübte.3500 Weil die beiden beleidigten Abgeordneten aber an der Entscheidung des Parlaments über die Verurteilung und die Strafe beteiligt waren, mangelte es an der Unparteilichkeit des gesamten Parlament, sodass nicht alle Gerichtsmerkmale vorlagen.3501 Der EGMR konnte die grundsätzliche Frage, ob ein Parlament in einem solchen Fall ohne organisatorischen Bezug zur parlamentarischen Tätigkeit überhaupt als Gericht tätig werden darf, wegen der Befangenheit der zwei Abgeordneten umgehen.3502 Der EGMR war also nicht geneigt, das Gewaltenteilungsprinzip streitentscheidend anzuwenden.3503 In Savino v Italien war eine mit Abgeordneten besetzte parlamentarische Kammer für die Entscheidung von Streitigkeiten zwischen der Parlamentsverwaltung und den Angestellten des Parlaments zuständig.3504 In Volkov v Ukraine entschieden der Richterrat, ein parlamentarisches Komitee und das Plenum des Parlaments gemeinsam über Disziplinarmaßnahmen gegen Richter.3505 In beiden Fällen prüfte der EGMR bereits im Rahmen der Vilho Eskelinen-Formel,3506 ob die Verfahren vor den Parlamenten einen gerichtlichen Rechtsbehelf darstellten.3507

3497

Siehe hierzu auch Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 178–180, 328–330; Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 280–282. 3498 EGMR Nr. 13057/87, Demicoli v Malta, 27.08.1991, §§ 9–17. Die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK begründete sich also über das criminal limb. 3499 Dies wird auch herausgestellt von Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 280–281. 3500 EGMR Nr. 13057/87, Demicoli v Malta, 27.08.1991, §§ 39–40. 3501 EGMR Nr. 13057/87, Demicoli v Malta, 27.08.1991, § 41; zu den Entscheidungsgründen auch Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 328–329, der allerdings von der richterlichen Tätigkeit direkt auf die Gerichtsqualität des Parlaments schloss; Steinfatt, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 112; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 538. Siehe Demicoli v Malta auch schon als Beispiel für einen Fall der richterlichen Voreingenommenheit oben ab S. 576. 3502 Vgl. Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 281. 3503 Dies kritisiert Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 179, 330. 3504 EGMR Nr. 17214/05, 42113/04 und 20329/05, Savino u. a. v Italien, 28.04.2009, §§ 10, 26, 37. 3505 EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 89; zu den Vorgaben für Richterräte in diesem Urteil auch schon ab S. 734. 3506 EGMR Nr. 63235/00, Vilho Eskelinen u. a. v Finnland (GK), 19.04.2007, § 62. Siehe zur Vilho-Eskelinen-Formel und zur Eröffnung des Anwendungsbereichs bereits oben ab S. 440. 3507 EGMR Nr. 17214/05, 42113/04 und 20329/05, Savino u. a. v Italien, 28.04.2009, §§ 71–75; Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, §§ 87–91.

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„An administrative or parliamentary body may be viewed as  a ‚court‘ in the substantive sense of the term, thereby rendering Article 6 applicable to civil servants’ disputes […].“3508

Entscheidend für die Eröffnung des Anwendungsbereichs nach Vilho Eskelinen war, ob die innerstaatlichen Rechtsordnungen den Rechtsweg ausdrücklich ausschlossen. Der EGMR prüfte an dieser Stelle lediglich die Bestandteile des tribunal-Begriffs im engeren Sinne.3509 Das Parlament beziehungsweise die parlamentarische Kammer übten eine rechtsprechende Funktion (judicial function) aus und konnte auf Grundlage eines im Vorhinein bestimmten Verfahrens mit voller Prüfungskompetenz eine bindende Entscheidung treffen.3510 Die Prüfung der gesetzlichen Grundlage, der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit erfolgte in der Begründetheit.3511 Die Prüfung im Rahmen der Vilho Eskelinen-Formel ergab also lediglich, dass das Parlament beziehungsweise die parlamentarische Kammer einen streitentscheidenden Hoheitsakt erlassen konnte, dessen Rechtswirkung der eines Urteils entsprach.3512 In Savino v Italien lehnte der EGMR die Gerichtsqualität der parlamentarischen Kammer ab, weil die Mitglieder gleichzeitig einer Streitpartei zugerechnet werden konnten und somit befangen waren. Die Kammer setzte sich aus Mitgliedern des für Personalangelegenheiten zuständigen Präsidiums der Abgeordnetenkammer zusammen.3513 Der EGMR konnte die Gerichtsqualität also wegen der individuell fehlenden richterlichen Unabhängigkeit ablehnen. Gleichwohl erklärte der EGMR in den generellen Rechtsprechungsprinzipien, dass eine rechtsprechende Tätigkeit von Parlamenten einfacher zu rechtfertigen ist, wenn ein unmittelbarer Bezug der Streitigkeit zu Angelegenheiten des Parlaments besteht: „Par ailleurs, il n’est pas question d’imposer aux Etats un modèle constitutionnel donné réglant d’une manière ou d’une autre les rapports et l’interaction entre les différents pouvoirs étatiques. Le choix du législateur italien de préserver l’autonomie et l’indépendance du Parlement en lui reconnaissant l’immunité face aux juridictions ordinaires ne saurait constituer en soi un objet de contestation devant la Cour.“3514 3508 EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 88 mit Verweis auf EGMR Nr. 17214/05, 42113/04 und 20329/05, Savino u. a. v Italien, 28.04.2009, §§ 72–75; ebenso (im Zusammenhang der Gerichtsqualität von Richterräten) EGMR Nr. 147/07, Kamenos v Zypern, 31.10.2017, § 76. Siehe auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 137. 3509 Siehe bereits oben zur eigenständigen Bedeutung des tribunal-Begriffs, ab S. 410. 3510 EGMR Nr. 17214/05, 42113/04 und 20329/05, Savino u. a. v Italien, 28.04.2009, § 74; vgl. auch EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 90, wo der EGMR allerdings nur auf die Verbindlichkeit der Entscheidung einging. 3511 EGMR Nr. 17214/05, 42113/04 und 20329/05, Savino u. a. v Italien, 28.04.2009, §§ ­91–107; Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, §§ 118–122. 3512 Gleichwohl geht der EGMR bei der Prüfung von Gerichtsmerkmalen im Rahmen der Vilho Eskelinen-Formel nicht einheitlich vor. In Olujić v Kroatien prüfte der EGMR in der Eröffnung des Anwendungsbereichs auch die strukturelle Unabhängigkeit, EGMR Nr. 22330/05, Olujić v Kroatien, 05.02.2009, § 40. 3513 EGMR Nr. 17214/05, 42113/04 und 20329/05, Savino u. a. v Italien, 28.04.2009, §§ ­104–107. 3514 EGMR Nr. 17214/05, 42113/04 und 20329/05, Savino u. a. v Italien, 28.04.2009, § 92.

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Der EGMR gestand den Konventionsstaaten also zu, die Autonomie und die Unabhängigkeit des Parlaments3515 zu schützen, indem die Parlamente eigene Angelegenheiten, insbesondere die Streitigkeit mit seinen eigenen Angestellten, selbst regeln. Die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte wird in diesen Fällen ausgeschlossen.3516 In Volkov v Ukraine scheiterte die Unparteilichkeit des Parlamentarischen Komitees, eines mit Abgeordneten besetzen Gremiums, an der persönlichen Vorbefassung einiger seiner Mitglieder sowie an der fehlenden Möglichkeit der Richter, sich aus dem Verfahren zurückzuziehen.3517 Anschließend war das Plenum des Parlaments dafür zuständig, auf Grundlage der zuvor vom Richterrat und dem Parlamentarischen Komitee gefundenen Ergebnisse den Fall zu entscheiden.3518 „[T]he procedure at the plenary meeting was not an appropriate forum for examining issues of fact and law, assessing evidence and making a legal characterisation of the facts. The role of the politicians sitting in Parliament, who were not required to have any legal or judicial experience in determining complex issues of fact and law in an individual disciplinary case, has not been sufficiently clarified by the Government and has not been justified as being compatible with the requirements of independence and impartiality of  a tribunal under Article 6 of the Convention.“3519

Der EGMR formulierte also erstmalig grundsätzliche Bedenken, ob ein Parlament rechtsprechend tätig werden sollte – im konkreten Fall bezogen auf Entscheidungen in richterlichen Disziplinarverfahren. Der Vorbehalt kann aber auch auf andere Fallgestaltungen übertragen werden kann. Volkov v Ukraine legt also nahe, dass eine streitentscheidende Tätigkeit von Parlamenten in Fällen ohne Bezug zur parlamentarischen Tätigkeit nicht konventionskonform ist. Jedenfalls müssen die Konventionsstaaten in einem solchen Fall die gerichtliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von Parlamenten gut begründen. Diese Argumentation baut auf dem Grundgedanken der Gewaltenteilung auf, auch wenn der EGMR diese nicht explizit erwähnt. Aufgrund der dünnen Rechtsprechungslage und der unterschiedlichen Sachverhaltsgestaltungen sollten generalisierende Schlussfolgerungen nur zurückhaltend gefasst werden. Ob eine richterliche Tätigkeit von Parlamenten oder Parlamentskammern überhaupt konventionskonform ausgestaltet werden kann, ist zum aktuellen Zeitpunkt noch unklar. Soweit ersichtlich, gab es noch kein EGMR-Urteil, in dem eine parlamentarische Entscheidung den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 3515

Siehe zur parlamentarischen Autonomie als von der EMRK geschützter Verfassungswert auch bereits oben ab S. 368. 3516 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 280–281 sieht in der Entscheidung Demicoli v Malta das erste Anzeichen dafür, dass der EGMR die parlamentarische Autonomie und Funktionsfähigkeit respektiert. 3517 EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, §§ 119–120. 3518 EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 121. 3519 EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 122.

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EMRK entsprach. Es überrascht nicht, dass der stets auf den Einzelfall bedachte EGMR in Demicoli und Savino nicht darauf einging, ob Parlamente oder parlamentarische Organe generell geeignet sind, rechtsprechend tätig zu werden. Das Volkov-Urteil legt grundsätzliche Zweifel nahe, dass Parlamente die Anforderungen an die gerichtliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit überhaupt erfüllen können. 2. Regierungen und Regierungsmitglieder Fälle, in denen der EGMR die Gerichtsqualität eines staatsleitenden und gleichzeitig rechtsprechenden Organs beurteilen musste, gibt es ebenfalls wenige. In der Sache McGonnell v Vereinigtes Königreich stand die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Bailiff of Guernsey in Frage, der nicht nur Vorsitzender der parlamentarischen Versammlung und Gerichtspräsident der höchsten Gerichte war, sondern auch Verwaltungschef.3520 Der EGMR begründete die Konventionswidrigkeit der Beteiligung des Bailiff of Guernsey am Gerichtsverfahren mit dessen Vorbefassung im Rechtsetzungsverfahren.3521 Seine Regierungsverantwortung spielte keine Rolle. In der Zulässigkeitsentscheidung Holding und Barnes v Vereinigtes Königreich entschied der EGMR, dass der Umweltminister (Secretary of State for Environment), dessen eigene Politik im Gerichtsverfahren in Frage stand, kein unabhängiges und unparteiliches Gericht war, weil kein Organ seine eigenen hoheitlichen Entscheidungen selbst kontrollieren darf.3522 In beiden Fällen äußerte sich der EGMR also nicht dazu, ob Regierungen oder Minister prinzipiell rechtsprechend tätig sein dürfen.3523 In der Zulässigkeitsentscheidung Schaller-Bossert v Schweiz lehnte der EGMR den Luzerner Regierungsrat, die Regierung des Schweizer Kantons Luzern, als Gericht mit einer allgemeineren Begründung ab: „[Le Conseil d’Etat], bien que statuant en droit dans le respect de règles procédurales et ayant le pouvoir de trancher le litige, est avant tout un organe politique et non pas juridictionnel. Etant lui-même le gouvernement cantonal, il ne revêt notamment pas l’indépendance requise par l’article 6 […].“3524

3520

EGMR Nr. 28488/95, McGonnell v Vereinigtes Königreich, 08.02.2000, § 17. EGMR Nr. 28488/95, McGonnell v Vereinigtes Königreich, 08.02.2000, §§ 52–58. 3522 EGMR Nr. 2352/02, Holding und Barnes Plc v Vereinigtes Königreich (Zul.), 12.03.2002. 3523 Die Schlussfolgerung von Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 179–180, dass der EGMR grundsätzlich Mitglieder der Exekutive als unabhängiges Gericht ausschließe, kann wegen des Verweises auf das Urteil Bryan v Vereinigtes Königreich nicht überzeugen, wo gerade die Überprüfung eigener politischer Entscheidungen Grund für die Ablehnung der Gerichtseigenschaft eines Beamten war. 3524 EGMR Nr. 41718/05, Schaller-Bossert v Schweiz (Zul.), 28.10.2010, § 31. 3521

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Statt wie üblich eine Subsumtion unter die Begriffe der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit vorzunehmen, reichte dem EGMR hier also die Tatsache, dass eine Regierung rechtsprechend tätig wurde, um die Gerichtsqualität abzulehnen. Die Formulierungen des EGMR waren ungewohnt deutlich und generell. Dies deutet darauf hin, dass der EGMR eine rechtsprechende Tätigkeit von Regierungen kategorisch ausschließt. Auch in den Urteilen T v Vereinigtes Königreich und V v Vereinigtes Königreich lehnte der EGMR die Unabhängigkeit des Innenministers eindeutig, aber ohne nähere Begründung ab.3525 Bislang liegt noch kein Fall vor, in dem eine Regierung oder ein Regierungsmitglied konventionskonform rechtsprechend tätig wurde. Die knappen Begründungen aus Schallert-Bossert und V und T v Vereinigtes Königreich deuten darauf hin, dass der EGMR selbst eine solche Fallgestaltung für offensichtlich konventionswidrig hält. 3. Staatsoberhäupter In der Sache Benthem v Niederlande musste der Monarch einen Vorschlag der Administrative Litigation Division zur Entscheidung einer Streitigkeit bestätigen. Erst dadurch wurde der Streit endgültig entschieden. Obwohl der Monarch dem Vorschlag üblicherweise entsprach, lag keine verbindliche Entscheidung der Administrative Litigation Division vor, weil nach der Rechtslage eine Abweichung vom gerichtlichen Vorschlag möglich war.3526 Die Entscheidung des Monarchen ordnete der EGMR als Verwaltungsentscheidung ein, für die der gegenzeichnende Minister dem Parlament gegenüber verantwortlich war. Daher lag eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor.3527 Damit entschied der EGMR – für ihn untypisch – nach Kriterien, die von den Konventionsstaaten beeinflusst werden können. Während der EGMR bei der Frage der Gerichtsqualität der Regierung auf den Organstatus abstellte, stellte er in Benthem v Niederlande auf den Rechtsakt ab. Wie bereits bei den Urteilen zur Gerichtsqualität von Regierungen, spielten auch in Benthem v Niederlande die typischen Erwägungen im Rahmen der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit keine Rolle. Dies deutet darauf hin, dass Monarchen oder allgemein Staatsoberhäupter und die Regierung so eindeutig nicht alle Gerichtsmerkmale erfüllen, dass dem EGMR diese knappen Begründungen ausreichten.

3525

EGMR Nr. 24724/94, T v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.1999, § 113; Nr. 24888/94, V v Vereinigtes Königreich (GK), 16.12.1999, § 114. Siehe zu diesen Urteilen bereits ab S. 453. 3526 EGMR Nr. 8848/80, Benthem v Niederlande (Pl.), 23.10.1985, § 40. 3527 EGMR Nr. 8848/80, Benthem v Niederlande (Pl.), 23.10.1985, §§ 43–44.

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4. Organe der Strafverfolgung und Anklagevertretung Staatsanwaltschaften repräsentieren im strafgerichtlichen Verfahren den Staat, indem sie das Ermittlungsverfahren durchführen, die Anklage formulieren und vor Gericht vertreten.3528 In strafrechtlichen Streitigkeiten gibt es eine enge Interaktion zwischen Gericht und Staatsanwaltschaft. Staatsanwaltschaften handeln häufig intern weisungsgebunden und sind hierarchisch organisiert; in anderen Konventionsstaaten handeln Staatsanwälte hingegen weitgehend unabhängig.3529 Auch die externe Unabhängigkeit der Strafverfolgungsbehörden insbesondere zur Regierung ist in vielen Konventionsstaaten inzwischen vorgesehen, muss aber nach europäischen Standards nicht zwingend vorliegen.3530 Nicht in allen Staaten wird die Strafverfolgung der Exekutive zugerechnet,3531 wegen ihrer notwendigen Vorarbeit im Strafverfahren kann sie auch als judikative Organe eingeordnet werden.3532 Der EGMR erkannte in Schiesser v Schweiz im Jahr 1979 die hybride Rolle der Staatsanwaltschaften an, wiederholte diese Aussage anschließend, soweit ersichtlich, aber nicht mehr. „[T]he exercise of ‚judicial power‘ is not necessarily confined to adjudicating on legal disputes. In many Contracting States, officers (magistrats) and even judges exercise such power without adjudicating, for example members of the prosecuting authorities and investigating judges.“3533

a) Staatsanwaltschaft als Partei des Verfahrens Aussagen des EGMR zur Frage, ob ein Staatsanwalt oder eine Staatsanwaltschaft die Gerichtsmerkmale des Art. 6 Abs. 1 EMRK erfüllt, finden sich in zwei Konstellationen. In der ersten Konstellation lehnte der EGMR die Gerichtsquali 3528 Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 54–55 mit Verweis auf EGMR Nr. 64962/01, Ozerov v Russland, 18.05.2010, § 52, wo der EGMR allerdings nur die Rechtsprechung des russischen Verfassungsgerichts wiedergab und keine eigene Einschätzung vornahm. 3529 Venedig-Kommission, CDL-AD(2010)040, Report on European Standards as Regards the Independence of the Judicial System: Part II: The Prosecution Service, angenommen am 17.–18.12.2010, § 31. 3530 Venedig-Kommission, CDL-AD(2010)040, Report on European Standards as Regards the Independence of the Judicial System: Part II: The Prosecution Service, angenommen am 17.–18.12.2010, §§ 23–25, 29–30. 3531 Siehe auch die in Venedig-Kommission, CDL-PI(2018)001, Compilation concerning Prosecutors, 11.11.2017, S. 27 aufgeworfene Frage, ob die Strafverfolgungsbehörden Teil der Exekutive, der Judikative oder einer eigenständigen Staatsgewalt seien; vgl. auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 153–154 zu dieser unklaren Funktioneneinordnung der Staatsanwaltschaft. 3532 Prägnant Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 154: „[L]’institution du ministère public, organiquement et fonctionnellement ‚hermaphrodite‘, est un vrai casse-tête en ce qui concerne le principe de séparation des pouvoirs judiciaire et exécutif.“ 3533 EGMR Nr. 7710/76, Schiesser v Schweiz, 04.12.1979, § 28 im Kontext einer Prüfung von Art. 5 Abs. 3 EMRK.

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tät eines Staatsanwalts oder einer Staatsanwaltschaft ab, weil die Voraussetzungen des Gerichtsbegriffs im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht erfüllt waren.3534 Teilweise scheiterte die Einordnung als Gericht an der Weisungshierarchie, die der gerichtlichen Unabhängigkeit schadete.3535 In Zlínsat v Bulgarien konstatierte der EGMR jedoch wegen der gesicherten Amtszeit und einer Immunität der Amtsträger die Unabhängigkeit von der Exekutive, ohne näher auf die staatsanwaltschaftsinterne Hierarchie einzugehen. In diesem Fall erfüllte die Staatsanwaltschaft jedoch die notwendigen Anforderungen an ein gerichtliches Verfahren nicht. Insbesondere entschied sie aus eigenem Antrieb, während Gerichte grundsätzlich nach einem externen Antrag tätig werden.3536 „Moreover, it appears that the making of the decisions did not have to be – and was, in fact, not – attended by any sort of proceedings involving the participation of the entity concerned, i. e. the applicant company. The law made no provision for the holding of hearings, and did not lay down any rules on such matters as the admissibility of evidence or the manner in which the proceedings were to be conducted […]. Finally, it appears from the wording of the relevant legal provisions […] that the Sofia City Prosecutor’s Office enjoyed considerable latitude in determining what course of action to pursue, which appears hardly compatible with the notions of the rule of law and legal certainty inherent in judicial proceedings […].“3537

Auch in diesem Kontext wies der EGMR darauf hin, dass die Funktionenvielfalt innerhalb eines Organs (plurality of powers) als solche die Gerichtsqualität nicht in Frage stellt.3538 Nach dieser – soweit ersichtlich im Kontext der Strafverfolgungsorgane einmaligen – Formulierung schloss der EGMR nicht grundsätzlich aus, dass eine Staatsanwaltschaft in bestimmten Fällen Gerichtsqualität haben kann.3539 In konsequenter Anwendung der Staatsräte-Rechtsprechung müssten die Konventionsstaaten in solchen Fällen jedenfalls dafür sorgen, dass ein Organwalter nicht in zwei verschiedenen hoheitlichen Funktionen mit der gleichen Sache befasst ist. In der zweiten Konstellation stellte der EGMR fest, dass die Staatsanwaltschaft die Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht erfüllen muss. Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährleistet nicht die Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit der Staatsanwaltschaft und die Einhaltung der gerichtlichen Verfahrensregelungen im Er-

3534 EGMR Nr. 27053/95, Vasilescu v Rumänien, 22.05.1998, §§ 40–41; Nr. 77517/01 und 77722/01, Stoianova und Nedelcu v Rumänien, 04.08.2005, § 21; Nr. 57785/00, Zlínsat, spol. s r. o. v Bulgarien, 15.06.2006, §§ 76, 79; Nr. 75101/01, Grecu v Rumänien, 30.11.2006, § 63; Nr. 63610/00 und 38692/05, Forum Maritime S. A. v Rumänien, 04.10.2007, § 119. 3535 EGMR Nr. 27053/95, Vasilescu v Rumänien, 22.05.1998, §§ 40–41. 3536 EGMR Nr. 57785/00, Zlínsat, spol. s r. o. v Bulgarien, 15.06.2006, §§ 33–34, 76. 3537 EGMR Nr. 57785/00, Zlínsat, spol. s r. o. v Bulgarien, 15.06.2006, § 76; dem folgend EGMR Nr. 26524/04, Dimitar Krastev v Bulgarien, 12.03.2013, §§ 57–58. 3538 EGMR Nr. 57785/00, Zlínsat, spol. s r. o. v Bulgarien, 15.06.2006, § 74. 3539 EGMR Nr. 57785/00, Zlínsat, spol. s r. o. v Bulgarien, 15.06.2006, § 74: „This assessment is to be carried out without regard to their role in criminal proceedings, where they are clearly not one, as a plurality of powers cannot in itself preclude an institution from being a tribunal in respect of some of them […].“

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mittlungs- und Anklageverfahren. Typischerweise stellte der EGMR klar, dass die Staatsanwaltschaft gerade nicht als Gericht, sondern als Partei des gerichtlichen Verfahrens gilt.3540 Nach der allgemeinen Rechtsprechung dürfen Richter nicht Partei des Verfahrens sein.3541 Die Trennung zwischen Anklage- und Gerichtsorgan forderte der EGMR auch bei richterlichen Disziplinarverfahren ein.3542 Die Parteieigenschaft der Staatsanwaltschaft ist auch im Rahmen der richterlichen Vorführung gemäß Art. 5 Abs. 3 EMRK relevant. Sofern die Gefahr besteht, dass ein Untersuchungsrichter zu einem späteren Zeitpunkt des Verfahrens die Anklagevertretung übernimmt, lehnt der EGMR die richterliche Unabhängigkeit ab.3543 Staatsanwaltschaften erfüllen somit typischerweise die Gerichtsmerkmale nicht. Dies fordert die EMRK für ihre Aufgabe der Strafverfolgung und Anklagevertretung jedoch auch nicht. Wegen dieser Aufgabe ordnet der EGMR die Staatsanwaltschaft als Partei des Verfahrens ein. b) Abwesenheit des Staatsanwalts bei der gerichtlichen Verhandlung Die Einordnung der Staatsanwaltschaft als Partei des Verfahrens setzt eine organisatorische Trennung zwischen Gericht und Staatsanwaltschaft voraus. Für die Fälle, in denen eine vom Gericht organisatorisch getrennte Staatsanwaltschaft zwar das Verfahren initiierte, im Prozess die Anklage jedoch nicht mehr vertrat, hat sich inzwischen eine sichere Rechtsprechungslinie etabliert.3544 Entscheidend sind die Umstände des Einzelfalls. In der Sache Thorgeir Thorgeirson v Island war an sechs von zwölf Sitzungsterminen kein Staatsanwalt anwesend. Der Beschwerdeführer machte geltend, dass 3540

EGMR Nr. 48799/99, Priebke v Italien (Zul.), 05.04.2001; Nr. 43490/98, Rezzonico v Italien (Zul.), 15.11.2001; Nr. 34657/97, Forcellini v San Marino (Zul.), 28.05.2002; Nr. 69264/01, De Lorenzo v Italien (Zul.), 12.02.2004; Nr. 41211/98, Iovchev v Bulgarien (Zul.), 18.11.2004; Nr. 45106/04, Viola v Italien (Zul.), 13.12.2005; Nr. 56856/00, Yordanov v Bulgarien, 10.08.2006, § 119; Nr. 16382/03, Bota v Rumänien (Zul.), 13.09.2007; Nr. 45291/06, Previti v Italien (Zul.), 08.12.2009, § 255; Nr. 59000/08, Kontalexis v Griechenland, 31.05.2011, § 57; Nr. 80563/12, Nastase v Rumänien, 18.11.2014, § 81; Nr. 76629/14, Clements v Griechenland, 19.04.2016, § 37; Nr. 80018/12, Thiam v Frankreich, 18.10.2018, § 71. 3541 Siehe bereits zu anderen Fallgestaltungen ab S. 576. 3542 EGMR Nr. 21722/11, Oleksandr Volkov v Ukraine, 09.01.2013, § 116; Nr. 69916/10 und 36531/11, Poposki und Duma v Mazedonien, 07.01.2016, §§ 47–48; Nr. 147/07, Kamenos v ­Zypern, 31.10.2017, §§ 102–111. 3543 Siehe bereits die Nachweise in Fn. 1794. 3544 Siehe auch die Darstellung der bisherigen Rechtsprechungslinie in EGMR Nr. 926/06, Karelin v Russland, 20.09.2016, §§ 54–57; an den dort genannten Urteilen  – inklusive des ­ Karelin-Urteils  – orientiert sich auch die vorliegende Darstellung; knapper EGMR Nr. 10644/08, Mikhaylova v Ukraine, 06.03.2018, §§ 58–60; im Schrifttum Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 78–79.

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der Richter gleichzeitig auf die Rolle der Staatsanwaltschaft übernommen habe.3545 Der EGMR lehnte eine Verletzung der objektiven Unabhängigkeit aber mit der Begründung ab, dass immer dann ein Staatsanwalt im Verfahren anwesend gewesen war, als Beweise erhoben und Zeugen angehört wurden.3546 In der Zulässigkeitsentscheidung Weh und Weh v Österreich war in einem Verfahren vor einem unabhängigen Verwaltungsspruchkörper3547 kein Anklagevertreter anwesend. Verfahrensgegenstand war die Überprüfung von Straferkenntnissen (penal orders), die von Verwaltungsbehörden erlassen worden waren.3548 Der ursprünglich verwaltungsrechtliche Charakter des Verfahrens führte dazu, dass das Verfahren vor dem Independent Administrative Panel bereits als zweite Instanz galt und der EGMR die Verfahrensanforderungen in einer Gesamtbetrachtung beurteilte. Der Gerichtshof wertete die Straferkenntnis und deren Begründung als Einlassung der Anklagebehörde; eine mündliche Verhandlung war nicht vorgesehen. Somit sah der EGMR keine Anhaltspunkte dafür, dass das Independent Administrative Panel Funktionen der Anklagebehörde ausgeübt habe.3549 In den Streitigkeiten Ozerov v Russland und Krivoshapkin v Russland war jeweils zu keinem Zeitpunkt ein Staatsanwalt im gerichtlichen Strafverfahren anwesend.3550 Daher musste das Gericht die Aufgabe des Staatsanwalts bei der Beweiswürdigung selbst übernehmen. Wegen der Verwirrung durch die Vermischung der Rollen der Staatsanwaltschaft und des Gerichts durften die Beschwerdeführer gerechtfertigte Zweifel an der richterlichen Unparteilichkeit haben.3551 In Karelin v Russland war schließlich – ähnlich wie in Weh und Weh v Österreich – die Abwesenheit einer Anklagebehörde in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren umstritten. Während man aus Weh und Weh noch herauslesen konnte, dass die geringe Schwere des Vergehens ein Grund sein könnte, die Anforderungen an 3545

EGMR Nr. 13778/88, Thorgeir Thorgeirson v Island, 25.06.1992, § 46. EGMR Nr. 13778/88, Thorgeir Thorgeirson v Island, 25.06.1992, §§ 52–53. Ausnahme war ein Termin, an welchem ein Video gezeigt wurde; zu diesem Urteil auch Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 341; Steinfatt, Die Unparteilichkeit des Richters, S. 75–76; Esser, Strafverfahrensrecht, S. 562–563. 3547 Siehe zur Gerichtsqualität von Verwaltungsspruchkörpern oben ab S. 736. 3548 Im konkreten Fall waren die Straferkenntnisse ergangen, weil die Beschwerdeführer die nach der Straßenverkehrsordnung zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten hatten. 3549 EGMR Nr. 38544/97, Weh und Weh v Österreich (Zul.), 04.07.2002; bestätigt durch deutlich knappere Entscheidungen, die vor allem auf Weh und Weh v Österreich verweisen: EGMR Nr. 65665/01, 71879/01 und 72861/01, Schluga v Österreich, 26.09.2002; Nr. 61595/00, Cetinkaya v Österreich (Zul.), 03.10.2002; Nr. 31655/02, Blum v Österreich, 03.02.2005, § 37; Nr. 54698/00, Kaya v Österreich (Zul.), 24.02.2005; Nr. 39120/03, Bartenbach v Österreich, 20.03.2008, § 36; Nr. 29794/04, Karg v Österreich (Zul.), 06.05.2008; Nr. 20597/04, Gürsoy v Österreich, 05.06.2008, § 27; Nr. 15746/06, Deuring v Österreich (Zul.), 11.12.2008. 3550 EGMR Nr. 64962/01, Ozerov v Russland, 18.05.2010, § 52; Nr. 42224/02, Krivoshapkin v Russland, 27.01.2011, § 44; zu diesen beiden Urteilen auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 55. 3551 EGMR Nr. 64962/01, Ozerov v Russland, 18.05.2010, §§ 50, 53–54; Nr. 42224/02, Krivoshapkin v Russland, 27.01.2011, § 44; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 58. 3546

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die Beteiligung der Staatsanwaltschaft zu senken,3552 erteilte das Urteil Karelin v Russland diesem Ansatz eine Absage: „While noting that the impartiality issue here relates to the context of  a relatively minor offence while arising from the specific procedure itself rather than from any action or inaction in the circumstances of the case, the Court considers that impartiality is not commensurate to the nature and severity of the penalties incurred or to what is at stake for the defendant in the proceedings.“3553

Vielmehr sei grundsätzlich immer, wenn eine mündliche Verhandlung für die Entscheidung eines strafrechtlichen Verfahrens im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK vorgesehen ist, die Anwesenheit der Anklagebehörde notwendig, um legitime Zweifel an der gerichtlichen Unparteilichkeit auszuschließen.3554 „Unlike in civil cases where a party can waive an opportunity to be present at an oral hearing, the situation in criminal or assimilated matters may be different, since while the judge is the ultimate guardian of the proceedings, it is normally the task of a public authority in a case of public prosecution to present and substantiate the criminal charge with a view to adversarial argument with the other party or parties.“3555

Der EGMR verpflichtet die Konventionsstaaten dazu, bei mündlichen strafgerichtlichen Verhandlungen die Anwesenheit einer Anklagevertretung durch ein nicht-gerichtliches Organ sicherzustellen. Sofern die Konventionsstaaten in einem Verfahren oder einem Verfahrensschritt gerechtfertigt auf eine mündliche Verhandlung verzichten dürfen, ist auch das Fehlen einer Anklagevertretung kein Konventionsverstoß. c) Zwischenfazit Der EGMR schreibt Anklageorganen eine eigenständige Rolle im gerichtlichen Prozess zu, die nicht vom Gericht übernommen werden darf. Staatsanwaltschaften fehlt nicht nur grundsätzlich die Gerichtsqualität.3556 Ein Gericht darf auch nicht 3552 EGMR Nr. 38544/97, Weh und Weh v Österreich (Zul.), 04.07.2002 (In the present case, relating to minor traffic offences). 3553 EGMR Nr. 928/08, Karelin v Russland, 20.09.2016, § 75. 3554 EGMR Nr. 928/08, Karelin v Russland, 20.09.2016, § 76. Das Urteil Karelin v Russland wurde in kurzer Zeit mehrfach bestätigt. Hierbei beschränkte sich der EGMR, wie bereits in Folge der Weh und Weh-Rechtsprechung, meist auf knappe Verweise auf das Urteil: EGMR Nr. 10644/08, Mikhaylova v Ukraine, 06.03.2018, §§ 63–66; Nr. 5865/07, Butkevich v Russland, 13.02.2018, § 83; Nr. 77208 u. a., Yegorov u. a. v Russland, 28.05.2019, §§ ­13–14; Nr. 18820/17 und 20413/17, Kadadov und Pereverzev v Russland, 23.07.2019, §§ 14–15; Nr. 72051/17, Korneyeva v Russland, 08.10.2019, § 42; Nr. 24377/15 u. a., Kuratov u. a. v Russland, 22.10.2019, §§ 12–13. 3555 EGMR Nr. 928/08, Karelin v Russland, 20.09.2016, § 77; ähnlich EGMR Nr. 10644/08, Mikhaylova v Ukraine, 06.03.2018, § 64. 3556 Vgl. auch Tsampi, Séparation des Pouvoirs, S. 55: „Le juge n’est pas un procureur et vice versa.“

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gleichzeitig die Aufgaben der Staatsanwaltschaft übernehmen. Hierdurch wird das kontradiktorische Element des Verfahrens aufgehoben und der Unparteilichkeit des Gerichts geschadet.3557 Die Konventionsstaaten sind also verpflichtet, in ihren Zuständigkeitsordnungen die hoheitlichen Tätigkeiten der Anklageerhebung und -vertretung und der gerichtlichen Entscheidung zwei verschiedenen Organen zuzuweisen. Weitergehende Anforderungen an die institutionelle Ausgestaltung der Staatsanwaltschaft ergeben sich aus der EMRK mangels normativer Anknüpfung aber nicht. Anders als in der Staatsräte-Rechtsprechung rückte der EGMR nicht die vom Gericht ausgeübte Doppelfunktion und damit die Gewaltenteilung in den Fokus.3558 Dies ist nachvollziehbar. Die beiden Fallgruppen unterscheiden sich nicht nur in der Art der zweiten Tätigkeit – beratende und damit jedenfalls grundsätzlich neutrale Tätigkeit einerseits, anklagende und damit grundsätzlich parteinehmende Tätigkeit andererseits –, sondern auch in ihrem zeitlichen Ablauf: Während die beratende Tätigkeiten stets vor dem gerichtlichen Verfahren stattfanden und damit jedenfalls die Möglichkeit bestand, dass die beteiligten Personen sowie die sich stellenden rechtlichen Fragen unterschiedliche waren, übten die Gerichte die Aufgaben der Staatsanwaltschaft gerade während der mündlichen Verhandlung und somit zeitgleich mit ihrer richterlichen Tätigkeit aus. Die Unterscheidungskriterien aus der Staatsräte-Rechtsprechung – die Beteiligung der gleichen Personen an beiden Verfahren und der „gleiche Fall“ – sind daher bei Abwesenheit der Staatsanwaltschaft in der mündlichen Verhandlung immer erfüllt. In der Konsequenz ergibt sich aus der EGMR-Rechtsprechung somit ein allgemeines Verbot, dass ein hoheitliches Organ gleichzeitig die Aufgaben des Gerichts und der Staatsanwaltschaft übernimmt. Der EGMR zögert allerdings, dies ausdrücklich auszusprechen. Diese strenge Trennung zwischen Anklageorgan und Gericht entspricht auch der strengen Rechtsprechung des EGMR zur Vorbefassung eines Richters im Rahmen der Anklage, die bereits an anderer Stelle dargestellt wurde.3559 5. Rechnungshof In der Sache Beausoleil v Frankreich stand die Gerichtsqualität eines Rechnungshofs in Frage. Der EGMR prüfte ausgehend vom Zugeständnis der französischen Regierung, dass der öffentliche Bericht und die gerichtliche Streitigkeit den gleichen Fall betrafen. Die Tatsache, dass den Richtern im gerichtlichen Verfahren im Vergleich zu den Berichterstattern des öffentlichen Berichts neue Fak 3557 Vgl. auch schon Esser, Strafverfahrensrecht, S. 562 (allerdings auf dem Stand des Urteils Thorgeir Thorgeirson v Island). 3558 Dies kritisiert Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 79; ebenso kritisch Kuijer, The Blindfold of Lady Justice, S. 342. 3559 Siehe hierzu ab S. 570.

G. Das innerstaatliche Gerichtssystem  

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ten vorlagen, war hierbei nicht relevant. Ausschlaggebend für den EGMR war, dass die Firma des Beschwerdeführers in dem Bericht, der illegale Finanzströme aufzeigte, identifizierbar war. Daher stellte der EGMR eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK fest,3560 obwohl der Beschwerdeführer nicht vorgetragen hatte, dass an beiden Entscheidungen die gleichen Organwalter beteiligt waren.3561 Entscheidend war in diesem Fall also nicht die persönliche Vorbefassung einzelner Richter, sondern die Festlegung durch das Organ selbst. Damit wich der EGMR von seiner Staatsrats-Rechtsprechung ab, wonach stets auf die einzelnen Organwalter, nicht das gesamte Organ abgestellt wurde. Die Analyse dieses Einzelfalls ist schwierig. Solange Beausoleil v Frankreich ein Einzelfallurteil bleibt, dessen Argumentationsstruktur der EGMR nicht wiederholt,3562 darf der Entscheidung keine zu große Bedeutung zugemessen werden. Andererseits könnte sich durch dieses Urteil, das zeitlich nach der Staatsräte-Rechtsprechung erging, eine Rechtsprechungsänderung andeuten, nach der die Kriterien der Ausübung einer doppelten Funktion in einer Person und die Voraussetzung des „gleichen Falls“ nicht mehr kumulativ, sondern alternativ angewendet werden. Dadurch würden die institutionellen Kompetenzen im Vergleich zur personellen Gewaltenteilung stärker in den Fokus des EGMR rücken. 6. Zwischenfazit Der EGMR erklärt Parlamente nicht per se für ungeeignet, gerichtliche Funktionen zu übernehmen. Die parlamentarische Autonomie lässt eine eigene gerichtliche Streitentscheidungskompetenz im Kontext der parlamentarischen Selbstverwaltung noch für möglich erscheinen. Außerhalb eines parlamentarischen Zusammenhangs stellt der EGMR jedenfalls hohe Hürden für die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit auf. Noch deutlicher wurde der EGMR in den wenigen Entscheidungen, die sich mit der Gerichtsqualität von Regierungen, Regierungsmitgliedern oder Staatsoberhäuptern auseinandersetzten. Die allgemeinen Formulierungen deuten darauf hin, dass der EGMR eine Gerichtsqualität grundsätzlich ausschließt, auch wenn er dies nicht explizit formulierte. Das verhältnismäßig junge Urteil Beausoleil v Frankreich zur Gerichtsqualität eines Rechnungshofs wirft schließlich die Frage auf, ob der EGMR sich von der einzelfallfokussierten Kleyn-Rechtsprechung hin zu einer institutionelleren Betrachtungsweise entwickelt. Ob dies tatsächlich der Fall ist, wird die weitere Rechtsprechung zeigen.

3560

EGMR Nr. 63979/11, Beausoleil v Frankreich, 06.10.2016, §§ 40–42. EGMR Nr. 63979/11, Beausoleil v Frankreich, 06.10.2016, § 39. 3562 Bislang zitiert der EGMR das Urteil Beausoleil in der Folgerechtsprechung nicht einmal. 3561

754

Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

IV. Fazit Die EMRK überlässt die Grundentscheidung über Gerichtszweige und Instanzen den Konventionsstaaten, mit der einen Ausnahme, dass gemäß Art. 2 ZP 7 eine Rechtsmittelinstanz im Falle einer strafrechtlichen Verurteilung verbindlich ist. Auch die Einrichtung von weiteren Gerichten außerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit steht den Konventionsstaaten offen. Art. 6 Abs. 1 EMRK verpflichtet die Konventionsstaaten dazu, im Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK eine gerichtliche Instanz einzurichten, die den institutionellen Vorgaben, insbesondere hinsichtlich der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit entspricht. Allgemeine Äußerungen zur Konventionskonformität bestimmter Gerichte verbieten sich schon deshalb, weil kein innerstaatliches Gerichtswesen dem anderen gleicht. Gleichwohl zeigen sich fallgruppentypische Gefährdungen der richterlichen Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit, die jedoch typischerweise an der Rolle einzelner Richter anknüpft. So können über einzelne Gerichtstypen verallgemeinernde Aussagen getroffen werden, die auf der Annahme beruhen, dass sich die jeweiligen Organe innerhalb der Konventionsstaaten jedenfalls in ihren Grundlagen ähneln. Somit sind staatliche Spezial- und Sondergerichte inklusive Schieds- und Militärgerichte, Verfassungsgerichte, berufsständische Disziplinarorgane, Richterräte, Verwaltungsspruchkörper und Staatsräte grundsätzlich geeignet, alle Gerichtsmerkmale zu erfüllen. Abhängig von den Besonderheiten der jeweiligen Fallgruppen stellt der EGMR besondere Anforderungen an die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Nach aktueller Rechtsprechung ausgeschlossen ist hingegen die Gerichtsqualität von Parlamenten und parlamentarischen Kammern, staatsleitenden exekutiven Organen wie Regierungen und Staatsoberhäuptern sowie Strafverfolgungsbehörden.

H. Ergebnis: Konventionsrechtliche Anforderungen an die judikative Gewalt Nach der EMRK sind innerstaatliche Gerichte und andere judikative Organe die Garanten der Rechtsstaatlichkeit in den Staaten. Diese ratio prägt alle institutionellen Anforderungen der EMRK für die Gestaltung der Gerichte und ihre streitentscheidende Tätigkeit. Grundvoraussetzung dafür, dass Gerichte die anhängigen Streitigkeiten wirksam und auf Grundlage des Gesetzes entscheiden können, ist eine funktionsfähige und unabhängige Gerichtsbarkeit. Die konventionsrecht­ lichen Anforderungen dienen alle der Herstellung einer solchen funktionsfähigen und unabhängigen Gerichtsbarkeit. Die EMRK macht Vorgaben zu den Gerichtsmerkmalen, zur gerichtlichen Tätigkeit  – hierzu gehört der Inhalt der gerichtlichen Entscheidungen, die Prüfungsbefugnis, bevor eine solche Entscheidung getroffen werden kann sowie die

H. Ergebnis  

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Bindungswirkung der Entscheidungen – sowie zum Status der Richter. Diese Vorgaben betreffen die Gewaltenteilungselemente der institutionellen Pluralität, der Zuordnung hoheitlicher Tätigkeiten zu bestimmten hoheitlichen Organen sowie den Status von Organwalter. Die Gewaltenteilung dient also der Absicherung der Rechtsstaatlichkeit. Der EMRK liegt die Überzeugung zugrunde, dass rechtsprechende Organe stets unabhängig entscheiden können müssen – daher ist die Unabhängigkeit konstitutives Merkmal nicht nur der Gerichte im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK, sondern auch der Beschwerdeinstanzen im Sinne des Art. 13 EMRK sowie der Untersuchungsrichter im Sinne des Art. 5 Abs. 3 EMRK. Die genauen Anforderungen an diese Unabhängigkeit hängen von den konkreten Umständen ab. Ebenfalls allen rechtsprechenden Organen gemeinsam ist deren Definition über ihre hoheitliche Tätigkeit. Damit liegt eine zwingende Zuordnung bestimmter hoheitlicher Entscheidungen zu unabhängigen Organen vor. Gerichte im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK sind für die Entscheidung von Streitigkeiten zivilrechtlicher Natur und für Entscheidungen über strafrechtliche Anklagen zuständig. Hiervon umfasst sind auch Entscheidungen über verwaltungsrechtliche Sachverhalte, sodass Gerichte im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK Verwaltungsentscheidungen kontrollieren und im Falle ihrer Rechtswidrigkeit aufheben dürfen. Darüber hinaus dürfen Gerichte, nachdem sie eine rechtswidrige Entscheidung aufgehoben haben, über den zugrunde liegenden Sachverhalt selbst eine neue, rechtmäßige Entscheidung treffen. In diesem Fall übernehmen Gerichte die ursprünglich der Verwaltung zugeschriebene Aufgabe. Hierbei dürfen sie auch Zweckmäßigkeitserwägungen anstellen. Alternativ müssen die Gerichte die Streitigkeit an die ursprünglich zuständige Stelle zurückverweisen. In diesem Fall übernehmen die Gerichte die Aufgaben der Verwaltungsbehörden nicht im zweiten Anlauf. Die Konventionsstaaten sind verpflichtet, den Gerichtsurteilen verbindliche Wirkung und Rechtskraft zuzuschreiben. Hierdurch wird verhindert, dass nichtgerichtliche Organe judikative Entscheidungen in Frage stellen oder aufheben können. Während Gerichte also exekutive Entscheidungen kontrollieren dürfen oder müssen, besteht in die andere Richtung kein Kontrollverhältnis. Gleiches gilt auch bei der typischerweise exekutiven Umsetzungsverpflichtung gericht­ licher Urteile. Die Umsetzungsorgane sind verpflichtet, die Gerichtsentscheidung umfassend und ohne Abweichungen umzusetzen und somit an die gerichtlichen Vorgaben gebunden. Blickt man auf die richterliche Ernennung und die Zuweisung konkreter Fälle an einzelne gerichtliche Spruchkörper, so fällt auf, dass die EMRK vorrangig für letzteres Vorgaben gemacht. Das Ernennungsverfahren und das anschließende Verhältnis zu ihren Ernennungsorganen schadet der richterlichen Unabhängigkeit nur selten, insbesondere wenn Beamte richterlich tätig sind und wenn die Richter in dienstlichen Beziehungen stehen, die sich unmittelbar auf die gerichtliche Entscheidung auswirken können. Auch bei der Zuweisung der Spruchkörper und

756

Kap. 4: Die rechtsprechende Gewalt 

bei deren Zusammensetzung muss der Grundsatz einer unabhängigen Gerichtsbarkeit gewahrt werden. Der EGMR macht sowohl verfahrensrechtliche als auch materielle Vorgaben. Ist ein Richter befangen, müssen die Konventionsstaaten Mechanismen etablieren, um ihn gegen einen unbefangenen Richter auszutauschen. Aus dem Unabhängigkeitsbegriff leiten sich außerdem Vorgaben für die richterlichen Statusrechte ab. Richter müssen weisungsfrei entscheiden (können). Die Weisungsfreiheit verbietet anderen politischen, aber auch anderen judikativen Organen, sich in die richterliche Tätigkeit einzumischen, indem sie den Richter zu einer bestimmten Entscheidung auffordern. Zudem sollte die richterliche Amtszeit möglichst lang ausgestaltet sein. Während der Amtszeit müssen die Richter unabsetzbar sein. Zwar darf ihre Amtszeit aus sachlichen Gründen vorzeitig beendet werden, etwa als ultima ratio-Sanktion eines disziplinarischen Vergehens, wenn gegen diese Entscheidung ein gerichtlicher Rechtsbehelf zur Verfügung steht. Ohne einen sachlichen Grund dürfen Richter aber weder abgesetzt noch gegen ihren Willen dauerhaft versetzt werden. Schließlich dürfen die Konventionsstaaten Richtern Immunität gegen Klagen wegen ihrer richterlichen Entscheidungen zuschreiben. Besonders in den letzten Jahren hat der EGMR den richterlichen Status auch über die persönlichen Konventionsrechte der Richter geschützt. Disziplinarische Maßnahmen gegen Richter dürfen nicht gegen die Meinungsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit, das Recht auf ein ungestörtes Privatleben und die Religionsfreiheit verstoßen. Diese persönlichen Freiheitsrechte der Richter stellen somit eine materielle Grenze für disziplinarische Maßnahmen dar. In die Auslegung dieser Konventionsrechte bezog der EGMR wiederum die Schutzbedürftigkeit einer unabhängigen Gerichtsbarkeit ein. Hierdurch können Richter jedenfalls für ihren Einzelfall mittelbar für die rechtsstaatliche Ausgestaltung der nationalen Gerichtssysteme eintreten. Weil Richter sich zudem wegen Disziplinarmaßnahme auf Art. 6 Abs. 1 EMRK berufen können, müssen Sanktionen gegen sie grundsätzlich gerichtlich überprüfbar sein. Der Schutz der richterlichen Unabhängigkeit wird auch relevant, wenn Richter aus politischen Gründen unzulässig lange in Untersuchungshaft gehalten werden. Schließlich ergeben sich aus der EMRK rudimentäre Anforderungen an die Gerichtsstruktur. Für strafrechtliche Verfahren müssen die Konventionsstaaten eine zweite Instanz einrichten. Auch für alle anderen Verfahren ist ihnen die Einrichtung einer zweiten Instanz empfohlen, damit sie die Möglichkeit behalten, einen Fehler in erstinstanzlichen Verfahren zu heilen. Darüber hinaus dürfen die Konventionsstaaten ihr Gerichtssystem inklusive Spezialgerichten nach ihrem Willen ausgestalten. Auch Organe, die von den Konventionsstaaten selbst nicht als Gerichte bezeichnet werden, können, sofern alle Gerichtsmerkmale vorliegen, nach der EMRK welche sein.

Kapitel 5

Synthese Die Zusammenschau der untersuchten EGMR-Urteile zeigt, dass der EMRK die Grundvorstellung einer gewaltenteiligen Staatsorganisation zugrunde liegt.3563 Die EMRK verpflichtet die Konventionsstaaten, bestimmte organisatorische Mindeststandards innerhalb ihrer Staatsorganisation einzuhalten.3564 Zwar vermeidet es der EGMR typischerweise, die Konventionskonformität abstrakt-generelle Regelungen zu prüfen und betrachtet stattdessen den Einzelfall.3565 Diesen Ansatz betonte der EGMR auch in seiner Gewaltenteilungsrechtsprechung, indem er lange Zeit regelmäßig wiederholte, die Konventionsstaaten nicht zur Einhaltung eines theoretischen Gewaltenteilungskonzeptes zu verpflichten.3566 Gleichwohl würden die Konventionsstaaten die subjektiven Konventionsrechte vieler Bürger regelmäßig aufgrund struktureller Defizite verletzen, wenn sie nicht bestimmte organisatorische Vorkehrungen einhielten. Die von der EMRK vorgegebenen Mindeststandards sind Fragmente und Ansätze einer Staatsorganisation,3567 die nicht jede Einzelfrage abschließend regeln. Vielmehr betreffen sie grundlegende Fragen, sodass den Konventionsstaaten ein großer Spielraum verbleibt, ihre nationalen und verfassungshistorischen Besonderheiten beizubehalten. Vor dem in dieser Arbeit zugrunde gelegten verfassungstheoretischen Hintergrund betrachtet, können die Konventionsstaaten die Freiheiten der EMRK nur schützen und verwirklichen, wenn sie den Anforderungen des konventionsrechtlichen Gewaltenteilungskonzeptes entsprechen.3568 Die konventionsrechtliche Gewaltenteilung dient somit der Freiheitsverwirklichung.3569

3563 Ebenso Masterman, Separation of Powers, S. 60; Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote /  Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 10. 3564 Jeweils bezogen auf Art. 6 Abs. 1 EMRK Müller, Richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, S. 95; Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 46. 3565 Siehe beispielsweise EGMR Nr. 8917/05, Kart v Türkei (GK), 03.12.2009, § 85; Nr. 39417/07, Alim v Russland, 27.09.2011, § 93; Nr. 19620/05 u. a., Uzan u. a. v Türkei, 05.03.2019, § 198; Nr. 6158/18, Tercan v Türkei, 29.06.2021, § 131. 3566 Siehe das Zitat zu Fn. 407 und die Nachweise ab S. 111. 3567 Wojtyczek, ERPL 32 (2020), S. 185 (193–194). 3568 Vgl. Masterman, Separation of Powers, S. 61: „Separation of powers is neither the aim nor the objective of the Strasbourg court, but may nevertheless be the result.“ 3569 Vgl. zur Freiheitsverwirklichung als mittelbarem Zweck der Gewaltenteilung ab S. 70.

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Kap. 5: Synthese 

A. Minimalanforderungen der EMRK an die innerstaatliche Gewaltenteilung Die Rechtsprechungsanalyse hat die konventionsrechtlichen institutionellen und organisatorischen Mindestanforderungen herausgearbeitet. Diese Mindestanforderungen können den vier einzelnen Elementen des verfassungstheoretischen Gewaltenteilungsbegriffs3570 zugeordnet werden. Hieraus ergibt sich eine Schablone für die konventionsstaatliche Gewaltenteilung. Innerhalb des konventionsrechtlich vorgegebenen Rahmens können die Konventionsstaaten die Zuständigkeitsordnung frei gestalten.

I. Traditionelles Funktionsverständnis: Drei Gewalten als Grundkonsens Das konventionsrechtliche Gewaltenteilungsverständnis baut auf den verfassungsübergreifend anerkannten drei Funktionen hoheitlicher Staatsgewalt – der Legislative, der Exekutive und der Judikative – auf. Der Schutz einer unabhängigen und funktionsfähigen Gerichtsbarkeit ist ein vorrangiger Zweck der konventionsrechtlichen Gewaltenteilung. Die Judikative muss im Verhältnis zu den politischen Organen geschützt werden.3571 Diese Schutzbedürftigkeit prägt die Rechtsprechung in vielfältiger Weise. Unmittelbar fällt die Rechtsprechung zur richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit ins Auge, die Richtern ermöglichen soll, Urteile ausschließlich auf Grundlage des Gesetzes und nicht aufgrund externer Einflüsse zu sprechen.3572 Der Gesetzesvorbehalt des Art. 6 Abs. 1 EMRK zur Einrichtung eines Gerichts ist in Abgrenzung zum sonstigen konventionsrechtlichen Gesetzesbegriff ein formeller und begrenzt somit den exekutiven und judikativen Einfluss auf die organisatorischen Grundlagen der innerstaatlichen Gerichtsbarkeit.3573 Daneben schützt auch die richterliche Immunität als Schranke des Rechts auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK und der persönlichen Freiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 EMRK die Richter vor der Gefahr, für ihre hoheitlichen Entscheidungen belangt zu werden.3574 Schließlich bezieht der EGMR die Schutzbedürftigkeit der richterlichen Unabhängigkeit regelmäßig ein, wenn Richter ihre eigenen persönlichen Konventionsrechte geltend machen.3575 Definitionen der einzelnen hoheitlichen Funktionen finden sich in der Rechtsprechung nicht. Der EGMR verwendet die Begriffe der Legislative, Exekutive und Judikative als typisierende Begriffe und legt dabei das allgemeine verfassungsüber 3570

Siehe hierzu ab S. 72. Siehe so auch schon S. 127. 3572 Siehe hierzu im Grundsatz ab S. 423. 3573 Siehe hierzu ab S. 304 sowie ab S. 409. 3574 Hierzu ab S. 633. 3575 Hierzu ab S. 639. 3571

A. Minimalanforderungen der EMRK  

759

greifende Verständnis der legislativen als gesetzgebenden Gewalt, der judikativen als rechtsprechenden Gewalt und der exekutiven als rechtsanwendenden und regierenden Gewalt zugrunde. Anknüpfungspunkte für dieses Funktionsverständnis finden sich in Art. 3 ZP für die Legislative und in Art. 6 Abs. 1 EMRK für die Judikative. Der Begriff der gesetzgebenden Körperschaft (legislature) im Sinne des Art. 3 ZP impliziert typischerweise ein Zustimmungsrecht im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren.3576 Die parlamentarische gesetzgebende Tätigkeit wird somit als legislative Funktion eingeordnet. Die judicial function ist ein konstitutives Begriffsmerkmal des Gerichtsbegriffs im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Als judikative Funktion definiert der EGMR die verbindliche Streitentscheidung auf gesetzlicher Grundlage mit vollumfassender Prüfungsbefugnis.3577 In dem frühen und diesbezüglich einmaligen Urteil Schiesser v Schweiz erkannte der EGMR auch die strafverfolgende und die strafermittelnde hoheitliche Tätigkeit als judicial power an.3578 Die judikative Funktion ist somit nicht auf die verbindliche Streitentscheidung und die Entscheidung über strafrechtliche Anklagen begrenzt. Ein Konventionsrecht, aus dem Rückschlüsse auf die Definition der exekutiven Funktion möglich wären, gibt es nicht. Sofern der EGMR von den drei hoheitlichen Funktionen der Legislative, der Exekutive und der Judikative spricht, hat dies also eine klarstellende und orientierende Wirkung auf Grundlage des verfassungsübergreifend typisierten Verständnisses dieser drei Begriffe. Entscheidend für die Begriffsbestimmung der gesetzgebenden Körperschaft und des Gerichts sind hingegen nicht die Funktionen, sondern jeweils konkrete hoheitliche Tätigkeiten. Diese Tätigkeiten können zwar einer Funktion zugeordnet werden, sind jedoch mit dieser nicht gleichbedeutend.

II. Institutionelle Pluralität Die EMRK verpflichtet die Konventionsstaaten zur Einrichtung mindestens einer gesetzgebenden Körperschaft pro eigenständige hoheitlicher Ebene sowie zur Einrichtung verschiedener judikativer Organe. 1. Die gesetzgebende Körperschaft im Sinne des Art. 3 ZP Die Ausübung des aktiven und des passiven Wahlrechts gemäß Art. 3 ZP setzt die Einrichtung einer gesetzgebenden Körperschaft voraus.3579 Das Wahlrecht aus Art. 3 ZP ist eine zentrale Norm für das konventionsrechtliche Demokratieprin 3576

Siehe zu den Organkompetenzen der gesetzgebenden Körperschaft ab S. 187. Siehe das wörtliche Zitat zu Fn. 1860. 3578 Siehe das wörtliche Zitat zu Fn. 3533. 3579 Siehe hierzu ab S. 142. 3577

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Kap. 5: Synthese 

zip.3580 Dies verdeutlicht die enge Verknüpfung zwischen Demokratieprinzip und Gewaltenteilung auch in der Konventionsrechtsordnung. Ein Parlament mit den in Art. 3 ZP vorgegebenen Merkmalen ist notwendige Voraussetzung einer demokratischen Verfassungsordnung. Die Gewaltenteilung, welche die Einrichtung verschiedener hoheitlicher Organe mit unterschiedlichen Merkmalen verlangt, dient dem konventionsrechtlichen Demokratieprinzip. Die gesetzgebende Körperschaft ist ein hoheitliches Organ, das entscheidend am Gesetzgebungsverfahren beteiligt ist und dessen Kompetenzen verfassungsrechtlich verankert sind.3581 Da in allen Konventionsstaaten ein direkt gewähltes Parlament mit entsprechenden Gesetzgebungskompetenzen existiert, stellte sich bislang noch nicht die Frage, ob die gesetzgebende Körperschaft zwingend pluralistisch und repräsentativ besetzt sein muss. Auch die Rechtsprechung zur Einordnung von Staatsoberhäuptern als gesetzgebende Körperschaft lehnte die Anwendbarkeit von Art. 3 ZP nicht explizit wegen der institutionellen Struktur des Staatsoberhauptes als Organ, das nur mit einem Organwalter besetzt ist, ab.3582 Die Rechtfertigungsvoraussetzungen des Art. 3 ZP verlangen aber, dass ein Eingriff in das Wahlrecht den Wahlprozess nicht derart einschränkt, dass der Wille des Volkes im Wahlergebnis nur verfälscht abgebildet wird,3583 und damit den demokratischen Grundsätzen nicht mehr entsprochen wird. Soll die gesetzgebende Körperschaft den Willen des Volkes möglichst repräsentativ abbilden, muss sie durch eine Mindestzahl von Abgeordneten besetzt sein. Die Existenz und die Kompetenzen der gesetzgebenden Körperschaft müssen verfassungsrechtlich verankert sein.3584 Nur dann liegt eine originäre in Abgrenzung zu einer derivativen Rechtsetzungskompetenz vor. Hieraus ergibt sich, dass in einem System mit mehreren eigenständigen hoheitlichen Ebenen jede Ebene ihre eigene gesetzgebende Körperschaft haben muss. Ein föderal oder regional organisierter Mitgliedstaat der Europäischen Union ist hiernach verpflichtet, drei gesetzgebende Körperschaften einzurichten  – eine regionale beziehungsweise föderale,3585 eine nationale und eine unionale3586 – und diese in regelmäßigen Abständen wählen zu lassen. Kommunale Gebietskörperschaften, deren Rechtsetzungskompetenzen durch ein einfaches Gesetz abgeändert oder aufgehoben werden können, müssen demgegenüber nicht über eine nach den Anforderungen des Art. 3 ZP gewählte gesetzgebende Körperschaft verfügen.3587

3580

Siehe hierzu ab S. 134. Siehe so das Ergebnis auf S. 205 sowie die vorherigen Ausführungen ab S. 180. 3582 So die Deutung ab S. 182. 3583 Siehe die Nachweise in Fn. 558. 3584 Siehe hierzu ab S. 196. 3585 Hierzu ab S. 167. 3586 Zur Einordnung des europäischen Parlaments als gesetzgebende Körperschaft ab S. 162. 3587 Hierzu ab S. 172. 3581

A. Minimalanforderungen der EMRK  

761

Eine entscheidende Rolle im Gesetzgebungsverfahren setzt voraus, dass die Konventionsstaaten die gesetzgebende Körperschaft entscheidend am Gesetzgebungsverfahren beteiligen. Somit ist die Zuordnung einer konkreten hoheitlichen Tätigkeit Bestandteil der Definition der gesetzgebenden Körperschaft.3588 Innerhalb der Merkmale der gesetzgebenden Körperschaft verfügen die Konventionsstaaten über einen weiten Gestaltungsspielraum. Abhängig von der Staatsstruktur dürfen neben den direkt gewählten Parlamenten weitere parlamentarische Organe existieren. So besteht einerseits die Möglichkeit, dass die Verfassungsordnung weitere am Gesetzgebungsverfahren beteiligte Organe mit abweichenden Besetzungsverfahren vorsieht. Viele europäische Verfassungsordnungen kennen zweite parlamentarische Kammern, die auf unterschiedliche Weise besetzt sind. Daneben dürfen auch Staatspräsidenten oder die Regierung am Gesetzgebungsprozess beteiligt sein. Entscheidend ist lediglich, dass der Einfluss der gesetzgebenden Körperschaft auf den Gesetzgebungsprozess nicht zu stark reduziert wird. Zum parlamentarischen Verfahren oder der parlamentarischen Arbeitsweise macht die EMRK keine Vorgaben. Hierfür gibt es keine normativen Anknüpfungspunkte. Insbesondere kann die Einhaltung des parlamentarischen Verfahrens oder eines demokratischen Standards bei parlamentarischen Sitzungen nicht über das Wahlrecht gemäß Art. 3 ZP geltend gemacht werden. Der EGMR hat jedoch den objektiven Verfassungswert der parlamentarischen Autonomie als legitimen Zweck eines Eingriffs in das Recht auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK, in die Meinungsfreiheit aus Art. 10 Abs. 1 EMRK und das passive Wahlrecht aus Art. 3 ZP anerkannt. Da die parlamenta­ rische Autonomie als Rechtfertigungsgrund, nicht als Bestandteil des Schutzbereichs eines Konventionsrechts, relevant ist, kann der EGMR nur darüber entscheiden, ob die Konventionsstaaten sich auf die parlamentarische Autonomie berufen durften. Hieraus ergibt sich nur, dass die parlamentarische Autonomie für bestimmte hoheitliche Entscheidungen – und damit insbesondere der Ausschluss einer gerichtlichen Kontrolle dieser Entscheidungen  – konventionskonform ist. Eine Verpflichtung für die Konventionsstaaten leitet sich hieraus nicht ab. Die parlamentarische Autonomie erlaubt Parlamenten, bestimmte Entscheidungen eigenständig und ohne externe gerichtliche Kontrolle treffen zu können. Anerkannt sind eine autonome parlamentarische Entscheidung über die Aufhebung der parlamentarischen Immunität eines Abgeordneten, die Verhängung disziplinarischer Maßnahmen gegen Abgeordnete und die Annahme des Rücktritts eines Abgeordneten. Hingegen dürfen Parlamente nicht autonom über eine Wahlprüfung entscheiden, deren Ergebnis sich auf die Besetzung des Parlaments hätte auswirken können.3589

3588

Siehe hierzu ab S. 768. Siehe zur parlamentarischen Autonomie ab S. 368.

3589

762

Kap. 5: Synthese 

2. Die judikativen Organe a) Gerichte im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK Art. 6 Abs. 1, Art. 5 Abs. 4 EMRK und Art. 2 ZP 7 fordern von den Konventionsstaaten die Einrichtung von Gerichten. Nur wenn die Konventionsstaaten Gerichte eingerichtet haben, können sie den subjektiven Rechten auf Zugang zum Gericht entsprechen.3590 Gerichte gewährleisten Rechtsschutz und dienen somit der Verhinderung von willkürlicher Ausübung von Hoheitsgewalt oder jedenfalls deren Korrektur. Damit dienen sie der Rechtsstaatlichkeit.3591 Nach Art. 6 Abs. 1 EMRK, der zentralen Rechtsschutznorm, ist ein Gericht ein unabhängiges und unparteiliches, durch ein parlamentarisches Gesetz eingerichtetes Organ, das über Streitigkeiten und strafrechtliche Anklagen verbindlich und unter Beachtung der Verfahrensregeln entscheidet und hierfür eine grundsätzlich vollumfängliche tatsächliche und rechtliche Prüfungskompetenz besitzt.3592 Dieser Gerichtsbegriff ist Ausgangspunkt für die Gestaltung der innerstaatlichen Gerichtsbarkeiten, die sich aus verschiedenen Zweigen und Instanzen zusammensetzen.3593 (1) Institutionelle Bedeutung der einzelnen Gerichtsmerkmale Nur wenige dieser Gerichtsmerkmale betreffen die institutionelle Ausgestaltung im engeren Sinne. Zum einen ist die rechtsprechende Funktion (judicial function) ein elementarer Bestandteil des Gerichtsbegriffs.3594 Ein hoheitliches Organ kann nur dann ein Gericht sein, wenn ihm die Entscheidung über zivilrechtliche Streitigkeiten oder strafrechtliche Anklagen oder nach Art. 5 Abs. 3 oder 4 EMRK über die Rechtmäßigkeit von Freiheitsentziehungen zugewiesen ist. Die Konventionsstaaten sind verpflichtet, in ihren Rechtsordnungen gerichtliche Entscheidungskompetenzen vorzusehen für die in den Anwendungsbereich der Rechtsschutzgewährleistungen fallenden Fälle.3595 Zum anderen betreffen die der Definition immanenten Rechtsgrundlagen das Verhältnis der Gerichte zu Rechtsetzungsorganen. Der formelle Organisationsvorbehalt weist die Einrichtung und Ausgestaltung der Gerichte sowie der Verfahrensordnungen grundsätzlich den innerstaatlichen Parlamenten zu. Das par-

3590

Siehe hierzu ab S. 382 sowie die Analyse ab S. 406. Siehe hierzu ab S. 387. 3592 Siehe diese Definition und zu den einzelnen Gerichtsmerkmalen in Kapitel 4 Abschnitt B ab S. 407. 3593 Vgl. das wörtliche Zitat zu Fn. 1810. 3594 Siehe das wörtliche Zitat zu Fn. 1860. 3595 Siehe hierzu sogleich ab S. 768. 3591

A. Minimalanforderungen der EMRK  

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lamentarische Gesetz ist Grundlage und Grenze des gerichtlichen Handelns.3596 Von der Existenz- und Handlungsgrundlage der Gerichte zu unterscheiden ist ihre Entscheidungsgrundlage. Hierfür macht der EGMR keine konkreten Vorgaben. Aus dem Gesamtkontext der EMRK ergibt sich, dass Einschränkungen von Konventionsrechten durch ein materielles, nicht aber zwingend formelles Gesetz geregelt sein müssen. Eine konventionseinheitliche Auslegung führt also dazu, dass streitentscheidende Rechtsgrundlagen, die Eingriffe in Konventionsrechte ermöglichen, die Anforderungen des materiellen Gesetzesbegriffs3597 erfüllen müssen. Schließlich hängt die gerichtliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit ab. Die Urteile des EGMR beziehen sich typischerweise auf die einzelnen Organwalter. Von der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der einzelnen Richter wird auf die gerichtliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit geschlossen. Nur selten stellt sich die Frage, ob ein Gericht unabhängig sein kann, obwohl ein Richter befangen war. Allerdings zeigt Beausoleil v Frankreich, dass gelegentlich das Erscheinungsbild des gesamten Organs zu einem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK führt, ohne dass es auf die Vorbefassung einzelner Richter ankommt.3598 (2) Gerichtssysteme Die Gerichtsdefinition bezieht sich auf die einzelnen Spruchkörper, unabhängig von ihrer organisatorischen Einbindung in eine Gerichtsstruktur. Zum Aufbau der innerstaatlichen Gerichtsbarkeit macht die EMRK kaum Vorgaben. Insbesondere müssen die Konventionsstaaten keine bestimmten Gerichtszweige oder spezielle Gerichte einrichten.3599 Genauso erlaubt die EMRK den Konventionsstaaten die Einrichtung von Spezialgerichten3600 oder Organen, die neben ihrer gerichtlichen Tätigkeit auch weitere hoheitliche Tätigkeiten ausüben.3601 Gemäß Art. 2 ZP 7 müssen die Konventionsstaaten eine zweite strafgerichtliche Instanz einrichten. Diese zweite Instanz muss grundsätzlich die gleichen Gerichtsmerkmale aufweisen wie die erste nach Art. 6 Abs. 1 EMRK, gewährleistete Instanz. Im Detail passt der EGMR die Anforderungen aber an die Besonderheiten eines zweitinstanzlichen Verfahrens an.3602 Für zivilrechtliche Verfahren besteht keine Verpflichtung zur Einrichtung einer zweiten Instanz. Entscheidend ist lediglich, dass im Instanzenzug ein Gericht, nicht 3596

Siehe zum formellen Organisationsvorbehalt des Art. 6 Abs. 1 EMRK ab S. 304. Siehe hierzu ab S. 239. 3598 Hierzu ab S. 752. 3599 Siehe ab S. 694. 3600 Zu Spezialgerichten ab S. 710. 3601 Siehe zu Gerichtsorganen mit Doppelfunktion ab S. 737. 3602 Siehe hierzu ab S. 697. 3597

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Kap. 5: Synthese 

zwingend das erstinstanzliche, allen Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK entspricht. Ein erstinstanzlicher Verfahrensfehler oder ein erstinstanzlicher Verstoß gegen die Grundsätze der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit kann durch eine höhere Instanz geheilt werden.3603 Diese Heilungsmöglichkeit legt den Konventionsstaaten nahe, zweitinstanzliche Gerichten mit weitreichenden Prüfungs- und Entscheidungskompetenzen einzurichten, um im Falle eines möglichen Konventionsverstoßes durch das erstinstanzliche Gericht nicht ohne Abhilfemöglichkeit eine Verurteilung durch den EGMR zu riskieren. Eine Verpflichtung ergibt sich hieraus aber nicht. (3) Gerichtliche Zuständigkeitsverteilung Die gerichtliche Zuständigkeitsverteilung, also die Bestimmung, welcher Spruchkörper örtlich, sachlich und instanziell sowie innerhalb eines Gerichts zuständig ist, muss nicht entsprechend dem Recht auf einen gesetzlichen Richter vergleichbar mit Art. 101 GG vollständig und abschließend im Voraus bestimmt sein. Sofern gesetzlich vorgesehen, dürfen Gerichtspräsidenten über die Verteilung der an ihrem Gericht anhängigen Verfahren auf die einzelnen Spruchkörper entscheiden. Erst wenn ein einmal zuständiger Spruchkörper ausgetauscht werden soll, muss hierfür ein zwingender Grund vorliegen. Hierdurch wird sichergestellt, dass der Austausch des Spruchkörpers nicht aus politischen Gründen erfolgt und hierdurch der Ausgang des Verfahrens beeinflusst werden kann. (4) Zusammensetzung der Spruchkörper Die EMRK macht kaum Vorgaben dazu, wie die Spruchkörper für einzelne Verfahren ausgestaltet sein müssen. Aus wie vielen Richtern sich ein Spruchkörper zusammensetzt, steht vollständig im Ermessen der Konventionsstaaten. Maßstab für die Beteiligung einzelner Richter am konkreten Verfahren sind stets die Grundsätze der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Es ist keine Person, Personen- oder Berufsgruppe per se von der richterlichen Tätigkeit ausgeschlossen. Militärgerichte oder Militärrichter dürfen über strafrechtliche Anklagen gegen Zivilpersonen jedoch nur entscheiden, wenn die Verfahren Fragen der nationalen Sicherheit betreffen und im konkreten Fall ein zwingender Grund für die Beteiligung Militärangehöriger vorliegt.3604 Hinsichtlich der Zusammensetzung des Gerichts bietet die Rechtsprechungslage Anlass zur Annahme, dass im Grundsatz mindestens eine juristisch ausgebildete Person Mitglied des Spruchkörpers sein muss. In strafrechtlichen Schöffengerich 3603 Siehe zu den Heilungsmöglichkeiten im gerichtlichen Verfahren ab S. 702, insbesondere die Analyse ab S. 707. 3604 Siehe hierzu ab S. 516 sowie ab S. 723.

A. Minimalanforderungen der EMRK  

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ten war stets ein Berufsrichter anwesend. Diesbezüglich scheinen die Konventionsrechtsordnungen einheitlich ausgestaltet zu sein, sodass sich die Frage nach der Anwesenheit eines Berufsrichters bei Schöffengerichten noch nicht stellte. Darüber hinaus hat der Berufsrichter in Schöffengerichten die Aufgabe, das ordnungsgemäße Verfahren sicherzustellen und zu intervenieren, sobald es Anhaltspunkte für eine Befangenheit der Schöffen gibt.3605 Auch daraus begründet sich die Notwendigkeit der Anwesenheit mindestens eines Berufsrichters. Bei Verwaltungs- und Disziplinarkammern findet sich kein Beispiel, in dem ein Spruchkörper ohne juristischen Sachverstand den Anforderungen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit entsprach.3606 Dies ist zwar kein Beleg für eine konventionsrechtliche Vorgabe, legt diese aber nahe. Darüber hinaus wertet der EGMR die juristische Ausbildung als Anhaltspunkt, der für eine richterliche Unabhängigkeit spricht.3607 Dies erklärt sich daraus, dass die juristische Ausbildung für die Gefährdung der richterlichen Unbefangenheit durch unzulässige Einflüsse sensibilisiert und Richtern dadurch ermöglicht, sich bewusst von diesen freizumachen. Auch Cooper v Vereinigtes Königreich spricht nicht gegen die Annahme, dass im Grundsatz mindestens ein Jurist Mitglied eines gerichtlichen Spruchkörpers sein muss. Zwar war das streitgegenständliche Militärgericht konventionskonform, obwohl kein Jurist an der Gerichtsentscheidung beteiligt war. Die militärangehörigen Richter waren durch briefing notes instruiert und es war ein juristisch ausgebildeter judge advocate anwesend, der die Rechtmäßigkeit des Verfahrens sicherstellte.3608 Die Militärgerichtsbarkeit stellt wegen der strengen militärischen Weisungshierarchie, in der sich sowohl die Militärrichter als auch die durch Militärgerichte sanktionierten Militärangehörigen befinden, einen Sonderfall dar, der nicht ohne Weiteres auf andere Sachverhalte übertragen werden kann. Darüber hinaus wurde zwar die gerichtliche Entscheidung formal ohne Beteiligung eines Juristen getroffen, das Verfahren jedoch nicht ohne juristischen Sachverstand durchgeführt. Darüber hinaus macht der EGMR zwingende Vorgaben für die Zusammensetzung eines gerichtlichen Spruchkörpers, wenn an der richterlichen Ernennung verschiedene Interessenverbände mit widerstreitenden Interessen beteiligt sind. In diesem Fall müssen die verschiedenen Interessen im Spruchkörper ausbalanciert vertreten sein. Außerdem dürfen die im Spruchkörper vertretenen Interessen nicht gemeinsam gegen die Interessen einer Prozesspartei stehen.3609 Ebenso problematisch für die richterliche Unabhängigkeit ist ein Besetzungsverfahren, in dem das alleinige Besetzungsorgan mehrheitlich oder ausschließlich mit Vertretern eines Interesses besetzt ist, das gegen die Interessen mindestens einer Prozesspartei steht.3610 3605

Siehe hierzu ab S. 515. Siehe hierzu ab S. 549. 3607 Siehe hierzu ab S. 510. 3608 Siehe hierzu ab S. 719. 3609 Siehe hierzu ab S. 551. 3610 Hierzu ab S. 554. 3606

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Kap. 5: Synthese 

Idealerweise sollte die Zusammensetzung des Spruchkörpers während des Gerichtsverfahrens konstant bleiben. Eine Neuzuweisung der Sache an einen anderen Spruchkörper oder ein Richterwechsel darf nur erfolgen, sofern hierfür sachliche oder organisatorische Gründe vorliegen.3611 Jeder Austausch von Spruchkörper oder Richter birgt die Gefahr, dass die Entscheidung aus politischen Gründen getroffen wird. Dies zeigt besonders das Urteil Haarde v Island, in dem der EGMR es für konventionskonform erachtete, dass die Richter ein Amtsenthebungsverfahren beendeten, obwohl während des Verfahrens ihre Amtszeit abgelaufen war.3612 Ein Wechsel der Richter hätte gerade in Anbetracht des politischen Verfahrens den Eindruck erweckt, dass die Richter allein für das anhängige Verfahren ernannt worden wären. Ein sachlicher Grund für einen Austausch liegt insbesondere vor, wenn ein Richter des zuständigen Spruchkörpers befangen, also nicht unabhängig oder nicht unparteilich ist. Für diesen Fall müssen die Konventionsstaaten Mechanismen zum Austausch des betroffenen Richters vorsehen. Die Prozessparteien müssen die Befangenheit eines Richters geltend machen und seinen Austausch bewirken können. Darüber hinaus sind auch die Richter selbst verpflichtet, sich aus einem Verfahren zurückzuziehen, wenn sie sich für befangen halten. b) Weitere judikative Organe Neben den Gerichten erwähnt die EMRK weitere streitentscheidende Organe, deren institutionelle Anforderungen weniger ausdifferenziert sind. Die institutionellen Anforderungen der Art. 5 Abs. 3 EMRK und des Art. 13 EMRK sind weniger weitreichend als die des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Ein Gericht mit den Merkmalen des Art. 6 Abs. 1 EMRK erfüllt auch die institutionellen Anforderungen des Art. 5 Abs. 3 EMRK und des Art. 13 EMRK. Dies ergibt sich bezüglich Art. 5 Abs. 3 EMRK bereits daraus, dass die Vorführung entweder vor einen Richter, also einen gerichtlichen Organwalter, oder vor eine exekutive Amtsperson mit richterlichen Befugnissen erfolgen darf. Art. 13 EMRK ist im Verhältnis zu Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 5 Abs. 4 EMRK lex generalis, soweit beide Anwendungsbereiche eröffnet sind.3613 Gemeinsam ist allen Organen aber ihr unabhängiger Charakter. Der EGMR verlangt die Unabhängigkeit der Richter und richterlichen Amtspersonen nach Art. 5 Abs. 3 EMRK3614 und der Beschwerdeinstanz im Sinne des Art. 13 EMRK3615. Die Wahlprüfungsorgane im Sinne des Art. 3 ZP sind nicht in der EMRK, wohl aber 3611

Siehe ab S. 582. Siehe hierzu ab S. 584. 3613 Vgl. Meyer-Ladewig / Renger, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer, EMRK, Art. 13 Rn. 41; Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  20 Rn. 115. 3614 Siehe die Nachweise in Fn. 1790. 3615 Siehe die Nachweise in Fn. 1841 und 1842. 3612

A. Minimalanforderungen der EMRK  

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in der EGMR-Rechtsprechung erwähnt. Sie müssen nach der Rechtsprechung des EGMR unparteilich sein.3616 Dies setzt wiederum Unabhängigkeit voraus.3617 Die Unabhängigkeit ist somit der gemeinsame Nenner aller streitentscheidenden Organe, ungeachtet der konkreten institutionellen Ausgestaltung. Darüber hinaus definiert der EGMR auch diese Organe maßgeblich über ihre jeweiligen judikativen Tätigkeiten, Prüfungs- und Entscheidungsbefugnisse. Somit ist wie auch bei Art. 6 Abs. 1 EMRK die Zuordnung der hoheitlichen Tätigkeiten zum Organ, also das dritte Gewaltenteilungselement, wesentlicher Bestandteil der Definition der Organe. Unklar blieb in der Rechtsprechung bislang, ob der formelle Gesetzesvorbehalt des Art. 6 Abs. 1 EMRK auch auf Art. 5 Abs. 3 EMRK und Art. 13 EMRK anwendbar ist. Nach der hier vertretenen Ansicht liegt eine Übertragung des Parlamentsvorbehalts auf Art. 5 Abs. 3 EMRK nahe, da hier die gleiche Schutzbedürftigkeit vor exekutiven Einflüssen besteht. Weil die Beschwerdeinstanz des Art. 13 EMRK im Gegensatz dazu einen stärker exekutiven Charakter hat und dadurch die Schutzbedürftigkeit diesbezüglich geringer ist, wird das Erfordernis eines formellen Gesetzesvorbehalts insoweit abgelehnt.3618 Allen in der EMRK vorgesehenen judikativen Organen ist somit ihre Unabhängigkeit sowie die zwingende Zuordnung bestimmter verbindlicher streitentscheidender Tätigkeiten gemein. Sie müssen jedoch nicht alle ihre Existenzgrundlage in einem formellen Gesetz haben. 3. Keine expliziten Anforderungen an die exekutiven Organe Exekutive Organe erwähnt die EMRK lediglich am Rande. Art. 11 Abs. 2 S. 2 EMRK enthält einen besonderen Einschränkungsvorbehalt für Angehörige der Streitkräfte, der Polizei und der Staatsverwaltung. Darüber hinaus erwähnt die EMRK Behörden (public authority / autorité publique), die nach Art. 8 Abs. 2 EMRK und Art. 10 Abs. 2 EMRK in das geschützte Privatleben beziehungsweise die Meinungsfreiheit eingreifen dürfen. Die Behörden beziehungsweise exekutiven Organe werden also im Rahmen der Schranken, nicht der Gewährleistungsgehalte erwähnt. Daher ergeben sich hieraus auch keine institutionellen Verpflichtungen der Konventionsstaaten. Art. 6 Abs. 1 EMRK verlangt jedoch eine Trennung zwischen Gerichten und Strafverfolgungsorganen, damit das Gericht unparteilich und unabhängig bleibt.3619 3616

Siehe die Ausführungen ab S. 143. Siehe zum Verhältnis von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK ab S. 430. 3618 Siehe hierzu ab S. 329. 3619 Siehe hierzu ab S. 749. 3617

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Kap. 5: Synthese 

Hieraus ergibt sich mittelbar, dass die Organe der Strafverfolgung institutionell von den Gerichten getrennt sein müssen. Weitergehende statusrechtliche Vorgaben lassen sich aus dieser Rechtsprechung nicht ableiten. In den Urteilen, die eine Gerichtsqualität von Regierungen, Regierungsmitgliedern und Monarchen ablehnen, ist jedoch erkennbar, dass diese Organe jedenfalls nicht unabhängig im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK sind.3620

III. Zuordnung der hoheitlichen Tätigkeiten zu den Organen Die EMRK schreibt sowohl der gesetzgebenden Körperschaft als auch den judikativen Organen jeweils hoheitliche Tätigkeiten zu. Diese Zuordnungen müssen die Konventionsstaaten in ihre nationalen Rechtsordnungen übernehmen. Daneben ergibt sich aus der EGMR-Rechtsprechung auch, welche hoheitlichen Tätigkeiten die Konventionsstaaten bestimmten Organen zuweisen dürfen. Es kann also unterschieden werden zwischen konventionsrechtlich verpflichtenden Zuweisungen und konventionsrechtlich zulässigen Zuweisungen. Da der EGMR die Funktionsbezeichnung nur typisierend verwendet und keine trennscharfe Unterscheidung vornimmt,3621 kommen nur eindeutig bestimmte hoheitliche Tätigkeiten als Zuordnungsobjekte in Betracht. 1. Verpflichtende Zuordnungen einzelner hoheitlicher Tätigkeiten Soweit die EMRK eine hoheitliche Tätigkeit verpflichtend einem bestimmten Organ zuweist, sind alle anderen Organe von dieser Tätigkeit ausgeschlossen. Die konventionsstaatlichen Rechtsordnungen müssen also nicht nur einem Organ eine hoheitliche Tätigkeit zuweisen. Andere Organe müssen auch von einer Einmischung in dieser hoheitlichen Tätigkeit abgehalten werden. Dogmatisch ergeben sich die verpflichtenden Zuweisungen aus den Gewährleistungsgehalten des Art. 3 ZP und den verschiedenen Justizrechten. a) Gesetzgebende Körperschaften gemäß Art. 3 ZP (1) Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren Gesetzgebende Körperschaften müssen gemäß Art. 3 ZP in zentraler Funktion am parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren beteiligt sein. Diese Voraussetzung ist jedenfalls erfüllt, wenn die gesetzgebenden Körperschaften den Geset-

3620 3621

Siehe hierzu ab S. 745. Siehe hierzu ab S. 126 und S. 758.

A. Minimalanforderungen der EMRK  

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zesentwürfen als Voraussetzung für deren Inkrafttreten zustimmen müssen.3622 Daneben deutete der EGMR an, dass bei einem fehlenden Zustimmungsrecht auch andere Kompetenzen ausreichen können, um den Anforderungen des Art. 3 ZP zu genügen. In Betracht käme hierfür ein absolutes Vetorecht gegen ein vom Parlament beschlossenes Gesetz oder ein im freien Ermessen stehendes jederzeitiges Auflösungsrecht des Parlaments. Tatsächlich angenommen hat der EGMR eine gesetzgebende Körperschaft nach diesen Voraussetzungen aber noch nie.3623 Ob ein Organ ohne Zustimmungsrecht im Gesetzgebungsverfahren also tatsächlich als gesetzgebende Körperschaft eingeordnet werden kann – mit der Konsequenz, dass auch das Wahlrecht nach Art. 3 ZP anwendbar wäre –, bleibt in der EGMRRechtsprechung noch offen. Die Beteiligung der gesetzgebenden Körperschaft nach Art. 3 ZP muss so ausgestaltet sein, dass andere im Gesetzgebungsverfahren mitwirkende Organe, die nicht nach den Wahlrechtsgrundsätzen des Art. 3 ZP gewählt wurden, keinen stärkeren Einfluss auf das Zustandekommen des Gesetzes haben als die gesetzgebende Körperschaft selbst. Da die Konventionsstaaten alle über ein direkt gewähltes Parlament mit Zustimmungsrecht beim Gesetzgebungsverfahren verfügen, ergaben sich diesbezüglich bislang keine Probleme. Solange etwa eine zweite, nicht direkt gewählte parlamentarische Kammer, maximal gleichberechtigt mit der ersten, direkt gewählten Kammer einem Gesetzesvorhaben zustimmen muss, entspricht dies den Anforderungen des Art. 3 ZP. Problematisch wären hingegen Sachverhaltsgestaltungen, in denen sich ein nicht-direkt gewähltes staatliches Organ über die Entscheidung eines direkt gewählten und repräsentativ besetzten Organs hinwegsetzen könnte. Wegen der sui generis-Natur des Verfassungsverbundes der Europäischen Union gelten diese Bedenken jedoch nicht für das Verhältnis zwischen dem Europäischen Parlament und dem immer noch in einigen Fällen bevorteilten Ministerrat. In dieser speziellen Fallgestaltung erklärt sich der Vorrang des nicht-direkt gewählten Ministerrats mit der notwendigen Repräsentation der Mitgliedstaaten bei der Entscheidung über verbindliche unionale Rechtsakte.3624 Die Verpflichtung, die gesetzgebende Körperschaft in entscheidender Weise am Gesetzgebungsverfahren zu beteiligen, ist eine rein verfahrensrechtliche. Art. 3 ZP enthält hingegen keine Verpflichtung, den Parlamenten bestimmte Sachkompetenzen zur Regelung zuzuweisen. Eine mit der deutschen Wesentlichkeitslehre vergleichbare Rechtsprechung des EGMR gibt es nicht.3625 Genauso verlangt Art. 3 ZP kein Mindestmaß an Verbundkompetenzen im Vergleich zu den anderen hoheitlichen Ebenen.3626

3622

Siehe hierzu ab S. 188. Siehe hierzu ab S. 191. 3624 Siehe hierzu S. 205. 3625 Siehe hierzu ab S. 193. 3626 Siehe hierzu ab S. 195. 3623

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Kap. 5: Synthese 

(2) Erlass der gesetzlichen Grundlagen für die Gerichtsbarkeit Eine zwingende sachliche Zuständigkeit der Parlamente ergibt sich jedoch aus Art. 6 Abs. 1 EMRK: Der formelle Organisationsvorbehalt verpflichtet die Konventionsstaaten, die Parlamente über die Strukturen der Gerichtsbarkeit entscheiden zu lassen. Vom formellen Organisationsvorbehalt umfasst sind die grundlegenden Regelungen zur Einrichtung der Gerichte, zum Gerichtsverfahren, zur Zuweisung von Spruchkörpern, zur Ernennung von Richtern und zur Besetzung der Spruchkörper.3627 Indem die EMRK eine formell-gesetzliche Grundlage verlangt, erhält die gerichtliche Struktur eine gewisse Permanenz. Veränderungen der Rechtslage im Rahmen eines mehrschrittigen parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens sind weniger einfach umzusetzen als mittels einer exekutiven Rechtsverordnung. Die übrigen hoheitlichen Organe sind verpflichtet, die verbindlichen formell-gesetzlichen Grundlagen rechtmäßig anzuwenden.3628 Sollen die konkretisierenden Regelungen durch andere hoheitliche Organe erlassen werden, muss dies ebenfalls durch ein delegierendes parlamentarisches Gesetz geregelt werden.3629 Der formelle Organisationsvorbehalt schließt exekutive und judikative Organe von einer originären Rechtsetzungskompetenz über die gerichtlichen Strukturen aus, nicht jedoch vom Erlass der materiellen Entscheidungsgrundlagen. Da Art. 5 Abs. 4 EMRK und Art. 2 ZP 7 den gleichen Gerichtsbegriff wie Art. 6 Abs. 1 EMRK zugrunde legen, gilt der formelle Gesetzesvorbehalt auch für die Gerichte, die für eine Haftprüfung und für zweitinstanzliche strafgerichtliche Verfahren zuständig sind. Der gleiche Schutzzweck, der auch für den formellen Gesetzesvorbehalt bei der Einrichtung eines Gerichts spricht, nämlich die organisatorischen Vorschriften nicht dem Ermessen der Exekutive zu überlassen, gilt auch für die Organisation der richterlichen Haftprüfung nach Art. 5 Abs. 3 EMRK. Daher sprechen gute Argumente dafür, dass auch für die Ermächtigung einer exekutiven Amtsperson mit richterlichen Befugnissen eine formell-gesetzliche Grundlage erforderlich ist.3630 b) Gerichte (1) Letztverbindliche Entscheidung über Streitigkeiten zivilrechtlicher Natur Gerichte müssen Streitigkeiten, die in den zivilrechtlichen Anwendungsbereich fallen, letztverbindlich entscheiden können. Bei Streitigkeit zwischen zwei Pri-

3627 Siehe zum formellen Organisationsvorbehalt ab S. 304; siehe zur Zuweisung von Spruchkörpern ab S. 534. 3628 Siehe zum Rechtmäßigkeitsprinzip im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK ab S. 312. 3629 Hierzu ab S. 309. 3630 Siehe hierzu bereits ab S. 327.

A. Minimalanforderungen der EMRK  

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vatpersonen kann es bereits ausreichen, dass das zuständige nationale Gericht die Rechtslage feststellt, sodass die berechtigte Person das Urteil anschließend vollstrecken kann. Teilweise müssen die Gerichte auch die Rechtsbeziehung zwischen zwei Personen gestalten.3631 Aufgrund der weiten Auslegung fallen auch viele verwaltungsrechtliche Streitigkeiten zwischen Staat und Bürger und disziplinarrechtliche Streitigkeiten in den zivilrechtlichen Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Kontrolliert ein Gericht eine Verwaltungs- oder eine Disziplinarmaßnahme, muss es rechtswidrige Rechtsakte aufheben und entweder die Sache selbst neu entscheiden oder zur erneuten Entscheidung an eine vorherige Stelle zurückverweisen können. Die EMRK macht also nicht nur Vorgaben, welche Streitigkeiten Gerichte entscheiden können müssen, sondern auch, welche Entscheidungsbefugnisse die Gerichte haben müssen. Diesbezüglich eröffnet die EGMR-Rechtsprechung den Konventionsstaaten zwei gleichwertige Alternativen. Maßgeblich ist, dass ein rechtswidriger Zustand beendet wird und eine neue Entscheidung getroffen wird.3632 Die nationalen Rechtsordnungen müssen den gerichtlichen Kontrollentscheidungen auch verbindliche Wirkung zuschreiben, sodass sich andere hoheitliche Organe nicht über die gerichtliche Entscheidung hinwegsetzen oder diese aufheben dürfen. Ebenso dürfen gerichtliche Urteile nach Ablauf der Rechtsmittelfrist weder durch die Parteien noch durch ein hoheitliches Organ in Frage gestellt werden, sofern hierfür nicht ein zwingender sachlicher Grund vorliegt.3633 (2) Verurteilungen und Freiheitsentziehungen Im strafrechtlichen Anwendungsbereich unterscheidet sich die verpflichtende Zuordnung hoheitlicher Tätigkeiten an die Gerichte abhängig davon, ob ein geringes oder ein nicht-geringes Vergehen vorliegt. Entscheidungen über geringe Vergehen wie Ordnungswidrigkeiten dürfen die Konventionsstaaten in erster Instanz wahlweise Verwaltungsbehörden oder Gerichten zuweisen. Der EGMR beurteilt beide Alternativen als gleichwertig. Abhängig davon, was die nationale Rechtsordnung im Einzelfall vorsieht, müssen die Gerichte entweder die Verwaltungsentscheidung kontrollieren können oder selbst über die Sanktion entscheiden. Kontrollieren sie die Rechtmäßigkeit einer bereits vorhandenen Sanktion, müssen die Gerichte die Kompetenz haben, eine rechtswidrige Sanktion aufzuheben und anschließend entweder selbst über den Sachverhalt entscheiden oder die Sache an eine untere Instanz zurückverweisen können. Die konventionsrechtlich gefor-

3631

Hierzu ab S. 433. Siehe für die Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen ab S. 435 sowie für die Kon­ trolle von Disziplinarentscheidungen ab S. 440. 3633 Siehe zur Bindungswirkung gerichtlicher Urteile ab S. 488. 3632

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Kap. 5: Synthese 

derten Entscheidungskompetenzen sind also die gleichen wie im zivilrechtlichen Anwendungsbereich.3634 Die gerichtliche Entscheidung muss die Strafbarkeit und das Strafmaß umfassen. Die Konventionsstaaten sind aber nicht verpflichtet, wegen jeder strafrechtlichen Anklage ein vollständiges förmliches Gerichtsverfahren durchzuführen. Endet das Verfahren etwa, weil eine Anklage sich als nicht stichhaltig erwiesen hat und daher nicht weiterverfolgt wird, oder wegen geringer Schuld, dürfen auch die Strafverfolgungsorgane oder die Gerichte ohne förmliches Verfahren eine Entscheidung treffen.3635 (3) Kontrolle und Aufhebung gerichtlicher Urteile Gerichtliche Urteile dürfen nur von höheren gerichtlichen Instanzen kontrolliert werden. Nicht-gerichtliche Organe sind von dieser hoheitlichen Tätigkeit ausgeschlossen und dürfen lediglich im Rahmen der Rechtsmittelfrist gesetzlich vorgesehene Rechtsmittel einlegen.3636 (4) Haftprüfung und richterliche Vorführung von Untersuchungsund Präventivgefangenen Schließlich müssen die Konventionsstaaten nach Art. 5 Abs. 4 EMRK eine gerichtliche Haftprüfung ermöglichen und im Fall einer Untersuchungs- oder Präventivhaft nach Art. 5 Abs. 3 EMRK die betroffene Person sogar von Amts wegen einem Richter oder einer Person mit richterlichen Befugnissen vorführen. Im Falle einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung muss das zuständige Gericht beziehungsweise die zuständige richterliche Person die Freilassung anordnen können.3637 (5) Zwischenfazit Die EMRK weist Gerichten verschiedene letztverbindliche Entscheidungs­ befugnisse zu. Soweit Gerichte kontrollierend tätig werden, müssen die nationalen Rechtsordnungen den Gerichten nicht nur die Befugnis zuschreiben, einen rechtswidrigen Rechtsakt aufzuheben, sondern auch auf eine neue rechtmäßige Entscheidung hinzuwirken, entweder durch eigene Entscheidung oder durch Zurückverweisung. Dieser Standard ist in allen Kontrollfällen, unabhängig vom konkreten Sachverhalt, erkennbar. Die von der EMRK vorausgesetzten Entscheidungsbefug 3634

Siehe zur Kontrolle sanktionierender Entscheidungen der Verwaltung ab S. 456. Siehe hierzu ab S. 452. 3636 Hierzu ab S. 488. 3637 Siehe hierzu ab S. 460 und ab S. 462. 3635

A. Minimalanforderungen der EMRK  

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nisse sind also unabhängig vom Einzelfall einheitlich ausgestaltet. Dies bietet den Konventionsstaaten Rechtssicherheit hinsichtlich der Frage, wie Gerichte einer Beschwer abhelfen können müssen. c) Beschwerdeinstanzen nach Art. 13 EMRK Prüfen Beschwerdeinstanzen im Sinne des Art. 13 EMRK Konventionsverletzungen, die nicht in den Anwendungsbereich des vorrangigen Art. 6 Abs. 1 EMRK fallen, müssen sie die Kompetenz haben, Abhilfe zu schaffen, indem sie die Konventionsrechtsverletzung beenden, verhindern oder der betroffenen Person eine Entschädigung zusprechen. Konkretere Vorgaben macht der EGMR nicht, weil die Wirksamkeit verschiedener Maßnahmen von der Art des Eingriffs in das Konventionsrecht abhängt.3638 d) Strafverfolgungsorgane Die Anklage in der mündlichen Strafverhandlung muss von eigenständigen, vom Gericht organisatorisch getrennten Organen vertreten werden. Das Gericht darf die Anklagevertretung nicht selbst übernehmen.3639 Dieser Grundgedanke gilt auch außerhalb von kernstrafrechtlichen Verfahren, zum Beispiel bei Disziplinarverfahren3640 oder bei contempt of court-Verfahren3641. 2. Anerkannte Zuordnungen Andere Zuordnungen hoheitlicher Tätigkeiten zu Organen hat der EGMR als konventionskonform anerkannt. Die Konventionsstaaten können diese Zuordnungen in ihren nationalen Rechtsordnungen umsetzen, ohne einen Konventionsverstoß zu riskieren. a) Gesetzgebende Körperschaft gemäß Art. 3 ZP Die Rechtsprechung zum Begriff der gesetzgebenden Körperschaft stellt ausschließlich auf die Beteiligung eines Organs im formellen Gesetzgebungsprozess ab. Weitere Vorgaben zu typisch parlamentarischen Aufgaben, etwa die Kontrolle der Regierung, die Entscheidung über den Haushalt oder bestimmte Wahlfunktio 3638

Siehe hierzu ab S. 403. Siehe ab S. 749. 3640 Siehe die Nachweise in Fn. 3542. 3641 Hierzu die Nachweise in Fn. 2699. 3639

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Kap. 5: Synthese 

nen, macht Art. 3 ZP nicht. Hinsichtlich der Ausgestaltung der parlamentarischen Rechte sind die Konventionsstaaten frei. Aus der Rechtsprechung zum materiellen Gesetzesbegriff ergibt sich, dass die Einschränkung eines Konventionsrechts kein parlamentarisches Gesetz verlangt. Die Konventionsstaaten sind also nicht verpflichtet, den gesetzgebenden Körperschaften die Aufgabe zuzuweisen, abstrakt-generelle Grundlagen für Eingriffe in Konventionsrechte zu schaffen. Gleichwohl kann ein parlamentarisches Gesetz selbstverständlich die Grundlage einer Grundrechtseinschränkung sein, sofern die weiteren qualitativen Gesetzesmerkmale vorliegen.3642 Die EGMR-Urteile zur parlamentarischen Autonomie zeigen, dass Parlamente auch Entscheidungen über die Aufhebung der parlamentarischen Immunität, über disziplinarische Maßnahmen gegen Abgeordnete und über die Wirksamkeit des Rücktritts eines Abgeordneten treffen können und dass diese Entscheidungen nicht gerichtlich überprüfbar sein müssen.3643 Auch eine streitentscheidende Tätigkeit von Parlamenten im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK ist nicht per se ausgeschlossen, sofern ein inhaltlicher Zusammenhang der Streitigkeit mit der parlamentarischen Tätigkeit besteht. Die Anforderungen an die gerichtliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dürften von einem Parlament allerdings nur schwierig einzuhalten sein. b) Gerichte gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK (1) Verhängung von Disziplinar- und Ordnungsmaßnahmen Sofern Disziplinarorgane, etwa berufsständische Disziplinarkammern oder Richterräte, Gerichtsqualität besitzen, dürfen sie Disziplinarmaßnahmen verhängen, die anschließend keiner weiteren gerichtlichen Kontrolle unterliegen müssen.3644 Gerichtlich verhängte Disziplinarmaßnahmen müssen also nicht noch einmal gerichtlich überprüft werden können. Daneben dürfen Gerichte im Rahmen der nationalen Rechtsordnung auch gerichtliche Ordnungsmaßnahmen verhängen.3645 (2) Rechtsauslegung und Rechtsfortbildung Darüber hinaus zeigen die Urteile zum materiellen Einschränkungsvorbehalt und zum formellen Organisationsvorbehalt, welche Rolle der EGMR den Gerichten bei der Auslegung und Fortbildung von Recht zuschreibt: Gerichte sind primär 3642

Siehe hierzu ab S. 247. Siehe hierzu ab S. 368. 3644 Siehe hierzu ab S. 440. 3645 Hierzu ab S. 458. 3643

A. Minimalanforderungen der EMRK  

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für die Auslegung der abstrakt-generellen Rechtsnormen zuständig.3646 Die EMRK verpflichtet die Gerichte nicht zur Auslegung, der EGMR schreibt den Gerichten die Funktion der Gesetzesauslegung vielmehr aufgrund seiner Wahrnehmung von den tatsächlichen Verhältnissen in den Konventionsstaaten zu. Begrenzt wird die gerichtliche Auslegung sowohl durch die VorhersehbarkeitsRechtsprechung im Rahmen des materiellen Gesetzesbegriffs,3647 als auch durch die Bindung an das (materielle) Gesetz, also die gerichtliche Entscheidungsgrundlage im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK.3648 In beiden Fällen stellt sich die Frage, wie weit eine gerichtliche Auslegung gehen darf, bis sie nicht mehr von der Vorhersehbarkeit beziehungsweise der Gesetzesbindung gedeckt ist. Da die gerichtliche Auslegung im Gegensatz zur statutorischen Rechtsetzung gerade die Flexibilität besitzt, auf Einzelfälle und aktuelle Entwicklungen einzugehen, ist eine Änderung einer bisherigen, auch einer fest etablierten Rechtsprechung grundsätzlich konventionskonform. Auch wenn sich die Entwicklung nicht bereits angedeutet hat, gilt dies jedenfalls, wenn die geänderte Auslegung den Grundwerten der Konvention besser entspricht als die vorherige Auslegung. Auch eine uneinheitliche Rechtsprechungslage müssen die Gerichte nicht per se vermeiden. Insbesondere solange sich eine Rechtslage in der Entwicklung befindet und noch keine höchstgerichtliche Entscheidung vorliegt, sind verschiedene Auslegungsergebnisse sowohl im Rahmen der Vorhersehbarkeit als auch im Rahmen der gerichtlichen Gesetzesbindung hinnehmbar. Widerspricht sich die Auslegung einer Norm von zwei höchsten Gerichten, sind die Konventionsstaaten verpflichtet, einen Konfliktlösungsmechanismus zu etablieren. Bleibt die Rechtsprechung nach Anwendung dieses Mechanismus immer noch uneinheitlich, so liegt – anders als wenn keine Vereinheitlichung der Rechtsprechung versucht wurde –, ebenfalls kein Konventionsverstoß vor. Die Gerichte sind im Rahmen ihrer Auslegungsfunktion also nicht verpflichtet, eine einheitliche Auslegung zu garantieren. Vielmehr sind die Konventionsstaaten lediglich verpflichtet, ein Verfahren zu etablieren, das zur Vereinheitlichung führen kann.3649 Die Grenze zwischen Rechtsauslegung und Rechtsfortbildung ist fließend. Der EGMR betrachtet die Auslegung als Präzisierung des geschriebenen Rechts und Richterrecht als Bestandteil des materiellen Gesetzesbegriffs.3650 Solange das richterliche Rechtsprechungsergebnis den qualitativen Anforderungen materiellen Gesetzesbegriffs entspricht, ist somit unerheblich, ob ein Gericht auslegend oder rechtsfortbildend tätig wird. Auch im Rahmen des formellen Organisationsvorbehalts nach Art. 6 Abs. 1 EMRK ist eine gerichtliche Rechtsfortbildung ausnahms-

3646

Siehe die Nachweise in Fn. 1148. Hierzu und zum Folgenden ab S. 280. 3648 Hierzu und zum Folgenden ab S. 412. 3649 Siehe hierzu ab S. 414. 3650 Siehe ab S. 252. 3647

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Kap. 5: Synthese 

weise zulässig.3651 Da eine Eingriffsgrundlage nach innerstaatlichen Maßstäben rechtmäßig sein muss,3652 sind gerichtliche Rechtsfortbildungen, die den innerstaatlichen Rahmen überschreiten, konventionswidrig. c) Gerichtspräsidenten Gerichtspräsidenten dürfen auf Grundlage einer gesetzlichen Entscheidung an ihrem Gericht anhängige Streitigkeiten in konkret-individueller Entscheidung einem Spruchkörper zuweisen. Sofern ein sachlicher oder organisatorischer Grund vorliegt, dürfen sie eine bereits zugewiesene Streitigkeit auch einem neuen Spruchkörper zuweisen.3653 Ebenso dürfen Gerichtspräsidenten oder Organe mit vergleichbarer Funktion über die personelle Zusammensetzung einzelner Spruchkörper entscheiden. Die Ausübung dieser Kompetenzen ist jedoch ausgeschlossen, wenn die Gerichtspräsidenten in einem konkreten Verfahren selbst Antragsteller oder Partei sind.3654 d) Exekutive Organe Die Konventionsstaaten dürfen exekutiven Organen grundsätzlich alle Aufgaben zuweisen, die nach der EMRK nicht verpflichtend einem anderen Organ zugewiesen werden müssen. (1) Exekutive Rechtsetzung Exekutive Organe dürfen rechtsetzend tätig werden. Der materielle Einschränkungsvorbehalt umfasst auch exekutive Rechtsnormen, die kein parlamentarisches Verfahren durchlaufen haben. Ob die exekutive Rechtsetzung durch ein parlamentarisches Gesetz ermöglicht werden muss, hängt vom innerstaatlichen Recht ab. Die EMRK verlangt keine formell-gesetzliche Ermächtigung.3655 Im Rahmen des formalen Organisationsvorbehalts des Art. 6 Abs. 1 EMRK ist eine formell-gesetzliche Delegation hingegen erforderlich. Eine originäre exekutive Rechtsetzungsbefugnis für gerichtsorganisatorische Entscheidungen dürfen die konventionsstaatlichen Rechtsordnungen nicht vorsehen. Wie genau die delegierte Rechtsetzungskompetenz begrenzt oder vorbestimmt werden muss, geht aus der wenigen diesbezüglichen Rechtsprechung nicht hervor.3656 3651

Hierzu ab S. 311. Hierzu ab S. 244. 3653 Siehe zu diesen beiden Fällen ab S. 534. 3654 Hierzu ab S. 541. 3655 Siehe hierzu ab S. 249. 3656 Siehe hierzu ab S. 309. 3652

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(2) Konkret-individuelle Rechtsanwendungsentscheidungen Während der EGMR den Gerichten vorrangig die Auslegung zuschreibt, betrachtet er die Verwaltungsbehörden als die primären Rechtsanwendungsorgane.3657 Der Spielraum bei der Rechtsanwendung wird durch die zugrunde liegende Norm bestimmt und begrenzt. Die Rechtsanwendungsorgane sind also verpflichtet, rechtmäßig zu handeln.3658 Daneben verpflichtet der Grundsatz der Vorhersehbarkeit die innerstaatlichen Rechtsetzungsorgane, den Beurteilungs- und Ermessensspielraum der rechtsanwendenden Verwaltungsorgane ausreichend zu begrenzen.3659 Disziplinarmaßnahmen dürfen nicht nur von Gerichten, sondern auch von exekutiven Organen verhängt werden. Häufig haben die Disziplinarorgane der berufsständischen Körperschaften oder die Richterräte keine Gerichtsqualität. Verhängen exekutive Organe Disziplinarmaßnahmen, sind sie dabei an die geltenden Gesetze gebunden. Außerdem muss ihre Entscheidung nach Art. 6 Abs. 1 EMRK gerichtlich überprüfbar sein.3660 (3) Streitentscheidung und Verhängung von Sanktionen Exekutive Organe dürfen im Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK streitentscheidend und sanktionierend tätig werden, sofern anschließend eine letztverbindliche gerichtliche Kontrollmöglichkeit zur Verfügung steht. Im Rahmen des zivilrechtlichen Anwendungsbereichs ist eine solche organisatorische Entscheidung der Konventionsstaaten zulässig, ohne sie mit Erfordernissen der Effektivität oder Flexibilität der Ausübung von Hoheitsgewalt begründen zu müssen.3661 Im strafrechtlichen Anwendungsbereich ist eine Sanktionierung durch Verwaltungsbehörden nur zulässig, sofern keine schweren Vergehen in Rede stehen oder eine Freiheitsstrafe verhängt wird.3662 (4) Freiheitsentziehungen Lediglich für die Freiheitsstrafe ist nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a) EMRK eine gerichtliche Anordnung erforderlich. Bereits im Fall des Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. b) EMRK dürfen Verwaltungsbehörden darüber entscheiden, zur Durchsetzung einer gerichtlichen Anordnung eine Freiheitsentziehung anzuordnen.3663 Auch in den Fällen des Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. c)–f) EMRK dürfen Freiheitsentziehungen durch 3657

Siehe dazu ab S. 279–280. Zum Rechtmäßigkeitserfordernis ab S. 302. 3659 Hierzu ab S. 273. 3660 Hierzu ab S. 445. 3661 Sehe dazu ab S. 435. 3662 Vgl. hierzu ab S. 456. 3663 Siehe hierzu ab S. 398. 3658

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Kap. 5: Synthese 

Behörden angeordnet werden. Dies ergibt sich in systematischer Auslegung bereits daraus, dass der Wortlaut, anders als in lit. a) und lit. b) nicht auf gerichtliche Entscheidungen abstellt. Die Rechtmäßigkeit der exekutiven Freiheitsentziehungen kontrollieren die Gerichte nach Art. 5 Abs. 3 und 4 EMRK. (5) Umsetzung gerichtlicher Urteile Art. 6 Abs. 1 EMRK schützt auch die Um- und Durchsetzung gerichtliche Urteile, weil ansonsten ein gerichtlicher Rechtsbehelf nicht wirksam wäre. Der EGMR gibt jedoch nicht vor, welche hoheitlichen Organe innerstaatlich für die Umsetzung der Urteile zuständig sein müssen. Es ist aber als konventionskonform anerkannt, dass diese Aufgabe typischerweise den Verwaltungsbehörden zugeschrieben wird.3664 3. Formen institutioneller Interaktion Ausgehend von den verpflichtenden und den darüber hinaus konventionskonformen Zuweisungen einzelner Kompetenzen an hoheitliche Organe kennt die EMRK verschiedene Formen institutioneller Interaktionen. a) Relative Trennung der Gerichte von anderen Organen Gerichte müssen ihre Entscheidungen unabhängig und ohne Einflussnahme durch andere hoheitliche Organe treffen. Die nach der EMRK verpflichtenden gerichtlichen Tätigkeiten müssen also getrennt von anderen hoheitlichen Organen ausgeübt werden können.3665 Hierbei handelt es sich um ein zentrales Element der konventionsrechtlichen Gewaltenteilung, da hierdurch die unabhängige Gerichtsbarkeit besonders geschützt wird. Gleichwohl existieren die Gerichte nicht frei jedweder Interaktion mit anderen hoheitlichen Organen. Die EMRK verlangt keine absolute Trennung. Eine Interaktion darf einerseits bei dem richterlichen Ernennungsverfahren stattfinden. Andererseits entscheiden die Gerichte auf Grundlage des Gesetzes, also auf Grundlage von Rechtaakten, die von anderen Organen erlassen wurden. Die relative Trennung der Gerichte von anderen hoheitlichen Organen drückt die EMRK vorrangig durch die Grundsätze der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit aus, die einerseits jeder Prozesspartei über Art. 6 Abs. 1 EMRK garantiert sind und andererseits als grundlegender Wert der EMRK aus in der Auslegung anderer Gerichtsmerkmale und anderer Konventionsrechte zum Tragen kommt. 3664 3665

Siehe das wörtliche Zitat zu Fn. 2293 sowie die Nachweise in Fn. 2294. So ausdrücklich Masterman, Separation of Powers, S. 61.

A. Minimalanforderungen der EMRK  

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(1) Wirksame und verbindliche gerichtliche Entscheidung ohne Beteiligung anderer hoheitlicher Organe Die EMRK verpflichtet die Konventionsstaaten, die nationale Rechtsordnung so auszugestalten, dass gerichtliche Entscheidungen vollständig ohne Beteiligung anderer hoheitlicher Organe wirksam getroffen werden können. Daher dürfen Regierungsmitglieder nicht an der Festlegung des Strafmaßes in strafgerichtlichen Verfahren beteiligt sein.3666 Zudem dürfen gerichtliche Entscheidungen für ihre Wirksamkeit nicht noch durch ein anderes hoheitliches Organ wie einen Monarchen oder ein militärisches Gerichtsverwaltungsorgan bestätigt werden müssen.3667 Gerichte dürfen auch nicht an die Auslegung einer Norm oder Rechtsansicht eines anderen hoheitlichen Organs gebunden sein, die entscheidend für das Ergebnis der rechtlichen Streitigkeit ist.3668 Und schließlich dürfen nicht-gerichtliche Organe gerichtliche Entscheidungen anschließend auch nicht kontrollieren. Ihnen ist es im Rahmen der nationalen Gesetze erlaubt, ordentliche Rechtsmittel einzulegen. Die Rechtsordnungen dürfen insbesondere exekutiven Organen aber keine außerordentlichen Rechtsmittel einräumen, mithilfe derer sie politisch unliebsame Urteile noch einmal in Frage stellen können.3669 (2) Gerichtliche Entscheidung frei von tatsächlichen Einflüssen Auch jede tatsächliche Einmischung in oder Einflussnahme auf ein laufendes Gerichtsverfahren durch andere hoheitliche Organe müssen die Konventionsstaaten verhindern.3670 Ein tatsächlicher Einfluss auf die richterliche Entscheidung liegt auch vor, wenn sich die zuständigen Richter bereits im Rahmen einer anderen hoheitlichen Tätigkeit eine vorgeprägte Ansicht über die im Gerichtsverfahren zu entscheidenden Fragen bilden konnten. Grundsätzlich liegt eine unzulässige Vorbefassung vor, wenn ein Richter zweimal in der gleichen Sache über die gleichen rechtlichen Fragen entscheiden musste. Im Sonderfall einer Vorbefassung als Staatsanwalt reicht es hingegen aus, wenn der aktuell als Richter zuständige frühere Staatsanwalt potentiell die Möglichkeit gehabt hätte, auf das Ermittlungsverfahren Einfluss zu nehmen.3671 Die von der EMRK geforderte Trennung betrifft die konkrete gerichtliche Tätigkeit, nicht die Gerichte als solche. Daher dürfen die Konventionsstaaten Organe einrichten, die neben ihrer richterlichen Tätigkeit weitere hoheitliche Aufgaben 3666

Siehe hierzu ab S. 453. Siehe hierzu ab S. 489. 3668 Hierzu ab S. 478. 3669 Siehe hierzu ab S. 490. 3670 Siehe hierzu ab S. 591. 3671 Siehe zu verschiedenen Fällen der richterlichen Vorbefassung ab S. 557. 3667

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Kap. 5: Synthese 

haben. Paradebeispiele für solche Organe mit Doppelfunktion sind Staatsräte mit einer Beratungsfunktion der Gesetzgebung. Sie widersprechen der relativen Trennung der richterlichen Tätigkeit nicht, sofern die Richter nicht bereits in einem Beratungsverfahren mit dem gleichen Fall beziehungsweise der gleichen Entscheidung befasst waren wie im Beratungsverfahren.3672 Die relative Trennung betrifft nicht die Gerichtsbarkeit oder ein gesamtes Gericht von anderen eigenständigen hoheitlichen Organen, sondern den im konkreten Fall zuständigen Spruchkörper mit seinen Richtern. Auch andere Mitglieder der Judikative, insbesondere Gerichtspräsidenten, dürfen sich nicht in die konkrete gerichtliche Entscheidung eines Spruchkörpers einmischen.3673 (3) Rückwirkende Gesetzgebung Erlässt ein Rechtsetzungsorgan rückwirkend eine in einem anhängigen Gerichtsprozess anwendbare Norm, kann sich dies auf die gerichtliche Entscheidung auswirken. Wie stark die Trennung der Gerichte von anderen hoheitlichen Organen in diesen Fällen ausgestaltet ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Wegen Art. 7 EMRK sind Rechtsetzungsorgane in jedem Fall von einer Einmischung in strafgerichtliche Verfahren ausgeschlossen, sofern diese sich auf die Entscheidung über die Strafbarkeit der angeklagten Person auswirkt.3674 Bei einer rückwirkenden Rechtsetzung, die sich auf zivilgerichtliche Verfahren auswirkt, nimmt der EGMR hingegen eine Abwägung vor, in die er die Intention des Gesetzgebers, die Dringlichkeit der Gesetzesänderung, den Zeitpunkt der Gesetzesänderung und die Rolle des Staates im Gerichtsverfahren einbezieht.3675 In zivilgerichtlichen Verfahren dürfen die Rechtsetzungsorgane somit auch während eines gerichtlichen Verfahrens tätig werden und dadurch das Urteil beeinflussen. Erfolgt eine solche Rechtsetzung jedoch gerade aus der Intention, Einfluss auf ein konkretes Gerichtsverfahren zu nehmen, sind an die Rechtfertigung besonders strenge Maßstäbe anzulegen. b) Formen der Zusammenarbeit und des Zusammenwirkens Während die relative Trennung der gerichtlichen Spruchkörper im Rahmen ihrer Streitentscheidung für die Konventionsstaaten verpflichtend umzusetzen ist, gilt dies für die in der EGMR-Rechtsprechung nachweisbaren Formen der institutionellen Zusammenarbeit und des Zusammenwirkens nicht. Hierbei handelt es sich 3672

Speziell zur Gerichtsqualität der Staatsräte ab S. 737. Zur internen richterlichen Unabhängigkeit ab S. 611. 3674 Siehe hierzu S. 417. 3675 Siehe hierzu ab S. 417. 3673

A. Minimalanforderungen der EMRK  

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in den meisten Fällen lediglich um Hinweise an die Konventionsstaaten, ob die institutionelle Interaktion erlaubt ist. (1) Zusammenarbeit im Gesetzgebungsverfahren Da die gesetzgebende Körperschaft lediglich einen entscheidenden, aber keinen alleinigen Einfluss auf die Verabschiedung von Gesetzen haben muss,3676 dürfen auch andere Organe am parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren beteiligt sein. Typische Ausgestaltungen des Gesetzgebungsverfahrens wie die Beteiligung einer zweiten Kammer, ein Initiativrecht der Regierung oder die Ausfertigung des beschlossenen Gesetzes durch das Staatsoberhaupt sind konventionskonform. Die Beteiligung weiterer Organe wird durch die Erfordernisse des Demokratieprinzips begrenzt: Ein Gesetzgebungsverfahren, in dem der Einfluss des direkt gewählten Parlaments hinter einem anderen nicht direkt gewählten und nicht repräsentative besetzten Organ zurücktritt, widerspräche den Anforderungen des Art. 3 ZP. (2) Zusammenarbeit bei der Strafverfolgung Im Bereich des Kernstrafrechts entscheidet das Strafgericht über eine förmlich erhobene Anklage, die im Strafprozess von einem hoheitlichen Organ vertreten werden muss. Eine strafrechtliche Verurteilung kann also nur erfolgen, wenn zuvor von einem anderen Organ eine Anklage erhoben wurde. Ein Kontrollverhältnis liegt hierin gleichwohl nicht, da die Staatsanwaltschaft durch ihre Anklage noch keine verbindliche Aussage über eine Strafbarkeit macht. Diese Form der Zusammenarbeit zwischen Anklageorgan und Gerichten ist für die Konventionsstaaten verpflichtend. (3) Zusammenwirken bei Fragen der gerichtlichen Prozessökonomie In Abgrenzung zur relativen Trennung der gerichtlichen Tätigkeit von anderen hoheitlichen Einflüssen ist es zulässig, wenn Gerichte in Anbetracht einer sich abzeichnenden hohen Anzahl gleichartiger Gerichtsverfahren mit anderen hoheitlichen Organen, die als Partei an diesen Streitigkeiten beteiligt sein werden, versucht, prozessökonomisch sinnvolle Lösungen zu finden.3677

3676

Siehe zu diesem Merkmal ab S. 188. Hierzu ab S. 607.

3677

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Kap. 5: Synthese 

(4) Zusammenwirken bei der Ausgestaltung der innerstaatlichen Rechtsordnung Im Rahmen des materiellen Gesetzesbegriffs hat der EGMR sowohl legislative als auch exekutive und judikative Organe als Rechtsetzungsorgane anerkannt.3678 Die Rechtsetzungsakte verschiedener Organe ergänzen sich gegenseitig. Die EMRK macht keine Vorgaben für den Ablauf einzelner Rechtsetzungsverfahren in den Konventionsstaaten und ordnet die gerichtliche Auslegung und Fortentwicklung des Rechts ebenfalls als Rechtsetzung ein. Da die EMRK grundsätzlich kein Organ von einer rechtsetzenden Tätigkeit ausschließt, dürfen alle Organe gemeinsam an der Ausgestaltung der Rechtsordnung zusammenwirken. Grenzen für Ausgestaltungen der materiellen Rechtslage, die einen Eingriff in Konventionsrechte ermöglichen, ergeben sich einerseits aus dem Rechtmäßigkeitserfordernis am Maßstab des innerstaatlichen Rechts. Ob eine exekutive Rechtsetzung oder gerichtliche Rechtsfortbildung zulässig ist, bestimmt das nationale Recht. Andererseits begrenzten die qualitativen Merkmale die Gestaltung der Rechtsetzungsakte. Grundsätzlich gelten für alle Organe die gleichen Kriterien der Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit.3679 Bei judikativen Rechtsakten ergeben sich jedoch dadurch Besonderheiten, dass den Betroffenen zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt nicht klar sein kann, wie ein Gericht letztlich im Nachhinein über die Sache entscheiden wird.3680 Zusammenfassend erkennt der EGMR an, dass die nationale Rechtsordnung durch ein Zusammenwirken von Rechtsetzung und Auslegung verschiedener hoheitlicher Organe ausgestaltet wird. c) Gerichte als Kontrollorgane Gerichte und andere Rechtsprechungsorgane nach Art. 5 Abs. 3 EMRK und Art. 13 EMRK sind in der Konventionsrechtsordnung für die Kontrolle der anderen hoheitlichen Organe zuständig. Andere Kontrollverhältnisse, etwa zwischen Parlament und Regierung, werden von der EMRK nicht geregelt und sind nicht Gegenstand der EGMR-Rechtsprechung. Allgemein gilt, dass kein Gericht und kein Richter seine eigenen vorherigen Entscheidungen kontrollieren darf.3681 Auch die sonstige Rechtsprechung zur richterlichen Vorbefassung stützt diesen Grundsatz, da der EGMR in diesen Fällen darauf abstellt, ob eine bereits getroffene rechtliche

3678

Siehe hierzu ab S. 247. Hierzu ab S. 264. 3680 Siehe hierzu ab S. 280; siehe außerdem die besonderen Anforderungen an die Zugänglichkeit von Richterrecht ab S. 269. 3681 Siehe zum Beispiel die Nachweise in Fn. 2673 zur Kontrolle einer erstinstanzlichen Entscheidung durch ein Rechtsmittelgericht, in Fn. 3452 für die Vorbefassung von Richterräten. 3679

A. Minimalanforderungen der EMRK  

783

Entscheidung erneut von Bedeutung ist.3682 Die von der EMRK vorgeschriebene Kontrolle setzt also stets die Prüfung durch ein zweites Organ voraus. (1) Kontrolle exekutiver Entscheidungen (a) Kontrollgegenstände Sofern Verwaltungsentscheidungen und Entscheidungen anderer exekutiver Organe in den Anwendungsbereich der Art. 5 Abs. 3 oder 4 oder Art. 6 Abs. 1 EMRK fallen, unterliegen sie einer verpflichtenden gerichtlichen Kontrolle.3683 Ausgeschlossen aus dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK sind nur solche Streitigkeiten, die den Kernbereich der exekutiven Gestaltungsbefugnis (hard core of public-authority prerogatives) betreffen:3684 das Wahlrecht, das Parteien- und Abgeordnetenrecht, das Steuerrecht, sofern es sich nicht um Steuerstrafzahlungen handelt, sowie das Ausländer-, Asyl- und Staatsangehörigkeitsrecht.3685 In allen anderen verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten müssen die Gerichte auf Antrag exekutive Entscheidungen am Maßstab des nationalen Rechts überprüfen. Aus der Pflicht zur gerichtlichen Kontrolle ausgeschlossen sind auch die Fälle, in denen ein Eingriff in das Recht auf Zugang zum Gericht gerechtfertigt ist. Dies ist zum Beispiel bei Klagen gegen Organwalter der Fall, die im Rahmen ihrer hoheitlichen Tätigkeit immun sind. Die gerichtliche Kontrollkompetenz darf eingeschränkt werden, um die Funktionsfähigkeit der hoheitlichen Gewalt zu sichern.3686 Eine gerichtliche Kontrolle exekutiver Entscheidungen ist auch nicht möglich, wenn das innerstaatliche Recht kein anwendbares Recht als Rechtmäßigkeitsmaßstab einer konkreten Handlung kennt. Dies kann insbesondere bei Regierungsentscheidungen der Fall sein.3687 Anders als belastendes Verwaltungshandeln muss staatsleitendes Regierungshandeln nicht in jedem Fall gesetzlich geregelt sein. Sofern verwaltungsrechtliche Streitigkeiten in den zivilrechtlichen Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK fallen, kontrollieren die Gerichte entweder den rechtsgestaltenden konkret-individuellen, belastenden Verwaltungsakt oder die nicht-gerichtliche, erstinstanzliche Streitentscheidung, falls eine solche im innerstaatlichen Recht vorgesehen ist.3688 Im strafrechtlichen Anwendungsbereich haben Gerichte eine Kontrollaufgabe, wenn Verwaltungsbehörden Sanktio 3682

Zur Vorbefassung ab S. 557. Die Erwägungen zum Anwendungsbereich finden sich stets zu Beginn jedes Abschnitts in Kapitel 4 C. I., also ab S. 433, S. 448, S. 460, S. 462. 3684 Siehe die Nachweise in Fn. 2188. 3685 Siehe hierzu die Darstellung der Rechtsprechung ab S. 465, sowie die Analyse ab S. 473. 3686 Siehe zur Immunitätsrechtsprechung ab S. 502. 3687 Siehe hierzu ab S. 505. 3688 Siehe hierzu ab S. 433. 3683

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Kap. 5: Synthese 

nen wegen geringer Vergehen verhängt haben.3689 Darüber hinaus kontrollieren die Gerichte nach Art. 5 Abs. 4 EMRK und Richter beziehungsweise richterliche Amtspersonen nach Art. 5 Abs. 3 EMRK auch exekutive Entscheidungen über Freiheitsentziehungen.3690 (b) Reichweite der Kontrolle Die Prüfungsbefugnis bestimmt die Reichweite der gerichtlichen Kontrolle. Nach dem Konzept der full jurisdiction müssen Gerichte grundsätzlich über eine vollumfängliche tatsächliche und rechtliche Prüfungskompetenz verfügen. Allerdings interpretiert der EGMR diese Anforderung in verwaltungsrechtlichen Konstellationen flexibel. Zwar verlangt der Gerichtshof auch in diesen Fällen, dass ein Gericht alle zentralen Streitpunkte klären können muss. Gleichzeitig erlaubt er, dass die Prüfungskompetenz etwa in spezialisierten Rechtsgebieten eingeschränkt sein darf, weil Richter, anders als spezialisierte Verwaltungsbehörden, bestimmte technische Sachverhalte möglicherweise nicht ausreichend einschätzen können.3691 Exekutive Zweckmäßigkeitsentscheidungen müssen die Gerichte nicht kontrollieren können, entscheidend ist lediglich die Rechtmäßigkeit am Maßstab des nationalen Rechts. Enthalten die nationalen Rechtsordnungen, wie zum Beispiel bei Streitigkeiten über den Zugang zu öffentlichen Ämtern, kein materielles Recht, können Gerichte immerhin die Einhaltung der Verfahrensvorschriften prüfen.3692 (c) Abhilfe Stellen die Gerichte einen Rechtsverstoß durch Verwaltungsbehörden fest, müssen sie unabhängig davon, ob die Gerichte den ursprünglichen belastenden Verwaltungsakt, ein unmittelbar belastendes materielles Gesetz oder eine erstin­ stanzliche nicht-gerichtliche Streitentscheidung kontrolliert haben, die Kompetenz haben, die rechtswidrigen Rechtsakte aufzuheben. Die EMRK verlangt von den Konventionsstaaten also, den Gerichten die Möglichkeit einzuräumen, rechtswidrige Zustände zu beenden. Daneben räumt der EGMR den Konventionsstaaten zwei verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten ein – entweder müssen die Gerichte die Streitigkeit zurück an die ursprünglichen Behörden beziehungsweise Instanzen verweisen, damit diese in der Sache entscheiden. In diesem Fall spielen die Gerichte eine ausschließlich kontrollierende Rolle. Der EGMR erlaubt jedoch auch, dass die Gerichte selbst über die Sache entscheiden. In diesem Fall sind die Gerichte nicht auf ihre kon 3689

Hierzu ab S. 456. Siehe ab S. 460. 3691 Siehe zur Prüfungskompetenz und ihren Einschränkungen ab S. 475. 3692 So zum Beispiel bei richterlichen Ernennungsverfahren, siehe ab S. 481. 3690

A. Minimalanforderungen der EMRK  

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trollierende Rolle beschränkt. Sie werden selbst auch rechtsgestaltend tätig und übernehmen die Rolle der rechtsanwendenden Verwaltungsbehörden. Entscheiden sich die Konventionsstaaten für diese Gestaltungsmöglichkeit, dann stellen die Gerichte in diesem Fall – anders als bei der reinen Kontrolle – auch Zweckmäßigkeitserwägungen an. (2) Kontrolle gerichtlicher Entscheidungen Gerichtliche Entscheidungen dürfen nur von Gerichten überprüft und kontrolliert werden. Aufgrund der gerichtlichen Bindungswirkung sind andere hoheit­ liche Organe von einer Kontrolle gerichtlicher Entscheidungen ausgeschlossen.3693 Kontrollbeziehungen zwischen den Gerichten bedeuten eine innerfunktionale Gewaltenteilung. Eine verpflichtende gerichtliche Kontrolle verlangt die EMRK gemäß Art. 2 ZP 7 nur für erstinstanzliche strafgerichtliche Verurteilungen, sofern es sich nicht um Verurteilungen wegen geringer Vergehen handelt und sofern für die Verurteilung nicht nach der nationalen Rechtsordnung das höchstinstanzliche innerstaatliche Gericht zuständig war.3694 Sofern die Konventionsstaaten für andere Gerichtsurteile eine Kontrollmöglichkeit vorsehen, muss diese ebenfalls durch eine höhere gerichtliche Instanz erfolgen.3695 Dies betrifft auch den Sonderfall, dass ein Gericht eine Disziplinarmaßnahme selbst verhängt und nicht kontrolliert. Eine Kontrolle dieser Disziplinarmaßnahmen müssen die Konventionsstaaten also nicht ermöglichen.3696 Eine wirksame Kontrolle gerichtlicher Entscheidungen verlangt, wie eine wirksame Kontrolle exekutiver Entscheidungen, dass das Gericht die rechtswidrige Entscheidung aufheben kann und entweder selbst erneut entscheiden oder an das ursprüngliche Gericht zurückweisen kann. Die EMRK überlässt den Konventionsstaaten also die Entscheidung, ob die zweiten Instanzen die Entscheidung selbst übernehmen oder zurückweisen.3697 Die EMRK verlangt allerdings darüber hinaus von den Konventionsstaaten, dass sie die Möglichkeiten, Rechtsmittel einzulegen, gesetzlich regeln. Insbesondere muss das nationale Recht regeln, ab welchem Zeitpunkt ein Gerichtsurteil rechtskräftig ist. Ab diesem Zeitpunkt ist prinzipiell keine gerichtliche Kontrolle mehr möglich. Die Konventionsstaaten müssen die Rechtsmittelfrist also begrenzen. Ab Eintritt der Rechtskraft dürfen Urteile nur noch in Frage gestellt werden, wenn ein eindeutiges Fehlurteil vorliegt, wenn ein Gericht ultra vires handelte oder neue Beweise zugänglich werden, die zum Zeitpunkt des ursprünglichen Verfahrens 3693

Siehe hierzu ab S. 489. Siehe zu den Anforderungen des Art. 2 ZP 7 ab S. 697. 3695 Siehe hierzu ab S. 695. 3696 Siehe hierzu ab S. 445. 3697 Siehe für zivilrechtliche Streitigkeiten die Nachweise in Fn. 3243 sowie für strafrechtliche Verfahren Fn. 3259. 3694

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Kap. 5: Synthese 

noch nicht vorliegen konnten. In diesen Fällen ist eine Wiederaufnahme des Verfahrens zulässig.3698 Darüber hinaus erlaubt eine gerichtliche Kontrolle auch, Verstöße gegen die Grundsätze der richterlichen Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit sowie gegen die Verfahrensvorschriften zu heilen.3699 (3) Eingeschränkte Kontrolle legislativer Entscheidungen Das Recht auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK besteht auch, wenn eine Streitigkeit zivilrechtlicher Natur unmittelbar durch ein formelles oder sogar ein verfassungsänderndes Gesetz hervorgerufen wurde.3700 Sofern die Verletzung eines zivilen Rechts unmittelbar auf ein solches Gesetz zurückzuführen ist, muss das Gericht im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK auch formelle oder verfassungsändernde Gesetze überprüfen können. Entsprechend den allgemeinen Rechtsprechungsgrundsätzen muss das zuständige Gericht dann auch die Kompetenz haben, das Gesetz aufzuheben. Typischerweise gründet die Streitigkeit zwischen Bürger und Staat sich jedoch nicht auf das abstrakt-generelle Gesetz, sondern die konkret-individuelle Rechtsanwendungsentscheidung der Verwaltungsbehörden, sodass die EMRK eine gerichtliche Kontrolle von Gesetzgebungsakten nur in seltenen Ausnahmefällen fordert. Darüber hinaus enthält die EMRK kein Konventionsrecht, das eine Normenkontrolle parlamentarischer Gesetze vorgibt. Auch Art. 13 EMRK schützt diese Möglichkeit nicht.3701 Auch durch das Parlament verhängte Disziplinarmaßnahmen gegen Abgeordnete als politische Entscheidungen außerhalb des Anwendungsbereichs des Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht gerichtlich überprüfbar sein.3702

IV. Rechtlicher Status von Organwaltern Die Vorgaben des EGMR für den Status von Organwaltern und damit für die personelle Gewaltenteilung sind zentral für das konventionsrechtliche Gewaltenteilungsverständnis. Es finden sich viele konventionsrechtliche Vorgaben für Abgeordnete und besonders für Richter. Richter und Gerichtspräsidenten werden vom EGMR sowohl beim Ernennungs- als auch bei Disziplinarverfahren und auch hinsichtlich der Statusrechte nach den gleichen Maßstäben behandelt.

3698

Siehe hierzu ab S. 490. Siehe zu den genauen Voraussetzungen ab S. 702. 3700 Siehe die Nachweise in Fn. 2000. 3701 Siehe die Nachweise in Fn. 1831. 3702 Siehe die Nachweise in Fn. 2032. 3699

A. Minimalanforderungen der EMRK  

787

1. Inkompatibilitätsvorschriften Die Konventionsstaaten sind nicht verpflichtet, absolute Inkompatibilitäten verschiedener hoheitlicher Ämter einzurichten. Das passive Wahlrecht gemäß Art. 3 ZP erlaubt Inkompatibilitäten anderer hoheitlicher Ämter mit der Abgeordnetentätigkeit und Unwählbarkeiten als konventionskonforme Einschränkungen. Dies gilt für Beamte und Mitglieder der exekutiven Gemeindeverwaltung. Ebenso sind Regelungen konventionskonform, wonach Richter und Staatsanwälte ihre früheren Ämter vor ihrer Kandidatur niederlegen müssen.3703 Fragen der Inkompatibilität des Richteramtes mit anderen hoheitlichen Ämtern stellen sich im Rahmen der richterlichen Unabhängigkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK. Das Richteramt ist nicht grundsätzlich mit parallelen oder früheren exekutiven Tätigkeiten unvereinbar. Weder eine gleichzeitige oder frühere Tätigkeit als Abgeordneter noch als Mitglied eines Beratungsorgans oder als Beamter führen zu fehlenden richterlichen Unabhängigkeit. Entscheidend ist nicht, ob ein Richter eine andere hoheitliche Tätigkeit ausübt oder ausgeübt hat, sondern ob er in der gleichen Sache bereits in hoheitlicher Funktion tätig war.3704 Die EMRK stellt also für die Richter keine abstrakten Inkompatibilitätsregeln auf, sondern stellt auf die tatsächlichen Verhältnisse ab. Für eine frühere Tätigkeit eines Richters als Staatsanwalt formuliert der EGMR jedoch ausnahmsweise strengere Voraussetzungen: In diesem Fall ist die Zuständigkeit des Richters bereits konventionswidrig, wenn er die Ermittlungen zwar nicht persönlich durchgeführt hat, als Vorgesetzter hierfür jedoch die Verantwortung trug.3705 2. Statusrechte und -pflichten Statusrechte von Abgeordneten ergeben sich aus Art. 3 ZP, von Richtern aus Art. 6 Abs. 1 EMRK. Daneben bezieht der EGMR die statusrechtlichen Wertungen der EMRK auch in die Prüfung der Freiheitsrechte der Organwalter ein. a) Abgeordnete Aus dem passiven Wahlrecht des Art. 3 ZP lassen sich Statusrechte der Abgeordneten ableiten. Gewählte Abgeordnete haben das Recht, ihr Mandat bis zum Ende der Legislaturperiode auszuüben. Hoheitliche Organe dürfen sie an der Ausübung ihres Mandats nicht hindern. Daher darf sich ein Parteiverbot nicht auf den Abgeordnetenstatus auswirken. Im Fall eines Freiheitsentzugs muss der Abgeordnetenstatus in die Abwägung im Rahmen der Rechtfertigung einbezogen werden. 3703

Siehe hierzu ab S. 333. Siehe zur richterlichen Vorbefassung ab S. 557. 3705 Siehe hierzu ab S. 570. 3704

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Kap. 5: Synthese 

Genauso ist eine rückwirkende Änderung der statusrechtlichen Regelungen nur aus zwingenden Gründen möglich.3706 Die Ausübung konkreter parlamentarischer Rechte wird an Art. 10 Abs. 1 EMRK, die Meinungsfreiheit der Abgeordneten, angeknüpft. Politische Äußerungen nach Art. 10 Abs. 1 EMRK sind besonders geschützt, sodass Äußerungen von Abgeordneten nur selten gerechtfertigt sanktioniert werden können. Die Meinungsfreiheit schützt sowohl Äußerungen der Abgeordneten außerhalb des Parlaments als auch im parlamentarischen Prozess. Zudem sind nach der EGMR-Rechtsprechung auch die Ausübung parlamentarischer Kontrollrechte im Rahmen der Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 Abs. 1 EMRK geschützt.3707 Die Konventionsstaaten dürfen die inhaltliche Arbeit der Abgeordneten also nur in den Grenzen der Meinungsfreiheit beschränken. Eine parlamentarische Immunität müssen die Konventionsstaaten nicht einrichten, dürfen eine solche Regelung aber in den Grenzen des Rechts auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK etablieren. Die parlamentarische Immunität der Abgeordneten muss darauf gerichtet sein, die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu erhalten. Dafür darf sie sich nur auf solche Fälle beziehen, die an der hoheitlichen Tätigkeit der Abgeordneten anknüpfen.3708 b) Richter Wie die parlamentarische Immunität ist auch eine richterliche Immunität eine gerechtfertigte Einschränkung des Rechts auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK. Die Konventionsstaaten dürfen eine richterliche Immunität also für Fälle vorsehen, die im Zusammenhang mit der richterlichen hoheitlichen Tätigkeit stehen.3709 Daneben ergeben sich verpflichtende richterliche Statusrechte aus den Grundsätzen der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Einige dieser Vorgaben betreffen die gesetzliche Ausgestaltung, andere stellen auf das Erscheinungsbild ab. Eindeutige Aussagen zu den sich aus der richterlichen Unabhängigkeit ableitbaren Statusrechten sind schwierig zu treffen, weil der EGMR in den meisten Fällen eine Gesamtabwägung aller Umstände vornimmt und somit selten eine isolierte Regelung zum Konventionsverstoß führt. Die Weisungsfreiheit schützt Richter vor unzulässigen Einflussnahmen durch hoheitliche Organe und durch Parteien. Entscheidend ist, dass die hoheitlichen Organe die richterliche Weisungsfreiheit in ihrem tatsächlichen Handeln ausrei 3706

Siehe hierzu ab S. 338. Siehe hierzu ab S. 359. 3708 Siehe hierzu ab S. 344. 3709 Hierzu ab S. 633. 3707

A. Minimalanforderungen der EMRK  

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chend achten. Daher dürfen hoheitliche Organe nicht direkt oder öffentlich über die Medien Einfluss auf ein anhängiges Gerichtsverfahren nehmen.3710 Die EMRK legt den Konventionsstaaten nahe, die richterlichen Amtszeiten so lang wie möglich zu gestalten und idealerweise ohne Verlängerungsmöglichkeit. Eine definitive Mindestdauer gibt der EGMR jedoch nicht vor, sondern bezieht stets die Einzelfallumstände ein. So sind etwa bei Laienrichtern kürzere Amtszeiten zulässig als bei Berufsrichtern. Den Status der richterlichen Unabsetzbarkeit müssen die Staaten grundsätzlich mittels gesetzlicher Regelungen schützen. Gleichzeitig verfügen die Konventionsstaaten über einen weiten Gestaltungsspielraum: Sie sind nicht verpflichtet, die Unabsetzbarkeit gesetzlich zu garantieren, solange tatsächlich keine ungerechtfertigten Absetzungen aus unsachlichen Gründen passieren.3711 In jedem Fall müssen richterliche Absetzungen aber auf einer rechtlichen Grundlage beruhen. Die Gesetzgebungsorgane sind also verpflichtet, Disziplinargründe und -verfahren gesetzlich zu regeln. Richter in den Konventionsstaaten müssen auch unversetzbar sein. Zwar ist es zulässig, Richter kurzzeitig mit ihrem Willen an ein anderes Gericht zu versetzen oder abzuordnen. Dauerhafte Versetzungen gegen den Willen des Richters müssen jedoch auf einem sachlichen Grund beruhen, der die Bedeutung der Gewaltenteilung und der richterlichen Unabhängigkeit beachtet.3712 Zwingende Vorgaben zur richterlichen Vergütung lassen sich aus der EMRK nicht herleiten. Richter müssen in den von ihnen entschiedenen Streitigkeiten auch unparteilich, also nicht vorbefasst und unvoreingenommen sein. Diese Vorgaben betreffen typischerweise die individuelle Beziehung eines Richters zu einer konkreten Streitigkeit und somit nur selten unmittelbar die institutionelle Einbindung der Richter.3713 Die Konventionsstaaten können nicht alle Fälle der richterlichen Befangenheit im Vorhinein durch organisatorische Maßnahmen verhindern. Die Konventionsstaaten sind aber verpflichtet, rechtliche Mechanismen vorzusehen, um einen befangenen Richter auszutauschen. Einerseits ist der Richter selbst verpflichtet, auf seine Befangenheit aufmerksam zu machen. Andererseits müssen die Konventionsstaaten den Prozessparteien eine Möglichkeit eröffnen, den Austausch eines befangenen Richters zu initiieren.3714 Relevant für die Gewaltenteilung sind einerseits die im Rahmen der Inkompatibilität bereits angesprochenen Fälle der Vorbefassung. Andererseits kann sich eine Voreingenommenheit aufgrund einer hoheitlichen Beziehung der Richter auch ergeben, wenn Ernennungs- oder Disziplinarorgane der 3710

Hierzu ab S. 591. Siehe hierzu ab S. 620. 3712 Hierzu ab S. 626. 3713 Siehe zur Unparteilichkeit oben ab S. 426. 3714 Hierzu ab S. 585. 3711

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Kap. 5: Synthese 

Richter als Partei am Streit beteiligt sind. Bei Berufsrichtern führt dieser Zustand alleine nicht zur Voreingenommenheit. Ist jedoch ein Beamter richterlich tätig oder plant ein Richter konkret seinen Wechsel in die Exekutive, ist die Beteiligung der hierarchisch übergeordneten Organe als Partei am Prozess unzulässig.3715 Aus der Rechtsprechung zur richterlichen Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 Abs. 1 EMRK geht schließlich hervor, dass Richter verpflichtet sind, sich im öffentlichen Diskurs in der Art und Weise ihrer Meinungsäußerung zurückzuhalten. Äußern sich Richter in einer unsachlichen Art und Weise, durch die das Vertrauen der Allgemeinheit in die Funktionsfähigkeit der Justiz verringert wird, sind deswegen – unter Beachtung aller weiteren Abwägungskriterien des Art. 10 EMRK – disziplinarische Maßnahmen gerechtfertigt. Indes sind Richter nicht verpflichtet, sich aus jedem öffentlichen Diskurs herauszuhalten. Insbesondere wenn sie durch ihre Äußerungen zu einer öffentlichen Diskussion über Fragen, die die Gerichtsbarkeit betreffen, beitragen, besteht an diesen Äußerungen ein erhöhtes Interesse der Allgemeinheit.3716 Die richterliche Pflicht zur Zurückhaltung betrifft auch die Ausübung weiterer Konventionsrechte wie die Religionsfreiheit gemäß Art. 9 EMRK und das ungestörte Privatleben gemäß Art. 8 EMRK.3717 c) Organwalter der Exekutive Für verpflichtende statusrechtliche Vorgaben an Organwalter der Exekutive gibt es kaum normative Anknüpfungspunkte in der EMRK. Aus der Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit geht jedoch hervor, dass den Konventionsstaaten wegen der in Art. 10 Abs. 2 EMRK erwähnten „Pflichten und Verantwortung“, die Beamte in besonderem Maße treffen, ein „gewisser Entscheidungsspielraum“ für Einschränkungen zusteht.3718 Damit können die Konventionsstaaten Einschränkungen der Meinungsfreiheit von Beamten leichter rechtfertigen als von anderen Bürgern. Dies bedeutet, die Beamten müssen sich bei der Ausübung ihrer Meinungsfreiheit ähnlich zurückhalten wie Richter. Darüber hinaus erlaubt die EMRK den Konventionsstaaten, auch für exekutive Amtsträger wie Polizisten oder Staatsoberhäupter, Immunitäten einzurichten, soweit Handlungen in hoheitlicher Funktion dadurch einer gerichtlichen Kontrolle entzogen werden.3719

3715

Hierzu ab S. 603. Siehe hierzu ab S. 641. 3717 Hierzu ab S. 667 sowie ab S. 674. 3718 Siehe die Nachweise in Fn. 3047. 3719 Siehe hierzu ab S. 502. 3716

A. Minimalanforderungen der EMRK  

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3. Besetzungs- und Ernennungsverfahren a) Abgeordnete der gesetzgebenden Körperschaft Gemäß Art. 3 ZP müssen die Abgeordneten der gesetzgebenden Körperschaft oder jedenfalls einer parlamentarischen Kammer direkt gewählt werden. Somit muss das Volk über die Zusammensetzung der gesetzgebenden Körperschaft entscheiden. Darüber hinaus müssen die weiteren Wahlrechtsgrundsätze eingehalten werden. Weitere am Gesetzgebungsverfahren beteiligte Organe, etwa zweite parlamentarische Kammern, müssen nicht beziehungsweise nicht direkt gewählt werden, dürfen aber bei einer im Vergleich zur ersten parlamentarischen Kammer weniger unmittelbaren demokratischen Legitimation nicht über mehr Einfluss auf das Gesetzgebungsverfahren verfügen als die erste Kammer. Die Anforderungen an das Besetzungsverfahren gesetzgebender Körperschaften sind also abgestuft.3720 b) Richter Aus der EMRK ergeben sich keine zwingenden Vorgaben für den Ablauf des richterlichen Ernennungsverfahrens und die beteiligten Organe. Eine Beteiligung exekutiver Organe am Ernennungsverfahren wertet der EGMR jedoch als Aspekt, der gegen die richterliche Unabhängigkeit spricht.3721 Besonders gravierend wirkt sich die Beteiligung von Militärangehörigen bei der Ernennung von Militärrichtern aus, gerade wenn die Ernennungsorgane hierarchisch über den Militärangehörigen stehen.3722 Eine zentrale Rolle von Richterräten beim Ernennungsverfahren befürwortet der EGMR grundsätzlich. Hieran ändert auch die Tatsache nichts, dass Richterräte häufig zum Teil mit Organwaltern der Exekutive besetzt sind.3723 Allerdings verlangt der EGMR, dass die Besetzungsverfahren rechtmäßig ablaufen.3724 Das anschließende Abhängigkeitsverhältnis der Richter zu ihren Ernennungsoder Disziplinarorganen schadet ihrer richterlichen Unabhängigkeit nur, wenn sich das Verhältnis unmittelbar auf die richterliche Entscheidung auswirkt.3725 Machen Richter Mängel eines Ernennungsverfahrens geltend, in dem sie sich selbst beworben haben, dann stellt der EGMR im Rahmen seiner Prüfung des Art. 6 Abs. 1 EMRK Verfahrensvorschriften in den Mittelpunkt und hält sich mit der

3720

Siehe hierzu ab S. 198. Hierzu ab S. 523. 3722 Hierzu ab S. 529. 3723 Siehe hierzu ab S. 527. 3724 Siehe hierzu ab S. 313. 3725 Hierzu ab S. 598. 3721

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Kap. 5: Synthese 

Prüfung materieller innerstaatlicher Vorschriften zurück.3726 Hieraus ergeben sich also keine institutionellen Anforderungen an den richterlichen Ernennungsprozess. Seit Guðmundur Andri Ástráðsson v Island sind jedoch Fehler im Ernennungsverfahren auch für die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines Richters im konkreten Verfahren relevant. Wurde ein Richter in offenkundigem Verstoß gegen die Verfahrensregeln ernannt und widerspricht dies dem Sinn und Zweck des Art. 6 Abs. 1 EMRK, gilt das Gericht nicht als durch Gesetz eingerichtet. Die innerstaatlichen Organe dürfen somit nicht gegen die Ernennungsvorschriften verstoßen, wenn hierdurch auf strukturelle Weise die typischen Eigenschaften der Gerichtsbarkeit gefährdet werden.3727 Diese generelle Betrachtungsweise des EGMR verpflichtet die Konventionsstaaten, Richter, die in einem rechtswidrigen Verfahren ernannt wurden, nicht einzusetzen. Dabei ist es unerheblich, ob sich der Ernennungsfehler auf ein konkretes Verfahren auswirkt. Daneben macht die EMRK auch Vorgaben zu den Organen, die an der Entscheidung über die konkrete Besetzung eines Spruchkörpers im Einzelfall beteiligt sein dürfen. Organwalter, die als Anklagevertreter oder als Partei an einem Gerichtsverfahren beteiligt sind, dürfen nicht über die Besetzung des Spruchkörpers entscheiden.3728 c) Keine Vorgaben für exekutive Organe Für das Besetzungsverfahren von exekutiven Organen macht der EGMR keine Vorgaben. Fälle, in denen Beschwerdeführer einen Verstoß gegen das Wahlrecht bei der Wahl des Staatsoberhauptes geltend machten, waren offensichtlich unbegründet.3729 Das heißt, dass Staatsoberhäupter nicht direkt gewählt werden müssen. Offen bleibt bislang, ob möglicherweise ein mit besonders vielen Kompetenzen im Gesetzgebungsverfahren ausgestattetes Staatsoberhaupt als gesetzgebende Körperschaft eingeordnet werden kann. Würde daneben immer noch ein Parlament direkt gewählt, wären die Konventionsstaaten selbst dann nicht verpflichtet, eine direkte Wahl durchzuführen. Auch kommunale Räte oder Versammlungen werden vom EGMR nicht als gesetzgebende Körperschaft eingeordnet, wenn ihre Kompetenzen lediglich einfachgesetzlich und nicht verfassungsrechtlich abgesichert sind. Daher müssen auch sie nicht nach den Wahlrechtsgrundsätzen des Art. 3 ZP gewählt werden.

3726

Siehe hierzu ab S. 481. Siehe hierzu ab S. 313. 3728 Siehe hierzu ab S. 541. 3729 Siehe hierzu ab S. 156. 3727

A. Minimalanforderungen der EMRK  

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4. Disziplinarverfahren Konventionsrechtliche Vorgaben an Disziplinarverfahren gegen Organwalter ergeben sich aus den persönlichen Freiheitsrechten der Organwalter. Für Richter ist auch Art. 6 Abs. 1 EMRK anwendbar. a) Abgeordnete Disziplinarische Maßnahmen gegen Abgeordnete dürfen im Rahmen der parlamentarischen Autonomie vom Parlament oder einem parlamentarischen Organ getroffen werden.3730 Betreffen die Disziplinarmaßnahmen Äußerungen der Abgeordneten im Parlament oder die Ausübung parlamentarischer Kontrollrechte, müssen sie den Anforderungen der Meinungsfreiheit aus Art. 10 Abs. 1 EMRK entsprechen. Strafbare Meinungsäußerungen oder Äußerungen in unangemessener Art und Weise dürfen jedoch sanktioniert werden.3731 Einen Zugang zum Gericht, um gegen parlamentarische Disziplinarmaßnahmen vorzugehen, müssen die Konventionsstaaten den Abgeordneten nicht einrichten. Die Vilho Eskelinen-Formel ist für Abgeordnete nicht anwendbar.3732 Hierdurch respektiert der EGMR die parlamentarische Autonomie und entzieht die Disziplinarmaßnahmen der verpflichtenden gerichtlichen Kontrolle. b) Richter Disziplinarmaßnahmen gegen Richter müssen grundsätzlich gerichtlich überprüfbar sein, da nach der Vilho Eskelinen-Formel eine Vermutung für die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 EMRK besteht, die nur unter strengen Voraussetzungen widerlegt werden kann. Eine gerichtliche Überprüfbarkeit ist jedoch entbehrlich, wenn bereits die Disziplinarmaßnahme durch ein Gericht verhängt wird.3733 In diesem Fall sind die Konventionsstaaten nicht verpflichtet, eine weitere Kontrollinstanz einzurichten. Indem die Richter selbst gegen Disziplinarmaßnahmen und vor allem Entlassungen vorgehen können, tragen sie zur Sicherung der institutionellen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bei. Ihr Recht auf Zugang zum Gericht darf nicht eingeschränkt werden, wenn hierdurch der objektiven richterlichen Unabhängigkeit geschadet wird.3734 Anders als bei der Kontrolle von Ernennungsverfahren müssen 3730

Siehe hierzu ab S. 371. Siehe hierzu S. 363. 3732 Siehe bereits die Nachweise in Fn. 2032. 3733 Siehe hierzu ab S. 440. 3734 Siehe zum Gewährleistungsgehalt des Art. 6 Abs. 1 EMRK im Fall von richterlichen Disziplinarmaßnahmen ab S. 677. 3731

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Kap. 5: Synthese 

die Konventionsstaaten außerdem dafür sorgen, dass die Gerichte die Rechtmäßigkeit der Disziplinarmaßnahme tatsächlich und rechtlich umfassend prüfen können, dass die gerichtliche Kontrolldichte also nicht eingeschränkt ist.3735 Darüber hinaus müssen Disziplinarmaßnahmen gegen Richter den freiheitsrechtlichen Gewährleistungen der EMRK entsprechen. Ein Verstoß gegen die materiellen Freiheitsrechte liegt dann vor, wenn eine vorzeitige Absetzung nicht auf einen legitimen und verhältnismäßigen Grund zurückgeführt werden kann. Die Anforderungen aus Art. 6 Abs. 1 EMRK und den materiellen Freiheitsrechten sind deckungsgleich. c) Organwalter der Exekutive Auch Beamten steht grundsätzlich ein Recht auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK zu, sofern die Vilho Eskelinen-Formel anwendbar ist. Ebenso können sie sich auf ihre privaten Freiheitsrechte berufen.3736

V. Fazit Der Schutz von konventionsrechtlichen Freiheitsrechten ist nicht möglich, ohne dass die Konventionsstaaten einige grundlegende institutionelle Vorgaben der EMRK übernehmen. In den meisten Fällen betreffen diese Vorgaben allgemein anerkannte Notwendigkeiten des demokratischen Rechtsstaates, wie die Einrichtung eines repräsentativ besetzten Parlaments oder eines unabhängigen Gerichts. Hilfreich zur Bestimmung des institutionellen Handlungskorridors der Konventionsstaaten sind aber nicht nur die verpflichtenden Aussagen der EMRK, sondern auch die Urteile des EGMR, die konkrete hoheitliche Regelungen oder Rechtsakte als konventionskonform einstufen und somit als Leitlinie dienen können.

B. Mechanismen zur Ableitung staatsorganisatorischer Vorgaben aus den subjektiven Rechten der EMRK Anders als Vollverfassungen enthält die menschenrechtliche „Teilverfassung“3737 EMRK keine eigenständigen Organisationsnormen.3738 Um dennoch organisatorische Vorgaben aus der EMRK abzuleiten, wendet der EGMR verschiedene Mechanismen an. 3735

Hierzu ab S. 482. Siehe die Urteile in Fn. 41. 3737 Siehe für diese Bezeichnungen Fn. 3 und 4. 3738 Hoffmeister, Der Staat 40 (2001), S. 350 (354); Nußberger, JZ 2019, S. 421 (425). 3736

B. Mechanismen zur Ableitung staatsorganisatorischer Vorgaben  

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I. Autonomes und funktionales Begriffsverständnis Der EGMR legt die EMRK grundsätzlich autonom, also unabhängig vom jeweiligen innerstaatlichen Rechtsverständnis aus.3739 Dies gilt auch für die gesetzgebende Körperschaft,3740 den materiellen Gesetzesbegriff,3741 den zivilrechtlichen und den strafrechtlichen Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK,3742 den Gerichtsbegriff,3743 den Begriff der Amtsperson mit richterlichen Befugnissen nach Art. 5 Abs. 3 EMRK,3744 und die gerichtliche Prüfungskompetenz im Rahmen der full jurisdiction3745. Diese autonomen Definitionen führen dazu, dass der EGMR ein konventionsrechtliches Verständnis der Merkmale schafft, dem die Staaten entsprechen müssen. Gleichzeitig definiert der EGMR die Konventionsbegriffe mit staatsorganisatorischer Relevanz typischerweise funktional und damit maßgeblich über die hoheitliche Tätigkeit: Die gesetzgebende Körperschaft ist ein verfassungsrechtlich verankertes Organ mit zentralen Befugnissen im Gesetzgebungsverfahren. Indem die EMRK nicht genau vorschreibt, welche Befugnisse die gesetzgebende Körperschaft hat, und weil in allen repräsentativ-demokratischen Staaten anerkannt ist, dass das von den Bürgern direkt gewählte Parlament Gesetzesvorhaben zustimmen muss, hat Art. 3 ZP bislang nicht zu institutionellen Umwälzungen in den Konventionsstaaten geführt. Gleichwohl sichert Art. 3 ZP einen unabdingbaren Mindeststandard. Die qualitativen Anforderungen, die den materiellen Gesetzesbegriff prägen, gelten für alle rechtsetzenden Organe. Die Tatsache, dass gerade für die gerichtliche Rechtsetzung besondere Anforderungen gelten, hat keine institutionellen Auswirkungen, sondern begrenzt lediglich die gerichtliche Tätigkeit.3746 Ob beziehungsweise wie weit Gerichte rechtsfortbildend tätig werden dürfen, bleibt eine Frage des innerstaatlichen Rechts. Den Gerichtsbegriff definiert der EGMR funktional über die gerichtliche Tätigkeit3747 sowie die Merkmale der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Hierdurch ermöglicht der EGMR den Konventionsstaaten, dass hoheitliche Organe unabhängig von ihrer innerstaatlichen Bezeichnung und Einordnung Gerichte im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK sein können.3748 Die Gerichtsmerkmale sind also unabhängig 3739 Siehe grundsätzlich zur autonomen Auslegung Gerards, General Principles of the ECHR, S. 67–76; Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 5 Rn. 9–13. 3740 Siehe die Nachweise in Fn. 892. 3741 Siehe hierzu S. 303. 3742 Siehe hierzu die Nachweise in Fn. 1979 und 2059. 3743 Siehe die Nachweise in Fn. 1853. 3744 Siehe Fn. 1788. 3745 Siehe die Nachweise in Fn. 2196. 3746 Siehe zu den qualitativen Gesetzesmerkmalen ab S. 264. 3747 Siehe die Nachweise in Fn. 1863. 3748 Siehe für einen Überblick nach typischen Fallgruppen von Organen, die (nicht) als Gerichte anerkannt sind, ab S. 709.

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Kap. 5: Synthese 

von einer konkreten institutionellen Struktur anwendbar, sichern aber die für gerichtliche Entscheidungen typischen Merkmale ab. An den aktuellen Urteilen Bilgen v Türkei sowie Reczkowicz v Polen, DolińskaFicek und Ozimek v Polen und Advance Pharma sp. z o.o v Polen, allesamt aus 2021 und 2022, zeigt sich, wie der EGMR sogar das Merkmal des „innerstaat­ lichen Rechts“ als Maßstab rechtmäßigen hoheitlichen Handelns autonom und funktional auslegt. In allen Fällen verlangte der EGMR, dass das nationale Recht im Lichte konventionsrechtlicher und anderer völkerrechtlicher Vorgaben ausgelegt wird. Im Ergebnis durfte die Auslegung des nationalen Rechts somit insbesondere nicht den konventionsrechtlichen Anforderungen an die gerichtliche Unabhängigkeit widersprechen.3749

II. Objektive und strukturelle Wirkungen der subjektiven Konventionsrechte Nach der Lehre von den positive obligations gehen die Wirkungen der Konventionsrechte über ihre abwehrrechtliche Dimension, durch welche ungerechtfertigte Eingriffe in die freiheitliche Sphäre der Träger von Konventionsrechten verhindert werden, hinaus.3750 Da der EGMR selbst die positive obligations nicht definiert,3751 wird der Begriff uneinheitlich verwendet.3752 Eine strikte Definition versteht positive obligations als hoheitliche Schutzplichten, also als die Pflicht die Grundrechtsträger vor Grundrechtseingriffen durch Private beziehungsweise nicht-hoheitliche Stellen zu schützen.3753 Ein anderer Ansatz fasst unter positive obligations alle aktiven Tätigkeiten eines Staates, die notwendig sind, um den Schutz eines Konventionsrechts zu gewährleisten.3754 Einige 3749

Siehe hierzu ab S. 317 sowie ab S. 441. Monographisch Dröge, Positive Verpflichtungen; Mowbray, The Development of Positive Obligations; speziell zu Schutzpflichten Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten. 3751 Dröge, Positive Verpflichtungen, S. 5; Mowbray, The Development of Positive Obligations, S. 2. Einen knappen Überblick über die bisherige Rechtsprechung zu den positive obligations bei Harris u. a., Law of the ECHR, S. 24–27. Siehe für einen Überblick der Äußerungen der EKMR Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 712 Fn. 1385. 3752 Siehe zusammenfassend zu den unterschiedlichen Begriffsverständnissen Dröge, Positive Verpflichtungen, S. 4–6. Die Entwicklung einer eigenen Lehre der positive obligations wurde daher lange nicht anerkannt, siehe z. B. Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 713–714. 3753 Jaeckel, Schutzpflichten, S. 17–18 sowie Kälin, Menschenrechtsverträge als Gewährleistung einer objektiven Ordnung, in: Kälin u. a., Aktuelle Probleme des Menschenrechtsschutzes, S. 9 (28) sprechen von „positiven Schutzpflichten“. Beide Begriffe gleichsetzend Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz, Rn. 88; Ress, Menschenrechte, europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Verfassungsrecht, in: Haller u. a., FS Winkler, S. 897 (912); Groß, JZ 1999, S. 326 (330). 3754 Jacobs / W hite / Ovey, ECHR, S. 100; Grabenwarter / Pabel, EMRK, Rn. 19 Rn. 2. 3750

B. Mechanismen zur Ableitung staatsorganisatorischer Vorgaben  

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dieser Verpflichtungen sind bereits ausdrücklich in den Konventionsrechten angesprochen. Andere positive Verpflichtungen wurden erst durch die Rechtsprechung entwickelt.3755 Wieder andere verwenden die positive obligations als Oberbegriff für verschiedene Fallgruppen von Grundrechtsfunktionen wie Schutzpflichten, Teilhaberechte, verfahrens- und organisationsrechtliche Gewährleistungen und Institutsgarantien.3756 Viele der angesprochenen Gewaltenteilungsaspekte können unter eine der Fallgruppen von positive obligations subsumiert werden. Das aktive und das passive Wahlrecht aus Art. 3 ZP sind Teilhaberechte.3757 Die Möglichkeit zur Teilhabe setzt eine gesetzgebende Körperschaft voraus, die den konventionsrechtlichen Anforderungen entspricht. Die Existenz der gesetzgebenden Körperschaft ist also eine institutionelle Garantie, die sich aus der EMRK ergibt. Auch das Recht auf Zugang zum Gericht setzt die Einrichtung eines Gerichts nach konventionsrechtlichen Maßstäben voraus. Die Konventionsstaaten müssen außerdem ein gerichtliches Verfahren organisieren und durchführen. In all diesen Fällen müssen die Konventionsstaaten also aktiv werden, um die subjektiven Rechte der Bürger zu gewährleisten. Gleichwohl passt keine etablierte Kategorie der positive obligations allein, um sämtliche konventionsrechtlichen Anforderungen an die innerstaatliche Gewaltenteilung abzubilden. Mathieu Leloup übertrug kürzlich den im US-amerikanischen Recht entwickelten Ansatz der structural human rights3758 auf die Konventionsrechtsordnung. Das Konzept der strukturellen Menschenrechte löst die Dichotomie zwischen objektiven institutionellen Vorschriften und subjektiven Rechten auf und geht davon aus, dass einige subjektive Rechte die Zuweisung bestimmter hoheitlicher Befugnisse einzelnen Organen verlangen oder andere strukturelle Vorgaben machen.3759 Leloup setzt das Konzept der strukturellen Menschenrechte in Verbindung mit der Orientierungswirkung der EGMR-Urteile. Auch wenn die EGMR-Urteile streng genommen nur inter partes verbindlich sind3760 und der Gerichtshof nicht an seine früheren Urteile gebunden ist, so besteht doch die grundsätzliche Annahme, dass der EGMR üblicherweise die Konvention einheitlich interpretiert, sodass die Aus-

3755 Dröge, Positive Verpflichtungen, S. 7–8 mit einer Aufzählung der Normen, deren Wortlaut bereits eine Pflicht zum Tätigwerden enthält und der Normen, denen diese Bedeutung erst durch Interpretation beigemessen wurde. 3756 So etwa Holoubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten, S. 54–66; Grabenwarter / Pabel, EMRK, Rn. 19 Rn. 2; Krieger, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap.  6 Rn.  9; Schweizer, Allgemeine Grundsätze, in: Merten / Papier, HbGR, Bd. VI/1, § 138 Rn. 75–79. 3757 Siehe hierzu ab S. 138. 3758 Siehe etwa Varol, Georgetown LJ 105 (2017), S. 1001–1054. 3759 Leloup, HRLR 2020, S. 480 (484); Varol, Georgetown LJ 105 (2016–2017), S. 1001 (1011). 3760 Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 16 Rn. 2; Cremer, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 32 Rn. 77.

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Kap. 5: Synthese 

legungsergebnisse für die Konventionsstaaten faktisch verbindlich sind.3761 Daher haben Konventionsstaaten in der Vergangenheit bereits ihre institutionelle Struktur an das Konventionsrecht angepasst, obwohl gegen sie unmittelbar kein Verfahren anhängig war oder entschieden wurde.3762 Leloups Konzept entspricht den in dieser Arbeit gemachten Beobachtungen. Die Konventionsstaaten sind verpflichtet, bestimmte Organe entsprechend der konventionsrechtlichen Vorgaben einzurichten und ihnen bestimmte hoheitliche Tätigkeiten zuzuweisen. Sofern sie die Organe nicht eingerichtet haben oder sie nicht den konventionsrechtlichen Vorgaben entsprechen, sind die Konventionsstaaten dazu verpflichtet, ihre Staatsstruktur im konkreten Fall den Vorgaben des EGMR anzupassen. Nach dem Konzept der structural rights sind bestimmte organisatorische Gestaltungen also notwendig, um die subjektiven Konventionsrechte nicht zu verletzen. Strukturelle Vorgaben können sich einerseits aus den Konventionsrechten ergeben, die ausdrücklich hoheitliche Organe betreffen, wie Art. 3 ZP oder Art. 6 Abs. 1 EMRK. Sie können sich aber auch aus materiellen Freiheitsrechten ableiten lassen3763 – in diesem Fall besteht ein enger Zusammenhang zur Fallgruppe der organisations- und verfahrensrechtlichen Gewährleistungen der positive obliga­ tions. Sofern die EMRK die Konventionsstaaten zu strukturellen Änderungen ihrer Staatsorganisation verpflichtet, kann sich dies auf die innerstaatliche Gewaltenteilung auswirken.3764 Versteht man die strukturellen, sich auf die innerstaatliche Gewaltenteilung auswirkenden, Anforderungen als notwendige Voraussetzung des Schutzes subjektiver Rechte, dann fällt es auch schwer, dem EGMR die Kompetenz für die Formulierung institutioneller Vorgaben generell abzusprechen.3765

III. Rückgriff auf staatsorganisatorische Prinzipien Darüber hinaus greift der EGMR in verschiedenen Situationen in seinen Erwägungsgründen auf die Verfassungsgrundsätze des Demokratieprinzips, der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung zurück.3766 Während das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip in der Präambel der EMRK erwähnt sind, ist das Konzept

3761 Leloup, HRLR 2020, S. 480 (485–486). Zur faktischen Verbindlichkeit von Auslegungsergebnissen siehe auch Grabenwarter / Pabel, EMRK, § 16 Rn. 8; Cremer, in: Dörr / Grote /  Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 32 Rn. 147–150. 3762 Leloup, HRLR 2020, S. 480 (486). 3763 Leloup, HRLR 2020, S. 480 (499). 3764 Leloup, HRLR 2020, S. 480 (499–500). 3765 Vgl. Leloup, HRLR 2020, S. 480 (500). Die Zuständigkeit des EGMR, über staatsorganisatorische Fragen zu entscheiden, bezweifeln Le Bonniec, RFDC 106 (2016), S. 335 (337–338); Kosař, EuConst 8 (2012), S. 33 (37, 59–62). 3766 Auch Grabenwarter / Pabel, in: Dörr / Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK / GG, Kap. 14 Rn. 10 stützen die Ableitung staatsorganisatorischer Vorgaben auf das in der Präambel verankerte Rechtsstaatsprinzip.

B. Mechanismen zur Ableitung staatsorganisatorischer Vorgaben  

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der Gewaltenteilung inzwischen in ständiger Rechtsprechung anerkannt3767. Indem der EGMR diese Verfassungsprinzipien heranzieht, legt er seinen konkreten Entscheidungen gewisse staatsorganisatorische Vorstellungen zugrunde. So gestaltet Art. 3 ZP maßgeblich das konventionsrechtliche Demokratieprinzip aus.3768 Dem entspricht die Grundvorstellung eines direkt gewählten, repräsentativ besetzten Parlaments, das maßgeblich am Gesetzgebungsprozess beteiligt ist. Ebenso führt das Demokratieprinzip dazu, dass politische Meinungsäußerungen – und damit insbesondere Meinungsäußerungen von Abgeordneten – besonders stark geschützt sind.3769 Da das konventionsrechtliche Demokratieprinzip nach aktueller Rechtsprechung allerdings keinen Wesentlichkeitsgedanken enthält, sind die Konventionsstaaten nicht dazu verpflichtet, grundrechtswesentliche Entscheidungen zunächst von den Gerichten regeln zu lassen.3770 Das Recht auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK stellt der EGMR in den Kontext des Rechtsstaatsprinzips. Sowohl der Schutzbereich als auch mög­ liche Schranken des Rechts werden im Lichte der rule of law ausgelegt. Das Prinzip der Rechtssicherheit wird sowohl bei der Bindungswirkung gerichtlicher Urteile als auch beim Erlass rückwirkender gesetzlicher Grundlagen relevant.3771 In den meisten Fällen sind Demokratieprinzip und Rechtsstaatsprinzip nicht aus sich heraus justiziabel. Der EGMR liest die Verfassungsprinzipien in die Auslegung der einzelnen Konventionsrechte hinein. Eine Ausnahme ist das Prinzip der Rechtssicherheit, gegen das der Gerichtshof im Rahmen der Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 EMRK unmittelbar einen Verstoß prüft.3772 Auch das Prinzip der Gewaltenteilung ist nicht unmittelbar justiziabel. Es wird vorrangig herangezogen, wenn die gerichtliche Unabhängigkeit durch legislative oder exekutive Handlungen oder Einflüsse gefährdet ist. Das konventionsrechtliche Prinzip der Gewaltenteilung dient somit vorrangig dem Schutz der justiziellen Gewährleistungen aus Art. 5 und 6 EMRK und dem Rechtsstaatsprinzip. Hierbei stellt das konventionsrechtliche Gewaltenteilungskonzept eine ratio bei der Auslegung der EMRK dar. Neben der Einbeziehung verschiedener Verfassungsprinzipien als Auslegungshilfen kann der Schutz einzelner Verfassungswerte auch ein legitimer Zweck sein, um Einschränkungen von Konventionsrechten zu rechtfertigen. So werden Immunitätsregelungen als Einschränkung des Rechts auf Zugang zum Gericht gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK damit gerechtfertigt, dass die Funktionsfähigkeit der Gerichtsbarkeit, des parlamentarischen Prozess oder der exekutiven hoheitlichen Tätigkeit geschützt werden sollen.3773 Auch abseits von Immunitätsregelungen 3767

Siehe hierzu die Ausführungen in Kapitel 2 ab S. 105. Siehe zum konventionsrechtlichen Demokratieprinzip ab S. 134. 3769 Siehe hierzu ab S. 358. 3770 Siehe hierzu ab S. 294. 3771 Siehe hierzu ab S. 387; siehe zu den Anforderungen an eine Rückwirkung ab S. 416. 3772 Siehe hierzu ab S. 416. 3773 Siehe hierzu ab S. 502. 3768

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Kap. 5: Synthese 

diente die parlamentarische Autonomie als legitimer Zweck einer Einschränkung von Konventionsrechten, sofern die konkreten Entscheidungen in im Zusammenhang mit der parlamentarischen Funktionsfähigkeit standen.3774 Genauso diente der Schutz der Funktionsfähigkeit des Parlaments als legitimer Zweck für eine Einschränkung der Meinungsfreiheit von Abgeordneten.3775 Und schließlich dürfen Konventionsstaaten in die persönlichen Freiheitsrechte von Richtern eingreifen, wenn sie in ihrem privaten Verhalten die von Richtern erwartete Zurückhaltung vermissen lassen und dadurch das Ansehen der Gerichtsbarkeit gefährden.3776 In diesen Fällen sind die einzelnen Verfassungswerte keine reine Auslegungshilfe, sondern ein Abwägungsaspekt in der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Die Tatsache, dass der EGMR gerade dem Schutz der unabhängigen Justiz, aber auch der parlamentarischen Autonomie stets ein hohes Gewicht zukommen lässt, zeigt die Bedeutung, die der Gerichtshof dem Funktionieren der legislativen und der judikativen Gewalt zuschreibt. Auch wenn die Verfassungsprinzipien in der EMRK also keine zwingenden Ausgestaltungvorgaben für die Gewaltenteilung in den Konventionsstaaten machen, so zeigen sie dennoch, auf welchen organisatorischen Grundvorstellungen die EMRK aufbaut.

IV. Anwendbarkeit der persönlichen Freiheitsrechte der Richter in hoheitlichen Zusammenhängen Schließlich nimmt der EGMR durch die privaten Freiheitsrechte der Organwalter Einfluss auf die konventionsstaatliche Gewaltenteilung. Der Gerichtshof bezieht etwa bei der Prüfung der Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 Abs. 1 EMRK den hoheitlichen Status von Abgeordneten und Richtern ein. Hierdurch erstreckt sich die Meinungsfreiheit auf hoheitliche Tätigkeiten wie die Ausübung parlamentarischer Kontrollrechte oder eine Stellungnahme zu einer geplanten Gerichtsreform. Besonders relevant sind die persönlichen Freiheitsrechte als Grenzen disziplinarischer Maßnahmen. Konventionsstaaten müssen bei der disziplinarischen Sanktionierung von Abgeordneten, Richtern und Beamten deren Freiheitsrechte beachten.3777 Somit gestalten die privaten Freiheitsrechte der Organwalter auch deren hoheitlichen Status aus. Dies gilt in besonderem Maße für die richterliche Unabsetzbarkeit. In den letzten Jahren hat der EGMR vermehrt Urteile über richterliche Freiheitsrechte gesprochen. Der EGMR entwickelt diesen dogmatischen Ansatz konsequent fort, um auf die Rechtsstaatskrisen verschiedener europäischer Staaten Einfluss nehmen zu können. 3774

Hierzu ab S. 368. Siehe hierzu ab S. 349. 3776 Siehe hierzu im Rahmen der persönlichen Freiheitsrechte von Richtern ab S. 639 sowie in der Analyse ab S. 689. 3777 Siehe hierzu ab S. 639. 3775

C. Gesamtergebnis  

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C. Gesamtergebnis Die EMRK macht Vorgaben für die Staatsorganisation der Konventionsstaaten. Diese ergeben sich aus den subjektiven Konventionsrechten, ihren strukturellen Wirkungen und der Einbeziehung der allgemein anerkannten Verfassungswerte und betreffen legislative sowie judikative Organe, deren Tätigkeiten und den rechtlichen Status ihrer Organwalter. Die aus der EMRK abgeleiteten Anforderungen an die Gewaltenteilung sind Mindestanforderungen. Die Konventionsstaaten können innerhalb des vom EGMR entwickelten Rahmens eigenständige Entscheidungen treffen. Die Vorgaben der EMRK für die Gewaltenteilung der Konventionsstaaten sind also nicht umfänglich. Die Auslegung der Konventionsrechte ersetzt den institutionellen Teil einer Vollverfassung nicht. So bleibt den Konventionsstaaten in vielen Fällen ein ungebundener Gestaltungsspielraum für die Ausgestaltung ihrer Gewaltenteilung und die Verteilung von Hoheitsgewalt im Rahmen ihrer Zuständigkeitsordnung.

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Stichwortverzeichnis Abgeleitete Rechtsetzungskompetenz  173 ff., 193, 197 f., 760 Abgeordnete als Richter  559 ff., 787 Abhängigkeitsverhältnisse, richterliche ​ 590, 598, 603, 606 f., 621, 791 Abhilfe in verwaltungsgerichtlichen Streitigkeiten  100, 279, 402, 404, 439, 471, 506, 696, 755, 784 f. Abordnung von Richtern  582 ff., 626 f. Absetzung von Richtern  112 f., 120, 123, 125, 131, 443 ff., 479, 595, 598 f., 605, 620 ff., 669 ff., 680 ff., 693, 736, 793 f. Abstimmung  176 ff., 181 f., 315, 527 f. Abstrakt-generelle Norm  80 f., 83 f., 198, 207, 221, 234, 238, 241 ff., 246, 248, 250, 253, 259, 269, 271, 324 f., 535, 539 Amtsenthebungsverfahren  467, 524, 584, 610, 766 Amtszeit von Abgeordneten  338 Amtszeit von Richtern  65, 314, 425 f., 525 f., 554, 584, 589, 614 ff., 630 f., 638, 640, 677, 756, 789 Anklageorgan  395, 541 ff., 546, 556, 570, 701, 768, 727, 733, 747 ff., 773, 781 Anklageverfahren  455, 459, 570, 749, 772 Anordnungsbefugnis, gerichtliche  433 f., 571 Aufgabennormen  90 f. Ausbildung, juristische  509 ff., 516 f., 520, 548 ff., 557, 587, 630 f., 665, 719 ff., 728, 764 f. Ausgestaltungsvorbehalte  216 ff., 227 f., 232, 234, 238 ff., 301 Ausländerrechtliche Streitigkeiten  402, 465 ff., 474, 783 Auslegung als gerichtliche Aufgabe  257 ff., 270 f., 280 ff., 291 f., 303, 312, 413 f., 774 f., 782 Auslegung der EMRK  73, 103, 135, 178 f., 182, 195, 197, 202, 229, 297 ff., 379, 441, 474, 508, 756, 763, 799

Auslegung des nationalen Rechts  243, 246, 254 ff., 262 f., 270 f., 280 ff., 303, 312, 318 ff., 325, 413, 774 f., 793 Ausnahmegerichte  325, 711 f. Außenwirkung einer Norm  242 f., 246, 250, 324, 651 Austausch von Richtern  307, 429, 508, 520, 539 f., 548, 575, 581 ff., 586 ff., 603, 756, 766, 789 Ausübung des Mandats, Recht auf  133, 140, 206, 300, 332, 338 ff., 343 ff., 375 f., 380, 787 Autonome konventionsrechtliche Definition ​ 206, 303, 401, 408, 434, 448, 476, 708, 743 f., 753, 761, 774, 795 f. Autorität der Rechtsprechung / Gerichtsbarkeit  125, 382, 399, 410, 649 f., 653 f., 658, 668, 675, 688 Beamte  42, 130, 334, 441 ff., 512 f., 520, 598, 600 ff., 611, 621, 623, 655, 737, 741, 755, 787, 790, 794 Beeinflussung von Richtern, siehe Einflussnahme auf Richter Befangenheit  428, 560, 565, 574 ff., 580, 585, 588, 733 f., 742 Befangenheitsverfahren  585 f., 705 f., 756, 766, 789 Begrenzung von Hoheitsgewalt  44, 53, 62 ff., 67, 71, 88 f., 94 ff., 104, 305, 310, 331, 409, 505, 590, 621, 639, 683, 758, 776 f., 795 Behörde  41, 85, 276, 279, 302, 329, 394, 399, 404 f., 438, 440, 447, 456 ff., 469 f., 474, 496, 698, 736 f., 750, 767, 771, 777 f., 783 ff. Behördliche Einschätzungsprärogative  274 f., 311, 478, 486, 488 Beitritt der EU  60 Beratung im Gesetzgebungsverfahren  109 ff., 131, 562 ff., 737 ff., 752, 780 Beratung, richterliche  617, 720, 722

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Stichwortverzeichnis

Berufsfreiheit 440 Berufsrichter  509 ff., 515, 520, 547 ff., 557, 561, 586 f., 598, 606 f., 618, 622 f., 638, 665 ff., 732, 765, 789 f. Berufsständische Disziplinarorgane  469, 511, 529, 533, 545, 549, 552 f., 715, 731 f., 739, 741, 774, 777 Beschwerdeinstanz  329, 401 ff., 767, 773 Beschwerderecht  41, 45, 236 ff., 329, 382, 401 ff., 406, 474 Bestimmtheit des Gesetzes  211, 225, 238 f., 260, 264, 266, 270 ff., 279 ff., 290, 299, 309, 675 Beurteilungsspielraum  273, 476, 655 f. Chilling effect  123 f., 544, 651, 653 f., 658 Common law  211, 246, 252 ff., 259 f., 269, 296 f., 301, 311, 325 f., 330 Contempt of court  246, 252, 459, 577 ff. Delegierte Rechtsetzung  95, 194 f., 198, 249, 251, 261, 294, 309 ff., 325 ff., 330, 410, 776 Demokratieprinzip, konventionsrechtliches ​ 32, 134 ff., 149, 179, 185, 195, 200, 206, 296, 299 ff., 303, 324, 343, 358, 377 ff., 759 f., 798 f. Demokratieprinzip, verfassungstheoretisches ​ 44 f., 57, 59, 63, 67 ff., 84, 95, 137 Demokratische Legitimation  57, 64 ff., 94 f., 137, 165, 190, 195 f., 205, 296, 305, 324, 521, 532 ff., 791 Devolutiveffekt 698 Diskriminierungsverbot  41, 148, 154, 223, 239, 275, 640 Disziplinarmaßnahmen gegen Abgeordnete ​ 119 f., 132, 272, 361 f., 368, 371, 373 f., 443, 774, 786, 793 Disziplinarmaßnahmen gegen Richter  112, 115 f., 123 f., 128, 130, 272, 405, 482 ff., 519, 544, 549, 571, 579, 587, 606 f., 621, 638 ff., 644 f., 649 f., 658 ff., 669 ff., 692 f., 732 f., 749, 756, 793 f. Disziplinarmaßnahmen, Kontrolle von ​ 445 ff., 448, 469 ff., 484 f., 507, 639, 677 ff., 731, 736, 785 f. Disziplinarstreitigkeiten  42, 130, 440 ff., 476, 771

Eigentumsfreiheit  123, 214 ff., 288, 418, 632 f., 638, 685 f. Einflussnahme auf Richter,  43, 112 f., 120, 122, 128, 320 f., 321 ff., 329 f., 409, 426, 521, 523 ff., 589 ff., 606, 612, 779 Einrichtungsgarantie  141 ff., 149, 180, 185, 190, 200 Einschränkungsvorbehalt  210, 228, 232, 234 f., 238 ff., 767 Engel-Kriterien  449 ff., 458, 467 f. Entlassung von Richtern, siehe Absetzung von Richtern Entscheidungsbefugnis, gerichtliche  408, 448, 452 f., 462 ff., 471, 474, 476 ff., 485, 696, 702, 707, 767, 771 f. Ermessen  239, 273 f., 276, 299, 309 f., 325 f., 328, 330, 476 ff., 488, 538 f., 586, 606, 711, 770, 777 Ernennung von Organwaltern  102 f., 425 Ernennungsverfahren, richterliches  112 f., 116 ff., 128 ff., 307 f., 313 ff., 323, 326, 330 f., 409 f., 425, 431, 481 f., 485, 508 f., 520 ff., 556, 587 f., 597 ff., 682, 731 f., 755, 778, 791 f. Erscheinungsbild, richterliches  111, 113, 395, 426 ff., 552, 559, 562, 581, 586, 588, 595, 602, 604 ff., 658, 724, 788 Europäisches Parlament  43, 97, 121, 147, 162 ff., 179, 181, 186, 189 ff., 200, 769 Exekutive  41 ff., 52, 76 ff., 80 ff., 109 ff., 121, 126 f., 273 ff., 279, 758 f., 767, 776 f., 790, 792, 794 Exekutive Rechtsetzung  240, 243, 249 ff., 257, 263, 295 ff., 299, 301, 303, 309 f., 325, 330, 770, 776, 782 Experten als Richter  119, 511 ff., 516 f., 520 f., 547 ff., 557, 560 f., 587, 710, 737 Faires Verfahren, Recht auf  34, 107, 117, 123, 127, 383, 386, 409 Festnahme eines Richters  636, 683 f. Föderale Parlamente  167 f., 171, 179 ff., 195 f., 200, 247 f., 378, 760 Fragerecht  365 ff. Freiheitsentziehung  213 f., 218, 292, 343, 389 f., 392, 398 f., 452, 460 ff., 485 f., 500, 637, 771 f., 777 f., 784

Stichwortverzeichnis Freiheitsrechte von Organwaltern  42, 82, 357 ff., 405 f., 639 ff., 800 Freiheitsstrafe  106, 130, 399, 450, 453 ff., 459, 461, 472, 700, 777 Freimaurer  660 ff., 666 Freispruch  398, 455, 459, 499 ff. Full jurisdiction, siehe Prüfungsbefugnis, gerichtliche Funktionenordnung  47, 52 Funktionenteilung, siehe Funktionenunterscheidung Funktionenunterscheidung  47, 52, 62, 72 ff., 77, 79, 85, 90 ff., 104, 126 f., 575, 758 f. Funktionsfähigkeit, parlamentarische  133, 186, 322 ff., 348, 352 ff., 361, 364, 368, 370 f., 374 ff., 502, 788, 799 f. Funktionsgerechte Organstruktur  66 f., 71, 88 Generalklausel  271, 537 Gericht, konventionsrechtlicher Begriff  34, 112, 327 f., 391, 406 ff., 431, 709 ff., 762 ff. Gericht, verfassungstheoretischer Begriff ​ 84, 407 Gerichtsbarkeit, funktionsfähige  116, 385, 400, 475, 483 f., 503, 589, 611, 622, 628, 630 ff., 638, 648 f., 652, 654, 656, 659, 664, 667 f., 683, 689 f., 754, 758, 783, 790, 799 f. Gerichtsorganisation  133, 239, 308 f., 325, 327, 330, 379, 387 Gerichtspräsident  112, 307, 443 f., 524, 535 ff., 543 ff., 592, 612 f., 617, 624 ff., 642 ff., 671 f., 679 f., 688, 764, 776, 780, 786 Gerichtsreform in Polen  307 f., 316 ff. Gerichtssystem  85, 234, 310, 313, 384, 386 f., 658, 683, 693 ff., 756, 763 f. Gerichtszweige  574, 694, 708, 754, 762 f. Geschäftsverteilungsplan  535, 538 Geschriebenes Recht  245 f., 303 Gesellschaftliche Gewalt  58 f., 61 Gesetz, Begriff  207 f., 222, 239 ff., 295, 331 Gesetz, formelles/parlamentarisches  207, 247 f., 253 Gesetz, materielles  241 f., 246, 250, 263, 331 Gesetzesanwendung, analoge  290 ff.

827

Gesetzesvorbehalt, formeller  207, 294 f., 304 ff., 325 ff., 409 ff., 422 ff., 534 f., 539 f., 711 f., 758, 762 f., 767, 770, 776 Gesetzesvorbehalt, konventionsrechtlicher ​ 34, 128 f., 208 ff., 238, 258, 292, 294, 297 ff., 300 f. Gesetzesvorbehalt, materieller  207, 247, 303, 324 ff., 331, 413, 674, 763 Gesetzesvorbehalt, organisatorischer  225 f., 228, 239, 304 ff., 312, 323 ff., 331, 379, 387, 409 ff., 422 ff., 514, 529, 534, 539 f., 582, 711, 758, 762, 767, 770 Gesetzgebende Gewalt, siehe Legislative Gesetzgebende Körperschaft  34, 129, 133 ff., 180 ff., 248, 300, 329, 377 ff., 759 f., 768, 773 f., 791 f. Gesetzgebung  78, 130, 162, 173, 187, 207 ff., 247 f., 256, 299 ff., 312, 377 ff., 419 f., 759 Gesetzgebungskompetenz  154, 156 ff., 162 ff., 169 f., 173, 183, 185 ff., 193, 410, 535, 795 Gesetzgebungsorgane  43, 95, 129, 180 ff., 189 ff., 247 ff., 296 ff., 409, 422, 501, 625, 631, 761, 789 Gesetzgebungsverfahren  83, 95 ff., 109 ff., 130, 151, 155 ff., 162 ff., 183 ff., 204 f., 300, 377 f., 562 ff., 759 ff., 768 ff., 773, 781, 791 f. Gesetzlichen Richter, Recht auf  535 f., 540, 712, 764 Gestaltungsspielraum, konventionsstaat­ licher  35, 144 ff., 200, 231, 236, 333, 343, 355, 369, 371, 390, 393, 439, 504, 532 f., 540, 548, 556 f., 582, 587, 635, 638, 654 ff., 668, 687, 695, 699, 757, 761, 764, 789, 801 Gewaltengliederung  47, 81 Gewaltenteilung, Aufgaben  56, 62 ff. Gewaltenteilung, Begriff  40, 44, 47, 104 f. Gewaltenteilung, Elemente  72 ff., 104, 758, 767 Gewaltenteilung, institutionelle  74, 206, 408, 760 Gewaltenteilung, klassische  51 ff., 91, 94, 532, 565 Gewaltenteilung, konventionsrechtliche ​ 106 ff., 125 ff., 758, 799

828

Stichwortverzeichnis

Gewaltenteilung, Konzepte  33, 46, 49 ff., 757 Gewaltenteilung, legitimationstheoretische ​ 81 f. Gewaltenteilung, personelle  73 f., 101 ff., 141, 332, 337, 366, 509, 558, 565 f., 589, 630, 753, 786 Gewaltenteilung, strenge, siehe Gewaltenteilung, klassische Gewaltenteilung, Terminologie  46 f. Gewaltenteilung, Zweck  33, 56, 68 Gewaltentrennung  46 f., 110 Gewohnheitsrecht  246, 256, 262 f., 269 f., 286 Grundrechtecharta  33, 210

Instanz, erste gerichtliche  384, 391, 458, 470 f., 695, 700 ff., 709, 756, 764, 771 Instanz, zweite gerichtliche  100, 236, 327, 390 f., 465, 470, 695 ff., 754, 756, 763 Instanzen, gerichtliche  85, 694, 754 Institutionelle Interaktion  86, 92 ff., 110, 590, 639, 715, 747, 778 ff. Institutionelle Pluralität  72 f., 84 ff., 90, 100, 104, 128 ff., 132 f., 180, 388, 408, 431, 755, 759 ff. Institutionelles Gleichgewicht  66, 166 Interessenverbände  529, 551 ff. Interessenverbände, Auswahl von Richtern durch  551 ff., 588, 765 Internationales Recht  261 f.

Haftprüfung, Recht auf gerichtliche  229, 327, 389, 460 ff., 472, 485 ff., 701, 707, 770, 772 Haftrichter  571 f. Heilung gerichtlicher Verfahrensfehler  702 ff., 726, 764 Hierarchieverhältnis  322, 396, 516 ff., 530, 590, 598 ff., 601 f., 607, 611, 617, 721 f., 725 ff., 747 f., 765, 790 f. Hoheitsgewalt, Begriff  54 ff., 60 Hoheitsgewalt, Funktionen  46, 57, 62, 72 ff., 89 ff. Hoheitsgewalt, Zuordnung zu Organen  50 f., 73, 79, 82 f., 86 ff., 104, 129 f., 159, 180, 240, 247, 411, 431 f., 755, 768 ff.

Judikative  41 f., 51, 55, 76 ff., 118 ff., 126 f., 382, 758 f.

Immunität von Richtern  385, 502 ff., 554, 589, 633 ff., 758, 788 Immunität von Staaten  385 Immunität von Staatsoberhäuptern  503 ff. Immunität, parlamentarische  102, 108, 118 ff., 132, 332, 341, 344 ff., 363 f., 367 ff., 374 ff., 502 ff., 761, 774, 788 Implizite Schranken (implied limitations)  140, 145, 208, 228 ff., 384, 391, 699 Indemnität  344 f., 351, 355 f., 359 f., 365 Inhärente Beschränkung  236 f. Initiativrecht im Gesetzgebungsverfahren  90, 97, 156, 159, 161, 183, 191 f. Inkompatibilität  101, 119, 130, 146, 333 ff., 379, 558, 565, 575, 581, 588, 741, 787

Kernbereichslehre  91 f., 193, 195 Kommunale Vertretungsorgane  172 ff., 179, 197, 760, 792 Kontrolldichte, gerichtliche  432, 469, 478 ff., 484 ff. Kontrolle der Exekutive  174, 187, 277 ff., 294, 299, 381, 388, 394 f., 397, 435 ff., 445 ff., 456 ff., 464, 469 ff., 474 ff., 484 f., 506 ff., 623, 700, 708, 736, 755, 777, 783 ff. Kontrolle der Legislative  156, 158 ff., 191 f., 378, 786 Kontrolle disziplinarischer Entscheidungen  112, 440 f., 473 Kontrolle judikativer Entscheidungen  99, 427, 501 f., 693 f., 698 ff., 772, 779, 785 f. Kontrolle von Hoheitsgewalt  44, 53, 59, 62 ff., 71, 80, 85 f., 89, 92 ff., 104, 303, 388, 505 ff., 634, 694, 771 f., 782 f. Kontrollrechte, parlamentarische  361, 363 ff., 609 f., 788 Laienrichter  509, 511 ff., 520, 547 ff., 557, 561, 584, 598, 600 ff., 616 f., 631, 665 f., 688, 710 f., 719, 723 Landesparlamente, siehe föderale Parlamente Legalitätsprinzip  245, 302, 342, 491

Stichwortverzeichnis Legislative  41 f., 46, 76 ff., 80 ff., 109, 118 ff., 126 f., 133, 152 f., 158 f., 162, 173, 207, 377 ff., 534, 758 f. Lustrationsverfahren  468, 595, 676 Meinungsfreiheit  45, 107, 135 f., 138, 353 f., 374 f. Meinungsfreiheit von Abgeordneten  119, 332, 341, 344, 345, 347 ff., 355, 357 ff., 375, 379, 489, 516 ff., 541 f., 551, 715 ff., 788, 793 Meinungsfreiheit, richterliche  115, 120, 123 f., 131, 641 ff., 650 ff., 655, 688, 790 Militärdisziplin  107, 126, 530, 550 f., 720, 722, 724 f. Militärrichter  107 f., 510, 516 ff., 529 f., 541 f., 617 f., 716 ff., 722 ff., 741, 764 f., 791 Ministerrat der EU  165, 190 f., 205, 769 Monarch  64, 74, 489, 746, 779 Montesquieu  51 f., 57, 62 f., 67, 74, 76 Mündliche Verhandlung  696, 749 ff. Normenkontrolle  403, 475, 786 Notwendig in einer demokratischen Gesellschaft  135 ff., 650, 675 Nulla poena sine lege 217 Objektive Verpflichtungen  139, 141 ff., 796 ff. Ordnungsmaßnahmen, gerichtliche  458 f., 578, 774 Ordnungswidrigkeit  456 ff., 469, 471, 700, 771 Organisationsgarantien  231 f., 234, 327 f. Organisationsprinzip  53, 58, 62, 70 f., 103 Organisationsvorbehalt, siehe Gesetzesvorbehalt, organisatorischer Organstreitigkeit  364, 367, 642 f., 646, 691 Organwalter  34, 59, 73, 95, 100 ff., 115 f., 130, 132, 332, 440, 443, 502, 505 f., 527 f., 591 f., 595 f., 606 ff., 657, 748, 753, 755, 760, 763, 766, 783, 786 ff., 800 Parlament  84 f., 112, 133, 150 ff., 179 f., 200, 247 f., 257, 295 f., 329 f., 378, 741 ff., 753, 760, 781

829

Parlamentarische Autonomie  133, 332, 351 ff., 362, 368 ff., 375 f., 744, 753, 761, 774, 800 Parlamentarische Debatte  108, 345 f., 348 f., 354 f., 357, 361 ff., 371 Partei des Rechtsstreits, Richter als  576 ff., 792 Parteien, politische  58, 136, 514, 560, 660, 664 ff. Parteiverbot  338, 343, 465, 787 Persönliche Freiheit als Staatszweck  69 ff. Persönliche Freiheit, Recht auf  115, 131, 382, 405 f., 460, 633, 683 ff., 758 Pflichten der Konventionsstaaten  32, 59 ff., 103, 125 f., 136 ff., 200, 231 f., 236, 300 f., 327, 330, 356, 376 ff., 386 f., 393 ff., 403 ff., 465, 494 ff., 501, 585 f. Politische Neutralität  335 f., 604, 687 Politische Rechte  138 f., 145 Politische Streitigkeiten  465, 467, 473 Positive obligations  796 ff. Privatleben, Recht auf ein geschütztes  125, 131, 236 f., 249, 669 ff., 683, 687 f. Prüfungsbefugnis/-kompetenz, gerichtliche  34, 128, 278, 392, 408, 411, 432, 475 ff., 507, 682 f., 696, 698, 702 f., 759, 767, 784 Prüfungskompetenz des EGMR  147, 302, 312 f., 457, 583, 654, 659, 684, 757 Rechnungshof  85, 752 f. Rechtmäßigkeitsprinzip  128, 213, 238, 244, 246, 250, 296 f., 302 f., 310, 312 ff., 324, 326, 378 f., 409, 422, 775 ff., 780, 782 Rechtsanwendung  77, 80 f., 84, 109, 257, 260, 270, 272 f., 279, 282 ff., 293, 299 f., 302 f., 312, 331, 378, 507, 777, 786 Rechtsbindung des Gerichts  409, 422, 412 ff., 422, 478 ff. Rechtserzeugung  55, 57 Rechtsetzung  77, 133, 173 ff.,193 f., 197 f., 247 ff., 270 f., 279, 294 ff., 309 ff., 378, 782 Rechtsetzungskompetenz  173, 175, 183, 197, 251, 261, 301 f., 760, 770, 776 Rechtsfortbildung, gerichtliche  258 ff., 262, 280, 292, 299, 311 f., 325 f., 330, 409, 774 ff., 782 Rechtsklarheit  265, 293, 298

830

Stichwortverzeichnis

Rechtskraft  222, 262, 490 ff., 694, 755, 785 Rechtsmittel, außerordentliche  491 ff., 501, 779 Rechtsmittel, ordentliche  490, 772, 779 Rechtsmittelgericht  238, 695 ff., 707 ff., 754, 785 Rechtsmittelgericht, Besetzung  573 f. Rechtsmittelgericht, Recht auf ein  235 f., 238, 327, 382, 390 ff., 697 ff., 756, 763 rechtsprechende Tätigkeit  34, 106 f., 312, 410 f., 431 ff., 445 ff., 452 ff., 489, 733, 743, 759, 762, 795 Rechtsprechung, uneinheitliche  288 f., 292, 413 ff., 422 f., 608, 775 Rechtsprechungsänderung  255 f., 281 f., 284 ff., 292, 413 f., 417, 775 Rechtssicherheit  86, 233, 242 ff., 264 f., 290, 298, 314 ff., 320, 323, 342 f., 388, 413 ff., 421 f., 491 f., 501, 637, 684, 773, 799 Rechtsstaatlichkeit/Rechtsstaatsprinzip 32, 44 f., 63, 107, 212, 215, 233, 240 f., 286, 293, 298, 301, 314, 324, 387 f., 406, 423, 754, 798 f. Rederecht der Abgeordneten  361 ff. Referendum  176 ff., 182, 283 Regierung  59, 84 f., 95 ff., 157 f., 161 f., 358 f., 437, 448, 737, 745 ff., 753 f., 768, 779, 783 Regierungsakte, gerichtliche Überprüfbarkeit von  385, 437, 505 f. Regionale Parlamente  167 f., 171, 175, 179 ff., 186 f., 195 f., 200, 247, 378, 760 Regionalräte  168 ff. Religionsfreiheit  125, 667 ff., 687, 756, 790 Repräsentation  44, 63 ff., 68, 74, 89, 104, 138, 343, 760, 769, 781 Repräsentative Demokratie  84, 149 f., 180, 182, 185, 795 Richter auf Probe  111, 622 f., 629 f. Richterliche Disziplinarorgane  445 ff., 484, 519, 526, 576, 598 ff., 606 f., 610 ff., 643, 678, 718, 732 ff., 741, 774, 791 Richterliche Vorführung, Recht auf  227, 328, 382, 392 f., 406, 462 ff., 471 f., 487 ff., 558, 749, 766, 772 Richterrat  317 ff., 446, 469 f., 482, 519, 522, 526 ff., 533, 590, 681 f., 732 ff., 774, 791 Richterrat, Besetzung  519, 527 f., 733 ff.

Richterrat, Ernennungsverfahren  317 ff., 528 f., 682 ff. Richterrecht  245 f., 252 ff., 260, 262 f., 269 f., 293, 296 f., 301, 311, 326, 677, 775 Richtervereinigung  656, 663 f., 666 f. Richterwahl  533 f. Rücktritt von Abgeordneten  341 ff., 372 ff., 761, 774 Rückwirkende Gesetzgebung  388, 416 ff., 780 Rückwirkung im Strafverfahren  281, 417, 712, 780 Rückwirkung im Zivilverfahren  417 ff., 712, 780 Rückwirkungsverbot, Begriff  712 Sachgemäße Funktionenzuordnung  66 ff., 71, 84, 88 Schiedsgericht  554 ff., 618, 712 ff. Schöffen  509, 513 ff., 520, 546 ff., 580 f., 586 f., 619, 631, 665 ff., 764 f. Schranken der Konventionsrechte, siehe Einschränkungsvorbehalt Schutzbedürftigkeit der Gerichtsbarkeit  115, 127, 131, 401, 441, 628, 681, 683 f., 689 f., 756, 758, 767, 800 Schutzpflicht  210, 224 f., 239, 796 f. Schwellen-Test  313 ff., 322 f., 330, 424 Sondergericht  710 f., 713, 715, 754 Souveränität  55 ff. Spruchkörper, Austausch der gerichtlichen  307, 536 ff., 586, 588, 764 ff. Spruchkörper, gerichtliche  425, 508 f., 534 ff., 548 ff., 587, 764 ff. Spruchkörper, Zusammensetzung der ­gerichtlichen  509, 513, 540 ff., 546 f., 553 ff., 583, 587 f., 598, 726, 728, 756, 764 ff., 792 Staatsanwaltschaft  279, 335, 395 f., 405, 455, 478 f., 492, 546, 570 ff., 575, 581, 588, 733, 747 ff., 779, 787 Staatsbürgerliche Streitigkeiten  473, 475, 783 Staatsgewalt  55 ff., 60 Staatsoberhaupt  85, 112 f., 121, 126, 129, 156 ff., 179, 182 ff., 188, 191 f., 198, 204, 336, 503 f., 528, 605, 746, 753 f., 760, 781, 790, 792

Stichwortverzeichnis Staatspräsident, siehe Staatsoberhaupt Staatsrat  109 ff., 558, 562 ff., 737 ff., 748, 752 ff., 780 Statusrechte  34, 102, 125, 131, 332, 589 ff., 645, 691, 756, 768, 786 ff. Steuerstreitigkeiten  456, 458, 465 f., 474, 700, 783 Strafbefehl  455, 459 Strafmaß, Entscheidung über  106 f., 354, 453 ff., 459, 469 f., 476, 489, 507, 772, 779 Strafrechtliche Anklage gegen Militär­ angehörige  716 ff. Strafrechtliche Anklage, Entscheidung über  398, 401, 448 ff., 467, 472, 499 ff., 694, 699, 762 Strafverfolgungsbehörde  395, 464, 471 f., 543, 747 ff., 754, 767 f., 773 Streitentscheidung als gerichtliche Aufgabe  34, 80, 84, 129 f., 292 f., 381, 387, 407, 410 ff., 422, 431, 433 f., 439, 447 f., 469, 470 f., 507, 557, 707 f., 741, 753 ff., 759, 767, 770 f., 777 Streitentscheidung durch Verwaltungsorgane  438 ff., 447 f., 707 f., 736 f. Structural human rights  797 f. Subtraktionsmethode  80 ff. Supranationale Organe  163 ff. 180, 190 f. Teilhabe an Hoheitsgewalt  44, 63 ff., 71, 82, 84, 88 f., 797 Teilnahmerecht  104, 134, 139, 183, 185, 377 Trennung hoheitlicher Organe  92 ff., 103 f., 396, 623, 749, 752, 767, 778 ff. Umsetzung von Gerichtsurteilen  123, 386 ff., 493 ff., 507, 596, 755, 778 Umsetzungsbehörde  489, 493 ff., 596 f., 755 Unabhängigkeit der Beschwerdeinstanz  404 f., 474, 766 Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit  127, 131, 313 f., 321, 408, 483, 638, 648 f., 652 ff., 659, 675, 684 f., 692 f., 754, 758, 763 Unabhängigkeit des Richterrates  321 Unabhängigkeit von Amtspersonen mit richterlichen Befugnissen  472 f., 766

831

Unabhängigkeit von Kontrollorganen  278 ff., 294, 395 ff., 406, 767 f. Unabhängigkeit, interne richterliche  611 ff., 780 Unabhängigkeit, richterliche  42 f., 101 ff., 108, 111 ff., 118 ff., 124, 127 f., 131, 313 f., 323, 382, 386 ff., 423 ff., 430 f., 441 f., 509, 513 ff., 520 ff., 539 f., 542 ff., 548 ff., 561, 582 ff., 613 ff., 618 f., 638 f., 649, 651 f., 656 ff., 706 f., 712 f., 715 ff., 724 ff., 740 f., 754 ff., 758, 762 f., 763, 778, 787 f., 791 ff., 795 Unabsetzbarkeit  131, 314, 426, 525, 589, 598 f., 620 ff., 638, 646, 683, 756, 789 Ungeschriebenes Recht  245 f., 303 Unionsrecht  33, 261 f. Unmittelbarkeit der Wahl  64 f., 199 ff. Unmittelbarkeit, Grundsatz der (principle of immediacy)  581 ff. Unparteilichkeit, richterliche  108, 204, 313, 424 f., 426 ff., 555, 557 ff., 595, 602 ff., 656 ff., 662 ff., 688, 690, 697, 704 ff., 716, 724, 726 ff., 734 f., 741 ff., 763, 767, 789 Unschuldsvermutung  219, 228, 657 Untersuchungsausschuss  467, 609 f. Untersuchungshaft  250, 392, 395, 451, 462, 487, 571 f., 683 Untersuchungshaft eines Abgeordneten  340 f. Untersuchungshaft eines Richters  114, 131, 683 f., 690, 756 Unversetzbarkeit  426, 441 f., 614, 626 ff., 756, 789 Unvoreingenommenheit, persönliche  426, 429, 575 ff., 585, 765, 789 Unwählbarkeit  333 ff., 375, 379, 687, 787 Verbindlichkeit einer Rechtsgrundlage  95, 174, 207, 240 f., 246, 253, 255, 270 f., 302, 324, 378, 388, 412 f., 422 f., 770, 775 Verbindlichkeit gerichtlicher Entschei­ dungen  128, 388, 403, 407, 432, 439, 447, 462, 471 f., 488 ff., 501, 507, 557, 694, 771, 767, 770 ff., 777, 779, 785 Vereinigungsfreiheit  42, 45, 135 f., 138, 405, 659 ff., 687 f., 692, 756 Verfassung  31 f.

832

Stichwortverzeichnis

Verfassungsgericht  32, 80, 85, 100, 244 f., 381, 476, 729 f. Verfassungsimmanente Gesetzgebungs­ gewalt  196 ff. Verfassungsimmanente Schranken  231 Verfassungsrecht  48, 86, 92, 169 ff., 187, 194, 196 ff., 201, 205 ff., 248 f., 251, 377, 760, 795 Verfassungsrechtliche Streitigkeiten  438, 729 f. Verfassungstheorie  48 ff., 54, 76 Vergütung von Richtern  445, 510, 631 ff., 638 f., 672, 685 f. Verhältnismäßigkeit  135, 138, 230 f., 233, 238, 275, 374 ff., 650, 689 f., 800 Verkürzung der richterlichen Amtszeit, gesetzliche  120, 123, 131, 624 f., 642, 646, 659, 679, 681 Veröffentlichung eines Rechtsakts  267 ff. Versammlungsfreiheit  42, 45, 135 f., 683 Versetzungen von Richtern  445, 537, 620, 626 ff., 631, 641, 678, 756, 789 Verurteilung  217, 222, 228, 287, 327, 382, 397 f., 406, 452 ff., 459, 465, 469, 472, 489, 499, 694, 697 ff., 754, 771, 781, 785 Verwaltungsbehörde, siehe Behörde Verwaltungsrechtliche Streitigkeit  435 ff., 447, 474, 477 ff., 498 ff., 506, 771, 783 Verwaltungsspruchkörper  438 f., 470 f., 512, 524, 736 f., 741, 750, 765 Verwaltungsvorschriften  243, 250, 267 f. Vetorecht im Gesetzgebungsverfahren  156 ff., 183, 191 f., 206, 769 Vilho Eskelinen-Formel  42, 130, 442 ff., 627, 677, 732 f., 742 f., 794 Vorbefassung, richterliche  131, 426 f., 429, 545, 557 ff., 563 ff., 581, 585, 588, 696 f., 704, 733, 738 f., 741, 744 f., 752 f., 763, 779, 782, 789 Vorhersehbarkeit  213 f., 222, 224 f., 228, 234, 238, 240, 243, 249, 259 f., 264 f., 270 ff., 279, 298, 303, 310, 324, 326, 331, 413 ff., 481, 674, 775, 777, 782 Wahl, Begriff  64, 102, 150, 154 Wahl, Durchführung von  45, 137 f., 141 ff., 148 f., 206, 232, 283, 300

Wahlprüfung  143 f., 148, 194, 373 f., 474, 761, 766 Wahlrecht  40 f., 45, 121, 129, 133 ff., 138 ff., 145 ff., 177, 180 ff., 186, 196, 199 ff., 206 ff., 228 f., 239, 332 ff., 343, 373 ff., 377 ff., 687, 689, 759 ff., 787, 792, 797 Wahlrechtliche Streitigkeiten  465, 468, 783 Wahlrechtsgrundsätze  137, 141, 145, 155, 180, 186, 199, 202, 204, 769, 791 f. Wahlsystem  137, 144 f., 146, 148 f., 154, 199 f., 204, 234, 340, 378 Wahrnehmung richterlicher Aufgaben, ­Person mit Befugnis zur  227, 239, 328 f., 379, 382, 393 ff., 404, 462 ff., 472, 487 f., 490, 766, 770, 772, 795 Weisungsabhängigkeit  329, 396, 516, 533, 546, 598 ff., 606 f., 611, 727 ff., 747 f., 765 Weisungsfreiheit, richterliche  102, 128, 426, 513, 525 ff., 589 ff., 598 ff., 611 ff., 621, 625, 631, 633, 638, 691, 737, 741, 756, 788 Wesentlichkeitstheorie  67, 193, 294 ff., 301, 303, 769, 799 Wiederaufnahme des Verfahrens  222 f., 491 ff., 574, 786 Willkürverbot  107, 211, 213, 228, 238 f., 242, 265, 274 ff., 293, 298 f., 441, 478 Zivilrechtliche Streitigkeiten  130, 433 ff., 496 ff., 506 Zugang zu öffentlichen Ämtern, Recht auf  640 ff. Zugang zum Gericht, Recht auf  34, 40 ff., 115, 127 f., 228 ff., 239, 332, 344 ff., 382 ff., 432, 502 ff., 508, 634 ff., 677 ff., 758 Zugänglichkeit des Gesetzes  211, 218, 228, 238, 240, 243, 260, 264 ff., 293, 303, 310, 326, 782 Zurückhaltung, richterliche  650 ff., 657 f., 662, 664, 667, 669, 676, 689 f., 790, 800 Zusammenarbeit hoheitlicher Organe  93, 96 ff., 104, 780 ff. Zuständigkeitsordnung, nationale  64, 78, 84 ff., 96, 98 ff., 129, 388, 412, 422, 431 f., 446, 448, 451, 458, 474, 484, 507,

Stichwortverzeichnis 521, 540, 558, 574 ff., 579, 693 f., 739, 752, 758, 801 Zustimmungsrecht im Gesetzgebungs­ verfahren  97, 159, 165, 167, 171, 188 ff., 194, 205 f., 300, 378, 759, 769, 795

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Zuweisung von Richtern/Spruchkörpern  307, 428, 508, 534 ff., 755 f., 587 f., 768, 770 Zweite parlamentarische Kammer  64, 151 ff., 179 ff., 188 f., 199 ff., 769