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German Pages 327 [328] Year 2008
Verena Barthel Empathie, Mitleid, Sympathie
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
50 ( 284 )
≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York
Empathie, Mitleid, Sympathie Rezeptionslenkende Strukturen mittelalterlicher Texte in Bearbeitungen des Willehalm-Stoffs
von
Verena Barthel
≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020350-9 ISSN 0946-9419 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin
Danksagung Die vorliegende Arbeit ist auch der Abschluss einer langjährigen deutschfranzösischen Zusammenarbeit. Gerade weil solche europäischen Wege immer erst geebnet werden müssen, gilt mein besonderer Dank Frau Prof. Dr. Uta Störmer-Caysa und Herrn Prof. Dr. Michel Reffet, die beide immer mehr waren und sind als meine akademischen Lehrer an den beiden Heimatuniversitäten Mainz und Dijon. Ich danke ebenfalls den Kommissionsmitgliedern Frau Prof. Dr. Danielle Buschinger, Frau Dr. Sabine Obermayer, Herrn Dr. Guy Borgnet und Herrn Prof. Dr. Norbert Slenczka, die allesamt keine Reisen und Mühen gescheut haben, um diese Arbeit zum erfolgreichen Ende zu führen sowie Herrn Prof. Dr. Jolie für die ermutigenden Expertengespräche zum „Willehalm“. Schließlich DANKE an Euch, liebe Kerstin und Leonie, lieber Simon, liebe Eltern. Ohne Euren unermüdlichen Zuspruch, ohne Eure Hilfe und Vertrauen hätte dieses Projekt nie entstehen können. Danke und Merci!
Inhaltsverzeichnis Einführung............................................................................................................. 1 I.
II.
III.
1. 2. 3.
Problemgeschichte und Forschungsüberblick ..................................... 6 Empathielenkung ................................................................................ 6 Der Willehalm-Stoff ......................................................................... 17 Ziele der Untersuchung ................................................................... 26
1. 1.1 1.2 1.3 1.4 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 3.
Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen.................... 30 Empathie, Mitleid, Sympathie......................................................... 30 Empathie ............................................................................................ 30 Mitleid ................................................................................................. 33 Sympathie ........................................................................................... 39 Der entscheidende Faktor der Wertschätzung............................. 42 Entwicklung eines Analysemodells ................................................ 52 Empathielenkung und Fokalisierung ............................................. 54 Empathielenkungsebenen des narrativen Textes......................... 57 Ebene des epischen Berichts (E1).................................................. 60 Ebene der persönlichen Erzählinstanz (E2)................................. 72 Ebene der Figurenreden (E3) ......................................................... 78 Zusammenfassende Darstellung und weiteres Vorgehen .......... 81
Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen............................................................. 83 1. Empathielenkung auf der Ebene des epischen Berichts (E1) ...................................................................................... 84 1.1 Wolframs Willehalm – Empathielenkung im epischen Bericht................................................................................................. 86 1.1.1 Empathie ............................................................................................ 86 1.1.2 Mitleid ................................................................................................. 93 1.1.3 Sympathie .........................................................................................101 1.2 Aliscans – Empathielenkung im epischen Bericht ....................141 1.2.1 Empathie ..........................................................................................141 1.2.2 Mitleid ...............................................................................................144 1.2.3 Sympathie .........................................................................................146 1.3 Hystoria von dem wirdigen ritter sant Wilhelm – Empathielenkung im epischen Bericht........................................155 1.3.1 Empathie ..........................................................................................156
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Inhaltsverzeichnis
1.3.2 Mitleid ...............................................................................................157 1.3.3 Sympathie .........................................................................................158 1.4 Zwischenergebnisse zur Empathielenkungsebene des epischen Berichts ............................................................................162 1.4.1 Technische und inhaltliche Umsetzung von Empathielenkung .............................................................................................162 1.4.2 Empathielenkung in Bezug auf Christen und Heiden ..............165 1.4.3 Empathielenkung in Bezug auf die zentrale Figur Willehalm..........................................................................................166 2. Empathielenkung auf der Ebene der persönlichen Erzählinstanz (E2) ..........................................................................167 2.1 Wolframs Willehalm – Erzählerkommentare (E2)....................168 2.1.1 Autoritätsfindung im Prolog .........................................................168 2.1.2 Empathie ..........................................................................................169 2.1.3 Mitleid ...............................................................................................171 2.1.4 Sympathie .........................................................................................178 2.2 Aliscans – Erzählerkommentare (E2)..........................................196 2.2.1 Empathie ..........................................................................................197 2.2.2 Mitleid ...............................................................................................199 2.2.3 Sympathie .........................................................................................199 2.3 Hystoria von dem wirdigen ritter sant Wilhelm – Erzählerkommentare (E2).............................................................207 2.4 Zwischenergebnisse zur Ebene der persönlichen Erzählinstanz ...................................................................................208 2.4.1 Erzähltechnische und inhaltliche Umsetzung von Empathielenkung ............................................................................208 2.4.2 Empathielenkung in Bezug auf Christen und Heiden ..............211 2.4.3 Empathielenkung in Bezug auf die zentrale Figur Willehalm..........................................................................................212 3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3) .........213 3.1 Wolframs Willehalm – Figurenreden (E3)..................................214 3.1.1 Empathie ..........................................................................................214 3.1.2 Mitleid ...............................................................................................216 3.1.3 Sympathie .........................................................................................229 3.2 Aliscans – Figurenreden (E3)........................................................248 3.2.1 Empathie ..........................................................................................249 3.2.2 Mitleid ...............................................................................................251 3.2.3 Sympathie .........................................................................................253 3.3 Hystoria von dem wirdigen ritter sant Wilhelm – Figurenreden (E3)...........................................................................258 3.3.1 Empathie ..........................................................................................258 3.3.2 Mitleid ...............................................................................................259
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3.3.3 Sympathie .........................................................................................260 3.4 Zwischenergebnisse zur Ebene der Figurenreden.....................265 3.4.1 Erzähltechnische und inhaltliche Umsetzung von Empathielenkung ............................................................................265 3.4.2 Empathielenkung in Bezug auf Christen und Heiden ..............267 3.4.3 Empathielenkung in Bezug auf die zentrale Figur Willehalm..........................................................................................268 IV.
Auswertung und Schlussbetrachtung ................................................270 1. Empathielenkung als Element mittelalterlichen Erzählens......270 1.1 Variabilität durch die erzähltechnische Umsetzung ..................271 1.1.1 Tiefe der ermöglichten empathischen Bindung .........................271 1.1.2 Spürbarkeit der Lenkung ...............................................................271 1.1.3 Affektiver Nachvollzug und Miterleben vs. rationaler Nachvollzug .....................................................................................273 1.2 Variabilität durch die inhaltliche Konkretisierung der narrativen Strukturen......................................................................274 1.2.1 Eindeutigkeit vs. Nuancierung......................................................274 1.2.2 Aktivierung verschiedener Wertehorizonte ................................275 1.3 Unterschiedliche Schwerpunktsetzung auf Empathie, Mitleid und Sympathie ...................................................................277 2. Empathie, Mitleid, Sympathie und die ‚großen Fragen‘ des Willehalm...................................................................................280 2.1 Mitleid für Heiden ..........................................................................280 2.2 Uneingeschränkte Empathie, Mitleid und Sympathie für Willehalm ...................................................................................284
Verzeichnis der Abkürzungen ........................................................................292 A. Häufig zitierte Primärtexte ............................................................292 B. Zeitschriften, Reihen und Nachschlagewerke............................293 Literaturverzeichnis ..........................................................................................294 A. Textausgaben und Übersetzungen ...............................................294 B. Forschungsliteratur .........................................................................296
Einführung Wolframs von Eschenbach Willehalm gilt als eine der „rätselhaftesten Dichtungen des deutschen Hochmittelalters“.1 Gerade im Vergleich mit dem zugrunde liegenden Vorlagentext Aliscans und weiteren Bearbeitungen des Stoffes im hohen und späten Mittelalter präsentiert sich der Text als problematisch, geht er doch ganz eigene Wege, die nur schwer zu erfassen scheinen: Zum einen ringt man bis in die neueste Forschung um eine adäquate Beschreibung des Umgangs mit dem fremden ‚Heiden‘2, den man bisweilen als ‚Kreuzzugsideologie‘, bisweilen als ‚Toleranz‘ oder gar als ‚Menschlichkeit‘ bezeichnet hat.3 Zum anderen kämpft man ebenfalls bis heute mit dem schwer fassbaren, scheinbar widersprüchlichen Helden Willehalm: Was tun mit seiner Brutalität, seinen Zornexzessen und dann wiederum mit seinem Mitleid dem Feind gegenüber?4 Scheiterte der Dichter etwa selbst an der Vielstimmigkeit seines Werkes, so dass es Fragment bleiben musste?5 Dem modernen Interpreten bietet sich allein der überlieferte Text als Wegweiser zur Lösung dieser Fragen an. Gleichzeitig weist der Kern der Willehalm-Problematik hartnäckig in die Richtung der Rezeptionsreaktion des mittelalterlichen Rezipienten: Zu welchen Einschätzungen – Christen,
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Greenfield 1996: 28. Kiening bezeichnet den Willehalm als „Problemdichtung” (Kiening 1991: 3) „quer zu Gattungen und Gattungserwartungen” (Kiening 1991: 117). Lange Zeit trat er wohl auch deshalb und aufgrund seines fragmentarischen Charakters in der Forschung weit hinter den Parzival zurück. Erst seit den sechziger Jahren erfolgte durch Schröders Neuedition eine Ausweitung des Forschungsinteresses gerade auch auf den Willehalm. Streng genommen müsste man zur Bezeichnung der Gegner Willehalms von Muslimen sprechen, da mit den nichtchristlichen Gegnern im Willehalm-Stoff vorrangig Anhänger des Islam gemeint sind. Im Bestreben, eine größtmögliche Nähe zur historischen mittelalterlichen Terminologie aufrechtzuerhalten (vgl. die altfranzösische Bezeichnung mécréants („Ungläubige“) und die mittelhochdeutsche Bezeichnung heiden), soll der neuhochdeutsche Begriff ‚Heiden‘ für die andersgläubigen Gegner der christlichen Kämpfer gebraucht werden. In ‚politisch unkorrekten‘ Fällen sind entsprechend Anführungszeichen mitzulesen. Als heiden wurden im Mittelalter alle Nichtchristen bzw. Nichtjuden bezeichnet, wobei meist kein Unterschied zwischen Anhängern des Islam oder Anhängern wirklicher polytheistischer Religionen gemacht wurde (vgl. Stein 1933: 9 bzw. 11). Einen Überblick über diese Problematik gibt beispielsweise Fasbender 1997. Zur Einordnung des schwierigen Helden Willehalm vgl. Fuchs 1997. Zur Fragmentfrage vgl. z.B. Knapp 1970: 333, Mohr 1979: 324, Bertau 1983: 250 und Greenfield 1996: 29.
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Einführung
Heiden und Willehalm betreffend – konnte dieser aufgrund der vom Text ausgesandten Signale gelangen? Welche Reaktionen konnte der Text bei ihm hervorrufen? Für ein Erschließen der potentiellen Wirkung des mittelalterlichen Textes auf seine zeitgenössischen Rezipienten fehlen uns sowohl Beschreibungskategorien als auch eine Methode, die es erlauben würde, potentielle Rezipientenreaktionen aus dem Text selbst abzuleiten. Die vorliegende Arbeit möchte diese Lücke deshalb zu schließen versuchen. Sie will ein Modell vorstellen, welches es erlaubt, anhand detaillierter narratologischer und inhaltlicher Analyse rezeptionslenkende Strukturen mittelalterlicher Texte aufzudecken und zu deuten. Auf diese Weise lassen sich die vom Text begünstigten Reaktionen eines zeitgenössischen Rezipienten in ihren wichtigsten Eckpunkten umschreiben. Dabei nehmen wir an, dass die Reaktionen eines Rezipienten auf literarische Figuren und Figurengruppen (und damit auch auf Christen, Heiden und Willehalm) weniger von einer rationalen Einschätzung geprägt sind, als vielmehr von einer emotionalen Anteilnahme am Schicksal der Figuren (am ‚Mit-ihnen-fühlen‘ und ‚Mit-ihnen-leiden‘), die letztlich den Genuss von Literatur ausmacht.6 Für dieses Phänomen der Anteilnahme können wir den Oberbegriff der ‚Empathie‘ festlegen.7 Die Tatsache, dass der Rezipient nicht zufällig zu empathischen Gefühlen bestimmten Figuren gegenüber gelangt, sondern dass der Text ihn mithilfe verschiedener Strukturen dorthin führt, bezeichnen wir als ‚Empathielenkung‘ und damit als Spezifizierung des Konzepts der ‚Rezeptionslenkung‘. Der Terminus der ‚Empathie‘ allein macht eine nuancierte Beschreibung der zu erschließenden Reaktionsmöglichkeiten des Rezipienten jedoch noch nicht möglich, bezeichnet er doch die verschiedensten Formen der Einfühlung in eine andere Figur. Deshalb wollen wir diesen recht weiten Begriff anhand dreier Unterkonzepte spezifizieren und damit weitere Beschreibungskategorien einführen. Als Basis fungiert eine Form grundständiger Empathie, die ein einfühlendes Verstehen unabhängig von jeder
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Als einer der vielfältigen Erklärungsversuche für die Faszination an literarischer Identifikation sei die freudsche These genannt, die den ästhethischen Genuss der Identifikation mit dem Helden auf die Entlastungs- und Schutzfunktion der ästhetischen Distanz und auf ein tieferes Interesse an der Phantasietätigkeit zurückführt (vgl. Freud 1969a:163 bzw. Freud 1969b:171-179). Jauß begründet das Vergnügen am Schönen wie am Tragischen durch „die Freisetzung des Betrachters von der und vor der Objektwelt durch das Imaginäre“ (Jauß 1975: 302). Nach Jolles entsprechen die verschiedenen Formen der Identifikation dem tieferen Bedürfnis, ein anderer zu sein, neben unserem Leben ein anderes Leben, neben unsere Welt eine andere Welt zu setzen (vgl. Jolles 1932: 287 und 293). Auch ‚Einfühlung‘ und ‚Identifikation‘ kämen als adäquate Umschreibungstermini in Frage (vgl. ÄGB II S. 121-142); eine Begründung der für diese Arbeit getroffenen Wahl erfolgt später in dieser Arbeit.
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Wertung (deshalb auch Empathie mit einem Verbrecher etc.) möglich macht. Auf dieser grundständigen Empathie aufbauend können Sonderformen derselben entstehen, von denen zwei sowohl aufgrund ihrer literatur- und kulturwissenschaftlichen Bedeutung als auch aufgrund der Intensität des Rezeptionserlebnisses, welches sie zu schaffen vermögen, als weitere Eckpfeiler empathischer Rezeption Berücksichtigung finden sollen: Mitleid und Sympathie. Das Mitleid nimmt seit der Antike als besonders bewegende und einflussreiche Empathieemotion eine Schlüsselrolle ein, deren Analyse auch in mittelalterlichen Texten, u.a. angesichts des christlichen Weltbildes der Zeit, vielversprechend ist.8 Auch das omnipräsente Leid der Figuren im Willehalm rechtfertigt die Auswahl von ‚Mitleid‘ als Sonderform empathischer Anteilnahme, denn sowohl die ältere als auch die neueste Forschung betont für Wolframs Werke immer wieder die zentrale Bedeutung von Leid- und Mitleiddarstellungen.9 Eine Beleuchtung der Auswirkungen dieses für die fiktionale Welt dargestellten Leides auf die Ebene der Rezeption steht dabei seit langem an.10 Darüber hinaus müssen wir dem Rechnung tragen, dass das Phänomen literarischer Empathie in seiner Geschichte häufig im Sinne einer admirativen Form auftritt, mit der auch in mittelalterlichen Texten zu rechnen ist.11 Um diese zu bezeichnen, führe ich den Begriff der ‚Sympa-
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Bei Aristoteles beispielsweise fasziniert der intensive Affekt des Mitleides, während Lessing von der christlich-moralischen Dimension des Mitleidsbegriffs ausgeht. Dass gerade Leid und Trauer fiktiver Figuren für den Rezipienten besonders attraktiv sind, wurde immer wieder festgestellt: „Es handelt sich um jene berühmte, periodisch immer wieder neu diskutierte Frage, warum die Menschen Freude an tragischen Gegenständen empfinden und woher dieser Gefallen rührt“ (Jung 1997: 15). Für die ältere Forschung steht beispielsweise Schwietering, der in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts mehrfach auf die hohe Intensität der Leiddarstellungen bei Wolfram verweist (vgl. Schwietering 1969c: 44-68). Auch Maurer bezeichnet das „Leid des Menschen in der Welt“ als entscheidendes Thema für Wolframs Werke (Maurer 1951: 115). In der neuesten Forschung bestätigt Mertens Fleury die Bedeutung des Prinzips der compassio für den Parzival (vgl. Mertens Fleury 2006). Haug deutet die rezeptionsästhetische Perspektive bezüglich des Leidens in Wolframs Werk bereits an, indem er schreibt, Wolfram gründe sein Dichtertum „im liebenden und leidenden Mitgehen mit dem von ihm literarisch gestalteten Schicksal“ (Haug 1985: 178). Mertens Fleury beobachtet, ohne dies weiter auszuführen, „dass Forderungen zur Leidensangleichung und Leidenspartizipation im Parzivalteil von Wolframs Roman sehr viel mehr als im Perceval Chrétiens de Troyes zu einem handlungstragenden Aspekt werden“ (Mertens Fleury 2006: 203). Die Umschreibung als ‚admirativ‘ ist Jauß entlehnt. Gerade für die mittelalterliche heroische und christliche Dichtung bildet der exemplarische Held, der oft auch ein Heiliger ist, eine Grundkategorie. Für die chansons de gestes ist prinzipiell von uneingeschränkt bewunderten Helden auszugehen (vgl. Zumthor 1972: 325). Jauß nimmt sogar für den Helden des höfischen Romans und der Märchen eine Form admirativer Identifikation an: „So befriedigen die beiden das Mittelalter überlebenden Heldentypen ein doppeltes Bedürfnis admira-
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thie‘ als drittes Konzept ein, welche eine positive Wertung des Gegenübers miteinschließt. Die Grundprämisse der vorliegenden Arbeit besteht darin, dass bestimmte narrative Techniken in Zusammenhang mit bestimmten inhaltlichen Füllungen empathielenkende Funktion übernehmen und diesen Strukturen damit in Bezug auf den Rezipienten Signalfunktion zukommt. Als These nehme ich darauf aufbauend an, dass die Rezeptionsperspektive eines Textes weniger vom dargestellten Inhalt (der histoire) als von der erzählerischen Vermittlung (dem discours) abhängt.12 Dies kann besonders deutlich werden, wenn verschiedene Bearbeitungen ein und desselben Stoffes zu unterschiedlichen Rezeptionsperspektiven, das heißt zu unterschiedlichen Eindrücken bezüglich Figuren und Handlung, führen. Deshalb sollen in der vorliegenden Arbeit insgesamt drei Texte (drei Bearbeitungen des Willehalm-Stoffs: Wolframs Willehalm, sein Vorlagentext Aliscans und eine weitere Bearbeitung aus dem 15. Jahrhundert) beleuchtet werden.13 Die Befragung der ausgewählten Texte (nach den ihnen innewohnenden empathielenkenden Strukturen) lässt damit zum einen Aussagen über das erzähltechnische und inhaltliche Funktionieren mittelalterlicher Empa-
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tiver Identifikation: der epische oder Sagenheld das Bedürfnis der kollektiven Erinnerung nach Verherrlichung der geschichtlichen, die Alltagswirklichkeit überhöhenden Tat und der Märchen- oder Romanheld das schon den Leser charakterisierende Interesse am unerhörten Ereignis, das den Wunsche nach seltener Aventüre und vollkommener Liebe jenseits der Wahrscheinlichkeit des Alltags erfüllt“ (Jauß 1975: 324). Die Befriedigung des Rezipienten ist nach Diderot in solchen Fällen eines geschätzten und tugendhaften Helden so hoch, weil der Rezipient Befriedigung für fiktiv gutes Handeln verspürt: „Combien j’étais bon! combien j’étais juste! que j’étais satisfait de moi! J’étais au sortir de ta lecture [er wendet sich dabei an Richardson, den Verfasser des Romans], ce qu’est un homme à la fin d’une journée qu’il a employée à faire le bien“ (Diderot 1762, reprint 1980: 192f). Die Unterscheidung zwischen dem ‚Was‘ und dem ‚Wie‘ eines narrativen Textes hat eine lange Tradition: Boris Tomaevskij unterscheidet in seiner „Theorie der Literatur“ fabula und sju et (Tomaevskij 1925: 218). Tzvetan Todorov übersetzte diese Größen dann als histoire vs. discours ins Französische (Todorov 1966: 132). Genette schlägt schließlich eine Dreiteilung in histoire, récit und narration vor (Genette 1972: 71f). Zu einem Vergleich der Konzepte vgl. Scheffel/Martinez 2005: 22ff. Damit reiht sich die Untersuchung der Empathielenkung, die in literarischer Auseinandersetzung mit einem historischen Stoff geschieht, auch in die Theorien Hayden Whites ein, der das Zusammenspiel von historischem und narrativem Moment vielfältig beleuchtet. Die drei Bearbeiter des Stoffes fungieren dabei in gewisser Weise als Historiographen, die aus dem historischen Stoff drei Geschichtsversionen, die vollkommen verschieden sein können, schaffen. Die Bearbeitungstendenzen im Sinne Whites beschreibt Bleumer: „Ausgangspunkt ist das historische Feld, die Menge der geschichtlichen Ereignisse im Ablauf der Zeit. Die Chronologie stiftet auf dieser Ebene zwar Ordnung, sinnvoll wird das Geschehen aber erst durch die Auswahl einer Folge von Ereignissen und ihrer Präsentation als Geschichte […] und hinzukommt, daß der Text auf dieser Ebene je nach Betrachterstandpunkt ideologisch perspektiviert wird“ (Bleumer 2000: 130f). Zur Textauswahl vgl. das folgende Kapitel der Arbeit.
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thielenkung erwarten. Sollte sich aus der Analyse der Textstrukturen tatsächlich ein kohärentes Bild mittelalterlicher Empathielenkung ergeben, wovon ich ausgehe, werden sich darüber hinaus neue – aus einer Gesamttextanalyse abgeleitete – Perspektiven bezüglich der eingangs erwähnten großen Fragen des Willehalm formulieren lassen.
I. Problemgeschichte und Forschungsüberblick 1. Empathielenkung Es ist sicher davon auszugehen, dass Empathielenkung auch das Rezeptionserlebnis des mittelalterlichen Publikums prägte. Gerade vor dem Hintergrund des Aufführungscharakters mittelalterlicher Dichtung scheint die Frage nach spezifischen ästhetischen Wirkungsstrategien naheliegend. Denn schließlich ist hier von einem engen Verhältnis zwischen Text und unmittelbar anwesendem Publikum auch insofern auszugehen, als der mittelalterliche Autor „angesichts eines vom Mäzen her bestimmten, überschaubaren und leicht erreichbaren Adressatenkreises dessen Erwartungen eher einschätzen [kann] als ein Autor der heutigen Zeit.“1 Prinzipiell ist damit geradezu eine Prädestination mittelalterlicher Literatur für rezeptions- und wirkungsästhetische Betrachtung festzuhalten. Allerdings existieren für diese Epoche keine poetologischen Schriften, die uns Auskunft über in literarischen Texten eventuell bewusst geförderte Rezipientenempathie und eventuell zu diesem Zweck genutzte Strategien geben könnten.2 In Bezug auf den mittelalterlichen Dichter bieten sich hauptsächlich zwei Möglichkeiten an, die ihn im Einsatz von empathielenkenden Strategien beeinflusst haben könnten. Beide wurzeln mehr oder weniger in der Antike. Die einzige wirkliche Dichtungstheorie, die sich mit Rezipientempathien auseinandersetzt, ist die des Aristoteles. An den aristotelischen Schlüsselkonzepten eleos und phobos ist eine strikte Publikumsbezogenheit abzulesen, da die Tragödie beim Rezipienten Jammer und Schaudern hervorrufen soll: „Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe […], die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erre-
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Jüttner 1974: 103. Generell sind mittelalterliche Poetiken meist eher Rhetoriken und speisen sich entsprechend aus römischen Schriften zur Rhetorik. Bis zum Ende des 13. Jahrhunderts sind dabei zu nennen: Ars versificatoria des Matthaeus von Vendôme, Poetria nova, Documentum de modo et arte dictandi et versificandi, Summa de coloribus rhetoricis des Geoffroi von Vinsauf, Ars versificaria des Gervasius von Melkley, Laborintus des Eberhardus Allemannus, Poetria et les Exempla vitae honestae des Jean de Garlande. Auf eine eventuelle Wechselwirkung von Rhetorik und Empathielenkung wird in der Folge eingegangen.
1. Empathielenkung
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gungszuständen bewirkt.“3 Damit greift Aristoteles aus dem Spektrum empathischer Reaktionen die Empathieemotionen des Jammers und Schauderns heraus, da sie die tragischsten und damit die für den Rezipienten bewegendsten darstellen.4 Den Vorteil einer solchen Einfühlung sieht Aristoteles nicht im Vergnügen des Publikums, sondern in ihrem kathartischen Nutzen. Denn durch die Empathie soll der Rezipient vom negativ bewerteten Affektüberschwang, in diesem Fall von Erregungszuständen wie Jammer und Schaudern, gereinigt werden.5 Empathielenkung wird hier also bewusst zum Zweck der katharsis eingesetzt. Darüber, inwieweit die aristotelische Dramentheorie Einfluss auf die mittelalterliche Literaturproduktion nehmen konnte, liegen uns nur begrenzt Informationen vor, die keine gesicherten Aussagen zulassen.6 Aufgrund der engen Verflechtung von antikem Weltbild und der Dramentheorie des Aristoteles erscheinen die Möglichkeiten einer Übertragung in einem kulturgeschichtlich ganz anders geprägten christlichen Mittelalter begrenzt. Es bleibt zu vermuten, dass die mittelalterlichen Autoren eigene Strategien und Intentionen von Empathielenkung verfolgen, die dennoch – in welchem Grade
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Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 6, 1449b-1450a. Dabei dürfen wir allerdings nie vergessen, dass Aristoteles mit eleos und phobos rein affektische Errungszustände meint. Die von Lessing irrtümlicherweise angestellte Übersetzung in Form von ‚Mitleid‘ (eleos) und ‚Furcht‘ (phobos) weist dabei nur allzu leicht in die Richtung stabiler emotionaler Zustände und Einstellungen, die wir mit ‚Einfühlung‘, ‚Mitleid‘ und ‚Sympathie‘ meinen (zur Unterscheidung von Emotion vs. Affekt vgl. Reisenzein/Meyer 2003: 39). Das Tragische entsteht dabei aus dem schicksalhaften Unglück eines tüchtigen Helden (vgl. Aristoteles, Poetik, Kap.13, 1452b-1453a). Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 6, 1449b-1450a. Die Träume, Ängste und ungelösten Konflikte in der Psyche des Zuschauers werden auf der Bühne symbolisch vergegenwärtigt. Im Akt der Empathie mit dieser vergrößerten und intensivierten Version seines Alltagslebens kann der Zuschauer von seinen ungelösten emotionalen Spannungen gereinigt werden und seine innere Ausgegelichenheit zurückgewinnen (vgl. Jung 1997: 24). Vgl. dazu Plett: „Von den beiden berühmten Poetiken des Altertums [Aristoteles und Horaz] besitzt die des Horaz im 16. Jahrhundert die längere Tradition; sie blickt auf eine ungebrochene Kontinuität der Rezeption im Mittelalter zurück, während der griechische Text der aristotelischen Poetik erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts in Italien wiederauftauchte“ (Plett 1975 :104). Zwar kam über den arabischen Philosophen und Mediziner Avicenna (Ibn Sina 980-1037) aus Buchara, über Avicebron (Ibn Gabriel, um 1020-1070), Averroes (Ibn Ruschd, 1126-1198) und Maimonides (Moses Maimuni 1135-1204) das Wissen der griechischen Klassik und des Hellenismus und insbesondere des aristotelischen Gesamtwerkes auf Empfehlung Kaiser Friedrichs II. in die Hände auserwählter Gelehrter des Abendlandes (eine ausführliche Darstellung findet sich u.a. bei Richter 1996: 241), jedoch bleibt die Verbreitung vor allem der aristotelischen Werke für das 13. Jahrhundert ungewiss. Ein direktes Einwirken der aristotelischen Lehre auf die Literatur scheint mangels volkssprachlicher Übersetzung und unsicherem Verbreitungsgrad der lateinischen Übersetzungen unwahrscheinlich (vgl. LexMA 1, 936-939; Artikel: Aristoteles). Allerdings sind indirekte Kenntnisse über lateinische Schriften oder über poetische Texte selbst durchaus vorstellbar, ja sogar wahrscheinlich.
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I. Problemgeschichte und Forschungsüberblick
wird zu zeigen sein – mit den Grundannahmen Aristoteles’ übereinstimmen können. Auf jeden Fall vermuten können wir demgegenüber einen Einfluss der antiken Rhetorik. Schließlich sieht sich das Moment der Wirkungsintentionalität, das Zweckhaft-Adressatengebundene der Rhetorik unter anderem auf das Fördern von Affekten und Emotionen des Rezipienten kanalisiert. Dabei sind vor allem die im Mittelalter weit verbreiteten römischen Rhetoriken interessant, denn auf sie greifen die mittelalterlichen Rhetoriken maßgeblich zurück.7 Innerhalb der fünf Bearbeitungsphasen der antiken Rede (inventio – dispositio – elocutio – memoria – pronuntiatio) sind die empathielenkenden Persuasionsstrategien im Rahmen der inventio, dispositio und elocutio zu vermuten, da hier das ‚Wie‘ der Erzählung und die argumentatio bzw. refutatio verortet ist.8 Emotionen des Publikums werden dabei hauptsächlich zur Unterstützung einer Argumentation für oder gegen bestimmte Personen eingesetzt. Vor allem im Redeschluss (peroratio) sehen die antiken Rhetoriker die Aufgabe, beim Publikum Emotionen, auch in Bezug auf thematisierte Personen zu wecken.9 Er gilt als der geeignete Platz, um die Affekte zu stimulieren, also die Gemüter entweder anzuheizen oder sie zu dämpfen. Geleitet wird die Affekterregung durch die zweifache Aufgabe des (Gerichts-)Redners, die gegnerische Partei oder Sache in einem möglichst schlechten Licht erscheinen zu lassen (indignatio), die eigene Partei oder Sache dagegen in möglichst gutem Lichte darzustellen (conquestio, commiseratio).10 Die antike Rhetorik unterscheidet dabei zwei Kategorien von Gefühlswirkungen, das Ethos und das Pathos. „Unter dem Ethos, dem milderen Grade, verstand sie im Wesentlichen eine bestimme Selbststilisierung des Redners […]: eine gleichbleibende ruhige Haltung und das geschickte Vorzeigen von Charakterfestigkeit sollten dem Sprechenden
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Quellen stellen dabei vor allem Ciceros De inventione und die Rhetorica ad Herennius (die Verfasserschaft ist bis heute nicht geklärt; lange wurde sie wohl fälschlicherweise Cicero zugeschrieben) dar. Vgl. Rohr 1978: 16. Geht man von den fünf Teilen der antiken Rede aus, so könnte eine Übertragung auf mittelalterliche Literatur folgendermaßen aussehen: In Prolog und Epilog (soweit vorhanden) finden sich die klassischen exordium/prooemium (Einleitung) bzw. peroratio/epilogus (Schluss) realisiert. Die übrigen drei Redeteile werden insofern verschmolzen, als sie in die folgende Erzählung (narratio/Darlegung des Tatbestandes) argumentatio/probatio (Beweis), und refutatio (Widerlegung der gegnerischen Behauptung) eingebettet sind. Leicht variiert könnte die narratio auch der kurzgefassten Inhaltsübersicht der Erzählungen entsprechen und die argumentatio dem in der Breite dargestellten Handlungsablauf in Bezug auf den darzustellenden Protagonisten. Seine Darstellung muss ihn glaubhaft und nachvollziehbar machen, so wie es die Argumentation in der Anklage oder Verteidigung in Bezug auf den betroffenen Beklagten zu tun versucht. Der Prolog hingegen richtet sein Interesse weniger auf thematisierte Personen als auf den Zuhörer und sein Wohlwollen Redner und Rede gegenüber. Vgl. hierzu Fuhrmann 1984: 97f.
1. Empathielenkung
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den Anschein geben, daß er ein Ehrenmann sei, der vollauf Vertrauen verdiene. Als Pathos oder Affekt galten die heftigeren, auf kurze Dauer berechneten Seelenstimmungen, insbesondere Zorn und Entrüstung: der Redner musste selbst von ihnen ergriffen sein, um sie bei seinen Zuhörern hervorrufen zu können.“11
Stringente Aussagen darüber, anhand welcher Techniken genau die Empathie des Rezipienten beeinflusst werden kann, liefern jedoch auch die Rhetoriken nicht. Selbst wenn – vor allem bei volkssprachlichen Autoren – eine direkte Rhetorik-Rezeption nicht unbedingt angenommen werden muss, ist eine Kenntnis der grundlegenden rhetorischen Techniken (zumindest über literarische Texte, Sachtexte, Predigten etc.) doch anzunehmen, schließlich werden diese bereits im Rahmen des Trivium vermittelt. 12 So können wir von einer Sensibilisierung der Literaturschaffenden für die Notwendigkeit, die Empathien des Publikums zu steuern, fest ausgehen. Prinzipielle Funktionsmechanismen wie der Einsatz von Ethos und Pathos sind damit auch in mittelalterlichen Texten zu vermuten. Auf die Frage nach der Funktionsweise mittelalterlicher Empathielenkung liefern uns diese Anknüpfungspunkte jedoch allenfalls Einzelaspekte. Aussagen darüber, wie mittelalterliche Dichter tatsächlich mit den Empathien ihres Publikums arbeiten, sind damit allein über die uns überlieferten Texten zu erschließen. Nur eine auf das spezifische Erkenntnisinteresse abgestimmte Textanalyse kann Einblicke in diesen Bereich mittelalterlichen Erzählens gewähren. Dafür stellen uns die antiken und mittelalterlichen Auseinandersetzungen mit der Idee der Empathielenkung nur begrenzt Werkzeuge zur Verfügung. Ein Blick auf die moderne Literaturwissenschaft zeigt, dass auch hier – trotz der unbestrittenen Bedeutung von Empathielenkung für jede Literatur – immer noch ein Forschungsdesiderat liegt. Gerade über die Entstehung von Empathie aufgrund textueller Strukturen gibt es kaum gebündelte Aussagen. Die existierenden Ansätze sollen im Folgenden kurz dargestellt werden. Hans Robert Jauß entwickelt fünf, bis heute wenig modifizierte Interaktionsmuster der ästhetischen Identifikation mit dem Helden, die es er-
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Fuhrmann 1984: 98. Vgl. Faral 1924:XIII. Für Wolfram von Eschenbach konnte Nellmann beispielsweise das Vorhandensein aller wichtigen rhetorischen Techniken nachweisen (vgl. Nellmann 1973: 179). Rohr nimmt an, dass sich „hauptsächlich die Regeln des genus demonstrativum, der Lob- und Prunkrede“, in der mittelalterlichen Poetik niederschlugen. „Wenn aber auch Dispositionsformeln und hauptsächliche Topik gegeben waren, wurden Formen und Bebilderung ständig ergänzt und uminterpretiert, [...]. Jedes dieser Elemente kann historisch begründet, die Textfunktion in jedem Fall aber ganz neu sein“ (Rohr 1978: 17). Rohr nennt als Argument dafür, dass Gerichtsreden der mittelalterlichen Literatur bekannt waren, die Verteidigungsrede des Renart vor dem Hofe des Königs Noble in der ersten Branche des Roman de Renart (vgl. Rohr 1978: 15).
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I. Problemgeschichte und Forschungsüberblick
lauben, eine primär assoziative, admirative, sympathetische, kathartische und ironische Form der Identifikation zu unterscheiden.13 Das Problem dieses Ansatzes liegt für die literarische Mediävistik jedoch darin, dass „sowohl die assoziative Identifikation in Kult und partizipierendem Spiel als auch die kathartische und ironische Identifikation als weitgehend außerhalb der Möglichkeiten mittelalterlichen epischen Erzählens liegend zurückgewiesen werden“ müssen.14 Sowohl für den Helden der chanson de geste als auch für den Artusritter kommt allein die admirative Identifikation, also die bewundernde mit dem vollkommenen Helden, und allenfalls ansatzweise die sympathetische Identifikation mit einem alltäglichen Helden in Frage.15 Diese Typologie lässt sich allerdings nicht auf Textstrukturen zurückführen und eignet sich daher für eine Textanalyse wenig. Sie kann allein dazu dienen, die aus Textanalysen resultierenden Ergebnisse terminologisch zu fassen. Die Methode, wie Texte zu einer bestimmten Form von Empathielenkung gelangen, bleibt noch zu definieren. In den letzten Jahrzehnten ist allein die Lenkung von Sympathie immer wieder, wenngleich ohne ein synthetisches Analysemodell zu liefern, besprochen bzw. ein entsprechendes Forschungsdesiderat betont worden.16 Dabei ist die Prägung des Begriffs als Konzept literarischer Untersuchung der anglistischen Dramenforschung um Ina Schabert und Manfred Pfister zu verdanken.17 In diesem Rahmen erfolgen erste, wenn auch nicht systematisierte Definitionsansätze des Gesamtkonzepts. So bestimmt Ina Schabert als Zentrum des Interesses einer Untersuchung der Sympathielenkung „die durch den [dramatischen] Text signalisierte Steuerung der Reaktionen des Publikums.“18 Pfister nennt Sympathielenkung
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Vgl. Jauß 1975: 317ff. Fuchs 1997: 70f. Nur der Vollständigkeit halber sei ergänzt: Die assoziative Identifikation ist am ehesten als Übernahme einer Rolle in der geschlossenen imaginären Welt einer Spielhandlung verwirklicht. Die ironische Identifikation hat einen verschwundenen oder Anti-Helden im Zentrum (vgl. Jauß 1975: 317ff). Man liest vom „traditionellen und traditionell vernachlässigten Konzept der Sympathielenkung“ (Tetzeli von Rosador 1978: 194). Noch im Jahre 2002 wird festgestellt, dass sich „zentrale Konzepte der Narratologie wie […] das intrikate Problem der Sympathielenkung noch weitgehend unerforscht bzw. ‚undertheorized‘“ finden (Nünning/Nünning 2002: 29). Als Basis dient dabei das englische sympathy. Vgl. die äußerst informative Aufsatzsammlung (Schabert 1978), die zahlreiche Aufsätze rund um sympathielenkende Strukturen in den Dramen Shakespeares vereint. Dabei liegt den verschiedenen Aufsätzen noch kein gemeinsames Verständnis literarischer Sympathielenkung zugrunde. Schabert 1978b:7. Schabert führt weiter aus: „Mit der Einsicht, dass das Sympathiepotential von Shakespeares Dramenfiguren Resultat bedachter Gestaltung sein kann, wird insbesondere in neueren Arbeiten die Vorstellung einer vom Dramatiker spontan vermittelten kreativen Sympathie mit seinen Geschöpfen korrigiert. Mit Formulierungen wie „control of sympathy“ und „manipulations of our sympathies“ […] wird auf den Tatbestand der Wirkstrategie verwiesen“ (Schabert 1978b:44).
1. Empathielenkung
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eine „rhetorisch-strategische Kategorie […], über die der Autor die Textrezeption, die Einstellung des Rezipienten den Figuren gegenüber steuert.“19 Dieses Grundverständnis entspricht dem unseren, weshalb später einzelne Elemente des Ansatzes – denn ein synthetisches Analysemodell liegt nicht vor – aufgegriffen werden können. Für die neuere narrative Literatur betont Ansgar Nünning in seinen zahlreichen Werken zur Narratologie immer wieder das Forschungsdesiderat der Sympathielenkung. In seiner Arbeit zur Perspektivenstruktur narrativer Texte rückt er den Blick sowohl auf den einzelnen historischen Rezipienten, als auch, in Form einer wissenschaftlichen Synthese, auf eine mögliche Rezeptionsperspektive des Textes.20 Sympathielenkende Elemente werden hier bereits in den expliziten Erzählerkommentaren vermutet und dafür spezifische Strategien des Eingreifens definiert. Auch wenn Erzählerkommentare nicht annähernd das steuernde Potential eines narrativen Textes abdecken, stellt Nünnings Betrachtung doch einen ersten Beitrag zur Kategorienfindung empathielenkender Textstrukturen dar. In Nünnings Handbuch zur Literatur- und Kulturtheorie ist schließlich Sympathielenkung als eigenständiger Ansatz erwähnt, der bereits dramentheoretisch Anwendung finde, jedoch an narrativen Texten immer noch zu den Desiderata zähle.21 Bis heute existieren auch in diesem Bereich keine Modelle, die es erlauben, narrative Texte auf ihre empathielenkenden Strukturen hin zu befragen und die vom Text vorbereitete Rezeptionsreaktion nuanciert zu bestimmen. Allzuoft verbleiben die Beschreibung von Rezipientensympathien und ihre Entstehung deshalb im Diffusen und Intuitiven. Es besteht eine auffällige Diskrepanz zwischen der Bedeutung des Phänomens für jeden Rezipienten und der unzureichenden theoretischen Auseinandersetzung. Gerade in Bezug auf historische und im vorliegenden Fall mittelalterliche Texte, deren Publikum für uns nicht mehr direkt zugänglich ist, erscheint eine Entwicklung systematischer Analysekategorien genauso unabdingbar wie vielversprechend.
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Pfister 1978: 21f. „Die Perspektivenstruktur des narrativen Textes, die sich in der Verteilung der Textmenge auf die Perspektiven der Figuren und des Erzählers manifestiert, ergibt sich jeweils aus der bestätigenden, ergänzenden oder kontrastierenden Wechselwirkung der verschiedenen Figurenperspektiven und der Erzählerperspektive“ (Nünning 1989: 5). Hier definiert Nünning Sympathielenkung: „ein meist nur vage definierter Oberbegriff für die Steuerung affektiv-kognitiver Reaktionen von Rezipienten durch literarische Darstellungsverfahren“. Die exklusive Anwendung auf Dramen wird häufig durch die medialen Bedingungen des Dramas begründet, die es vermögen „die Interaktion von Text und Rezipienten unmittelbar sinnfällig zu machen“, und zwar aufgrund der „Kollektivität der Rezeption, der Gleichzeitigkeit von produzierender Aufführung und Rezeption und des konkreten Gegenüber von Figuren und Zuschauern“ (Pfister 1978: 23).
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I. Problemgeschichte und Forschungsüberblick
Im Bereich der germanistischen Mediävistik muss die Dimension der Rezeption immer noch als Forschungsdesiderat bezeichnet werden. Denn trotz der Verschiebung des Interessenschwerpunktes der Literaturwissenschaft allgemein hin zur Rezeptionsästhetik in den 1960er Jahren bleibt die mittelalterliche Literatur davon oft unberührt. Verständlicher Grund, den auch die vorliegende Arbeit zu überwinden hat, ist dabei der schwierig zu greifende mittelalterliche Rezipient.22 Der Gedanke an rezeptions- oder gar empathielenkende Prozesse selbst taucht in drei Aufsätzen auf: Peter Kern verweist für den Tristan Gottfrieds von Straßburg auf die einflussnehmende Macht des Erzählers,23 Walter Raitz diskutiert dasselbe Phänomen kurz für Hartmanns Erec.24 Relativ weit geht Günter Eifler in seiner Betrachtung über die Pub-
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In einigen Arbeiten wird jedoch der Sprung zum Publikum gewagt. Wolf wendet den Blick auf die Beteiligung des Publikums am Erzählvorgang und Curschmann bestimmt das Verhältnis zwischen Erzähler und Publikum näher (vgl. Wolf 1975 und Curschmann 1975). Mohr stellt fest, dass es nicht reiche, Ideen der Dichtung zu betrachten, dass vielmehr dem Erzähler „auf seinem schwierigen Weg durch die Erzählung“ gefolgt werden solle (Mohr 1979). Gibbs verweist in Bezug auf Wolframs Willehalm in die Richtung einer Suche nach Intentionen narrativer Gestaltung, indem sie nach der Rolle von Figuren, Darstellungen, Kontrasten, Parallelen, von Detailschilderungen und wörtlicher Rede fragt (Gibbs 1976). Strohschneider versteht jeden mittelalterlichen Text als „eine sprachlich verfasste kommunikative Handlung“ (Strohschneider 1999: 20). Strohschneider setzt im Rahmen seiner Arbeiten zur Textualität mittelalterlicher Literatur zwischen dem schriftlich fixierten Text und der mündlichen Alltagsäußerung einen Typus mündlicher Texte an, die sich von unmittelbaren Sprechsituationen gelöst haben (Zerdehnung der Kommunikationssituation) und mittels verschiedener Strategien verfestigt sind (Verdauerung). Auf der einen Seite ist die literarische Kommunikation also wie Alltagskommunikation durch die leibhaftige Präsenz aller Kommunikationsteilnehmer gekennzeichnet und – in Grenzen – von deren Reaktion abhängig, auf der anderen Seite gibt es wie bei schriftlich fixierten Texten neben rein okkasionellen Momenten mehr oder minder feste Abläufe (vgl. Strohschneider 1999). Sein Begriff der „Wiedergebrauchsrede“ setzt die Möglichkeit der Veränderung ebenso voraus wie die Annahme eines – wie immer zu bestimmenden – Kerns, die sie als Wiedergebrauchsrede zu identifizieren erlaubt. Dieser Ansatz legt die Annahme nahe, dass verschiedene schriftlich überlieferte Bearbeitungen eines Stoffes in ihrer jeweiligen Kommunikationssituation, im Blick auf den jeweiligen Rezipienten, grundsätzlich anders gestaltet sind. Kern 1988 bleibt dabei weitgehend bei den Passagen des sich persönlich an das Publikum wendenden Erzählers. Er akzentuiert dabei auf die Bedeutung des Prologs (strophisches prooemium und prologus ante rem etc.) für jeden Prozess der Sympathielenkung. In der Tat handelt es sich dabei um die erste Kontaktaufnahme des Dichters/Erzählers mit seinen Hörern und Lesern. So legt er „das für alles Erzählen fundamentale Dreiecksverhältnis von Erzähler, Werk und Publikum in dem von ihm gewünschten Sinne fest, indem er sich mit insinuatorischen Mitteln und klug kalkulierter Persuasionsstrategie von vornherein das Wohlwollen des Publikums sichert“ (Kern 1988: 206). Die Erzählpassagen des impliziten Erzählers (Handlungsbericht, Figurenbeschreibungen etc.) bleiben dabei ausgeblendet. Raitz 2002 dient als Anlass für seine Untersuchung das Einsetzen des Romans mit Chrétiens Erec et Enide bzw. mit Hartmanns Erec und den neuen Anforderungen an das Publikum. Davon ausgehend fragt er nach „der Rezeptionsfähigkeit der zeitgenössischen Hörer und Leser sowie nach den Bemühungen Hartmanns, diese in seinem Werk zugleich
1. Empathielenkung
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likumsbeeinflussung im Tristan-Prolog.25 Dabei können in allen drei Beiträgen aufgrund des durch den Aufsatzcharakter begrenzten Rahmens die überaus interessanten Beobachtungen nicht weiter systematisiert werden. Dennoch haben diese Aufsätze den großen Verdienst zu zeigen, dass die Frage nach Empathielenkung in mittelalterlichen Texten lohnend und weiterführend und letztlich in einem Aufsatz nicht zu beantworten ist. Betrachtet man Empathielenkung als spezifische Kategorie von Narratologie, so muss generell festgestellt werden, dass systematische und umfassende Studien zur Erzähltheorie mittelalterlicher Literatur immer noch ein Forschungsdesiderat darstellen. Relativ gut bearbeitet ist das Feld des Hervortretens bestimmter Erzähler in Kommentaren und Einschüben, wobei der Akzent eher auf einer Bestandsaufnahme als auf der Frage nach Funktionen und Absichten der Kommentare im Kontext liegt.26 Die Wirkungsintention des Evozierens verschiedener Formen von Empathie wird in solchen Bestandsaufnahmen des erzählerischen Hervortretens jedoch nicht berücksichtigt. Nellmann betont selbst das Desiderat, die Kommentare in ihrem Kontext zu betrachten: „Die Isolierung der Eingriffe, die aus methodischen Gründen notwendig war, gibt keine adäquate Vorstellung von ihrem Funktionieren im Erzählzusammenhang.“27 Christian Kiening widmet sich schließlich in einem wegweisenden Werk zum Willehalm der Erschließung des narrativen Prozesses in seiner Komplexität, indem er das Spannungsfeld des narrativen Prozesses und der in ihn verwobenen Kommentar- und Reflexionsebene beleuchtet. Die Ebene der Figurenreden wird dabei allerdings nur kursorisch in die Interpretation einbezogen.28 Daran wäre das Forschungsdesiderat anzuknüpfen, überhaupt den Blick auf die Gesamtheit der erzählerischen Vermittlung (denn Erzählerkommentare machen nur einen kleinen Bruchteil empathielenkender Strategien aus), die auch die Ebene des epischen Berichts und die Ebene der Figurenäußerungen umfasst, zu weiten. Erst in jüngster Zeit
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für eine adäquate Rezeption zu schulen“ (Raitz 2002: 360). Dementsprechend fokussiert er auf die oft didaktischen Hinweise des Erzählers zur richtigen Rezeption der neuen Gattung. Publikumsempathien spielen dabei keine Rolle. Eifler betont die „rhetorische Persuasionskunst“, die „raffinierte Persuasionsstrategie“ (Eifler 1975: 388) des Prologs und wendet dabei den Blick auch auf das Publikum, indem er seine Untersuchung innerhalb des Bezugsdreiecks Erzähler, Leser, Erzählung (Eifler 1975: 360) situiert: „In dem Leser ist damit der Adressat, in der Absicht, ihn zu beeinflussen, der Zweck des Prologs gefunden. Interpretationsleitend muß von hier aus die Frage werden, wozu Gottfried seinen Leser, der kein bloß passives und insoweit gleichgültiges Gegenüber ist, bestimmen will“ (Eifler 1975: 360). Die Grundgedanken Eiflers für den Prolog sollen in der vorliegenden Arbeit in gewisser Weise für Gesamttexte nutzbar gemacht werden. Z.B. Bayer 1962, Nellmann 1973, Pörksen 1971 und Fluss 1971. Nellmann 1973: 187. Vgl. Kiening 1991 (hier v.a. S. 5f).
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I. Problemgeschichte und Forschungsüberblick
stehen bestimmte narratologische Techniken, wie z.B. die der Fokalisierung, zum Teil sogar in werk- und autorenübergreifenden Analysen, im Zentrum des mediävistischen Interesses.29 Hier möchte sich die vorliegende Arbeit mit einem ebenfalls werk- und autoren- und zudem länderübergreifenden Blick auf die Erzähltechnik der Empathielenkung einreihen. Das Defizit der älteren Literaturwissenschaft in Bezug auf Prozesse der Wirkungsästhetik und damit auch der Empathielenkung ist zum Teil auf dieser Thematik grundsätzlich innewohnende Schwierigkeiten zurückzuführen. So stößt man unweigerlich, wenn vom mittelalterlichen Rezipienten die Rede sein soll, auf ein „Theorie-Praxis-Dilemma“.30 Dieses besteht darin, dass anhand von Textanalyse formulierte Annahmen zu potentiellen Rezeptionsreaktionen in Bezug auf den realen zeitgenössischen Rezipienten nur schwer, kaum oder gar nicht nachgewiesen werden können. Weder Intentionen des Autors noch die Reaktionsweise des Publikums sind empirisch oder historisch fassbar, weshalb man unter diesen Gesichtspunkten vom Mittelalter durchaus berechtigt als einer nuit des temps sprechen kann.31 Insgesamt ergeben sich einige konkrete Schwierigkeiten, auf die problemlösend reagiert werden muss: (1) Rezeptionsästhetik mit schwer greifbarem zeitgenössischen Rezipienten: Die empathischen Reaktionen des mittelalterlichen Rezipienten sind nur in geringem Maße von unserem modernen Empfinden abzuleiten. Vielmehr sind sie vom geistes- und kulturgeschichtlichen Wissen,
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Vor allem Hübner 2003 und Young 1995. Auch Laudes Arbeit zur ‚Perspektive‘ ist in diesen Bereich einzuordnen (vgl. Laude 2002). Dieses „Theorie-Praxis-Dilemma“ beklagt auch die Shakespeare-Forschung für das Projekt der ‚Sympathielenkung‘, obwohl deren Publikum und seine Rezeption überlieferungsgeschichtlich noch besser zu greifen ist als unser mittelalterliches (vgl. Schabert 1978a:7). Clemen fasst die Schwierigkeiten für die Untersuchung der Sympathielenkung, die so auch für die Empathielenkung gelten können, folgendermaßen zusammen: „Unter den Impulsen, die bei einer Aufführung auf den Zuschauer zukommen, um bei ihm wiederum bestimmte Reaktionen auszulösen, ist die Erweckung seiner Sympathie, seiner Anteilnahme an einzelnen Charakteren wohl die wesentlichste und diejenige, die sich ihm neben dem, was wir ungenau mit „Erschütterung“ bezeichnen, am nachhaltigsten prägt. […] Aber wie dieser Kreislauf nun zustande kommt, wieweit diese „Sympathielenkung“ vom Dramatiker beabsichtigt, im Dramentext angelegt und durch bestimmte dramatische Techniken bewirkt wird, […] wieweit das Publikum dies alles aufnimmt, inwiefern es dabei manipuliert wird, und inwieweit seine Reaktion überhaupt abschätzbar ist […], dies alles führt zu vielen offenen Fragen. […] Der Vorgang ist zwar jedem Theaterbesucher und jedem Leser ungefähr bewußt, hängt aber gleichzeitig von soviel subjektiven und nicht genau bestimmbaren Faktoren ab, daß seine Untersuchbarkeit von verschiedenen Seiten her eingeschränkt wird“ (Clemen 1978: 11). Zumthor 1972: 19ff. Zumthor benennt einen Teil seines „Essai de poétique médiévale“ mit dem Titel „La nuit des temps“, was auf die Ursprünge der Literatur im Mittelalter und damit auch auf deren schwere Greifbarkeit verweist.
1. Empathielenkung
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vom persönlichen Informationsstand, von Normen, Werten etc. der Epoche abhängig.32 Historisch können über die Rezeption des zeitgenössischen Hörers oder Lesers so gut wie keine Aussagen getroffen werden. Informationen über die Reaktionen auf literarische Aufführungen (außer Annahmen über die Beliebtheit anhand der Handschriftensituation) gibt es nicht. (2) Subjektivität der Empfindung: Die Sympathieurteile eines Rezipienten lassen nicht unbedingt auf die Sympathieurteile der übrigen (geschweige denn aller) Rezipienten schließen. Clemens bange Frage erscheint durchaus berechtigt: „Ist es möglich […] einen NormalZuschauer, einen ‚idealen‘ Zuschauer zu konstruieren, ohne dabei die Realität der Variationsbreite zu mißachten?“33 (3) Nicht-Rekonstruierbarkeit der zeitgenössischen Aufführungstechnik: Man darf auch nicht vergessen, worauf Clemen hinweist, dass nämlich „Intonationen, begleitende Rhetorik, Versbewegung und Rhythmik der Sätze, Pausen und Betonungen“ mitwirken, um unsere Empathie zu wecken, oder in ihr Gegenteil zu verwandeln. 34 Allerdings stellt sich dieses Problem im Mittelalter weniger, da der mündliche Vortrag zwar eine gewisse Variation zulässt (Betonungen, Einsatz von Mimik und Gestik, Pausen etc.), aber die Abweichungen doch auch sehr viel stärker einschränkt, als es eine Drameninszenierung tun würde (die mit unterschiedlichen empathielenkenden Inszenierungen arbeitet). Diesen Schwierigkeiten kann in weiten Teilen problemlösend begegnet werden: (1) Abschied vom subjektiven Empfinden: Der ideale35 mittelalterliche Rezipient Wie in den einleitenden Worten bereits dargelegt wurde, steht nicht die Wirkung des Textes auf den individuellen Rezipienten im Zentrum des Interesses, sondern das Wirkungspotential des Textes auf einen Modellre-
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Schabert 1978: 41. Auch Clemen bestätigt die Abhängigkeit der Auffassungen von der Wandlung der moralischen Grundüberlegungen, der Wertnormen und der psychologischen Einsichten, wie sie für jede Epoche neu gelten und jeweils auch wieder neu in Frage gestellt werden müssen (Clemen 1978: 16). Clemen 1978: 14. Clemen 1978: 15. In Bezug auf den Rezipienten greife ich auf die Begrifflichkeiten von Schneider zurück, der unter Einbezug der Iserschen Termini die verschiedenen existierenden Leserkonzepte systematisiert. Schneider unterscheidet so zwischen empirischem, idealem (=implizitem) und fiktivem Leser. Der individuelle empirische Rezipient ist auf befriedigende und objektive Weise nicht mehr zu rekonstruieren. Der ideale Rezipient hingegen wird definiert als „gedankliches Konstrukt [...], der über eine unfehlbare Intelligenz, Aufmerksamkeit und Vorbildung“ verfügt. „Der fiktive Leser ist der Leser, wie er vom fiktiven Erzähler oder auch von anderen Figuren in einem konkreten Erzähltext angesprochen werden kann, mit dem Ziel, unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Dinge zu lenken“ (Schneider 1998: 154).
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I. Problemgeschichte und Forschungsüberblick
zipienten,36 der die Gesamtheit empathielenkender Elemente des Textes umsetzt und der uns so die Rezeptionsperspektive erstellen lässt, die alle lenkenden Eingriffe des Erzählers miteinbezieht. In Anlehnung an Isers impliziten Leser wird also ein idealer mittelalterlicher Rezipient angenommen.37 Dieser realisiert „die Rezeptionsvorgaben des Textes, all seine Lektüre-Appelle, in idealer Weise […], indem er alle Signale des Textes zu aktualisieren, d.h. zu empfangen und zu deuten vermag. Als idealer Interaktionspartner durchschaut er die Textstrategien und überträgt schließlich die mit dem Text gemachte ästhetische Erfahrung in seinen lebensweltlichen Kontext.“38 Der Begriff meint „jenes Gegenüber, mit dem der […] Autor bei der Abfassung seines Werkes rechnet [...] dem keine der inhaltlichen und formalen Eigenarten des Textes entgeht.“39 Über das Konzept des idealen Rezipienten kann eine Annäherung an eine Reaktion des zeitgenössischen Hörers/Lesers angenommen werden. (2) Der Text als Bezugsquelle: Die exakte narratologische Untersuchung Empathie, Mitleid und Sympathie dürfen dabei nicht als historisch tatsächlich realisierte Urteile angesehen werden, sondern als Empathieintention des Textes, die ein idealer Rezipient mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit realisiert haben könnte. Dieses Verständnis umfasst sicherlich eine Resignation vor der restlosen Aufklärung, doch dürfen die Erkenntnisse, die der Text uns bietet, nicht unterschätzt werden. Er liefert dem modernen Rezipienten Informationen von unschätzbarem Wert, begegnet der Stoff dem Rezipienten doch über die erzählerische Vermittlung, die in der Lage ist, intensive, vom Stoff unabhängige eigene Akzentuierungen vorzunehmen. In einer Konzentration auf den mittelalterlichen Text können die maßgeblichen narrativen Strategien empathiesteuernden Eingreifens aufgelistet, klassifiziert und auf ihre inhaltliche Konkretisierung überprüft werden. 40
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So kann Pfister begegnet werden, der betont, dass selbst wenn Sympathie- und Antipathiereaktionen empirisch greifbar wären, sich „in den empirisch greifbaren Sympathie- und Antipathiereaktionen […] weniger das Werk selbst, als der geschichtliche Standort, der ideologische Horizont und die psychologische Disposition des einzelen Rezipienten“ spiegeln würden, als eine objektiv beschreibbare Wirkung des Textes (Pfister 1978: 25). Iser definiert den impliziten Leser als Komplement zum impliziten Autor (zurückgehend auf Booth) und macht ihn zum Zentralkonzept seiner Wirkungsästhetik. In strikter Parallelität zum impliziten Autor wird der implizite Leser als ein sowohl vom realen Leser als auch von der im Text markierten Perspektive der Leserfiktion unterschiedenes theoretisches Konstrukt postuliert (vgl. Iser 1976). Sexl 2004: 148. Schneider 1998: 154. Verbildlichend zu diesem Gedanken wirkt die folgende Beschreibung von Lausberg: „Festgehalten werden muß, daß sprachliche und rhetorische Formen nur ‚Formen‘ sind, die durch die jeweils aktuelle Intention (voluntas) des Redenden mit aktuell auf den Zuhörer wirkenden Inhalten gefüllt werden, auf die allein es dem Redenden und dem Zuhörenden
2. Der Willehalm-Stoff
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Wenn es vor allem im Hinblick auf Sympathie darauf ankommt, die inhaltliche Füllung der Lenkungsstrukturen zu prüfen, können wir zusätzlich auf relativ verlässliche kulturwissenschaftliche Daten zurückgreifen. Denn um den impliziten Leser/Hörer eines historischen Textes ohne Rezeptionszeugnisse zu rekonstruieren, ist ein Blick über den Text hinaus unerlässlich. Auf dieser Basis erscheint eine fundierte Annäherung an die vom Text signalisierten Rezeptionsreaktionen möglich.41 Gerade weil uns der mittelalerliche Rezipient mit seinen Urteilen und Reaktionen nicht mehr greifbar ist, scheint die maximale Nutzung der überlieferten narrativen Strukturen so vielversprechend.
2. Der Willehalm-Stoff Prinzipiell bietet sich jeder literarische Text der älteren oder auch der modernen Literatur für eine Analyse der ihm innewohnenden empathielenkenden Strukturen an. Immer steht dem Text eine breite Palette an Möglichkeiten offen, dem Rezipienten Figuren zu vermitteln und immer werden aus diesem breiten Angebot diejenigen Hauptstrategien hervortreten, die dem spezifischen Wirkungsfeld des Textes entsprechen.42 Die Betrachtung mittelalterlicher Texte eignet sich insofern besonders, als diese sich – wie oben bereits erwähnt wurde – aufgrund der primär mündlichen Darbietung durch ein besonders enges Text-Rezipienten-Verhältnis auszeichnen. Fragen wir nach der thematischen Eignung, so scheint darüber hinaus die Analyse eines Textes gerade dann besonders gewinnbringend, wenn fiktive Figuren in ihrer Konsistenz oder Inkonsistenz bzw. in ihrer Wirkung auf den Rezipienten Diskussionen aufwerfen. Diese inhaltliche Eignung präsentiert sich auf hervorragende Weise in Wolframs von Eschenbach Willehalm, denn die Forschungsfragen (s.u.) kreisen immer wieder um die aus moderner Sicht fragwürdige Bewertung der Figuren. Schon die Brüche, die in diesem opus mixtum liegen, machen eine intuitive Figureneinschätzung unmöglich und verlangen geradezu eine
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[…] ankommt. Die Formen sind so nur Gefäße des situationsmäßig relevanten Inhalts“ (Lausberg 1963: 16). Rahmendaten des literarischen Erwartungshorizontes sowie der vom Text aktivierten Normen- und Wertehorizonte sollen im Anschluss an die Begriffsdefinition der Sympathie zusammengestellt werden. Unter dem spezifischen Wirkungsfeld müssen wir Parameter wie Entstehungs- und Aufführungszeitpunkt, Entstehungsort (in unserem Fall deutscher vs. französischer Sprachraum), Erwartungshorizont des Publikums (z.B. literarisch geschultes Publikum vs. ungeschultes Publikum), kulturelle und mentalitätsgeschichtliche Faktoren etc. verstehen. Gerade aufgrund dieser unterschiedlichen Wirkungsfelder ist ein einheitliches Funktionieren mittelalterlicher Empathielenkung kaum zu erwarten.
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I. Problemgeschichte und Forschungsüberblick
Offenlegung der den Rezipienten in seinem Urteil führenden Empathielenkungsstrategien: Mit seinem Willehalm bricht Wolfram „aus der Tradition des höfischen Romans aus. […] Er gibt die Ebene des Fiktiven auf, um sich wieder der Faktizität des Geschichtlichen zuzuwenden.“43 Dass er dies nicht kraft freier Entscheidung tat, sondern vielmehr durch einen Mäzen geführt wurde, ist anzunehmen. Auf jeden Fall aber widmet er sich einem französischen Stoff des 8./9. Jahrhunderts n. Chr., nämlich der Verteidigung der südfranzösischen Stadt Orange gegen eine sarazenische Übermacht durch den Landesherrn und Heerführer Guillaume. Dieser Guillaume (bzw. in den deutschen Texten Willehalm oder Wilhelm) ist dann auch in allen Texten die zentrale Figur. Sie sieht sich zusammengesetzt aus den Wesenszügen und Lebensläufen vieler einzelner historischer Figuren. Hauptbezugspunkt ist dabei der historische Guillaume de Toulouse, der als Vasall König Karls gegen die Heiden kämpft und nach seinem frommen Tod als Heiliger Guillaume verehrt wird. „Wilhelm von Toulouse [Guillaume de Toulouse] war ein Vetter Karls des Großen. Als Beschützer des noch unmündigen Kaisersohns Ludwig, König von Aquitanien, machte er sich verdient und erhielt 790 das Lehen Toulouse. Im Kampf gegen eine starke Übermacht von Sarazenen, die im Jahr 793 Narbonne und Carcassonne überfielen, erlitt der Graf eine défaite glorieuse; in dieser Schlacht […] fielen fast alle fränkischen Krieger, doch wurden die Heiden in die Flucht geschlagen.“44
Das Lehen des historischen Guillaume, Toulouse, spielt in den Epen keine Rolle. Vielmehr ist es Orange mit seinem eindrucksvollen, bereits im frühen Mittelalter zur Festung umgebauten römischen Amphitheater, das sich zum zentralen literarischen Handlungsschauplatz entwickelt. Nach dieser Stadt wird der Held Guillaume d‘Orange genannt. Das spätere literarische Interesse an Guillaume de Toulouse wird vor allem durch seinen Rückzug aus dem weltlichen Leben im Jahr 804 begründet. Nach der Gründung des Klosters Gellone stirbt Guillaume im Geruch der Heiligkeit. Im Jahr 1066 folgt Guillaumes Heiligsprechung unter Papst Alexander II.45 Schon im frühen 9. Jahrhundert entsteht die heroische Gestalt des Guillaume al cort nes (‚Guillaume mit der kurzen
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Haug 1985: 175. Schmolke-Hasselmann 1983: 7. Über die Nebenhelden lassen sich ebenfalls historische Anhaltspunkte finden, denen jedoch mangels tiefergehender Informationen in den Texten bisher nicht näher nachgegangen werden konnte. Schmolke-Hasselmann verweist auf Graf Vivien von Tours, der am 24. August 851 ebenfalls eine Niederlage gegen die Heiden erlitt und der als Vivien Eingang in die Epen findet (vgl. Schmolke-Hasselmann 1983: 10). Guillaumes Ehefrau lässt Rückschlüsse auf die Guibourc der Epen zu, ob sie nun als Christin Guiburc angenommen wird (vgl. Schmolke-Hasselmann 1983: 7) oder als Verschmelzung zweier Ehefrauen Guillaumes Witburgh und Cunegunde (vgl. Frappier 1955: 68).
2. Der Willehalm-Stoff
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Nase‘), der zunächst in Hagiographien weiterlebt, bevor er der Held des Cycle de Guillaume wird.46 Die fast 300 Jahre dauernde Faszination um Guillaume begründet Jean Frappier folgendermaßen: „A coup sûr, il était un personnage représentatif; il symbolisait un idéal, une foi, une morale, le service de Dieu, le service du roi, la défense de la „tere major“, de la terre des aieux, la fidélité vassalique, la prouesse, l’honneur, l’amitié entre compagnons d’armes“.47
Ein Held also, der das Publikum wohl stark berührte und dessen erzählerische Präsentation in Texten tiefe Einblicke in literarische und kulturgeschichtliche Ideale verspricht. Nicht nur für unseren Ansatz stellt es einen enormen Glücksfall dar, dass von diesem Stoff mehrere Bearbeitungen überliefert sind, aus denen wir neben Wolframs Willehalm den ihm zugrundeliegenden Vorlagentext Aliscans und eine Bearbeitung des Willehalm aus dem 15. Jahrhundert, die Hystoria von dem wirdigen ritter sant Wilhelm, für eine nähere Betrachtung auswählen wollen. Die Rahmendaten der drei Texte präsentieren sich folgendermaßen: 1) Die altfranzösische chanson de geste Bataille d’Aliscans oder Aliscans eines anonymen Verfassers datiert von ca. 1180.48 Sie gilt im französisch-
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Frappier nennt als Stationen der Entwicklung vom Heiligen zum literarischen Helden zum einen das lateinische Gedicht von Ermoldus Nigellus Carmina in honorem Hludowici Pii, verfasst 827 in Straßburg: „laborieux imitateur de Virgile et d’Ovide, le poète carolingien versifie à froid ses distiques élégiaques, et sa relation des faits resta à peu près fidèle à la vérité historique. […] Bref, le poème d’Ermold a pu préparer la survie épique de Guillaume et contribuer à la formation de sa légende“ (Frappier 1955 :69). Zum anderen verweist Frappier auf das Fragment de la Haye, die lateinische Prosaversion eines Hexametergedichts, verfasst zwischen 980 und 1030: „il s’agit selon toute vraisemblance d’un exercice scolaire“ (Frappier 1955: 70). In der dort beschriebenen Schlacht zwischen Christen und Heiden stehen sich auf der einen Seite Karl der Große und Helden wie Bernardus, Bertrandus und Wibelinus, auf der anderen Seite Sarazenen wie Borel gegenüber. Am Ende des Fragments ist der Sieg der Christen wahrscheinlich (vgl. Frappier 1955: 70). Die Beispiele belegen, dass es um 1000 herum eine légende épique um das Geschlecht von Guillaume gibt, der jedoch selbst noch nicht genannt ist (dazu auch Saxer 1982). Frappier 1955: 88. Nicht vergessen werden darf als Grund für das große Interesse an Stoffen der karolingischen Ära die Heiligsprechung Kaiser Karls im Jahr 1165 auf Betreiben Friedrichs I. In der Folge entstanden die Chanson de Roland und wohl auch die Cycle du Roi und Cycle de Guillaume. Die altfranzösischen chansons de geste des 12. und 13. Jahrhunderts feiern Helden des 8. und 9. Jahrhunderts als Beispiele und greifen dabei in die Zeit vor der schriftlichen Fixierung der volkssprachigen Literatur zurück. Es bilden sich verschiedene Zyklen, wobei Aliscans in den Cycle de Guillaume einzuordnen ist. Insgesamt existieren: Karls- bzw. Königsgeste (Geste du roi), ‚Empörerzyklus‘ (Geste du Doon de Mayence oder Le cycle féodal), Wilhelmsgeste (Geste de Guillaume d’Orange oder Geste de Garin), Kreuzzugszyklus (Cycle de la croisade), Lothringer Geste (La Geste des Loherains), Nanteuil-Geste (Doon de Nantueil, Aye d’Avignon, Gui de Nanteuil). Die Wilhelmsgeste wiederum umfasst über 24 Lieder, die die Familiengeschichte Guillaumes besingen und oft nach den jeweiligen Mitgliedern benannt sind: Girart de Viane, Aymeri de
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I. Problemgeschichte und Forschungsüberblick
sprachigen Raum als das im Mittelalter am weitesten verbreitete Epos des ‚Wilhelmzyklus‘.49 Eine ihrer Handschriften diente Wolfram von Eschenbach als Vorlage für seinen Willehalm.50 2) Wolframs von Eschenbach Willehalm entsteht um 1220, also nach den großen höfischen Romanen Hartmanns von Aue, dem Tristan Gottfrieds von Straßburg und auch nach dem Parzival. Mit einer Überlieferung in 12 vollständigen Handschriften und über 64 Fragmenten gehört der Willehalm neben dem Parzival zu den am besten überlieferten Texten der hochmittelalterlichen Erzählliteratur. 3) Die Prosa-Bearbeitung eines anonymen Verfassers aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts Hystoria von dem wirdigen ritter sant Wilhelm, im Folgenden auch kurz als Hystoria bezeichnet, kompiliert neben Wolframs Willehalm zwei weitere mittelhochdeutsche Texte.51 Dieser Prosatext ist in drei Handschriften überliefert, die sich alle auf den südalemannischen
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Narbonne, Les Narbonnais, Le Couronnement de Louis, Le Charroi de Nîmes, La Prise d’Orange, La Chevalerie Vivien, Aliscans, La Chanson de Guillaume, Les Enfances de Guillaume, Folque de Candie, Le Moniage Guillaume, Le siège de Barbastre (vgl. Frappier 1955: 12; LexMA 2, 1703-1707; Artikel: chansons de geste). Vgl. Tyssens 1967: 249: „Aliscans, on l’a dit souvent, est l’une des plus belles chansons du cycle et celle qui connut sans aucun doute le plus grand succès: le nombre de copies en est le meilleur signe“. Frappier verweist auf die offensichtliche Beliebtheit des ‚Cycle de Guillaume‘, der mit 24 Liedern etwa ein Viertel der Überlieferungen altfranzösischer Epen ausmacht. Selbst der Zyklus um Karl den Großen kann sich nicht mit ihm messen (vgl. Frappier 1955: 11). Die genaue handschriftliche Vorlage von Wolframs Willehalm ist nach wie vor nicht mit Sicherheit zu benennen. Als wahrscheinlichste Quelle wird eine Handschrift von Aliscans angenommen, die eventuell nicht überliefert ist. Aliscans ist jedoch mit Sicherheit die Stoffversion, die Wolfram als Vorlage diente. Das anglonormannische Wilhelmslied (Chanson de Guillaume) ist wohl als archaische Version von Vivien und Aliscans anzusehen (vgl. dazu Frappier 1955: 38). Eine Diskussion über das Verhältnis der Chanson de Guillaume und Aliscans ist bei Wathelet-Willem 1975: 483ff nachzulesen. Sie plädiert für die Abstammung der Chanson und Aliscans von einer gemeinsamen Quelle Y, „peut-être un peu condensée dans G2, mais largement amplifiée dans Aliscans“ (Whatelet-Willem 1975: 495). Für die vorliegende Untersuchung stellen die Unsicherheiten den genauen Quellentext betreffend jedoch kein Problem dar, da es hier nicht um einen Detailvergleich zwischen Vorlage und Bearbeitung gehen soll. Wichtig ist allein die gleiche stoffliche Grundlage, die jeder Erzähler auf seine Weise bearbeitet. Der Werktitel Hystoria von dem wirdigen ritter sant Wilhelm findet erst seit der Neuedition durch Deifuß Verwendung (Deifuß 2005). Jan-Dirk Müller benutzte vorher den Titel ProsaWillehalm, der aber, wie Deifuß berechtigt kritisiert, den Anschein erweckt, es handle sich allein um eine Prosafassung von Wolframs Willehalm (vgl. Müller 1985: 14, Anm. 48). Die Hystoria stellt aber eine Kompilation der mittelhochdeutschen Bearbeitungen des weitergefassten Stoffkreises dar: Die Arabel Ulrichs von dem Türlîn thematisiert zusätzlich die Vorgeschichte zur Aliscans-histoire bzw. zum wolframschen Willehalm. Der Rennewart Ulrichs von Türheim konstruiert wiederum einen Schluss zu Wolframs (wahrscheinlich) Fragment gebliebenem Willehalm und setzt die Geschichte fort. Diese drei Versromane mit einem Umfang von mehr als 61000 Versen sind in Prosa aufgelöst und dabei stark gekürzt, umgearbeitet und an einigen Stellen ergänzt worden (dazu Deifuß 2005: 11ff).
2. Der Willehalm-Stoff
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Raum konzentrieren. Zugunsten der inhaltlichen Stringenz soll in dieser Arbeit nur die Bearbeitung des wolframschen Werkes (Mittelteil der Prosa-Bearbeitung) berücksichtigt werden. Eine vergleichende Analyse dieser drei Texte macht es uns nicht nur möglich, den Wirkstrukturen des wolframschen Textes näherzukommen, sondern auch, die unterschiedlichen Umsetzungsmöglichkeiten ein und derselben histoire und entsprechend die Spezifik des Willehalm zu bewerten. Gleichzeitig dürfte sich – durch die zeitliche und räumliche Distanz der Texte – ein Einblick in die Strategien mittelalterlicher Empathielenkung ergeben. Der altfranzösische Text bietet dabei die Chance, mittelalterliche Ästhetik als das zu betrachten, was sie ist, nämlich eine europäische.52 Wie bereits mehrfach betont wurde, verlangen viel diskutierte und bisher nicht hinreichend geklärte Fragen vor allem zum Willehalm Wolframs von Eschenbach neue methodische Ansätze. Im Folgenden soll die Forschungssituation vor allem in Bezug auf diese eingangs skizzierten Fragen in ihren Meilensteinen beleuchtet werden.53 Die erste Hauptfrage leitet sich aus dem vom Stoff vorgegebenen und in allen drei Texten thematisierten Konflikt zwischen Christen und Heiden ab, der, obwohl er eigentlich eine historische Begebenheit der Reconquista (8./9. Jahrhundert) aufgreift, im Rezeptionskontext der Kreuzzüge (1180 Aliscans; 1220 Willehalm) von den Rezipienten wohl als Tagesaktualität wahrgenommen worden ist.54 Da man vor der Kreuzzugsbewegung kaum ein Bild vom heiden und auch keine Literatur über ihn hatte, stellen alle literarischen Zeugnisse, die sich im 12. und 13. Jahrhundert mit dieser Thematik befassen, historisch wichtige Dokumente einer fortschreitenden Auseinandersetzung dar.55 Es ergibt sich ein Wechselspiel und Verschmelzen von historischem Stoff und aktuellem Interesse.56 Entsprechend zei-
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Der Zeitsprung zwischen Wolframs Willehalm und der Hystoria spiegelt dabei in gewisser Weise die literarische Wirklichkeit wider: Im 14. Jahrhundert nimmt das Interesse an ursprünglich romanischen Stoffen ab und nimmt erst wieder in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts zu, in der Europa eine Spätblüte der ritterlichen Kultur erlebt. Das „literarische Interesse des Adels wandte sich wieder in stärkerem Maße den großen Werken der Vergangenheit zu: fürstliche Gönner ließen die alten Texte durch Minnesänger aufspüren und in kostbaren Handschriften sammeln. […] Erst im Verlauf des 16. Jhs sind die französischen Heldenstoffe von breiteren Schichten aufgenommen worden und haben dann jahrhundertelang als ‚Volksbücher‘ den Stoffhunger eines anspruchslosen Publikums befriedigt“ (Bumke 1967: 23f). Eine umfassende Darstellung der Forschung zu Wolframs Willehalm seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert findet sich beispielsweise bei Kiening 1991: 1-28. Vgl. Greenfield/Miklautsch 1998: 24ff. Vgl. Stein 1933: 12. Vgl. Boutet: Die chanson de geste „ne cesse de reprendre et de réexposer les conflits fondateurs de la société féodalo-chrétienne, en liaison avec les besoins du moment, qu’il s’agisse
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I. Problemgeschichte und Forschungsüberblick
gen sich in der erzählerischen Vermittlung von Christen und Heiden Unterschiede, die sich in den Diskurs des Umgangs mit dem ‚fremden Anderen‘, in die Fragestellung nach Toleranz gegenüber Andersgläubigen einordnen.57 Dabei gilt in der Forschung generell das eindeutige Urteil der altfranzösischen Chanson de Roland (paien unt tort e chrestiens unt dreit)58 als eines Extrem, während die in Wolframs Willehalm vertretene Haltung in die entgegengesetzte Richtung zu weisen scheint. Prinzipiell besteht in der Forschung Konsens, dass die Heidendarstellung im Willehalm sehr viel positiver sei als in anderen Werken mit ähnlichem Stoffkreis (inkl. der beiden hier ausgewählten Stoffbearbeitungen).59 Ein Teil vor allem der älteren Forschung spricht dabei von außergewöhnlicher ‚Toleranz‘ und ‚Humanität‘ des Textes.60 Bereits sehr früh wurde von Bodo Mergell der Begriff der ‚Zweischau‘ geprägt, der die gleichberechtigte Darstellung von Christen und Heiden im Willehalm zu beschreiben sucht.61 Die Wendung ze bêder sît für den gleichberechtigenden Blick auf Christen und Heiden bekommt im Willehalm insofern geflügelte Bedeutung, als der Text sie insgesamt 29 Mal verwendet und so seine Darstellungsweise zu umschreiben scheint.62 Die neuere Forschung bemüht sich mehr, von einer anachronistischen Verwendung des Toleranz- und
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de ressouder la communauté, d’entraîner à la croisade ou d’aborder un problème social ou politique d’actualité“ (Boutet 1994: 48). Entsprechend nimmt der Terminus der ‚Toleranz‘ in der Forschungsdiskussion bis heute einen zentralen Stellenwert ein (vgl. etwa die rezente Arbeit von Sabel 2003 zum „Toleranzdenken“ in der mittelhochdeutschen Literatur, in der sie sich ausführlich auch mit dem Willehalm auseinandersetzt). CdR 79, 1015 („Heiden haben Unrecht und Christen haben Recht“). Bereits 1925 betont Naumann die Verdrängung des „wilden Heiden“ durch das Bild des „edlen Heiden“ (Naumann 1925: 89ff). Für den neueren Forschungskonsens kann Kirchert stehen, der einer unproblematischen Kreuzzugsideologie in der chanson ein vielschichtiges Heidenbild im Willehalm entgegensetzt: „Die unkomplizierte Kreuzzugsideologie der Chanson, für die das bekannte Diktum non homicida, sed malicida einstehen kann, wonach die Tötung der Heiden nicht als Menschenmord qualifizierbar ist, da sie der Ausrottung des Bösen dient, hält Wolfram ein vielschichtiges Heidenbild entgegen, das er als einziger auch religiös verankert“ (Kirchert 1994: 261). Ehrismann nennt in Zusammenhang mit der Laienmoral der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts den Begriff der „Toleranz“, der die Überzeugungen anderer dulden lässt. Im selben Kontext erscheint Wolfram als „humanitärer Dichter“ (vgl. Ehrismann 1927: 225ff). Ranke 1953 spricht von „christlicher Humanität“ (Ranke 1953: 62). Auch Schwietering hebt „Toleranz und Menschlichkeit“ in Bezug auf den Willehalm hervor (vgl. Schwietering 1957). Mergell untersucht zum ersten Mal in der Forschungsgeschichte des Willehalm das Zusammenspiel von Gehalt und Form und macht das Wie der Gestaltung zum Thema seiner Untersuchung. Dabei erarbeitet er das Prinzip der ‚Zweischau‘, das sich aus den seiner Ansicht nach wechselnden Einstellungen auf Christen und Heiden ergibt, die so zu einer gleichberechtigten Darstellung führen (vgl. Mergell 1936: 5-12). Vgl. dazu Margett 1985: 153-173.
2. Der Willehalm-Stoff
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Humanitätsbegriffs Abstand zu nehmen, ohne jedoch wirklich darauf zu verzichten.63 So betont auch die wohl rezenteste Arbeit von Barbara Sabel, die von einem Toleranzbegriff im Sinne des lateinischen tolerare (‚ertragen‘) ausgeht, dass im Willehalm, „besonders im gedanklichen Zentrum des Werks, der Toleranzrede, […] geradezu klassische Argumente für Toleranz gebraucht bzw. in Darstellung umgesetzt werden.“64 Menschlichkeit, Toleranz und Widerspruch gegen die Kreuzzugsideologie würden den Willehalm zu einem mehr als bahnbrechenden, ja sogar revolutionären Werk machen. Die neuere Forschung stellt jedoch immer wieder fest, dass Wolframs potentiell ‚revolutionäres‘ Gedankengut im Mittelalter scheinbar kaum Aufsehen erregte. So stellt Johannes W. Schröder fest: „Ich wüßte keine Stelle im mittelalterlichen Schrifttum zu nennen, die Wolframs Dichtung wegen ihrer Fortschrittlichkeit lobte oder wegen häretischer Neigungen tadelte. Das hat erst die germanistische Forschung getan.“65 Und selbst Heinzle, der den Willehalm im Kommentar zur Ausgabe des deutschen Klassikerverlages als „Werk gegen die Kreuzzugsideologie des Mittelalters, eines der großen Dokumente der Menschlichkeit“66 bezeichnet, konstatiert: Das, „was für uns die Größe des Werks ausmacht, hat das mittelalterliche Publikum nicht gesehen oder nicht akzeptiert.“67 Fasbender formuliert recht deutlich in Bezug auf Toleranz und Widerstand gegen die Kreuzzugsideologie im Willehalm: „Eine solche Sicht entspringt modernem Wunschdenken.“68 Dass in Wolframs Text eine Öffnung den Heiden gegenüber zu verzeichnen ist, ist unbestritten. Allein der Grad dieser Besonderheit ist zu klären: Inwieweit vermittelt der Text dem Rezipienten tatsächlich eine Gleichberechtigung der Parteien? Zu welchen Einstellungen den Heiden gegenüber führt der Text seine Rezipienten?
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Auch Lofmark spricht von „Toleranz“ im Willehalm (Lofmark 1989: 401). Heinzle nennt den Willehalm ein „Werk gegen die Kreuzzugsideologie des Mittelalters, eines der großen Dokumente der Menschlichkeit“ (Heinzle 1991: 800f, auch Klappentext zu seiner Willehalm-Ausgabe im Klassikerverlag). Wessel-Fleinghaus spricht von „Idee der Toleranz“ in Anführungszeichen (Wessel-Fleinghaus 1992: 82f). Rocher wählt das Adjektiv humaniste um den ähnlichen Gedanken auszudrücken: „la fiction devient ainsi le meilleur véhicule d’un discours véritablement humaniste, même s’il est religieusement humaniste (comme l’est en général l’humanisme du treizième siècle)“ (Rocher 1985: 141). Sabel 2003: 323. Durch das Ertragen als Grundelement des Toleranzbegriffs grenzt sich Sabel von einem zu ‚romantischen‘ oder ‚aufklärerischen‘ Toleranzbegriff ab. Denn „[e]ine abweichende Verhaltensweise oder Meinung zu tolerieren, muss nicht heißen, sie zu billigen“ (Sabel 2003: 16). J.W. Schröder 1975: 414. Heinzle 1991: 800f. Heinzle 1991: 802. Fasbender 1997: 30; ähnlich auch Knapp 1993: 203.
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I. Problemgeschichte und Forschungsüberblick
Neben der Diskussion zur Einschätzung des vom Text vermittelten Bildes von Christen und Heiden gilt ein weiteres Augenmerk der Forschung dem Helden Willehalm, dessen Verhalten bisweilen als höfisch vorbildlich, bisweilen als heilig, bisweilen als heroisch, bisweilen aber auch als problematisch zu beschreiben ist. Hauptdiskussionspunkte sind dabei Willehalms unbarmherziges Verhalten dem Heiden Arofel gegenüber und sein maßloser Zorn am Königshof.69 In beiden Fällen lässt sich Willehalms Verhalten weder in das Bild eines höfischen Helden noch in das eines Heiligen ohne weiteres einordnen. In dieser Figur scheint sich das Nebeneinander der verschiedenen und teilweise konträren Stimmen des Romans, die fast an die bachtinsche Polyphonie erinnern, konfliktuell zu potenzieren. Die Forschung diskutiert dabei, inwieweit sich die scheinbar konträren Verhaltensweisen des Helden zu einem konsistenten Figurenbild vereinen lassen bzw. inwiefern die Inkonsistenz der Figur den Gedanken einer Entwicklung des Helden nahelegt bzw. inwiefern die Inkonsistenz als solche zu akzeptieren ist. Vor allem von der älteren Forschung wird eine eventuelle Entwicklung des Helden vermutet, die wenigstens einige der Widersprüche auflösen könnte. Vertreter dieser These argumentieren dabei vor allem mit Willehalms unterschiedlichem Verhalten gegenüber den Heiden nach der ersten (Arofel-Szene: Tötung Arofels) und nach der zweiten Schlacht (Matribleiz-Szene: Barmherzigkeit). Sie begreifen – inspiriert vom Schicksal der höfischen Helden Erec, Iwein und Parzival – den Widerspruch als Zeugnis für eine Entwicklung des Protagonisten, die ihn von einer falschen Einstellung und schuldhaftem Verhalten in der ersten Schlacht zu Barmherzigkeit und Menschlichkeit am Ende der zweiten Schlacht führt. 70 Allerdings wurde dieses Konzept einer möglichen Entwicklung des Helden relativ schnell auch in Frage gestellt und vor allem das Argument der Unhaltbarkeit eines Vergleichs von Willehalm und Parzival führte dazu, dass sich heute kaum mehr Vertreter der Entwicklungstheorie finden. 71 Man tendiert vielmehr dazu, die Widersprüche als vom Autor bewusst
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Vgl. W80f (Tötung Arofels) und W147 (Willehalms Zorn am Königshof). Da diese Meilensteine der mittelalterlichen Literatur allesamt vor dem Willehalm entstanden, der Parzival sogar vom gleichen Autor Wolfram von Eschenbach stammt, ist diese Assoziation grundsätzlich vertretbar. Befürworter einer Entwicklung des Protagonisten sind u.a. Mergell 1936: 96, Maurer 1951: 187, Werner Schröder 1962: 272. Nach Mergells These überwindet Willehalm durch seine Entwicklung „den Gegensatz zwischen Christen und Heiden und gelangt so zu höchster Menschlichkeit“ (Mergell 1936: 176). Bumke kritisiert die mögliche Entwicklung des Helden Willehalm wohl am meisten und wirft den oben genannten Befürwortern der These vor, dass man sich bewusst oder unbewusst vom Vorbild des Parzival habe leiten lassen (vgl. Bumke 1959: 64). Weitere Gegner der These sind J.W. Schröder (1960), Wehrli (1960: 344), Francke (1975: 47) und Heinzle (1991: 800).
2. Der Willehalm-Stoff
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oder unbewusst nicht ausgeglichene ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘, als Nebeneinander verschiedener Gattungsströmungen zu fassen. Stephan Fuchs prägt in Bezug auf Willehalm, in Abgrenzung zu den hybriden Helden, in denen Gegensätzliches widerspruchsfrei und anspruchsfrei verschmolzen ist (z.B. im Helden Wigalois), den Begriff der ‚Diversität‘.72 Die Widersprüchlichkeit der Heldenfigur reflektiert schließlich eine Widersprüchlichkeit der Stimmen im Gesamtwerk, welches man aufgrund der Unmöglichkeit einer Gattungszuordnung seit Kurt Ruh als opus mixtum und opus novum bezeichnet.73 Die neuere Forschung scheint dabei zu dem Ergebnis zu gelangen, dass die schwer zu vereinenden Stimmen des Textes Hauptgründe für seinen Fragmentcharakter im Sinne eines Zusammenbrechens des Dichters an seiner selbst produzierten Vielstimmigkeit darstellen.74 Eine vergleichende Betrachtung der drei ausgewählten Texte ist in der bisherigen Forschung einmalig: Erst seit 2005 liegt eine Neuedition des vorher kaum bekannten spätmittelalterlichen Textes Hystoria von dem wirdigen ritter sant Wilhelm durch Holger Deifuß vor, die diesen Text für die For-
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Vgl. Fuchs 1997: 330. Vgl. Ruh 1974: 297: „Indem Wolfram, wie mir scheint: bewußt, eine Chanson de geste in die epische Tradition seiner Zeit einführen wollte, schuf er, nach Gattungsmerkmalen indiziert, ein opus mixtum; entstehungsgeschichtlich und intentional ist der ‚Willehalm‘ ein genus novum“. Kiening greift den Begriff des genus novum auf: „die krude Polarität der Kreuzzugsdichtung, die irdisch-heilsgeschichtliche Erlösung des Gralromans, die narrative Unwahrscheinlichkeit der Heldenepik, aber auch der Dienstgedanke des Minnesangs – sie stehen gleichermaßen in einem Zwielicht, aus dem nur immer deutlicher der intentionale Charakter eines genus novum hervorgeht, einer Erzählung von Liebe und Glauben, Verwandtschaft und Tod, die zum ‚Roman‘ wird weniger aufgrund ihrer Orientierung an Willehalm und Gyburc als aufgrund ihrer Komplexität und epischen Totalität“ (Kiening 1991: 117). Haug spricht von einem „Typus sui generis“ (Haug 1975: 231). Gerade die Rede Gyburcs vor dem Fürstenrat gilt als Stimme, die den Erzähler endgültig an die Grenze seiner Möglichkeiten bringt und die auch sein Scheitern auslöst. So etwa Mohr: „Gyburc ringt um etwas, womit sie nicht fertig wird, und Wolfram wird auch nicht damit fertig“ (Mohr 1974: 324). Auch Bertau betont in Bezug auf Gyburcs Schonungsgebot: „Und die Sätze Wolframs haben, nach meiner Überzeugung, auch Konsequenzen für die endliche Destruktion der vorgegebenen Fabel des Willehalm, für eine Destruktion, die eben den Willehalm zum Fragment machte“ (Bertau 1983: 250). Knapp argumentiert: „Personen wie Rennewart in ihrer inneren Fülle und Entwicklung mußten letztlich die Gattung sprengen. Somit stellt der Willehalm den grandiosen Versuch des größten deutschen Dichters des Mittelalters dar, die ehrwürdige Gattung des Heldenepos und die neue aufstrebende des Höfischen Romans in einem zutiefst christlichen Werk zu verschmelzen. Daß dies letztlich scheitern mußte, war, wenn die hier herausgestellten Wesensunterschiede der Gattungen stimmen sollten, unvermeidlich“ (Knapp 1970: 333). Ebenso Greenfield 1996: 29: „der Fragmentschluss scheint darauf hinzudeuten, daß es Wolfram in seiner Zeit unmöglich war, eine ihm gerechte, poetische Antwort auf die Problemstellung dieses Werks finden zu können“.
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I. Problemgeschichte und Forschungsüberblick
schung leichter zugänglich macht.75 Demgegenüber steht eine relativ alte Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Wolframs Willehalm und seiner altfranzösischen Vorlage Bataille d’Aliscans, die primär nach den Bearbeitungstendenzen des deutschen Dichters fragt.76 Auf welche Weise sich dabei die vom deutschen Bearbeiter vorgenommenen Änderungen auf den Rezeptionseindruck auswirken, inwieweit bestimmte Erzähltechniken auf Empathie, Mitleid und Sympathie des Rezipienten Einfluss nehmen, wurde dabei bisher nicht beleuchtet. Gerade im Vergleich der drei Texte können die Beschreibungskategorien von Empathie, Mitleid und Sympathie entscheidend dazu beitragen, die von den Texten bei gleicher stofflicher Grundlage und gleichem Handlungsplot begünstigten Rezeptionserlebnisse und die ihnen zugrundeliegenden Strategien zu erfassen. Denn: Verantwortlich für unterschiedliche Figureneinschätzungen bei gleichem Plot müssen empathielenkende Strukturen sein. Demnach reagieren wir mit der Frage nach dem spezifischen Einsatz empathielenkender Strategien in den drei Texten auf ein dreifaches Desiderat: Der vergleichende, den Gesamttext betreffende Blick spannt sich von der altfranzösischen chanson de geste über die höfische Bearbeitung Wolframs bis hin zum frühneuhochdeutschen Prosaroman, dem die Hystoria zuzuschreiben ist. Außerdem wagen wir einen primär narratologisch vorgehenden Vergleich, der letztlich die rezeptionssteuernden Strukturen der Texte erkennbar werden lassen soll.
3. Ziele der Untersuchung Insgesamt lässt die Entwicklung eines theoretischen Modells zur Untersuchung des Phänomens der Empathielenkung und die anschließende Anwendung auf drei Bearbeitungen eines Stoffes einen mehrfachen Erkenntnisgewinn erwarten:
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Im Rahmen dieser Edition bespricht Deifuß die Hystoria im Kontext ihrer Vorlagen, darunter auch Wolframs Willehalm (vgl. Deifuß 2005). Vergleichende Arbeiten finden sich bei Mergell 1936, Wiesmann-Wiedemann 1976, Marly 1982, Huby-Marly 1984 und 1985, Buschinger 1985, Greenfield 1988, Stevens 1997. Wenn als Bearbeitungstendenz der deutschen Dichter generell das Bestreben gilt, den französischen Gehalt so genau wie möglich wiederzugeben und lediglich in den Ausdrucks- und Darstellungsmöglichkeiten zu variieren, wird dem Willehalm dabei eine Sonderrolle zugesprochen (vgl. dazu Bumke 2002: 134). So scheint auch für den Willehalm zuzutreffen, was Schirok für den Parzival feststellt: „Auf die Quelle kommt es nicht an, sondern auf die Art und Weise ihrer Umsetzung. Nicht die Quelle ist entscheidend, sondern das, was ich, der ritterliche Erzähler, daraus mache“ (Schirok 2003: CXIV). Insgesamt gelten eine komplexere Darstellung der Figuren, eine Tendenz zur Höfisierung und Infragestellung des Krieges als die maßgeblichen wolframschen Veränderungen (vgl. Huby-Marly 1985: 32, 36 und 40).
3. Ziele der Untersuchung
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(1) Empathielenkung als Element mittelalterlichen Erzählens: Erzähltechnische Umsetzung und inhaltliche Konkretisierung Die vorliegende Arbeit nimmt als Hypothese an, dass auch mittelalterliche Texte mit Strategien der Einfühlung arbeiten, dass das Spiel mit Rezipientenempathien als Element mittelalterlicher Poetik verstanden werden muss, welches die Textgestalt mitkonstituiert. Bei der Erprobung des entwickelten Analysemodells wird sich einerseits abzeichnen, inwieweit diese Texte konstant mit Empathielenkung arbeiten. Andererseits wird sich dieses prinzipielle Ergebnis noch spezifizieren lassen: Inwiefern zeichnen sich in den drei Stoffbearbeitungen gemeinsame Strategien der Empathielenkung ab? Inwiefern lassen sich Unterschiede oder Entwicklungen feststellen? Wie tief ist die Einfühlung, die der Text favorisiert und welche Rolle spielen darüber hinaus Mitleid und Sympathie? Mit welchen Inhalten argumentiert der Text für Rezipientenempathien? Die sich aus den verwendeten narrativen und rhetorischen Techniken einerseits und den in ihnen transportierten Inhalten andererseits zusammensetzenden Textstrategien lassen dabei schon jetzt vermuten, dass es kein Standardmodell mittelalterlicher Empathielenkung geben wird.77 Neben der Fokussierung auf Gemeinsamkeiten erscheint es deshalb ebenso wichtig, die Prozesse der Empathielenkung in ihrer Verschiedenheit zu beleuchten und die bestehenden Abhängigkeiten, die sich in den jeweiligen Texten abzeichnen, so weit wie möglich aufzudecken. Die empathielenkende Strategie der Texte dürfte einmal mehr die Diversität der mittelalterlichen Poetik betonen: „Il faudrait parler non pas seulement du système médiéval de littérature, mais des divers systèmes qui se succèdent au cours de cette longue période“.78 Gerade im Anschluss an die aristotelische Tragödientheorie, die für die von ihr intendierten Wirkungen den Effekt der katharsis anstrebt, muss auch hier nicht zuletzt gefragt werden, inwieweit die Ergebnisse Aussagen darüber zulassen, zu welchem Zweck die empathischen Reaktionen Empathie, Mitleid und Sympathie provoziert werden. Gerade in Bezug auf das Mitleid bleibt gerade vor dem Hintergrund aristotelischen Jammers und Schauderns und der empfindsamen Rührung zu klären, zu welchem Zweck Mitleid in mittelalterlichen Texten als Rezeptionskategorie verwendet wird.
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Vor allem wenn man bedenkt, dass der Autor gerade in der erzähltechnisch schnelllebigen Zeit des hohen Mittelalters modernisieren und neue Wege gehen musste, um den Erwartungen und Ansprüchen seines Publikums zu genügen. „Im Verlauf von nur wenigen Jahrzehnten sind die literarischen Ausdrucks- und Darstellungsmittel auf ein vorher nicht bekanntes künstlerisches und technisches Niveau geführt worden“ (Bumke 2002: 708). Poirion 1980: 212.
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I. Problemgeschichte und Forschungsüberblick
(2) Definition und Nuancierung von Wirkungsspektren fiktiver Figuren auf den Rezipienten: die Einschätzung der Heiden Die Kategorie der Empathielenkung verspricht neue Antworten auf die wohl meistdiskutierte Frage des Willehalm, nämlich auf die Frage nach dem Heidenbild. Das vorliegende Analysemodell greift aus den vielfältigen Möglichkeiten, die ein Text dem Rezipienten zur Einschätzung der fiktiven Figuren bietet, drei privilegierende Formen, nämlich Empathie, Mitleid und Sympathie, heraus. Diese Kategorien werden nun deutlich voneinander abgegrenzt und darüber hinaus diejenigen narrativen Strukturen definiert, die den Rezipienten in ihre Richtung lenken. Dass Wolfram von Eschenbach die Heiden im Vergleich zum Rolandslied, seinem Vorlagentext Aliscans und auch dem spätmittelalterlichen Text aufwertet, ist mittlerweile Forschungskonsens.79 Die genauen Beschreibungskategorien für die potentiellen Rezipientenreaktionen auf Christen und Heiden in den drei Texten fehlen allerdings. Mit den gängigen Konzepten der ‚Toleranz‘, ‚Humanität‘ und ‚Menschlichkeit‘ ist Wolframs Darstellung nicht zu erfassen. Empathie, Mitleid und Sympathie können nun erste Unterscheidungen festlegen und Indizien geben, welche der vielschichtigen Tendenzen der Fremdheitswahrnehmung und Fremdheitserfahrung sich in den drei Stoffbearbeitungen – besonders aber in Wolframs Willehalm nachweisen lassen.80 (3) Empathielenkung als Kategorie zur Einschätzung umstrittenen Figurenverhaltens: Interpretationen zu Wolframs Held Willehalm Weitere Erkenntnisse lassen sich in Bezug auf die zweite große Frage des Willehalm erwarten, nämlich der nach dem umstrittenen Verhalten des Helden und seiner eventuellen Entwicklung. Eine Bewertung von Figurenverhalten darf jedoch nicht zwanghaft vor dem Hintergrund der wenigen Bewertungshorizonte betrachtet werden, die sich die Forschung erschlossen hat (im Sinne einer Fragestellung, inwieweit Willehalms Verhalten höfisch oder doch eher heroisch ist). Vielmehr müssen wir den Gesamttext über die jeweiligen Schlüsselstellen hinaus befragen, ob und wann er Empathie, Mitleid und vor allem Sympathie und damit Wertschätzung für Willehalm fördert. Es stellt sich die Frage, wie der Text dem Rezipienten das aus unserer Sicht zunächst nur als umstritten zu wertende Verhalten Willehalms vermittelt. Auf diese Weise können neue Erkenntnisse in Bezug auf die Forschungsdiskussion um einen sich entwickelnden, brüchigen oder gar heiligen Protagonisten liefern und uns dem vom Text geförderten Eindruck vom Helden Willehalm näherbringen.
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Vgl. den Forschungsüberblick zu Wolframs Willehalm im vorhergehenden Abschnitt. Vgl. Haufe 2005: 142.
3. Ziele der Untersuchung
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Insgesamt setzt sich die vorliegende Arbeit das Ziel, zu einer Etablierung von Empathielenkung als einer narratologisch-rezeptionsästhetischen Kategorie beizutragen. Die Erforschung der potentiell empathielenkenden Textsignale, greifbar über bestimmte, noch zu definierende narrative Strukturen, erlaubt eine Annäherung an Rezipientenempathien selbst in Bezug auf historische Texte, deren Wirkungen und Wirkungsstrategien sonst nur schwer rekonstruierbar zu sein scheinen. Das Reaktionsspektrum eines Rezipienten auf literarische Figuren wird auf diese Weise nuanciert beschreibbar gemacht. Eine Anwendung auch auf andere mediävistische Texte erscheint dabei nicht nur möglich, sondern wünschenswert.
II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen 1. Empathie, Mitleid, Sympathie Bevor es möglich wird, ein funktionierendes Modell zur Untersuchung mittelalterlicher Texte auf ihre empathielenkende Struktur hin zu entwickeln, müssen wir die zugrundeliegenden Leitbegriffe von Empathie, Mitleid und Sympathie definieren. Erst auf dieser Grundlagen kann dann entschieden werden, welche Textstrukturen Empathie, welche Mitleid und welche Sympathie begünstigen. Empathie wird dabei als Basiskategorie verstanden, auf deren Grundlage Mitleid und Sympathie, gleichsam als Sonderformen der Empathie, entstehen können. 1.1 Empathie Im Vorwort wurde bereits erwähnt, dass der Begriff der Empathie eine vergleichsweise junge Begriffsgeschichte aufweist. Anders als man zunächst annehmen könnte, handelt es sich dabei lediglich um ein Kunstwort, einen künstlich gräzisierten Fachterminus, der zunächst in Form des englischen empathy als Übersetzung des deutschen Begriffs der ‚Einfühlung‘ geprägt wurde.1 Schließlich wird das Wort ‚Empathie‘, welches dann als aus dem amerikanischen Englisch übernommenes Lehnwort zu betrachten ist, auch im Deutschen verwendet. Damit stehen in der deutschen Sprache ‚Einfühlung‘ und ‚Empathie‘ weitgehend gleichberechtigt nebeneinander und sollen in dieser Arbeit auch als Synonyme verstanden werden.2
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Dass ‚Empathie‘ ein Kunstwort darstellt, zeigt sich daran, dass es in seiner griechischen Form ἐμπάθεια eine vollkommen andere, für das deutsche Verständnis irrelevante Bedeutung hat (‚Vorurteil‘, ‚Gehässigkeit‘). In gedruckter Form tritt empathy zuerst bei dem amerikanischen Psychologen Titchener auf, der es als Äquivalent des deutschen Ausdrucks ‚Einfühlung‘ verstanden wissen will (vgl. Titchener 1909: 21f). Ein synonymes Verständnis vertreten alle führenden Nachschlagewerke sowohl der Philologien als auch der Psychologie, z.B. Brockhaus Enzyklopädie (Brockhaus Enzyklopädie 1988: 352, Bd. 6, Artikel: Empathie), Lexikon der Psychologie (Lexikon der Psychologie 2001: 358, Bd. 1, Artikel: Empathie).
1. Empathie, Mitleid, Sympathie
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Als Empathie (und Einfühlung) wird nun generell der psychische Vorgang definiert, sich in die Gedanken- und Gefühlswelt eines anderen Menschen kognitiv einzufühlen und die Welt aus dessen Sicht zu sehen.3 Grundbedingung für diese Perspektivenübernahme eines Anderen ist das Wissen um dessen Bewusstseinsinhalte, aus denen sich die Einstellungen konstituieren, also um dessen Emotionen und/oder Motivationen, die entweder von außen erschlossen oder durch Kommunikation direkt erfahren werden können. So macht schon der klassisch gewordene Aufsatztitel von Theodor Lipps aus dem Jahr 1907 „Wissen von fremden Ichen“ deutlich, dass das Wissen vom Inneren des Gegenübers Grundvoraussetzung für jede empathische Reaktion ist.4 Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses von Empathie wird die Erklärung notwendig, warum wir in dieser Arbeit von ‚Empathie‘ sprechen und nicht etwa von ‚Identifikation‘, das die Rezeptionsästhetik, vor allem aber Hans Robert Jauß, verwendet. 5 Diese Entscheidung gegen den Begriff der Identifikation lässt sich inhaltlich begründen und in die Forschungstendenz der beiden letzten Jahrzehnte einordnen. Fragt man nach konzeptuellen Unterschieden von Empathie und Identifikation, so grenzt sich letztere insofern ab, als sie ein so starkes Einswerden mit dem Gegenüber, ja eine „Verinnerlichung einer anderen Person“ miteinschließt, die so stark ist, dass man fühlt, denkt und auch agiert wie dieser Andere. 6 Während sich die empathiefühlende Person in ihrem Hineinversetzen in den Anderen eines ‚Als-ob-Zustandes‘ stets bewusst ist, verlässt dieses Bewusstsein die Person im Falle von Identifikation zugunsten eines vollkommenen Verschwindens im Anderen. Auch die Literatur- und Kulturwissenschaft erkennt mehr und mehr diesen Unterschied, so lesen wir bei Bjørn Ekmann:
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Vgl. Brockhaus Enzyklopädie 1988: 352, Bd. 6, Artikel: Empathie („Bereitschaft und Fähigkeit, sich in die Einstellung anderer Menschen einzufühlen“), Brockhaus Enzyklopädie 1988: 167, Bd. 6, Artikel: Empathie („das Sich-Hineinversetzen in eine andere Person“) und Lexikon der Psychologie 2001: 358, Bd. 1, Artikel: Empathie = Einfühlung („Sichhineinversetzen in eine andere Person bzw. deren Situation“). Vgl. auch die EmpathieDefinition von Eisenberg als „affective response that stems from the apprehension or comprehension of another’s emotional state or condition, and that is very similar to what the other person is feeling or would be expected to feel“ (Eisenberg 2000b:677). Vgl. Lipps 1907. Jauß definiert ästhetische Identifikation wie folgt: „Identifikation in ästhetischer Einstellung ist ein Schwebezustand, der in ein Zuviel oder Zuwenig an Distanz – in ein uninteressiertes Abrücken von der dargestellten Figur oder in ein emotionales Verschmelzen mit ihr – umkippen kann“ (Jauß 1982: 244). Dabei entgeht Jauß der Problematik des Begriffs der Identifikation (siehe die folgenden Darstellungen oben im Text) durch die Präzisierung ‚ästhetische‘ Identifikation. Die neuere Forschung zieht aus Gründen einer klareren Abgrenzung den Begriff der Empathie, der im Detail passender erscheint, vor (siehe oben). Lexikon der Psychologie 2001: 243, Bd. 2, Artikel: Identifikation.
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II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen
„Einfühlung ist niemals restlose, selbstvergessene Identifikation; sie ist immer ein irgendwie gespaltener Bewußtseinszustand: Einerseits wird in der Phantasie die ‚fremde‘ Erlebnisweise und Situation nachvollzogen, andererseits ein vergleichendes Mitwissen um die gewöhnliche eigene – wenigstens am Rande des Bewußtseins – aufrechterhalten. Vergleichbar wäre das mit dem Verhalten eines Spiel-Teilnehmers, der sich auch bei eifrigster Hingabe an die imaginäre ‚Wirklichkeit‘ des Spielverlaufs mehr oder weniger der ‚Künstlichkeit‘ des Unternehmens bewußt bleibt.“7
Bjørn Ekmann verwendet Einfühlung dabei für den Bereich von Literatur und Rezeption, während Identifikation dem lebensweltlichen Bereich vorbehalten bleibt. Diese einleuchtende Auffassung teilt auch Harald Weinrich, der glaubt, dass der ‚gesunde‘ Leser sich immer bewusst sei, „daß die Helden nur im ‚Liede‘ leben und sterben.“ Dieses Bewusstsein verhindere, dass der Leser sich mit einer fiktionalen Person ohne einen letzten Vorbehalt identifiziere: „Wäre es anders, müßten wir allesamt pathologische Leser sein, wie Don Quijote einer war.“8 Es erscheint deshalb naheliegend, für literatur- und kulturwissenschaftliche Betrachtungen und Analysen so weit wie möglich auf das Konzept der Empathie zurückzugreifen, da Identifikation dem Rezipienten eine doch sehr tiefgreifende psychologische Reaktion unterstellen würde, die in keiner Weise nachprüfbar scheint und vielleicht sogar prinzipiell unmöglich ist.9 Allerdings können wir davon ausgehen, dass Empathie mit einer fiktionalen Figur entsteht, sobald sich der Rezipient in die Figur einfühlen kann. Dafür benötigt er zum einen Informationen zur Gefühlswelt der Figur und zum anderen muss er verstehen können, warum sie so handelt wie sie handelt, d.h. er muss die Motivationen des Figurenverhaltens kennenlernen (s.o.). Zur Vermittlung dieser grundsätzlichen Pole der Empathieförderung bieten sich bestimmte narrative Techniken (wie z.B. Emotionsberichte, Figurenreden, Bewusstseinsdarstellung etc.) besonders an, die im folgenden Kapitel definiert werden sollen. Finden wir solche Strukturen im Text, können wir von Empathieförderung sprechen. Für die Figur stellt dies natürlich ein erhebliches Privileg dar. Der Zustand der Empathie beruht dabei allein auf der Tatsache, dass Einblicke in das Innere ei-
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Ekmann 1985: 104. Weinrich 1979: 723. Auch Quack zeigt sich von der Notwendigkeit einer Unterscheidung von Identifikation und Empathie/Einfühlung überzeugt und votiert ebenfalls für die Unmöglichkeit einer literarischen Identifikation. Er begründet dies u.a. folgendermaßen: „Zur Bekräftigung läßt sich überdies anführen, daß in unseren kulturellen Breiten ein Kind die Fähigkeit, zwischen Märchenwelt und Realität zu unterscheiden, noch vor dem Zeitpunkt erwirbt, wo es lesen und schreiben lernt“ (Quack 1991: 178). Jauß’ Begriff der ‚ästhethischen Identifikation‘ wäre ebenfalls eine vertretbare terminologische Lösung. Jedoch ist der Begriff der ‚Empathie‘ insofern einfacher, als er auch ohne Zusätze im literarischen Kontext treffend verwendet werden kann.
1. Empathie, Mitleid, Sympathie
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ner Figur vermittelt werden. Die inhaltliche Qualität der auf diese Weise erlangten Informationen spielt dabei noch keine Rolle, weshalb Empathie, die keinerlei Wertschätzung beinhaltet, problemlos auch für den Schurken geweckt werden kann. 1.2 Mitleid Mitleid muss nun als für den Rezipienten bewegende Sonderform der Empathie verstanden werden, die seit der Antike immer wieder einen zentralen Stellenwert in poetischen und poetologischen Texten einnimmt.10 Bewegend ist Mitleid deshalb, weil durch die Übertragung des Leides auf den Rezipienten gleichsam ein heftiger Affekt bzw. eine intensive Emotion ausgelöst werden kann.11 Dabei profitiert jede Poetik, die
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Bei Aristoteles beispielsweise wird der intensive Affekt des Mitleides zum Zwecke der katharsis genutzt. Auf diese sehr frühe aristotelische Lehre folgt eine lange theoretische Lücke, denn erst im 18. Jahrhundert wird Mitleid als Empathiephänomen im Zuge der europäischen Theorien zum bürgerlichen Drama neu diskutiert, wenn auch aus ganz anderen Gründen als bei Aristoteles. Lessing geht von der christlich-moralischen Dimension des Mitleidsbegriffs aus. Das bürgerliche Trauerspiel wollte durch Rührung von Gemüt und Herz zur moralischen Besserung beitragen und die Fähigkeit zum Mitleiden, das die Aufklärung zum Gebot der allgemeinen Menschenliebe erweitert hatte, aktivieren. Deswegen übersetzte Lessing das aristotelische eleos auch mit ‚Mitleid‘: Er wollte Aristoteles als Autorität für die eigene, den ethischen Idealen der Zeit verpflichtete Dramentheorie gewinnen (vgl. Fuhrmann 2002: 176ff). Dieses Mitleid, so meinte Lessing, könne nur hervorgerufen werden, wenn die Gestalten auf der Bühne aus dem Erfahrungshorizont der Zuschauer stammten. Nur dann, wenn man die Schicksalsschläge der handelnden Personen auch als eigenes, mögliches Schicksal erkenne, könnten sich Mitleid und mit ihm Furcht vor gleichen Unglücksfällen einstellen. Gerade deshalb zeigt das neue bürgerliche Personal der Trauerspiele (bzw. im französischen des genre dramatique sérieux) dem Publikum zum ersten Mal Figuren auf der Bühne, die es als seinesgleichen ansehen konnte (vgl. Rötzer 1992: 75). So verschafft auch Rousseau den Tränen des Rezipienten die höchste philosophische Legitimation, indem er zwischen der Rührung des Zuschauers und der menschlichen Frühzeit Verbindungen zieht: „En effet, la commiseration sera d’autant plus énergique que l’animal Spectateur s’identifiera plus intimement avec l’animal souffrant: Or il est évident que cette identification a dû être infiniment plus étroite dans l’état de raisonnement“ (Rousseau 1755, reprint 1964: 155f.). Auch die moderne Sozialpsychologie bezeichnet das Mitleid als besonders intensiv erlebte Empathieemotion. Als weniger intensiv erlebte Empathieemotionen gelten hier beispielsweise Mit-Freude oder Neid (vgl. Lexikon der Psychologie 2001: 75, Bd. 1, Artikel: Emotionen – Klassifikation). Als grundlegendes Unterscheidungskriterium von Emotion und Affekt gilt in der Regel die Dauer und Stabilität der Gefühlsregung: Während ein Affekt kurz und heftig wirkt, setzt sich bei der Emotion ein dauerhafterer und stabilerer Erregungszustand durch (vgl. Reisenzein/Meyer 2003: 39). Das Lexikon für Theologie und Kirche bestätigt das Auftreten des Mitleids in zwei prinzipiell zu unterscheidenden Formen: Mitleid steht „für den inneren Vorgang, das Leiden eines anderen auch als sein eigenes zu erfahren. Diese Identifizierung kann sowohl als spontaner Affekt eintreten wie Ergebnis der Bereitschaft sein, sich vom wahrgenommenen Elend eines Mitmenschen anrühren zu lassen“
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II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen
mit Rezipientenmitleid arbeitet, von der Tatsache, dass Menschen überraschenderweise Freude an dargestelltem fiktivem Leid und auch am Mitleid zu finden scheinen. Nach Freud liegt dies unter anderem darin begründet, dass die Anteilnahme am Leid einer fiktiven Figur zu heftiger Erschütterung führt und dem Rezipienten zugleich das Gefühl der Sicherheit und Erhabenheit vermittelt.12 Generell steht das mittelalterliche Verständnis von Mitleid in fundamentalem Gegensatz zu den Aussagen der griechisch-römischen Moralphilosophie, die im Mitleid einen störenden Affekt sieht.13 Mitleid gilt vielmehr unter Rückbezug auf das neutestamentarische Gottesbild des barmherzigen Vaters und des barmherzigen Sohnes als Heilmittel, weswegen Augustinus auch über die duritia der Stoiker, qua misericordiam vituperant, klagt.14 Fragen wir jedoch systematisch nach den mittelalterlichen MitleidKonzepten, so müssen wir zunächst feststellen, dass sich unser neuhochdeutsche Begriff ‚Mitleid‘ im Mittelalter in den lateinischen Begriffen misericordia und compassio widerspiegelt.15 Dabei kann Uta Störmer-Caysa überzeugend belegen, dass sich misericordia beim menschlichen Subjekt überwiegend auf das Mitgefühl mit anderen Menschen, die compassio sehr oft auf das Mitleiden mit dem leidenden Gott bezieht.16 Entsprechend erstaunt es nicht, dass wir misericordia mit der helfenden Tat nach außen (mit Armen, Leidenden etc.) in Zusammenhang gebracht sehen. So bildet dann auch ab dem 15. Jahrhundert das mittelhochdeutsche barmherticheyt, die deutsche Entsprechung zur misericordia.17 „In diesem Tätigwerden wird das passive Mitleid erst zur Tugend der B[armherzigkeit], der die Seligpreisung Christi (Mt 5, 7) gilt.“18 Im Gegenzug bleibt die compassio mitleidend
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(LThK, Band 7, 1998, S. 334, Artikel: Mitleid). Aristoteles nennt in seiner Tragödientheorie diese Unterscheidung nicht, sondern bezeichnet 'Mitleid' und 'Furcht' prinzipiell als 'Affekte' (vgl. Aristoteles, Rhetorik, II, 8, 2). Der Zuschauer im Theater oder der Romanleser darf „sich als >Großen< genießen“ und sonst unterdrückten Regungen ungescheut überlassen, weil sein Genuss die ästhetische „Illusion zur Voraussetzung [hat], das heißt die Milderung des Leidens durch die Sicherheit, daß es erstens ein anderer ist, der dort auf der Bühne handelt und leidet, und zweitens doch nur ein Spiel, aus dem unserer persönlichen Sicherheit kein Schaden erwachsen kann“ (Freud 1969a:163). Vgl. dazu auch Jauß 1982: 84ff. Vgl. die Tragödientheorie Aristoteles’, die u.a. vom schädlichen Affekt des Mitleids heilen möchte. Entsprechend sehen die Stoiker im Mitleid eine affektgesteuerte und daher vernunftwidrige Haltung bzw. eine „aegritudo animi“, eine gefährliche Bedrohung der gelassenen Seelenruhe (vgl. Lucius Annaeus Seneca, De clementia, II, 4, 4). Vgl. Augustinus, Epistola 104, 17, PL 33, Sp. 395; vgl. auch LexMA 6, 667f, Artikel: Misericordia. Vgl. Störmer-Caysa 2002: 66. Vgl. Störmer-Caysa 2002: 66f. Vgl. LThK, Band 7, 1998, S. 334, Artikel: Mitleid. LexMA 1, 1471f, Artikel: Barmherzigkeit.
1. Empathie, Mitleid, Sympathie
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tatenlos, weswegen Uta Störmer-Caysa davon ausgeht, dass sich für den zwischenmenschlichen Bereich die misericordia aufgewertet sieht, da sie über die compassio hinaus, die reines Mitempfinden bleibt, die helfende Wendung nach außen manifestiert.19 „Uneingeschränkt positive Wertungen der compassio gibt es nur […] wenn zumindest als letzter Zielpunkt der leidende Gottessohn im Spiel bleibt, nicht zwischen Menschen“.20 Dass die Übergänge dabei manchmal fließend sind, belegt Katharina Mertens Fleury: Denn als Form der compassio mit Gott und dem Gottessohn bezeichnen mittelalterliche Quellen, so Alanus ab Insulis und Ps.-Richard von St. Viktor auch die Feindesliebe oder die compassio mit dem Nächsten.21 „So bedeutet in gewisser Weise sogar das menschliche Erlernen von Mitleid mit dem Nächsten noch eine imitatio Christi und einen Zugang zu Gott“.22 Als Reaktion eines Lesers/Hörers auf einen fiktionalen Text ist die Reinform der misericordia prinzipiell unmöglich, da der Rezipient Figuren nicht helfend zur Seite stehen kann. Dem Rezipienten verbleibt allein ein untätiges Mitleiden (compassio) als mögliche Rezeptionsreaktion. Diese ist aus mittelalterlicher Perspektive wohl nur dann positiv zu bewerten, wenn sie zur misericordia hin erzieht bzw. wenn sie in heilsgeschichtlichem Kontext, beispielsweise im Mitleiden mit einem Legendenheiligen oder gar mit Christus, gefördert wird. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch die zunächst skeptischen Überlegungen Augustinus’ zum im Theater empfundenen Mitleid nachvollziehen, das nun einmal keine gute Tat zur Folge haben kann: Sed qualis tandem misericordia in rebus fictis et scenicis? Non enim ad subveniendum provocatur auditor, sed tantum ad dolendum invitatur et auctori earum imaginum amplius favet, cum amplius dolet.23 Gerade weil auch die neueste Forschung die zentrale Bedeutung der Leidens- und Mitleidensdarstellungen für den Parzival bestätigt,24 stellt sich doch die Frage, ob sich diese Bedeutung auch im Folgewerk Willehalm bemerkbar macht. Wenn ja, müsste der bisher kaum untersuchten Rezep-
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Vgl. Störmer-Caysa 2002: 66ff. Störmer-Caysa 2002: 65f (v.a. Fußnote 7). Dazu auch Mertens Fleury 2006, die betont, dass, wenn Mitleid in irgendeiner Form als Partizipation an Christi Passion (participatio) oder als Angleichung an sein Leiden (conformatio) zu verstehen ist, mit diesem immer wieder eine Heilserwartung verbunden wird: „Mit-Leiden öffent somit die Aussicht auf ewigen Lohn, wenn auch die ertragenen Leiden in dieser Welt nicht allein zur Erlangung des Geschenks künftigen Heils ausreichen“ (Mertens Fleury 2006: 15). Vgl. Alanus ab Insulis, Summa de Arte Praedicatoria, PL 210, Spalte 186 und Ps.-Richard von St. Viktor, Explicatio in Cantico Canticorum, PL 196, Spalte 489 sowie hierzu die Ausführungen von Mertens Fleury 2006: 19. Mertens Fleury 2006: 46. Augustinus, Confessiones III, 2, PL 32, Sp. 683. Vgl. Mertens Fleury 2006.
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II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen
tionsreaktion ‚Mitleid‘ eine herausragende Stellung im Rezeptionserlebnis zukommen. Damit sind nicht zuletzt neue Ergebnisse in Bezug auf die immer wieder ausgesprochene Hypothese zu erwarten, nach der sich für das 12. und 13. Jahrhundert eine Neukonzeption des höfischen Protagonisten feststellen lässt, zu deren zentralen Werten eine tätige Mitleidsethik gehört.25 Außerdem muss geklärt werden, ob das im 12. und 13. Jahrhundert vor allem über die neue Breitenwirkung der Mystik stark an Einfluss gewinnende Konzept der compassio mit Christus ebenfalls als Mitleidskonzept im Empathielenkungsprozess auftaucht.26 Vor diesem Hintergrund können wir nun nach den Bedingungen für die Entstehung dieses Rezipientenmitleids fragen, zu dem ein Rezipient auf der Basis von Textsignalen geleitet wird. Prinzipiell gilt eine Textstruktur als mitleidfördernd, wenn sie zunächst einen Einblick in die Gefühlswelt und das Bewusstsein des Gegenübers (Empathie) ermöglicht und darüber hinaus die inhaltlich qualitative Spezifizierung der Leidvermittlung bietet. Es ergeben sich die folgenden möglichen Wechselwirkungen zwischen Figurenemotionen der fiktionalen Welt und Rezipientenreaktionen: (1) Einer Figur A zugeschriebenes Leid fördert das Mitleid des Rezipienten mit dieser Figur A. (2) Das von einer Figur A manifestierte Mitleid mit einer Figur B fördert das Mitleid des Rezipienten mit den Figuren A und B. 27
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Dies beobachten zuletzt Kraß (vgl. Kraß:2000), Störmer-Caysa (vgl. Störmer-Caysa 2002) und Gephart (vgl. Gephart 2005). Damit greifen sie in gewisser Weise die Überlegungen Schwieterings auf, der ebenfalls vom Rolandslied zum Tristan eine Aufwertung des Mitleids feststellt und diese auf den zeitgenössischen theologischen Diskurs zurückführt (vgl. Schwietering 1927 bzw. 1969). So verweist Kraß auf die viktorinische Mitleidstheologie: „[S]ie propagiert ein Mitleiden, das in doppelter Weise im Leiden des Erlösers begründet ist: als Mitleiden nach Christi Vorbild und als Mitleiden mit Christus selbst“ (Kraß 2000: 285). Mitleid erhält insofern eine zusätzliche Tiefendimension, als auf der fiktionalen Ebene manifestiertes Mitleid der Figuren als Auslöser für das Mitleid des Rezipienten fungieren kann. Denn wenn Figuren ihr Mitleid mit anderen Figuren bekunden, so bekunden sie damit eine spezielle Form von Leid. Sie leiden aus Mitleid. Als Leidausdruck sind solche Strukturen entsprechend potentiell mitleidfördernd. Vor allem, wenn wir davon ausgehen, dass vor dem mittelalterlich-christlichen Erwartungshorizont Mitleid positiv zu bewerten ist, fördert von Figuren manifestiertes Mitleid moralisch legitimiertes Rezipientenmitleid (zu diesem Ausdruck siehe die folgenden Erklärungen). Allerdings kommt hier ein weiteres Mal die Unterscheidung zwischen helfender misericordia und rein teilnehmender compassio zum Tragen. Besonders positiv ist dabei Figurenmitleid einzustufen, welches die helfende Tat miteinschließt und folglich als misericordia zu fassen ist, während hilflos bleibendes MitLeiden den Namen ‚Mitleid‘ eigentlich nicht verdient. Compassio mit dem leidenden Gott dagegen ist ebenfalls positiv einzustufen. Aufgrund seiner positiven Bewertung vor dem christlich-höfischen Wertehintergrund wird das Mitleid später als Sympathieauslöser noch einmal aufzugreifen sein.
1. Empathie, Mitleid, Sympathie
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(3) Das Mitleid des Erzählers mit einer Figur A fördert das Mitleid des Rezipienten mit dieser Figur A. (4) Der Appell des Erzählers an den Rezipienten, Mitleid mit Figur A zu entwickeln, fördert das Mitleid des Rezipienten mit dieser Figur A. Dabei führt nicht jedes von einer Figur manifestierte Leid oder Mitleid zu einer einheitlichen Mitleidreaktion des Rezipienten. Wir gehen vielmehr davon aus, dass sich für den Rezipienten verschiedene Reaktionsmöglichkeiten ergeben und dass diese kontextabhängig sind. Wir unterscheiden: (1) Moralisch legitimiertes Mitleid (bei aus Rezipientensicht unverdient erfahrenem, als tief vermitteltem Leid), (2) rein affektives Mitleid (bei oberflächlich dargestelltem Leid), (3) rational verweigertes Mitleid bzw. Schadenfreude (bei aus Rezipientensicht verdient erfahrenem Leid).28 Als zwei entscheidende Variablen fungieren hier die Intensität der Leiderfahrung und die Verdientheit bzw. Unverdientheit des Leides vor dem Hintergrund der für diesen Text aktivierten Wertehorizonte.29 Figurenleid kann dann als intensiv vermittelt gelten, wenn der Text auf dem Leid der Figur insistiert, d.h. dasselbe detailliert oder wiederholt beschreibt. Aus der Sicht des Rezipienten als unverdient erscheint Figurenleid, wenn die Figur im Vorfeld nicht gegen den vom Text aktivierten Wertehorizont (vgl. Ausführungen unten) verstößt. Aus den vier sich ergebenden Möglichkeiten (1. unverdientes tiefes Leid, 2. verdientes tiefes Leid, 3. verdientes oberflächliches Leid, 4. unverdientes oberflächliches Leid), kann nur eine, nämlich die Kombination von tief und unverdient vermitteltem Leid, die intensivste Mitleidsform beim Rezipienten auslösen: das moralisch legitimierte Mitleid. Dieses kann entstehen, wenn eine Figur vor dem Hintergrund des für diesen Text aktivierten Wertehorizontes unverdient leidet (z.B. Rennewart aufgrund des Hohns und Spotts der Küchenjungen im Willehalm) und wenn dieses Leid zusätzlich als tief vermittelt wird (indem der Text mehrmals darauf verweist bzw. dieses Leid detailliert beschreibt). Dann können wir davon ausgehen, dass der Rezipient in einem ersten Affekt Mitleid empfindet, er aber zusätzlich, wenn er die Situation durchdenkt, zu rational nachvollzogenem und damit rational bestätigtem Mitleid kommen kann. Das oben
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In rein heldenepischen Texten müssen wir allerdings den Sonderfall heroischen Leides beachten, welches, häufig in Form von Verletzungen und Verstümmelungen im Kampf, weniger als Demonstration für Leid als als Ausdruck heroischer Kraft zu lesen ist. Schon Aristoteles legt in der Rhetorik fest, dass Leid unverdient erfahren werden muss, um Mitleid auszulösen: „Mitleid sei definiert als eine Art Schmerz über eine anscheinend verderbliche und leidbringende Not, die jemanden, der es nicht verdient, trifft“ (Aristoteles, Rhetorik II, 8, 2). Mit dem Kriterium der Tiefe nehmen wir einen zweiten Einflussfaktor auf, der über die Dauer dieses Mitleides entscheidet, die zweifelsohne das Rezeptionserlebnis maßgeblich mitbestimmt.
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II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen
thematisierte, auf der fiktionalen Ebene gezeigte Mitleid der Figuren untereinander wird dabei als moralisch legitimierbar verstanden, da Mitleid vor dem mittelalterlichen Wertehintergrund primär als positiver zwischenmenschlicher Wert verstanden wird.30 Dabei müssen auch hier die Formen der compassio und misericordia unterschieden werden, je nachdem ob Mitleid der Figuren auf Mitmenschen gerichtet, mit einer helfenden Tat verbunden oder heilsgeschichtlich orientiert ist (vgl. oben). Wenn demgegenüber Leid lediglich oberflächlich (z.B. kurz und/oder einmalig) vermittelt wird, kann dies zwar zu affektivem Mitleid führen, aber keine Reflexion der Situation bewirken, da der Text zu schnell darüber hinweggeht und kein Signal den Anspruch der Relevanz dieses Leides verlangt. Eine weitere Möglichkeit taucht auf, wenn die Figur vor dem für den Text aktivierten Wertehorizont verdient Leid erfährt, dieses aber trotzdem als tief vermittelt wird: Dann können wir mit rational verweigertem Mitleid des Rezipienten, bzw. in einer Steigerung mit Schadenfreude, rechnen.31 Neben dieser Unterscheidung müssen wir außerdem beachten, dass in mittelalterlichen Texten von Figuren manifestiertes Leid häufig als ritualisierte Form des Emotionsausdrucks zu betrachten ist.32 Vor allem die
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Allein das Mitleid mit dem Feind muss dabei je nach Vorkommen im Text gesondert diskutiert werden, denn während Mitleid mit dem Nächsten der Eigengruppe prinzipiell positiv zu bewerten ist (schließlich drückt es gegenseitige Treue aus), gilt Mitleid mit dem Feind in heroischen Texten wohl eher als Zeichen der Schwäche. Auf solche Fälle wird im Rahmen der Textanalyse später verwiesen. Auch die Shakespearekritik unterscheidet zwei Formen von sympathy: „Die Dramentheorie der Shakespearezeit, wie auch heutige historische Shakespeare-Deutung, weist miterlebender und normativer Identifikation, die sie unter den Kategorien to move und to persuade erfasst, andere, klar definierte Funktionen zu. Jene ist nur insoweit zu aktualisieren, als sie einer als Ziel gesetzten normenbestätigenden Identifikation parallel läuft“ (Schabert 1978b:47). Aristoteles nennt in seiner Tragödientheorie diese Unterscheidung nicht, sondern bezeichnet 'Mitleid' und 'Furcht' prinzipiell als 'Affekte'. Allerdings legt er in der Rhetorik fest, dass Leid unverdient erfahren werden muss, um Mitleid auszulösen: „Mitleid sei definiert als eine Art Schmerz über eine anscheinend verderbliche und leidbringende Not, die jemanden, der es nicht verdient, trifft“ (Aristoteles, Rhetorik II, 8, 2). Sowohl in Ritualtheorien als auch in der Emotionsforschung findet sich immer wieder der Hinweis auf den Zusammenhang von Ritual und Emotion (einen Überblick geben Kasten, Eming u.a. 2000, S. 48f). Der für uns wichtige Zusemmenhang ist in Bezug auf den Gefühlsausdruck zu sehen, d.h. dass Rituale als Rahmen fungieren, innerhalb dessen Emotionen eine sozial verbindliche symbolische Form erhalten (vgl. Tambiah 1998). „In Ritualen vollzieht sich nach dieser Auffassung eine disziplinierte Wiederholung vorgegebener Artikulationsweisen von Gefühlen, die eine emotionale Haltung im Sinne einer Einstellung oder Überzeugung verfestigt“ (Kasten, Eming u.a. 2000: 48). Ich fasse Leidausdruck als ritualisiert (in Abgrenzung zu rituell), da er zwar mit immer neuen Kombinationen von rituellen Elementen spielt, selbst aber zu sehr variiert um Ritual zu sein (zur Unterscheidung von ‚Ritual‘ und ‚Ritualisierung‘ vgl. Kasten, Eming u.a. 2000).
1. Empathie, Mitleid, Sympathie
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Trauer im Sinne einer Totenklage oder auch einer Minneklage gilt als in höchstem Maße kodifziert und ritualisiert.33 Demgegenüber kann Figurenleid stehen, welches als eher ungewöhnlich gelten kann. Diese Unterscheidung ist im Text nicht immer eindeutig treffen, jedoch sind an Merkmalen der Situation (z.B. Totenklage) doch Indizien zu erkennen, die ritualisierten Leidausdruck zumindest in Erwägung ziehen lassen müssen. Dabei trifft die Feststellung von Ingrid Kasten, Jutta Eming u.a. zu, die formulieren, dass „in der gegenwärtigen Ritualforschung noch nicht geklärt [ist], bis zu welchem Grad ein Kontrast zwischen rituell und individuell empfundenem Gefühl angesetzt werden muß, der sich bis zum Gegensatz von ‚scheinhaftem‘ und ‚authentischem‘ Gefühl verschärfen kann.“34 Für die Bewertung von Figurenleid als Auslöser von Rezipientenmitleid bzw. sogar als Sympathieauslöser soll dabei zunächst in der Wirkung auf den Rezipienten kein Unterschied zwischen möglicherweise ritualisiert ausgedrücktem Leid und weniger zu erwartendem Leid angenommen werden. Die Rückgriffe des Textes auf diese beiden Formen von Leidvermittlung – ritualisiert vs. unerwartet – zum Zweck der Empathielenkung können dabei jedoch Hinweise darauf geben, welchen Grad der Mitleidförderung man über die verschiedenen Strategien inszeniert. Die Ergebnisse können zeigen, welche Form der Leidvermittlung funktioniert oder eventuelle Defizite aufweist und welche Figuren auf die eine oder andere Form zurückgreifen.
1.3 Sympathie Sympathie stellt nun eine weitere Sonderform der Empathie dar. Das sie trennende Element, in dem die Sympathie über die Empathie hinausgeht, liegt in der Wertschätzung des Gegenübers. Denn während Empathie unabhängig davon funktioniert, ob das Gegenüber geschätztes Vorbild oder gehasstes Feindbild ist, verlangt Sympathie zusätzlich Wertschätzung, also eine positive Einstellung zum Gegenüber. Philippe Maître resümiert so treffend: „L’empathie comme mécanisme d’identification n’intègre
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Zur Ritualisierung der Minneklage im deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerroman vgl. Eming 2006. Das ebenfalls relativ rezente Werk von Küsters (Küsters 1991) beleuchtet eindrücklich den Umgang der höfischen Adelskultur des hohen Mittelalters mit der Trauer und dem Trauernden und setzt als Schwerpunkt die Toten- und Minneklage. Weitere, vor allem motivgeschichtlich orientierte Arbeiten zur mittelhochdeutschen Literatur geben einen guten Eindruck zum literarischen Motiv des Klagens im Mittelalter: Leicher 1927, Walker 1928, Neumann 1933, Peil 1975. Kasten, Eming u.a. 2000: 49.
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II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen
aucun jugement sur l’autre. La sympathie, oui.“35 Wir verstehen Sympathie folglich dem modernen Sprachgebrauch folgend als positiv wohlwollende Einstellung, als Affinität einem anderen gegenüber.36 Dass diese Definition nicht die einzig mögliche ist, verdeutlicht ein Blick auf die jahrtausendealte Geschichte des Begriffs. Das griechische Etymon von Sympathie sympatheia/sympathia sieht sich zusammengesetzt aus griech. sym (= mit/ zusammen) und griech. pathein (= leiden, empfinden). Die Übersetzung lautet somit ‚zusammen erleiden‘ bzw. ‚Mitleiden‘ oder ‚Mitgefühl‘, ‚Einhelligkeit‘, ‚gleiche Empfindung‘.37 Allerdings ist diese antike sympatheia nicht auf zwischenmenschliche Beziehungen anzuwenden. Der Begriff findet vielmehr als kosmologisches Sympathiekonzept, das – auf das menschliche Bewusstsein bezogen – die Harmonie des Denkens und Fühlens mit der idealen, göttlichen Ordnung der Welt besagte, Verwendung. Die zwischenmenschliche Beziehung des „mit jemandem leiden“ sieht sich eher im griech. eleos realisiert, wenn auch eher im körperlichen Schaudern und Jammern. Allerdings passierten im Zuge der Reformation, wenn man so will, zwei Übersetzungsfehler: man übersetzte sympatheia wörtlich mit ‚Mitleid‘, eleos hingegen mit ‚Barmherzigkeit‘.38 Die eigentliche Bedeutung von sympatheia schlägt sich so im neuhochdeutschen Begriff kaum mehr nieder. Sympathie bedeutet für uns primär, und so soll der Begriff in dieser Arbeit auch verstanden werden, nicht mehr, wie es etymologisch naheläge, Mit-Leiden oder Mitgefühl, sondern eine wohlwollende emotionale Einstellung einem Anderen gegenüber. Auch wenn dieses Verständnis von Sympathie für den modernen Sprachgebrauch im Allgemeinen greift, gehen viele Nachschlagewerke und
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Maître 2000: 42. Vgl. dazu auch Maître 2000: 41: „Il y a une racine commune aux états d’empathie et de sympathie: ils permettent à l’individu de ressentir au-delà de la sphère de sa sensibilité propre. Toutefois la sympathie embrasse, par ses autres définitions, une assimilation plus large que l’empathie, une tendance au partage, à l’approbation, qui interdit de poursuivre la comparaison“. Die relativ rezente Auflage der Brockhaus-Enzyklopädie stellt so „Zuneigung und das positive Gefühl eines Menschen gegenüber einem Mitmenschen“ ins Zentrum der Sympathie-Definition. Dabei bezeichnet sie die Empathie, entsprechend unserer Definition, als notwendige Basis für jede Sympathieentwicklung (vgl. Brockhaus 1993: 525, Bd. 21, Artikel: Sympathie). Ebenso definiert Wenninger im Lexikon der Psychologie Sympathie als Haltung einer Person einer anderen gegenüber, als eine Form des sozialen Urteils, welches sich in personaler Attraktion oder Ablehnung manifestiert (vgl. Lexikon der Psychologie 2001: 285, Bd. 4, Artikel: Sympathie). Vgl. Nünning 2001: 617 und Richter 1996: 111. Vgl. Richter 1996: 8 bzw. Richter 1996: 10. Nicht zu verachten ist dabei die Rolle der v.a. englischen Romantiker: „Diese ersetzen das aus der Antike stammende kosmologische Sympathiekonzept […] durch ein immanentes, psychologisches Konzept von Sympathie. ‚Sympathy‘ ist für David Hume und Adam Smith das gegenseitige menschliche Mitgefühl, ‚fellow-feeling‘, auf dem zwischenmenschlicher Kontakt und Gemeinschaftsleben basiert“ (Duden 2007: 3874).
1. Empathie, Mitleid, Sympathie
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Forschungsarbeiten immer noch rein übersetzend vor und betrachten Sympathie aufgrund einer Semantik und Etymologie nicht klar trennenden Ableitung als Synonym oder Halbsynonym zu Mitleid.39 Doch vom Mitleid trennt die moderne Sympathie zweifellos vieles: In der Psychologie gilt Mitleid als Empathieemotion, während Sympathie als eine dauerhaftere Haltung oder Einstellung verstanden wird.40 Zudem erscheinen die Gebundenheit des Mitleides an ein Leiden des Gegenübers und auch der Faktor der Wertschätzung, der in Bezug auf Mitleid nur bedingt eine Rolle spielt, als weitere unterscheidende Faktoren. Deswegen ist es einmal mehr gerechtfertigt, Mitleid, wie im vorhergehenden Abschnitt dargelegt wurde, als eigene Kategorie möglicher Rezipientenreaktionen zu begreifen. Legen wir auch Sympathie als rezeptionsästhetischen Begriff fest, so müssen sich sympathiefördernde, d.h. wertschätzungsfördernde narrative Textstrukturen nachweisen lassen. Dabei können wir davon ausgehen, dass die Erzähltechniken, die empathiefördernde Einblicke in das Innere der Figuren gewähren, zusätzlich Inhalte transportieren können, die vom Rezipienten positiv verstanden werden. Aber auch über Innensichtdarstellungen hinaus kann der Text evaluative Strukturen platzieren, die entweder explizit werten (Erzählerkommentare oder eindeutig wertende Adjektive) oder in der impliziten Wertung verbleiben (z.B. positiv wertende Räume, positiv wertende Handlungen).
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Vgl. Scheler 1923 und Richter 1996: 8 (Anmerkung 9) bzw. Richter 1996: 419 (Anmerkung 1345). Auch zahlreiche Wörterbücher und Lexika gehen nicht weiter auf einen Bedeutungsunterschied von Sympathie und Mitleid ein. Der angesächsische Sprachraum stellt einen anderen Weg der Begriffsgeschichte vor: Hier bedeutet sympathy tatsächlich ‚Beileid‘ oder ‚Mitgefühl‘. Die Bedeutung von ‚sympathisch‘ im Sinne von ‚du bist mir sympathisch‘ unter Verwendung des Wortes sympathy existiert in der englischen Sprache nicht. ‚I feel sympathy for you‘ meint allein: ‚Ich habe Mitleid mit Ihnen‘ oder ‚Ich empfinde Mitgefühl mit Ihrer Situation‘. In der psychologischen Fachsprache käme der Synonymsetzung von Mitleid und Sympathie die Vermischung von Sympathie und Empathieemotion gleich. Sympathie ist als Haltung einer Person einer anderen gegenüber zu verstehen, als eine Form des sozialen Urteils, welches sich in personaler Attraktion oder Ablehnung manifestiert (vgl. Lexikon der Psychologie 2001: 285, Band 4, Artikel: Sympathie). Sie ist damit keine Emotion, sondern ein Werturteil, welches in der Entstehung und in der Dauer komplexer ist als die Emotion. Nach der Emotionspsychologie können als Merkmale von Emotionen gelten: - sie sind zeitlich datierte, konkrete einzelne Vorkommnisse, - sie umschreiben aktuelle psychische Zustände von Personen, - sie haben eine bestimmte Qualität, Intensität, Dauer, - sie sind objektgerichtet, - sie zeichnen sich durch charakteristisches Erleben, physiologische Veränderungen, bestimmte Verhaltensweisen etc. aus. Dabei macht vor allem der Emotionsaspekt des zeitlich klar datierbaren Auftretens und der begrenzten Dauer deutlich, dass es sich bei der Sympathie nicht um eine Emotion handeln kann (vgl. Reisenzein/Meyer u.a 2003: 24).
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II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen
1.4 Der entscheidende Faktor der Wertschätzung Ohne Wertschätzung also keine Sympathie. Ein prinzipielles Problem ergibt sich deshalb in der Entscheidung, welche Inhalte die Wertschätzung des zeitgenössischen mittelalterlichen Rezipienten für die Figur fördern – denn dass Wertschätzung immer an den vorherrschenden Normen- und Wertehorizont geknüpft ist, scheint selbstverständlich. Ein Exkurs zur potentiellen Wertschätzung des mittelalterlichen Rezipienten wird notwendig. Wagen wir deshalb einen kulturwissenschaftlichen Blick auf den mittelalterlichen Rezipienten und seine Bewertungskategorien, so muss noch einmal betont werden, dass wir uns allein dem idealen Rezipienten annähern können, da individuelle Prägungen (persönliche Erlebnisse, Erfahrungen) nicht erfassbar sind. Wertschätzung wird dann gefördert, wenn eine Einzelinformation über eine Figur (diese kann ihr Inneres, aber auch ihr Äußeres betreffen) eine positive Beurteilung vor den für diesen Text aktivierten Normen- und Wertehorizonten zulässt, d.h. wenn die Einzelinformation mit den positiven Leitbildern dieses Wertehorizontes übereinstimmt.41 Die verfügbaren mittelalterlichen Werteparadigmen sind von Literatur- und Kulturwissenschaften relativ gut erschlossen. Allerdings dürfen wir nicht von einem homogenen und konsistenten Werteparadigma ausgehen. Vielmehr bietet das Mittelalter eine Vielzahl von Normen- und Wertehorizonten, denen wir uns nur stark abstrahierend und stark auf die Situation der literarischen Rezeption einschränkend überhaupt nähern können. Christliche Werte dürfen für das gesamte Mittelalter, sowohl literarisch als auch lebensweltlich, als omnipräsent und mächtig verstanden werden und entsprechend ist ein christlicher Bewertungshorizont für nahezu alle mittelalterlichen Texte und Rezipienten anzunehmen. Jedoch zeichnen sich innerhalb dieses christlichen Bewertungshorizontes verschiedene Schwerpunktsetzungen ab, die sich aus Überlagerungen und Verschmelzungen mit den beiden anderen für mitelalterliche Literatur konstitutiven Wertehorizonten ableiten: dem archaisch-heroischen und dem höfischen. Das archaisch-heroische Gedankengut spiegelt dabei nicht
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Kleine Abweichungen von diesen Leitvorstellungen können dabei durchaus sympathiefördernd wirken. In der mittelalterlichen Literatur, deren lehrhafter und erzieherischer Charakter unbestritten ist, müssen diese 'kleinen Fehler' der Figuren allerdings wirklich im Bereich des kaum Spürbaren verbleiben. Ansonsten verlangen Abweichungen des Figurenverhaltens vom Ideal Korrektur, d.h. sie können nicht sympathiefördernd vermittelt werden.
1. Empathie, Mitleid, Sympathie
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zuletzt die Erfahrungswelt von Grausamkeit, Kampf und Krieg wider.42 In Verknüpfung mit einem christlichen Wertehorizont, wie es sich typisch in den chansons de geste zeigt, definiert sich der christliche Glaube als ein kriegerischer, der Gewalt und Glauben sowie den Kampf gegen die Gottesfeinde problemlos vereint. Hier ist es gerade der christliche Glaube, der zum bedingungslosen Kampf im Namen Gottes aufruft. Ab dem Ende des 12. Jahrhunderts tritt dann ein neuer höfischer Wertehorizont hinzu, der sich teilweise mit dem heroisch-christlichen überlagert, sich aber mehr und mehr als primär höfisch-christlicher Wertehorizont durchsetzt.43 Dabei ist in literarischen Texten eine konstante Wechselwirkung und Überlagerung der drei Wertehorizonte (heroisch, christlich, höfisch) anzunehmen. Allerdings gehen wir davon aus, dass ein literarischer Text in einem solchen Fall von nebeneinander existierenden Bewertungssystemen – die sich manchmal auch widersprechen, doch dazu im übernächsten Abschnitt – in den ersten Rezeptionsmomenten einem dieser mehr oder weniger konkreten Wertehorizonte die Priorität zuweist. Dies geschieht oft über intertextuelle Verweise, die den Text einer deutlichen Tradition zuordnen, wodurch verschiedene Textarten entstehen, die wir heute als literarische Gattungen begreifen. Dabei können Bewertungshorizonte fast alleingültig (wie z.B. der christliche in der Legende), aber auch in Überschneidung und damit lediglich in unterschiedlichen Akzentuierungen gelten (z.B. im Legendenroman, der zugleich ein christliches und höfisches Wertesystem aktiviert). Auch die Aufnahme der drei ausgewählten Texte – Aliscans, Willehalm und Hystoria – geschieht in diesem Spannungsfeld verschiedener gültiger Bewertungshorizonte. Doch bereits die unterschiedlichen Entstehungsund Rezeptionsbedingungen lassen bestimmte Schwerpunkte vermuten. Darüber hinaus aktivieren die Texte selbst, wie oben vermutet wurde, über intertextuelle Verweise mehr oder weniger deutlich Wertehorizonte
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Vgl. Wenzel 2000: 315: „Die Herausforderung der permanenten Kleinkriege schlug sich in beinahe allen Handlungen der Herren nieder, ihrer Art zu denken, zu empfinden und zu sprechen, in einer kämpferisch-konfrontativen mentalité, die weithin dominierte“ (Wenzel 2000: 315). Dazu auch Krause 1977: 203. „Sie [diese Zeit um 1200] hat die Maßstäbe für die folgenden Jahrhunderte gesetzt, deren Dichter sich in einem wohlverstandenen Epigonentum auf sie beriefen, und sie hat einer bis dahin vorzugsweise geistlichen Dichtung den Platz erfolgreich streitig gemacht“ (Ehrismann 1995: 11). „In den festlichen Choreographien höfischer Inszenierungen entwirft der Adel Bilder, in denen er sich selbst im Sinne seines Ideals wahrnehmen kann, abgehoben von der Härte des feudalen Überlebenskampfes. Der Adel entfaltet eine Kunst der öffentlichen Selbstdarstellung, eine Kunst der Repräsentation, an der auch die Literatur beteiligt ist, die zugleich die Möglichkeit für einen Metadiskurs liefert, die Repräsentation der Repräsentation“ (Wenzel 2000: 317).
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II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen
und suggerieren dem Rezipienten auf diese Weise, die Figuren und ihr Handeln vor diesem Hintergrund zu bewerten: Aliscans wird am Ende des 12. Jahrhunderts von einem gemischten und/oder höfischen Publikum wahrscheinlich sowohl auf öffentlichen Plätzen und Märkten als auch am Hof rezipiert.44 Damit ist dieser Text eindeutig nicht der rein höfischen Literatur zuzuordnen, die zur gleichen Zeit ausschließlich an den Adelshöfen wahrgenommen wird (z.B. die Romane Chrétiens de Troyes). Thematisch feiert dieser Text den für diesen französischen Rezipientenkreis bekannten Volkshelden Guillaume d’Orange und seine Siege des 9. Jahrhunderts gegen die Heiden. Die klare Einordnung in die Gattung der chansons de geste ist somit schon thematisch abzuleiten.45 In den chansons de geste findet sich Heroisches und Hagiographisches stets vereint, denn die großen Helden bewähren sich meist im Kampf gegen die Heiden und verdienen sich so ihren Platz im Himmelreich und werden nicht selten sogar Heilige.46 Eine Verherrlichung der eigenen kriegerischen Vergangenheit und damit ein deutlicher Rückbezug auf die archaisch-höfischen Wertehorizonte scheinen damit ebenso zu erwarten wie ein Feiern und Fordern des christlichen Glaubens.47 Und tatsächlich sendet der Text kaum Signale aus, die ihn den höfischen Romanen Chrétiens annähern würden. Vielmehr aktiviert er als primären Bezugsrahmen die Chanson de Roland, ebenfalls eine den Krieg zwischen Christen und Heiden thematisierende chanson de geste.48 Hierbei ist Aliscans gleichsam als eine Fortsetzung der Chanson de Roland zu begreifen,
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Köhler geht davon aus, dass chansons de geste für ein Allgemeinpublikum verfasst sind, welches seine historischen Kenntnisse fast ausschließlich aus der chanson-Literatur bezog (vgl. Köhler 1963: 30). Mit fortschreitender Zeit, gerade in der parallelen Entwicklung zum höfischen Roman ist allerdings auch mit Vorführungen an Höfen zu rechnen. Boutet geht sogar davon aus, dass ab ca. 1175 ausschließlich mit höfischer Rezeption zu rechnen ist: „Le fait le plus notable est donc l’exclusion du public populaire – du moins dans les déclarations d’intention – dès le dernier quart du XIIe siècle“ (Boutet 1993a:29). Auf alle Fälle ist wohl ein fahrender Spielmann anzunehmen, worauf eine überlieferte Handschrift von Aliscans in Form eines sog. Spielmanns-Manuskripts hinweist. Dabei handelt es sich um „Bücher von kleinem Format (16-17cm hoch und 10-12cm breit), die wenig sorgfältig und schmucklos niedergeschrieben sind. Sie sind offenbar nicht zwecks Aufbewahrung in einer Bibliothek kopiert worden, sondern eher, um im Gepäck eines fahrenden Spielmanns ihren Platz zu finden“ (de Riquer 1978: 268). Dass die Gattung der chansons de geste bereits im Mittelalter begrifflich abgegrenzt wurde, beweist an vielen Stellen Johannes de Grocheo in seinem Musiktraktat (entstanden um 1300) (vgl. die Edition von Rohloff 1943). Vgl. Suard 1993: 8. So wurden die Haupthelden der chanson de geste, Karl der Große und Wilhelm von Toulouse, gleichermaßen als Helden und Heilige bekannt. Zum primär heroischen Wertehorizont der altfranzösischen chansons de geste vgl. auch Zumthor 1972: 537ff. Roland und Olivier werden als Vergleichsgrößen für die Tapferkeit der Helden angeführt (z.B. A185, 7992-94).
1. Empathie, Mitleid, Sympathie
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denn Karl der Große und sein heidnischer Gegner Baligan, deren Auseinandersetzung die Chanson de Roland beschreibt, finden in Guillaume und Desramé, den Kontrahenten in Aliscans, ihre Nachfahren. Das Ausbleiben weiterer intertextueller Verweise lässt darauf schließen, dass das mittelalterliche französische Publikum Aliscans eindeutig in die Tradition der chansons de geste und damit in eine primär heroisch-christliche Wertewelt einordnet.49 Wolframs Publikum ist dagegen nun mit großer Sicherheit ein höfisches, wahrscheinlich das des Thüringer Landgrafenhofs.50 Literatur ist in einem solchen Umfeld immer auch Teil der höfischen Selbstdarstellung, wird zum „Forum des Verhandelns der eigenen – tatsächlich bereits erreichten oder erst noch angestrebten – Lebensform.“51 Für Empathielenkung scheinen sich günstige Bedingungen zu bieten, da der vom Mäzen geförderte Autor, mehr als ein jongleur, der auch durch die Lande und damit von Publikum zu Publikum zog, sein Werk im Blick auf einen speziellen Rezipientenkreis verfasst. Damit kann er die Leitbilder seines Publikums konkreter einschätzen und die Vermittlung der fiktionalen Figuren entsprechend darauf ausrichten. Schwierigkeiten zeigen sich allerdings darin, dass der Willehalm keinen eindeutigen höfischen Wertehorizont für seinen Text zu aktivieren scheint, ja dass er den Rezipienten vielmehr mit Elementen verschiedener Paradigmen auch in konkurrierender Weise konfrontiert. Die intertextuellen Verweise rekurrieren dabei auf verschiedene Textarten, die wiederum für verschiedene Wertehorizonte stehen:52 Der Prolog in Gebetform und die entsprechende Anrufung Willehalms als Heiligen schaffen eindeutig eine Nähe zu Gebet und Hagiographie und aktivieren
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Gewisse Merkmale (so z.B. die einflussreichen Frauenfiguren wie Guibourc und Aélis) weisen allerdings auf Wechselwirkungen mit der gleichzeitig in Frankreich verbreiteten Romandichtung auf, so dass auch hier nicht von einer hermetischen Gattungsabgrenzung ausgegangen werden kann (vgl. Gally 1994: 10). Auch im formalen Bereich scheinen sich diese leichten Verschiebungen anzudeuten: So zeigt uns die äußere Form gereimte, und nicht einfach assonnierende Laissen, wie sie die meisten chansons de geste verwenden (wobei auch Assonanzen noch toleriert werden). Die Homophonie sieht sich oft auf die letzten betonten Vokale beschränkt (vgl. Frappier 1955: 235f und Suard 1994b:27). Im Prolog des Willehalm bezeugt Wolfram, dass er die französische Vorlage vom Landgrafen Hermann von Thüringen erhalten hat: lantgrave von Duringen Herman/ tet mir diz m#re von im bekannt (W3, 8f). Przybilski 2000: 10; Przybilski betont in diesem Zusammenhang die Alterität mittelalterlicher Literatur in der weniger starken Verzerrung der Lebenswirklichkeit, die eine Übertragung der Texterkenntnise auf die Lebenswirklichkeit möglicher erscheinen lässt. Einen komplexen Überblick über die im Willehalm verarbeiteten literarischen Horizonte findet man bei Kiening 1991 im Kapitel „Literarische Horizonte“. Dabei geht er ausführlich auf das Rolandslied (ab S. 86), den Parzival (ab S. 94) und Meister Veldeke und Meister Hildebrand ein (ab S. 102).
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II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen
so einen stark christlichen Bewertungshorizont.53 Daneben werden jedoch genauso Anknüpfungspunkte zum heroischen Kosmos geschaffen, denn auch hier gilt das Rolandslied als Bezugspunkt.54 Vor diesem Hintergrund präsentiert der Text die heidnischen Gegner als existentielle Gefahr für den christlichen Glauben und als Feinde schlechthin. Einen weiteren Bezugspunkt bildet die Dietrichepik, worauf die Erwähnung von Ute und Meister Hildebrand (439,16-21) und der Vergleich des Kampfes gegen die Heiden mit dem von Ezzelen [...] und ouch von Ermenriche (W384, 18f) hinweisen.55 Wenngleich diese Texte nicht die Problematik einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Christen und Heiden aufgreifen, untermauern sie in Bezug auf den mittelhochdeutschen Text doch die Präsenz heldenepischer Denkkategorien. Als dritte machtvolle Bezugsgröße präsentiert sich nun noch der höfische Roman. Im Willehalm wird diesbezüglich vor allem auf den Gralroman Parzival verwiesen, den Wolfram für einen ähnlichen Personenkreis wenige Jahre vorher verfasst hatte. Zahlreiche Figurenverweise auf Parzival (W4, 19-24/271,15-26), Feirefiz (W45, 15-19/379,24-27), Secundille (W125,28/279, 13-29) und Gahmuret (W243, 10-14) belegen, dass der Erzähler diesen Text als bekannt voraussetzt, was vor allem deswegen interessant ist, weil hier Heiden keineswegs als gefährliche Feinde erscheinen, sondern als exotisch-faszinierende Vertreter eines anderen Kulturkreises. Dieser Kulturkreis zeigt sich über die universell geltenden höfischen Werte mit dem Abendland verbunden, zumal das einzige Problem, nämlich der fehlende Glaube an den christlichen Gott, zumeist problemlos durch freiwillige Übertritte zum Christentum behoben werden kann. Der kriegerisch-heroischen Welt des Rolandsliedes mit dem Heiden als Feind steht somit eine höfische Welt gegenüber, die die Heiden trotz ihrer Andersheit kampflos zu integrieren vermag. Der christliche Horizont sähe sich in Verknüpfung mit einem primär heroischen Kontext zu einem skrupellosen Heidenkampf gewendet, in Verknüpfung mit einem primär höfischen Kontext würde er gegen Gewaltexzesse und auch für Barmher-
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Dies betonen u.a. Ohly 1961/62: 3, Brinkmann 1964: 18, Ochs 1968: 19 und Heinzle 1991: 814. Roland und Olivier gelten auch hier als Vergleichsgrößen für die Tapferkeit der Helden (z.B. W250, 17). Der wolframsche Text setzt den aktuellen Krieg außerdem explizit zu dem Karls gegen Baligan in Beziehung (W340, 22-26). Entsprechend wird im Willehalm Terramer als Nachfolger Baligans (W441, 4-19), die Christen hingegen als Nachfolger Karls gesehen, weswegen letztere auch in Besitz von Karls Schwert Preziosa sind (W410, 23-29). Hier stellt Etzel immer neue Heere auf, um Dietrich gegen Ermenrich zu unterstützen. Gillespie weist darauf hin, dass sich eine Situation wie die der Uote, die auf die Rückkehr ihres Mannes mit fester Treue wartet, nicht nur im Jüngeren Hildebrandslied findet, sondern auch in Dietrichs Flucht, wo Ermenrich droht, die gefangenen Mannen Dietrichs aufzuhängen, wenn ihm Dietrich die Stadt Bern nicht übergibt (vgl. Gillespie 1989: 71f).
1. Empathie, Mitleid, Sympathie
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zigkeit stehen. Dieses Nebeneinander der aktivierten Bewertungshorizonte, lässt schon jetzt Schwierigkeiten in Bezug auf die Bewertung der Empathielenkungsstrategien vermuten. Der Text selbst scheint auf ein Übertreffen aller bisher bekannten Werke abzuzielen, denn alle oben zitierten intertextuellen Verweise betonen eine Steigerung der Zustände im Verhältnis zum Bekannten.56 Er muss seinem Rezipienten entweder solch eindeutige Bewertungen vorgeben, dass dieser je nach Situation weiß, welcher Bewertungshorizont heranzuziehen ist. Oder aber der Rezipient verbleibt selbst in der Unsicherheit und im Nebeneinander verschiedener Deutungsmuster. Die Hystoria schafft nun schließlich den weiten Sprung zu einem völlig anderen Rezeptionskontext und dementsprechend anderen Interessen: Sie ist den sog. Volksbüchern zuzuordnen, d.h. längeren Prosaerzählungen, die individuell gelesen und nicht mehr gehört werden. Neben immer noch adelige Rezipienten tritt die Gruppe des städtischen Patriziats als Hörerund Leserschar. Diese Hörer und Leser sind damit nicht mehr allein dem höfischen Leben zuzuschreiben.57 Nicht mehr nur die Rezeptionsformen, sondern auch die Erwartungen an Literatur verlagern sich. „In dem Maße, wie Literatur an Bedeutung für das höfische Zeremoniell verliert, wird sie zum Lesestoff […]. Es wächst das Interesse an inhaltlich vermittelten Identifikationsmustern, die als Historien, geschichtlich legitimierte Denkwürdigkeiten, der eigenen Existenz Bedeutung, Rechtfertigung und Orien-
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Vgl. Kiening 1991: 99, der vor allem die Bezüge zu Wolframs Parzival beleuchtet: „Die Überbietung bekommt bedenkenswerte Züge, wenn auch Wolframs eigenes Werk keine Analogien bieten kann; die Gültigkeit der Parzival-Erzählung rückt ins Zwielicht, wird zumindest relativiert im Angesicht des Völkermordens. Doch was bleibt, wenn die Ereignisse auf Alischanz schon mit dem Gral […] nicht mehr vergleichbar sind, was läßt sich vorstellen, das dieser Leiderfahrung entgegenzusetzen wäre?“ Jan-Dirk Müller definiert die Volksbücher als „Texte unterschiedlicher Gattungszugehörigkeit, unterschiedlicher Provenienz und unterschiedlicher Intention, die seit dem 15. Jahrhundert in zahlreichen Handschriften, dann häufig aufgelegten Drucken verbreitet waren und gemessen an der ständisch exklusiven Literatur des Mittelalters wie gemessen an der humanistisch-gelehrten Literatur seit der Renaissance als zweitrangige Lektüre breiter Leserschichten galten“ (Müller 1977: 29). Während die ältere Forschung des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Volksbücher als qualitativ minderwertig betrachtet, schafft die neuere Forschung ein differenzierteres Bild: Brandstetter 1971 und Melzer 1972 revidieren die Meinung von der Formlosigkeit der Prosaromane und arbeiten immanente Gestaltungsprinzipien heraus. Für ein anderes Publikum als das der ritterlich-höfischen Epik sprechen der Verzicht auf den Vers zugunsten ‚nüchterner‘ Prosa, der Verzicht auf literarische Spielformen, die quasi-chronikalische Reihung von Vorgängen, der Abbau von Szenen höfischer Repräsentation, der Verzicht auf Explikation höfischer Verhaltensregeln. Sie sehen darin Merkmale bürgerlicher Lebensauffassung, jenseits ständischer Differenzierung. Müller betont jedoch richtig, dass sowohl Verfasser als auch Rezipienten im Kreise des Adels zu vermuten sind. Schließlich tauchen in Vorreden oft Standespersonen als Adressaten auf, der Adel besitzt vorwiegend die Schriften und bis Ende des 15. Jahrhunderts sind selbst Drucke nur einer finanzstarken Oberschicht zugänglich (vgl. Müller 1977: 33).
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II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen
tierung geben.“58 Literatur wird immer weniger Mittel der Selbstdarstellung, sondern vielmehr „zum Bestandteil historisch verstandener Selbstund Herrschaftslegitimation, Ausdruck eines Konservatismus und Historismus“.59 Es scheint daher nicht erstaunlich, dass die Hystoria auf explizite intertextuelle Bezüge vollkommen verzichtet. Das Fehlen solcher Bezüge, die Kürze des Textes und die Form der Kompilation der gesamten damals bekannten Willehalm-Geschichte deuten tatsächlich auf ein primär chronikalisches Interesse hin. Der Pakt zwischen Text und Rezipient scheint so deutlich gelockert; schon jetzt kann ein geringeres Maß an Wegweisung auch bezüglich Rezipientenempathien vermutet werden. Dennoch können wir davon ausgehen, dass auch diesem Text die Rezipientenempathien nicht gleichgültig sind, schließlich will gerade die adelige Rezipientengruppe den eigenen Machtanspruch durch die Geschichten der ‚Vorfahren’ legitimieren und konsolidieren. Rein kulturwissenschaftlich ist ein Wertehorizont, der sich historisch sowohl von der höfischen Welt als auch von der Welt archaischer Kriege und der Kreuzzüge entfernt, der die Figuren nach ihrer Idealität als Adelige bewertet, erwartbar. Denn der Rezipient sucht in ihnen eine idealisierte Form des eigenen Standes oder des Standes, zu dem er gehören möchte und strebt insgesamt nach Stabilisierung und Konsilidierung. Ein Konflikt verschiedener Bewertungsparadigmen, die dem Rezipienten eine eindeutige Bewertung von Figuren erschweren würden, ist folglich nicht zu erwarten. Welchen Wertehorizont die Hystoria dabei primär anspricht, kann erst die Textanalyse zeigen. Allein der Willehalm Wolframs von Eschenbach weist nun ein paralleles Aktivieren der verschiedenen maßgeblichen Normen- und Wertehorizonte seiner Zeit auf. Daraus ergeben sich immer dann Probleme, wenn bestimmte Informationen zu Figuren vor diesen verschiedenen Wertehorizonten unterschiedlich zu beurteilen sind. Jedoch stimmen heroisches, höfisches und christliches Werteparadigma in weiten Teilen überein, wodurch sich entsprechend viele Strukturen problemlos klassifizieren lassen. Die in der folgenden Tabelle aufgelisteten Werte sind so in jedem Fall, unabhängig von Gattung und privilegiertem Wertehintergrund prinzipiell
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Cramer 2000: 69. Cramer hebt diesbezüglich hervor, dass wohl auch deshalb die französischen Erzählmuster der chansons de geste bessere Möglichkeiten für Aktualisierung und Identifikation bieten als beispielsweise die arthurischen Romane: „[B]ei ihnen steht im Mittelpunkt die starke, agierende Herrschergestalt, die Herrschaft durch Abkunft begründet oder sie verteidigt gegen die Rebellion der Vasallen. Hier konnte man die aktuellen Konflikte zwischen Landadel und Territorialherren unmittelbar abgebildet und literarisch zugunsten des Zentralherrschers bewältigt finden. Die Identifizierbarkeit der Figuren und des Handlungsraums verleihen der Erzählung den Charakter historischer Beglaubigung“ (Cramer 2000: 70). Cramer 2000: 58.
1. Empathie, Mitleid, Sympathie
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als sympathiestiftend bzw. sympathiehemmend aufzufassen, sofern keine Indizien für Neubewertungen vorliegen. Die untenstehenden Beispiele sollen dabei keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sondern vielmehr einen Eindruck tendenziell wertschätzungsfördernder Kategorien geben:60 Beispiele für tendenziell positiv bewertete Kategorien
Beispiele für tendenziell negativ bewertete Kategorien
Gottglaube, Gottvertrauen, Ansehen, Ehre, Ruhm, Fleiß, Tugend, Treue, Freigebigkeit, Stetigkeit, Reinheit, Schamhaftigkeit, Großzügigkeit, Geduld, Tapferkeit, Mut, Kühnheit, Klugheit, Schönheit, Freude, Glück, Hoffnung
Stolz, Hochmut, Gotteslästerung, Begierde, Ehrlosigkeit, Faulheit, Treulosigkeit, Ungehorsam, Wankelmütigkeit, Schamlosigkeit, Geiz, Ungeduld, Feigheit, Angst, Hässlichkeit, Spott, Heimtücke, Verrat, Unrecht, böse Tat
Widersprüche entstehen vor allem zwischen dem höfischen und dem heroischen Wertesystem: Das höfische Ideal fordert so zum Beispiel Affektkontrolle und Mäßigung (mâze des Helden) und in Verknüpfung mit christlichen Werten entsprechend auch Barmherzigkeit, Milde und Nachsicht.61 Dagegen setzen heldenepische Texte primär auf archaische Werte, vertrauen ganz auf die Kühnheit und Kraft (fortitudo) ihrer Helden und fordern in kriegerisch-christlichem Verständnis auch die bedingungslose
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In Anlehnung an Ehrismann 1995: 13, Rohr 1978: 20, Zumthor 1972: 553f und den ‚Tugendblumen‘ aus dem Jüngeren Titurel (Strophe 1911ff), wo sich 12 tragende Werte aufgelistet finden: Tapferkeit (belde), Reinheit (kiusche), Freigebigkeit (milte), Aufrichtigkeit (triuwe), Mäßigung (maz), Fürsorge (sorge), Schamhaftigkeit (schâm), Klugheit (bescheiden), Beständigkeit (staete), Demut (diemüete), Geduld (gedulde), Liebe (minne). Die im Mittelalter verbreiteten Tugend- und Lasterkataloge lassen wiederum primär Rückschlüsse auf die religiöse Bewertung zu. „Obwohl es hinsichtlich der Reihenfolge der Sünden und dem ihnen zugeschriebenen Gewicht häufig zu Innovationen kam, und bisweilen auch hinsichtlich ihrer Zahl, so bleibt der Inhalt der Hauptsünden dieser Gattung 700 Jahre lang erstaunlich stabil“ (LeMA 8, 1086, Artikel: Tugend- und Lasterkataloge). „Das offene Ausleben der Affekte gilt als Regelverstoß, als Statusgefährdung oder Statuspreisgabe, die den Herren mit dem gebûr oder villain auf eine Stuffe stellen würde“ (Wenzel 2000: 318). „Die Kontrolle soll über die ratio erfolgen, über die Einsicht in die moralische Richtigkeit und Schönheit dieser Regeln, mit denen sich der Adel absetzt von dem gebûr oder villain“ (Wenzel 2000: 320). Althoff verweist dabei auf die christliche Herrscherethik, die die Könige nicht zuletzt „zur Beherrschung ihrer Emotion aufforderte. Wirksam war dieses Gedankengut auch bei der Ausformung der Laienethik, sei es beim Ritterideal oder bei den Idealen der curialitas, der höfischen Lebensform. Nicht anders verhielt es sich bei den Normvorstellungen über die vorbildliche Lebensführung von Klerikern und Mönchen. Auch sie verboten emotionalen Überschwang, sei es in Form von Freude und Lachen, sei es als Zorn oder Wut“ (Althoff 1997: 263).
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II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen
Auseinandersetzung mit Andersgläubigen.62 Aus diesem grundsätzlichen Unterschied von Mäßigung und Kraftakt, Erbarmen und Erbamungslosigkeit entstehen geteilte Ansichten über all diejenigen Verhaltensweisen, in denen Figuren an sich berechtigte und verständliche elementare Gefühle ohne Filter ausleben, wie es in Momenten des Zorns, der Rache oder der Verzweiflung der Fall ist. Im Heldenepos ist das Ausleben dieser Emotionen anderen Figuren gegenüber Ausdruck der eigenen Kühnheit und Kraft, im höfischen Roman hingegen steht Maßlosigkeit und ungedämpftes Verhalten für Schwäche und Sünde.63 Über diese Gattungsspezifika hinaus müssen für das mittelalterliche Denken zwei Ausformungen von solchen Momenten der Unbeherrschtheit unterschieden werden. Althoff betont für den Zorn, die ira: „Als unkontrollierte Emotion, als ein Außersichsein, war sie sündhaft und wurde in den Lasterkatalogen [...] und Bußbüchern zu den schweren Sünden gezählt. Als Empörung über die Sünder und ihre bösen Taten war sie gerecht, ja heilig. Altes und neues Testament bieten genügend Belege für diesbezügl[ichen] Z[orn] Christi und Gottes. Die chr[istliche] Hagiographie attestierte den Heiligen gerechten und heiligen Z[orn] gegenüber den Bösen.“64
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„Es erweist sich immer wieder als eine vitale Notwendigkeit, ein Maximum von Körperund Triebkräften abrufbar zu haben. Das soziale Erfordernis einer extremen Mobilisierbarkeit körperlicher und affektiver Ressourcen korrespondiert zugleich mit einer inneren Repräsentanz, einem Idealbild von Männlichkeit, das uns auch außerhalb des europäischen Mittelalters in Kriegerkulturen begegnet, wo Aggressivität […] einen Kern männlicher Identität bilden“ (Wenzel 2000: 315f). Vgl. dazu die neue Arbeit von Gephart 2005, die für Hartmanns von Aue Erec überzeugend darlegt, wie der höfische Held für den Überschwang an Emotionen und Affekten bestraft wird und diese somit auf dem Weg zum idealen Helden überwinden muss: „Affektkontrolle als Selbstkontrolle gehört offenbar zum gesicherten, aber gleichwohl bemerkenswerten Verhaltensrepertoire des Artusritters“ (Gephart 2005: 19). Zum Zorn als positive Qualität des heroischen Kriegers vgl. Rosenwein 1998 und Ridder 2003: 221-248. Artikel ‚Zorn‘ von Althoff in LexMA 9, 675. In den vorwiegend lateinischen Tugendenund Lasterkatalogen stehen den drei göttlichen Tugenden Macht, Weisheit und Liebe dabei die Hauptsünden gegenüber, unter denen immer auch der Zorn (ira) genannt wird: So definiert bereits Gregor der Große in seinem Moralia in Job, das häufig als Grundlage genutzt wird, den Stolz (superbia) als Wurzelsünde, die zu inanis gloria, invidia, ira, tristitia, avaritia, gula und luxuria führt (vgl. LexMA 8, 1086, Artikel: Tugend- und Lasterkataloge). Auch bei Thomas von Aquin (vgl. Summa theologiae III, q.15, a.9 (Leonina 11): ergo in Christo non fuit ira per vitium, nec ira per zelum) hängt die moralische Qualifikation des Zorns davon ab, ob und inwieweit sich die verlangte Vergeltung durch die Vernunft rechtfertigen lässt oder nicht. Heroischen Zorn wollen wir in Anlehnung an Ridder definieren als geprägt von unreflektiertem Ausagieren von Zorn im Kampf, wobei dieser Zorn nicht zuletzt eine Garantie für Angstfreiheit darstellt: „Die Kehrseite des Zorns ist die Angst, die jedoch als Befindlichkeit des Heroen nicht akzeptiert ist. […] Die Verdrängung der Furcht und das Ausagieren von Zorn im Kampf sind zentrale Elemente des heroischen Kriegerideals. Im Nibelungenlied ist Siegfried ein Mann ohne Angst – aber eben auch ohne Reflexion“. Der Zorn des Heroen „ist Ausdruck der unbedingten und nicht-reflektierten Notwendigkeit zu gnadenlosem Kampf“ (Ridder 2003: 211f).
1. Empathie, Mitleid, Sympathie
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Für uns stellt sich in solchen Fällen das Problem, dass wir die Urteile eines mit den gegensätzlichen Denkweisen vertrauten Rezipienten nicht mehr rekonstruieren können. Gerade in Bezug auf Wolframs Willehalm gilt es deshalb im Kontext jedes Figurenverhaltens, welches eine eindeutige Bewertung zunächst unmöglich erscheinen lässt, nach vom Text gesendeten Signalen zu forschen, die auf die Aktivierung eines bestimmten Bewertungshorizontes hinweisen. Dabei wird dieses für uns zunächst umstrittene Figurenverhalten über den Gesamttext im Auge behalten werden und eine Endauswertung muss dann zeigen, inwieweit eine einheitliche Bewertung gefördert wird oder inwieweit gar das Nebeneinander von Bewertungshorizonten weiter wirkt. Abschließend zum entscheidenden Faktor der Wertschätzung soll – vor dem Hintergrund der thematisch vorgegebenen Auseinandersetzung zwischen Christen und Heiden in den drei Texten – auf die Bedeutung von Gruppendenken für jedes Sympathieurteil hingewiesen werden.65 Akteure im sozialen Raum entwickeln häufig eine in der Regel unreflektierte Abneigung gegenüber jenen Gruppen mit andersartiger Struktur, mit denen sie um superiore Positionen im sozialen Raum konkurrieren oder über die sie sich erhaben dünken. Während innerhalb der Eigengruppe Solidarität dominiert, herrscht in Bezug auf die Fremdgruppe aggressives Verhalten. Fremdheit verhindert Identifikation und kann als eindeutiger Sympathiehemmer gelten. Die Gruppenzugehörigkeit wird bestimmt durch gemeinsame Normen, beruhend auf gemeinsamen Wertvorstellungen, die ein Wir-Gefühl und eine gemeinsame Identität geben. „Fremd ist auch, was einem Anderen gehört, einen Anderen und nicht die eigene Person oder den eigenen Besitz betrifft. Fremd ist aber auch das, was unbekannt, nicht vertraut, ungewohnt, anders geartet ist; es ist manchmal auch das, was nicht in die eigenen Vorstellungen passt. So ist es der Außenseiter als marginalisierte Person, der ebenso fremd erscheint wie der Ausländer oder Ortsfremde.“66 Da innerhalb des mittelalterlichen Weltbildes die Religion ein wichtiges Wertgefüge darstellt (wie es die Konfrontation von Muslimen und Christen in den drei ausgewählten Texten zeigt), muss bereits die religiöse Gruppenzugehörigkeit allein als Sympathie-
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Beispielsweise haben Soziobiologen behauptet, die Entwicklung sowohl prosozialer als auch antisozialer Verhaltensweisen „sei in der Evolution der Arten (Species) verankert. Da die Disposition zu aggressivem Verhalten als eine Strategie des Wettbewerbs entwickelt wurde, führten die hohen Kosten, die für einzelne Angehörige einer Gruppe damit verbunden waren, dazu, dass Aggression auf die Ausübung gegenüber Nicht-Mitgliedern der Gruppe begrenzt wurde. Die evolutionären Strategien, die innerhalb der Gruppe den meisten Gewinn hinsichtlich der biologischen Anpassung brachten, waren Kooperation, Teilen der Ressourcen, Arbeitsteilung und Pflege des Nachwuchses“ (hierzu generell Zimbardo 1995: 434). Haufe 2005: 142.
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II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen
hemmer gegenüber den heidnischen Figuren betrachtet werden: „Si le principe d’identification est puissant – et il l’est – , la lutte contre les nonchrétiens est inévitable.“67 Zu diesem religiösen Unterschied kommen die kulturellen Unterschiede zwischen Orient und Okzident, die ebenfalls als fremd empfunden wurden. Die einzige Möglichkeit für die Figuren der Fremdgruppe, diese ungünstige Ausgangsposition zu überwinden und vielleicht doch Rezipientenempathie, -mitleid und -sympathie zu erlangen, besteht darin, aus der homogenen Gruppe (für die Ablehnung bekanntermaßen leicht ist) individuell und menschlich herauszutreten (z.B. durch Innensichten, positive Eigenschaften etc.), so dass dem Rezipienten strikte Ablehnung deutlich schwerer fällt.68
2. Entwicklung eines Analysemodells Auf der Basis dieser Begriffsdefinitionen von Empathie, Mitleid und Sympathie soll nun ein Analysemodell entwickelt werden, welches es ermöglicht, narrative Texte daraufhin zu überprüfen, inwieweit sie empathie-, mitleid- und/oder sympathiefördernde Signale an den Rezipienten senden. Diese empathielenkenden Signale eines narrativen Textes müssen sich – falls es sie überhaupt gibt und davon gehen wir aus – zwingenderweise auf narrative Strukturen zurückführen lassen. Um den Text unter diesem Blickwinkel möglichst umfassend zu beleuchten, überprüfe ich im Folgenden die gängigen narratologischen Kategorien auf ihr jeweiliges empathielenkendes Potential und erstelle daraus ein narratologischrezeptionsästhetisches Modell zur Untersuchung des Phänomens der Empathielenkung. Auf diese Weise können textimmanente Strukturen, die sich durch ein hohes Einflusspotential auf die Rezipientenempathien auszeichnen, das heißt die sich zur Förderung von Empathie, Mitleid und Sympathie anbieten, aufgedeckt und daraufhin auch auf ihre inhaltliche Konkretisierung befragt werden.
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Suard 1994a:50. Entsprechend unterscheidet Simmel zwei Grundformen des Fremdseins: „Der Fremde ist uns nah, insofern wir Gleichheiten nationaler oder sozialer, berufsmäßiger oder allgemein menschlicher Art zwischen ihm und uns fühlen; er ist uns fern, insofern diese Gleichheiten über ihn und uns hinausreichen und uns beide nur verbinden, weil sie überhaupt sehr Viele verbinden. […] Andererseits gibt es eine Art von Fremdheit, bei der gerade die Gemeinsamkeit auf dem Boden eines Allgemeineren, die Parteien Umfassenden, ausgeschlossen ist: […] all die Fälle, in denen dem Andern gerade die generellen Eigenschaften, die man als eigentlich und bloß menschlich empfindet, abgesprochen werden. Allein hier hat ‚der Fremde‘ keinen positiven Sinn, die Beziehung zu ihm ist Nicht-Beziehung, er ist nicht das, als was er hier in Frage steht: ein Glied der Gruppe selbst“ (Simmel 1968: 511f).
2. Entwicklung eines Analysemodells
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Hauptansatzpunkte bilden dabei die klassisch gewordenen Theorien Franz K. Stanzels und Gérard Genettes, die detaillierte Textanalysen möglich machen. Aber auch Modifikationen ihrer Theorien, wie sie z.B. in den Untersuchungen Mieke Bals und Monika Fluderniks greifbar werden, finden Berücksichtigung. Darüber hinaus verdanken wir Ansgar Nünning die wertvolle Übertragung der dramentheoretisch ausgerichteten Figurenperspektiven-Theorie Manfred Pfisters auf Erzähltexte, die bereits in Ansätzen nach empathie- bzw. sympathielenkenden Strukturen von Erzähltexten fragt.69 Schließlich stellt Gert Hübners Arbeit zur Fokalisierung im höfischen Roman einen weiteren Hauptansatzpunkt dar, denn in dieser rezenten Studie erschließt er das Phänomen der Fokalisierung, das maßgebliche empathielenkende Darstellungstechniken umfasst, für mittelalterliche Texte.70 Wenn es darum geht, zugunsten einer Figur zu argumentieren, wie es vor allem beim Fördern von Sympathie der Fall ist, bietet die klassische Rhetorik, wie bereits im ersten Kapitel erläutert wurde, ergänzende Kategorien. Diese Untersuchungskriterien werden in das narratologische Analysemodell integriert werden, worauf jeweils gesondert hingewiesen wird.71
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Nünning legt u.a. großen Wert darauf, nicht nur die bloße story, sondern vor allem die vermittelte Perspektivenstruktur eines Textes als Gegenstand des Erzählens zu berücksichtigen (vgl. Nünning 1989). Vgl. Hübner 2003. Auch Christopher Young verwendet den Terminus der ‚Fokalisierung‘ in Bezug auf mittelhochdeutsche Texte, jedoch sieht sich das Konzept erst seit Hübner auch theoretisch für mittelhochdeutsche Texte definiert (vgl. Young 1995). Um im Rahmen des vorliegenden, integrativ und kombinatorisch vorgehenden Ansatzes Ungenauigkeiten und Verwechslungen zu vermeiden, greife ich weitestgehend auf die originalsprachlichen Termini der einzelnen Ansätze zurück. Auf inhaltliche Entsprechungen bzw. Ähnlichkeiten zu anderen narratologischen Ansätzen wird in Fußnoten ausführlich verwiesen.
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II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen
2.1 Empathielenkung und Fokalisierung72 Das oben erwähnte Phänomen der Fokalisierung verdient bereits im Vorfeld eine ausführlichere Darstellung, da die einzelnen Fokalisierungstechniken im Analysemodell selbst nur noch getrennt voneinander und in ihrer ganz spezifischen empathielenkenden Funktion beleuchtet werden. Als focalisation bezeichnet Genette diejenigen Aspekte narrativer Texte, die die perspektivische Brechung der erzählten Welt insofern konstituieren, als sie dem Rezipienten den Eindruck eines Zurücktretens der Erzählerperspektive zugunsten einer Figurenperspektive vermitteln. Damit schafft Genette die Vermischung zweier Kriterien, nämlich der voix (qui parle?) und des mode (qui voit?), ab und versucht zu beschreiben, aus wessen Perspektive die erzählte Welt gesehen wird. Von den drei Formen der Fokalisierung – focalisation zéro, focalisation interne und focalisation externe73 – fungiert vor allem die focalisation interne als Empathielenkungsstrategie: Hier verlagert sich die Erzählperspektive gleichsam in die Figur, die Erzählerstimme beschreibt die Welt durch ihre Augen. Zum einen ist damit der Wissensstand der Erzählerstimme an diese Figur gebunden, zum anderen geht mit dieser perspektivischen Bindung an die Figur aber auch das Gewähren von Einblicken in das Innenleben der Figur einher (Genette spricht von pensées und sentiments, also Gedanken und Gefühlen, die offen-
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Für die vorliegende Untersuchung soll auf Genettes Terminus der ‚Fokalisierung‘ zurückgegriffen werden (im Gegensatz zu den parallel verwendeten Begriffen des point of view und der ‚Perspektive‘, die das gleiche Phänomen beschreiben), weil er erstmalig den Anspruch erhebt, für alle narrativen Texte geeignet zu sein und sein Verständnis sich entsprechend auch für eine Anwendung auf mittelalterliche Texte anbietet. Eine ausführliche Forschungsgeschichte zu den Begriffen point of view, ‚Perspektive‘, ‚Fokalisierung‘ findet sich bei Hübner 2003: 10-76. Für den point of view-Begriff prägend sind v.a. James (James 1934), Lubbock (Lubbock 1921) und Booth (Booth 1961). Brooks und Warren (Brooks und Warren 1943) entwickeln den Begriff des focus of narration, auf den Genette konzeptuell aufbaut: „Pour éviter ce que les termes de vision, de champ et de point de vue ont de trop spécifiquement visuel, je reprendrai ici le terme un peu plus abstrait de focalisation, qui répond d’ailleurs à l’expression de Brooks et Warren: ‚focus of narration‘“ (Genette 1972: 206). Für die deutsche Erzähltheorie stehen Friedemann, die vom ‚Blickpunkt des Erzählens‘ spricht (Friedemann 1910), sowie Spranger (Spranger 1930) und Stanzel (Stanzel 1955), die beide den Begriff ‚Perspektive‘ wählen. So hängt nach Stanzel die „Art und Weise dieser Wahrnehmung […] wesentlich davon ab, ob sich der Standpunkt, von dem aus das Erzählte präsentiert wird, innerhalb der Geschichte befindet, d.h. in der Hauptfigur oder im Zentrum des Geschehens, oder außerhalb des Geschehens liegt, in einem Erzähler, der nicht selbst Träger der Handlung ist, sondern als Zeitgenosse der Hauptfigur und des Geschehens, als Beobachter oder unbeteiligter Chronist die Geschichte berichtet“ (Stanzel 2001: 72). Die Definitionen der einzelnen Fokalisierungen gibt Genette in Figures III: focalisation interne : „le narrateur ne dit que ce que sait tel personnage“ focalisation externe: „le narrateur en dit moins que n’en sait le personnage“ focalisation zéro : „le narrateur en sait plus que le personnage, ou plus précisément en dit plus qu’en sait aucun des personnages“ (Genette 1972: 206f).
2. Entwicklung eines Analysemodells
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gelegt werden74). Beide Merkmale dieser Fokalisierung, Verschmelzung des Wissensstandes und Informationen über Innenleben, führen dazu, dass sich der mitverfolgende Blick des Rezipienten in die fokalisierende Figur hineinverlagert und er die Welt mit ihren Augen sieht.75 Neben der Vermittlung von Innensichten, die bereits im Rahmen der Begriffsdefinition von Empathie als deren elementare Bedingung beschrieben worden sind, müssen wir als ästhetisches Mittel von Empathieförderung die Anpassung des Wissensstandes des Rezipienten an den einer Figur einführen. Soweit der Zusammenhang von Empathie und Fokalisierung in der Forschung diskutiert wird, wird eine empathielenkende Wirkung von Fokalisierung angenommen und auch das hier entwickelte Analysemodell stützt sich auf diese Annahme.76 Hübner nennt – grundsätzlich auf Genette aufbauend – zwei Techniken mit starkem Fokalisierungseffekt: Die Bewusstseinsdarstellung und
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Genette 1972: 207. Denn wenn die Erzählstimme ihren Wissensstand an den der Figur anpasst (vgl. die Begriffsdefinition der focalisation interne in der vorausgehenden Fußnote), verschmilzt der Horizont von Figur und Rezipient. Damit folge ich in gewisser Weise Bal, die Genettes Fokalisierungstheorie weiterentwickelt und die nur noch zwischen internal focalization (Figuren der erzählten Welt fungieren als Fokalisierungsinstanzen; sie sind eingebettet in den übergeordneten Erzähl- und Fokalisierungsprozess) und external focalization (personale Identität zwischen der übergeordneten Erzählinstanz und dem fokalisierenden Subjekt; Personalunion von Erzähl- und Fokalisierungsinstanz) unterscheidet (vgl. Bal 1985). Für die moderne Literaturwissenschaft stellt Stanzel fest, dass focalisation den Prozess der Empathiesteuerung insofern massiv berührt, als sie „die Steuerung des Apperzeptionsvorganges, den der Leser zu vollziehen hat, um zu einem konkreten Vorstellungsbild der dargestellten Wirklichkeit zu gelangen“ erfasst (Stanzel 2001: 149). Wie oben bereits erwähnt, ist bei Stanzel die genettsche focalisation mit seinem Begriff der ‚Perspektive‘ gleichzusetzen. Von den drei Arten der focalisation, die Genette unterscheidet, entspricht focalisation interne der stanzelschen Innenperspektive, die beiden anderen Arten der focalisation (zéro und externe) decken sich mit der stanzelschen Außenperspektive (vgl. Stanzel 2001: 153). Hübner geht stärker auf die empathie- und auch sympathieauslösende (nicht nur lenkende) Funktion der Fokalisierung ein, wobei er auf die von ihm erarbeiteten Spezifika mittelalterlicher Fokalisierung hinweist: „Insbesondere scheint sie mir wesentlich direkter auf die moralischen Urteile zu zielen, die die Erzählung ihrem Rezipienten nahelegt, oder vor denen sie ihn bewahren will. […] Sie ist zum einen diejenige Erzählform, die am zuverlässigsten die Rezeptionshaltung sympathetischer Identifikation modelliert; deshalb wird sie in dem Maß nötig, in dem die Heldinnen und Helden, auf deren Seite die Erzählung ihre Modellrezipienten stellt, problematisch werden. Zum anderen ist sie diejenige Erzählform, die, indem sie das Welterleben der Figuren zum Gegenstand macht, in der Relation zwischen Erzählerstimme, dargestelltem Figurenbewusstsein und erzählter Welt Subjektivität ästhetisch erfahrbar macht“ (Hübner 2003: 407). Hübners Verdienst liegt nicht zuletzt darin, zu verdeutlichen, dass die in mittelalterlichen Texten so oft hervortretende und ausführlich kommentierende Erzählerfigur Fokalisierungseffekten nicht entgegensteht: „Fokalisierungseffekte stellen sich auch ein, wenn die ‚Stimme‘ präsent bleibt und nicht alle Fokalisierungstechniken gemeinsam, in moderner Konsequenz und über den Gesamttext hinweg eingesetzt sind“ (Hübner 2003: 75).
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II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen
die Informationsselektion.77 Dabei kann sich die Bewusstseinsdarstellung in Form von 1) Psychonarration, 2) Soliloquium und 3) erlebter Rede manifestieren. Die Informationsselektion wird durch die Anwendung von Zeit-, Raum- und Innensichtfiltern verwirklicht.78 Diese Fokalisierungstechniken sind aufgrund ihrer starken empathielenkenden Funktion weitgehend in das Analysemodell integriert, wenngleich sie, da sie zwar zur Empathielenkung beitragen, diese aber nicht allein herbeiführen, in die logische Abfolge der Analyseschritte integriert und nicht gesondert besprochen werden sollen. Auf die fokalisierende Funktion der jeweiligen Techniken wird dann gesondert verwiesen werden. Insgesamt bleibt darauf zu achten, welche Figuren und Figurengruppen als Fokalisierungsinstanzen erscheinen bzw. inwiefern wechselnde Fokalisierungsinstanzen nachzuweisen sind.79 Das Konzept der Empathielenkung kann dabei in gewisser Weise als Weiterführung von Fokalisierung betrachtet werden: Die Kategorie der Fokalisierung wird, wie Genette sie geprägt hat, rein textimmanent verwendet. Entsprechend steht die Frage nach der Wirkung von Fokalisierung auf den Rezipienten nicht explizit im Raum. Und dennoch öffnet Genette hier bereits den Blick für die Wirkung narrativer Strukturen auf den Rezipienten, denn Fokalisierung impliziert immer schon die Tatsache, dass der Rezipient die erzählte Welt mit den Augen einer der Figuren wahrnimmt.
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Vgl. Hübner 2003: 46ff. Gerade der Terminus der ‚Informationsselektion‘ ist nicht unbedingt selbsterklärend. Man kann nach Hübner von Filtertechnik sprechen, wenn „die Erzählung ihre Informationspolitik dem Wissensstand einer Figur anpasst“ (Hübner 2003: 57). Damit zwingt der Erzähler den Rezipienten ein Verhältnis zur erzählten Welt auf, das dem der Figur entspricht. Maximale Filterung, die mit einer synthetischen Bewusstseinsdarstellung zusammenfallen würde, lässt sich im Heldenepos nicht nachweisen. Von sympathielenkender Relevanz kann dagegen die relative Filterung sein, durch die der Erzähler bewusst relevante Informationen verschweigt, die vielleicht die Sympathie des Rezipienten in eine andere Richtung lenken würden als in die der favorisierten Figur. Hübner nennt als Beispiel für eine solche relevante Informationsselektion im höfischen Roman die Brunnen-aventiure in Hartmanns Iwein: „Beispielsweise ist die Brunnen-aventiure im Iwein in Relation zum Wissensstand des Protagonisten gefiltert, weshalb der Modellrezipient sie wie dieser als ritterliches Streben nach Ehre positiv bewertet; für die Beurteilung des Vorgangs sind indes, wie man erst später (und wieder zusammen mit dem Protagonisten) erfährt, die Verhältnisse im Laudine-Reich und der Status Askalons, der sein Land gegen einen Aggressor verteidigt, ebenfalls relevant“ (Hübner 2003: 57). Hübner verwendet den Begriff ‚Filtertechnik‘ in Anlehnung an Chatmans Terminus ‚filter‘ (vgl. Chatman 1986). Je nachdem ob sich die Fokalisierungstechnik im Laufe der Erzählung verändert oder stets bei einer Person verbleibt, unterscheidet Genette zwischen focalisation fixe („où nous ne quittons jamais le point de vue de la petite fille“), focalisation variable („où le personnage focal est d’abord Charles, puis Emma, puis de nouveau Charles“) und focalisation multiple („comme dans les romans par lettres, où le même événement peut être évoqué plusieurs fois selon le point de vue de plusieurs personnages-épistoliers“) (Genette 1972: 206).
2. Entwicklung eines Analysemodells
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2.2 Empathielenkungsebenen des narrativen Textes Zum rationalen Verständnis eines Plots sind für den Rezipienten lediglich ein im Vergleich zur realen Zeit stark raffender Bericht der nacheinander ablaufenden Handlungselemente und die reine Nennung der verwickelten Personen notwendig. Poetische Texte bleiben aus den verschiedensten Gründen jedoch nicht bei diesem Berichtskelett, sondern sehen ihre eigentliche Aufgabe in der darüber hinausgehenden Gestaltung, d.h. in der nicht berichtenden, sondern erzählerischen Vermittlung des Geschehens. Empathielenkende Strukturen sind als Teil der erzählerischen Vermittlung auf allen Ebenen dieses komplexen Phänomens zu vermuten. Zur besseren Strukturierung sollen deshalb drei Textebenen, auf denen empathielenkend eingegriffen werden kann, unterschieden werden. In Anlehnung an, aber auch in Abgrenzung von Ansgar Nünning, der sich ausführlich mit der Perspektivenstruktur von narrativen Texten beschäftigt, unterscheiden wir die Empathielenkungsebenen eins bis drei: die Ebene des epischen Berichts (unpersönliche Erzählinstanz, E1), die Ebene der persönlichen Erzählinstanz (E2) und die Ebene der Figurenreden (E3). 80 Diese Aufteilung lässt sich folgendermaßen begründen: Das Erzählmedium tritt dem Rezipienten in zwei deutlich zu unterscheidenden Formen gegenüber. Einmal gibt ein als Person nicht näher greifbarer Erzähler den Handlungsverlauf wieder. Die Funktion dieser Passagen liegt darin, dem Rezipienten Handlung und Figuren zu beschreiben, wobei er sich im Idealfall allen Ereignissen und Figuren des Handlungsgerüsts gleichberechtigt widmet. Aufgrund dieses Zurücktretens, ja fast des Verschwindens der Erzählerpersönlichkeit hinter die Handlungsvermittlung, aufgrund dieser fehlenden Greifbarkeit, sollen diese Passagen hier unter der Rubrik 'epischer Bericht' firmieren. Zum anderen tritt gerade der mittelalterliche Erzähler gerne und häufig als expliziter persönlicher Sprecher hervor, der sich auf einer Metaebene zur Handlungswiedergabe des unpersönlichen Erzählers äußert, diese kommentiert und sich explizit an den Rezipienten wendet. Passagen dieser Art werden als Ebene der persönlichen Erzählerfigur bezeichnet. Trotz
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Nünning beruft sich in seiner Einteilung des narrativen Textes in die Kommunikationsebenen N1, N2, N3 u.a. auf die Kommunikationstheorie nach Kahrmann (Kahrmann 1977: 41) und Ludwig (Ludwig 1982: 52). Alle drei Instanzen – persönlicher Erzähler, unpersönlicher Erzähler, Figuren – sind Instanzen der erzählerischen Vermittlung (wenn man davon ausgeht, dass uns die gesamte fiktive Welt vom Erzähler vermittelt wird, auch die Figurenreden).
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II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen
aller Unterschiede bilden die Ebenen E1 und E2 durch den Erzählerbezug eine Einheit.81 Die dritte Ebene ist die der Figurenreden. Natürlich sind auch diese in gewisser Weise vom Erzähler vermittelt, sollen aber aufgrund ihres direkten Hervortretens, das dem Rezipienten die Illusion einer Unvermitteltheit gibt, gesondert betrachtet werden.82 Vor diesem Hintergrund lassen sich die narratologischen Rahmenbedingungen der meisten mittelalterlichen chansons de geste, Epen und Romane folgendermaßen beschreiben: In einen auktorialen Gesamttext (unpersönliche ER-Erzählsituation = E1) sind sowohl Passagen eines persönlich hervortretenden Erzählers (ICH-Perspektive, z.B. Prolog, Epilog, Kom-
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Die Unterscheidung zwischen persönlichem und unpersönlichem Erzähler greift die Problematik auf, ob ein Erzähler als eigenständige Persönlichkeit vor dem Leser erscheint oder soweit hinter das Erzählte zurücktritt, dass er für den Leser praktisch unsichtbar wird (vgl. Stanzel 2001: 70ff). Entsprechend kann auch die Unterscheidung von Chatman zwischen covert und overt narrator, je nach der Greifbarkeit als Figur, aufgefasst werden (vgl. Chatman 1978: 196). Je höher die Explizität auf einer Skala von covert zu overt narrator ist, desto mehr Möglichkeiten zu direktem lenkendem Kontakt mit dem Publikum existieren. Genette unterscheidet diese beiden Ebenen zwar nicht explizit, doch lässt sich die vorgenommene Trennung nach seinen Ausführungen zur voix in den fonctions du narrateur wiederfinden: Hier entspricht unsere erste Ebene des unpersönlichen Erzählers der Funktion, die Geschichte zu präsentieren, „la fonction proprement narrative, dont aucun narrateur ne peut se détourner sans perdre en même temps sa qualité de narrateur“ (Genette 1972: 261). In unserer zweiten Ebene sehen sich die restlichen genettschen Funktionen der Narrationsinstanz vereint, wobei vor allem letztere von besonderer Wichtigkeit scheint: die metanarrative Funktion, phatische Funktion, beglaubigende Funktion und die ideologische Funktion (vgl. Genette 1972: 261ff). Mit der ideologischen Funktion meint Genette deutende und wertende Kommentare: „Mais les interventions […] du narrateur à l’égard de l’histoire peuvent aussi prendre la forme plus didactique d’un commentaire autorisé de l’action: […] cette forme de discours explicatif et justificatif“ (Genette 1972: 262f). Wachinger 1960 und Fluss 1971 fassen beide Ebenen in einer Ebene des Erzählers zusammen. In Bezug auf die vollkommen unterschiedlichen Funktionen der unpersönlichen und der persönlichen Erzählerebene im Empathielenkungsprozess scheint eine Trennung der Ebenen jedoch sinnvoll. Aufgrund dieser Illusion der Unvermittelheit heben schon Platon und Aristoteles die Ebene der Figurenrede von der Ebene des Erzählers ab. Platon unterscheidet entsprechend zwischen der diegesis (Erzählerrede) und der mimesis (dargestellte Figurenrede), wobei der Begriff der mimesis diese scheinbar verstärkte Unmittelbarkeit ausdrückt (vgl. Platon, Politeia, 392c-394c; zur Übernahme dieser Unterscheidung im Mittelalter vgl. Minnis 1984: 57f). Aristoteles versteht Erzählerrede und Figurenrede als zwei Varianten der mimesis (vgl. Aristoteles, Poetik, Kap.3, 1448a). In der angelsächsischen Diskussion wird der Gegensatz von Bericht und szenischer Darstellung im Anschluss an Henry James und besonders an Percy Lubbocks Studie The Craft of Fiction (1921) in der Opposition telling contra showing beschrieben. Genette bespricht die Unterscheidung zwischen Figuren- und Erzählerrede in seinem Kapitel distance (innerhalb des Großkapitels mode): „le ‚récit pur’ sera tenu pour plus distant que l’imitation‘: il en dit moins, et de façon plus médiate“ (Genette 1972: 184). Stanzel kontrastiert „berichtende Erzählung“ und „szenische Darstellung“ (vgl. Stanzel 2001: 3).
2. Entwicklung eines Analysemodells
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mentare = E2) als auch direkt oder indirekt wiedergegebene Figurenreden (Figurenreden = E3) eingebettet. Alle Ebenen manifestieren sich in generell gut zuzuordnenden sprachlichen Äußerungen, sind somit in weiten Teilen klar abzugrenzen und gut untersuchbar. Auf dieser Basis soll nun ein Analysemodell vorgestellt werden, das sein Funktionieren freilich erst am Text vollständig unter Beweis stellen muss. Ziel ist dabei immer, für jede Textebene empathie-, mitleid-, und sympathiefördernde Strukturen weitestmöglich zu unterscheiden, so dass eine nuancierte Lenkungstendenz zur Einschätzung der verschiedenen Figuren und Figurengruppen möglich wird. Die Fragen nach Empathie, Mitleid und Sympathie erfordern ihren Bedeutungskonstituenten entsprechend spezifische Untersuchungskategorien. Die Begriffsklärung von Empathie (die wiederum Grundbedingung für Mitleid und Sympathie ist) machte im Vorfeld deutlich, dass Empathie allein auf der Basis einer Kenntnis des Figurenbewusstseins entstehen kann. Eine entsprechend zentrale Stellung nehmen folglich diejenigen narrativen Techniken ein, die eine ,Innensicht‘ in das innere Erleben der Figur ermöglichen. Dafür stehen einerseits etablierte narratologische Kategorien, die sich durch Termini wie inside view, Innensichtdarstellung, Innenweltdarstellung und Bewusstseinsdarstellung fassen lassen.83 Diese beschreiben allerdings nur Innensichten im engeren Sinne eines direkten Ausdrucks des inneren Erlebens. Innensichten können darüber hinaus jedoch auch anhand indirekter Darstellung, wie z.B. von Mimik und Gestik erschlossen werden, weshalb eine Erweiterung der bestehenden Kategorien um diese indirekten Vermittlungsstrategien notwendig wird. Der konkrete Inhalt dieser innensichtdarstellenden Strukturen ist dabei noch irrelevant, denn schließlich entsteht Einfühlung unabhängig von der Art der Gefühle etc. des Gegenübers (vgl. Abschnitt II, 1). Für die Frage nach
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Booth spricht für das Drama von inside view, wenn Innenschau in eine Person gewährt wird. Dies geschieht im Drama hauptsächlich durch Formen der Figurenrede (vgl. beispielsweise Booth 1983: 281). Innensichtdarstellungen werden bei Stanzel im Rahmen seiner Opposition Innenperspektive – Außenperspektive besprochen. Ausdrucksmöglichkeiten für Innensichtdarstellungen sind nach Stanzel aus der Außenperspektive Gedankenberichte des allwissenden Erzählers und aus der Innenperspektive innere Monologe, erlebte Rede und personale Erzählsituationen (vgl. Stanzel 2001: 172ff). Hübner spricht im Rahmen der Fokalisierungstechniken von „Innenweltdarstellungen“ bzw. synonym von „Bewusstseinsdarstellung“ (vgl. Hübner 2003). Hübner definiert den Begriff der Bewusstseinsdarstellung nach Cohn als diejenigen Passagen, die die „verborgenen Seiten der Figuren transparent machen – verborgen insofern, als sie für andere Figuren innerhalb der erzählten Welt nicht unmittelbar zugänglich sind“ (Hübner 2003: 46, nach Cohn 1978: 5: „revealing the hidden sides of human being“ und S. 7: „transparency of the human mind“). Diese müssen allein introspektiv zu erschließen sein bzw. sich aus „autokommunikativ“ eingesetzter Figurenrede ergeben (vgl. Hübner 2003: 46).
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II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen
empathiefördernden Strukturen genügt es also, die innensichtdarstellenden narrativen Techniken in ihrer quantitativen Distribution zu erfassen. Während die Förderung von Empathie damit rein narratologisch am Gewähren oder Verweigern von Innensichten ablesbar ist, ohne dass deren inhaltliche Konkretisierung wichtig wird, muss für die Entscheidung, inwieweit der Text Mitleid oder Sympathie privilegiert, die inhaltliche Füllung der narrativen Strukturen befragt werden: Die Entstehung von Mitleid verlangt dargestelltes Leid, die Entstehung von Sympathie verlangt Darstellung von Inhalten, die in Übereinstimmung mit dem mittelalterlichen Normen- und Wertehintergrund Wertschätzung für die Figur möglich machen. Während mitleidsfördernde Strukturen durch das Leid als spezielle Form der Innensicht narratologisch im Rahmen der empathiefördernden Kategorien abgedeckt sind, kann die positive Bewertung von Figuren durch zusätzliche – im weitesten Sinne evaluative – Techniken außerhalb von Innensichtdarstellung gefördert werden. Für die Entscheidung, ob durch implizite oder explizite Bewertungen tatsächlich Sympathie geweckt wird, müssen die entsprechenden Inhalte anhand der oben beschriebenen Rezeptionshorizonte des mittelalterlichen Rezipienten auf ihr positives Wirkpotential überprüft werden. 2.3 Ebene des epischen Berichts (E1) Mit E1 befinden wir uns auf der Ebene des epischen Berichts durch die Stimme des unpersönlichen allwissenden Erzählers. Im Rahmen der Handlungswiedergabe unterscheidet die Forschung seit Genette, je nachdem ob personale Identität zwischen der Erzählinstanz auf E1/E2 und einer Figur auf E3 vorliegt, zwischen homodiegetischem und heterodiegetischem Erzähler.84 In der mittelalterlichen Epik sowie in der chanson de geste begegnet uns zumeist (und auch in den ausgewählten Texten) ein auktorialer heterodiegetischer Erzähler, der – gerade im Vergleich zum Ich-Erzähler – ideale Bedingungen für einen hohen Grad empathielenkenden Eingreifens mit sich bringt. Denn er verfügt zum einen über die Möglichkeit, unbegrenzt „zuverlässige und glaubwürdige Informationen über das Innenleben der Hauptfigur und anderer Figuren zu vermitteln“ und erweckt zum anderen den Anschein von Objektivät, der ihm nicht zuletzt sympathielenkendes Eingreifen erleichtert.85
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Vgl. Genette 1972: 238ff (Abschnitt: niveaux narratifs). Schneider 1998: 161. Wenn der Erzäher von vornherein eine gottgleiche Position einnimmt und en détail das Seelenleben einer oder gleich mehrerer Figuren schildert, liegt „der Vorteil dieses Verfahrens […] in der uneingeschränkten Zugänglichkeit aller relevanten Informationen für Erzähler und Leser“ (Schneider 1998: 161). Gelfert unterscheidet vier Er-
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Empathie Auf der Ebene des epischen Berichts können wir von der Förderung grundständiger Empathie sprechen, sobald die Anwendung bestimmter narrativer Techniken dem Rezipienten ein Hineinversetzen in eine oder mehrere fiktionale Figuren ermöglicht. Hauptsächlich geschieht dies auf dieser Ebene über die vielfältigen Möglichkeiten der Präsentation von Innensichten, das heißt über Textsequenzen, die aus dem epischen Bericht heraus in irgendeiner Form das Bewusstsein der Figuren, ihr Fühlen und Denken, zugänglich machen. Darüber hinaus ist in diesem Rahmen der Text jedoch auch auf die Anwendung einer Fokalisierungstechnik zu überprüfen, die nicht auf die Vermittlung von Innensichten, sondern auf die Anpassung des Wissensstandes und damit auch auf eine Perspektivenübernahme – und so auf Empathie – abzielt: die Raumfiltertechnik. Die Raumfiltertechnik86 erreicht insofern eine Perspektivierung der fiktionalen Welt, als sie den fiktiven Raum und seine Geschehnisse an eine oder mehrere Figuren gebunden vermittelt. Halten wir uns den auktorialen Erzähler vor Augen, so wird sofort klar, dass es diesem nicht möglich ist, dem Rezipienten zu jeder Zeit das Schicksal aller Figuren, das heißt den gesamten fiktiven Raum, zu vermitteln (vor allem nicht in Texten mit doch beachtlicher Personenvielfalt). Dabei stellt sich nun die Frage, wie der Text mit seinem dem Rezipienten die Handlung vermittelnden Blick, der sich dank seiner Allwissenheit auf alle Figuren und Ereignisse richten könnte, tatsächlich umgeht. Die Anwendung eines Raumfilters bedeutet, dass der Text aus dem Figurenpersonal, das theoretisch für eine Bindung der ‚Erzählerkamera‘87 bereitstünde, nur einigen wenigen Figuren – oder gar nur einer – auch tatsächlich durch den Raum folgt. Dabei besteht „[d]er Zusammenhang zwischen Filterfunktion und Raumstruktur […] nicht in dieser Zentrierung auf eine Figur (‚focus on‘), sondern in der Re-
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zählsituationen, wobei die dritte dem Befund im Heldenepos entspricht: die berichtende Erzählung (auktorial-suprapersonal), die Ich-Erzählhaltung (auktorial-personal), die Erzähler-Erzählhaltung (auktorial-intrapersonal) und die erzählerlose Erzählhaltung (personal) (vgl. Gelfert 1993: 12). Der ‚Raumfilter‘ stellt eine fokalisierende Technik im Rahmen der sog. ‚Informationsfilter‘ (s.o., vgl. Hübner 2003: 57f). Inhaltliche Ähnlichkeiten bestehen zu dem von Bumke verwendeten Begriff der ‚Blicklenkung‘, wobei der ‚Raumfilter‘ noch stärker ist. Bumke versteht ‚Blicklenkung‘ zunächst als Technik des Erzählers, die seinen „Blick und damit auch die Aufmerksamkeit auf Einzelheiten, die ihm wichtig sind“ lenkt (Bumke 2004: 370). Dann widmet er sich allerdings hauptsächlich den Fällen, in denen konkrete Figuren Blicke auf Details werfen, denen der Rezipient folgt (vgl. Bumke 2004: 370f). Im Kontext der Blicklenkung prägt Kurt Ruh das Bild Wolframs von Eschenbach als „versierter Kameramann“ und nützt es vor allem zur Beschreibung der perspektivischen Schlachtendarstellung (vgl. Ruh 1980: 165).
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II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen
striktion der Figuren, die für die Zentrierung in Frage kommen.“88 Sobald sich folglich die Erzählerkamera allein mit einer oder wenigen Figuren durch den Raum bewegt (und die Räume, die andere Figuren umgeben, entsprechend vernachlässigt), können wir von einer perspektivischen erzählerischen Vermittlung, von Fokalisierung aufgrund von Anwendung eines Raumfilters sprechen. Der Rezipient erlebt damit den fiktionalen Raum durch die Augen der Figur. Und dieses Sehen durch die Augen der Figur fördert schließlich Empathie, da die Perspektiven von Figur und Rezipient gleichsam verschmelzen. Auf den ersten Blick scheint ein Raumfilter in chansons de geste und heldenepisch geprägten Texten weniger häufig aufzutreten als im höfischen Roman, steht in ihnen doch traditionell ein ganzer Sozialverband (die sippe) im Zentrum der Handlung, während im höfischen Roman Einzelhelden in den Vordergrund rücken. Gerade da aber innerhalb des breiten Figurenspektrums im Heldenepos eine gleichberechtigende Zentrierung auf alle Figuren nicht realisiert werden kann, wird der Text zwangsläufig bestimmte Figuren und Figurengruppen durch den selektierenden Raumfilter privilegieren. Dieses Privileg gilt es in Ausrichtung und Intensität aufzudecken. Dabei kann die Anwendung eines Raumfilters auf eine oder wenige Figuren des Textes immer als machtvolles Mittel der Empathieförderung betrachtet werden, da hier über meist längere Textpassagen eine Bindung des Rezipienten an die Figur erfolgt. Innensichtdarstellungen, die zweite große Technik zur Förderung von Empathie auf der Ebene des epischen Berichts, vermitteln nun dem Rezipienten die Bewusstseinsinhalte einer Figur, das heißt ihre Emotionen einerseits und ihre Motivationen andererseits, so dass ein Verstehen und Nachvollzug, dass Einfühlung möglich wird. Ob das auf diese Weise Kennengelernte geschätzt oder nicht geschätzt wird, ist dabei zunächst bedeutungslos und wird erst in der späteren Diskussion um Sympathie relevant. Innensichtdarstellungen werden dabei in den meisten mittelalterlichen Texten so ausgeprägt und nuanciert verwendet, dass dieser Strategie über den Gesamttext eine enorme Bedeutung zugesprochen werden kann. Da jede Innensicht es dem Rezipienten unabhängig von der konkreten inhaltlichen Gestaltung erleichtert, Empathie zu fühlen, kann hier bereits eine quantitativ-distributive Analyse über das Empathiepotential der einzelnen Figuren entscheiden. Eine inhaltliche Besprechung ist nicht notwendig und würde häufig auf die Diskussion um Mitleid- und Sympathieförderung vorausgreifen. Es steht vielmehr an, alle narrativen Strukturen, welche in irgendeiner Weise Innensichten vermitteln, in ihrer quantitativen Verteilung auf die verschiedenen Figuren und Figurengruppen zu erfassen
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und so zu erheben, für welche dieser Figuren und Figurengruppen Empathie gefördert wird. Denn die Distanz, die zunächst zwischen Rezipient und Figur herrscht, und die Boris Uspenskij als Graben der „psychologischen Distanzierung“ bezeichnet, wird durch jede Darstellung von Innensicht ein wenig weiter überbrückt.89 Dabei findet die quantitative Distribution ihre deutlichste Ausprägung in der Anwendung eines sog. ‚Innensichtfilters‘, der es nur bestimmten Figuren gestattet, ihre Emotionen auszudrücken. Zur Vermittlung von Innensichten bieten sich nun vor allem zwei narrative Techniken an: eine indirekte Innensichtvermittlung über die Darstellung bestimmter Körperzustände, Mimik und Gestik und eine direkte Innensichtvermittlung über Emotionsberichte. Als indirekte Formen der Emotionsvermittlung gelten die Darstellung von bestimmten Körperzuständen (wie z.B. Verletzungen) sowie Mimik und Gestik (wie z.B. Lachen, Weinen) deshalb, weil in entsprechenden Passagen die jeweilige Emotion nicht explizit genannt wird.90 Sie ist vom Rezipienten vielmehr über nach außen Sichtbares abzuleiten. Trotz der Unbestimmtheit und Unbenanntheit dieser Innensichten kann gerade für mittelalterliche Texte, die häufig mit sehr deutlichen Beschreibungen und ausdrucksstarken mimischen und gestischen Untermalungen arbeiten, von einer zumeist eindeutigen Decodierbarkeit der Emotionen durch den Rezipienten ausgegangen werden.91 Kurze Emotionsberichte gewähren wiederum dank der Allwissenheit des Erzählers einen Einblick in das Innere der Figuren. Als Emotionsberichte bezeichnen wir im Inhalt wenig komplexe, emotionale Zustände beschreibende Wendungen wie z.B. des gevelles was er vro (W79,14; Willehalms Freude über Arofels Sturz), die aufgrund ihrer mangelnden Komplexität und ihrer eindeutigen Zuordnung zur Stimme des Erzählers noch nicht als Gedankenberichte bezeichnet werden können (diese werden der Figurenstimme zugeschrieben; s.u.).
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Je ferner eine Figur des Textes in ihrem Außenhandeln dem Rezipienten ist, je weniger er sich in sie hineinversetzen kann, desto mehr bilden ausgeprägte Innenweltsichten die Möglichkeiten, diesen Graben mangelnden Verständnisses zu überbrücken (vgl. Uspenskij 1975). Dabei sind Innensichten im Rahmen einer außenperspektivischen Innensicht (nach Stanzel) bzw. einer nicht-fokalisierten Erzählweise vermittelt. Nach Stanzel entspricht ein Blick ins Innere der Figur aus der Außenperspektive des allwissenden Erzählers einer „außenperspektivischen Innensicht“, während fokalisierte Passagen bei ihm als Passagen aus „innenperspektivischer Innensicht“ bezeichnet werden (Stanzel 2001: 150ff bzw. 178f). Vgl. dazu auch den Sammelband von Jaeger/Kasten 2003.
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Mitleid Um zu entscheiden, welche Rolle Mitleid als Rezeptionsreaktion spielt bzw. für welche Figuren Mitleid gefördert wird, müssen die eben behandelten Innensichtdarstellungen (Körperzustände, Mimik, Gestik und Emotionsberichte) auf ihre inhaltliche (qualitative) Ausgestaltung hin überprüft werden: Um Mitleid zu fördern, muss in irgendeiner Form Leid ausgedrückt werden. Eine Sonderform nimmt dabei das Figurenleid ein, welches aus Mitleid (compassio oder misericordia) entsteht: Solche leidthematisierenden Strukturen fördern Mitleid sowohl für die mitleidende als auch für die ursprünglich leidende Figur. Zur näheren Bewertung der leidthematisierenden Strukturen greifen wir auf die im Rahmen der Begriffsbestimmung vollzogene Unterscheidung dreier Reaktionsmöglichkeiten des Rezipienten auf im Text dargestelltes Leid zurück: - moralisch legitimiertes Mitleid (bei unverdient erfahrenem, als tief vermitteltem Leid), - rein affektives Mitleid (bei oberflächlich dargestelltem Leid), - rational verweigertes Mitleid bzw. Schadenfreude (bei verdient erfahrenem, als tief vermitteltem Leid). Die intensivste Form stellt ohne Zweifel die erste Reaktionsmöglichkeit des moralisch legitimierten Mitleids dar, welches neben der Unverdientheit des Leides ein Insistieren des Textes auf dem Figurenleid voraussetzt. Aber auch das aufgrund seiner kurzen Dauer und Einmaligkeit rein affektiv verbleibende Mitleid soll in der Analyse als Stufe des Mitleids von geringerer Intensität des Erlebens, jedoch als Steigerung von Empathie, berücksichtigt werden. Eine Unterscheidung dieser drei Möglichkeiten verlangt erstens immer eine Betrachtung der Intensität der Darstellung des Leides (kurz und einmalig vs. breit und wiederholt) und zweitens immer auch eine grobe Einschätzung, inwieweit erfahrenes Figurenleid aus der Sicht des Rezipienten verdient oder unverdient erscheint. Aus diesem Grund muss an dieser Stelle ein erstes Mal auch auf die Bewertung von vermittelten Inhalten eingegangen werden, obwohl diese in aller Ausführlichkeit erst im Rahmen der Frage ‚Sympathie, ja oder nein?’ behandelt werden soll. Figurenleid lässt sich nun zum einen explizit an den oben besprochenen Emotionsberichten ablesen, die auf der Basis der Allwissenheit des Erzählers entstehen. Zum anderen kann es aus nach außen für alle sichtbaren Körperzuständen sowie Mimik und Gestik abgeleitet werden. In Bezug auf die Bewertung der Körperzustände, hier meist Verletzungen und körperliches Siechtum, müssen wir gerade in den ausgewählten Texten, die der heldenepischen Gattung angehören (Aliscans) oder zumindest in Teilen darauf rekurrieren (Willehalm, Hystoria) beachten, dass die Beschreibung körperlicher Verwundungen durchaus auch Ausdruck
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einer heroischen Freude am Kampf sein kann, die eher auf die Begeisterung des Rezipienten an Grausamkeit als auf Mitleid abzielt. Ich gehe deshalb davon aus, dass für eine leidvolle Vermittlung körperlicher Verwundungen eine gewisse Intensität der Darstellung (vs. Einmaligkeit) und Merkmale von Schwäche, Schmerz etc. unabdingbar sind. Im Bereich der Darstellung von leidvermittelnder Mimik und Gestik nimmt die Klagegeste die zentrale Stellung ein, im mittelhochdeutschen ausgedrückt durch das Verb klagen (sofern dieses nicht mit Figurenrede in Verbindung gebracht ist)92, aber auch über das zugehörige Paradigma leidvoller Äußerungen (wie Weinen, Händeringen etc.). Dieses Klagen – gerade in der konkreten Gestalt der Totenklage und der Minneklage – ist als hochkodifiziertes Element mittelalterlicher Literatur zu begreifen, welches sich, zwar variierend nach Gattung und Entstehungsmoment, in den meisten Texten mehr oder weniger ausgeprägt nachweisen lässt. Seit archaischer Zeit entfaltet sich so eine für Trauerüberschwang stehende exzessive Körpersprache mit Klagegebärden, Schreien, Raufen der Haare, Misshandlungen des eigenen Körpers, Ohnmacht, Anfällen von Raserei, ausgiebigem Weinen etc., die, trotz Tendenzen der Mäßigung in der höfischen Zeit, in ihren Grundtendenzen bis ins späte Mittelalter hinein fortbesteht.93 In aller Deutlichkeit erscheint hier erneut der im Abschnitt zur inhaltlichen Definition von Mitleid bereits beleuchtete Zusammenhang von Leiddarstellung und ritualisiertem Handeln. Diesbezüglich haben wir festgestellt, dass der Ausdruck von Leid gerade in Form der Toten- bzw. der Minneklage als rituell oder ritualisiert betrachtet werden kann. Deshalb wollen wir – auf dieser Textebene und in allen weiteren Textebenen – entsprechende Passagen im Text, die sich als Toten- oder Minneklage definieren lassen, als möglicherweise oder sogar wahrscheinlich ritualisierte Ausdrucksformen von Leid betrachten. Gerade die Akzentuierung der Texte auf Formen ritualisierten bzw. unerwarteten Leidausdrucks und die (unterschiedliche?) Wirkung dieser beiden Formen in der fiktiven Welt sowie als empathielenkende Strategien müssen dabei erschlossen werden. Würde der Text zur Mitleidförderung beim Rezipienten und damit zugunsten der Figuren eine der beiden Formen privilegieren, könnten sich darüber Rückschlüsse auf die zeitgenössische Einschätzung der Aufrich-
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Klagen wird somit zunächst als Klagegeste, losgelöst von eventuellen Klageworten betrachtet. Durch das Verb klagen eingeleitete direkte Figurenrede wird nicht in diese Kategorie aufgenommen. Allein Formulierungen wie der klagende grise man (W421, 18; in Bezug auf den klagenden Heiden Oukin) sehen sich aufgegriffen. Dabei geht es nicht um eventuelle begleitende, nicht vermittelte Worte, sondern allein um unverständliche Klagelaute, -gesten und -mimik. Vgl. Lommatzsch 1923: 52ff und Ariès 1980: 186f.
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II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen
tigkeit und auch der Effizienz ritualisierten Emotionsausdrucks ziehen lassen. Sympathie Sympathielenkende Strukturen94 müssen im Rahmen der empathie- und mitleidfördernden Techniken (Techniken der Innensichtdarstellung) Inhalte vermitteln, die vom Rezipienten aufgrund seines aktivierten Wertehorizontes positiv bewertet werden können oder aber anhand weiterer, nur der Sympathielenkung eigenen narrativen Techniken Wertschätzung für eine Figur fördern. Die innensichtdarstellenden Textpassagen sind damit ein drittes Mal zu betrachten, diesmal im Hinblick auf Figurenemotionen und -motivationen, die beim Rezipienten potentiell Wertschätzung auszulösen vermögen.95 Den größeren Teil nehmen jedoch in diesem Abschnitt Sympathielenkungstechniken ein, die über die Innensichten hinaus evaluative Strategien platzieren, deren Hauptfunktion darin liegt, die Figuren auf den verschiedensten Wegen zu bewerten. Entsprechend kann der dritte notwendige Blick auf die innensichtdarstellenden Techniken relativ kurz besprochen werden: Dabei können sowohl die bisher nicht besprochenen Innensichten, welche nicht Leid, sondern andere Emotionen und Motivationen vermitteln, als auch bereits als mitleidfördernd ausgewiesene Passagen sympathielenkende Funktion übernehmen. Gerade mitleidfördernde Passagen müssen dabei als mögliche Sympathieauslöser betrachtet werden. Denn wie in der Unterscheidung der verschiedenen Formen von Mitleid oben deutlich wurde, leidet die Figur im Falle von moralisch legitimiertem Mitleid in den Augen des Rezipienten tief und unverdient. Und in der Festlegung der Unverdientheit ist bereits eine zumindest partiell positive Wertung des Gegenübers enthalten, womit solchen mitleidfördernden Strukturen gleichzeitg sympathiefördernde Funktion zukommt.96 Im Rahmen der leidthematisierenden und deshalb mitleidfördernden Strukturen sind auch diejenigen auf jeden Fall sympathiefördernd, die ein Leiden der Figur aus Mitleid im Sinne von misericordia (d.h. tätigem Mitleid) bzw. ein heilsgeschichtlich ausgerichtetes
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Diese können sympathiefördernd oder sympathiehemmend eingesetzt sein und somit entweder in Richtung von Sympathie oder in Richtung von Antipathie argumentieren. So kann beispielsweise in Gesten gezeigte Zuneigung zu Familienmitgliedern (Küssen, Umarmen) die Wertschätzung des Rezipienten fördern, da sie die Sippentreue der Figur ausdrückt. Betrachten wir diesbezüglich den jungen Heiden Rennewart, der in allen drei ausgewählten Texten auftritt: Dieser wird trotz seiner hohen Geburt vom König als Küchenjunge gehalten. Weint dieser aufgrund seines Schicksals und bestimmt der Rezipient für sich Rennewart als unverdient leidend, geht er davon aus, dass Rennewart vorher nicht schlecht gehandelt hat, womit zumindest partielle Wertschätzung für Rennewart festgehalten werden muss.
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Leiden der Figur im Sinne von compassio manifestieren. Denn beide Formen gelten auf ihre Weise als vorbildlich. An diesen Analyseschritt schließt sich nun die Betrachtung der ersten, über Innensichtdarstellungen hinausgehenden, allein sympathielenkenden Technik an, nämlich die der ersten Vorstellung einer Figur, welcher aufgrund des sogenannten Primacy-Effect eine bedeutende Stellung zukommt. Mit dem Terminus Primacy-Effect versucht man das Phänomen zu umschreiben, nach dem die erste Präsentation einer fiktiven Figur beim Rezipienten einen so wegweisenden Eindruck hinterlässt, dass dieser später, wenn überhaupt, nur sehr schwer zu revidieren oder zu modifizieren ist. 97 Dabei ist der eigentlich aus der Sozialpsychologie stammende Begriff nicht zuletzt deshalb auf die literarische Urteilsfindung übertragbar, weil die Versuchsanordnungen dort häufig auch mit schriftlichen Szenarien arbeiten. So bestätigt Herbert Grabes auch für Leser die Tendenz, dass diese sich schon in einer frühen Lektürephase „eine Vorstellung der ganzen Figur […] bilden“, selbst wenn dazu noch nicht genügend Informationen vorhanden sind.98 Matthias Meyer stellt schließlich explizit fest: „Es gilt als unstrittig, daß ein Ergebnis der kognitiven Psychologie auch auf literarische Charaktere zu übertragen ist: die eben erwähnte Bedeutung des ersten Eindrucks.“99 Der durchschlagende Effekt der ersten Vorstellung von Figuren, die oft mit dem Textbeginn zusammenfällt, entsteht wohl aus dem Bedürfnis des Rezipienten, die ihm noch neue Welt im weitesten Sinne zu verstehen und die auftretenden Figuren und Figurengruppen entsprechend einzuordnen. Das an erster Stelle genannte Merkmal bleibt für das Gegenüber entscheidend. Nur wenn die folgenden Merkmale entscheidend davon abweichen und zudem allesamt in eine Richtung weisen, wird das Ersturteil revidiert. Diese Erkenntnisse weisen dem ersten Auftreten einer Figur im Erzähltext einen enormen Stellenwert zu und lassen vor allem die Prologe und ersten Erzählabschnitte, in denen die Hauptfiguren meist vorge-
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Der Primacy-Effect ist dabei ursprünglich eine Kategorie der Sozialpsychologie: Untersuchungen haben immer wieder gezeigt, dass das Gewicht einzelner Merkmale, die das Gegenüber über eine zu beurteilende Figur erfährt, wesentlich von der Reihenfolge ihres Nennens abhängt. Prägend sind dabei die Untersuchungen von Asch (beschrieben in Asch 1946). Die Studie von Luchins 1957 konnte schließlich die Ausgangshypothese stützen, dass der erste Eindruck, d.h. die erste Einordnung in eine Kategorie maßgeblich die weitere Einschätzung beeinflusst. Luchins bot im Zuge seiner Studie vier Versuchsgruppen je vier Beschreibungen einer fiktiven Stimulusperson ‚Jim‘ in Form von umgangssprachlich formulierten Kurzerzählungen an. Alle Versuchspersonen zeigten sich von dem an erster Stelle aufgeführten Personenmerkmal am stärksten beeindruckt und ließen sich durch dieses zuerst genannte Charakteristikum in ihrer folgenden Einschätzung der Person erheblich beeinflussen (vgl. Fischer/Wiswede 1997: 203). Grabes 1978: 415. Meyer 2004: 30.
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II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen
stellt werden, in neuem Licht erscheinen. Denn selbst wenn der Rezipient im Verlauf des Textes unendlich mehr über eine Figur erfährt, so gilt es die erste Vorstellung einer Figur in ihrem Einfluss zu würdigen und sich ihrer lenkenden Macht bewusst zu sein. Schreiten wir nun über die erste Vorstellung einer Figur im Textverlauf voran, so müssen wir in einem nächsten Schritt diejenigen Passagen betrachten, in welchen der Erzähler mit Hilfe seiner Allwissenheit über die im linearen Verlauf präsentierten Handlungen hinaus Analepsen (Rückblicke) und Prolepsen (Vorausblicke) formuliert.100 Dabei liegt unser Hauptinteresse auf den Prolepsen. Sie können in mittelalterlichen Texten eindeutig als lenkende Strategien gelten, reagieren sie doch, im Gegensatz zu vielen Rückblicken, auf keinen vom aktuellen Handlungsverlauf gestellten Erklärungsbedarf, sondern wirken als zusätzliche, nicht notwendige Information.101 Durch sie entsteht die Möglichkeit, bestimmte in der Zukunft liegende Aspekte vorzeitig bekannt zu machen (vor allem der Ausgang der Handlung) – und dies gereicht in den meisten Fällen bestimmten Figuren oder Figurengruppen zum Vorteil bzw. Nachteil. Denn schließlich muss man bedenken, dass in einem christlich geprägten Weltbild wie dem mittelalterlichen der Ausgang der Handlung zugunsten einer Figur zwangsläufig mit der Unterstützung Gottes und damit mit einer enormen Aufwertung des Siegenden zu verbinden ist. 102 Neben ihrem sympathielenkenden Effekt haben solche Prolepsen fiktionalitäts- und damit illusionsdurchbrechenden Charakter. Dieser vom modernen Rezipienten als
_____________ 100 In der Terminologie von Analepsen und Prolepsen folge ich Genette, der durch die Wahl der Termini analepse et prolepse bewusst jede psychologische Dimension der französischen Begriffe anticipation und rétrospection ausblenden möchte: „d’autre part, pour éviter les connotations psychologiques attachées à l’emploi de termes comme ‚anticipation‘ ou ‚rétrospection‘, qui évoquent spontanément des phénomènes subjectifs, nous les éliminerons le plus souvent au profit de deux termes plus neutres: désignant par prolepse toute manAuvre narrative consistant à raconter ou évoquer d’avance un événement ultérieur, et par analepse toute évocation après coup d’un événement antérieur au point de l’histoire où l’on se trouve“ (Genette 1972: 82). 101 Rückblicke können manche in der Handlung auftretende Begebenheit erklären und so erst verständlich machen. Vorausblicke hingegen sind für das Verständnis der Handlung nur insofern relevant, als sie einen Ausblick auf den Ausgang des Geschehens liefern. So formuliert auch Fluss in Bezug auf den mittelalterlichen Erzähler: „Indem er durch Hinweise Künftiges, durch Wertungen und Erklärungen Gegenwärtiges erhellt, beeinflusst und steuert er von der Erzählerebene aus mehr oder weniger direkt die Reaktionen des Publikums auf die Geschehnisse der Handlungsebene in der für das Werk gewünschten Weise. Er sichert so den Hörer gegen Unverständnis und Fehlinterpretation weitgehend ab, da dieser sich gegebenenfalls an ihn halten kann“ (Fluss 1979: 5). 102 Auf die Vorstellung des Gottesurteils greift man seit der Christianisierung (erstmals in den Leges Burgundionum Ende des 5. Jahrhundert) in Anlehnung an Ps 16, 8 (David gegen Goliath) immer wieder zurück (vgl. LexMA 9, 723f; Artikel: Zweikampf) und LexMA 4, 1594f (Artikel: Gottesurteil). Vgl. dazu auch Fehr 1955: 271-281.
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störend empfundene Effekt ist mit Sicherheit vom mittelalterlichen Publikum kaum kritisch wahrgenommen worden: „Whereas later novelistic locutions such as ‘while X is singing, I will use the time to tell you about her trip to London‘ are highly anti-realistic and constitute a deliberate metafictional technique, this is not the case for the medieval texts, where the active narrator persona is required from a structural point of view as a means to effect the articulation and alignment of macro-episodes. […] The narrator is here more of an arranger than an active bardic voice, and he frequently presents report sequences which have an episodic structure (in the sense of an incipit and a conclusion) but no central point of incidence.”103
Dennoch müssen wir auch in mittelalterlichen Texten – und gerade in Texten verschiedener Jahrhunderte – darauf achten, inwieweit sie zum Zweck der Rezeptionslenkung auf Vorausblicke zurückgreifen und inwieweit etwaige Unterschiede auf sich verschiebende Präferenzen des Publikums hinweisen. Die folgenden sympathielenkenden Techniken funktionieren allesamt über Beschreibungen: Wir betrachten Beschreibungen von Räumen sowie Beschreibungen von Figuren über Figurenhandeln, Figurenaussehen, Figureneigenschaften und Figurenbezeichnungen. Dabei wollen wir den Begriff der Beschreibung hier im Sinne einer thematischen Fokussierung104 verstehen, die „die Aufmerksamkeit des Lesers auf den thematisch jeweils wichtigsten Sachverhalt einer Erzählung […] (= thematisches ‚foregrounding‘)“ lenkt.105 Gerade diese Technik der Beschreibungen wird im Mittelalter bevorzugt genutzt – wie manch ausladende Beschreibung im höfischen Roman beweist – und dabei nicht zuletzt sympathielenkend eingesetzt:
_____________ 103 Fludernik 2001: 109 bzw. Fludernik 1996: 115. 104 Denn schießlich kann ein Erzähler nicht alle Sachelemente und Figuren gleichermaßen beschreiben.Vielmehr werden nur bestimmte Elemente der fiktiven Welt für Beschreibungen herausgegriffen. Den Terminus der „thematischen Fokusierung“ [sic!] prägt Stanzel (vgl. Stanzel 2001: z.B. 152ff) und darf keinesfalls mit Genettes Begriff der focalisation verwechselt werden. Sie entspricht der amplificatio im Rahmen der rhetorischen dispositio, die im Mittelalter, wie Faral bezeugt, leicht variiert breite Anwendung findet. Als wichtigste Technik zur Realisierung der amplificatio gilt schon in der Antike die descriptio, die Beschreibung: „Le terme d’amplification (amplificatio, dilatio) vient de loin: il était déjà employé par les rhéteurs de l’antiquité; mais c’est dans une acceptation toute nouvelle que le prend le moyen âge. Par ‘amplifier’, les anciens entendaient ‘rehausser’ (une idée), la faire valoir […]. Mais les théoriciens du XII et du XIII siècle entendent par là développer, allonger (un sujet)“ (Faral 1924: 61). Faral schreibt weiter: „Les arts poétiques du moyen âge font à ce genre de descriptions une place importante: c’est à elles qu’est consacré, en majeure partie, le traité de Matthieu de Vendôme. A l’ampleur de l’étude qu’il leur consacre, au soin qu’il met à en détailler les principes, au nombre et à l’étendue des exemples qu’il en propose, il est visible que Matthieu considère la description comme l’objet suprême de la poésie“ (Faral 1924: 76). 105 Stanzel 2001: 152.
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II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen
„L’objet principal du genre oratoire que les anciens ont appelé démonstratif est l’éloge et le blâme, et le moyen par lequel on y atteint est la description. […] elle [cette vertu] explique que, dans toute la littérature du moyen âge, la description ne vise que très rarement à peindre objectivement les personnes et les choses et qu’elle soit toujours dominée par une intention affective qui oseille entre la louange et la critique." 106
Bei der semantisierenden Beschreibung von Räumen sehen sich Figuren indirekt und kaum spürbar bewertet.107 Der Betrachtung von Raumbeschreibungen als sympathielenkende Kategorie liegt die unter anderem von Jurij Lotman geprägte Annahme zugrunde, dass die Gestaltung von Landschaft und Natur als wichtiges literarisches Darstellungsmittel auf Sinn und Werte bezogen und als Komponente sich wandelnder Zeichensysteme und daher als Bedeutungsträger aufzufassen ist.108 Von den von Curtius und später Lausberg definierten Funktionen von Räumen kommt es in unserer Betrachtung weniger auf deren schmückende, als auf deren „parteiisch-argumentierende“ Funktion an.109 Oft verbirgt sich so hinter der scheinbar rein ausschmückenden Funktion von Raumbeschreibungen ein deutlich sympathielenkendes Potential, welches entsteht, wenn bestimmte Raumelemente mit diesem Raum verwobene Figuren implizit bewerten, indem sie durch die ihnen innewohnende Symbolik den Raum gleichsam semantisieren. Sie können den Rezipienten dazu verleiten, die positiven Assoziationen eines mit der Figur verbundenen Raumes (schöne Landschaften, Vogelgesang, gute Düfte etc.) auf die Figur zu übertragen und dieser neue Facetten beizugeben, während unangenehme Assoziationen, z.B. wenn eine Figur häufig in unschönen Räumen agiert (z.B. Dreck und Gestank), ebenfalls auf unangenehme Eigenschaften der Figur hinzuweisen scheinen. Über die Semantisierung des Raums hat der Text die Möglichkeit, Figuren Eigenschaften zuzuschreiben, ohne diese explizit
_____________ 106 Faral 1924: 76. 107 Dabei wähle ich einen weiten Raumbegriff und verstehe die Umgebung, Landschaft, Natur, Wetterverhältnisse, Geräusche, aber auch Rahmenbedingungen, die für die Figur raumkonstituierend wirken (z.B. Alleinsein im Raum, Massen im Raum etc), als Räume. 108 Vgl. Lotman 1973. Lotman unterscheidet drei Ebenen, auf denen sich der komplementäre Gegensatz der Teilräume entfaltet: Topologisch ist der Raum der erzählten Welt durch Oppositionen wie ‚hoch vs tief‘ etc. geprägt. Diese topologischen Unterscheidungen werden im literarischen Text mit ursprünglich nicht-topologischen semantischen Gegensatzpaaren verbunden, die häufig wertend sind (wie z.B. ‚gut vs. böse‘) und die für unsere Betrachtung der Sympathielenkung bedeutend sind. Als dritte Ebene führt Lotman die topographischen Gegensätze (‚Berg vs. Tal‘) an (vgl. Lotman 1973: 331ff). Auch Jäger nennt im Rahmen seiner fünf Verfahren zur Raumdarstellung in Erzählwerken ein semantisierendes, nämlich die „Umdeutung (Metaphorisierung, Symbolisierung)“ (Jäger 1998: 23). 109 Der Topos des locus amoenus wird seit Curtius als „Mittel der gedanklichen Amplifikation mit parteiisch-argumentierender oder mit schmückender Funktion“ (Lausberg 1963: 39) verstanden.
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formulieren zu müssen und gerade deshalb kommt diesen Lenkungsstrukturen so subtile Wirkungskraft zu. Weniger subtil, dafür aber von großem Einfluss sind die expliziten Figurenbeschreibungen, die sich in die Beschreibung von Figurenhandeln, Figurenaussehen und Figureneigenschaften systematisieren lassen. Die Beschreibung von Figurenhandeln entscheidet insofern maßgeblich über Sympathie und Antipathie, als jedes Handeln, welches der Erzähler aus der Masse der nicht näher beleuchteten Teilhandlungen herausgreift und eingehender beschreibt, vom Rezipienten eine Einschätzung verlangt und dieser entsprechend aus dem Figurenhandeln bestimmte Figureneigenschaften ableitet, die dann wiederum zu Wertschätzung führen können – oder zu ihrer Verweigerung. So steht ein mit aller Härte geführter Zweikampf vor dem oben definierten Normen- und Wertehintergrund des mittelalterlichen Rezipienten zweifellos für positiv bewertete Tapferkeit, Kühnheit und Kampfesstärke. Thematisiert der Text diesen Zweikampf, so gehen wir davon aus, dass dieser zur Aufwertung der einen Figur oder beider Figuren beitragen soll. Eine exakte Besprechung jedes Figurenhandelns ist sicherlich im vorliegenden Rahmen nicht durchführbar. Jedoch kann für alle häufiger auftretenden Figuren die Frage gestellt werden, inwieweit ihnen der Text die Möglichkeit gibt, sich durch ihr Handeln im Hinblick auf die Wertschätzung des Rezipienten positiv zu präsentieren. Bis an diese Stelle konnten alle potentiell sympathielenkenden Strukturen als primär implizit wertend verstanden werden: Sie steuern den Rezipienten meist kaum spürbar und verzichten weitgehend auf wertendes Vokabular. In Beschreibungen des Figurenaussehens und der Figureneigenschaften bewerten nun fast ausschließlich evaluative Strukturen Figuren anhand eindeutiger Wortwahl explizit. Dass die sprachliche Gestaltung unter bewussten Zielsetzungen sorgsam ausgewählt wird, ist sowohl in den antiken als auch mittelalterlichen Rhetoriken und Poetiken selbstverständlich;110 und von entsprechender Bedeutung ist in diesen Fällen der expliziten Bewertung auch die vom Text überlieferte Wortwahl, die durch die Anwendung rhetorischer Figuren (Vergleiche, Metaphern, Hyperbeln) in ihrer Eindrücklichkeit und damit auch in ihrer Lenkungskraft noch intensiviert werden kann.111
_____________ 110 Im Rahmen der dispositio erfolgt die genaue Auswahl der Wörter (electio verborum), in der elocutio die Auswahl der Redefiguren (ornatus). 111 Keitel verweist in ihrer Studie Von den Gefühlen beim Lesen auf die besondere Bedeutung von Metaphern und Metonymien, die auf eine emotionale Aufschlüsselung durch den Rezipienten zielen: „Sie sind zum einen kognitiv rezipierbar, zum anderen sind sie den unbewussten Prozessen von Verdichtung und Verschiebung homolog. Aber diese linguistischen Strukturen sind nicht nur unbewussten psychischen Prozessen strukturell gleichwertig, sie vermö-
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II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen
Explizit sympathielenkend wirken vor allem wertende Adjektive und Adverbien, insbesondere wenn sie Figureneigenschaften deutlich benennen.112 Und auch in Bezug auf das Figurenaussehen müssen wir von einer expliziteren Bewertung über Adjektive ausgehen als es zunächst scheinen könnte. Denn der mittelalterliche Rezipient betrachtet gerade das körperliche Aussehen nicht als zufälliges Ergebnis, sondern vielmehr als Ausdruck der göttlichen Schöpfungskraft und damit des Willens Gottes. Das Aussehen einer Figur kann dabei immer auch als Spiegel ihrer Seele gewertet werden, weshalb Aussehen und innerer Wert – und damit Wertschätzung des Rezipienten – potentiell einhergehen.113 Die deutlichste Bewertung erfahren Figuren wohl in Nominalkonstrukten, die als Figurenbezeichnungen fungieren (der held, der guote etc.), die ebenfalls im Rahmen der Figurenbeschreibung erfasst werden sollen. 2.4 Ebene der persönlichen Erzählinstanz (E2) “Medieval verse narrative, besides its episodic structure, also employs a fairly prominent allocutive meta narrative discourse which serves to introduce the tale (and provide an abstract), to ‘shift’ between changes of scene, to interpret the events and to supply a final conclusion (moral). For this reason medieval narrators are much more extensively present in the discourse than even the garrulous narrators of some nineteenth-century novels. […] medieval tales refer the func-
_____________ gen auch, und das ist das Entscheidende, unbewusste psychische Prozesse auszulösen“ (Keitel 1996: 49). 112 Auch die in Bezug auf Figuren angeführten Nominalkonstrukte, die im weitesten Sinne auf Eigenschaften verweisen (wie z.B. güete, triuwe) sollen in dieser Analysekategorie besprochen werden. In der Anwendung findet sich dabei immer eine Wertung des Erzählers, was uns an die Grenze zur Ebene der persönlichen Erzählinstanz bringt. Aufgrund des Zurücktretens des Erzählers als Figur in diesen Passagen soll die Wortwahl jedoch im Rahmen des epischen Berichts behandelt werden. 113 Die körperliche Schönheit, die Augustinus als partium congruentia cum quadam coloris suavitate definiert, ist in der mittelalterlichen Dichtung geradezu ein Adelsprädikat (Augustinus, De civitate dei 22, 19, 2, PL 41, Sp.781). Ernst stellt für die mittelalterliche Dichtung fest: „Die vornehmen Standesgenossen der höfischen Welt sind schön, häßlich dagegen sind gesellschaftliche Randexistenzen wie Räuber, Zwerge und Riesen“ (Ernst 2002: 44). Tatsächlich sind Vorzeigehelden und -heldinnen stets von beeindruckender körperlicher Schönheit und tatsächlich geht die Schönheit des Helden mit einem Sündenfall genauso verloren wie das soziale Ansehen: Als Wilder lebt Iwein, dessen Schönheit einst am Laudinehof noch vor seinen ritterlichen Qualitäten gerühmt worden war (vgl. I2375), im Wald, nachdem er die Frist zur Rückkehr in sein Reich versäumt hat, mohrenschwarz, nackt an Körper und Verstand (IW3345-60). Heinrich, aus Hartmanns Armer Heinrich, befällt die Lepra (miselsuht, AH119) und er wird den Menschen widerzaeme (AH123). Entsprechende Beispiele ließen sich fast beliebig zitieren. Vgl. dazu auch den Abschnitt „schoene und guot: Zur Kalokagathie“ in Ehrismann 1995: 189-194. Weitere Studien zu diesem Phänomen bieten Brinkmann 1928: 3 und 116 und für die altfranzösische Dichtung Loubier 1890.
2. Entwicklung eines Analysemodells
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tion of a real teller back to the familiar real-life experience of the bard which can be resuscitated schematically in each oral performance of the tale. Such narratorial manipulation does not detract from the story but promotes its effective transmission.”114
Wie Fluderniks einleitende Bemerkungen beschreiben, nimmt in mittelalterlichen Texten – neben dem die Handlung wiedergebenden unpersönlichen Erzähler – eine persönlich hervortretende Erzählerfigur ein erhebliches Gewicht ein. Diese zeichnet sich durch eine ausgesprochene Neigung zu Einmischungen, (metanarrativen) Kommentaren, Stellungnahmen und expliziten Wendungen an den Rezipienten aus, mit denen sie das Rezeptionserlebnis maßgeblich steuern kann.115 Gerade in einer mündlichen Vortragssituation kommt dem als Erzähler fungierenden, kommentierenden und eventuell wertenden Vortragenden ein immenser Einfluss auf das anwesende Publikum zu, doch auch in verschriftlichten (Lese-)Texten behalten kommentierende Passagen ihr Machtpotential. Besonders förderlich für das lenkende Eingreifen des persönlichen Erzählers ist, wenn seine ihm als allwissender Erzähler eigene Autorität mit Glaubwürdigkeit verbunden ist und damit der Typus des zuverlässigen Erzählers vorliegt.116 So können Figuren gelobt und kritisiert, ihr Verhalten kommentiert, Urteile und Modelle der Anteilnahme vorgestellt werden. Aufgrund der Glaubwürdigkeit der Erzählerfigur ist dann von einer Übernahme dieser Bewertungen und Urteile durch den Rezipienten stark auszugehen. In den strukturellen Anlagen des persönlichen Erzählers liegen sowohl natürliche Glaubwürdigkeit als auch natürliche Autorität: Grundglaubwürdigkeit deshalb, weil er, wie das Publikum, außerhalb der Welt der Figuren steht, woraus eine Gemeinsamkeit und Vertrauensbasis erwächst.117 Grundautorität wiederum, weil er als (in unseren Texten) allwis-
_____________ 114 Fludernik 1996: 109. 115 Schon Bayer weist in seinen Ausführungen zu den Erzählerkommentaren Wolframs von Eschenbach auf die Funktion der Urteilslenkung der Kommentare zur Inschutznahme des Helden hin, ohne diese freilich näher in ihrem Funktionieren zu untersuchen (vgl. Bayer 1962: 212). 116 Die Forschung unterscheidet seit Booth zuverlässige und unzuverlässige Erzähler: „I have called a narrator reliable when he speaks for or acts in accordance with the norms of the work (which is to say, the implied author’s norms), unreliable when he does not“ (Booth 1961: 158f). Der unzuverlässige Erzählertyp existiert keinesfalls erst in der modernen Literatur, sondern wird vielmehr bereits für antike Texte (z.B. Lukians Wahre Geschichten oder Apuleius’ Der goldene Esel) nachgewiesen. 117 Vgl. Fluss 1979: „Diese Tatsache kann insofern von Bedeutung sein, als sich für das Publikum daraus der Eindruck ergibt es stehe, was das Verhältnis zur Erzählung betrifft, mit dem Erzähler auf einer Stufe; und dieses Empfinden kann der Verbundenheit und Vertraulichkeit zwischen Erzähler und Hörer nur zuträglich sein, da sie die Einflußnahme des Erzählers erleichtert“ (Fluss 1979: 4). Es „wird dem Publikum der Eindruck vermittelt, als habe sich die Distanz zwischen ihm und dem (wissenden) Erzähler verringert, mit dem es
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II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen
sender Erzähler über Einblicke in das fiktionale Geschehen verfügt, auf deren Vermittlung das Publikum angewiesen ist und die dem Erzähler gleichsam eine Vormachtstellung verschaffen. Diese natürlichen Anlagen können nun einerseits in die Unzuverlässigkeit verkehrt (durch Vermittlung offensichtlich falscher Tatsachen, Täuschungen etc.) oder in ihrer Glaubwürdigkeit und Autorität noch verstärkt werden. Da die letztere Möglichkeit empathielenkendes Eingreifen maximal begünstigt, müssen wir für jeden zur Untersuchung stehenden Text klären, inwieweit das Erzähler-Rezipienten-Verhältnis im Sinne einer zunehmenden Glaubwürdigkeit beeinflusst wird. Ein besonderer Effekt, der die Gemeinsamkeit von Erzähler und Publikum untermauert und damit gleichzeitig die Einschätzungen des Erzählers auch dem Rezipienten zuschreibt, resultiert aus dem von manchen Erzählern gebrauchten inclusive we mit seiner Funktion „to suggest community of experience and attitudes between narrator and reader at places where questions of value are implied by the citation of a cultural code.”118 Dieses inclusive we kann dann auch noch auf Figuren des Textes übertragen werden (z.B. im altfranzösischen Text les nôtres119), wodurch nicht nur ein Gemeinschaftsgefühl mit dem Rezipienten, sondern zugleich eine Aufnahme der entsprechenden Figur in die Eigengruppe und damit Empathielenkung bedingt wird. Neben dieser Technik kann die Erzählerfigur durch bestimmte Äußerungen implizit oder explizit für ihre Vertrauenswürdigkeit werben. Dafür bietet es sich an, aus der Anonymität und Konturlosigkeit herauszutreten und sich dem Publikum als Figur zu präsentieren, denn „der Erzähler muß uns allererst für sich gewonnen haben, wenn es ihm später gelingen soll, daß wir uns seiner Lenkung auch in heiklen Angelegenheiten überlassen.“120 Da Glaubwürdigkeit und Autorität möglichst schnell aufgebaut werden müssen, nimmt der vor allem in den mittelhochdeutschen Texten auftretende Prolog eine Schlüsselfunktion ein: Er bildet ‚die‘ exponierte Stelle am Anfang des Heldenepos, in der der Erzähler die Basis für jeden weiteren Prozess der Empathielenkung legen kann. Hier vollzieht sich die erste Kontaktaufnahme des Erzählers mit seinen Hörern und Lesern, die als ‚Gespräch mit dem Publikum‘ in vielen Fällen durch das ganze Werk hindurch fortgesetzt wird.121 Zu Beginn dieses Gespräches muss der Er-
_____________ 118 119 120 121
auf einer Ebene des Erfahrens zu stehen scheint. Derartige Vertraulichkeit mit dem Vermittler fördert die Einfühlung in Erzählvorgang und Erzählgegenstand“ (Fluss 1979: 20). Fowler 1977: 138. „die Unseren“ (alle Übersetzungen altfranzösischer Zitate stammen von der Verfasserin). Kern 1988: 206. Brinkmann legt seinem aufschlussreichen Aufsatz über den „Prolog im Mittelalter als literarische Erscheinung“, ein aus der Rhetorik entwickeltes Kommunikationsmodell zugrunde: „Der Prolog eröffnet ein Gespräch: der Urheber eines literarischen Werkes be-
2. Entwicklung eines Analysemodells
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zähler erreichen, dass das Publikum seinen Meinungen und Kommentaren Gehör schenkt, womit der mittelalterliche Prolog in der rhetorischen Tradition der Antike steht, nach der er das Publikum zum Zuhören gewinnen und sich so um Aufgeschlossenheit, Sympathie und Aufmerksamkeit der Hörer bemühen soll (captatio benevolentiae).122 Dabei kommt es aber eben nicht nur darauf an, das Publikum dem Dichter gewogen zu machen (wie häufig im Hinblick auf dessen unsichere Berufssituation betont wird), sondern auf das „Ziel, im Entwurf der postulierten, der intendierten idealen Hörer und Leser ein attraktives Identifikationsmuster für das real existierende Publikum bereitzustellen und seine Rezeptionshaltung zu steuern.“123 So erscheint der mittelalterliche Prolog als Ort erzählerischer Autoritätsfindung in völlig neuem Licht. Äußerungen der persönlichen Erzählerfigur können sich mit den Ereignissen der fiktiven Welt in verschiedener Weise auseinandersetzen. Empathie-, Mitleid- und Sympathielenkung – und deswegen können wir auf dieser Textebene den einzelnen Lenkungskategorien nicht wie bisher spezifische Techniken zuordnen – erfolgen dabei über zwei unterschiedlich funktionierende Typen von Erzählerkommentaren. Allein die inhaltliche Konkretisierung lässt dann eine Unterscheidung in empathie-, mitleidund sympathielenkende Erzählerkommentare zu. Im ersten Typ demonstriert die Erzählerfigur eigene Empathie, eigenes Mitleid und eigene Sympathie und ruft damit aufgrund ihrer Autorität und Glaubwürdigkeit implizit zum Nachvollzug auf. Im zweiten Typ fordert die Erzählerfigur explizit zu Empathie, Mitleid und Sympathie auf, wobei sie bis zum Imperativ gehen kann. Im Rahmen beider Typen bieten sich dem Erzähler wiederum zwei grundsätzlich verschiedene Strategien der Lenkung an, die dem Text bei entsprechender Ausprägung eigene Akzente geben und die prinzipiell einer Entscheidung für den Einsatz von ethos oder pathos gleichkommen. Zum einen kann der Erzähler eher affektiv, zum anderen eher rational lenkend agieren. Somit lässt sich das Paradigma der Erzählerkommentare wie folgt schematisieren:
_____________ ginnt es, indem er sich an die Empfängerschaft wendet, die ihm zuhört oder ihn liest. Der Verfasser spricht; er erwartet, daß die Empfänger auf ihn hören. So werden die Rollen im Gespräch festgelegt“ (Brinkmann 1964: 1). Wenngleich die Gleichsetzung von Verfasser und Erzählinstanz bei Brinkmann heute problematisch erscheint, beschreibt er hier doch die Annäherung von Rezipient und Erzählinstanz treffend. 122 Vgl. Cicero, De inventione, 1, 15, 20. 123 Kern 1988: 206f. Kern präzisiert weiter treffend, indem er feststellt, „daß der Prolog das für alles Erzählen fundamentale Dreiecksverhältnis von Erzähler, Werk und Publikum in dem von ihm gewünschten Sinne fest[legt], indem er sich mit insinuatorischen Mitteln und klug kalkulierter Persuasionsstrategie von vornherein das Wohlwollen des Publikums sichert“ (Kern 1988: 206).
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II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen
Lenkende Erzählerkommentare
Lenkung über impliziten Imperativ
Lenkung über expliziten Imperativ
affektiv rational
affektiv
- Empathie - Mitleid - Sympathie
rational
Affektive Erzählerkommentare (oft in Form von elliptischen Ausrufen) privilegieren das Miterleben des Rezipienten mit dem Geschehen und damit indirekt auch mit den Figuren.124 Sie stimulieren Aufmerksamkeit und inneren Mitvollzug des Publikums. Die Herenniusrhetorik lehrt darüber: „exclamatio est, quae conficit significationem doloris aut indignationis alicuius per hominis aut urbis aut loci aut rei cuiusquam compellationem.“125 Solche affektiven Ausrufe werden häufig auch durch Interjektionen eingeleitet (wê, ô etc.). Aufgrund ihrer scheinbaren Spontaneität und der hohen Emotionalität wirken diese Eingriffe natürlich und ungeplant. Wenn der Erzähler als glaubwürdig etabliert wurde, regen seine Emotionen den Rezipienten zur Nachahmung an, auch wenn dieser Appell implizit verbleibt.126 Tritt solche Affektivität im Rahmen explizit lenkender Kommentare auf, lassen Imperative oder imperativische Formulierungen die Aufforderung zur Nachahmung gleichwohl deutlicher werden.127 Rational lenkende Kommentare setzen demgegenüber weniger auf Miterleben als auf logische Argumentation. Dabei präsentiert die Erzähler-
_____________ 124 Z.B. der Ausruf des altfranzösischen Erzählers in Aliscans über die Heiden: Dex les maudie! (A14, 437) („Gott verfluche sie!“). 125 Rhetorica ad Herennium IV, 22. 126 Die rezeptionslenkende Funktion dieser affektiven Erzählerkommentare wird in der Forschung generell angenommen, auch wenn sowohl narratologische als auch inhaltliche Systematisierungen fehlen: So fasst bereits Bayer die Erzählerausrufe als Formen der Beeinflussung des Publikums auf (Bayer 1962). Und auch nach Fluss aktiviert der Erzähler „durch den Ausdruck eigener (echter oder vorgegebener) Anteilnahme am Geschehen die Teilnahme des Publikums auf dem emotionalen Wege der Affektübertragung“ (Fluss 1971: 126). Nellmann nennt „Erregung und Anteilnahme“, „Affektsteigerung“ als angestrebtes Ziel des Erzählers, widmet sich dem Phänomen aber nicht näher (Nellmann 1973: 149 bzw. 151). 127 Ein erstes Beispiel findet sich im Willehalm, wo der Rezipient über das Hilfsverb soln zum Mitleid mit den Christen aufgefordert wird: owe kristen liute, […] swer triuwe hat, der solt iuch klagen (W400, 1-8). Einen direkten Imperativ finden wir ebenfalls im Willehalm formuliert, als der Erzähler dazu auffordert, Mitleid mit Gyburc zu haben: lats iu erbarmen doch durh got (W112, 2).
2. Entwicklung eines Analysemodells
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figur zwar streng genommen nur ihre Meinung oder einen allgemeinen Urteilsvorschlag. Wenn jedoch im Vorfeld ein glaubwürdiger und vertrauenswürdiger Erzähler etabliert wurde, fördert schon allein eine implizit verbleibende Textstruktur die Übernahme dieser Meinung oder dieses Urteils durch den Rezipienten, da dieser den Argumenten der Erzählerfigur weitgehend bereitwillig folgt.128 An die ratio des Rezipienten appellierende explizite Imperative verbinden den direkten Aufruf zur entsprechenden Rezeptionsreaktion mit einer Begründung für diese geforderte Reaktion und auch hier dürfen wir von einer stark lenkenden Wirkung ausgehen.129 In empathielenkenden Erzählerkommentaren kann die Erzählerfigur nun aufgrund der spezifischen Eigenschaften von Empathie die Emotionen der Figur teilen oder Verständnis für ihre Motivationen demonstrieren.130 Mitleidlenkende Erzählerkommentare drücken entsprechend die Anteilnahme des Erzählers aus bzw. rufen den Rezipienten explizit zu Mitleid auf.131 Von sympathielenkenden Kommentaren sprechen wir dann, wenn der Erzähler wertende Kommentare zu Figuren und Figurenverhalten in Form von Lob und Kritik äußert oder Figurenverhalten legitimiert, indem die oben bereits erwähnten angegebenen Gründe für das Verhalten einer Figur zu einer Rechtfertigung ihres eventuell umstrittenen Handelns führen. Auch wenn eine Legitimierung von umstrittenem Verhalten dieses zwar nicht immer ins Positive umwenden kann, so beweist sie doch das Bestreben des Erzählers, die Figur zu entlasten und ihr zu einer Wertschätzung durch den Rezipienten zu verhelfen.
_____________ 128 So lässt sich der Rezipient wohl relativ leicht von der Tugendhaftigkeit des jungen Vivianz im Willehalm überzeugen. Hier stellt der Erzähler allein dar, dass Vivianz höchste Tapferkeit und höchster Ruhm zuzuschreiben sind (sin verh was wurzel siner tugent:/ waere daz gewahsen hoch sam sin pris,/ sone möhte er deheine wis/ mit swerten niht erlanget sin; W48, 25-28). Aufgrund seiner Glaubwürdigkeit kann dies der Rezipient gleichsam als vom allwissenden Erzähler formulierte ‚Wahrheit‘ übernehmen. 129 Beispielsweise folgt im Willehalm die Aufforderung an die Rezipienten, Rennewart höher zu achten, auf eine rational nachvollziehbare Argumentation: der die starken stangen dans,/ dan habt ir tumber danne ein rint:/ er was doch des richsten mannes kint,/ der bi den ziten krone truoc./ die rede lat sin (W302, 14-18). 130 Im Vorfeld wurde definiert, dass sich die Bewusstseinsinhalte, die bekannt sein müssen um Empathie zu entwickeln, maßgeblich aus der Emotionslage und den Handlungsmotivationen des Gegenübers zusammensetzen. 131 Das demonstrierte Mitleid von Seiten der persönlichen Erzählinstanz wertet auch Koch „als Emotionalisierungsstrategie […], die auf einer weiteren Ebene die Rezipienten involviert, denn im Sinne der klassischen Rhetorik soll der Redner Emotionen zeigen, wenn er diese beim Publikum erregen will" (Koch 2006: 96; Koch verweist dabei auf Quintilian, Institutio Orationis, Buch VI, 26-36). „Affekte können demnach dann besonders effektiv erzeugt werden, wenn der Redner sich durch seine Phantasie in die entsprechende Stimmung hineinversetzt“ (Koch 2006: 96, Fußnote 45).
78
II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen
Im Gegensatz zu den Lenkungsmöglichkeiten des unpersönlichen Erzählers, die in weiten Teilen sehr subtil sind, konfrontiert die Erzählerfigur den Rezipienten in den lenkenden Kommentaren deutlich mit der erwarteten Rezeptionsperspektive. Die Entscheidung, inwieweit die Texte primär auf implizit oder explizit sympathielenkende Erzählerkommentare zurückgreifen, bewirkt einen unterschiedlichen Grad an Explizität der Empathielenkung überhaupt, den wir in der Analyse für die drei Texte bestimmen müssen. 2.5 Ebene der Figurenreden (E3) Mit der dritten Empathielenkungsebene trennen wir uns formal deutlich von der Stimme des Erzählers. Obwohl erzählerische Vermittlung auch hier natürlich nicht aufhört, wird das Wort doch deutlich an die Figuren abgegeben, wodurch „die Präsenz des Erzählers in einzelnen Passagen bis auf Null“ reduziert sein kann.132 In den meisten Figurenreden liegen enorme empathielenkende Potentiale, auf die die Forschung bisher nicht hingewiesen hat: So fördern alle Figurenreden, die nicht rein handlungsberichtend eingesetzt sind – und das ist der Großteil – durch ihr bloßes Vorkommen und unabhängig von den transportierten Inhalten Empathie, denn sie gewähren in den verschiedensten Formen Einblicke in das Figurenbewusstsein. Zudem eignen sie sich auf hervorragende Weise, um Rezipientenmitleid hervorzurufen, denn schließlich kann keine Leidbeschreibung so effizient und überzeugend sein wie die aus dem Munde der Figur selbst. Und auch in Bezug auf Sympathie können Figurenreden eigenes Verhalten und eigene Einstellungen begründen und legitimieren und somit den Rezipienten für sich einnehmen. Als Figurenreden betrachten wir im Rahmen dieser Ebene Monologe, Dialoge, innere Monologe und Soliloquien, indirekt wiedergegebene Rede und Passagen der Psychonarratio. Monologe und Dialoge werden verstanden als Formen direkter Rede, die innerhalb einer Kommunikationssituation zwischen mehreren Figuren laut geäußert werden. Sie verleihen dem Erzähltext unweigerlich einen dramatischen Akzent, so dass der Rezipient den Eindruck bekommt, der Erzähler trete zurück und die Figuren selbst berichteten.133 Soliloquien finden prinzipiell ohne Gegenüber statt, kön-
_____________ 132 Martinez/Scheffel 2005: 47. 133 „Direkte Rede wirkt unmittelbar, der Leser vernimmt wie im Drama die Figur selbst; andererseits unterbricht sie spürbar den Erzählfluss – und dies um so stärker, je ausgedehnter sie ist“ (Vogt 1990: 151).
2. Entwicklung eines Analysemodells
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nen gesprochen oder gedacht sein.134 Die Psychonarration gibt sowohl Gedankenberichte der Figuren wieder als auch von der Figur selbst nicht verbalisierte Bewusstseinsschichten. Sie macht die verborgenen Seiten der Figuren transparent – verborgen insofern, als sie für andere Figuren innerhalb der erzählten Welt nicht unmittelbar zugänglich sind.135 Für die Figurenreden gilt, dass ihr bloßes Auftreten einen Einblick in das innere Erleben der Figuren ermöglicht. Sobald die Figur nicht allein handlungsberichtend spricht, erfährt der Rezipient, ohne dass uns an dieser Stelle seine Bewertung interessiert, von den Emotionen und Motivationen derselben: Empathie kann entstehen. Dabei ist jedoch der Kontext der Redeszene von enormer Bedeutung: Wir können davon ausgehen, dass eine Figur in Autokommunikation (z.B. Willehalm in einem Soliloquium allein auf dem Schlachtfeld) und etwas eingeschränkter auch im Kreis engster Vertrauter (z.B. Willehalm mit Gyburc allein) wohl tatsächlich ihr ehrliches inneres Empfinden ausdrückt. In öffentlichen Situationen oder weniger vertrauten Figuren gegenüber besteht dagegen immer die Möglichkeit der Lüge, das heißt des zweckorientieren Vortäuschens falscher Emotionen und Motivationen. Da aber auch das Lügen in literarischen Texten so konzipiert sein muss, dass der Rezipient die Figur früher oder später durchschauen kann, liegt auch hier ein empathieförderndes Moment – freilich kein sympathie-, sondern ein antipathieförderndes – vor. Somit ist auch auf dieser Textebene die Entscheidung, inwieweit Empathie gefördert wird, allein aus der quantitativen Verteilung von Figuren-
_____________ 134 Hübner argumentiert überzeugend für die Verwendung des Terminus ‚Soliloquium‘ (auf Augustinus zurückgehend) im Gegensatz zu ‚innerer Monolog‘, wobei sich die Abgrenzung dadurch ergibt, dass die sprechende Figur beim Monolog nicht zwingend allein sein muss, während sie in der Situation des Soliloquiums ohne Gegenüber spricht. „Der Begriff Monolog schließt im üblichen mediävistischen Gebrauch dagegen oft auch Ansprachen ein und ist deshalb weiter“ (Hübner 2003: 49). Wiehl 1974 und 1990, ebenso wie Walker 1928 sprechen von Monolog nur in einer Situation des Selbstgesprächs; auch hier wäre jedoch ein begriffliche Abtrennung von Vorteil. Der Terminus der ‚Psychonarratio‘ geht auf Cohns psycho-narratio zurück (vgl. Cohn 1978). Im Deutschen kann man von Gedankenbericht oder Bewusstseinsbericht sprechen, wobei Cohns psycho-narratio insofern etwas weiter gefasst ist, als er berücksichtigt, dass im Rahmen dieser Erzählform auch all die Vorgänge im Bewusstsein von Figuren sprachlichen Ausdruck finden können, die sich jenseits von klar formulierten Gedanken bewegen. Um im Bereich der fokalisierenden Techniken möglichst einheitlich zu bleiben, greife ich auch hier auf den von Hübner ebenfalls gewählten Begriff der ‚Psychonarratio‘ zurück (vgl. Hübner 2003: 46). 135 Übersetzt nach Cohn 1978: „revealing the hidden sides of human being“ (Cohn 1978: 5) und „transparency of the human mind“ (Cohn 1978: 7). Ein Beispiel ist die über Psychonarratio ausgedrückte Innensicht in den Christen Bertram, der in der Schlacht am liebsten umgekehrt wäre, wenn das nicht Schande für alle Franzosen bedeutet hätte (wan er vorhte, ez solde schenden/ al die Franzoyse; W41, 24f).
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II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen
reden ableitbar: Je öfter eine Figur das Privileg erhält, selbst zu sprechen, desto leichter kann sich der Rezipient einfühlen. Ob er diese gewonnenen Innensichten dann positiv oder negativ bewertet, muss im Folgenden beleuchtet werden. Dabei ist in diesem Bereich der Empathieförderung von einer Gleichwertigkeit der verschiedenen Redeformen auszugehen, denn Innensicht kann in allen Formen gleichermaßen geäußert werden. Die qualitative Ausgestaltung, d.h. die inhaltliche Füllung dieser Figurenreden entscheidet schließlich darüber, inwieweit über die empathiefördernde Wirkung dem Rezipienten zusätzlich Mitleid und/oder Sympathie nahegelegt wird. Dies geschieht dann, wenn Figuren entweder ihr eigenes Leid oder das eines anderen formulieren (Mitleid für die Figur selbst oder die thematisierte leidende Figur) bzw. wenn sie Inhalte ausdrücken, die vom Rezipienten automatisch positiv bewertet werden (Sympathie). Die höchste Intensität der Lenkungskraft erreichen dabei jedoch die Soliloquien und Psychonarrationes, die auch allein als Fokalisierungstechniken gelten.136 Zum einen sieht sich hier der Grad der Unmittelbarkeit auf ein Maximum gesteigert, denn die Stimme des Erzählers muss sich nicht einmal durch Inquitformeln oder Arrangement des Dialogwechsels bemerkbar machen, sondern kann sich ganz zurückziehen. Über dieses Maximum an Unmittelbarkeit hinaus erreicht auch der Effekt der Aufrichtigkeit einen Höhepunkt, denn im Gegensatz zu dialogischen Äußerungen finden Soliloquien ohne Zuhörerschaft statt und Psychonarrationes werden gar nur gedacht. Wenn im Dialog nie ein Zweifel daran besteht, dass allein die Inhalte geäußert werden, die der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen, bilden Soliloquien und Psychonarrationes allein die Gedanken der denkenden oder sprechenden Figur ab und bewirken dabei einen maximalen Effekt der Aufrichtigkeit. Der Rezipient gewinnt den Eindruck, dem innersten Empfinden einer Figur in absoluter Ehrlichkeit zu folgen. Gerade in den längeren Soliloquien kann der Erzähler Figuren fast rhetorische Höchstleistungen verbringen lassen, um die Sympathie des Hörers/Lesers zu gewinnen. Entsprechend häufig stehen Monologe an entscheidenden Wendepunkten des Geschehens und kennzeichnen auch für die Sympathieurteile des Rezipienten schwierige Momente.137
_____________ 136 Hübner bezeichnet die Soliloquien als Form „synthetischer“ Bewusstseinsdarstellung, d.h., dass die Erzählerstimme bis auf ein Minimum zurückgenommen ist (vgl. Hübner 2003: 63). 137 „Gemeinhin faßt der mittelalterliche Dichter die Gedanken und Gefühle der Protagonisten in Monologe, zeigt oft ein ‚inneres Argumentieren‘ und Abwägen bis zur Reifung der Entscheidung […]. So stehen Monologe in den Epen dieser Epoche häufig an bedeutsamer Stelle, oft als Handlungswendepunkt im Zentrum einer Episode oder eines Erzählabschnittes, doch auch am Beginn und/oder Ende eines inhaltlichen und redeszenischen Komplexes“ (Wiehl 1990: 97). Auch die Shakespeareforschung verweist im Dramenkontext auf die Bedeutung von Monologen für die Sympathielenkung: Der dramatische Monolog dient da-
3. Zusammenfassende Darstellung und weiteres Vorgehen
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3. Zusammenfassende Darstellung und weiteres Vorgehen Das mit diesen Schritten entwickelte Analysemodell deckt die konstitutiven Elemente eines narrativen Textes ab und erlaubt es, diese nach ihrer empathielenkenden Wirkung zu bewerten. Dafür müssen die aufgezeigten empathie- mitleid- und sympathiefördernden Techniken auf ihr Vorkommen im Text und oft auch auf ihre konkrete inhaltliche Gestaltung überprüft werden. Denn Empathie wird häufig allein über die Verwendung der Erzähltechnik gefördert (vgl. E1 und E3, wo in Bezug auf Empathie die quantitative Verteilung der narrativen Strukturen erhoben wird), während die definierten narrativen Techniken, um mitleid- bzw. sympathiefördernde Funktion zu übernehmen, entsprechende inhaltliche Konkretisierungen aufweisen müssen. In seiner Form ist das vorliegende Modell sowohl ein narratologisches (weil es von narrativen Strukturen ausgeht), rezeptionsästhetisches (weil die potentielle Wirkung dieser Strukturen auf den Rezipienten erschlossen werden soll) und ein kulturwissenschaftliches (weil es auch die inhaltliche Gestaltung der narrativen Strukturen und deren mögliche Bewertungen durch einen zeitgenössischen Rezipienten betrachtet). Im Folgenden wird nun die Anwendung auf die drei ausgewählten Texte das Funktionieren des Modells überprüfen. Die einzelnen Analyseschritte und eine abschließende Endauswertung müssen es möglich machen, ‚Empathielenkung‘ in ihren textübergreifenden Gemeinsamkeiten, aber auch in ihren Spezifika zu beleuchten und darüber hinaus die vom Text geförderten potentiellen Rezeptionsreaktionen auf einzelne Figuren und Figurengruppen nachzuvollziehen und nuanciert zu beschreiben. Ab wann die Anwendung empathiefördernder Techniken tatsächlich empathieauslösende Funktion hat, kann letztlich nicht beantwortet werden. Wir können jedoch davon ausgehen, dass sich maximale Empathie-, Mitleid und Sympathieförderung über eine maximale Konzentration empathie-, mitleid- und sympathiefördernder Strukturen auf eine Figur bzw. Figurengruppe vermitteln lässt. Über den Grad der Systematik und Kohärenz im Rahmen der Verwendung empathiefördernder oder –verweigernder Strukturen sind demnach die maßgeblich wirkenden Textstrategien erfassbar. Die folgende Darstellung synthetisiert das entstandene Analysemodell und beschreibt gleichzeitig das weitere Vorgehen in seinen wichtigsten Schritten:
_____________ bei als Identifikationsangebot für pure miterlebende Sympathie, für existentielles Interesse an Motivationen und inneren Erfahrungen einer Dramengestalt (vgl. Matthews 1978: 41).
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II. Das empathielenkende Potential narrativer Strukturen
E1: Analyse der empathielenkenden Strukturen im epischen Bericht 1. Empathielenkende Strukturen
- Raumfiltertechnik - Innensichtdarstellungen (quantitativ) > Körperzustände, Mimik, Gestik > Emotionsberichte - Überprüfung der Innensichtdarstellungen (qualitativ) auf die inhaltliche Füllung ‚Leid‘
2. Mitleidlenkende Strukturen
Im Willehalm In Aliscans In der Hystoria Im Willehalm In Aliscans In der Hystoria
3. Sympathielenkende Strukturen
- Überprüfung der Innensichtdarstellungen (qualitativ) auf wertschätzungsfördernde inhaltliche Füllung - Primacy-Effect - Analepsen und Prolepsen - Beschreibungen > Räume > Figurenhandlungen > Figurenbeschreibungen (über Figurenaussehen, Figureneigenschaften, Figurenbezeichnungen)
Im Willehalm In Aliscans In der Hystoria
E2: Analyse der empathielenkenden Strukturen auf der Ebene der persönlichen Erzählinstanz 1.Empathielenkende Strukturen
2. Mitleidlenkende Strukturen
3.Sympathielenkende Strukturen
- über impliziten Imperativ empathiefördernde Kommentare - über expliziten Imperativ empathiefördernde Kommentare
Im Willehalm
- über impliziten Imperativ mitleidlenkende Kommentare - über expliziten Imperativ mitleidlenkende Kommentare
Im Willehalm
- über impliziten Imperativ sympathielenkende Kommentare - über expliziten Imperativ sympathielenkende Kommentare
Im Willehalm
In Aliscans In der Hystoria
In Aliscans In der Hystoria
In Aliscans In der Hystoria
E3: Analyse der empathielenkenden Strukturen in den Figurenreden 1. Empathielenkende Strukturen
- quantitative Verteilung der Figurenreden auf die einzelnen Figuren und Figurengruppen
Im Willehalm
2. Mitleidlenkende Strukturen
- mitleidlenkende Reden der einzelnen Figuren und Figurengruppen
Im Willehalm
3.Sympathielenkende Strukturen
- sympathielenkende Reden der einzelnen Figuren und Figurengruppen
Im Willehalm
In Aliscans In der Hystoria In Aliscans In der Hystoria In Aliscans In der Hystoria
III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen Wenden wir uns der Analyse der drei ausgewählten Texte Aliscans, Willehalm und Hystoria von dem wirdigen ritter sant Wilhelm zu, so ist als Ausgangsbasis noch einmal festzuhalten, dass diese sich als drei Bearbeitungen ein und desselben Stoffes in ihrer inhaltlichen Struktur (und damit im groben ‚Was‘ der Erzählung) in weiten Teilen gleichen: In den drei Texten wird eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Christen (angeführt von Willehalm) und Heiden (angeführt von Terramer und Tybalt) thematisiert.138 Auslöser für diesen Krieg ist die Ehe zwischen Willehalm und Gyburc, der ehemaligen Heidin Arabel, die wegen ihrer Liebe zu Willehalm und ihrer Konversion zum christlichen Glauben ihre Familie und ihren ersten Mann Tybalt verlässt. Ein von Tybalt und Terramer (Gyburcs Vater) geführtes riesiges Heidenheer greift deswegen Orange, die Heimat Willehalms, an. Die erste große Niederlage der Christen ist unabwendbar. Im Anschluss steht die Anwerbung eines neuen, größeren und schlagkräftigeren christlichen Heeres für eine zweite Schlacht, aus der die christliche Partei schließlich als Sieger hervorgeht. Die Heiden ziehen sich daraufhin aus Südfrankreich zurück.139 Doch auch wenn alle Texte mit diesen Grundelementen arbeiten, so führen sie ihre Rezipienten zu deutlich differierenden Rezeptionseindrücken, was vor allem an der Vermittlung der Heidengruppe ins Auge fällt: Aliscans gilt als Beispiel einer klaren Christen-Heiden-Opposition in der Tradition des Rolandsliedes. Wolframs Willehalm dagegen steht für Humanität und Toleranz in der Heidendarstellung. Die Hystoria wiederum scheint in eine klare Abwertung der Vertreter der anderen Religion gleichsam
_____________ 138 Die Hystoria enthält noch eine Vorgeschichte (Bearbeitung der Arabel Ulrichs von dem Türlîn) und eine Fortsetzung (Bearbeitung des Rennewart Ulrichs von Türheim). Allerdings sind die drei Teile im Handschriftenbild durch Inkunabeln deutlich voneinander abgegrenzt – ein Zeichen, dass sich der Bearbeiter der drei verschiedenen Textgrundlagen für sein summarisches Werk bewusst war –, so dass eine Betrachtung des Mittelteiles auch allein durchaus begründbar und sinnvoll erscheint. 139 Die Vorgeschichte der Kriege, nämlich der Übertritt der Heidin Arabel zum christlichen Glauben und ihre Heirat mit Willehalm, erschließt sich in Aliscans und im Willehalm lediglich aus kurzen Rückblicken bzw. nimmt in der Hystoria einen anderen Textteil ein.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
zurückzufallen.140 Demnach können es Stoff und Handlungsstruktur, die allen drei Texten gemeinsam sind, allein nicht sein, die den Rezipienten beeinflussen. Als ‚Wege‘ zu diesen differierenden Rezeptionseindrücken müssen vielmehr die empathielenkenden Strukturen der Texte gelten, die den Rezipienten zu einer emotionalen und rationalen Einstellung den verschiedenen Figuren und Figurengruppen gegenüber führen: Diese hängt weniger von den dargestellten Inhalten als von der erzählerischen Vermittlung ab, denn letztere hat durch die vielfältigen Techniken der Empathielenkung die Macht, eine Einfühlung in alle Figuren zu bedingen, Mitleid mit ihnen zu fördern, die Sympathie des Rezipienten zu wecken oder zu zerstören. Die folgende Analyse versucht die von den Texten signalisierten Rezeptionsperspektiven anhand der im vorhergehenden Kapitel ausgewählten, potentiell empathielenkenden Strukturen nachzuzeichnen und dabei, immer in Rückbezug auf die ‚großen Fragen‘ des Willehalm, besonders die Vermittlung der Heiden und des Helden Willehalm (bzw. Guillaume bzw. Wilhelm) zu verfolgen.141
1. Empathielenkung auf der Ebene des epischen Berichts (E1) Im Rahmen der Analyse der ersten Empathielenkungsebene (E1) stehen all diejenigen potentiell empathielenkenden narrativen Strukturen zur Betrachtung, die dem epischen Bericht durch eine allwissende unpersönliche Erzählerstimme zuzuordnen sind. Passagen dieser Ebene, die im Allgemeinen den größten Teil eines Erzähltextes einnehmen, können aufgrund ihres handlungswiedergebenden Charakters den Eindruck einer objektiven Berichterstattung und damit einer neutralen Vermittlung der Figuren entstehen lassen. Dabei darf man jedoch nicht vergessen, dass der Erzähler im epischen Bericht niemals alle Figuren der erzählten Welt gleichberechtigt vermitteln kann. Vielmehr ist er gezwungen, für den Rezipienten aus der komplexen abzubildenden Welt bestimmte Eindrücke zu selektieren,
_____________ 140 Diese drei grundlegenden Rezeptionsperspektiven finden sich im ersten Kapitel dieser Arbeit ausführlich dargestellt. 141 Die ausführliche Beschäftigung mit weiteren interessanten Figuren, wie z.B. mit Rennewart, kann aufgrund des begrenzten Rahmens der vorliegenden Arbeit nur insoweit erfolgen, als sie zur Einschätzung der Christen- bzw. Heidengruppe beiträgt. Der Willehalm Wolframs von Eschenbach soll in den folgenden Kapiteln stets im Zentrum der Analyse stehen, da er mit Sicherheit den problematischsten Text darstellt: Seine komplexe Erzählstruktur wird von der Forschung ebenso betont wie die Unmöglichkeit, ihn einer Gattung oder einer eindeutigen Rezeptionsperspektive zuzuordnen. Eine kompaktere Analyse der Texte Aliscans und Hystoria kann im Anschluss auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufmerksam machen.
1. Empathielenkung auf der Ebene des epischen Berichts (E1)
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die wiederum für diesen Rezipienten den einzigen Zugang zur erzählten Welt und damit auch zu den Figuren darstellen. Welche Figuren der Text im Rahmen dieses epischen Berichts insofern begünstigt, als er empathie-, mitleid- oder gar sympathiefördernde Signale aussendet, muss eine detaillierte Textbetrachtung zeigen. In Anlehnung an die im vorhergehenden Kapitel erarbeiteten Analysekategorien ergibt sich folgendes Vorgehen: Die Frage nach der Lenkung grundständiger Empathie, die dann wiederum die Grundlage für eventuelles Mitleid und eventuelle Sympathie darstellt, erfordert eine Analyse derjenigen Strukturen, die dem Rezipienten ein Hineinversetzen in die Figur – aufgrund Vermittlung ihrer Emotionslage und/oder ihrer Handlungsmotivationen - ermöglichen. Als solche betrachten wir die Raumfiltertechnik und vor allem die vom Text gewährten Innensichten in das innere Erleben bestimmter Figuren. Allein der Einsatz dieser Techniken (unabhängig von ihrer inhaltlichen Gestaltung!) kann als empathiefördernde Maßnahme zugunsten einer Figur verstanden werden. In der Frage nach der Lenkung von Rezipientenmitleid müssen wir die somit quantitativ erhobenen Innensichten daraufhin überprüfen, inwieweit sie qualitativ so gestaltet sind, dass sie beim Rezipienten Mitleid für eine Figur hervorrufen können, das heißt, inwieweit sie Figurenleid thematisieren. Die Frage nach Sympathielenkung verlangt schließlich die Untersuchung narrativer Strukturen auf ihr sympathieförderndes Potential hin: Dabei müssen zunächst ebenfalls die Innensichten zeigen, inwieweit sie beim Rezipienten Wertschätzung hervorrufen können. Darüber hinaus gilt es weitere narrative Techniken zu berücksichtigen, die allein sympathielenkend funktionieren, d.h. die primär auf eine Bewertung der Figuren abzielen, wie z.B. die Bewertung über Räume, über Vorausblicke und über die vom Erzähler selektierten Beschreibungen ihres Handelns, ihres Aussehens sowie ihrer Eigenschaften. Eine Zusammenfassung der Analyseergebnisse kann dann in Rückbezug auf die im ersten Kapitel definierten Leitfragen dieser Arbeit zeigen, auf welche Weise und für welche Figuren und Figurengruppen die drei ausgewählten Texte auf dieser ersten Empathielenkungsebene des epischen Berichts grundständige Empathie fördern und inwieweit sie, auf dieser grundständigen Empathie aufbauend, für bestimmte Figuren zusätzlich Rezipientenmitleid und/oder Rezipientensympathie und damit eine noch intensivere Form der Einfühlung privilegieren.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
1.1 Wolframs Willehalm – Empathielenkung im epischen Bericht Der Willehalm Wolframs von Eschenbach gibt den von der chanson de geste vorgegebenen Stoff in gut 14 000 Versen wieder und ist damit bei weitem der längste der drei ausgewählten Texte. Mit einem Personal von 42 namentlich genannten Christen und 102 Heiden (darunter Rennewart) ist der Text zweifellos bereits auf der Ebene des epischen Berichts (E1) gezwungen, bestimmte Figuren durch die erzählerische Vermittlung zu privilegieren und andere zu benachteiligen. 142 1.1.1 Empathie Raumfilter: Wie geht nun der Erzähler mit seinem potentiell panoramischen und darüber hinaus allwissenden Blick um? Die notwendigerweise selektive Darstellung der erzählten Welt, die eine epische Blicklenkung durch die Erzählinstanz fordert, kann eine wechselnde Fokussierung auf verschiedene Figuren ergeben oder sich so sehr an eine Figur binden, dass ein Raumfilter festgestellt werden kann, das heißt, dass die Raumwahrnehmung des Rezipienten mit der Raumwahrnehmung der entsprechenden Figur zusammenfällt und somit Fokalisierung vorliegt. Damit nimmt der Rezipient die erzählte Welt perspektivisch gebrochen durch die Augen der Figur wahr. Empathie im Sinne eines Hineinversetzens in die Figur ist massiv gefördert. In Bezug auf die epische Blicklenkung Wolframs wird gerade die Schlachtendarstellung aufgrund ihres steten Perspektivenwechsels als „Novum in der mittelalterlichen Erzählliteratur“ betrachtet.143 Inwieweit jedoch für den Rezipienten gleichberechtigende Darstellungen oder Raumfilter auf Einzelfiguren dominieren, kann nur eine Betrachtung des Gesamttextes zeigen. Dieser präsentiert sich, allein nach der Art der epischen Blicklenkung, in vier Erzählblöcken:
_____________ 142 Sowohl Heinzle als auch Schröder geben in ihren Willehalm-Ausgaben im Anhang ein Namensverzeichnis. Willehalms Schwester und zugleich die Gattin des französischen Königs – die Blanchefleur des altfranzösischen Textes – wird bei Wolfram nicht benannt. Als wichtige handlungstragende Figur habe ich sie als 42. Figur aufgenommen. 143 Bumke 1991: 236. Bumke schreibt weiter: „Während sonst hauptsächlich die Großtaten der einzelnen Helden geschildert werden, gibt Wolfram ein genaues Bild vom Verlauf der Schlacht, von den Bewegungen der verschiedenen Truppenverbände und den taktischen Operationen beider Heere.“ Auf Mergells Konzept der ‚Zweischau‘, das eine gleichberechtigende Darstellung von Christen und Heiden feststellt, wurde bereits im ersten Kapitel verwiesen (vgl. Mergell 1936: 10). Das von Kurt Ruh geprägte Bild von Wolfram als versiertem „Kameramann“ wurde ebenfalls bereits im Forschungsüberblick erwähnt.
1. Empathielenkung auf der Ebene des epischen Berichts (E1)
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1) Prolog und Vorgeschichte Der Prolog stellt aus dem Figurenpersonal allein Willehalm und Gyburc vor (W1-5). Die anschließende Vorgeschichte lenkt den Blick ausschließlich auf Willehalm, seine Familie und Gyburc. Willehalms Vater Heimrich und die sechs Brüder werden namentlich vorgestellt (W5-7). Diese Passagen weisen stark einführenden Charakter auf und sind dem eigentlichen epischen Bericht nur bedingt zuzurechnen. Allerdings wird hier deutlich der Fokus auf die christliche Familie gelenkt. 2) Die Schlachtendarstellungen: Erste Schlacht Im Verlauf der ersten Schlacht, die in den Abschnitten 8 – 88 vermittelt wird, können wir in den Abschnitten 8 bis 38 tatsächlich eine gleichberechtigende Darstellung der verfeindeten Gruppen feststellen, bei der eine Fixierung auf bestimmte Einzelfiguren nicht auszumachen ist.144 Vielmehr bewegt sich die ‚Kamera‘ frei im Raum und konzentriert sich auf wechselnde Figurengruppen. Ein Erzählerkommentar im 38. Abschnitt leitet dann jedoch deutlich zu den beiden christlichen Figuren Willehalm und Vivianz über, bei denen der Erzähler abwechselnd verweilt, bis sich die beiden Stränge ab Abschnitt 59 durch die Begegnung Willehalms mit Vivianz vereinen.145 Nach Vivianz’ Tod (W69) verengt sich der Blick der Erzählerkamera noch weiter und folgt in den nächsten 20 Abschnitten dem bald allein überlebenden christlichen Kämpfer Willehalm durch den Raum, bis dieser die Heimatstadt Orange erreicht (W88). In dieser auf Vivianz und Willehalm fokussierenden Textpassage (W39-88) treten zwar auch immer wieder Heiden in das Zentrum des Erzählens, jedoch nur als stets wechselnde Gegner, die sich den zentralen Figuren Vivianz und Willehalm in regelmäßigen Abständen in den Weg stellen. Dabei zeigt sich ein deutlicher Kontrast zwischen einem ständigen Austausch des heidnischen Personals (als wechselnde Gegner) und dem stets gleich bleibenden Fokus Willehalm und Vivianz. Ein Raumfilter kann deshalb in eingeschränktem Maße für Vivianz, in seiner vollen Ausprägung jedoch für Willehalm von Abschnitt 69 bis 88 festgestellt werden.
_____________ 144 Im achten Dreißigerabschnitt beschreibt der Erzähler – nach Prolog und Vorgeschichte – den Heeresaufmarsch und die beginnenden Kampfhandlungen. Es folgen wechselnde Fokussierungen auf das verschiedenste christliche und heidnische Figurenpersonal. Im Abschnitt 89 wiederum erreicht Willehalm nach seiner Flucht als allein übrig gebliebener Christ das heimatliche Orange. 145 W39 fokussiert auf Willehalm, W40 auf Willehalm und Vivianz, W41-49 schließlich auf Vivianz, W50-58 auf Willehalm. Ab Abschnitt 59 sind die beiden Figuren vereint. Der 39. Dreißigerabschnitt markiert auch inhaltlich einen Umbruch: Ab hier wird die bevorstehende Niederlage der Christen deutlich, was sich auch in einer später zu besprechenden Klagerede Willehalms (W39) manifestiert.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
3) Zwischen den beiden Schlachten In der Zeit zwischen den beiden Schlachten, die wir hier von W89 bis W361 ansetzen wollen und die damit gut fünf der neun Bücher (!) einnimmt, folgt der Erzähler – bis auf wenige Ausnahmen direkt nach der ersten und unmittelbar vor der zweiten Schlacht – maßgeblich den christlichen Figuren und darunter wiederum vor allem Willehalm durch den Raum: Der Rezipient begleitet ihn bei seinem Wiedersehen mit Gyburc (W89-95), dem anschließenden Abschied von Orange (W96-105) und bei seiner Reise an den französischen Königshof nach Munleun (W109-126). Zusammen mit ihm wohnt der Rezipient den schwierigen Auseinandersetzungen mit dem Königspaar und der christlichen Familie bei, um dann, nach allgemeiner Versöhnung, ebenfalls mit Willehalm die Welt des Hofes in Richtung Orange zu verlassen (W127-214). Dort treffen die Christen dann konkrete Vorbereitungen für die zweite Schlacht (W223-333). Heiden treten bis auf wenige Intermezzi, die meist Zustandsbeschreibungen darstellen, erst wieder ab W334 verstärkt auf, wo der Text die heidnischen Kriegsvorbereitungen und die Reden Terramers vor der Schlacht quantitativ gleichberechtigt mit den Vorbereitungen der Christen darstellt (W334-361). 146 Insgesamt privilegiert dieser gewichtige Mittelteil des Textes jedoch aus der Sicht der epischen Blicklenkung allein die christlichen Figuren, wobei Willehalm als deutlicher und einziger Raumfilter fungiert. 4) Die zweite Schlacht Der epische Bericht der zweiten Schlacht kehrt ab Abschnitt 362, dem Beginn des achten Buches, zur gleichberechtigten Darstellung zurück: Bis einschließlich Abschnitt 444 springt die Kameraführung zu den verschiedensten Christen- und Heidenkämpfen, wobei auch hier auffällt, dass im-
_____________ 146 Die wenigen Ausnahmen können als ‚Seitenblicke‘ aus der Fokussierung auf Christen heraus verstanden werden: In W96-98 zeigt ein Blick vor die Burg von Orange die entstehende Belagerung Oranges durch zahlreiche Heidenheere. Die Szene bildet aber lediglich ein kurzes Intermezzo in der vorher und nachher beschriebenen Zweisamkeit des Paares Willehalm und Gyburc. In W106-108 folgt ein Blick auf die Seite der Heiden, der eine Zustandsbeschreibung des heidnischen Heeres nach ihrem Sieg bietet. Dabei geht der Text jedoch von Willehalm aus, der sich aus Orange schleicht um Hilfe zu holen (W105, 28ff) und kehrt dann wieder zu diesem mit der Feststellung zurück, dass er sicher die Belagerungsringe um Orange durchdrungen hat (W109, 1f). In den Abschnitten W215223 werden schließlich die Religions-, Droh- und Bittgespräche zwischen Gyburc und ihrem Vater Terramer wiedergegeben, die jedoch auch von Willehalms Angst um Gyburc ausgehen (er sieht aus der Ferne, dass Orange angegriffen wurde: die not gap im bi naht ein viur; W214, 30) und schließlich im Blick auf Gyburc enden (des abends, do man die sterne sach,/ do huop sich Gyburge ungemach; W223, 7f). Die Gespräche zwischen Gyburc und Terramer erläutern somit allein die Ursache für das Feuer, das Willehalm sieht. Wenngleich diese Gespräche von enormer sympathielenkender Bedeutung sind (vgl. Empahtielenkungsebene 3 der Figurenreden), wirken sie sich auf die Vermittlung des Raumes kaum aus.
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mer wieder die bereits bekannte und in ihrer Anzahl doch überschaubare Familie Willehalms agiert, die bereits in der Vorgeschichte, der ersten Schlacht und dem Mittelteil immer wieder um die Erzählzentren Vivianz und Willehalm herum auftauchen. Dieser ‚vertrauten‘ Christengruppe steht eine riesige und damit unübersichtliche Anzahl an Namen heidnischer Kämpfern gegenüber, die meist nur für die Dauer eines einzigen Kampfes, in dem sie besiegt werden oder nach dem sie wieder in der Masse verschwinden, wirklich vorgestellt werden.147 Für die letzten Abschnitte (W445-467) kehrt der Text wieder hauptsächlich zur Perspektive der christlichen Kämpfer zurück, wobei Willehalm erneut das Zentrum ausmacht.148 Insgesamt zeichnet sich deutlich ab, dass der Text in seinen größten Teilen (in über 75% des Gesamttextes)149 die epische Blicklenkung an der Christengruppe und einzelnen Christen ausrichtet und den Raum so über diese privilegierten Figuren vermittelt. Selbst die Beschreibung der Schlachtendarstellung als ‚Zweischau‘, als „objektiv-überschauende Sicht beider Parteien“150, muss insofern modifiziert werden, als der Blick hier vielleicht gleichberechtigt zwischen Christen und Heiden wechselt, inner-
_____________ 147 Von den zwischen den Abschnitten 362 und 444 namentlich erwähnten kämpfenden Christen (insgesamt 16: Willehalm, Heimrich der Schetis, Graf Gandaluz, Ernalt, Gyffleiz, Bernart, Buove, Bertram, Gybert, Heimrich, König von Tandarnas, Kiun, Milon, Kyon, Gibelin, Gerart), die immer wieder auftreten, sind dem Rezipienten mindestens 10 bereits intensiv aus der ersten Schlacht bzw. dem Mittelteil des Textes bekannt (nämlich der engste Kreis der christlichen Familie Willehalm, Heimrich der Schetis, Ernalt, Bernart, Buove, Bertram, Gybert, Heimrich, Gibelin, Gerart). Auf Heidenseite treten mindestens 30 Kämpfer auf (Halzebier, König von Chanach, Tybalt, Ehmereiz, Burggraf Cler, Trohazzabe, Gyboez, Synagun, Turkant, Erfiklant, Poufameiz, Fabors, Gloriax, Malarz, Utreiz, Poydjus, Tedalun, Aropatin, Josweiz, Rubbual, Pohereiz, Trohazzabe, Tenabruns, Malranz, Margot, Gorhant, Ektor, König Rankulat, König von Ascalon, Oukin), die außer Terramer, Tybalt und eventuell Poydjus bisher nicht oder kaum aufgetreten sind und die auch hier nur in wenigen Abschnitten agieren. 148 So besteht auch kein Zweifel daran, dass der Heide Matribleiz im Rahmen dieser Fokussierung auf Willehalm auftritt und nicht selbst Erzählzentrum ist (vgl. W461-467). Dies zeigt sich daran, dass Matribleiz zusammen mit den übrigen gefangenen adligen Heiden zu Willehalm vor das Zelt seines Vaters, also ins eigentliche Erzählzentrum, gebracht wird: si [Willehalm und sein Bruder Bernart] riten und erwurben gar/ swaz uz al der heiden schar/ der hohen da gevangen was,/ daz mans im brahte uf bluomen gras/ Vür Heimriches preimerun (W460, 27461, 1). Im Anschluss steht wieder Willehalm im Zentrum (Willelm der markis/ moht des jehen für hohen pris etc; W461, 2f). Somit sieht sich das bereits wiederholt aufgezeigte Schema reproduziert, nach dem Willehalm den gleichbleibenden Fokus darstellt, auf den wechselndes Figurenpersonal trifft, welches sich im Fall von Christen stets ähnlich, im Falle von Heiden stark variierend präsentiert (vgl. die vorhergehenden Fußnoten). 149 Von 467 Abschnitten können wir von quantitativer Gleichbererechtigung in ca. 112 Abschnitten ausgehen (in den gleichberechtigten Schlachtendarstellungen:W8 bis 38 und W362 bis 444). 150 Mergell 1936: 10.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
halb dieses Wechsels jedoch deutlich Christen privilegiert: Denn einer immer wieder agierenden und dem Rezipienten vertrauten kleinen Christengruppe steht eine so unüberschaubare und gesichtslose Heidenmasse gegenüber, dass sie vom Rezipienten ungleich schwerer individuell wahrgenommen werden kann. 151 Diese Beschränkung auf ein begrenztes, immer wieder aufgegriffenes, überschaubares Figurenpersonal, wie sie für die Christen festzustellen ist, kann als Vorstufe eines Raumfilters betrachtet werden, schließlich stellt das konstante Auftreten einer Figur, die epische Blicklenkung auf sie, eine Grundbedingung für das Funktionieren als Raumfilter dar. Laut Analysemodell sendet der Text Empathiesignale aufgrund epischer Blicklenkung an den Rezipienten erst dann, wenn eine Figur als Raumfilter fungiert. Diese Fokalisierungstechnik ist allein zugunsten von Willehalm (in sehr kurzen Abschnitten auch auf Vivianz) angewendet: In mehr als zwei Dritteln des Gesamttextes folgt der Text ihm durch den Raum. Von Empathieförderung aufgrund der Anwendung eines Raumfilters ist demnach vor allem in diesen Erzählpassagen und damit vor allem in Bezug auf Willehalm auszugehen. Quantitative Distribution der Innensichten: Neben der Anwendung eines Raumfilters besteht die zweite große Möglichkeit, auf dieser Textebene des unpersönlichen Erzählers, Empathie für bestimmte Figuren zu fördern im Gewähren von Innensichten. Als ‚Innensicht‘ wurden im vorhergehenden Kapitel für den epischen Bericht all diejenigen narrativen Strukturen definiert, die dem Rezipienten im weitesten Sinne Figurenemotionen vermitteln.152 Dabei können zum einen bestimmte körperliche Zustände, Mimik und Gesten als Codierungen von nach außen sichtbarem Figurenerleben verstanden werden.153 Zum anderen steht es natürlich dem allwissenden Erzähler offen, das Innere bestimmter Figuren in Form eines Emotionsberichtes zu präsentieren.154 Für Empathie ist dabei allein entscheidend, dass Figuren diese Möglichkeiten der Innensichtdarstellung gewährt wer-
_____________ 151 Über die potentielle Eignung Raumfilterfiguren zu stellen hinaus bietet eine größtenteils gleichbleibende Christengruppe nicht nur die Möglichkeit der unterscheidenden und individuellen Wahrnehmung, sondern vermittelt zudem den Eindruck einer Überlegenheit im Kampf, da wechselndes Personal nicht zuletzt auf Todesfälle in Kämpfen zurückzuführen ist. 152 Der größte und vielleicht auch beeindruckendste Teil der Innensichten wird dem Rezipienten sicherlich im Rahmen der Figurenreden vermittelt, die wir als dritte Empathielenkungsebene (E3) festgesetzt haben. Allerdings kann der epische Bericht die dort gewährten Einblicke durchaus ergänzen und vertiefen. 153 Beispielsweise können körperliche Verwundungen das Leid einer Figur nach außen sichtbar machen. Mimik und Gestik des Lachens wiederum signalisieren Fröhlichkeit. 154 Z.B. des gevelles was er vro (W79, 14; als sich Willehalm über Arofels Sturz freut).
1. Empathielenkung auf der Ebene des epischen Berichts (E1)
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den, weswegen an dieser Stelle allein die quantitative Verteilung der entsprechenden Techniken betrachtet wird. Da kein Rezipient in der Lage ist, während des Rezeptionsverlaufs genaue Zahlenverhältnisse zu erfassen, sind allein solche als Ergebnis aufzunehmen, die aufgrund ihrer Auffälligkeit und Eindeutigkeit ein klares Signal an den Rezipienten senden.155 In der quantitativen Verteilung der über Körperzustände, Mimik und Gesten ausgedrückten Innensichten fällt auf, dass die Anzahl der Textstellen, die Innensichten der Christen nach außen sichtbar machen, etwa viermal so hoch ist wie die, die das Innere der Heidengruppe nach außen vermittelt.156 Unterscheidet man nun noch zwischen unpersönlich auf Gruppen und auf Einzelfiguren angewendeten Innensichten, so müssen wir annehmen, dass letztere eine intensivere Empathielenkungsfunktion übernehmen, da Empathie für eine Gruppe aufgrund deren Heterogenität immer an der Oberfläche bleiben muss, während Empathie mit einer Einzelfigur bis ins Detail möglich ist. Gerade in der Konzentration von empathiefördernden Strukturen auf eine sich von der Gruppe abhebende Einzelfigur ist die intensivste Empathieförderung zu vermuten. Dabei zeigt sich nun, dass auf Heidenseite allein Terramer seine Emotionen mehrfach ausdrückt, während wir für alle anderen Heiden kaum mehr als einen Beleg finden.157 Der zwischen den Figurengruppen stehende Rennewart hingegen vereint mindestens fünf Belege auf sich, und auf Christenseite bekommen alle wichtigen Familienmitglieder mehrmals das Privileg, ihr Inneres zu präsentieren (so Willehalm, Gyburc, Vivianz, Gybert, Heimrich, Alyze etc.).158 Besonders deutlich tritt das christliche Privileg zutage,
_____________ 155 Werden im Folgenden Zahlenwerte für die Verteilung der Innensichten pro Figur und Figurengruppe gegeben, so müssen diese als Richt- und Annäherungswerte verstanden werden. Denn allein die Grenzfälle verhindern in einem doch langen Text wie dem Willehalm letzte Exaktheit. Da für den Rezeptionseindruck aber keinesfalls Einzelzahlen entscheiden, sondern allein große, den Text durchziehende Tendenzen, steht dies den Analyseinteressen keinesfalls entgegen. 156 Der Text präsentiert etwa 70 Innensichten (vermittelt über Körperzustände, Mimik und Gesten) in Bezug auf Christen, aber nur etwa 15 in Bezug auf Heiden. 157 Innensichten in Terramer werden so z.B. über körperliche Verwundung (der admirat wart sere wunt; W443, 13) und über Klagegestik (und klagete ouch vil sere; W9, 12) ausgedrückt. Weitere Beispiele für Terramer finden sich in W356, 2/ 107, 11 und W254, 23. Für die folgenden Heiden konnten nur sehr vereinzelte Belege nachgewiesen werden: Tybalt (W8, 3-11), Oukin (W412, 10f/ 421, 18), Purrel (W430, 9f) und die Söhne des Königs Nubiant (W432, 8). 158 Vivianz’ Schmerzen werden beispielsweise daran deutlich, dass er schwer verletzt ist so daz imz geweide/ uz der tjost übern satel hienc (W25, 24f), dass er ohnmächtig wird (unversunnen lac der werde; W46, 28). Weitere entsprechende Belege für Vivianz finden sich in W47, 30/ 49, 30/ 60/ 65, 2ff/ 65, 17. Auf Willehalm sieht sich die bei weitem größte Anzahl an Belegen vereint, von denen die folgenden nur eine Auswahl bilden: W61, 19/ 56, 10/ 71, 21/ 70, 6/ 146, 16/ 156, 19/ 421, 22-25/ 39, 21-23/ 39, 21-23/ 93, 25f/ 452, 15ff/ 467, 14f/ 231, 2f/ 53, 6-10/ 60, 20/ 69/ 456, 25ff/ 457, 1/ 156, 1/ 229, 22f. Auch Gyburc (vgl. W14, 6f/60/ 268, 3/ 290, 14f/ 228, 26ff/ 229, 3), Heimrich (vgl. W152, 4/ 242, 12f/ 251, 10f/ 252, 25/
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
wenn hier selbst Tieren (Willehalms Pferd Puzzat) und Gebäuden (der Turm Glorjet der Festung Orange) ein emotionales Leben zugestanden wird. 159 Emotionsberichte präsentieren nun noch direkter das Empfinden der Figuren, da der Erzähler dieses dank seiner Allwissenheit explizit benennen kann. In der zahlenmäßigen Distribution zeigt sich, ähnlich wie im Bereich der Körperzustände, Mimik und Gesten, zwar ein Gewähren von Innensichten für Christen und Heiden, jedoch in Form eines deutlichen Ungleichgewichts: Obwohl etwas weniger frappierend, so liegen hier die Innensichtverhältnisse doch immerhin bei 3:1 zugunsten der Christen. 160 Während für Heiden die gewährten Innensichten in gleichem Maße auf die Figurengruppe und die Einzelfiguren verwendet werden, erhalten auf Christenseite mehr als dreimal so viele Einzelfiguren das Privileg ihr Inneres auszudrücken wie die Gesamtgruppe. Damit lässt sich erneut die bereits bei der Analyse des Raumfilters aufgedeckte Textstrategie nachweisen, die daraus besteht, die empathiefördernden Strukturen in Bezug auf Heiden breit zu streuen, in Bezug auf Christen jedoch auf ein immer gleiches Figurenpersonal zu konzentrieren, so dass dem Rezipienten einmal mehr Empathie mit Christen erleichtert und mit Heiden erschwert wird.161 Insgesamt weist die quantitative Distribution der eingesetzten Innensichten so deutliche Zahlenverhältnisse auf, dass eine unübersehbar einseitige Empathielenkung zugunsten der Christen unbedingt festgehalten werden muss. Es wird zwar für beide Parteien, für Christen und Heiden, Empathie gefördert – und natürlich ist diese Empathieförderung für beide Figurengruppen, gerade im Vergleich zu Texten wie dem Rolandslied, auch als Zugeständnis an die Heiden zu bewerten. Doch innerhalb dieser Empathieförderung gewichtet der Text entschieden und konstant zugunsten der christlichen Figurengruppe. Wirklich intensiv wird Empathie über die quantitative Vermittlung von Innensichten vor allem in Bezug auf Willehalm (ca. 45 Belege) und Gyburc (ca. 20 Belege) gefördert. Für weniger
_____________ 292, 2) und Gybert (vgl. W250, 1/ 311, 1-5) vereinen etliche über Körperzustände, Mimik und Gesten ausgedrückte Innensichten auf sich. Rennewart steht schließlich zwischen beiden Gruppen (vgl. W274, 9f /W289, 1/ 285, 5ff/ 292, 2/388, 18f). 159 Puzzat ist sere wunt (W82, 9) und vor Anstrengung mit Schaum bedeckt (von wizem schume drufe gar; W59, 10). In den Zeilen über den Festungsturm Glorjet nu het ouch vil der masen/ diu veste Oransche enphangen (W222, 14f) leite ich die Personifizierung aus masen ab, welches auf menschliche Wunden und Narben hinweist (vgl. BMZ II, Bd. 1, S. 85, Z.21ff; Eintrag mâsen). 160 Für die Heidengruppe können ca. 40 Emotionsberichte belegt werden, für die Christengruppe ca. 120. 161 Die ca. 20 Emotionsberichte für Einzelfiguren sind auf Heidenseite auf mindestens 11 Figuren verteilt, während die ca. 85 Emotionsberichte für Einzelfiguren auf Christenseite ebenfalls nur unwesentlich mehr (ca. 14) Figuren betreffen. Ebenfalls klar begünstigt sieht sich Rennewart mit ca. 15 Emotionsberichten.
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intensive Empathie bieten sich darüber hinaus eine relativ breite Christengruppe, die fast die ganze Familie Willehalms abdeckt, auf Heidenseite allein Terramer an. Vergleichen wir dieses Ergebnis mit den oben gewonnen Erkenntnissen anhand der Raumfilterfunktion, so zeichnet sich bereits an dieser Stelle eine kohärente Empathielenkungsstrategie ab, die vor allem Empathie mit Willehalm, gefolgt von Gyburc und der christlichen Familie, auf Heidenseite bedingt mit Terramer und eventuell mit Tybalt fördert. Die folgenden Analysen müssen nun zeigen, inwieweit diese vom Text ermöglichte Empathie durch gezielte Mitleid- und/oder Sympathielenkung intensiviert wird bzw. inwieweit sich das sich abzeichnende Ungleichgewicht und die Vormachtstellung einzelner Figuren weiter verstärkt. 1.1.2 Mitleid Zur Förderung von Rezipientenmitleid, welches insofern als intensivierte Form der Empathie verstanden wird, als es den Rezipienten die bewegende Emotion des Leides mit Figuren und Figurengruppen des Textes teilen lässt, müssen die oben beschriebenen Innensichten qualitativ in irgendeiner Form Figurenleid vermitteln. Da diese Darstellungen von Figurenleid und auch deren kontextuelle Einbettung in hohem Grade variieren und von einer unterschiedlichen Reaktion des Rezipienten auf die verschiedenen Arten von Leidinszenierungen auszugehen ist, wurden bereits im Rahmen der Begriffsbestimmung des Mitleids die folgenden drei Reaktionsmöglichkeiten des Publikums auf Figurenleid definiert: - moralisch legitimiertes Mitleid (bei vor dem aktivierten Wertehorizont des Modellrezipienten unverdient erfahrenem, als tief vermitteltem Leid), - rein affektives Mitleid (bei oberflächlich dargestelltem Leid) - und rational verweigertes Mitleid bzw. Schadenfreude (bei verdient erfahrenem, als tief vermitteltem Leid). Ohne sofort auf diese Unterscheidungen einzugehen, verblüfft im Willehalm bereits eine erste inhaltliche Auswertung der Innensichten: Denn wenngleich wir seit Aristoteles mit einer gewissen Bedeutung von Figurenleid und Rezipientenmitleid rechnen, so steigert Wolframs Text diese Bedeutung insofern ins Extrem, als das Leid hier anscheinend allein die eigentlich komplexe menschliche Gefühlswelt repräsentieren soll: Denn ein Großteil der Innensichten thematisiert gerade das tiefe Leid der betroffe-
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
nen Figuren und drängt entsprechend alle weiteren manifestierten Emotionen in den Hintergrund.162 Leid abzuleiten aus Zuständen körperlicher Versehrtheit: Um auf Figurenleid zu verweisen, bietet sich zunächst die Beschreibung von Körperzuständen in ihrer Versehrtheit an. Wie bereits theoretisch besprochen wurde, muss in diesem Bereich zusätzlich darauf geachtet werden, ob dargestellte körperliche Verwundungen überhaupt als Leid aufzufassen sind oder vielmehr Zeugnisse heroischer Freude an grausamen Kampfverletzungen darstellen. Dabei gehen wir davon aus, dass für eine leidvolle Vermittlung körperlicher Verwundungen eine gewisse Intensität der Darstellung (ausführlich und/oder wiederholt) und Merkmale von Schwächung und Schmerz unabdingbar sind. Ein so inszeniertes körperliches Leid findet sich im gesamten Text allein in Bezug auf Willehalm und Vivianz realisiert: Nur auf ihrem Weg durch die verlustreiche erste Schlacht geht die Darstellung körperlicher Versehrtheit über Kürze und Einmaligkeit hinaus. Außerdem insistiert der Text so sehr auf Schmerz und Siechtum dieser beiden Einzelfiguren, dass ihre Verletzungen kaum mit heldenepischer Kriegsverherrlichung verwechselt werden können. Da der Text das Leid aus dem tapferen und aufrichtigen Kampf der beiden Figuren herleitet, wird der Rezipient in die Richtung rational nachvollzogenen Mitleids gelenkt, das heißt er erfährt es als ungerechtfertigt. Am beeindruckendsten ist dabei das Siechtum des jungen Vivianz, welches sich von Abschnitt 25 bis hin zu seinem Tod in Abschnitt 69 zieht und von zahlreichen Darstellungsformen körperlichen Leides begleitet wird.163 Aber auch Willehalms körperliches Leid während der ersten, ihn zur Niederlage führenden Schlacht stellt der Text klar heraus.164 In vergleichbarer Weise erhält im gesamten Text keine weitere Fi-
_____________ 162 Alle weiteren Emotionen sehen sich lediglich so punktuell realisiert, dass sie für den Text und dessen Empathielenkungsstrategien kaum relevant sein können. Aus Gründen der Vollständigkeit sei hier nur erwähnt, dass von diesen für den Text sekundären Emotionen fast ausschließlich Christen profitieren: Sie zeigen punktuell die Empathieemotionen von Freude und Erleichterung (z.B. W228, 26ff/ 229, 3/ 243, 19f), wobei diese wenigen Momente von der Omnipräsenz des Leidens überlagert werden und somit im Rezeptionseindruck kaum ins Gewicht fallen. Immer wieder demonstriert die christliche Familie auch Vertrauen, Zuneigung und Liebe untereinander (diese Szenen werden im nächsten Unterkapitel als Sympathieauslöser noch näher besprochen). 163 So zeigt die gesamte Passage Schwäche und Todeskampf: Mehrmals bricht Vivianz unversonnen zusammen (z.B.W46, 28), rafft sich jedesmal mit unkreften wieder hoch (W65, 17), heschete vor Schmerz (W65, 2), bis dahin dass des herze tet vil manegen stoz,/ wan er mit dem tode ranc (W65, 4f). Zweifellos können Vivianz’ Verwundungen nicht als heroische Freude am Kampf rezipiert werden; sie provozieren allein Mitleid. 164 So werden vor allem Willehalms Schwäche und seine Verletzungen im Zuge der Flucht nach der ersten Schlacht hervorgehoben: [M]it maneger wunden (W56, 10) trägt ihn sein eben-
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gur das Privileg der Darstellung eines konzentrierten körperlichen Leidens. Wenden wir den Blick auf die Seite der Heiden, so können die lediglich einmaligen Erwähnung der Verletzungen des Königs Purrel, der Söhne des Königs Nubiant und auch Terramers allein auf affektives Rezipientenmitleid abzielen, denn der Eindruck eines tiefen Leidens wird mit keinem Vers erweckt.165 Zudem müssen diese körperlichen Versehrtheiten nicht zuletzt als Bestandteile heroischer Erzählweise, die selbst das mögliche affektive Rezipientenmitleid in Frage stellt, gewertet werden.166 Sie scheinen eher als Ausweis der Heldenhaftigkeit des Gegners, in diesem Fall meist Christen oder Rennewart, zu fungieren.167 Die deutliche Beschränkung intensiver körperlicher Versehrtheit auf das Leid der beiden Christen Willehalm und Vivianz und ihre Ansiedlung im ersten Textteil lassen den Verdacht einer strategischen Nutzung aufkommen: Die exponierten Innensichtdarstellungen in Bezug auf Willehalm und Vivianz scheinen die Funktion zu übernehmen, in dieser für die Meinungsbildung des Rezipienten wichtigen ersten Textpartie das jeden Krieg begleitende körperliche Leid, und damit auch das Mitleid des Rezipienten, auf die beiden christlichen Hauptfiguren und damit auf die Seite der Christen zu ziehen. Natürlich ist Mitleid immer auch mit beiden Kriegsparteien möglich. Die Verteilung der körperlichen Versehrtheit weist für den Moment jedoch in eine andere Richtung.
_____________ falls schwer verwundetes Pferd Puzzat (W59, 9-11/ 82, 9) in stets neue Kämpfe. Aber auch aus der Trauer um seine gefallenen Krieger entsteht körperliches Leid, so verliert er angesichts des scheinbar toten Vivianz alle Kraft und bricht ohnmächtig zusammen (vgl. W61, 18f). 165 Dass die Söhne des Königs Nubiant also verseret (W432, 8) sind, bleibt lediglich eine beiläufige Bemerkung. Auch die Tatsache, dass Terramer nach dem Sieg der Christen sere wunt (W443, 13) von seinen Männern vom Schlachtfeld getragen wird, sieht sich danach nicht weiter thematisiert. Auch körperliche Verwundungen der Gruppen sind lediglich einmal erwähnt. Die Verweise scheinen eher auf das prinzipiell für beide Seiten Leidvolle des Krieges hinzuweisen, ohne jedoch darauf zu insistieren (vgl. etwa Abschnitt 20 für beide Gruppen und W414, 14ff/ 443, 21f für Heiden bzw. W449, 14/ 452, 6 für Christen). 166 Die Schilderung der Verletzungen Purrels (uz munde, uz oren und uz nasen/ daz machet al rot den grüenen wasen; W430, 9f)) soll durch die hyperbolische Darstellung den Rezipienten wohl eher beeindrucken als mitleidig erregen. Die Verletzung allein ist vor dem Hintergrund mittelalterlichen Kampferlebens kaum als schockierend einzustufen. 167 So ist die in der vorhergehenden Fußnote beschriebene Verletzung des Königs Purrel die Folge eines besonders kraftvollen Schlages durch Rennewarts Stange. Dass es mehr auf die Darstellung dieses ungewöhnlichen Schlages als auf ein eventuelles Leid Purrels ankommt, unterstreichen die Längen der entsprechenden Textpassagen: In 18 Versen wird der Schlag Rennewarts beschrieben: gein dem schilte grüener dann ein gras/ diu stange hohe wart erzogen […] da wart ungesmeichet/ helm und schilt erreichet/ mit einem also starkem swanc,/ daz diu stange gar zerspranc […] Wan daz harnasch würmin,/ der künec Purrel müeste sin/ von dem slage gar zerstoben (W429, 16-430, 3). Die Verletzung Purrels wird dagegen allein in drei Versen thematisiert (vgl. 430, 8ff). Der Text scheint eher das Interesse des Rezipienten an der Stärke Rennewarts und dessen ungewöhnlichen Waffen zu befriedigen als Mitleid mit Purrel zu fördern.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
Leid abzuleiten aus Mimik und Gestik: Im Bereich von leidvermittelnden Formen der Mimik und Gestik spielt vor allem das Klagen eine bedeutende Rolle, da es zum einen als Verb oder Nomen (klagen; klage) direkt auftritt und zum anderen als kodifiziertes und ritualisiertes Element mittelalterlicher Literatur einen Großteil des mimisch und gestisch ausgedrückten Leides in sich vereint (Weinen, Händeringen, Ohnmacht etc. im Rahmen der klage).168 Im Willehalm liegt dabei ein eindeutiges Hauptgewicht auf dem Oberbegriff des Klagens (in Form des mhd. klagen) und dem spezifischeren Weinen (in Form des mhd. weinen). Neben Gruppenklagen beider Kriegsparteien erscheinen erneut Terramer auf Heidenseite und Willehalm und Gyburc auf Christenseite als Hauptklagende. Versuchen wir nun in Anlehnung an die oben beschriebenen verschiedenen Reaktionsmöglichkeiten des Rezipienten auf Leiddarstellungen im Text diese Klagemomente einzustufen, so zeigt eine Betrachtung des Kontextes der leidvermittelnden Passagen, dass sowohl Christen als auch Heiden wegen des Krieges generell und der vielen Toten in ihren Reihen leiden und dass damit das Leid beider Parteien wohl für den zeitgenössischen Rezipienten nachvollziehbar ist. 169 Betrachten wir jedoch die Art des durch das Klagen ausgedrückten Leides von Christen und Heiden ein wenig detaillierter, so fällt auf, dass christliches Leid nur zum Teil aus persönlicher Trauer wegen des Krieges und der Toten entsteht, während dies auf Heidenseite den Normalfall darstellt. Auf Christenseite entsteht darüber hinaus, und dieser Auslöser überwiegt, Klagen immer wieder aus Mitleid mit der Christengruppe schlechthin oder mit einzelnen Vertretern. Als bezeichnende Textstelle kann das Klagen Willehalms gelten, in dem deutlich wird, dass er mehr mit der lebenden Gyburc leidet als wegen der Toten: er klagete daz minnecliche wip/ noch mere danne sin selbes lip/ und danne die vlust sines künnes (W39, 21ff). Selbstbezogenes Leid sieht sich so häufig ersetzt durch Mitleid, und dieses Mitleid mit dem Le-
_____________ 168 Dabei wird klagen hier zunächst in seiner Wortlosigkeit, das heißt allein als Verb, welches für Einsatz von Mimik und Gestik steht, verstanden. Berücksichtigung finden allein die Textpassagen, die keine Figurenrede einleiten (diese sehen sich im Rahmen der dritten Empathielenkungsebene E3 der Figurenreden aufgegriffen). 169 Denn das Leid um in kriegerischen Auseinandersetzungen Gefallene darf für das mittelalterliche Leben als konstitutiv angenommen werden. Nur so kann sich auch die Totenklage in ihrer ritualisierten Form seit dem frühen Mittelalter etablieren (vgl. Kap. B.I.2). So sitzt Terramer in W356, 2 u.a. wegen der Trauer um viele Tote al klagende uf sinem matraz (vorher gab er in seiner Rede als einen Grund an: daz ich so manegen werden lip/ uz mime geslehte alhie verlos; W354, 12f). Und auch in der ersten Schlacht klagt Terramer schon aus demselben Grund (vgl. W107, 11). Entsprechend klagt auch Willehalm häufig, z.B. in W93, 25ff, als er Gyburc erzählt, dass alle Verwandten gefallen sind und in Folge berichtet wird: der marcrave begunde klagen.
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benden birgt immer das Potential in sich, dem Nächsten zu helfen und damit misericordia zu sein.170 Damit wird in den über Mimik und Gesten ausgedrückten leiddemonstrierenden Innensichten den Christen ein ihnen eigener Leidauslöser zugesprochen, der sich nicht als Klagen um jemanden oder über etwas, sondern als Klagen mit jemandem, d.h. einem Klagen aus religiös motivierter triuwe und damit als Mitleid und Barmherzigkeit definieren lässt.171 Darüber hinaus zeigt sich eine weitere auffällige Privilegierung der Christen in einer Sonderform des mimisch und gestisch vermittelten Leides, des Weinens. Hier sieht sich die konstante überwiegende Konzentration auf christliche Figuren ins Extreme gesteigert, denn während unter Christen mehr als häufig und ausgiebig Tränen fließen, weinen Heiden schlicht und einfach nicht.172 Bevor diese auffällige Restriktion bewertet werden soll, seien die Umstände des Weinens der Christen beleuchtet: Dieses begegnet dem Rezipienten eindrücklich sowohl im Rahmen eines
_____________ 170 Solche kontextuell als Mitleidsklagen einzustufenden Klagen der Christen als Gruppe treten im gesamten Text häufig auf, wenn mehrere Christen mit dem Leid eines Mitchristen konfrontiert sind. Auf der Seite der Heiden finden sich dafür keine Entsprechungen. So nimmt der gesamte Festsaal in Orange an Gyburcs Leid teil: da was tiure/ der man der niht enklagete/ daz diu küneginne da sagete (W259, 16ff). Dabei unterstreichen klassische Klagegebärden das kollektive Leid: da wart an den stunden/ manec edeliu hant gewunden,/ daz si begunden krachen (W152, 5ff). Auch unter den persönlich Leidenden ist diese Form der Klage am ergreifendsten; auch hier klagt man nicht um Tote, sondern mit dem lebendigen Nächsten, aus Mitgefühl oder um ihm zu helfen. Zur Mitleidstat führt Gyburcs Klage um Rennwart, dem sein Bart versengt wurde und den sie daraufhin kostbar ausstatten lässt (vgl. W290, 14f). Auch in Bezug auf mimische und gestische Leidvermittlung zeigen sich rückblickend weitere Beispiele: Weniger Ausdrucksformen der Klage, dafür aber gestischer Ausdruck des reinen Mitleids sind die folgenden: Gybert umarmt Gyburc nach ihrer Rede vor dem Fürstenrat (W311, 1-5) und Heimrich ergreift Gyburcs Hand um sie zu trösten (W252, 25). 171 Die Aufforderung zu Mitleid und helfender Tat (= Nächstenliebe/Barmherzigkeit) kann als Grundgedanke des Neuen Testamentes betrachtet werden: vgl. z.B. Lukas 10 (dort besonders das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter 10, 25-37) oder das Gleichnis vom bittenden Freund in Lukas 11, 5-8. Diese sind eine Illustration Jesu des Gesetzes: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst“ (Lk 10, 26f.). Im Rahmen der Begriffsklärung wurde darauf hingewiesen, dass im Mittelalter zwischen compassio und misericordia unterschieden wird, wobei der misericordia für den zwischenmenschlichen Bereich die Höherwertigkeit zugesprochen wird, da sie allein zur tätigen Hilfe anregt und somit über die reine leidende Gefühlsregung der compassio hinausgeht. 172 Die einzige Ausnahme des Weinens einer heidnischen Figur wird dem Rezipienten lediglich indirekt im Bericht Gyburcs vermittelt: under disem venster mir min vater/ sagete, alda er weinde hielt/ und der jamer vreude von im spielt,/ waz hoher mage uns nam der tot (W254, 22-25). Die Situation von Terramers Leid ist damit bereits vorüber, die Mitleidsreaktion deutlich weniger wahrscheinlich. Dennoch muss dieses Weinen Terramers – das in Aliscans noch nicht auftaucht – als Aufwertung des Heiden verstanden werden.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
weinenden christlichen Kollektivs als auch im Rahmen weinender Einzelfiguren, wobei Gyburc und Willehalm klar die Spitze einnehmen.173 Gyburcs Tränen stehen primär für ihre tragische, kriegsauslösende Rolle zwischen Christen und Heiden. Insofern ist Leid mit dieser Figur immer aufs engste verbunden und findet seinen Höhepunkt zweifellos in Gyburcs wiederholten und verzweifelten Tränen in Gegenwart der Familie und der Fürsten vor der zweiten Schlacht.174 Dennoch dürfte dieses, wenngleich bewegende Weinen einer Frau den Rezipienten weniger überraschen als das Weinen des Protagonisten Willehalm, zumal der Text dieses Weinen so intensiv und andauernd darstellt, dass es zu einem festen Bestandteil der Figur wird. Es stellt sich sogar die Frage, inwieweit dieser ‚weinende Held‘ mit dem Ideal des Heerführers noch vereinbar ist. Hier wird die Aktivierung verschiedener Werteparadigmen, wie wir sie für den Willehalm festgestellt haben, erneut zum Problem: Denn das Klagen um Tote im Heldenepos, wie es aus dem Rolandslied beispielsweise bekannt ist, oder das Leid einer Legendenfigur sind positiv zu bewerten. Im Roman jedoch wird tiefes Leid dann problematisch, wenn es zu Verzweiflung und Lähmung des zum Handeln verpflichteten Herrschers führt. Denn damit gerät dieser in gefährliche Nähe zur desperatio, die seit Augustinus in der patristischen, monastischen und scholastischen Tradition als unvergebbare Sünde wider den Heiligen Geist gilt.175 Außerdem entspricht exzessives Klagen nicht dem höfischen Ideal der Mäßigung der Affekte. Vor dem Hintergrund welches Wertehorizontes soll nun der Rezipient das Leiden Willehalms bewerten? Der Text signalisiert dabei erstaunlicherweise, dass er die Tränen seines Helden zu keiner Zeit verstecken will. Über die Ausführlichkeit der Darstellung sowie das wiederholte Auftreten von Weinszenen lässt er zu, dass das Weinen zu einem durchgehenden Merkmal Willehalms wird. Über den toten Vivianz gebeugt, vergießt Willehalm so viele Tränen, bis beidiu ougen saffes bar (W69,28) sind. Selbst nach dem Sieg der zweiten Schlacht macht Willehalms Leid über die Verluste jede Siegesfreude unmöglich: Der Erzähler berichtet uns von so vielen Tränen, dass
_____________ 173 Für das Kollektiv vgl. z.B. W105, 17/ 259, 13-16/ 152, 1ff; für Willehalm vgl. W53, 6-10/ 60, 20/ 69, 24-28 / 456, 25ff / 457, 1/ 156, 1; für Gyburc vgl W93, 8/ 102, 24/ 251, 6ff/ 252, 27/ 268, 3-6/ 310, 30/ 312, 30; weitere weinende christliche Einzelfiguren sind z.B. Ernalt (W120, 28f / 123, 5/ 124, 11), Heimrich (W242, 12f/ 251, 10f), Alyze (W157, 3), Bertram (W171, 18f) und Gybert (W311, 1-5). 174 Vgl. Gyburcs Tränen beim Festessen in Orange: sich huop ein niuwer jamer sider,/ da von ir ougen gaben saf./ daz süeze minneclich geschaf,/ ir antlütze, begozzen wart (W251, 6f). Nach ihrer Rede vor dem Fürstenrat übermannen sie erneut Tränen: sie weinde vil: des twanc si not (W310, 30). 175 Über die Gefährlichkeit der desperatio in Bezug auf literarische Figuren äußern sich u.a. Ohly 1995 und Ernst 2002: 167. Als Quellentexte vgl. Augustinus, Sermo 71, PL 38,Sp.445467 und Matthäus 12, 31f., Marcus 3, 28f. und Lucas 12, 10.
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man sie nicht mehr zählen kann (vgl. W456, 25ff). Dieses Insistieren auf dem Weinen und der Verzicht auf jegliches Verstecken oder Überwinden desselben lässt bereits an dieser Stelle vermuten, dass höfische Bedenken bezüglich dieser Emotion der Hauptfigur kaum anzunehmen sind. Vielmehr ist mit einer Nachvollziehbarkeit dieses Weinens durch den zeitgenössischen Rezipienten zu rechnen, weshalb wir die entsprechenden Passagen als mitleidsfördernd bewerten. Entsprechend beeindruckend und den leidenden Einzelfiguren fast ebenbürtig ist das Weinen des christlichen Kollektivs, welches beschrieben wird, sobald sich größere Gruppen zusammenfinden: Al weinende wird Willehalm aus Orange verabschiedet (W105,17), bei der ersten Familienund Fürstenversammlung in Munleun setzt der Text sogar rhetorische Figuren ein, um die Intensität des durch Weinen manifestierten Leides noch zu unterstreichen: niemen da so herte saz,/ ir neheines herze des vergaz,/ ez eng#be den ougen stiure/ mit wazzer (W259,14ff).176 Wenngleich abschließende Aussagen erst eine Endauswertung treffen kann, können wir für den Moment festhalten, dass das Leiden der christlichen Figuren in aller Tiefe stets betont wird und auch in Bezug auf den weltlichen Heerführer nicht an Macht einbüßt. Das über das Weinen ausgedrückte Leid der Figuren kann vor dem Hintergrund der aktivierten Wertehorizonte insgesamt als unverdient und tief und damit als moralisch legitimierbar und mitleidsfördernd eingestuft werden. Angesichts dieser Omnipräsenz christlicher Tränen stellen wir noch einmal die Frage: Warum dürfen Heiden nicht weinen? Die Antwort muss wohl in der Art der Innensichtvermittlung durch Weinen gesucht werden: Im Vergleich zu jeder anderen Form des Klagens kann das Weinen als Mittel betrachtet werden, welches Figurenleid in maximaler Authentizität nach außen sichtbar macht. Denn „Tränen sind unmittelbarer Beweis wirklich gefühlter Trauer oder signa naturalia in der Terminologie der augustinischen Zeichentheorie“.177 Lesen wir die Tränen der Christen als dieser Gruppe zugestandenes Privileg, so können wir davon ausgehen, dass der Text das Weinen tatsächlich als besonders aufrichtig wirkende – und deshalb wohl überzeugende – Innensichtvermittlung einsetzt, denn bei keiner anderen Technik arbeitet er so stark mit enormem Zugeständ-
_____________ 176 Wie sehr beim Betrachten des Weinens Vorsicht geboten ist, zeigt sich im Weinen der Hofgesellschaft, die von Mitleidlosigkeit in (anscheinend) übertriebene Trauer umschlägt: Dri starke karrosche und ein wagen/ möhtenz wazzer niht getragen,/ daz von der riter ougen weil (W152, 1ff). Hier äußert der Erzähler wohl unverhohlene Ironie gegenüber dem hyperbolischen Stil der Heldenepik und Kritik am Gefühlsumsturz der vorher so feigen Hofgesellschaft (dies sehen auch Greenfield/Miklautsch 1998: 106 so). 177 Koch 2006: 112. Als Beweise von authentisch gefühlter Trauer sieht auch Miklautsch 2000 die Tränen der Figuren (vgl. Miklautsch 2000: 250).
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nis einerseits und extremem Versagen andererseits. Wenn Heiden also nicht weinen, werden sie vom eindrücklichsten, zutiefst menschlichen, ehrlich und aufrichtig wirkenden Leiden ausgeschlossen. Für das aus Mimik und Gesten abzuleitende Leid insgesamt können wir feststellen, dass beide Gruppen um ihre Toten trauern und entsprechend klagen: Diese Form des Klagens müssen wir als ritualisiert bzw. rituell vermuten, sowohl wenn der Einzelne einen Toten aus seinen Reihen betrauert als auch wenn das Kollektif um Gefallene klagt und weint. Individueller und deshalb weniger als Ritual einzustufen sind Willehalms und Gyburcs außergewöhnlich langanhaltend und tief dargestelltes Leiden sowie alle Formen der mitleidigen Anteilnahme, wie sie innerhalb der christlichen Familie immer wieder auftreten. Es scheint sich eine Zweiteilung in ritualisiertes und weniger erwartetes Leid zu ergeben, die weiter zu verfolgen sein wird. Emotionsberichte: Die dritte und letzte Kategorie leidtransportierender und damit potentiell mitleidlenkender Strukturen auf der Ebene des epischen Berichts, die Emotionsberichte, ergänzt den über Körper und Klagegesten vermittelte Eindruck einer Dominanz des Leidens. Auch hier entfällt ein überproportional großer Anteil auf Leidbekundungen, wovon nicht zuletzt die lexikalische Variationsbreite, die ein Paradigma des Leidens aufbaut, zeugt. Bezeichnend für diese Innensichten ist jamer, leit, sorge, herzeser, kummer, herzen not, jamers leide, pin, we etc. der Figuren.178 Wieder werden prinzipiell Christen und Heiden bedacht und wieder zeigt sich neben dem quantitativ weit häufigeren Verweilen bei der christlichen Partei das bereits bekannte, zusätzliche Privileg: Leid in der Form des Mitleides, und noch dazu in der Form des tätigen Mitleides, kann auch hier allein innerhalb der christlichen Familie beobachtet werden.179 Damit lässt sich anhand der Untersuchung der Innensichten auf ihre mitleidstiftende Funktion hin eine durchgehende Textstrategie nachwei-
_____________ 178 Die folgenden Beispiele zu jamer, leit, sorge, herzeser und kummer erheben keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, sondern sollen lediglich die Auswahl der als mitleidlenkend verstandenen Textstellen verdeutlichen: Willehalm spricht zum sterbenden Vivianz mit jamer groz (W61, 30). Gyburc denkt an Willehalms siufteb#rez leit (W100, 22). Über Tybalt hören wir: uz vreude in sorge jagete (W8, 4). In W71, 10, bereitet es Willehalm Schmerz, dass er Vivianz’ Leiche wohl dauerhaft nicht wird transportieren können: diz bekande herzeser/ twanc in ane maze. Vgl. auch W20, 1ff: die heiden schaden dolten/ und die getouften holten/ vlust unde kummer. 179 So reagiert die Familie Willehalms auf seine Not mit sprichwörtlichem Mit-Leiden. Die Familienmitglieder werden definiert als diejenigen, dies marcraven leit/ so truogen mit gesellekeit,/ daz si namen geliche phliht/ der vlüsteb#ren geschiht/ diu uf Aliscanz geschach (W235, 9-13). Dieselben erbarmete unt nam wunder/ umbe des marhgraven mage (W197, 22). Mitleid hat auch Gyburc mit den Gefangenen, die von Heiden mit Geißeln geschlagen werden: daz waren die kristen armen./ die begunden sere erbarmen/ Gyburge, diu si horte und sach (W90, 15ff).
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sen: In allen Bereichen (der Körperzustände, der Mimik und Gesten sowie der Emotionsberichte) wird Leid beiden Parteien zugesprochen, jedoch mit so deutlichen Restriktionen, dass Mitleid zwar für Heiden möglich wird, dass dieses jedoch im Vergleich zu Christen unterzugehen scheint: (1) Auf Heidenseite leidet allein Terramer häufiger, während dem auf Christenseite eine ausgeprägt leidende Figurengruppe gegenübersteht. (2) Allein Christen wird Leid aus Mitleid in seiner helfenden Form und damit der höchste Wert der misericordia zugesprochen, die damit als spezifisch christliche Sonderform, unzugänglich für Heiden, erscheint. (3) Allein Christen haben die Möglichkeit, ihr Leid in der überzeugendsten Form des Weinens vorzutragen. Insgesamt muss der Rezipient den Text als von Klage, Leid und Schmerz gezeichnet sehen, wobei er aufgrund der Distribution dieses Privilegs zwischen Christen und Heiden den Eindruck eines größeren und intensiveren Leides auf Christenseite gewinnen kann und die im Bereich der Empathie bereits festgestellte quantitative Defavorisierung der Heiden in den mitleidfördernden Strukturen noch verstärkt wird. 1.1.3 Sympathie Darauf aufbauend stellt sich nunmehr die Frage, für welche Figuren und Figurengruppen der Text den Rezipienten – auf Basis der entstandenen Empathie – zu Sympathie führt. Diese muss (neben ihrer negativierten Form, der Antipathie) aufgrund der sie konstituierenden Verknüpfung von Empathie und Wertschätzung als intensivste Form der empathischen Anteilnahme am fiktiven Geschehen verstanden werden. Lenkende Strukturen können dabei innerhalb der bereits behandelten Innensichten einerseits und in spezifisch evaluativen Textstrukturen andererseits, welche die Figuren implizit oder explizit bewerten, vermutet werden. Sympathielenkung über Innensichtdarstellung: In Bezug auf Sympathie sind zunächst die oben bereits beschriebenen leidtransportierenden und mitleidfördernden Innensichten relevant, denn das Mitleid muss in doppelter Weise als Sympathieauslöser verstanden werden: Kann der Rezipient das Leid der Figur moralisch legitimieren, ist dieser Nachvollzug zumindest auf der Basis einer teilweisen Wertschätzung begründet (sonst könnte man das Leid nicht als unverdient bewerten). Moralisch legitimierbares Figurenleiden erscheint also als Sympathieauslöser. Außerdem muss auf Figurenebene manifestiertes Mitleid aufgrund seiner zentralen Stellung im christlich-höfischen Werteparadigma ebenfalls als Sympathieauslöser gelten. Vor diesem Hintergrund lässt sich relativ schnell feststellen, dass eine
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wenig ausgeprägte positive Bewertung auf Terramer fällt, dass aber vor allem die christliche Familie, für die der Text nicht nur rationales Mitleid einfordert, sondern die darüber hinaus misericordia manifestiert, vor dem mittelalterlichen Wertehintergrund Leitbildfunktion einnimmt. Oben wurde bereits festgestellt, dass ein Großteil der im Willehalm formulierten Innensichten Leid thematisiert. Die wenigen übrigen Innensichten betreffen nahezu ausschließlich Christen. Und auch in diesen wenigen Passagen scheint sich das ohnehin positive Bild zu bestätigen: Die christliche Familie beweist sich vor allem anhand von Gesten immer wieder ihr gegenseitiges Vertrauen, ihre Zuneigung und Liebe, während Heiden vergleichbare Gesten nicht manifestieren.180 Damit senden also Innensichten über die Vermittlung von Leid (wegen Gefallener aber auch wegen sich in Gefahr befindender Lebender) und Sippenzusammengehörigkeit in Bezug auf Christen zusätzlich deutlich sympathiefördernde Signale aus. Der wegweisende erste Eindruck des Rezipienten: Primacy-Effect: Mit der ersten allein sympathielenkenden Technik fragen wir nun nach der ersten Vorstellung einer Figur, anhand der, wie im vorherigen Kapitel dargelegt wurde, der gewichtige Primacy-Effect entsteht. Dieser besteht darin, dass der erste Eindruck des Rezipienten von einer Figur meist wegweisende Richtung übernimmt und nur schwer revidiert werden kann. Gerade weil sich dem Erzähler so eine einmalige Möglichkeit bietet, wegweisende Akzente zu setzen, möchte ich im Folgenden die Progression der Figurenpräsentation der beiden Hauptparteien und ihrer zentralen Vertreter skizzieren. Im Willehalm macht der Prolog bereits deutlich, welche der Figuren im Text die Hauptrolle übernimmt, nämlich Willehalm. Dabei wird dem Rezipienten anhand einer Fülle von geistlichen und weltlichen Qualitäten das Bild eines vor Gott und der Welt vorbildlichen Ritters vermittelt, welches in der Bezeichnung Willehalms als Heiliger gipfelt.181 Gerade Letzteres
_____________ 180 Immer wieder demonstriert die christliche Familie Vertrauen, Zuneigung und Liebe untereinander, indem sie sich umarmt, küsst oder die Hand des Gegenübers ergreift: Willehalms ougen begunden wallen, als sich Alyze vor ihm niederwirft (W156, 1), Heimrich laufen beim Wiedersehen mit seinem Sohn Heimrich dem Schetis Tränen aus den Augen und über die Wangen (W242, 13f) und Gyburc küsst vor der zweiten Schlacht alle Fürsten (W312, 30). Aber auch diese Zeichen der Verbundenheit treten meist in Zusammenhang mit Leid bzw. Mitleid auf (s.o.). 181 Der Erzähler charakterisiert ihn durch perfektes Gottvertrauen (einen riter der din nie vergaz; W2, 27). In der Welt wird ihm höchste Kampferfahrung und edelste Abstammung zugesprochen: er was selbe dicke harnaschvar./ den stric bekande wol sin hant,/ der den helm ufz houbet bant/ gein sins verhes koste./ er was ein zil der tjoste:/ bi vienden man in dicke sach (W3, 18-23) bzw. man h Aret in Franchriche jehen/ swer sin geslehte kunde spehen,/ daz stüende über al ir riche/ der vürsten kraft geliche,/ sine mage warn die h Ahsten ie (W3, 25-29). Schließlich geben dem Rezipienten Bezeichnungen wie der unverzagete werde bote (W3, 16), helf #re (W4, 4) und herre sanct
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fördert in höchstem Maße Sympathie, denn selbst wenn die Lebenstaten eines zukünftigen Heiligen keineswegs immer positiv sein müssen, beweist die anschließende Erhebung und Begnadigung doch die Wertschätzung Gottes, der sich der menschliche Rezipient nur anschließen kann. Die erste Vorstellung Gyburcs hingegen scheint genauso problematisch wie ihre Rolle im Text: Arabeln Willalm erwarp,/ dar umbe unschuldic volc erstarp./ diu minne im leiste und e gehiez,/ Gyburc si sich toufen liez (W7,27-30). Einerseits führen der Glaubensübertritt Gyburcs und ihre Heirat mit Willehalm zum Sterben vieler unschuldiger Menschen und damit zu viel Leid. Andererseits ist gerade für den zeitgenössischen Rezipienten der positive Wert ihres Bekenntnisses zum ‚richtigen‘ Glauben nicht zu leugnen und so betont auch die zweite Vorstellung Gyburcs, dass durh liebes vriundes minne/ und durh minne von der hAhsten hant/ […] kristen leben an ir bekannt ist (W9, 18ff). Sie sieht sich also getragen von der doppelten – göttlichen und weltlichen – Liebe; in ihrer Vereinigung von kaum zu überbietendem Leitwert. Schließlich bezeichnet sie der Erzähler noch als edel küniginne (W9, 17). Diese erste Vorstellung suggeriert durchgehend hohe Wertschätzung. Und gerade dadurch drängt sich, in Verbindung mit dem entstandenen unsagbaren Leid, von dem der Rezipient ja zu diesem Zeitpunkt schon weiß, der Eindruck des Tragischen auf. Schließlich sind es rein positive Werte wie Glaube und Liebe, die soviel Leid nach sich ziehen. Der erste Eindruck vermittelt damit Gyburc als zugleich tragische und sympathische Figur. Ebenfalls sehr früh wird dem Rezipienten die Familie Willehalms vorgestellt. Seine Brüder gelten dabei ausnahmslos als vorbildlich.182 Der erste Kontakt mit ihrem Vater Heimrich konfrontiert den Rezipienten mit einer umstrittenen Tat: Ein Rückblick offenbart, dass er seine Söhne allesamt zugunsten eines Patensohnes enterbt und diese mittellos zur Bewährung in die Welt hinaus schickt (vgl. W5, 15-8, 14). An diesem beweist er zwar triuwe (W5,24) und Barmherzigkeit183, die Enterbung seiner Söhne erscheint dennoch nicht gerechtfertigt.184 Das väterliche Ausschicken der Söhne zu Rittertaten ist damit vorerst stark zweideutig besetzt.
_____________ Willehalm (W4, 12) zu verstehen, dass es sich bei Willehalm um den Heiligen handelt, der ihm höchstwahrscheinlich bekannt war. 182 Alle gelten als die helde (W6, 19), Buove wird der clare süeze (W6, 24) genannt und über den jungen Heimrich heißt es: des tugent vil lande zierde (W6, 26). Im Anschluss folgt ein Lob auf die Brüder insgesamt: und wie ir manlichiu kunst/ wibe minne und herzen gunst/ mit riterschefte bejageten/ daz mans in hohem prise sach! (W7, 3-7). 183 Der Text bestätigt, dass er durch diese Tat almuosens […] gewan (W7, 20). Heinzle bemerkt, „daß Heimrichs Verhalten als donatio pro anima („Stiftung für das Seelenheil“) aufzufassen ist“ (Heinzle 1991: 831). 184 Ein Erzählerkommentar bringt Heimrichs Tat sogar explizit in die Nähe zur Sünde: ouwe, daz man den niht liez [Willehalm]/ bi sins vater erbe!/ swenn der nu verderbe,/ da lit doch mer sünden
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
Erst nach der Vorstellung der christlichen Familie werden dann Vertreter der Heiden präsentiert. Zunächst betont der Text das Leid von Gyburcs verlassenem Ehemann Tybalt, das erste Empathie, moralisch legitimiertes Mitleid und damit auch Sympathie für den Heiden ermöglicht.185 Ohne zu spekulieren können wir wohl davon ausgehen, dass ein mittelalterlicher Rezipient das Leiden des Heiden nur begrenzt nachvollziehen kann, da die Entscheidung Gyburcs, ihn und den falschen Glauben zu verlassen, als uneingeschränkt richtig gelten muss. Der Primacy-Effect prägt damit in Richtung von Empathie (denn dem Heiden werden Emotionen zugestanden), nicht aber in Richtung von Sympathie. Weitere eindeutigere evaluative Wendungen fehlen jedoch. In Bezug auf Terramer fokussiert der Text stark auf dessen Zugehörigkeit zur anderen Religion, die sich in seinem aufrichtigen Glauben und entsprechenden Opfergaben manifestiert. Da er diesen Göttern sein Leid klagt und er auch weniger wegen des persönlichen Verlusts seiner Tochter als wegen deren Glaubensübertritt klagt, lässt sich Mitleid vor dem aktivierten christlichen Wertehintergrund wohl nicht rational nachvollziehen.186 Außerdem erfolgt schon im elften Abschnitt eine klare und grundlegende Bewertung von Terramers Handeln im Rahmen eines Erzählerkommentars, der zur Betrachtung des Primacy-Effects bereits auf dieser Empathielenkungsebene kurz angesprochen werden soll: Terramer unvuoget,/ daz in des niht genuoget,/ des sine tohter duhte vil./ bescheidenlich ich sprechen wil,/swen min kint ze vriunde kür,/ ungerne ich den ze vriunt verlür (W11, 19-24). Und in direktem Anschluss folgt kontrastiv ein Lob auf Willehalm: Willelm ehkurneys/ was so wert ein Franzeys,/ des noch bedörfte wol ein wip,/ ob sie also kürlichen lip durh minne br#hte in ir gebot./ sin sweher hazzete in
_____________ an/ denne almuosens dort gewan/ an sinem toten Heimrich (W7, 16-21). Zwar stirbt Willehalm nicht, doch weist der Erzähler deutlich auf die Gefahr, die in der Enterbung des Vaters liegt, sich zur Sündentat zu entwickeln, hin. Auch die Forschung fasst das Verhalten Heimrichs als umstritten bis negativ auf (vgl. Fehr 1931: 136, Mersmann 1971: 48 und Heinzle 1991: 831). Nach Schmid steht diese Enterbung durch Heimrich entsprechend „für das Unrecht, aus dem zwangsläufig neues Unrecht und Unglück folgt“ (Schmid 1978: 270). Ich lese den Erzählerkommentar eher als Betonung der Qualitäten Willehalms, der sich in der Welt bewähren muss; dabei dürfte der zeitgenössische Rezipient kaum befürchtet haben, dass Willehalm tatsächlich sterben könnte. Vgl. entsprechend auch Greenfield/Miklautsch 1998: 70: „Die großen Helden dieser Literatur, die sich außerhalb der Artus- und Gralsbereiche befinden (etwa wie Gahmuret und Willehalm bei Wolfram und Siegfried im Nibelungenlied) zeigen ihren Wert, indem sie ihre Herrschaftsposition nicht erben, sondern erkämpfen. Daß Willehalm imstande ist, diese erste Hürde auf seinem Lebensweg zu meistern, scheint anzuzeigen, daß er für Höheres bestimmt ist“. 185 ir man, der künic Tybalt,/ minnen vlust an ir klagete:/ uz vreude in sorge jagete/ mit kraft daz herze sinen lip (W8, 2-5). 186 sinem liebisten got Mahmeten/ und andern goten sinen,/ den liez er dicke erschinen/ mit opfer mange ere,/ und klagete in ouch vil sere/ von Arabeln, diu sich Gyburc/ nande, und diu mit toufe kurc/ was manigen ougen worden/ durh kristenlichen orden,/ diu edel küniginne (W9, 7-11).
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an not (W11,25-30). Dieser Kommentar stellt für den Rezipienten eine wichtige und wegweisende, erste eindeutige Bewertung des bis dahin allein tragischen Geschehens dar. Der Angriff der Heiden ist von nun an – wenn die Autorität des Erzählers greift – nicht mehr positiv zu bewerten. Damit sind erste Weichen der Rezeption gestellt, die der Textverlauf freilich noch deutlich modifizieren kann. Doch zunächst rezipiert das Publikum Wolframs Text vor diesem die Christen privilegierenden Hintergrund. Ob er diese erste Rezeptionsrichtung beibehält, kann nur eine systematische Analyse offenbaren. Semantisierung des Raums: Eine indirekte, aber wirksame Beschreibung erfahren Figuren über mit ihnen verknüpfte Räume. Den meisten der die Handlung umgebenden fiktiven Räume schenkt der Erzähler keine Beachtung. Umso genauer müssen diejenigen Naturräume und räumlichen Gestaltungen betrachtet werden, die der Text ausgestaltet, denn schließlich bewirkt doch gerade die „Reduktion und Selektion der Einzelheiten der dargestellen Wirklichkeit eine semiotische Erhöhung dieser Einzelheiten.“187 So ordnen nahezu alle in den Fokus des Erzählers gerückten Räume Figuren bestimmte Wertungen zu. 1) Der Kontrast von Masse und Alleinsein Zunächst fällt eher eine räumliche Rahmenbedingung als ein konkret fokussierter Einzelraum ins Auge: Der Rezipient nimmt einen Raum wahr, der von einer unüberschaubaren Heidenmasse in Opposition zu weitaus weniger Christen geprägt ist. Davon, dass die Heiden tatsächlich die überlesteclichen (W407, 8) sind, überzeugt der Erzähler das Publikum einerseits durch Zahlen, was als Appell an die ratio der Rezipienten verstanden werden kann, andererseits durch rhetorische Mittel, die einen affektiven Nachvollzug fördern.188 Im deutlichsten Kontrast zu diesen Dimensionen wird uns die Kämpferschar Willehalms als eine hant vol (W13,9) beschrie-
_____________ 187 Stanzel 2001: 161. 188 Als Zahlenillustration führt er zunächst das globale Missverhältnis zwischen Christentum und Islam in der damals bekannten Welt an, nach dem von 72 Ländern der Erde lediglich 12 christlich seien (vgl. W73, 11ff). Entsprechend ist in Bezug auf die Moslems die Rede von manec tusent (W10, 8) Kämpfern, deren Zahl so groß ist, dass sie niemals überprüft wurde (vgl. W424, 2-5). Visualisiert bedeutet dies, dass Berg und Tal von Heidenheeren bedeckt sind (vgl. W10, 12) und man niht wan mer und gezelt (W319, 24) sieht. Die ebenfalls nachweisbaren Hyperbeln, Metaphern und Vergleiche streben nun neben dem rationalen einen affektiven Nachvollzug des Rezipienten an: Der Erzähler vergleicht die Zahl der Heiden mit der Unzählbarkeit der Regentropfen (vgl. W399, 20ff), wochenlangen Regengüssen (vgl. W99, 2f) und riesigen Wasser- und Flutmassen (vgl. W404, 22-27). Die Unkontrollierbarkeit und das exponentielle Wachstum drückt die Metapher aus, nach der das Heidenheer gleich einer Schwangeren stets neue Kämpfer gebiert (vgl. W392, 24-29).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
ben.189 Auch im Schlachtgeschehen machen sich diese Ausgangsbedingungen in einer verschwindend geringen Zahl übriggebliebener Christen bemerkbar: Zunächst sind 14 Kämpfer um Willehalm übrig (vgl. W50, 1217), am Ende der ersten Schlacht bleibt Willehalm gar allein zurück (ab W55). Damit erreichen wir eine weitere Inszenierung der zahlenmäßigen Verhältnisse zugunsten einer Figur: das Alleinsein Willehalms im feindlichen Raum. Willehalm flieht und sieht sich dennoch mehrmals einer ungeheuren Zahl von Feinden gegenüber (vgl. W72, 26), die beispielsweise 15 Lanzen auf ihn allein richten, die zwanzigfach auf ihn einstechen (vgl. W85,19ff), die mit ihm spielen wie mit einem Spielball (vgl. W85,23). Auch unabhängig von den heidnischen Gegnern bleibt Willehalms Alleinsein eine Konstante in der Inszenierung seiner Figur, muss er sich doch in Orléans und Munleun erneut gegen Angreifer durchsetzen; denn auch wenn diese dann der eigenen Religion angehören, so verstehen sie sein Anliegen doch nicht und Willehalm scheint wieder allein und unverstanden. Für das sich entwickelnde Sympathieverhalten des Rezipienten lässt sich aus dieser Darstellung des Raums die folgende Erkenntnis ableiten: Das zahlenmäßige Ungleichgewicht zwischen Christen und Heiden beschreibt die Anzahl der Heiden als so unermesslich, die Anzahl der Christen als so verschwindend gering, dass ihnen nach rationaler Vorstellung keine Chance auf einen Sieg oder auch nur eine sinnvolle Gegenwehr eingeräumt werden kann. Der Sieg der Heiden in der ersten Schlacht ist damit weniger ein Verdienst kämpferischer Leistung als ein Ergebnis der ungerechten Mengenverhältnisse. Umso ehrenvoller erscheint aber der christliche Sieg nach der zweiten Schlacht, kann doch das zahlenmäßige Missverhältnis nur durch weit größeres Kampfgeschick oder direkte Hilfe von Gott ausgeglichen werden. Das Alleinsein Willehalms bildet den Gipfel dieser Inszenierung des Raums und öffnet einen neuen Blickwinkel. Es illustriert im Detail, was das zahlenmäßige Ungleichgewicht bereits bedeutet: Die Christen sehen sich fast hoffnungslos bedrängt, dem Rezipienten erscheinen sie dadurch eindeutig als gefährdet und schutzbedürftig. Willehalms Kampfverhalten – und das der Christen insgesamt – sieht sich so aufgewertet, Sympathie wird gefördert. 2) Räume der Heiligkeit Sehr deutlich wird die semantisierende Funktion des Raums am Beispiel dessen, was wir als ‚Räume der Heiligkeit‘ bezeichnen. Denn in einigen Szenen umgibt bestimmte Figuren ein fast heilsgeschichtlich anmutender
_____________ 189 Zahlen nennen uns in der ersten Schlacht 100 heidnische Reiter und Bogenschützen auf einen Christen (vgl. W32, 27-30) bzw. einen Christen auf 15 Heiden in der zweiten Schlacht (vgl. W304, 10-13).
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Raum, der den Rezipienten auf die übermenschlichen Qualitäten einer Figur hinweist. Unbestritten profitiert der junge christliche Kämpfer Vivianz von einem so gestalteten Ort, als er sich schwer verwundet vom Schlachtfeld zurückzieht. Himmlische Führung durch einen Engel lässt den Helden das blutige Schlachtgetümmel verlassen. Der Eintritt in einen religiös geprägten Raum zeichnet sich deutlich ab: [D]er junge helt vor got erkant/ reit gein dem wazzer Larkant./ niht der sele veige,/ er reit nach des engels zeige (W49,1-4). Der Ort, an den er schließlich gelangt, weist sich als locus ameonus aus: Vivianz gelangt an eine Quelle (funtane; W49,6), wo er neben Bäumen und Pappeln (boume und albernach; W49, 7) auch eine Linde sieht (linden; W49,9). Die gesamte Sterbeszene von einer beachtlichen Länge von 10 Dreißigerabschnitten (W59-68) spielt sich in diesem Raum ab und hinterlässt auch deswegen einen tiefen Eindruck. Beim Tod Vivianz’ steigert sich die bisher weltliche Szenerie hin zur Heiligkeit, indem sich auf wundersame Weise ein Duft verbreitet, der an brennende Aloe erinnert. 190 Die Ausführlichkeit des leidvollen „pietàhafte[n]“191 Sterbens in dieser Szenerie konfrontiert den Rezipienten ausführlich mit Vivianz, der als sterbender Heiliger erscheint.192 Ein Sympathieurteil liegt nahe. Dabei stellt sich die Frage nach dem tieferen Sinn dieser mit Sorgfalt gestalteten Sympathielenkung für Vivianz, der schon so früh stirbt und damit aus der Figurengruppe der Handelnden verschwindet. Bei näherem Hinsehen erfüllt dieser sympathielenkende Akt tief greifende, weit über das Schicksal Vivianz’ hinausgehende Funktionen. Zum einen muss Vivianz’ Tod als stellvertretende Beschreibung für das Sterben vieler nicht näher erwähnter Christen verstanden werden. Damit geht es weniger um seine individuelle Figur, als um das Sterben der Christen in dieser ersten Schlacht schlechthin, das damit generell als Martyrium im Geruch der Heiligkeit interpretiert wird.193 Mit dieser einen Fokussierung gelingt es dem Erzähler, das Sterben der Christen ganz zu Beginn der Handlung zu sakrifizieren, womit der Text in gewisser Weise
_____________ 190 reht als lignaloe/ al die boume mit viuwer w #ren enzunt,/ selh wart der smac an der stunt,/ da sich lip und sele schiet (W69, 12-15). Aloeholz war im Mittelalter für seinen beim Verbrennen entfaltenden Wohlgeruch bekannt und wird wohl deshalb an dieser Stelle eingesetzt (vgl. Reinitzer 1976. S. 1-34, besonders S. 19). 191 Kiening 1991: 241. 192 Der Tod eines Heiligen zeichnet sich nicht selten gerade dadurch aus, dass Wunderzeichen, wie eben der wundersame Wohlgeruch, erscheinen (vgl. dazu Haas 1993: 169-190). 193 Dass Vivianz immer wieder als Stellvertreter für die vielen toten Christen fungiert, zeigt sehr schön W223, 22-25: die jungen mit den alten/ kerten dan gein Aliscanz,/ da Mile unde Vivianz [und viele 1000 Christen!]/ uf waren gelegen tot.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
Nähe zur Kreuzzugsideologie zeigt.194 Die Sympathiereaktion für Vivianz rückt damit alle Christen einem positiven Sympathieurteil des Rezipienten näher. Entsprechend taucht der Tod Vivianz’ immer wieder als besonderer Bezugspunkt auf: Die christliche Familie und damit auch Willehalm legitimieren einen Großteil ihrer kriegerischen Handlungen und ihres Rachebedürfnisses aus dem Verlust des jungen Vivianz.195 Denn so rächen sie sich aus doppeltem Grund an den Heiden: Aus der triuweVerpflichtung dem gefallenen Verwandten gegenüber, aber auch aus religiöser Verpflichtung, den Tod eines Heiligen und damit eine Verletzung am Christentum selbst zu rächen. Rache ist damit genauso ritterliche wie religiöse Verpflichtung. Vivianz verschwindet so zwar als Handelnder, lebt aber weiter als Handlungsbestimmender und Handlungslegitimierender. Betrachtet man zudem den Zeitpunkt des Sterbens von Vivianz zu Beginn des zweiten Buchs, so wird deutlich, dass die Passage eine wichtige Weichenstellung im Text bedeutet. Im ersten Buch folgt der Rezipient den Kampfhandlungen noch relativ orientierungslos; er kennt weder die Kämpfer näher noch hat er sich ein Urteil zu den Geschehnissen gebildet. Das immer in Zusammenhang mit Krieg auf beiden Seiten auftretende Leid wird durch Vivianz’ Tod vor allem auf Christenseite ausführlich dargestellt und so nachfühlbar gemacht. Als die Schwachen und Leidenden in diesem Krieg erscheinen damit die Christen; kein anderer leidvoller Tod wird in einer ähnlichen Ausführlichkeit beschrieben und auch das genannte Leid der Heiden (vgl. oben Primacy-Effect) wird nicht bestätigt.196 Auch wenn Sympathie für den sterbenden Vivianz streng genommen nicht mehr nötig ist, erhalten über seinen Tod die Christen insgesamt einen machtvollen Sympathiebonus.
_____________ 194 Vivianz’ Tod symbolisiert die heilsgeschichtliche Erhebung und Erlösung derer, die ihr Leben im Kampf gegen Andersgläubige verlieren. Diese Haltung, die die Erlösung der Christen und Verdammung der Heiden vorhersagt, kann spätestens seit Bernhard von Clairvaux als Grundgedanke der Kreuzzugsideologie gelten (vgl. Bernhard von Clairvaux, Epistola 363, PL 182, Sp. 563ff). 195 Willehalm legitimiert die Tötung Arofels unter anderem mit dem Gedanken an Vivianzes tot,/ wie der gerochen würde (W79, 28f). Irmenschart fordert in Munleun: daz ir Vivianzes lip rechet (W183, 14). Auch der König formuliert anschließend: al die durh mich in rache sint/ umbe Vivianzes sterben,/ die laz ich gein mir werben (W184, 8ff). Die Schlüsselrolle von Vivianz’ Tod sieht auch Werner Schröder: „Die Klage um Vivianz durchzieht leitmotivisch das Epos und bestimmt den Mollklang des Ganzen wesentlich mit. An ihr erweist und bewährt sich die triuwe der Heimrich-Sippe und Gyburgs“ (Schröder 1970: 210). 196 Als Nebeneffekt des ausführlich beschriebenen Sterbens Vivianz’ entsteht zudem ein sympathielenkender Effekt für die zweite Hauptfigur Willehalm: Schließlich darf man nicht vergessen, dass dieser von Abschnitt 59-68 an Vivianz’ Seite ist, also ebenfalls an der Heiligkeit des Raums teilhat. Sein Bemühen um den Sterbenden und die Abnahme der Beichte lassen ihn positiv erscheinen. Somit schafft die Passage nicht nur Sympathie für einen Sterbenden, sondern fördert auch das Ansehen des weiter agierenden Willehalm.
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In Detailliertheit und Deutlichkeit ist dieser Raum der Heiligkeit im Willehalm einmalig. Als einzige weitere Figur darf Willehalm wenigstens in Ansätzen von Räumen der Heiligkeit profitieren, die erstaunlicherweise mit seinem Alleinsein innerhalb der christlichen Welt kombiniert werden. Besonders auffällig ist dabei die Darstellung Willehalms unter einem Ölbaum und einer Linde am Hof von Munleun. Dort wird er, vom Kampf gezeichnet, vom Königshof und den Bürgern gleichermaßen zu Unrecht missachtet und gedemütigt: zeinem ölboume und zeiner linden/ er kerte. die e da lagen/ und sazen gar, die pflagen/ daz si im den schate al eine/ liezen: niht gemeine/ woltens mit im da han (W127, 2-7). Die Linde wurde im Mittelalter unter anderem als Mariensymbol gesehen und ziert in mittelalterlichen Darstellungen häufig den locus amoenus, so auch oben den Sterbeort Vivianz’ (s.o.). Noch stärker ist jedoch die Symbolkraft des Ölbaumes, schließlich sieht sich der Ölbaum in der Bibel häufig mit Jesus verknüpft.197 Dass gerade die Passion Jesu mit dem Gang zum Ölberg beginnt, scheint kaum ein Zufall zu sein. Dort entfernt sich Jesus von seinen Jüngern um zu beten und diese kommen seiner Bitte, zu wachen und ihm auf diese Weise beizustehen, nicht nach, sondern schlafen ein. Sie lassen ihn in seinem Leid allein.198 Und auch Willehalm wird leidend von der Hofgesellschaft verachtet und nicht gegrüßt. In Bezug auf diese Szene ist in der Forschung strittig, ob Willehalm mit Recht nicht gegrüßt wird (u.a. wegen seiner eventuell aggressiv anmutenden Erscheinung in heidnischer Rüstung) oder ob der Text ein Szenario kreiert, in dem Willehalm deutliches Unrecht geschieht.199 Die sympathielenkende Funktion der räumlichen Umgebung – Willehalms Alleinsein, die Linde,
_____________
197 Der Ölberg spielt im gesamten Neuen Testament insofern eine Schlüsselrolle, als Jesus den Ölberg zu seinem bevorzugten Aufenthalts- und Predigtort wählt und er auch die Passion auf dem Ölberg beginnt (vgl. Mt 21, 1; 24, 3; 26, 30; Mk 11, 1; 13, 3; 14, 26; Lk 19, 29; 21, 37; 22, 39; Apg 1, 12). In Form des Ölzweiges wird im Alten Testament der erneuerte Bund Gottes mit den Menschen nach der Sintflut bezeichnet. Dort bringt eine Taube den Ölzweig zu Noah, um ihm das Ende des göttlichen Zorns zu verkünden (vgl. Gen 8, 11ff). Mit dem Ölbaum verbundene Raumelemente können damit als eine Verknüpfung von göttlichem und weltlichem Raum verstanden werden. 198 Vgl. Mt 26, 30-46. 199 Dies demonstrieren beispielsweise die beiden verschiedenen Übersetzungsvorschläge für W130, 8-11 (dâ kund er zuo gebâren,/ als er’z billîche dolte,/ daz ir deheiner wolte/ im bieten êre noch gemach) von Heinzle 1991 und Kartschoke 1989. Nach Heinzle benimmt sich Willehalm hier so, „als ob ihm Recht geschähe, daß von ihnen keiner ihn grüßen und sich um ihn kümmern wollte“ (Heinzle 1991). Kartschoke hingegen übersetzt, dass sich Willehalm hier so benimmt, „als ob ihm bislang kein Unrecht geschehen sei, daß keiner bereit war, ihn mit Ehrerbietung und Fürsorge zu empfangen“ (Kartschoke 1989), er also trotz der Unterlassung der ihm zustehenden Begrüßung die Form wahrt. Beide Sichtweisen bieten eine korrekte Übersetzung; jedoch spiegeln sich darin die unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten für diese Szene. Dörrich fragt verstärkt nach den Ritualen und politischen Spielregeln, die im Laufe dieses Geschehens eingehalten bzw. missachtet werden und deutet auch die Ankunft Willehalms in Munleun systematisch aus. Die Grundproblematik stellt
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
– Willehalms Alleinsein, die Linde, der Ölbaum – schaffen dabei deutlich nicht die Szenerie eines mit Recht Zurückgewiesenen. Durch die geweckten biblischen Assoziationen erscheint vielmehr die Interpretation der Szene naheliegend, nach der das unrechtmäßige und falsche Handeln der Hofgesellschaft und Bürger herausgestellt werden soll. Der heilsgeschichtlich aufgeladene Raum vermittelt Willehalm ganz in der Logik eines zukünftigen Heiligen. Das tragische Wechselspiel von Liebe und Leid, von weltlichem Kampf aus christlicher Verpflichtung, symbolisiert durch Linde und Ölbaum, scheinen Willehalm schicksalhaft zu begleiten. Die Hofgesellschaft zeigt sich blind für diese deutlichen Signale, die die tragische Situation Willehalms indizieren. Sympathieförderung also für Willehalm. 3) Räume der Hoffnung und der positiven Assoziation Weniger intensiv, aber dennoch zu beachten sind Räume, die positive Assoziationen wecken und damit Figuren und ihr Handeln legitimieren oder positiv bewerten. Sollte der Rezipient an der Notwendigkeit der grausamen Schlacht und der Toten zweifeln, erscheint der Himmel selbst als unterstützende Kraft der Christen: Er leuchtet in besonderem Glanz, wenn die Seelen der toten Christen aufsteigen200 und die Sonne bricht durch die Wolken, wenn Willehalm mit seinen Fürsten die Messe vor der zweiten Schlacht zelebriert: do begundez also sere tagen,/ daz diu sunne durh die wolken brach (W289, 2f). Sonne und Licht indizieren auch hier wieder die göttliche Kraft, die stets die Christen begleitet. Von Räumen, die ihr positives Licht an die sich in ihnen befindenen Figuren weitergeben, profitieren damit ausschließlich Christen. Vivianz wird trotz seines frühen Todes damit zu einer der wichtigsten Figuren des Textes, Willehalms Vorrangstellung sieht sich untermauert und um eine heilsgeschichtliche Dimension erweitert. Die Räume, in denen Heiden sich befinden, sind dem Rezipienten nicht detaillierter vermittelt; dass sie aber – in der einzigen Beschreibung eines die Heiden umgebenden Raumes – einen Raum von Gestank und Verwüstung hinterlassen, legt eine gewisse negativ bewertende Tendenz des Textes nahe.201
_____________ sie folgendermaßen dar: „Sicher: Die Ankunft eines unbekannten und bewaffneten Ritters stellt in einer Welt, in der friedliche Interaktion nicht selbstverständlich vorausgesetzt werden kann und Sicherheit vor allem in der eigenen sozialen Gruppe gewährleistet ist, eine Bedrohung dar“. Somit wäre die Distanznahme gegenüber Willehalm zu rechtfertigen. Andererseits weist Dörrich aber auch darauf hin, „daß der Anstoß, den die Hofgesellschaft an Willehalms Rüstung nimmt, nach den Regeln epischer Welten nicht zwingend der Logik ritueller Kommunikation entspricht“ (Dörrich 2002: 79). 200 und himels niuwe sunderglast/ erschein, do manec werder gast/ mit engelen in den himel vlouc (W14, 9ff). 201 vgl. W240, 8-12: da was gemaches gar verphlegen/ von rouche unt von smacke./ein nasloser bracke/ w #re wol ze verte komen da:/ so breit was Terramers sla.
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Figurenhandlungen: Nun gilt es einen genaueren Blick auf die detaillierter berichteten Figurenhandlungen zu werfen. Es stellt sich die Frage: Welche Figuren bekommen wie oft die Gelegenheit, vor dem Hintergrund der aktivierten Wertehorizonte positiv zu handeln? Welche Figuren müssen dem Rezipienten umstrittenes oder negativ zu wertendes Handeln offenbaren? 1) unumstritten positiv bewertete Teilhandlungen im Kampf Weite Teile des Textes werden von Schlachtbeschreibungen bestimmt und rücken damit den Handlungstyp des Kämpfens in eine zentrale Position. Die Figuren haben so hinlänglich Gelegenheit, Tapferkeit und Kampffertigkeit zu beweisen; zwei Eigenschaften, die vor allen aktivierten Wertehorizonten Wertschätzung fördern. Dieses Privileg wird deutlich Heiden wie Christen zugestanden: Nahezu jede männliche Figur, egal ob Christ oder Heide, beweist sich in der ersten und/oder der zweiten Schlacht. Dabei zeichnen sich alle Vertreter uneingeschränkt durch höchste Tapferkeit aus.202 Immer wieder beweisen die Kämpfer untereinander triuwe und helfe, indem sie in Not geratenen Kameraden zu Hilfe eilen.203 Heidnische Feigheit, wie sie in kreuzzugsideologischen Texten auftritt, spielt hier keine Rolle. Doch selbst in dieser scheinbar absoluten Ebenbürtigkeit zeigen sich bei näherem Hinsehen einige doch bemerkenswerte Unterschiede: Ein erster Unterschied wurde erzähltechnisch bereits oben in der Betrachtung der Raumfilterfunktion festgestellt und soll hier in ihrer sympathielenkenden Wirkung beleuchtet werden. Während einige wenige Christen, darunter vor allem Willehalm, kontinuierlich im Zentrum des Erzählens stehen, treten aus den Reihen der Heiden stets wechselnde
_____________ 202 Nur einzelne Beispiele mögen die Behauptung illustrieren: Willehalm streit genendecliche (W78, 24) und weicht selbst in größter Gefahr, selbst mächtigen Feinden gegenüber nicht aus (z.B. gegen Tenebruns und Arofel W77, 4). Ebenso ritterlich kämpft seine Familie (Bertram z.B. in W416, 8/ 416, 13-15, Gibelin in W418, 10f, Bernart in W433, 1-5) und natürlich Vivianz (z.B. W40, 28ff/ 41, 10ff/ 41, 14ff/ 46, 15-21/ 25, 26-29 und rückblickend W363, 4ff/ 363, 10ff). Unterstützt wird der Eindruck christlicher Tapferkeit durch die kämpfenden Frauen, die manlich, ninder als ein wip (W226, 30) Orange verteidigen. Absolut gleichwertig stehen dem die Kampfqualitäten der heidnischen Kämpfer gegenüber: Arofel wurde beispielsweise nie besiegt (W29, 14f), Halzebier tötet alle Christen, die gegen ihn anreiten (W363, 28ff). Genauso wird die Tapferkeit von Tedalun (W444, 17f/ 444, 26), Josweiz (W436, 22) und Poydwiz (W411, 17), Cernubile (W407, 25f) und Purrel (W428, 26-29) betont. 203 So wollen die wenigen mit Willehalm verbliebenen Kämpfer in der ersten Schlacht ihren Herrn auf keinen Fall verlassen, sondern die Kampfesnot mit ihm aushalten (W50, 13-17). Genauso folgt das Pferd Puzzat getreulich seinem Herrn (W82, 9ff). Auch auf Heidenseite eilen Truppen herbei, sobald Kämpfer in Bedrängnis geraten (z.B. W435, 18-25 und 436, 29f). So hilft beispielsweise Canliun, als sein Vater Terramer gegen Willehalm kämpft (W442, 14-18). Die Treue Terramers wird sogar anhand eines besonderen intertextuellen Verweises hervorgehoben: So treu wie Ute auf Meister Hildebrand wartet, wartet Terramer auf seine blutbeschmierten Truppen (vgl. W439, 16-21).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
Kämpfer neben diese Christen in den Vordergrund. Entsprechend wird auf einzelne heidnische Kämpfer meist nur in wenigen aufeinanderfolgenden Abschnitten, d.h. meist nur für die Dauer eines Kampfes, fokussiert. Dann sehen sie sich von anderen (oft zum ersten Mal erscheinenden) Heiden abgelöst, die wiederum nur kurz für diesen einen Kampf im Fokus bleiben etc.204 Für den Rezipienten treten sie damit allein momentan in Erscheinung. Die christlichen Kämpfer hingegen handeln in durchschnittlich weit mehr Abschnitten, wobei sich die Belege oft von der ersten Schlacht bis zur zweiten Schlacht erstrecken und sie in mehreren Kämpfen auftreten.205 Zwangsläufig ergibt sich der Eindruck einer sich immer wieder aufs Neue bewährenden, kämpfenden und meist siegenden kleinen Christengruppe, deren Kampfgeschick gerade durch die Kontinuität hervorgehoben wird. Eine entsprechende Konzentration auf eine Heidenfigur bzw. eine Gruppe ähnlich kontinuierlich kämpfender und siegender Heiden lässt sich nicht nachweisen. Eine zweite Beobachtung stellt die zunächst scheinbar im Zeichen der Ebenbürtigkeit gestaltete Tapferkeit und Kampffertigkeit von Christen und Heiden einmal mehr in Frage. Denn es kann kaum als Zufall bezeichnet werden, dass der Erzähler im Verlauf der beiden Schlachten den Blick immer wieder auf Zweikämpfe lenkt, die uns trotz der überall betonten beiderseitigen Perfektion im Kampfverhalten doch einen hierarchischen Eindruck und damit weniger das Bild einer Zweischau als das einer christlichen Dominanz vermitteln. Denn während keiner der im Erzählfokus stehenden Christen im Kampf persönlich von einem Gegner besiegt wird, unterliegen Heiden in den ausführlich dargestellten Zweikämpfen regelmäßig.206 So besiegt der junge Vivianz in kürzester Zeit die sieben Könige
_____________ 204 Einzelkämpfe heidnischer Ritter werden meist nur in wenigen Abschnitten in Folge (oft drei Abschnitte) oder in einzelnen Abschnitten, die sich aber alle einem Textteil zuordnen lassen, thematisiert. Als Beispiele hierfür können angeführt werden: Arofel (W76-79), Aropatin (W381-383), Cernubile (W407-409), Ector (W353/ 401/ 432/ 433), Marlanz (W393397), Oukin (W411/ 412/ 420-422), Poydwiz (W36) und Purrel (W425-431). 205 Vgl. dazu oben die in Bezug auf die Raumfilterfunktion angeführten Belege. Vor allem in der zweiten Schlacht werden für eine Gruppe um Willehalm (Bertram, Bernart, Gybert, Heimric, Buove) stets neue Kämpfe geschildert. Dabei profitieren die Figuren erheblich davon, dass sie seit dem Aufenthalt Willehalms in Munleun zum festen und wiederkehrenden christlichen Personal gehören, beim Rezipienten also von einem Wiedererkennungseffekt und entsprechend von einer gezielten Sympathielenkung durch die Demonstration von Tapferkeit und Kampffertigkeit zu rechnen ist. Eine Figur, die wie Willehalm in unzähligen Kämpfen durch beide Schlachten hindurch immer wieder erfolgreich kämpft, finden wir auf Seite der Heiden nicht. 206 Eine Ausnahme bildet die – weniger durch einen Gegner als durch kumulative Verletzungen herbeigeführte – Niederlage Vivianz’ gegen Halzebier (W46). Dass aber in diesem Ausnahmefall gerade die Niederlage für die Christen von äußerst sympathiefördernder Macht ist, bewiesen die Ausführungen oben.
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Lybilun, Eskelabon, Galafre, Rubiun, Tampaste, Glorion und Morant (W46), und Willehalm streckt ebenfalls relativ mühelos – um nur einzige Beispiele zu nennen - Erfiklant und Turkant (W56), Tenebruns (W77), Arofel (W79) und Oukin (W422) nieder.207 Dieser Textstrategie entsprechend werden dem Rezipienten etwa 30 im Kampf getötete Heiden namentlich genannt, während nur von 9 getöteten Christen berichtet wird.208 Entstehen kann ein solcher Eindruck nur durch gezielte Selektion der dargestellten Handlungen, denn die Logik verlangt eigentlich eine Überzahl an Zweikämpfen, in denen Christen unterliegen (schließlich werden diese in der ersten Schlacht vernichtend geschlagen); doch diese Niederlagen blendet der Erzähler schlicht und einfach aus. Und gerade am Ende der zweiten Schlacht sehen sich einige der von Heiden bisher verkörperten Werte doch stark eingeschränkt: Die Heiden Ehmereiz (W438), Fabors (W435), Poydjus (W444), Purrel (W431), Synagun (W443), Tybalt (W435), Trohazzabe (W432) und ihre Truppen fliehen am Ende der zweiten Schlacht. Viele von ihnen denken nur noch an diese Flucht, vergessen dabei ihre Tapferkeit und auch ihre triuwe-Verpflichtung Kameraden gegenüber: Mancher Heide lässt Herr und Verwandte im Stich (W438, 1ff). Man wartet nicht einmal mehr auf die eigenen Brüder: swer
_____________ 207 Dieses Bild zeigt sich selbst in der schon verlorenen ersten Schlacht: Willehalm kämpft in der Auseinandersetzung mit den 15 heidnischen Königen gegen jeden Gegner einzeln. Auffallend ist hier der relativ leichte Sieg des Christen trotz zahlenmäßiger Überlegenheit des Gegners: ir ehte vluhen durh not,/ siben alda belagen tot (W761f). Ebenso spielend schlägt Willehalm vor den Toren Oranges einen Heiden nach dem anderen nieder (vgl. W90, 19ff). Aber auch andere christliche Figuren beweisen den Gegnern immer wieder wie zufällig ihre Überlegenheit, so z.B. im Kampf des königlichen Soldritters gegen den heidnischen Späher: do muost ein tjost alda geschehen,/ des der Franzoys und der Sarrazin/ beide geeret müezen sin (W333, 20ff). Daraufhin durchbohrt der Franzose dem Gegner Schild und Arm, während der Franzose den Pfeil im Schild hält (W333, 26-334, 2). Nach dem gleichen Muster verläuft selbst der scheinbar ausgewogene Kampf Vivianz’ gegen Noupatris: Obwohl sie sich gegenseitig tödlich verwunden, stürzt sich Vivianz noch einmal in die Schlacht (der junge lobesb#re/ Hurte vürbaz in den strit; W25, 30f), während Noupatris sofort stirbt (der heiden lebens do vergaz; W24, 30). 208 Getötete heidnische Nebenfiguren: Cador (W422), Castable (W74), Corsude (W74), Embrons (W74), Erfiklant (W56), Eskelabon (W46), Essere (W417), Faussabre (W255), Galafre (W46), Gibue (W422), Glorion (W46), Golliam (W432), Haste (W74), Joswe (W74), Lybilun (W46), Malakin (W442), Mattabel (W74), Morant (W27), Morende (W414), Noupatris (W26), Pinel (W21), Poufameiz (W54), Rubiun (W46), Talimon (W57), Tampaste (W46), Tampaste von Tabrasten (W442), Tenebruns (W77), Turkant (W56), Turpiun (W85). Als getötete Christenfiguren werden lediglich Anshelm (W428), Gandaluz (W444), Girant (W428), Huc (W428), Kiun (W411), Kyon (W428), Milon (W414), Myle (W21) und Remon (W428) genannt, wobei fünf dieser neun Figuren in einem einzigen Abschnitt fallen, so dass der Eindruck einer christlichen Niederlage noch weniger eindrücklich erscheint.
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begreif die barken e,/ dern beite sins bruoder niht (438, 14f).209 Gerade im Kontrast zu den Gefährten Willehalms am Ende der ersten Schlacht, die allesamt bis zum bitteren Ende kämpfen und bedingungslos zu ihm stehen, zeigt sich doch eine deutliche Kontrastierung, die das Kampfverhalten der Christen positiv abhebt.210 So erstaunt es auch kaum, dass sich Christen nicht nur im körperlichen Kampf, sondern auch im geistigen Kräftemessen überlegen zeigen. Schließlich überlisten Willehalm und Gyburc ihre Feinde mehrmals erfolgreich, beispielsweise indem Willehalm Heiden durch seine Verkleidung und seine verblüffenden Sprachkenntnisse an der Nase herumführt und indem Gyburc Tote als Attrappen auf den Burgzinnen aufstellen lässt und so den Feinden den Eindruck einer starken Verteidigung vermittelt.211 In all diesen Situationen durchschauen die Heiden die Listen nicht oder erst sehr spät, so dass sich dem Rezipienten ein Schmunzeln bzw. eine Schadenfreude den ‚Dummen‘ gegenüber aufdrängt. Das Erfolgsmodell schlechthin in der Bewertung von Tapferkeit und Kampfeskraft stellt jedoch der junge Heide Rennewart dar: Er ist der erfolgreichste Zweikämpfer überhaupt und tötet in der zweiten Schlacht zahllose Gegner fast mühelos. Durch sein Auftreten in so vielen Abschnitten wird er für den Rezipienten zu einer wichtigen Figur.212 Da er sich entscheidet, seine schier übermenschliche Stärke, die ihn körperlich durchaus in die Nähe der heidnischen Kämpfer rückt, zugunsten der Christen einzusetzen, wird er vom Publikum positiv bewertet, zumal er auch den Ausgang der zweiten Schlacht maßgeblich mitbestimmt. Inwieweit das Töten der eigenen Verwandten als Schuld gelten kann, muss dabei weiter verfolgt und vor allem auf der Ebene der Erzählerkommentare genau beobachtet werden.213 Dabei kann nicht zuletzt eine weitere Eigen-
_____________ 209 Entsprechend lässt Poydwiz von Raabs seine Truppen allein und flieht schließlich. Der Text stellt das Verlassen der eigenen Kampftruppe und den folgenden Tod Poydwiz’ als logische Verkettung dar (dafür zitieren wir ausnahmsweise schon in der Ebene des epischen Berichts eine Stellungnahme des persönlichen Erzählers): waz half sin groziu hers kraft,/ die im sin vater schuof ze wer,/ manege sunder rotte, über mer?/ uz den het er sich erstriten,/ daz er in ze verre was entriten. […] daz in der scetis eine sluoc,/ daz kom da von (W412, 14-21). 210 Die letzten 14 Überlebenden bleiben Willehalm gegenüber absolut treu: siniu zweinzec tusent waren gedigen/ unz an vierzehen der sine,/ die werliche pine/ bi ir herren dolten/ und niht von im enwolten,/ wan daz si ir verh vür in buten (W50, 12-17). 211 Vgl. z.B. W83, 15-30/ 105, 27 bzw. W111, 17-25. 212 Rennewarts Tapferkeit beeindruckt in zahlreichen Textstellen. Die folgenden bilden dabei nur eine Auswahl: W314, 1-5/ 365, 22ff/ 388, 20-23/ 430, 16f/ 415/ 416/ 444, 22/ 416, 19/ 417, 20f/ 424, 6-9/ 200, 24f/ 415, 7/ 415, 11f/ 417, 14f/ 418, 4-8/ 430, 24f/ 432, 22/ 432, 24f/ 442, 19-21/ 442, 24-30. 213 Diese Problematik findet ihren Gipfel, als Rennewart seinen Halbbruder Canliun tötet (vgl. W442, 19-23). Dass sich Rennewart dabei eines Schwertes bedient, welches er von Gyburc erhalten hat und welches einst Synagun, einem gemeinsamen Vetter Rennewarts und Can-
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schaft der Rennewart-Passagen als sympathieauslösend gewertet werden: Die Komik, die in Zusammenhang mit Rennewarts Verhalten nicht zu verleugnen ist, beschert dem Rezipienten einige Momente des Lachens und der positiven Grundstimmung. Stellt man diese Ergebnisse vor den Hintergrund der oben beschriebenen, immer wieder betonten riesigen Überzahl der Heiden, so ist innerhalb des hohen Maßes an Tapferkeit und Kampffertigkeit des gesamten Personals eine durchgehende Sympathielenkung zugunsten der christlichen Figuren feststellbar, denn die Einzelbeispiele suggerieren, dass allein die zahlenmäßige Übermacht der Heiden die erste siegreiche Schlacht bewirken konnte. In Einzelkämpfen Mann gegen Mann zeigt sich die eigentliche Überlegenheit der Christen. Durch die stets neuen Kämpfe von Willehalm, seinem Vater und seinen Brüdern entsteht im Gegensatz zum einmaligen Eindruck, den die übermenschlich starken heidnischen Gegner hinterlassen, ein nachhaltiger und persönlicher Eindruck von menschlicher Tapferkeit, die sich beim Rezipienten einprägt. Außerdem darf man bei allen ‚ungerechten‘ Einzelszenen nicht vergessen, dass der finale Kampf mit einem Sieg der Christen endet – und gerade vor dem christlichen Wertehintergrund muss ein Sieg immer auch als eine Gottesurteil verstanden werden, wobei man davon ausgeht, dass der christliche Gott dem gerechten Kämpfer die Kraft zum Sieg verleiht. Die beeindruckende Tapferkeit der Heiden hat somit paradoxerweise nicht primär die Funktion, Wertschätzung für Heiden zu fördern, sondern im Gegenteil, die Christen zu unterstützen. Denn durch die Tapferkeit der Heiden (zusammen mit dem zahlenmäßigen Übergewicht) wird die Niederlage in der ersten Schlacht legitimiert und durch sie wird die Bewunderung für die christlichen Einzelsiege und den christlichen Sieg am Ende der zweiten Schlacht nur noch größer. 2) positiv bewertetes Verhalten außerhalb des Kampfgeschehens Außerhalb des Kampfgeschehens, das heißt hauptsächlich im Mittelteil des Textes zwischen den beiden Schlachten, agieren ausschließlich Christen.214 Diese bekommen dort eine Fülle von Gelegenheiten, positiv be-
_____________ liuns, gehörte, verleiht der Szene eine besondere Tragik. Dass Rennewart sich hier – in Parallelität zum Ithermord des jungen Parzival – schuldig macht, vertritt u.a. Kasten 1977: 408. Gegen eine Schuld Rennewarts argumentieren beispielsweise Ruh 1974: 288ff und Kielpinski 1990: 60-80. Aufgrund des fragmentarischen Schlusses und des Verschwindens Rennewarts beim Abbruch der Dichtung kann eine Antwort auf diese Frage nie definitiv sein. Allerdings dürfen wir die Welt des Turnierkampfes nicht mit der Welt des Glaubenskampfes vergleichen. Parallelen zwischen Kämpfen im Parzival und im Willehalm sind interpretatorisch deutliche Grenzen zu setzen. 214 Auf Heidenseite tritt nennenswert allein Terramer auch als nichtkämpfende Figur auf. Diese Auftritte bestehen fast ausschließliche aus den Gesprächen (Bitten, Bekehrungsversuche, Drohungen) mit seiner Tochter Gyburc (vgl. W215-221). Da diese Textstellen kaum
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setzte zwischenmenschliche Werte zu demonstrieren, für die der Kampf keinen Raum lässt und die den Heiden somit fast ganz verwehrt bleiben: So sieht sich funktionierende höfische Liebe allein auf Seite der Christen realisiert. Vor allem Willehalm und Gyburc beweisen einander immer wieder ihre aufrichtige Liebe (staete und minne). Gyburc hält auch unter größtem emotionalen Druck ihrem Vater gegenüber am christlichen Glauben und an ihrer Liebe zu Willehalm fest (W222, 4-9) und verteidigt Orange und damit das Christentum und Willehalms Besitz mit aller Kraft. Willehalm selbst lässt sich während seiner Reise nach Munleun durch nichts von seinem Gelübde der Enthaltsamkeit, welches er aus Liebe, Mitleid und Solidarität Gyburc gegenüber geleistet hat, abbringen und versagt sich allen Komfort bis zum Wiedersehen (z.B. W176, 10-13).215 Sobald sie vereint sind, beschreibt der Erzähler eine harmonische und gleichberechtigte Beziehung, bei der auch die erfüllte körperliche Liebe einen festen Bestandteil einnimmt (vgl. W100,1-25). Jenseits der Tragik, die diese Liebe durch die aus ihr erwachsenden Kriege mit sich bringt, lässt der Text keinen Zweifel an ihrer inneren Perfektion. Willehalm und Gyburc bewähren sich in der Zweisamkeit genauso wie in der Welt. Die zweite, weit weniger ausgestaltete, erst im Entstehen begriffene Liebesbeziehung zwischen dem jungen Heiden Rennewart und der schönen Königstochter Alyze ist ebenfalls in der christlichen Lebenswelt angesiedelt. Die beiderseitige Zuneigung und Treue der jungen Menschen ist auch hier gegeben, wie bei ihrer Abschiedsszene in Munleun deutlich wird (W213, 9-28). Beide Liebesbeziehungen wirken aufgrund ihrer Aufrichtigkeit sympathiefördernd für die betroffenen Einzelfiguren. Rennewart knüpft damit auch für den Rezipienten ein deutliches Band der Liebe (vergleichbar dem Gyburcs) an die christliche Figurengruppe. Im Rahmen der weiteren, detailliert beschriebenen und vor den Wertehorizonten des Rezipienten positiv zu erfassenden Figurenverhalten dominiert das aus triuwe und Mitleid motivierte Handeln, welches die christliche Familie und weitere christliche Vertreter in vielen Facetten demonstrieren.216 Gerade im Handeln aus Mitleid wird die erstrebenswer-
_____________ als 'Figurenverhalten' zu greifen sind, sondern ausschließlich aus Gesprächen bestehen, mit denen kein konkretes Handeln verknüpft ist, soll eine Besprechung und Bewertung erst in der dritten Sympathielenkungsebene der Figurenreden erfolgen. 215 Zeichen ihrer gegenseitigen Verbundenheit ist auch der Topos des Herzenstausches: Ihr Herz zieht mit ihm zum Königshof, sein Herz bleibt bei ihr in Orange (vgl. W109, 2-16). 216 Die Gebote von triuwe und helfe müssen als Elemente mittelalterlich-höfischen Feudalsystems und dessen Rechts- und Idealvorstellungen verstanden werden und sind immer dann gefordert, wenn innerhalb der Verwandtschafts- oder Vasallenverhältnisse Hilfe und Unterstützung notwendig wird. Die christlich motivierte Forderung von Mitleid als Aufforderung, dem Nächsten zu helfen, überschneidet sich damit in weiten Teilen mit denen von triuwe und helfe, so dass in vielen Fällen am Figurenhandeln nicht ablesbar ist, inwieweit die
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teste Stufe des tätigen Mitleids im Sinne des misericordia-Konzepts erreicht. Triuwe und die im mittelalterlichen Christentum äußerst wichtigen Werte von Mitleid und Barmherzigkeit sehen sich stets aufs engste verknüpft. Und auf diese Weise lässt sich auch erklären, warum entsprechendes Figurenverhalten allein auf Seite der Christen thematisiert wird. Wieder einmal scheinen die unbestrittenen Anlagen der Heiden zur triuwe nicht oder nur bedingt realisiert werden zu können – wenn man triuwe religiös-christlich versteht, verwundert dies nicht. Auf Christenseite sieht sich der triuwe-Mitleid-Komplex in vielen Situationen realisiert.217 Ganz außerhalb der adeligen Familie zeigt der Kaufmann Wimar eines der schönsten Beispiele rein christlicher Barmherzigkeit, indem er Willehalm in seiner Not hilft, ohne zu wissen, wer er ist oder warum er leidet (vgl. W133ff). Wohl nicht zufällig erinnert er an den barmherzigen Samariter der Bibel und steht in umso deutlicherem Kontrast zum hilfeverweigernden Königshof. Das Mitleid tritt dann noch mehr in den Vordergrund, wenn über die Eigengruppe hinaus helfend agiert wird, denn das Treuegebot gilt lediglich den Eigenen gegenüber. Und auch hier demonstriert die Christengruppe, vor allem Willehalm, auf beeindruckende Weise Mitleid, indem er sein helfendes Handeln auf den eigentlichen Feindesbereich ausdehnt:218 - Willehalm nimmt sich des am Königshof misshandelten Küchenjungen Rennewart an und nimmt ihn in seine Gefolgschaft auf;219
_____________ Figuren aus dem Bestreben triuwe, helfe oder Mitleid und Barmherzigkeit zu realisieren, handeln. Allerdings können wir Bekundungen von triuwe, helfe und Mitleid in Situationen, in denen die Figur dazu verpflichtet ist von solchen unterscheiden, in denen die Figur jenseits feudalhöfischer Rechtsvorstellungen mitleidig zu handeln scheint (vgl. Bumke 2002: 418). 217 Das wichtigste Beispiel für triuwe und Hilfe innerhalb der christlichen Familie ist wohl, dass Willehalms Familie (außer dem Königspaar, das gesondert besprochen wird) sofort bereit ist, den in Not geratenen Willehalm zu unterstützen. Der erste Verwandte, der von Willehalms leidvoller Situation erfährt, sein Bruder Ernalt, unterstützt ihn sofort, indem er viele Boten zu Verwandten und Vasallen sendet, um von diesen ebenfalls Unterstützung einzuwerben (vil boten wart von im gesant;/ Die strichen naht und tac/ hin zin an den sin dienst lac:/ er mante mage und man; W124, 30-125, 3). Und auf diesen Aufruf reist sogar Willehalms Bruder Heimrich der Schetis aus weiter Ferne an, um den Bruder zu unterstützen (vgl. W240ff). Auch seine Eltern Heimrich und Irmenschart sowie die anderen Brüder zögern nicht, ihm zu helfen (vgl. W148ff und 160ff). 218 Selbst wenn Rennewart und die gefallenen Heidenkönige über Gyburc zu Willehalms sippe gehören, ist hier doch ein wichtiger Sprung vom Mitleid im erwarteten Bereich der Familie und Mitleid im eher unerwarteten Bereich der eigentlichen Feinde unbedingt festzuhalten. Mitleid scheint hier der adäquatere Begriff zu sein als triuwe. 219 Die genauen Textstellen sollen im Rahmen der dritten Empathielenkungsebene der Figurenreden besprochen werden, da das Geschehen ausschließlich über direkte und indirekt wiedergegebene Figurenrede vermittelt wird. Auf jeden Fall nimmt sich Willehalm Rennewarts an, behandelt ihn freundlich und bietet ihm eine reiche Ausstattung an (vgl. W191194).
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Willehalm gewährt den besiegten Heiden nach der zweiten Schlacht die Bestattung ihrer Toten und freies Geleit in die Heimat;220 In den innerfamiliären Konstellationen fördert das von den Figuren demonstrierte tätige Mitleid ohne Zweifel Wertschätzung und damit Sympathie. In der Figur Wimars, aber vor allem im Verhalten Willehalms den Heiden gegenüber (Rennewart und Besiegte) zeichnet sich eine Form der triuwe ab, die über die Sippen- und Vasallenbindung hinausgeht, die deutlich vom christlichen Barmherzigkeitsgebot überformt ist. Das hier demonstrierte Handeln scheint, nach Bumke, dem triuwe-Verständnis im „weiteren Sinn“ zu entsprechen, nämlich im Sinne einer „Aufrichtigkeit und Festigkeit der Bindungen zwischen Menschen überhaupt, die Liebe zu Gott und die Liebe Gottes zu den Menschen.“221 Durch die im Text angelegte Exemplarizität von Wimars Verhalten (im Kontrast zur Verachtung der Hofgesellschaft) können wir bereits jetzt vermuten, dass diesem Verständnis von religiös überformter triuwe, bei dem sich feudalhöfische Verpflichtung zugunsten von reinem Dienst am Nächsten zurückgedrängt sieht, eine besonders herausgehobene Stellung zugewiesen wird. Inwieweit der Text diese Form des Mitleids auch den Heiden gegenüber positiv wertet, muss die weitere Analyse zeigen. 3) umstrittenes Figurenverhalten Weniger eindeutig rückzuerschließen sind die Sympathiereaktionen des Publikums auf Figurenhandeln aus Zorn. Die Problematik der Bewertung dieses Zorns ergibt sich aus der Disharmonie zwischen heroischen und höfischen Idealen: Während die heldenepischen Heroen je höher eingeschätzt werden, desto mehr Kraft, Stärke und Gewalt sie ihren Gegnern gegenüber zeigen, werden Figuren des höfischen Epos gerade an der Beherrschung ihrer Kräfte und Affekte gemessen (Werte der mâze und der zuht). Der Erzähler ordnet zwei Figuren solche Zornhandlungen zu, nämlich Willehalm und Rennewart. Allerdings ist Rennewarts Zorn relativ eindeutig vor einem der beiden Wertehorizonte zu bewerten. Denn Rennewart erscheint als fern von jeder höfischen Erziehung aufgewachsener Junge, dessen edle Anlagen im äußeren Verhalten erst nach und nach zum Vorschein kommen. Als Kraftmensch heidnischer Abstammung, mit herausragender Stärke und Fähigkeit im Kampf, die er zugunsten der Christen einsetzt, steht er der heroischen Welt und ihren Werten sehr nahe. Die Figur Rennewarts ist so konzipiert, dass ihr Zorn vom Rezipienten eher
_____________ 220 Auch diese Szene wird hauptsächlich über Figurenreden vermittelt (vgl. Empathielenkungsebene 3). An dieser Stelle soll nur die nach außen erkennbare Handlung festgehalten werden (vgl. W461ff). 221 Bumke 2002: 418. Bumke bezieht sich dabei auch auf den Vers des Parzival: sît got selbe ein triuwe ist (P462, 19).
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positiv, vielleicht auch dörperhaft burlesk, kaum aber problematisch aufgefasst wird. Rennewarts Zorn, so Walter Haug, „fließt aus seiner tumpheit. Sie drückt einen mehr oder weniger natürlichen Zustand aus, der durch Erziehung und Reifung zu überwinden ist. Mit zorn aus tumpheit ist naturgemäß immer zu rechnen; er hat Anspruch auf Nachsicht und Geduld.“ 222 Anders ist es bei Willehalm: Er steht im höfischen Leben, ist Landesherr und hat für Abweichungen vom höfischen Verhalten kaum Gründe. Das Gesamtbild, das er vermittelt, weckt im Rezipienten eher das Bild eines höfischen, denn das eines heroischen Helden: Höfische Erziehung, Liebe, Leid und der hohe Grad an Reflexion (vgl. die Ebene der Figurenreden E3) entfernen ihn deutlich vom reinen Heros. Dennoch führt uns der Erzähler in zwei vielinterpretierten Textstellen Willehalms Zorn vor Augen. Für dieses auf den ersten Blick umstrittene Figurenverhalten müssen wir zunächst allein auf der Ebene des epischen Berichts nach möglichen Hinweisen fahnden, die uns eine Sympathielenkungstendenz des Textes indizieren. Bewertet werden soll hier allerdings ausschließlich die Ebene des epischen Berichts, d.h. allein die nach außen sichtbare Handlung. Dass die klare Trennung der einzelnen Textebenen dabei gewinnbringend ist, wird eine abschließende Auswertung nach der Analyse aller Empathielenkungsebenen zeigen. In der ersten Textstelle schlägt Willehalm dem Heiden Arofel in einem Moment den Kopf ab, als dieser verstümmelt, überwältigt und um Gnade flehend vor ihm liegt.223 Dabei wird er von Zorn und Rache getrieben.224 Der höfisch-ritterliche Kodex hätte es demgegenüber geboten, dem Besiegten Gnade zu gewähren.225 Und gerade vor dieser Problematik überrascht das Verhalten Willehalms und nährt Zweifel an dessen Richtig-
_____________ 222 Haug 1975: 230. Auch Haug sieht darin einen prinzipiellen Unterschied zum Zorn Willehalms, der sich als Verstoß gegen eine Verhaltensnorm darstellt. 223 In W79, 6f schlägt Willehalm Arofels Oberschenkel ab, der König liegt verwundet am Boden und bittet um Gnade: des küneges wer wart do kranc./ er bot ze geben sicherheit,/ der e genendeclichen streit,/ und da zuo hordes ungezalt (W79, 8-11). Es folgen weitere Bitten des verwundeten Königs, doch in W81, 12 wird Arofel erschlagen: Arofel wart alda erslagen. 224 Kurz bevor Willehalm Arofel erschlägt spricht er mit zorne (W80, 16). Psychonarratio und direkte Rede, die später im Rahmen der Besprechung der dritten Empathielenkungsebene näher analysiert werden sollen, offenbaren dabei Willehalms Streben nach Rache: er dahte an Vivianzes tot,/ wie der gerochen würde (W79, 28f). Arofel soll für den Tod der Christen büßen (du garnest al min herzeser; W80, 17). 225 Formuliert wird dieses ritterliche Gebot zum Beispiel von Parzivals Lehrer Gurnemanz: lât derbärme bî der vrävel sîn (P171, 25-30). Dieses tritt im Prinzip gegenüber jedem überwältigten Gegner in Kraft, müsste aber in Willehalms Situation einmal mehr gelten, da es sich bei Arofel zusätzlich – und davon weiß Willehalm – um einen Verwandten seiner Gattin Gyburc handelt.
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keit.226 Das rein berichtete Kampfverhalten Willehalms gegen Arofel scheint dabei intertextuelle Bezüge zu bieten, die dem zeitgenössischen Rezipienten eventuell oder sogar wahrscheinlich bekannt gewesen sein könnten und die im Folgenden deshalb kurz beleuchtet werden sollen. Vielleicht bilden sie die Folie, vor der das mittelalterliche Publikum den Text rezipiert und entsprechend Willehalm bewertet. Im dem Willehalm wohl am nächsten stehenden Werk, Wolframs Parzival, wird die Tötung des Ritters Ither durch Parzival im Zweikampf zu einer großen und belastenden Schuld für den Haupthelden.227 Vor diesem Hintergrund könnte auch Willehalms Verhalten negativ gewertet werden, was die Forschung auch tut, indem sie aus dieser Szene – vor dem Hintergrund parzivalscher Regeln – ein Hauptargument für ein Schuldigwerden und eine Entwicklung Willehalms ableitet. Gegen einen Vergleich der Szenen spricht allerdings, dass Willehalms Kampf mit Arofel in einem völlig anderen Kontext stattfindet als der von Parzival mit Ither. Während sich Parzival in der Welt der Turnierkämpfe der bekannten höfischen Romane beweist, stellt Willehalms Kampf einen Ernstkampf, zudem einen Glaubenskrieg, dar, und wenn man Willehalms Situation im Gesamttext betrachtet, könnten Spiel und Ernst einander ferner nicht sein.228 Könnte Arofel diesen Ehrverlust im Ernstkampf überhaupt tragen? Wären Mitleid und Barmherzigkeit mit Arofel hier überhaupt ohne eine Vergrößerung der Gefahr für die Christen und das Christentum denkbar? Schließlich kann Arofel als Mitorganisator des heidnischen Angriffes gelten (auch
_____________ 226 Mergell stellte so fest: „Hier wird Willehalm in Wolframs Augen schuldig“ (Mergell 1936: 136). Werner Schröder deutet die Tötung Arofels als Hinrichtung und Verstoß gegen die Toleranzgedanken Gyburcs (vgl. W. Schröder 1974). Als problematisch und beunruhigend stufen die Tötung Arofels auch Bertau (Bertau 1983: 89), Ruh (Ruh 1980: 169) und Fuchs (Fuchs 1997: 301f) ein. 227 Im Parzival selbst bezeichnet Trevrizent den Tod von Parzivals Mutter und das Erschlagen des Verwandten Ither als zwuo grôze sünde (P499, 20ff). Vgl. dazu biespielsweise auch Ruh 1980: 76f. 228 Haferland unterscheidet in seinen Studien zur höfischen Interaktion deutlich den Kampf der höfischen Welt, der allein „modulierte Gewalt“ vermittelt: „Man hält sich an bestimmte Regeln, sowie an die Reihenfolge von Lanzen und Schwertkampf, um schließlich dem Unterlegenen, nachdem dieser seinen Namen genannt hat, eine Versicherung abzunehmen“ (Haferland 1989: 125f). Dass Regeln für solche höfisch inszenierten Kämpfe mit solchen des Ernstkampfes kompatibel sein könnten, bezweifelt Haferland: „Ernstkämpfe haben einen ihnen vorausliegenden Anlass, und sie erfolgen nicht nur um der Akkumulation von Ehre willen. […] Die Kriege des Mittelalters waren keine Turniere“ (Haferland 1989: 135). Entsprechend finden sich auch in Literatur, die zu Wolframs Zeit Ernstkämpfe beschreibt, keine Beispiele, die Erbarmen im Kampf walten lassen würden. Gerade im Rolandslied, das zeitlich dem Willehalm am nächsten steht, existieren keine Bedenken, den Gegner zu töten. Erbarmen scheint nur dann möglich, wenn der Gegner sich zum richtigen Glauben bekehren lässt (vgl. die Verhandlungen und den Kampf zwischen Karl und Baligan im Rolandslied, die schließlich zum Tod des Heiden führen; RO8439-8562).
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wenn er selbst nicht mehr kämpfte) und schließlich gilt es auch, Mitleid und Barmherzigkeit mit den sich in Gefahr befindenden Christen zu zeigen. Näher scheinen der Willehalmschen Textstelle deshalb Zweikampfszenen im Rahmen eines Ernstkampfes, im Idealfall des Glaubenskrieges, zu stehen. In solchem Rahmen findet beispielsweise der Kampf Eneas’ gegen den Heiden Turnus in Heinrichs von Veldeke Eneasroman statt, der dem Publikum auch bekannt gewesen sein könnte: Hier besiegt Eneas im Zweikampf Turnus. Dieser bittet um Erbarmen, worauf Eneas zunächst eingeht und tatsächlich Mitleid zeigt.229 Doch dann entdeckt Eneas den Ring seines toten Freundes Pallas am Finger des Turnus.230 Eneas räsonniert und schlägt Turnus schließlich aus Rache den Kopf ab: Pallas sal ich rechen,/ der reiner tugende hete genûch./ daz houbet her im abe slûch (ER12604ff). Selbst wenn auch Turnus prinzipiell als über alle Maßen edler Heide beschrieben wird und die Welt nach seinem Tod klagt,231 wird an keiner Stelle Kritik an Eneas’ Verhalten laut. Eine weitere Parallele zeigt sich in der altfranzösischen chanson de geste Fierabras: Hier besiegt der Christ Olivier den heidnischen Riesen Fierabras. Als dieser am Boden liegt, erlebt dieser eine christliche Erleuchtung, will zum christlichen Glauben übertreten und bittet entsprechend um Gnade.232 Daraufhin empfindet Olivier tiefes Mitleid und gewährt ihm Gnade: Quant l’entent Oliviers, s’a de pité plouré;/ Desor l’erbe le couque belement et soué (F1504f).233 Dieses Gewähren von Gnade ist dabei wohl nur aufgrund des Glaubensübertrittes des Heiden Fierabras möglich. Die Textbeispiele, die ähnliche Zweikämpfe im Kontext des Ernstkampfes und Glaubenskrieges situieren, scheinen zwei Hinweise zu bieten: Sie geben einerseits Rache als legitimen Tötungsgrund an. Und sie machen andererseits ein Erbarmen des Siegers nur im Falle des Glaubensübertrittes möglich. Übertragen wir diese Erkenntnisse auf die betreffende Textstelle im Willehalm, leuchtet Willehalms Verhalten doch ein: Eine (Zwangs)Bekehrung von Unterlegenen im Kampf scheint im gesamten Willehalm keine Option mehr darzustellen, zumindest werden Gedanken in diese Richtung an keiner Stelle des Textes laut. Ohne diese Bekehrung aber
_____________ 229 Do erbarmdez dem Troiân,/ daz Turnûs der edel man/ alsô klagelîchen sprach (ER12559ff). 230 Her wolde ime genâdich sîn,/ wan ein unsâlich vingerlîn,/ daz Turnûs Pallante nam,/ als im ubile gezam,/ sô tugentrîche sô her was (ER12573-77). 231 Vgl. ER12607-12633. 232 Gentix hom, ne m’ochi, mais vif me pren, pour Dé,/ […] Se je muir Sarrazins, il vous ert reprouvé (F1494-1502) („Edler Ritter, töte mich nicht, sondern nimm mich lebend, bei Gott, […] wenn ich als Heide sterbe, wird man es dir vorwerfen.“) 233 „Bei diesen Worten hat Olivier aus Mitleid geweint; er bettet Fierabras zart und vorsichtig auf das Gras.“
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
wäre eine Begnadigung Arofels undenkbar, würde dieser doch, direkt oder indirekt, den Kampf gegen das Christentum erneut aufnehmen und damit eine reale Gefahr darstellen. Inwieweit dieses vorläufige Ergebnis haltbar ist, müssen weitere Lenkungsstrukturen auf den Empathielenkungsebenen E2 und E3 entscheiden. Auf der Basis des epischen Berichts sind weitere Aussagen zunächst unmöglich. Der zweite, ebenfalls schwer einzuschätzende Fall von Willehalms Zorn wird im Rahmen seines Erscheinens am französischen Königshof beschrieben. Dort gerät er nach der Missachtung und der verweigerten Hilfe von Seiten seiner Schwester, der Königin, und König Loys so in Zorn, dass er beide mitten im Empfangszeremoniell übel beschimpft und schließlich sogar seiner Schwester gegenüber handgreiflich wird, ihr die Krone vom Kopf reißt, sie an den Zöpfen zieht und um ein Haar umbringt.234 Wieder ist eine Bewertung des Zorns nicht ohne weiteres möglich: Einerseits erscheint das Verhalten des Hofes im Verflechtungsnetz mittelalterlicher triuwe- und helfe- Verpflichtungen so falsch und unerträglich, dass der Eklat als heroisch-positive Tat, die diesem Egoismus ein Ende setzt, gesehen werden kann. Andererseits scheint Willehalm hier seine Affekte nicht zu kontrollieren; und sowohl dem König als auch der Schwester gegenüber ist Willehalms Auftritt als enorme Abweichung vom höfischen Wertekanon zu verstehen.235 Wirkt dieser Auftritt nun für Willehalm sympathiefördernd oder sympathiehemmend? Wieder kann der zeitgenössische Rezipient Erfahrung in entsprechenden Textelementen aufweisen. Gerade vor dem Hintergrund der altfranzösischen Empörergesten, die die Erhebung eines Landesherrn oder Vasallen gegen den König zum eigentlichen Textinteresse erheben, ist die Szene zugunsten von Willehalm aufzufassen, der als tapferer und vorbildlicher Landesherr ein feiges und schwaches Königshaus zum sinnvollen
_____________ 234 die krone er ir von dem houbte brach/ und warf se daz diu gar zerbrast./ do begreif der zornbære gast/ bi den zöpfen die künegin./ er wolt ir mit dem swerte sin/ daz houbt han ab geswungen,/ wan daz dar zwischen kom gedrungen/ ir beider muoter Irmenschart (W147, 16-23). 235 Willehalms Verhalten scheint so sehr den Erwartungen zu widersprechen, dass die Textstelle in der Forschung nach wie vor als umstritten gilt. Auch mehrere neuere Arbeiten widmen sich der Munleun-Episode im Willehalm und den daraus entstehenden Konflikten: vgl. Haupt 1989, Czerwinski 1989 und auch Dörrich 2002. Haupt betrachtet die Szene unter der Perspektive des bis zum äußersten bedrohten höfischen Festes und stellt die Überwindung der Konfliktsituation durch humane Kräfte (v.a. die Minneszene zwischen Willehalm und Alyze) als Möglichkeit der Verwirklichung friedlicher Ordnung heraus (Haupt 1989: 238). Czerwinski situiert Willehalms Erscheinen und Verhalten in einem im wesentlichen präsymbolischen Kommunikationsgeschehen, das sich in der Konkretheit der unmittelbaren Gegenwärtigkeit von Körperlichem für die Demonstration adeliger Ehre und für die Strukturierung von Erinnerung äußert (vgl. Czerwinski 1989: 11-16). Dörrich fragt verstärkt nach dem Umgang mit Ritualen, vor allem dem Begrüßungsritual, in dieser Textszene (Dörrich 2002: 79-109).
1. Empathielenkung auf der Ebene des epischen Berichts (E1)
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Agieren zwingt.236 Andere, wenngleich kontextuell vollkommen anders verortete Ähnlichkeiten finden sich in der Hagen-Kriemhilt-Szene im Nibelungenlied.237 Vor diesem Hintergrund sieht sich zudem das Provokante an Willehalms Auftritt hervorgehoben, der ebenfalls mit einem Schwert beim königlichen Fest erscheint, denn die Schwertgeste hat Rechtscharakter: Es handelt sich um die Haltung des zu Gericht sitzenden Richters. „Indem Willehalm sie hier einnimmt, bringt er sinnfällig zum Ausdruck, daß es angesichts der Pflichtvergessenheit des Königs ihm zukommt, das Recht in seine Hände zu nehmen.“238 Wenn auch Willehalms Verhalten vor diesen Beispielen der heldenepischen Welt gerechtfertigt erscheint, muss es im höfischen Kontext doch in Frage gestellt werden. Die folgenden Textebenen müssen über die Erzählerkommentare sowie die von Willehalm selbst formulierten Begründungen für sein Verhalten entscheiden, inwieweit diese Szene als Rückfall in archaisch-heroisches Verhalten zu werten ist bzw. inwieweit Willehalm durch den Zornausbruch gegen wichtige Regeln verstößt. In beiden Textstellen ist Willehalms Verhalten aus der Sicht des epischen Berichts als mehrdeutig und umstritten festzuhalten. Von Erzählerkommentaren und Figurenreden sind entsprechend wichtige Orientierungshilfen zu erwarten. Auf jeden Fall aber ist diesen Szenen besondere Bedeutung beizumessen. Denn warum hätte der deutsche Bearbeiter – der sich auch sonst viele Freiheiten in der Umgestaltung des Textes nahm – seine Hauptfigur sonst mit diesen ‚schwierigen‘ Szenen belasten sollen? 4) unumstritten negativ bewertete Teilhandlungen Genauso wie Figurenverhalten aus der Sicht des zeitgenössischen Rezipienten mit größter Wahrscheinlichkeit positiv bewertet oder umstritten sein kann, beschreibt der Text Figurenhandlungen, die im Sinne aller Werteparadigmen (christlich/ höfisch/ heroisch) deutlich negative Konnotationen aufweisen und demnach als Sympathiehemmer gelten können. Der auf Christenseite einzige, aber schwer wiegende Verstoß gegen jegliches Wertegefüge begegnet dem Rezipienten in den städtischen Welten des Königs und seines Hofes: Die Bürger von Orléans und vor allem die Hofgesellschaft Munleuns zeigen sich blind für die sichtbare Notlage
_____________ 236 So wird der Zyklus La Geste de Doon de Mayence auch als cycle des vassaux révoltés bezeichnet: „Toutes les chansons qui la constituent mettent en scène des héros en lutte contre le roi ou l’empereur, confrontés à des problèmes de droit féodal, en proie aux tentations de la rancune, de l’orgueil et de la violence“ (Zink 2001: 80). Zu diesem Zyklus gehören die altfranzösischen chansons Gormond et Isembart, Doon de Mayence, Chevalerie Ogier, Renaud de Montauban oder Les Quatre Fils Aymon, Raoul de Cambrai und Girart de Roussillon. 237 Auf die Parallelität dieser provokativen Szene am Königshof zur Hagen-Kriemhilt-Szene in der 29. Aventiure des Nibelungenliedes verweist schon Singer 1918: 55. Die Gesten, u.a. die Schwertgeste analysiert Wynn 1965: 105ff. 238 Heinzle 1991: 936. Heinzle zitiert darin Haug 1975: 229.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
Willehalms und verstoßen damit gegen die Gebote von Mitleid und Nächstenliebe.239 Sie lassen sich von Äußerlichkeiten blenden und sind nicht bereit, dem ärmlich aussehenden, vom Kampf gezeichneten Mann zu helfen: nach siner grozen ungehab/ im niemen vriuntlich trAsten bot,/ der n#me pflihte siner not. (W130,14ff)240 Nicht zufällig konstruiert der epische Bericht hier eine Szenerie, die dem literarisch versierten Publikum eindeutige Assoziationen mit Wolframs Parzival liefert: Während Willehalm traurig und armselig unter dem Ölbaum sitzt, fragen sich die Menschen untereinander, was es mit dieser Erscheinung wohl auf sich hat, warum er wohl so abgenützte Ritterkleidung trägt. Doch trotz allen Interesses meiden sie ihn und fragen ihn nicht nach seinem Schicksal (W127).241 Die parzivalsche Schlüsselfrage herre, wie stêt iuwer nôt? (P484, 27) schwebt auch über diesem Raum, wird auch hier nicht realisiert und macht die Gefühllosen schuldig. Vor genau diesem Hintergrund ist das Verhalten des Königspaars als eine weitere Steigerung des Negativen zu lesen. Denn König und Königin müssten Willehalm nicht nur im Respekt vor christlich-zwischenmenschlichen Werten empfangen (wie die restliche Hofgesellschaft), sondern zudem in Beachtung der höfischen triuwe- und helfe- Verpflichtung, die zwischen Herren und Vasallen und auch zwischen Familienmitgliedern zu Hilfe und Unterstützung führen sollte.242 Die Königin und zudem Schwester Willehalms lässt jedoch die Tore vor ihm verschließen und verweigert ihm jegliche Anhörung aus Angst vor unbequemen Forderungen (W129).243 Loys wirkt schwach und unentschlossen, hin- und hergerissen zwischen den Forderungen seiner Gemahlin und der Angst vor Willehalm.244 Schließlich kommt es zur öffentlichen Missachtung Willehalms beim höfisch-pompösen Empfang: der marcrave dennoch saz/ als er zem ersten dar was komen:/ ir neheines gruoz het er vernomen,/ die da gruozb#re waren (W144, 6-9). Dabei finden all diese Missachtungen und Verstöße gegen die Gebote von Mitleid und triuwe bereits vor Willehalms Zornausbruch in
_____________
239 Dafür, dass die abweisende Reaktion der Hofgesellschaft bei Willehalms Ankunft in Munleun kaum auf dessen eventuell unangemessenes Auftreten in Rüstung zurückzuführen ist, sprach oben die räumliche Untermalung der Szene, die Willehalm eindeutig in ein positives Licht rückte und Willehalm so Recht zu geben schien. 240 Diese unterlassene Anteilnahme wird im Text vielfältig hervorgehoben. Von den Menschen bot im niemen keinen gruoz (W126, 26). Vielmehr meiden sie ihn: die begunden in alle vehen (W126, 29). [N]iht gemeine/ woltens mit im da han (W127, 6f). Und nach siner grozen ungehab/ im niemen vriuntlich trAsten bot,/ der n#me pflihte siner not (W130, 14ff). 241 Vgl. dazu Bumke 2002: 417. 242 Vgl. Bumke 2002: 418 und Ehrismann 1995: 211ff. 243 Vgl. W129, 30-130, 2 (da es sich bei der Begründung um eine Figurenrede handelt, sollen diese Worte der Königin in E3 näher besprochen werden). 244 So erwidert der König auf die verachtenden Worte seiner Gemahlin nicht, und im folgenden wird mitgeteilt, dass die Tore auf Geheiß der Königin geschlossen werden: swaz si gebot, daz was getan (W130, 3).
1. Empathielenkung auf der Ebene des epischen Berichts (E1)
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W147 ihren Höhepunkt, wodurch Willehalms Verhalten in keinem Fall der Auslöser der Missachtung und diese damit nicht selbstverschuldet sein kann.245 Im Anschluss müssen Willehalm und andere Familienmitglieder eine lange Überzeugunsarbeit leisten, bis König und Königin bereit sind, Willehalm mit Truppen und finanziellen Mitteln für eine zweite Schlacht auszustatten: Der Weg bis zur definitiven Zusage einer Unterstützung verteilt sich auf ca. 40 Abschnitte und kann nur als deutliche Hofkritik zu werten sein. Selbst wenn das Königspaar und alle anderen Anwesenden später ihre Hilfe zusagen und Willehalm in der zweiten Schlacht unterstützen, so kann der Rezipient doch das Fehlverhalten in Munleun nie ganz vergessen.246 Die Betrachtung des Figurenhandelns lässt damit zum ersten Mal vier Figurengruppen erkennen: - Die Christengruppe um Willehalm (seine Gemahlin, seine Familie und Vasallen), die bisher eindeutig positiv vermittelt wurde, wobei Willehalms nicht eindeutig zu bewertendes Verhalten weiter beobachtet werden muss, - die Gruppe um das französische Königspaar (Stadtbevölkerung, Hofgesellschaft, Bedienstete des Hofes, Truppen), die überwiegend negativ erscheinen und nur begrenzt rehabilitierbar sind,247
_____________ 245 Dörrich beschreibt die persönliche Missachtung des Königspaares als Gipfel des von Anfang an durchbrochenen Begrüßungsrituals: „Hatte das Verschließen der Türen noch den Sinn, Willehalm nicht sehen zu müssen und eine unmittelbare Begegnung zu vermeiden, so stellt die Nichtbeachtung des nun körperlich Präsenten, um dessen Anwesenheit man auch weiß, einen kaum zu überbietenden Affront dar“ (Dörrich 2002: 98). 246 Diese erzählerische Konstruktion einer in weiten Teilen negativ bestimmten Hofgesellschaft (allein die Königstochter Alyze bleibt durchgehend - aufgrund ihrer Jugend?- unbelastet) wird konsequent bis hin zur Darstellung von Nebenfiguren eingehalten. Entsprechend fallen die Küchenjungen immer wieder negativ auf, indem sie Rennewart ohne Grund provozieren und malträtieren. Denn während Rennewart nur seinen Pflichten nachgeht, bedenken sie ihn mit spotte (W188, 2), stoßen seinen Bottich mehrmals um (vgl. W189, 28f bzw. 190, 6-10), müeten ihn (W282, 2) und werfen nach ihm (vgl. W281, 23ff). Der Küchenmeister versengt Rennewart während er schläft mit einem glühenden Holzscheit Bart und Mund (vgl. W286, 3-9). 247 Die Königin wird zwar ab dem Moment der Versöhnung durchgehend positiv gezeichnet, doch dürfen wir den Primacy-Effect nicht vergessen, der schließlich auch für diese Nebenfigur gilt und der diese unter so schlechten Vorzeichen vorstellt. Zwar könnte der erste schlechte Eindruck ausgeglichen werden, doch da die Königin bereits ab Abschnitt W215 nicht mehr auftritt, scheint diese Zeit doch zu kurz, um den ersten Eindruck vollkommen zu überleben. In Bezug auf den König fällt noch mehr auf, dass der erste Eindruck eines wenig tatkräftigen und mutigen Königs an ihm haften bleibt. So übergibt er die Reichsfahne und die Befehlsgewalt an Willehalm und zieht selbst nicht in die Schlacht. Dabei nimmt er selbst das Wort der Feigheit, in Form einer Verteidigung, in den Mund: iuwer neheiner hab
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
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die Heidengruppe um Terramer und Tybalt, deren Tapferkeit und Kampfkraft positiv hervorgehoben wird, ohne jedoch einen Zweifel daran zu lassen, dass die Christen sie darin noch übertreffen, - und Rennewart, der als Zwischenfigur zu betrachten ist und der bisher sympathiefördernd vermittelt wurde. Insgesamt ist – trotz der ‚schwarzen Schafe‘ am Königshof – ein die Christengruppe privilegierendes Missverhältnis festzustellen: Während heidnisches Handeln allein im Kampf fokussiert wird, erhalten Christen das Privileg, positiv bewertetes Verhalten im Kampf und zudem in den Kampfpausen im zwischenmenschlichen Bereich zu beweisen, wobei das Handeln aus Mitleid und Barmherzigkeit – ob umstritten, unumstritten oder verweigert – überraschend stark ausgeprägt ist und deshalb weiterverfolgt werden muss. Und selbst in der Welt des Kampfes, wo beiden Parteien höchste Qualität zugesprochen wird, zeigen die fokussierten Teilhandlungen, dass diese Gleichwertigkeit insofern nur scheinbar ist, als Christen immer wieder, sicher auch durch eine nicht näher erwähnte aber vorauszusetzende Unterstützung Gottes, ihre Überlegenheit beweisen.248 Die für uns umstritten wirkenden Zornausbrüche Willehalms werden in den Empathielenkungsebenen E2 und E3 weiter zu verfolgen sein. Figurenbeschreibungen: Im Rahmen der bisher besprochenen Sympathielenkungstechniken spielte direkt wertendes Vokabular noch keine Rolle: Figuren wurden durch sie lediglich aus der Masse des Personals hervorgehoben und über ihnen zugewiesene Emotionen, Räume und Handlungen mehr oder weniger privilegiert. In der nun zu beleuchtenden Sympathielenkungstechnik der Beschreibung greift der Erzähler auch auf explizit evaluatives Vokabular zurück und profitiert so einmal mehr von seiner Autorität als vertrauenswürdiger Erzähler. Er formuliert offene Figurenwertungen, die der Rezipient mit großer Wahrscheinlichkeit akzeptiert. 1) Erscheinungsbild In den Beschreibungen des Erscheinungsbildes von Figuren können wir zwischen einem situationell-variablen und einem konstant-körperlichen unterscheiden: Während das konstant-körperliche Erscheinungsbild von der Figur kaum beeinflusst werden kann (denn es ist von Gott sowohl
_____________ daz für leit/ und merkez ouch niht vür zageheit/ ob ich hie belibe (W210, 17ff). Willehalm erscheint damit als der eigentlich fähige Heerführer. 248 Der Sieg der Heiden nach der ersten Schlacht bildet so lediglich das nach außen sichtbare Ergebnis. Viel eindrucksvoller für den Rezipienten sind aber die vielen Siege im Nahkampf, die ausschließlich von den Christen und dort von deren größten Helden errungen werden. Dem globalen Sieger 'Heiden' stehen somit viele einzelne 'Christensiege' gegenüber.
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durch Geburt als auch durch Gesundheit und Krankheit bestimmt), spiegelt ihr situationelles Erscheinungsbild, welches sich aus Kleidern, Schmuck etc. konstituiert, ihre eigenen Prioritäten wider. Beide Beschreibungsbereiche haben große sympathielenkende Macht, denn die körperliche Erscheinung kann nach mittelalterlichem Verständnis Gutes und Schlechtes einer Figur durchaus nach außen sichtbar machen, und die situationelle Erscheinung offenbart wiederum nicht selten Prioriäten und Einstellungen der Figur. Wenden wir den Blick zunächst auf das situationelle Erscheinungsbild der Christengruppe. Dabei fallen zwei Extreme auf: Wie wir im Weiteren sehen werden, lässt sich die eine Seite mit dem Terminus ‚höfische Perfektion‘ erfassen und ist charakterisiert durch teure und schöne höfische Kleidung sowie gepflegtes Äußeres. Auf der anderen Seite – und in größerer Ausprägung – steht die Dimension von Krieg und Leid, sichtbar an schlechter Kleidung, Kampfspuren und mangelnder Körperpflege. Die beiden Extreme sehen sich räumlich klar getrennt: Die Hoffeste und empfänge in Munleun und Orange zeigen deutlich das höfische Erscheinungsbild in all seinem Glanz. Im Kriegsgebiet Alischanz und im umkämpften Orange dagegen dominieren Mangel und Schmutz. In der Kleidung und Ausrüstung der christlichen Ritter im Kampf, die vergleichsweise wenig detailliert beschrieben wird, dominiert immer wieder die Kampfspuren tragende, wenig prachtvolle Ausrüstung. So sind an Willehalms Rüstung nach der ersten Schlacht die Spuren des Kampfes ersichtlich, die Rüstung ist rostig.249 Dabei liegt es nahe, Kampfschäden und Rost als Zeichen bewiesener Tapferkeit, die sich im äußeren Erscheinungsbild als für alle sichtbares Zeichen eingegraben haben, zu verstehen, denn die Verweise auf beschädigte Kleidung und Ausstattung sehen sich häufig mit Verweisen auf Tapferkeit kombiniert.250 Abgesehen von der beschädigten Kleidung sieht sich allein die des alten Heimrich dem Rezipienten vermittelt: Seine Kleidung präsentiert sich so, dass ihre hervorragende Qualität und der Schmuck im Detail den Reichtum ihrer Besitzer durchaus ausdrückt (z.B. Knöpfe aus Rubinen und Edelsteinen), dass von außen aber ein eher bescheidener Eindruck entsteht, wie es am gedeckten braunen samit mit wenigen Schmuckelementen illustriert wird.251 Die
_____________ 249 Dies zeigt sich besonders deutlich bei Willehalms Auftritt am französischen Königshof, wo seine Rüstung noch deutlich die Spuren der Schlacht zeigt. Rüstung und Mantel sind zerschnitten und durchlöchert (verhouwen, etswa verhurt; W140, 15) und sin harnasch gap nach roste schin (W140, 18). 250 Neben Willehalm, dessen Tapferkeit unbestritten ist, kann als Paradeexempel die Truppe von Heimrich von Schetis gelten, deren abgenutzte Ausstattung, z.B. die zerstochenen und durchbohrten Schilder, genauso betont wird wie ihre übergroße Tapferkeit (vgl. W240, 13-17). 251 Vgl. W406, 6-16 und 407, 5ff.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
christliche Tugend der Bescheidenheit scheint somit ihren Niederschlag auch in der Ausstattung der Christen zu finden, ohne ihren Reichtum und ihre Edelkeit in Frage zu stellen. Dies ist umso wahrscheinlicher, als die nähere Beschreibung der Kampfausstattung eine stark kreuzzugsideologische bzw. heilsgeschichtliche Funktion zeigt. Da sind zum einen die wenigen Verweise auf prachtvolle Waffen, die aber nicht nur wegen ihrer Schönheit Bewunderung finden, sondern auch wegen ihrer Wirksamkeit in der Geschichte der Christenheit. So kämpft beispielsweise Bernart von Brubant mit dem Schwert Preziosa, das der Heidenkönig getragen hatte, den Kaiser Karl einst in Ronceval erschlug (vgl. W410, 23-29).252 Damit stehen die dargestellten Ereignisse in der langen Reihe der Glaubenskriege zwischen Christen und Heiden, die sich in Spanien seit dem 8. Jahrhundert nahezu ohne Unterbrechung abspielen. Darüber hinaus rückt der Text die Krieger in die Nähe der um 1220, der Entstehungszeit des Willehalm, immer noch aktuellen Kreuzzüge. So dürfte das Kreuz auf Brust und Rücken der christlichen Krieger, welches Priester allen Kämpfern Willehalms vor der Schlacht anheften (vgl. W304, 22-25), für den zeitgenössischen Rezipienten ein eindeutiges Symbol für den legitimen und Erlösung bringenden Glaubenskrieges darstellen. Die Präzisierungen zur Symbolik des Kreuzes, die wenige Zeilen später geliefert werden, bestätigen dies. Zum einen ist das dreibalkige Kreuz im Willehalm über seinen Bezug zum alttestamentarischen Exodus 12 sichtbares Zeichen des Schutzes Gottes, der an den Ungläubigen Rache übt, während er die Kreuzgezeichneten verschont: da muose diu rache keren vür,/ swa man den selben buochstap vant,/ diu den schuldehaften was benant (W406, 26ff).253 „Die Christen stehen in der Rolle der Israeliten, die Heiden in der der Ägypter, die die Rache des Herrn trifft.“254 Zum anderen stellt das Kreuz die Christen über den Bezug zur Passion Christi als Leidende und Buße Verrichtende dar. Denn das dreibalkige Kreuz gilt auch als der Ort da der meide sun unsanfte bi/ was, unz daz sin mennischeit/ durh uns den tot dar an erleit (W407, 2ff). Dass der Krieg zur Verteidiung des Lan-
_____________ 252 Auch Willehalms Schwert ist durch den Namen – Schoyuse – deutlich personifiziert und zeichnet sich auch dadurch aus, dass sie den Unglauben der Heiden gleich einem göttlichen Gericht straft: Schoyuse sin swert, der heiden hagel,/ in den ungelouben weiz (W54, 24f). 253 Wolfram betont in dieser Textstelle, dass es sich bei dem Kreuz auf den Gewändern der Christen um eines mit drei Balken handelt (im Gegensatz zum oft verwendeten vierbalkigen Kreuz; vgl. W406, 29ff). Dieses Zeichen entspricht nach gängiger Auslegung von Exodus 12 der Markierung, die die Israeliten auf Befehl des Herrn an ihren Haustüren anbrachten, um vor seiner Rache an den Ägyptern verschont zu bleiben. Die Deutung des Blutzeichens als ‚T‘ geht von Ezechiel 9, 4 aus: „geh durch die Stadt Jerusalem und zeichne mit einem ‚Tau‘ die Stirn der Männer, die seufzen und jammern“ (vgl. dazu Heinzle 1991: 1068). 254 Heinzle 1991: 1069.
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des und des Glaubens des Gekreuzigten Gottes stattfindet, steht so außer Zweifel. Und entsprechend klar zeigt sich die Opposition zwischen Erlösten und zur Verdammung Bestimmten. Vor diesem Hintergrund kann das Fahnenzeichen Willehalms als himmlisches Symbol für die Gottbestimmtheit der Christen gesehen werden: ein tiuwer sterne von golde,/ als der markys wolde,/ in eime samite gar bla/ obe siner schar swebt alda (W328, 9-12).255 Das Erscheinungsbild der Christen im höfischen Raum steht nun in krassem Gegensatz zum Krieg: In Munleun wird von der Hofgesellschaft und der Königsfamilie schönste höfische Kleidung zur Schau getragen.256 In Orange ruft man zwar erst zum Fest auf, als durch die Aufstellung des Heeres Rettung und Sieg greifbar werden. Dann aber erscheinen alle hell gekleidet in minneclicher ahte (W265, 15), und Gyburc gilt als Inbegriff höfischen Auftretens: Si truoc geschickede unt gelaz,/ ich w#ne deis iemen kunde baz/ erdenken an die gotes kunst (W249, 3ff). Trotz dieser klar gezeichneten Trennung zwischen Erscheinungsbild im Kampf und Erscheinungsbild beim höfischen Fest lassen sich jedoch ausgerechnet bei den Hauptfiguren Willehalm und Gyburc unerwartete Überschneidungen feststellen. Denn Erscheinungsbilder des Krieges und des Kampfes erfassen unerwartet auch die Bereiche des höfischen Raums, zu denen im Allgemeinen die höfischen Damen gehören. Hier geht der epische Bericht in seiner Beschreibung der Zeichen des tapferen Kampfes so weit, dass nicht nur die Männer harnaschvarwen Bärte haben (z.B. W175, 24), sondern auch Gyburc und ihre Jungfrauen in Orange harnaschvar (W227,17) und verselwet (W230, 11) erscheinen und voll gerüstet sind (vgl. W231, 19). In diesen kämpfenden Frauen spiegelt sich einerseits die aussichtslose und bedrohte Situation der Christen, die selbst Frauen in den Kampf schicken müssen, andererseits aber auch die ungewöhnliche Tapferkeit der Frauen und der bedingungslose Zusammenhalt von Willehalm und Gyburc und der christlichen Gemeinschaft überhaupt. Selbst in der höfischsten aller Situationen, beim intimen Kussaustausch von Willehalm und Gyburc, betont der Erzähler Willehalms ungepflegten Bart (vgl. W227, 24) und Gyburcs Harnischfärbung (W227,17). Die Qualität der Liebesbegegnung scheint dadurch jedoch nicht im Geringsten gemindert, vielmehr beweisen die Liebenden eine Einheit und Ebenbürtigkeit, die bisher bekannte literarische Paare kaum erreichen konnten.257 Und aus
_____________ 255 Ebenso W433, 13ff. 256 Vgl. W142/ 143 und W154f. Dabei sind vor allem die Kleidungen der Damen Beispiele höchster höfischer Perfektion und Anmut. Immer wieder wird darunter Alyze hervorgehoben, die geflorieret in mangen wis (W154, 19) erscheint. 257 Gyburc erscheint wie keine andere höfische Dame als Beraterin und Vertraute ihres Gatten. Nicht einmal die vorbildliche Beziehung Parzivals und Kondwiramurs ist im Gesamttext von so tragender Bedeutung wie die Liebe zwischen Willehalm und Gyburc.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
diesem Liebesbund heraus ensteht nun auch der Treueschwur Willehalms, sich während seiner Reise nach Munleun nicht zu waschen um stets das Andenken an die kämpfend in Orange verbleibende Gyburc zu bewahren. Folglich steht Willehalms Erscheinung am Königshof in krassem Gegensatz zu der dort regierenden höfischen Perfektion.258 Hier würdigt man seine Tapferkeit, seine Treue und sein Leid, für die ja sein Aussehen steht, nicht, sondern wertet sie als unerwünschte Bedrohung der höfischen Feststimmung. Willehalm hält an dem Verstoß gegen den höfischen Erscheinungscodex als Zeichen seiner triuwe zu Gyburc und den Kämpfenden und Gefallenen dennoch fest. Erst als es die äußeren Umstände erlauben, nämlich als ein großes christliches Heer zur Verteidigung Oranges angerückt ist, wechseln auch er und Gyburc sowie die übrigen Bewohner von Orange zum höfischen Erscheinungsbild (vgl. W248). Damit demonstrieren Willehalm und Gyburc die persönliche Wahl eines von gesellschaftlichen Normen unabhängigen situationellen Erscheinungsbildes, welches in Opposition zum absoluten Festhalten am höfisch festlichen Erscheinungsbild des Königspaares und der Hofgesellschaft steht. Welche dieser beiden Möglichkeiten ist nun zu bevorzugen? Der Text kann dabei nur dem bewussten Abweichen von der Norm die Sympathie zusprechen. Denn die Hofgesellschaft zeigt sich unflexibel und möchte die Realität des Kampfes, an die Willehalm sie erinnert, am liebsten ausblenden, obwohl dies einer Missachtung des Verwandten entspricht. Höfischheit sieht sich hier als Garantie für Bequemlichkeit gelebt, die man nicht aufgeben will, wie die zuerst verweigerte und später nur sehr zögerliche Hilfszusage von Königin und König verdeutlichen. „So friedlich geht es in Munleun zu, daß nicht einmal ein Turnier oder ritterliche Kampfspiele – die domestizierte und auf einem höfischen Fest durchaus übliche sportliche Form von Wettkampf – stattfinden.“259 Nach Dörrich fungieren Kleider nicht nur als Ausdrucksmittel von Rang, „sondern auch von vreude, gelungener höfischer Identität und Lebensstil.“260 Ein Vortäuschen dieser vreude, wie es vom höfischen Reglement durchaus gefordert wäre, entspräche für Willehalm und Gyburc jedoch einem Verrat an ihrer Liebe zueinander und zu den Kämpfenden und Gefallenen. Da-
_____________ 258 Willehalm taucht in Munleun am Königshof zerschunden und ungewaschen auf: do was sin vel nach rame var,/ bart und har verworren gar (W127, 29f). Selbst beim Festessen verweigert Willehalm gewaschen zu werden und wirft sich das Seidengewand über ungestrichen hut (W175, 8). 259 Dörrich 2002: 82. Dörrich schreibt weiter: „Als Ausdrucksform adeliger Repräsentation, als Zeit höfisch-ritterlicher Unterhaltung (tanz, [W]128, 18f.), als Gelegenheit zur Demonstration zivilisierten Verhaltens (Schreiten auf Rosen, [W]143, 29ff), hinter dem die politischen Akzente nahezu verschwinden, kann die Zusammenkunft von dem Markgrafen nur jäh zerstört werden“ (Dörrich 2002: 82). 260 Dörrich 2002: 83.
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mit liegt das Besondere des Textes darin, das Abweichen von der höfischen Norm als ehrenhaft und berechtigt erscheinen zu lassen und demgegenüber zu verdeutlichen, dass die perfekte (aber gefühllose) Erfüllung höfischen Reglements allein keine Garantie für gutes Handeln darstellt, sondern vielmehr auch für falschen Egoismus und Feigheit stehen kann. Die Beschreibung des Erscheinungsbildes der Heiden kann als die einzige Domäne gelten, in der das Hauptaugenmerk des Erzählers nicht auf der Christengruppe liegt. Viele längere Passagen widmen sich vor allem dem situationellen Erscheinungsbild der Krieger, welches allein im Raum des Kampfes während der beiden Schlachten thematisiert wird.261 Dies führt aber keineswegs dazu, dass Heiden aus dem Bereich des schönen und höfischen Erscheinungsbildes ausgeschlossen werden. Vielmehr demonstrieren sie gerade in ihrer Kampfausrüstung bewundernswerten Reichtum und Schönheit. Eine Textstelle (W234, 4-8) setzt diesen Reichtum ins Verhältnis zum Auftreten der Christen und macht deutlich, dass gezielt auf eine Opposition gesetzt wird: ir deheiner [der christlichen Lagerstätten] doch enmohte/ gelichen der heiden ringe wit./ mit manegem tiuwerem samit/ daz velt was e bevangen,/ uf der heiden zeltstangen. Prachtvolles und Teures der Heiden mischt sich – nicht nur im Gezelt sondern auch in der Kleidung – mit einer Farbenpracht und sichtbarem Prunk, der auf Christenseite so nie beschrieben wird. Als Stichwort kann hier die Umschreibung mit koste geflorieret (W403, 27ff) gelten. Es dominieren Brokat, grellbunte Seide, Taft, seidene Schnüre und leuchtende Banner (vgl. W16,4-19). Zum Beispiel vergleicht der Erzähler den Mantel des Ehmereiz mit einer bunten Wiese im Mai, wobei sich letztere mit der Farbenpracht des Mantels nicht messen kann.262 Während bei Christen die Ausstattung des einzelnen Helden kaum Beachtung findet, erfährt der Rezipient von der der Heiden – selbst der Nebenfiguren – alle erdenklichen Details. Er hört vom Schmuck Fausabres, Gloriax’, Malarz’, Utreiz’, Josweiz’, Poydjus’ und seiner Truppe.263
_____________ 261 Die Fokussierung auf das Erscheinungsbild im Kampf resultiert logisch daraus, dass Heiden, wie bereits betont wurde, aus der Zwischenpassage, die die Zeit vom Ende der ersten bis zum Beginn der zweiten Schlacht beschreibt, fast gänzlich ausgeschlossen werden. 262 bi Ehmereizes kursit/ der heide glanz in des meien zit/ mit touwe behenket/ an prise w#re verkrenket:/ so clar was er gemachet,/ daz die bluomen w #ren verswachet (W364, 21-26). 263 W372, 25-30 beschreibt den gewaltigen Schmuck der Könige Gloriax, Malarz und Utreiz. Insgesamt erhebt sich vor den Augen des Publikums ein Meer aus Farben, Pracht und Reichtum. Um noch einige weitere Beispiele zu nennen: Die Seidenstoffe von Poydjus’ Truppe sind so leuchtend und farbenfroh, dass sie das Schlachtfeld hell aufglänzen lassen (von sunnen noch ûz viure/ dorfte grAzer blicke niht gên; W376, 4f:), der Glanze der Seidenstoffe der Truppe von König Marlanz scheint heller als die Sonne (vgl. W394, 27-30), die Rüstung des Poufameiz ist mit Edelsteinen besetzt (vgl. W55, 20) und selbst Terramers Pferd Brahane trägt ein volles Wappenkleid mit kostbaren Seidendecken (unz ûf den huof daz ors vil gar/ gewâpent was mit kovertiur./ ein pfellel glestende als ein viur,/ mit kost geworht in Suntîn,/ der lac ûf der îserîn; W360, 14-18).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
Schmuck und Prunk lässt die Heiden neben der Betonung ihres faszinierenden Reichtums nicht zuletzt als vorbildliche Minneritter erscheinen, die von ihren Damen so kostbar ausgestattet wurden.264 Genauso beeindruckend wie Schönheit und Reichtum ist mit Sicherheit die Fremdartigkeit der Ausstattung einiger Heiden, wobei die Bandbreite der Signale, die der Text an den Rezipienten sendet, von 'faszinierend' bis 'furchterregend' geht. Tybalts Ausrüstung ist beispielsweise ganz aus schneeweißem Salamander gefertigt und kann nicht aus Frauenhand stammen (vgl. W366, 4-14). Andere Heiden tragen faszinierend fremdartigen Helmschmuck, der z.B. aus Figuren von wilden Tieren, Vögeln und ganze Bäume mit Zweigen und Ästen besteht (man sach dâ wunder gogelen/ von tieren und von vogelen/ ûf manegem helme veste,/ boume, zwîe und ir este,/ mit koste geflorieret; W403, 23-27). Cliboris transportiert gar eine ganze Schiffskulptur mit Edelsteinen und Goldfäden auf dem Kopf, die funkeln, als ob ium viuwers vanken/ vlügen uz dem munde (W409,28f; vgl. auch W409,20-30). Fremdländische Schönheit und Fremdartigkeit gehen dabei einher mit einzigartigem Schutz: Purrels Rüstung ist z.B. aus dem in Regenbogenfarben leuchtenden Leder eines Drachen und macht ihn nahezu unverwundbar (vgl. W425, 27-426,30). Aus der Sicht des zeitgenössischen Rezipienten legt der erschlagende Anblick heidnischen Prunkes zumindest Assoziationen mit der verpönten vanitas mundi nahe.265 Dass sich der christliche Ritter, vor allem der für seinen Glauben kämpfende Kreuzritter, von solch weltlichem Prunk eher fernhalten sollte, machen unter anderem die Schriften Bernhards von Clairvaux deutlich. Dieser fordert im Jahr 1147 von den milites christi, dass niemand buntes oder graues Pelzwerk, seidene Kleidung oder Gold und Silberschmuck am Zaumzeug trägt.266 Vor diesem Hintergrund erscheint das situationelle Erscheinungsbild von Christen und Heiden keineswegs zufällig, sondern im Blick auf
_____________ 264 Heidnische Ausstattung als Ausweis des Minnerittertums erscheint beispielsweise beim Schmuck Arofels, von dem der Erzähler betont, er sei der kostbarste, der je einem Geliebten von seiner Freundin geschenkt wurde, außer natürlich dem, den Feirefiz von Secundille im Parzival erhält (vgl. W125, 28ff). Auch die Ausstattung von Noupatris mit einem aufgenähten Amor im Banner weist ihn als exemplarischen Minneritter aus (vgl. W23, 22-24, 7). 265 Dass diese Interpretation tatsächlich naheliegt, zeigen Sequenzen des Textes, in denen den Heiden ihre kostbare Kleidung nicht zum Vorteil gereicht: So stellt die teure Pofuzseide Ehmereiz in seiner Gefangennahme umso mehr bloß, als sie ihn umso sichtbarer macht (vgl. W367, 26-30). Der Schmuck König Fabors erscheint angesichts der Tapferkeit der Feinde sinnlos, er wird zerfetzt (vgl. W372, 16-20). Rennewart gerät angesichts der bunten teueren Decken so in Rage, dass er alles um sich herum wahllos niedermetzelt, sei es Mensch oder Tier (vgl. W365, 26-29). An mehreren Stellen wird beschrieben, wie die teuren Gewänder der Heiden im Kampf so von Blut getränkt werden, dass das Blut den Glanz unsichtbar macht (vgl. W381, 12-16). 266 ne quis aut variis aut griseis seu etiam sericis utatur vestibus (Bernhard von Clairvaux, Epistola 458, PL 182, Sp. 654A).
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den zeitgenössischen Rezipienten gezielt sympathiefördernd für Christen eingesetzt. Der junge Heide Rennewart, der seit dem Kindesalter als Küchenjunge am christlichen Königshof lebt, steht eigentlich zwischen den Parteien. Gerade sein Erscheinungsbild übernimmt jedoch eine deutliche Symbolfunktion in Bezug auf seine Zugehörigkeit zur einen oder anderen Kriegspartei. Zunächst, als misshandelter und von allen verschmähter Küchenjunge, ist sein situationelles Erscheinungsbild hauptsächlich charakterisiert durch ein ärmliches und schmutziges Äußeres. Der Rezipient lernt ihn mit küchenvarwem velle (W201,24) do er so wiltlichen sach (W270, 7) kennen. Damit ähnelt er optisch eher den kampfversehrten Christen als seinen heidnischen Verwandten. Er trägt ein swach gewant, sein Haar ist verdreckt (vgl. W188, 17). Bei Rennewart wie bei den christlichen Kämpfern steht dieses verwahrloste Äußere für bisher durchlebtes Leid: Die Christen litten im Krieg, Rennewart unter seiner schlechten Behandlung als Küchenjunge. Im Laufe der Schlachtvorbereitungen für die zweite Schlacht, bei der Rennewart dann für die Christen kämpft, entwickelt sich Rennewart – mit der Hilfe Gyburcs und Willehalms – auch optisch hin zur höfischchristlichen Figur. Seine Rüstung stammt zwar von Gyburcs Verwandten und ist somit heidnisch, von Prunk und Farbenpracht ist hier aber keine Rede.267 Für den Rezipienten ordnet sich Rennewart somit optisch deutlich in die Reihe der Christen ein, so dass sein Äußeres als sympathiefördernd betrachtet werden kann. Nach diesen rein situationellen Ausstattungen stellt sich die Frage, wie der Text dem Rezipienten die konstante Körperlichkeit der Figuren, zunächst der Christen, vermittelt. Das Repertoire des den Körper der christlichen Figuren beschreibenden Vokabulars bleibt relativ begrenzt, wobei süeze und clarheit die dominierendsten Merkmale darstellen. Dabei entsprechen vor allem die Frauen dem höfischen Schönheitsideal, was der Erzähler am ausführlichsten bei Alyze und Gyburc ausführt: Alyze wird dem Publikum als diu junge reine süeze clar (W154,9) mit geschmückter Lockenpracht (vgl. W154, 10f) vorgestellt, die insgesamt so liehten schin (W200, 1216) ausstrahlt, dass bei ihrem Anblick jeder Unglückliche wieder glücklich wird (vgl. W155, 4). Gyburc tritt beispielsweise beim Festmahl in ihrer
_____________ 267 Gyburc schenkt Rennewart eine kostbare Rüstung samt Schwert (vgl. W293f). Obwohl dieser die ritterliche Ausstattung nicht besonders schätzt, weil er sich in ihr nur schlecht bewegen kann (vgl. W295, 20-23) lässt er es schließlich zu, dass Gyburc ihm die volle Rüstung anlegt: juncvrouwen und daz clare wip/ wapenden Rennewartes lip./ Do er daz harnasch gar het an,/ zwene starke schuohe der junge man/ bant über die iserkolzen (W295, 29-296, 3). Damit ist Rennewarts Lebensphase als bäurisch-unerzogener Küchenjunge auch äußerlich überwunden. Die Rüstung steht für seine Verritterlichung und seine zukünftigen Kampferfolge gleichermaßen.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
Schönheit auf und der Erzähler betont ihren süezen lip, der sich den Gästen clarlich, also wohl glänzend herausgeputzt, präsentiert (vgl. W248, 24f). Aber auch die männlichen Christen gelten als schön, vermittelt durch die Adjektive clar und süez, wobei besonders die Reinheit und Schönheit der jungen Märtyrer Vivianz und Myle hervorgehoben wird. 268 Über Heimrich den Schetis heißt es bewundernd: swaz mal#re nu lebendic sint,/ ir ougen, pensel und ir hant/ ist sölh geschickede unbekant (W241, 27-30). Allerdings wird im Text diese reine Schönheit auch durchbrochen, was besonders in Bezug auf die beiden Hauptfiguren Willehalm und Gyburc auffällt. So veschweigt der Erzähler nicht Willehalms Narbe,269 und selbst wenn man die nächste Textstelle auch als topisch bzw. hyperbolisch auffassen kann, so drängt sich doch der Verdacht auf, dass tiefes Leid auch den Körper nicht unverändert zurücklässt: er [Willehalm] het ouch manec ander vlust:/ durh daz was herzenhalp sin brust/ wol hende breit gesunken/ und sin vreude in riuwe ertrunken (W177, 11-14). Noch erstaunlicher ist der Verweis auf die veränderte Ausstrahlung von Gyburc nach der Verteidigung Oranges: sine het ouch niht so liehten schin/ als do er von ir schiet (W229, 20f). Sollten diese Merkmale, die vom klassischen Schönheitsideal abweichen, etwa die logische Ergänzung zur Abweichung vom situationellen höfischen Erscheinungsbild (vgl. oben) der beiden Figuren darstellen? Narben, körperlicher Verfall und äußere Zeichen der Zeit gehören eindeutig nicht zum typischen Schönheitsideal eines höfischen Paares.270 Doch gleichzeitig entbehrt eine Interpretation, die diese äußeren 'Makel' als äußerlich sichtbare Zeichen von innerer Defizienz sehen wollte, jeglicher überzeugender Argumente, denn schließlich werden sie im Text nicht negativ konnotiert: Willehalms Nase demonstriert seine Tapferkeit in vergangenen Kämpfen, fungiert als lebensrettendes Erkennungsmal und auch Gyburc erscheint mit diesen Zeichen der Zeit nicht weniger attraktiv. 271
_____________ 268 Für Vivianz vgl. W47, 25 (clar) und W167, 27ff (süez), für Myle vgl. W381, 4 (der clare süeze). 269 Gyburc erkennt vor Orange die masen (W92, 15) auf seiner Nase und nennt ihn infolgedessen: Wilhelm ehkurneys (W92, 17), womit Wolfram das altfranzösische al cort nes („mit der kurzen Nase“) aufgreift. 270 Paare wie Iwein und Laudine, Erec und Enide, Parzival und Kondwiramurs altern nicht, sondern verbleiben in ihrer ursprünglichen Schönheit und Jugend. Alle körperlichen Makel, selbst der Aussatz Heinrichs im Armen Heinrich oder die Verletzungen des Gregorius, sind in der Regel reversibel, verschwinden entsprechend wieder und sehen sich ersetzt durch ungetrübte Schönheit. 271 Eine Figurenrede Gyburcs erklärt dem Rezipienten, dass die Narbe Willehalms von einem großen Kampf gegen die Heiden an der Seite Karls des Großen herrührt (vgl. W91, 2792, 2). Es handelt sich nach Gyburc um eine Narbe, die sich Willehalm in höchstem päpstlichen Einsatz (eine masen, die ir enpfienget do/ durh den babest Leo; W92, 1f) zuzog. Nur dank dieser Narbe als Erkennungszeichen öffnet Gyburc Willehalm schließlich die Tore Oranges (vgl. W92, 17ff). Eine Beeinträchtigung von Gyburcs Attraktivität wird nirgends er-
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Eine Deutungsmöglichkeit für diese Aspekte des Erscheinungsbildes liegt vielleicht im Interesse einer möglichst realen Darstellung dieses historischen Stoffes. Doch sie können auch auf tiefgreifendere Ummotivierungen des klassisch-höfischen Paradigmas hinweisen. Willehalm und Gyburc sind kein klassisches höfisches Paar, denn sie sind beide reifer an Jahren und Gyburc ließ auf Heidenseite sowohl einen Ehemann als auch mehrere Kinder zurück.272 Folglich können ihre auch körperlichen Veränderungen als Zeichen der Entfernung von der klassisch-höfischen Norm verstanden werden, aber nicht im Sinne einer enttäuschenden Abweichung, sondern im Sinne einer Auszeichnung durch Zeichen ihres außergewöhnlichen Lebens, ihrer außergewöhnlichen Tapferkeit und ihres Kampfes für das Christentum. Auf diese Weise würde dem Rezipienten ein eher ungewöhnliches Äußeres sympathiefördernd vermittelt; sympathiefördernder als das makellose Äußere der höfischen Gesellschaft. Dass diese Lesart zumindest möglich ist, unterstützen die Beobachtungen Hennig Brinkmanns und Ulrich Ernsts, die ab der Hochphase des höfischen Romans auch das neue Ideal einer Abweichung vom höfischen Schönheitsideal beobachten. Sofern solche Abweichungen nicht im Sinne einer Strafe Gottes negativ konnotiert sind, können sie auch als religiös motivierte Kritik am weltlich-höfischen Schönheitskult gelesen werden.273 Im Willehalm spielen sich diese Abweichungen vom Schönheitsideal freilich in sehr
_____________ wähnt, im Gegenteil, beim Empfang in Orange wird sie als schön und begehrenswert beschrieben (vgl. W248, 25-249, 15). 272 Die Kinderlosigkeit der Ehe mit Willehalm könnte man sogar als Hinweis darauf verstehen, dass gemeinsame Kinder aufgrund des fortgeschrittenen Alters von Gyburc nicht mehr möglich sind. 273 Brinkmann sieht in der Darstellung des hässlichen Eremiten im Gregorius den Ausdruck der von Hartmann bekämpften weltlichen und diesseitsorientierten Lebenshaltung (vgl. Brinkmann 1929: 742f). Sie zeichnet einen Antityp des höfischen Menschen, die nach Ernst auch als „nicht zu übersehende Polemik gegen den im 12. Jahrhundert anhebenden Schönheitskult des ritterlichen Standes“ betrachtet werden kann (Ernst 2002: 52). Der Gedanke an eine religiöse Allusion der veränderten Körper Willehalms und Gyburcs scheint dabei nicht abwegig. Urban Küsters legt in seinem Aufsatz „Narbenschriften“ überzeugend dar, wie sehr auf dem Weg zum und im späten Mittelalter der ‚gezeichnete Körper‘ im Zentrum der Passionsfrömmigkeit steht: „Wundmale, Narben, Zeichen […] erscheinen laut Selbstbeschreibung und hagiographischen Berichten nach dem Vorbild Christi auch auf dem Körper charismatisch auserwählter Menschen“ (Küsters 1999: 81). Jesus werde immer mehr als der „Schmerzensmann“ dargestellt, wobei Crucifixe neben den fünf Hauptwunden auch die kleineren Wunden der Geißelung und Dornenkrönung festhielten (vgl. Küsters 1999: 98f). Küsters begründet diese Entwicklung des 13. Jahrhunderts kulturgeschichtlich durch das „Spannungsfeld von charismatischer Laienfrömmigkeit und kirchlichen Verschriftungsprozessen“ (Küsters 1999: 82). Einen Zusammenhang zwischen den Laienfrömmigkeitsbewegungen seit dem 12. Jahrhundert und der Entwicklung literarischer Figuren sehen auch Schwietering, Kraß und Gephart, die allesamt auf den zunehmenden Stellenwert des mitleidigen Helden verweisen (vgl. Schwietering 1969, Kraß 2000, Gephart 2005).
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kleinen Bereichen ab, denn Willehalm und Gyburc verlieren ihre makellose Schönheit schließlich nur am Rande. Doch heben sie diese kleinen Abweichungen von der Welt des Hofes ab. Und da sich der Hof im Willehalm nicht unbedingt durch Tatkraft, Tapferkeit und Mitleid auszeichnet, liegt es doch nahe, eine positive Abgrenzung zum höfisch makellosen Erscheinungsbild anzunehmen. Höfische Schönheit, überzeichnet von für den Glauben erworbenen Spuren des Leides, erscheint so als idealste Form eines neuen, stärker christlich als höfisch geprägten Schönheitsbegriffs. Und wenn Willehalm nur aufgrund seiner verstümmelten Nase vor Orange seine Identität beweisen kann, dann denkt man auch an die Gebärde Gottes, dessen Öffnen der Handflächen mit den Wundmalen auf vielen Bilddarstellungen festgehalten ist. Nach biblischer Vorstellung weist schließlich „nicht nur Christus […] seine Wunden am Tag des Jüngsten Gerichts vor, sondern auch die Gerechten zeigen ihre Zeichen auf der Stirn und die Märtyrer ihre Narben.“274 Wenn auch in geringerem Maße, so ist auch die körperliche Erscheinung der Heiden für den Rezipienten überraschend: Denn eine Gruppe der Heiden erscheint fast übermenschlich vorbildlich und wird so eindeutig sympathiefördernd vermittelt. In Rückbezug auf das höfische Ideal werden auch hier immer wieder die Adjektive süez und clar zur Umschreibung verwendet, so dass beispielsweise die Kämpfer Halzebier, Poufameiz, Jozeranz und Noupatris in ihrem Aussehen genauso gut auf Seite der Christen auftreten könnten.275 Eine zweite Gruppe hebt sich jedoch deutlich vom abendländischen Ideal ab und verkörpert anderweltige Fremdheit, die Schönheit nicht ausschließt, jedoch deutlich das Fremde als Erschreckendes und Angsteinflößendes in den Vordergrund rückt.276 Die Herkunftsländer der Heiden liegen aus der Sicht des mittelalterlichen Weltbildes so weit am Rande der Erde, dass Verschmelzungen zwischen Mensch und Tier normal erscheinen. Vor den Augen des Rezipienten erhebt sich ein beeindruckendes und furchteinflößendes Paradigma heidnischer Kämpfer: König Gorhants Land liegt beispielsweise am Ganges (vgl. W35, 12), über seine hürnenen Kämpfer heißt es: des volc was vorn und hinden horn,/ ane menneschlich stimme
_____________ 274 Küsters 1999: 99. 275 Über Halzebier hört der Rezipient: Halzibier der clare/ mit reitbrunem hare/ und spanne breit zwischen bran,/ swaz sterke heten sehs man,/ die truoc von Falfunde der künec (W46, 1-5). Zu Poufameiz vgl. W55, 15 (der junge clare süeze gast), zu Jozeranz W14, 25 (ich meine den claren Jozeranz), zu Noupatris W22, 19 (er het ouch jugent und liehten schin). Im jugendlich strahlenden schönen Noupatris scheint zudem ein heidnisches Pendant zum jungen Vivianz auf Christenseite zu bestehen. 276 Dass Fremdheit gleichzeitig faszinierend schön und doch furchteinflößend sein kann, zeigt die Beschreibung von Terramers Gefolge: manec swarzer mor, doch lieht gevar,/ die sich wol zimierten (W34, 30f).
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erkorn:/ der don von ir munde/ gal sam die leithunde/ oder als ein kelber muoter lüet (W35, 13-19). Sowohl Erscheinung als auch Sprache wirken fremd und furchteinflößend. Die Beschreibung von bewundernswerten und zugleich erschreckenden Heiden spiegelt eine Faszination am Exotischen wider, die das Publikum des Willehalm geteilt haben dürfte. „Was das eine Mal schreckt, übt das andere Mal einen verlockenden Zauber aus. Neben der Repulsion steht die Attraktion.“277 Die Heiden erscheinen menschlich und tierisch, schön und furchterregend, schwarz und weiß zugleich (im wahrsten Sinne des Wortes) und werden damit auch im Übertragenen dem Guten (als Schöpfung Gottes) und dem Bösen (aufgrund ihres nach mittelalterlichem Verständnis falschen Glaubens) gleichermaßen zugeordnet.278 Daran zeichnet sich eine fast tragische Spannung ab, die den Rezipienten mit einer zweischneidigen Wertung zurücklässt und die im Text noch weiterzuverfolgen sein wird. Im körperlichen Erscheinungsbild sieht sich Rennewart so stark wie sonst kaum seiner Rolle zwischen Christen und Heiden zugeordnet. An Stärke, Kraft und auch an Körpergröße scheint er alle anderen Heiden noch zu übertreffen (z.B. W274,15ff). Doch zusätzlich ist er fast noch schöner als alle anderen christlichen und heidnischen Kämpfer: man kos der muoter ere/ an im, diu sölhe fruht gebar./ als sin antlütze gar/ ze wunsche stuont und al diu lide./ sin clarheit warp der wibe vride:/ ir neheiniu haz gein im truoc (W271, 6-11).279 Ein besonderer Gestaltungswille des Erzählers zeigt sich in metaphorischen Ergänzungen zum Aussehen einer Figur, wodurch dem Rezipienten die innere Schönheit des nach außen noch ungeschlacht wirkenden Küchenjungen vermittelt wird. Als Vergleich dient die Rose, die als Königin der Blumen auf seine hohe Geburt und seine inneren Werte verweist.280 Für die Kampfkraft stehen zusätzlich seine Augen, die im Mittelalter auch als Spiegel der Seele gelten können, die groß, hell und rein sind: Rennwart als touwic spitzic rose stet/ und sich ir ruher balc her dan/ klubet: ein teil ist des noch dran./ wirt er vor roste immer vri,/ der heide glanz wont im ouch bi./ der starke, niht der swache,/ truoc ougen als ein trache/ vorm houbte, groz, luter, lieht (W270, 20-27). Rennwart ist damit die Figur, die der Erzähler durch die Beschreibung körperlicher Schönheit am meisten begünstigt; wahrscheinlich um beim Rezipienten nicht das Bild eines grobschlächtigen Küchen-
_____________ 277 Landmann 1975: 183. 278 Dass Gutes und Böses im Menschen vereint sein können, betont schon der ParzivalProlog: Ist zwîvel herzen nâchgebûr,/ daz muoz der sêle werden sûr./ gesm#het unde gezieret/ ist, swâ sich parrieret/ unverzaget mannes muot,/ als agelstern varwe tuot./ der mac dennoch wesen geil:/ wand an im sint beidiu teil,/ des himels und der helle (P1, 1-9). 279 Die Beschreibung seiner Schönheit geht bis zum Vergleich mit dem Gralkönig Anfortas: sch Aner antlütze wart nie gesehen/ sit des tages daz Anfortas/ von der vrage genesen was (W283, 28ff). 280 Vgl. W195, 4ff: under rame der geflorte,/ des vel ein touwic rose was,/ ob ez im rosteshalp genas.
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jungen entstehen zu lassen, sondern dem jungen Heiden höchste innere Werte zuzuweisen und ihn so auf die höchste Stufe der Wertschätzung, über die Stellung als heroisches Kraft- und Stärkesymbol hinaus, zu heben. 2) Figurenbeschreibung anhand von Adjektiv- und Attributdistribution Neben dieser Beschreibung des Figurenäußeren schmückt der Erzähler den epischen Bericht in hohem Maße mit Adjektiven aus, die den Figuren konkret und explizit Eigenschaften zuweisen. Auf diese Weise könnte der Text so deutliche Bewertungen setzen und entsprechend Figuren- und Figurengruppen voneinander abgrenzen, doch gerade diese Erwartung wird im Willehalm nicht erfüllt. Im Gegenteil: Der Text scheint kaum Interesse an individuellen Akzentuierungen anhand von Adjektiven zu zeigen, sondern vielmehr das gängige Paradigma mittelhochdeutscher Adjektive zum einen auszuschöpfen und zum anderen breit auf alle Figuren und Figurengruppen zu verteilen. Betrachtet man zunächst die Gruppen als Ganzes, stellt man eine ähnliche Verteilung in den wichtigsten Bereichen fest. So betont der Erzähler in Bezug auf Christen, Heiden und Rennewart vor allem - ihre Tapferkeit durch die Adjektive und Attribute manlich, unverzagt, ellens rîch, küen, niht des muotes krank, nie zagheit, genendic, guote kraft, unervorht,281 - ihre Stärke durch das Adjektiv stark,282 - die Weisheit einzelner Vertreter durch das Adjektiv wîse,283 - die Würde und Ehre durch die Adjektiv wert und edel,284 - die edle Abstammung (durch verschiedene Umschreibungen),285
_____________ 281 Für Christen beispielsweise: W16, 1/ 16, 25/ 112, 5/ 118, 19 (Willehalm), W226, 25f/ 250, 17 (Gyburc), W266, 4 (Heimrich), W13, 18f (Bertram). Für Rennewart: W32, 26/ 444, 23/ 318, 20/ W273, 19f/ W270, 15. Für Heiden beispielsweise: W340, 14 (Terramer), W17, 29/ 22, 5/ 419, 17/ 46, 1-12 (Halzebier), W368, 6-19/ 369, 4 (Synagun), W372, 16ff (Brüder Gyburcs). 282 Für Christen beispielsweise: W424, 26f (Iwan). Für Rennewart: W226, 12/ 364, 14/ 188, 6f. Für Heiden: W17, 29/ 46, 1-12/ 22, 5 (Halzebier), W378, 4 (Poydjus), W411, 6 (Cliboris), W424, 12 (Haropin). 283 Für Christen: W91, 4/ 192, 6-9 (Willehalm), W179, 19 (König), W23, 20/ 42, 20 (Vivianz). Für Rennewart: 192, 10ff. Für Heiden: W354, 1/ 106, 10 (Terramer). 284 Für Christen beispielsweise: W249, 30 (Gyburc), W15, 1-11 (Gaudins, Gaudiers, Gibelin, Hunas), W312, 3f (Gruppe), W21, 24 (Myle), W174, 14 (Alyze). Für Rennewart: W192, 21. Für Heiden beispielsweise: W386, 26-29 (Josweiz), W10, 13/ 356, 13 (Terramer), W11, 7 (Tybalt), W46, 1-12 (Halzebier). 285 Für Christen: W53, 1/ 214, 1 (Willehalm), W41, 13 (Vivianz), W184, 28f (König), W131, 1 (Wimar). Für Rennewart: W270, 6f/ 276, 14/ 282, 6. Für Heiden: W353, 25 (Puttegan von Ormaleriez), W356, 10 (Clabur), 343, 1f (Tybalt).
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- die Reinheit und Lieblichkeit (durch die Adjektive clar und süez).286 Damit sehen sich alle Figuren und Figurengruppen des Textes positiv bewertet. Abgrenzungen zwischen den gegnerischen Gruppen anhand der Adjektivdistribution können nicht überzeugend nachgewiesen werden. Allein der Reichtum der Heiden (Adjektiv rîch287) ist auffallend häufig betont, während er in Bezug auf Christen kaum verwendet wird. Auch eine weitere Profilbildung der einzelnen Figuren bleibt aus. Mit Ausnahme von erwarteten Akzentuierungen, wie z.B. der herausragenden Stärke Rennewarts,288 präsentiert der Text – aus der Sicht der Adjektive! – ein für den Rezipienten kaum greifbares Bild von insgesamt vorbildlichen, aber profillosen, Figuren. So stellt sich unweigerlich die Frage, warum der Text in quantitativ so großem Maße Wertschätzung fördert, die scheinbar für den Rezipienten so wenig neue Erkenntnisse bringt. Sollte der Erzähler rein ästhetische Interessen verfolgen? Der Schlüssel scheint anderswo zu liegen. Indem der Text alle Figuren durch die Adjektive positiv umschreibt, weist er allen Figuren positive, wenngleich durch fehlende Profilbildung allgemeine Anlagen zu. Diese sehen sich aber erst in wirkliche Wertschätzung umgewandelt, wenn die der Figur zugewiesenen Eigenschaften auch von ihrem Handeln bestätigt werden. Vor diesem Hintergrund lässt uns ein Vergleich der Adjektivdistribution mit den bisherigen Betrachtungen misstrauisch werden. Setzen wir sie z.B. mit dem gezeigten Figurenhandeln in Bezug, so fällt schnell auf, dass sich die über Adjektive zugeschriebenen Eigenschaften nur partiell mit dem tatsächlich manifestierten Figurenhandeln decken: Die Eigenschaften von Tapferkeit und Stärke sehen sich im Kampfgeschehen auf beiden Seiten bestätigt, auch wenn die Christen natürlich trotz zah-
_____________ 286 [C]lar und süez können sowohl äußerliche als auch innere Eigenschaften bezeichnen. Die oben im Rahmen der Betrachtungen des Erscheinungsbildes angeführten Beispiele werden hier ausgespart. Vgl. für Christen beispielsweise: W47, 25 (Vivianz), W14, 25 (Jozeranz), W381, 4(Myle), W154, 9 (Alyze). Für Rennewart: W364, 14. Für Heiden beispielsweise: W364, 14 (Poufameiz), W371, 12 (Erfiklant). 287 Allein für Terramer wird die richeit sehr häufig hervorgehoben (z.B. W9, 27-7/ 166, 17/ 319, 11ff/ 337, 1/ 11, 14f/ 360, 1/ 356, 13). Weiter wird Reichtumg zugewiesen: dem Heer Terramers (W339, 6f/ 339, 17-21), Margot von Pozzidant (W35, 5f/ 35, 10), Tedalun (W444, 1), Aropatin von Ganfassashe (W382, 2-16) und Josweiz (W386, 26-29). Auf Christenseite wird nur Heimrich (W237, 18), Buove (W328, 18) und der Königin (W175, 14) besonderer Reichtum zugesprochen. 288 Gerade im Heldenepos ist die hyperbolische Stärke wichtiges Auswahlkriterium. Dass dem Erzähler Handlungen, die die Stärke Rennewarts demonstrieren, sehr wichtig sind, zeigt die große Anzahl der Beispiele. Rennewart hebt Gewichte mühelos, seine enorme Stange als ein swankele gerten (W202, 6f). Mit seiner Stärke ist er innerhalb der für die Christen kämpfenden Scharen einzigartig, was auf seine generelle Sonderstellung hinweist. Dass allein Willehalm die Stange Rennewarts wenigstens bis zum Knie heben kann (vgl. W311, 24f) verdeutlich einmal mehr Willehalms Funktion als Protagonist.
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lenmäßiger Unterlegenheit letztlich siegen. Daraus und aus der – ebenfalls unbestrittenen edlen Abstammung – leitet sich auch Würde und Ruhm aller Beteiligten überzeugend ab. Die übrigen Eigenschaften, v.a. die der wîsheit und der triuwe, lässt der Erzähler noch stärker allein die christliche Familie tatsächlich im Verhalten demonstrieren bzw. in einer Tiefe prägen, wie es den Heiden nicht zugestanden wird (vgl. oben Figurenhandlungen). Damit zeigt sich eine Diskrepanz zwischen adjektivalem 'Etikett' und tatsächlicher individueller Füllung dieses 'Etiketts' durch Taten und Emotionen. In Bezug auf den Sympathielenkungseffekt müssen wir dieses Phänomen so auffassen, dass den Heiden zwar positive Anlagen zugewiesen werden, die Sympathie prinzipiell möglich machen, dass diese aber in Taten in diesem Text nie wirklich realisiert werden. 3) Figurenbeschreibung durch Figurenbezeichnungen289 Die Möglichkeit der Sympathielenkung über Figurenbezeichnungen sieht sich im Willehalm kaum genützt. Die wenigen Bezeichnungen für beide Parteien und die einzelnen Helden sind gleichwertig und fast austauschbar. Unter Heiden wie Christen finden sich zahlreiche held(e) (z.B. W421, 27/ 6, 19). Viele weitere Bezeichnungen, wie der küene (z.B. W77,29/ 328, 19) oder der werde (z.B. W10, 9/ 225, 15), weisen erneut auf die Gleichwertigkeit der beiden Parteien im Kampf und auf ihre Ritterlichkeit hin. Nur eine einzige Bezeichnung wird deutlich in Opposition gesetzt und trägt eine klare Wertung für den Rezipienten: Die Christen werden als gotes soldiere (W19,17) zusammengefasst, die Heiden dagegen als ungeloubic diet (W31,27). Allerdings müssen wir in diesem Kontext festhalten, dass die im Text für die Gegner durchgehend angewendete ‚normale‘ Bezeichnung heiden oder heidenschefte keineswegs wertneutral ist, sondern sich im biblischen und patristischen Sprachgebrauch pejorativ verwendet sieht.290 Im Gegensatz zu den weltlichen Werten besteht klar im religiösen Bereich keinerlei Verwischung oder gar Gleichwertigkeit. Die in den zitierten Begriffen angelegte Wertung wird im Text an keiner Stelle hinterfragt und gilt daher uneingeschränkt. Insgesamt sind Figurenbezeichnungen im wolframschen Text wenig dominierend und damit für den Prozess der Sympathielenkung wenig prägend. Wir werden sehen, dass sich andere
_____________ 289 Bezeichnungen für Figuren aus dem Munde der Erzählerstimme können stark evaluierend sein und gehen damit über jede (neutrale) Beschreibung weit hinaus. Damit können sie an der Grenze zur Stimme der Erzählerfigur angesehen werden: Bezeichnungen tragen das Werturteil ihres Benutzers, der auf seine Autorität setzt, um sein Werturteil auch auf das Publikum zu übertragen. Beides weist eher auf eine explizite Erzählerfigur hin, als auf eine anonyme allwissende Erzählstimme. Da die Bezeichnungen jedoch ohne weitere Merkmale des Expliziten in die Handlungswiedergabe einfließen, sollen sie auf der ersten Empathielenkungsebene behandelt werden. 290 Zu Einzelbelegen vgl. LexMA 4, 2011-2013, Artikel: Heiden/Heidentum.
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mittelalterliche Texte dieser Sympathielenkungstechnik weit ausgiebiger bedienen. 1.2 Aliscans – Empathielenkung im epischen Bericht Durchleuchtet man den epischen Bericht der altfranzösischen chanson de geste Aliscans, die ca. 40 Jahre vor Wolframs Text entstand, nach potentiell empathielenkenden Strukturen, so zeigen sich einerseits Gemeinsamkeiten, andererseits auch deutliche Unterschiede.291 Mit nur 8185 Versen im Vergleich zu ca. 14000 Versen des Willehalm können hier prinzipiell – und damit auch im Rahmen des epischen Berichts – weniger empathielenkende Details über Emotionen, Räume und Figuren vermittelt werden. In Anbetracht dieser Grundbedingungen ist es besonders interessant zu erfahren, wo der Text Prioritäten setzt und wie er den begrenzten Raum zur Empathielenkung nutzt. 1.2.1 Empathie Raumfilter: Zunächst stellt sich die Frage, inwieweit der altfranzösische Text auf die Technik des Raumfilters zurückgreift, um Empathie mit einer oder wenigen bestimmten Figur(en) zu fördern. Dabei zeichnet sich eine Strategie der epischen Blicklenkung ab, die in vielen Punkten an die des mittelhochdeutschen Textes erinnert, die sich im Detail aber doch deutlich von dieser unterscheidet. Im Gegensatz zum Willehalm beginnt der Text ohne Prolog in medias res, d.h. direkt mit den Kampfhandlungen der ersten Schlacht. Im ersten altfranzösischen Erzählabschnitt (= erste Laisse A1) lenkt der Bericht zwar den ersten Blick auf Guillaume und seine Brüder, bindet sich dann ab A2 jedoch stärker an den jungen Kämpfer Vivïen, dem wir – mit kurzen Unterbrechungen und Fokussierungen auf Guillaume und seine Brüder, die damit die zweitwichtigsten Figuren bleiben – durch einzelne Kämpfe hindurch bis hin zu seinem Tod in Laisse 28 folgen.292 In der
_____________ 291 Im Folgenden soll, anstelle einer Gesamtdarstellung der empathielenkenden Strukturen in Aliscans, ein Überblick über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Vergleich zum mittelhochdeutschen Text gegeben werden. 292 Zunächst ist die Rede vom leidenden Guillaume (A1, 3), dann von seinen Brüdern und Verwandten Bertran (A1, 4), Gaudins und Guichart (A1, 5), Guïelins und Guinemans (A1, 6), Girart und Gautier (A1, 7), Hunaut und Huë (A1, 8). Dann schwenkt der Blick in A1, 9 und konzentriert sich ganz auf Vivïen als momentaner Hauptfigur: Sor toz des autres s’i aida Vivians;/ En .XXX. leus fu rous si jazeranz,/ Son escu fret, et son heaume luisant/ Encontre terre li fu aval pendanz (A1, 9ff) („Aber Vivïen hat sich von allen am meisten ausgezeichnet. Die
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Sterbeszene wird er von Guillaume begleitet (A22-28). Nach Vivïens Tod rückt der Erzähler Guillaume in den Blick des Rezipienten: Wir folgen ihm auf seinem Weg nach Orange, auf dem sich ihm stets neue heidnische Gegner in den Weg stellen, bis hin zu den letzten Kämpfen der ersten Schlacht vor den Toren von Orange (A29-50). In dieser Erzählphase erscheinen Guillaume und Vivïen eindeutig als zentrale Raumfilterfiguren. Die in allen Laissen ebenfalls auftretenden Heiden verweilen hingegen meist nur für die Dauer eines Kampfes oder als Träger einer Nebenhandlung kurz im Zentrum der Erzählkamera, so dass sie der Rezipient nur schwer individuell wahrnehmen kann. Ausnahmen bilden allein Aérofle (A10f/ 33-40) und Baudus (A41-45), doch auch sie fungieren nicht als Träger der Kamera, sondern geraten lediglich durch ihre Konfrontation mit den Filterfiguren in den Erzählfokus. Zwischen den beiden Schlachten folgt der Erzähler ausschließlich Guillaume durch den Raum von Orange über Orléans zum Hof des Königs nach Laon (A51-60) und von dort wieder zurück nach Orange (A7697), wo die Aufstellung des Heeres durch die Augen Guibourcs und Guillaumes beschrieben wird. In dieser Zeit spielen Heiden kaum eine Rolle. Von Laisse 98 bis 101 aber wechselt der Erzähler – zum einzigen Mal im Erzählverlauf – auf die Seite Desramés (Guibourcs Vater, der Terramer im Willehalm) und beschreibt statisch, ohne einen Raumfilter einzusetzen, die Ausrüstung und Aufstellung des heidnischen Heeres. Als Raumfilter fungiert in diesem langen Abschnitt zwischen den beiden Schlachten aber allein Guillaume. Diese Filterfigur Guillaume wird in den neuen Kämpfen (ab A103) nun überraschend deutlich vom jungen Heiden Rainouart, Guibourcs Bruder, der auf Seite der Christen kämpft, abgelöst. Mit diesem bewegt sich der Erzähler von Kampf zu Kampf: Ab Laisse 106 sieht er sich mit stets wechselnden heidnischen Gegnern konfrontiert, die er zum Großteil besiegt.293 Selbst nach dem siegreichen Ende der Schlacht ab Laisse 174, als auch Guillaume wieder als Handlungsträger erscheint, bleibt Rainouart die als Raumfilter fungierende Figur. Damit ergibt sich insgesamt ein recht ausgewogener, abschnittweise auf Vivïen, Guillaume und Rainouart aufgeteilter Raumfilter.294 Wenn-
_____________ Maschenglieder seines Harnischs waren an dreißig Stellen zerrissen, sein Schild zerbrochen, sein leuchtender Helm hing ihm am Hals“). 293 Rainouart besiegt in A108 Banur, Samiant, Samuel und Malquidant, in A109 Elinant, Morinde und Estelé, in A114 Aenré, in A145Valegrape, in A149 Grishart, in A152 Flohart, in A160 Haucebier, in A161 Golias und in A162 Triboé. Wie im Willehalm zeichnet sich anhand der Fülle von Namen ab, dass die Heiden eher als Masse denn als deutlich unterscheidbare Individuen vermittelt werden. 294 Ohne narratologische Folgen zu sehen weist auch Schröder auf die klare Dreiteilung in Aliscans hin: „Das Großepos Aliscans […] gliedert sich deutlich in drei Teile: 1. Viviens Un-
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gleich dies ein Empathieprivileg für die drei Figuren darstellt, so muss doch bedacht werden, dass die Aufspaltung von Empathie im Zuge des Erzählverlaufs eine geringere Bindung des Rezipienten an eine Figur vermuten lässt. Passagen einer gleichberechtigten Darstellung von Christen und Heiden, wie wir sie zumindest teilweise im Willehalm beobachten konnten, existieren hier nicht. Als Vorstufe zu einer Privilegierung durch Raumfilter können wir auch hier die überschaubare Anzahl relativ häufig auftretender und deshalb distinktiv wahrnehmbarer weiterer Christen betrachten, die einer weit größeren Anzahl überwiegend kurz auftretender Heiden gegenüberstehen. Quantitative Verteilung von Innensichtdarstellungen: Der aus der Betrachtung des Raumfilters entstehende erste Eindruck über das Funktionieren von Empathieförderung im altfranzösischen Text sieht sich durch die rein quantitative Verteilung der anhand von Körperzuständen, Mimik, Gestik und Emotionsberichten vermittelten Innensichten noch verstärkt. Denn auch hier gewährt der Text vor allem Vivïen, Guillaume und Rainouart und schließlich dem ebenfalls bekannten christlichen Familienkreis einen Ausdruck ihres inneren Erlebens. 295 Lag im Willehalm noch ein Ungleichge-
_____________ tergang als Folge seines verwegenen Gelübdes bei der Schwertnahme, 2. Wilhelms Bittgang an den Königshof, wo ihm seine eigene Schwester, die Königin, Schwierigkeiten bereitet, und 3. die Vergeltungsschlacht mit dem Eingreifen des ungeschlachten Rainoarts mit seiner Tragstange“ (Werner Schröder 1970: 91). Obwohl eine der drei zentralen Figuren, Rainouart, von Geburt Heide ist, fördert der Text über die Raumfiltertechnik allein für die christliche Partei Empathie. Denn in Aliscans kämpft Rainouart nicht nur überzeugt für die Christen (wie er es auch im Willehalm tut), sondern lässt sich auch problemlos zum christlichen Glauben bekehren. Somit gilt er am Ende des Textes durch seine Taufe in A183 und seine Heirat mit der Königstochter Aélis (vgl. A190) als vollkommener Christ – eine Stufe, die uns im Willehalm nicht berichtet wird. 295 Körperzustände sind in Aliscans insofern weniger als nach außen vermittelte Innensichten zu lesen, als vor dem archaisch-heroischen Wertehorizont der chanson de geste, den auch dieser Text eindeutig aktiviert, verstärkt von Freude an Kampf und Brutalität ausgegangen werden muss (in Übereinstimmung zu anderen chansons de geste, wie beispielsweise der Chanson de Roland). Nur einige wenige Verletzungen von Guillaume und Vivïen können tatsächlich als Innensicht gewertet werden (vgl. z.B. A14, 399-421 für Vivïen und A50, 2195ff für Guillaume; diese Textstellen werden im nächsten Abschnitt zum Mitleid näher betrachtet). Demgegenüber werden zahlreiche mimische und gestische Innensichten von Christen dargestellt, vor allem für Guillaume (z.B. in A47, 2024/ 56, 2475/ 81, 4220/ 171, 7431), Vivïen (z.B. A14, 402/ 23, 798ff/ 28, 997ff) und Rainouart (z.B. A75, 3702/ 78, 3977), aber auch für Guibourc (z.B. A50, 2193/ 84, 4358), Bertrand (z.B. A7, 200f), Aélis (z.B. A70, 3330) und die gesamte Familie (z.B. A68, 3046ff und 3093ff). Emotionsberichte zugunsten der Christen werden in fast jeder Laisse eingesetzt. Als Beispiel mögen Laisse 46 und 47 gelten, wo der Pförtner vor Orange überrascht ist (prist soi a merveillier; A46, 1982), später Guibourc aufgewühlt ist, weil sie Guillaume wiedersieht (le sanc li est müez; A47, 2001) und daraufhin Guillaume mitleidig mit Guibourc weint (de pitié plore; A47, 2024).
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wicht vor, so muss man hier die Auflösung dieses Ungleichgewichts zugunsten einer reinen Empathieförderung durch Innensichten für die christliche Familie und Rainouart feststellen. Innensichtdarstellungen für Heiden sind solche Einzelfälle, dass eine Empathieförderung daraus nicht abgeleitet werden kann.296 1.2.2 Mitleid Eine Auswertung dieser gewährten Innensichten nach ihren inhaltlichen Konkretisierungen weist das Leid auch für den altfranzösischen Text als die vom Text favorisierte Emotion aus. Allerdings wird es am Ende der zweiten Schlacht von heiterer Grundstimmung, Freude und Harmonie abgelöst (die es im Willehalm auch und gerade nach dem Sieg nicht gibt), so dass das Figurenleid nicht bis zum Schluss die dominierende Innensicht bleibt.297 In Bezug auf die Darstellung körperlicher Verletzungen in Aliscans muss, wie eben bereits festgestellt wurde, stärker als im Willehalm davon ausgegangen werden, dass die meisten Verletzungen nicht Siechtum, Schwäche und Leid ausdrücken, sondern eher heldenepische Tapferkeit und Stärke untermalen sollen.298 Hierbei erscheint eine Kraft der Bilder, eine Freude an Brutalität, die im Willehalm nicht auftaucht und die Gedanken an Schmerz und Mitleid gar nicht erst aufkommen lässt. Darstellun-
_____________ 296 So fallen zwei Innensichtdarstellungen über Mimik (vgl. A98, 5207-5210/ 99, 1) auf Desramé und ein Emotionsbericht (vgl. A35, 1376f) auf Aérofle. 297 Der Umschlag zur Freude erfolgt in Laisse 181, als die Christen mit Rainouart versöhnt sind (dieser hatte sich nach der zweiten Schlacht vernachlässigt und ausgeschlossen gefühlt). Guillaume leitet zunächst den Umschwung ein, indem er grant joie zeigt (A181, 7865) („große Freude“). Daraufhin verbreitet sich die allgemeine Leichtigkeit scheinbar immer weiter: In Laisse 184 lachen dann alle Christen, weil Rainouart es aufgrund seiner übermenschlichen Stärke einfach nicht schafft, bei seinem Ritterschlag sanfte Schläge auszuüben (vgl. A184, 7977: François l’oïrent, si en ont ris assez) („als die Franzosen das hörten, lachten sie ausgiebig“). In A185 lesen wir erneut zwei Mal von joie (A7997 und 8000) („Freude“) im Palast in Orange. In A186 greift die Leichtigkeit dann auf ganz Orange und alle Bewohner über: Dedenz Orenge firent joie mout grant/ […] li petit et li grant (A186, 8012) („in Orange freuten sich Große und Kleine riesig“). Diese damit etablierte Freudenstimmung reißt dann auch bis zum Ende des Textes nicht mehr ab. Den Gipfel bildet Wiedersehen und Hochzeitsfest von Rainouart und Aélis (vgl. A190). 298 So müssen die brutalen Verletzungen, die lediglich einmal genannt werden, nicht als mitleidfördernd eingestuft werden. Vivïens Gedärme hängen über den Sattel, woraufhin er sie mit beiden Händen wieder in seinen Leib schiebt (vgl. A14, 68-73), Guillaume schlägt Aérofle sein Bein ab (vgl. A39, 1611f), Valegrape reißt Rainouart ein Stück Fleisch heraus (vgl. A133, 6431ff), Rainouart zerschmettert den königlichen Knecht am Hof an einer Säule (vgl. A73, 3554-3558) und der Koch wird über dem Feuer gegrillt (vgl. A88, 4531-35). Solche Beschreibungen gehören zur Konvention heldenepisch-heroischer Texttypen und haben kaum Entsprechung zu realem Leidempfinden.
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gen von Verletzungen, in denen sich die Bezüge auf eine Figur häufen und anhand derer deutlich wird, dass diese leidet, finden sich in der ersten Schlacht hauptsächlich auf die beiden Figuren Vivïen und Guillaume konzentriert.299 Ihr Leid ist unverdient und fördert so moralisch legitimierbares Mitleid des Rezipienten. Klagegesten, Weinen aus Verzweiflung, Todesangst und Mitleid manifestieren vor allem Guillaume und Guibourc, aber auch die übrige christliche Familie und Rainouart. Ihr Leid begründet sich vor allem aus dem Verlust vieler Familienmitglieder und Vasallen. Dabei weist das konkret ausgestaltete Klagen der Figuren deutliche Nähe zu den im Vorfeld beschriebenen archaischen Klageritualen auf.300 Die bedeutende Rolle des Mitleids mit dem lebenden Nächsten als Ursache von Figurenleid ist in diesem Text bereits angelegt, auch wenn es aufgrund der noch wenig ausgeprägten Rolle von Guibourc vergleichsweise zurücktritt.301 Vor dem Hintergrund des aktivierten archaischheroischen Wertehorizontes, der den Wert der Sippen- und Vasallentreue vor allen anderen betont, ist das Leid
_____________ 299 Entsprechend detailliert wird dem Rezipienten Vivïens Tod (Laisse 28) beschrieben, wobei der Text an diesen Stellen deutlich Leid und Schmerz des Sterbenden hervorhebt: Vivïen wird vor Schwäche schwindelig, er verliert all seine Farbe, ist blutüberströmt, sein Gehirn fällt ihm vor die Füße (A14, 399-421: Li oill li troblent, sa color vet perdant,/ Tot a le cors et son elme senglant,/ Li sans li chiet, qui del cors li desçant. [...] Et la cervele li chiet as elz devant). Ebenso leidet Guillaume an zahlreichen Verletzungen, während die Verwundungen einzelner Heiden lediglich einmal erwähnt werden und so kaum Mitleid wecken können. Beispielsweise erreicht Guillaume vollkommen erschöpft das heimatliche Orange, wo Guibourc seine Wunden entdeckt: Soz le hauberc li fu la char quassee,/ En .XV. leus l'ot plaïe et navree,/ Tote la brace avoit ensanglantee (A50, 2195ff) („darunter war der Graf schwer verletzt,/ von 15 Wunden waren seine Arme blutüberströmt“). Die zahlreichen Blessuren Rainouarts im Verlauf der zweiten Schlacht dürfen dagegen kaum als mitleidsfördernd eingestuft werden: Aufgrund der übermenschlichen Stärke und Unbesiegbarkeit Rainouarts scheinen die Verletzungen eher die Härte der Kämpfe untermalen zu sollen. Angst um Rainouart bzw. Mitleid mit seiner Situation ist im Kampf, wo er eindeutig in seinem Element ist, nicht angebracht. 300 Alle Facetten des Leidparadigmas (Weinen, Händeringen, Ohnmacht) zeigt Guillaume angesichts des sterbenden Vivïen: Li bers Guillaume vet tendrement plorant/ Et ses .II. poinz durement detortant;/ Deseur les jointes en vet le cuir rompant./ De sa dolor mar ira nus parlant,/ Quar trop la meine dolereuse et pesant./ Au duel qu’il maine est cheüz de Bauçant,/ Encontre terre s’en vet sovent pasmant (A23, 817-823) („Der edle Guillaume weint sanft und rauft sich die Hände mit so viel Gewalt, dass seine Haut reißt. Es wäre umsonst weiter von seinem Leiden zu sprechen: Es zeigt sich lebhaft und grausam. Aus Schmerz fällt er von Baucent, und auf dem Boden wird er mehrere Male ohnmächtig.“) Dass Weinen nicht immer als berechtigt angesehen werden muss (und damit auch kein Mitleid bewirkt), zeigt sich am Weinen des schwachen König Loys in Laisse 73 (A73, 3500); denn Loys weint hier weder aus Trauer noch aus reiner Reue: Er ist lediglich von Guillaumes wütendem Auftreten so erschreckt, dass er ihm alles zugesteht. 301 Denn im mittelhochdeutschen Text ist es immer wieder Gyburc, die an die tragische Situation eines Krieges unter Verwandten erinnert. Von der christlichen Familie wird sie entsprechend bemitleidet und sie ist es auch, die in ihrer Rede vor dem Fürstenrat Mitleid und Barmherzigkeit auch für Heiden einfordert (vgl. Empathielenkungsebene E3).
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der christlichen Familie um die gefallenen Toten in allen Situationen durch den Rezipienten auf jeden Fall nachvollziehbar, womit von einer unbedingt mitleidfördernden Funktion (im Sinne von moralisch legitimierbarem Mitleid) der für Christen gewährten Innensichten ausgegangen werden muss. Auf Heidenseite drückt nur einmal Aérofle seinen Schmerz über den sterbenden Danebron aus (vgl. A35, 1376f). Dieses Leid ist jedoch so stark in gegenseitige Hasstiraden mit Guillaume verbunden und außerdem so einmalig, dass von einer Mitleidförderung kaum auszugehen ist. Denn darüber hinaus sendet der Text keinerlei Signale, beim Rezipienten Mitleid mit Heiden auszulösen. 1.2.3 Sympathie Sympathielenkung über Innensichtdarstellungen: Das eben beschriebene, vom Rezipienten moralisch legitimierbare Figurenleid sowie das Leiden der Figuren aus Mitleid sind auch hier als Sympathieauslöser zu werten: Denn das Leiden um gefallene Tote und das Leiden mit den Familienmitgliedern ist nicht nur nachvollziehbar, sondern auch im positiven Sinne zu schätzen. In Abgrenzung zum Willehalm gewinnen nun neben den leidthematisierenden Innensichten auch Freude und Erleichterung manifestierende Innensichten an Terrain.302 Im Vergleich zum Willehalm relativ gleichbleibend ist die Bedeutung der Solidarität und Liebe innerhalb der Gruppe ausdrückenden Innensichten, denen eine doch starke sympathielenkende Wirkung zugesprochen werden muss.303
_____________ 302 Von einer direkt sympathielenkenden Wirkung Freude und Erleichterung vermittelnder Innensichten ist nicht auszugehen, da die Freude der Figuren den Effekt grundständiger Empathie zwar verstärken kann, sich aber aus der Freude an sich keine Wertschätzung ableiten lässt. 303 Von den als sympathiefördernd einzustufenden, vor allem über Mimik und Gestik vermittelten Innensichten, welche Liebe und Solidarität der sippe demonstrieren, profitieren Christen ausgiebig. Eine zentrale Figur ist dabei natürlich Guillaume, der immer wieder Liebe zu Familienmitgliedern beweist und dem diese Liebe auch immer wieder von diesen bewiesen wird. Zum Beispiel umarmen sich Guillaume und Guibourc (vgl. A55, 2388), Guillaume küsst seine Nichte Aélis (vgl. A190, 8110), seinen sterbenden Neffen Vivïen (vgl. A25, 875) und seinen Bruder Hernaut (vgl. A59, 2620). Rainouart wird durch solche Gesten nach außen sichtbar in die christliche Familie integriert. Nur ein Beispiel eines Zusammenspiels nach außen sichtbarer Codierungen möge genügen, um die Kraft dieser Konstruktionen zu verdeutlichen: Wenn Guibourc und Rainouart sich als Bruder und Schwester erkennen, wenn Guibourc zittert, seufzt und schließlich weint, bietet sich dem Rezipienten ein Einblick in ihre innere Bewegtheit, in ihre genauen Emotionen und machen ein Einfühlen möglich: Guibor l’oï, si commence a fremir./ Son frere voit, si gita un soupir;/ L’eve del cuer li fist as eulz venir (A180, 7840ff).
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Es erstaunt uns hierbei kaum, wenn die wenigen Innensichtdarstellungen für Heiden, genauer gesagt für Desramé, in einem sympathiehemmenden inhaltlichen Stereotyp verbleiben. Unter mimischer Untermalung wird der Zorn des Heidenführers beschrieben, der zunächst erblasst, dann rot vor Wut wird, mit den Augen rollt, die Brauen hochzieht, mit den Zähnen knirscht und den Schnurrbart zusammenzieht.304 Zorn und Wut der Heiden vor den Schlachtvorbereitungen wirken bedrohlich und angsteinflößend und untermauern damit einmal mehr ihre Rolle als unsympathische Feinde. Primacy-Effect: Eine weitere, für Sympathielenkungsstrategien relevante Eigenheit des altfranzösischen Textes finden wir bereits in den ersten Zeilen. In der Bataille d’Aliscans gibt es keinen Prolog und auch sonst keinerlei Vorbemerkungen. Die Handlung beginnt vielmehr in medias res auf dem Schlachtfeld von Aliscans mit den Worten A icel jor que la dolor fu grant/ Et la bataille orrible en Aleschans.305 Damit muss der Rezipient seinen ersten Eindruck von den Figuren, der aufgrund des Primacy-Effects wie erwähnt besonders wichtig ist, der sofort einsetzenden Handlung entnehmen. Dass der Text den Rezipienten nicht lange ohne Orientierung lässt, ist zu erwarten und tatsächlich werden bereits in der ersten Laisse, die beide Parteien im Kampf beschreibt, wegweisende erste Eindrücke vermittelt: Dem mittelalterlichen Hörer bietet sich im ersten Satz das Bild einer schrecklichen leidvollen Schlacht (vgl. Zitat oben). Doch dieses Leid wird keineswegs beiden Parteien, sondern allein Guillaume und in der Folge auch weiteren Christen zugeschrieben.306 Den Gipfel des Leidvollen erreicht die erste Laisse allerdings in der Fokussierung auf Vivïen, der
_____________ 304 Vgl. A98, 5207-5210. Über einen Emotionsbericht wird außerdem ein weiteres Mal auf Zorn und Wut Desramés verwiesen: Desramez s’arme, qui mautalant engraingne (A99, 1) („Desramé bewaffnet sich, wild vor Zorn“). 305 A1, 1f: „An jenem Tag, als das Leid groß war/ und die Schlacht in Alischanz schrecklich". Nach Boutet verzichtet man auf einen Prolog „pour relier la chanson à un texte antérieur et bien connu" (Boutet 1993: 32), womit die Chanson de Guillaume gemeint sein könnte. Ebenso möglich ist das Bestreben, Aliscans möglichst authentisch in den Cycle de Guillaume einzupassen, ohne durch Prologe den Erzählfluss zu stören. Von einer Vertrautheit des Publikums mit Namen und Gestalten der Helden und mit den Verwandtschaftsbeziehungen der Sippe des Aymeri de Narbonne, mit der Vorgeschichte und den anderen Liedern des Zyklus ist entsprechend auszugehen. 306 Li cuens Guillelmes i soffri grant ahans;/ Bien i feri li palasins Bertran,/ Gaudins li bruns et Guichart li aidans/ Et Guïelins et li preuz guinemans,/ Girart de Blaives, Gautier li Tolosans,/ Hunaut de Seintes et Huë de Melans./ Sor toz les autres s'i aida Vivians (A1, 3-9) („Der Graf Guillaume litt schreckliche Qualen./ Der Paladin Bertrand hat dort auf bewundernswerte Art und Weise gekämpft,/ genauso wie Gaudin le Brun, der robuste Guichard,/ Guielin, der wachsame Guinemant, Girart de Blaye, Gautier de Toulouse,/ Hunaut de Saintes, Huon de Melant./ Aber Vivïen hat sich mehr als alle anderen hervorgehoben“).
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überaus tapfer aber chancenlos der Überzahl der Feinde gegenübersteht: Sor toz des autres s’i aida Vivians;/ En .XXX. leus fu rous si jazeranz,/ Son escu fret, et son heaume luisant/ Encontre terre li fu aval pendanz (A1, 9ff).307 Kontrastiv werden die Heiden ein erstes Mal als nicht individualisierte Masse von cuvers soduanz (A1, 21)308 beschrieben. Dann schließt sich der Kreis mit der erneuten Betonung der Grausamkeit und Blutigkeit des Kampfes (vgl. A1, 21ff). In der trostlosen Situation erscheinen die Christen, die zudem namentlich genannt und damit im Gegensatz zu Heiden individualisiert dargestellt werden, als tapfere Leidtragende des Krieges. Tapferkeit und vom Rezipienten moralisch legitimierbares Leid fördern damit klar erste Sympathie mit den christlichen Kämpfern. Der erste Eindruck des Heidenführers Desramé in Laisse 2 bestätigt die klare Sympathieopposition: Er reitet auf einem wilden Pferd heran, begleitet von einem Volk qui vers Deu n’a amor (A2, 37).309 Gerade im geförderten Primacy-Effect agiert der altfranzösische Text damit unbedingt konkreter in Richtung einer Antipathie für Heiden als der mittelhochdeutsche Text. Vorausblicke: Ein weiterer zentraler Unterschied zum Willehalm liegt im exzessiven Gebrauch von Vorausblicken, die zugunsten der immer gleichen Figuren eingesetzt werden (der mittelhochdeutsche Text nutzt diese Technik nicht in nennenswertem Maße). Solche Vorausblicke beziehen sich sowohl auf fiktive oder mögliche zukünftige Entwicklungen als auch auf den tatsächlichen weiteren Handlungsverlauf. Erstere vermitteln die Bedrohung der Christen (und nur der Christen!) in gefahrvollen Situationen und verstärken damit das Mitfiebern des Rezipienten mit diesen Figuren.310 Die den tatsächlichen weiteren Handlungsverlauf betreffenden Vorausblicke nehmen wiederum dem Text ein beträchtliches Maß an Spannung, fördern aber in extremem Maße Sympathie, wenn sie im Kriegsgeschehen bestimmten Figuren den zukünftigen Erfolg bereits zu
_____________ 307 „Aber Vivïen hat sich von allen am meisten ausgezeichnet. Die Maschenglieder seines Harnischs waren an dreißig Stellen zerrissen, sein Schild zerbrochen, sein leuchtender Helm hing ihm am Hals.“ 308 „üble Verräter“. 309 Ein Volk, „das Gott nicht liebt“. Guibourc muss in diesem Text nicht unbedingt als Hauptfigur verstanden werden: Sie tritt weit hinter die männlichen Krieger zurück und wird somit ausführlicher erst nach der ersten Schlacht beschrieben. 310 So dürfte der Rezipient wohl mitgefühlt haben wenn z.B. Guillaume von den Heiden erkannt wird und uns mitgeteilt wird: Se il le tienent, ja sera affolez (A40, 1738) („wenn sie ihn gefangennehmen, wird er schon bald getötet sein“). Genauso wahrscheinlich ist die Anteilnahme des Rezipienten, wenn rein fiktive Vorausblicke die Möglichkeit formulieren, dass Rainouart in der folgenden Situation nur noch von Gott gerettet werden kann (vgl. A149, 6708f) oder dass dieses christliche Heer, wenn ihm Gott nicht hilft, in den sicheren Abgrund fahren wird (vgl. A150, 6714f).
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einem Moment zuweisen, wo die Handlung diesen noch nicht absehen ließe. Bereits kurz nach der ersten Schlacht sagt der Erzähler verbindlich den für die Christen siegreichen Ausgang der zweiten Schlacht voraus, indem er auf Tod und Vertreibung aller Heiden und deren Reue, überhaupt angegriffen zu haben, verweist.311 So wird auch vermieden, dass der Rezipient aus der Niederlage der Christen in der ersten Schlacht eine generelle Schwäche oder Unterlegenheit der Christen ableitet. Die meisten Vorausblicke privilegieren eindeutig Rainouart zu Beginn seines Auftretens vor der zweiten Schlacht. Der epische Bericht greift hier aktiv sympathielenkend ein, indem auf den zukünftigen erfolgreichen Einsatz Rainouarts für die Christen und seine vollkommene Integration in die christliche Welt verwiesen wird.312 Damit sieht sich der hohe Wert des jungen heidnischen Kämpfers zu einem Zeitpunkt verdeutlicht, zu dem der Rezipient noch eine sehr gespaltene Meinung von dem riesenhaften, schmutzigen Heiden haben dürfte, der nach außen zunächst kaum den positiven Bewertungsrastern des Rezipienten entsprechen dürfte. Dank dieser sympathiefördernden Eingriffe wird Rainouart frühzeitig für den Rezipienten zum Erfolgsmodell des dauerhaft auf der ,richtigen‘ Seite kämpfenden und damit zu schätzenden Heiden. Vorausblicke bilden so eine effiziente Form zur Förderung von Wertschätzung, auf die der Text freilich nur in solchem Maße zurückgreifen kann, weil es seinem Publikum anscheinend nicht auf Spannungserzeugung ankommt.313 Semantisierung des Raums: Bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen und des Raums scheint der Erzähler von Aliscans Wolfram maßgebliche Wege vorzugeben, denn hier erfahren die ähnlichen Räume eine ähnliche sympathielenkende Semantisierung. Schon hier liegt das Zahlenverhältnis zwischen Christen und Heiden bei 1:100 (vgl. A135, 6460) oder mindestens bei 1:20 (vgl. A114, 6003), woraus sich die großen Verluste der Christen legitimieren und wodurch sich der Krieg als ungleiches Kräftemessen prä-
_____________ 311 Vgl. A45, 1922-26 bzw. A49, 2186ff. 312 So wird der Rezipient schon vor Rainouarts erstem Auftritt überhaupt darüber informiert, dass Rainouart einst die Tochter des französischen Königs Aélis heiraten wird, dass er das riesige Heidenheer besiegen und damit maßgeblich zum Sieg der Christen beitragen wird (vgl. A71, 3384-87/ 78, 4040-45 bzw. A45, 1929/ 98, 5220ff). 313 Guidot wertet die zahlreichen Vorausblicke ebenfalls als spannungszerstörend. Er geht richtig davon aus, dass dem Publikum der chanson de geste, das die Geschichte seiner nationalen Helden hört, mehr an rückversichernden und beruhigenden Vorausblicken als an Überraschungen gelegen war: „L’auditoire médiéval – à défaut des surprises dont l’esprit moderne est friand – est gourmand de ces notations qui jalonnent la trame narrative et éloignent l’inquiétude, voire le désespoir“ (Guidot 1993: 21). Außerdem können wir wohl davon ausgehen, dass dem Rezipienten der grobe Handlungsverlauf bekannt war und die Vorausblicke somit nur bestätigende Funktion übernehmen.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
sentiert.314 Auch hier wird zur Demonstration der Kontrast eines Einzelnen vielen Gegnern gegenüber konzipiert, wobei – entsprechend der oben festgestellten Fokussierung auf drei Haupthelden – Guillaume und Vivïen im ersten Teil, im zweiten Teil auch Rainouart, den Feinden oft allein gegenüberstehen.315 Wie im Willehalm, wenngleich weniger ausführlich, privilegieren Räume eindeutig Handeln und Erleben der Christen. Vivïen stirbt bereits hier im Geruch der Heiligkeit und der Ölbaum markiert den hohen Wert Guillaumes und Elys.316 Der öde und wüstenähnliche Raum während der ersten Schlacht bewertet den Sieg der Heiden und die gesamte Situation der christlichen Verluste als negativ, indem er die innere Zerstörtheit und Tristesse christlichen Empfindens – und nicht Freude und Triumph der Heiden – widerspiegelt und so diese Stimmung auch auf den Rezipienten überträgt.317 In der zweiten Schlacht kehren sich die Vorzeichen und auch
_____________ 314 Contre un des noz i a .C. mescreans („auf einen der Unseren kommen 100 Ungläubige") bzw. Contre un des noz sont paien .XX. maffé („auf einen der Unseren kommen 20 verfluchte Heiden"). Betont wird das Volumen des heidnischen Heeres, das weite Ebenen, Hügel und Orte bedeckt (vgl. A108, 5649ff/ 94, 4996-99) und das generell so zahlreich ist, dass [o]nques ne vit nus hom si tres grant gent (A112, 5912) („niemals hat ein Mensch eine so große Menschenmenge gesehen"). Niemand könnte ihre Schilde mehr zählen (vgl. A115, 6094f), kein jongleur könnte die Masse adäquat besingen (vgl. A116, 6181ff). 315 Stellvertretend für alle Situationen, in denen Guillaume von Feinden umringt ist, kann Laisse 113 gelten: Entor Guillelme veïssiez grant complot (A113, 5993) („um Guillaume könnt ihr eine Masse an Feinden sehen"). Auch Rainouart findet sich in der zweiten Schlacht umringt von Gegnern (vgl. A161, 6965f). Das Ungleichgewicht kontrastierend setzt der Erzähler 20000 Perser ein, die Desramé zu Hilfe eilen, während auf der anderen Seite sehr überschaubar von Aymeris et toz ses .VI. enfanz/ Et si neveu et si apartenant (A116 ,6176f) gesprochen wird („Aymeris und all seine sechs Kinder und seine Neffen und seine nahen Verwandten“). Wieder wird deutlich, wie sehr individuell bekannten Christenfiguren eine unbestimmte, riesige heidnische Masse gegenübersteht. 316 Der altfranzösische Erzähler konzentriert sich ebenfalls nur in der Darstellung des Sterbeorts Vivïens als heiligen Ort wirklich auf einen Raum: Hier wird der locus amoenus durch eine reine Quelle, den entlaubten Baum und dem Geruch nach Balsam und Gewürzen (vgl. A23 und A24) geprägt. Das ebenfalls semantisierte Wettergeschehen untermalt noch stärker die Szenerie, so ist die Nacht von Vivïens Tod ruhig, der Mond scheint, wobei der Wetterumbruch erneut zugunsten der Christen eingesetzt wird: La nuit fu coie et la lune leva,/ A l'anjornant un petit espoissa (A30, 1084f) („die Nacht war ruhig, der Mond war aufgegangen, am Tagesanbruch [aber] verdunkelte sich das Wetter“). Auch der Ölbaum als Symbol der Heiligkeit taucht bereits auf: Guillaume sitzt als Verachteter in Laon unter einem olivier (A64, 2851/ 65, 2900) („Ölbaum“). Ebenso setzt Aélis bei ihrer Ankunft zur Hochzeit in Orange den Fuß unter einem Ölbaum auf den Boden (vgl. A190, 8105f). 317 Es erscheint nicht verwunderlich, dass der locus amoenus von Vivïens Tod im Kontrast zu einer terre estraigne [...] qui tot anors sofraigne,/ Quar ainc n'i ot un jornal de gaaigne steht (A41, 1739ff) („fremdes Land [...] dass verflucht sein soll, weil es noch nie auch nur ein Stück fruchtbar gewesen war“).
1. Empathielenkung auf der Ebene des epischen Berichts (E1)
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Raum und Wetterverhältnisse um und stehen erneut für das christliche Erleben, in diesem Fall Hoffnung und Sieg.318 Figurenbeschreibungen: Wie bezüglich des Willehalm betrachten wir zunächst das Figurenhandeln als Teil der Figurenbeschreibung. Dabei lassen sich im Kampfverhalten Parallelen zum Willehalm feststellen: Christen wie Heiden zeichnen sich durch Tapferkeit und höchste Kampfkraft aus. Allerdings hat der altfranzösische Erzähler deutlich weniger Hemmungen, den Heiden auch im Kampf negativ konnotierte Verhaltensweisen, wie z.B. Flucht, zuzuschreiben. Begründet sehen sich diese heidnischen Fluchtaktionen durch eine beeindruckende Überlegenheit der christlichen Kampffertigkeiten, die sich in so übertriebenen Zahlenverhältnissen widerspiegeln, dass Guillaume mit seinen 14 übrig gebliebenen Kämpfern eine Armee von mehr als 10 000 ausgeruhten Heiden in die Flucht schlägt: En fuie tornent, s'ont la place guerpie; [...]/ Li plus hardiz n'i vosist estre mie./ Guillelme outrerent plus d'une grant treitie (A16, 541-45).319 Gerade weil die Tapferkeit der Heiden prinzipiell betont wird, erscheinen solche christlichen Siege als Belege übergroßen Heldentums und nicht zuletzt auch als Belege göttlicher Unterstützung. Besonders interessant ist ein Blick auf das bei Wolfram umstrittene Figurenverhalten Willehalms bzw. Guillaumes. Im Allgemeinen fallen die Szenen der Tötung Aérofles und der Zorn am Königshof im Gesamtgeschehen weniger auf, denn der gesamte Text vermittelt ein heroischheldenepisches Wertesystem, vor dessen Hintergrund Guillaumes Verhalten nicht schockiert.320 Der Kampf gegen Aérofle zeigt sich entsprechend als einer der vielen Zweikämpfe Guillaumes mit einem Heiden, in dem
_____________ 318 Ab den Vorbereitungen zur zweiten Schlacht wird es Sommer (A82, 4299), und es dominiert schönes Wetter im Gegensatz zum trostlosen Ambiente der ersten Schlacht: Biax fu li jorz et li soleus leva; (A79, 4049/A90, 4643) („es war ein schöner Tag und die Sonne ging auf“). Entsprechend befinden wir uns nicht mehr in der öden Ebene von Aliscans, sondern Bernard setzt seinen Fuß in eine grünende Wiese (A84, 4359f). Das Bild wird vervollständigt durch Sonnenstrahlen und Lichtreflexe (A90, 4643/A91, 4812f). 319 „Sie fliehen, verlassen das Gebiet; [...] der Kühnste hätte hier nicht länger bleiben wollen./ Die Heiden bringen einen Abstand von mehr als einem weiten Bogenschuss zwischen sich und Guillaume“. Außer Aktionen des Kampfes werden den Heiden in Aliscans noch keine weiteren Handlungen zugestanden. Im Zwischenstück beweisen auch hier Christen ihre triuwe untereinander, indem Guillaume und Guibourc ihre Liebe und gegenseitige Unterstützung demonstrieren und die Familie Guillaume ein Heer bereitstellt. Der Königshof und seine Vertreter erscheinen hier noch feindlicher als in Wolframs Text, wodurch sich der König und seine Welt noch negativer abzeichnet (s.u.). 320 Frappier stellt richtig fest, dass die Welt von Aliscans eine primär heroische ist. Die ohne Zweifel auch vorhandenen Züge des höfischen Romans und des höfischen Wertesystems (v.a. an den Frauenfiguren abzulesen) vermögen dabei die heroische Wertewelt in keiner Weise zu verdrängen oder in Frage zu stellen (vgl. Frappier 1955: 236).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
Guillaume Kraft und Stärke demonstriert. Entsprechend muss die Tötung Aérofles auch nicht durch Zorn- oder Rachegefühle motiviert werden. Dass der Gegner, der zudem rein negativ gezeichnet ist, getötet werden muss, ist weder außergewöhnlich noch schmerzhaft, sondern eine ‚normale‘ Handlung im Kriegsgeschehen.321 Guillaumes Zorn dem König gegenüber dürfte zwar als gewagte Erhebung gegen den Herrscher gegolten haben, kann aber im Rahmen der dem altfranzösischen Publikum bekannten Empörerzyklen, die den Herrscher angreifen und kritisieren, ebenfalls als Beweis der Kühnheit Guillaumes gegolten haben.322 Damit erscheinen alle christlichen Figurenhandlungen des Textes, außer der noch deutlicher als im Willehalm negativ gezeichneten Gruppe um das Königspaar,323 in uneingeschränkt positivem Licht. Wirklich umstrittene Handlungen gibt es nicht. Wenngleich Aliscans sehr viel weniger Interesse an ausführlichen Figurenbeschreibungen zeigt, so vermittelt der Text dem Rezipienten doch Eindrücke vom Erscheinungsbild der Figuren. Dabei verweist er in Bezug auf das situationelle Erscheinungsbild der Christen fast noch deutlicher als der wolframsche Text auf den Kontrast zwischen der schönen Welt des Hofes und den Spuren des Kampfes. 324 Über die körperlichen Details der
_____________ 321 Die entsprechende Textstelle weist auf keinerlei Problematik hin: Isnelement est vers lui retornez;/Et li paiens de dolor s'est pasmez;/ N'est pas merveille, quar a mort est navrez./ De son cheval s'est li quens aclinez;/ Le brant d'acier li a desceint ded lez,/ De cel meïsmes li a le chief copez./ Or est li quens auques asseürez (A40, 1707-1713) („eilig kehrt er [Guillaume] zu ihm zurück;/ und der Heide ist vor Schmerz ohnmächtig geworden;/ dies ist nicht ungewöhnlich, war er doch tödlich verwundet./ Indem sich der Graf von seinem Pferd herunterbeugt,/ nimmt er ihm sein Stahlschwert/ und schlägt ihm mit diesem den Kopf ab./ Ab dem Moment fühlt sich Guillaume ein wenig sicherer“). 322 Dabei ist Guillaumes Verhalten im Vergleich zu dem Willehalms genauso gesteigert wie die Abweisung des Königspaares. Im Vergleich zum Willehalm schockieren vor allem die wüsten Beschimpfungen seiner Schwester, der Königin, die im Rahmen der Figurenreden näher besprochen werden sollen (vgl. Empathielenkungsebene E3). 323 Am Tag der Ankunft Guillaumes in Laon sieht sich der negative Eindruck auf den König verlagert und gleichzeitig verstärkt. Denn dieser weist Guillaume ab und ruft ihm vom Fenster aus zu, er solle irgendwo übernachten, da er zu ärmlich gekleidet sei (vgl. A61, 2693ff). Am zweiten Tag handeln Louis und Blanchefleur, König und Königin, gleich abweisend, indem sie beim Hoffest Guillaume selbst den Gruß verweigern (vgl. A66, 2976ff bzw. 2980ff). Die Forschung sieht in dem feigen und egoistischen Verhalten des Königspaares eine Kritik an der aktuellen Machtsituation um 1180: „Les grands viennent de faillir à leur renom de soldats de la chrétienté. Ils ne sont plus, dans la hiérarchie féodale, ceux qui luttent et qui par conséquent protègent; ils sont déjà ceux qui jouissent“ (Alphandéry 1954: 206) (vgl. dazu auch Boutet 1993b:50ff). 324 Höfische Kleidung wird allein für Aélis beschrieben (z.B. in A69, 3235f, wo die Schönheit ihrer Kleidung und Frisur hervorgehoben wird). Alle anderen Beschreibungen von Kleidung verweisen auf den Kontext des Kampfes. Guillaume ist gezeichnet von Schmutz und steckt in einer beschädigten Rüstung (vgl. A69, 3121-3125), von A12 bis A22 wird immer wieder Vivïens mitgenommene Ausstattung beschrieben und auch die zur zweiten Schlacht
1. Empathielenkung auf der Ebene des epischen Berichts (E1)
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meisten Figuren erfahren wir nur wenig. Bei den Hauptfiguren jedoch fällt auf, dass allein die Damen Aélis und Guibourc im höfischen Sinne ‚schön‘ zu nennen sind.325 Die männlichen Hauptfiguren Guillaume und Rainouart sind sehr stark heroisch geprägt. Guillaume überrascht so durch amples narilles, nés haut, chiere levee,/ Et gros les poinz et la brace quarree;/ Lonc ot le cors et la poitrine lee,/ Les piez voutiz et la jambe formee,/ Entre .II. elz pleine paume d’entree (A69, 3126-3131).326 Rainouart zeichnet sich ebenfalls durch Größe und Stärke aus, wobei sein Blick mit dem eines Ebers verglichen wird.327 Die körperliche Qualität der männlichen Figuren wird auf diese Weise eindeutig über deren Kampfkraft definiert, die den Gegnern Angst einflößt und weniger über Ästhetik als über – oft animalische – Massivität besticht, womit dieser Text deutlich das heroische Wertesystem seiner Rezipienten anspricht und sie auf dessen Basis zu Sympathie den Figuren gegenüber bewegen will. In ihrem Erscheinungsbild ganz anders treten dem Rezipienten die Heiden gegenüber. Aliscans liefert dem mittelhochdeutschen Text zwar die oben beschriebenen Grundkonstituenten, nämlich Fremdheit und Pracht der Heiden, doch zeigen sich hier deutlich weniger ausgewogene Verhältnisse. Zum einen wird Reichtum und Pracht sehr viel weniger ausführlich dargestellt als im Willehalm, und zum anderen verhilft den Heiden Reichtum und Prunk nicht zum Faszinierenden, sondern lässt sie durchgehend unschön und bedrohlich wirken, denn von schönen Heiden ist nie die Rede.328 Der Erzähler fokussiert allein auf Hässlichkeit und anderweltige Fremdheit, wobei er diese Hässlichkeit explizit benennt: Die gehörnten Kämpfer Gorants umschreibt er als si let semblant (A4, 88),329 und Aérofle, dessen Aussehen bei Wolfram nicht negativ auffällt, wird umschrieben als
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zur Unterstützung Guillaumes heraneilende Truppe aus Venedig zeigt sich stark von vergangenen Kämpfen gezeichnet (vgl. A96, 5141ff). Besonders Aélis wird dabei immer wieder hervorgehoben und sogar als die schönste Frau der Welt beschrieben (vgl. A69, 3191ff). Man vergleicht sie mit einer fée (A69, 3191) („Fee“) und einer Rose en moi la matinee (A69, 3230) („an einem Maimorgen“). Auch Guibourc wird ob ihrer edlen Gesichtszüge (vis fier; A90, 4653 und 93, 4927) lobend erwähnt. „große Nasenlöcher, eine hervorstehende Nase, ein gespanntes Gesicht, riesige Fäuste, muskulöse Arme, eine imposante Statur, eine breite Brust, gewölbte Füße, gut geschnittene Beine; zwischen seine Augen passte gut eine Hand“. Z.B. Grant ot le cors et regart de sengler (A73, 3528) („er ist groß und hat den Blick eines Ebers“). Eine prinzipielle Interessenverschiebung in Bezug auf die Darstellung von Christen und Heiden stellt Huby-Marly fest: Während Aliscans fast zwei Drittel der Beschreibungen auf Christen verwendet, konzentriert sich der wolframsche Text zu zwei Dritteln auf die Beschreibung der Heiden (vgl. Huby-Marly 1985: 35). „so hässlich aussehend“. Der Erzähler des Willehalm umschreibt zwar auch die hürnenen Kämpfer mit ihrer tierischen Erscheinung, nimmt aber das Wort 'hässlich' niemals in den Mund.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
grant et hidex et corssu (A39, 1603f)330. Positiv aussehende Heiden gibt es im altfranzösischen Text kurzum nicht, womit auch die wolframsche Zweiteilung in positiv und negativ aussehende und übertragen gesehen in ihren Eigenschaften auch positiv und negativ bewertete Heiden noch nicht existiert. Eine noch deutlichere Sprache der Gruppentrennung spricht die vom Erzähler gewählte Lexik bezüglich der Figureneigenschaften und der Figurenbezeichnungen. Auf Christenseite decken die verwendeten Adjektive die gesamte Breite der positiven heldenepischen und höfischen Werte ab, wobei die heroischen Qualitäten wie Stärke und Tapferkeit erneut stärker zur Argumentation für eine Figur genützt werden als die höfischen, die hauptsächlich auf Damen angewendet werden.331 Die einzigen über den epischen Bericht ausgedrückten negativen Eigenschaften auf Christenseite sind dem châtelain („Burgherr“) in Orléans zugeordent: Er wird der felenie (A57, 2512), der estoutie (A57, 2514) und des orgueil (A57, 2514) bezichtigt, also eines verräterischen Charakters, der Dummheit und des Hochmuts. Der Burgherr von Orléans wird damit der auch in diesem Text oft negativ bezeichneten Welt des Königspaares zugeordnet, die im Rahmen der Figurenreden noch näher beschrieben sein wird. Adjektivische Umschreibungen für Heiden bietet der Text kaum und wenn, dann betont er allein die physische Stärke der Heiden. Ansonsten sind sie de la loi mescreant (A108, 5640), felon (A108, 5640) oder desfaez (A40, 1715).332 Die absolut klarste Trennung in Freund- und Feindgruppe zeigt sich aber erst bei der Betrachtung der Figurenbezeichnungen. Sie machen den wohl deutlichsten Unterschied zum Rezeptionseindruck des Willehalm aus, der die Technik der Figurenbezeichnung zur Sympathielenkung nur sehr unspektakulär nützt. Der epische Bericht des altfranzösischen Textes hingegen greift in solchem Maß auf dieses Mittel zurück, dass es dem Rezipienten in jeder Laisse mehrmals begegnet. Neutrale Bezeichnungen für Christen verwendet der Text kaum. Vielmehr heißen sie in ihrer Gesamtheit les noz (z.B. A3, 57) („die Unsrigen“); individuelle Bezeichnungen für Guillaume und seine Familie wie li ber (z.B. A30, 1092), li preuz (z.B. A82, 4301) oder li senez (z.B. A88, 4498) bis hin zu le meillor homme für Guillaume (z.B. A12, 343)333 unterstreichen ausschließlich den hohen
_____________ 330 „groß und Schrecken erregend und kräftig“. 331 Guillaume gilt beispielsweise als frans („edel“; z.B. A8, 205), ber („tapfer“; z.B. A22, 747), sage („weise“; z.B. A22, 747), henorez („ehrenhaft“; z.B. A40, 1725) und fort („stark“; z.B. A69, 3131). Guichart wird als preuz („hervorragend“; z.B. 8, 217) und vaillans („trefflich“; z.B. A8, 217) beschrieben. Die Damen erhalten weiblichere Attribute wie cortois („höfisch“; z.B. Aélis A69, 3190) und jentis („freundlich/schön“; z.B. Hermengart A67, 2987). 332 „ungläubig“/ „verräterisch“/ „heimtückisch“. 333 „der Ehrenhafte“/ „der Hervorragende“/ „der Heilbringende“/ „der beste Mensch“.
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Wert der Figuren. Die Figurenbezeichnungen auf Heidenseite stellen wohl in Aliscans das einzige Beispiel für Variationenreichtum und Freude am Umschreiben in Bezug auf Heiden dar. In einem Text, der sonst eher kurz und bündig berichtet, beeindruckt dabei die Vielfalt der verwendeten Bezeichnungen. Neben relativ neutralen Bezeichnungen wie li Sarrazin, li Persan oder la gent paienor 334 schafft der Erzähler ein breites Repertoire an stark pejorativen Bezeichnungen, wobei auffällt, dass nur sehr wenige Heidenfiguren individuell erwähnt werden. Stattdessen sind sie als diffuse Masse kollektiv negativ bezeichnet. Der Erzähler nützt dabei die scheinbare Objektivität des epischen Berichts um Beschimpfungen wie cuvers soduanz (A1, 21), li gloton desloial (A18, 604), mal estrait (A33, 1300/ 33, 1314), vachiers (A5, 104/ 6, 122) oder deable (A6, 128)335 einfließen zu lassen. So werden neutrale Beschreibungen weitgehend verdrängt. Der Hass der allwissenden Erzählerstimme bietet dem Rezipienten die einzige Möglichkeit, die Heiden zu bezeichnen. Die gewählte Lexik, vor allem diese die Neutralität ersetzenden Pejorativa für die Heiden als entindividualisierte Masse in Kontrast zum Lob der Christen sowohl in ihrer Gesamtheit als auch in ihrer Individualität, lässt das Figurenpersonal in Freund- und Feindgruppe geteilt erscheinen. 1.3 Hystoria von dem wirdigen ritter sant Wilhelm – Empathielenkung im epischen Bericht Wagen wir nun zum ersten Mal den Sprung ins 15. Jahrhundert und beschäftigen uns mit der Prosaumsetzung von Wolframs Willehalm, dem Mittelteil der Hystoria von dem wirdigen ritter sant Wilhelm (H235,14-255,12 bzw. 132va-148vb), dann fällt schon die bedeutende Verkürzung der Geschichte auf einen Bruchteil des altfranzösischen und auch des wolframschen Textes auf. Dass diese Verkürzung eines der Bearbeitungsziele des spätmittelalterlichen Erzählers ist, betont dieser selbst, als er an einer Stelle eine besonders große Auslassung mit den Worten durch der ku’rczung willen (H251, 28/146ra) rechtfertigt. Entsprechend sieht sich das Personal, das sich für eventuelle Empathiereaktionen anbietet, empfindlich verkleinert: Mit acht namentlich erwähnten und weiteren drei einzeln agierenden Christen werden nur die Hauptfiguren beibehalten; auf Heidenseite treten gar nur noch Terramer, Tibalt, Purrel von Nubia und Terribuleis nament-
_____________ 334 „die Sarazenen“ (z.B. A3, 54/ 7, 172); „die Perser“ (z.B. A1, 15); „das Heidenvolk“ (z.B. A2, 31/ 7, 176/ 102, 5349/ 104, 5418). Doch selbst bei diesen noch relativ neutralen Bezeichnungen ist im mittelalterlichen Rezeptionskontext von einer negativen Konnotation auszugehen. 335 „üble Verräter“/ „treulose Schurken“/ „dreckige Rasse“/ „Kuhhirten“/ „Teufel“.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
lich erwähnt auf.336 Eine besondere Herausforderung scheint damit auch darin zu liegen, in diesem so stark gerafften Text noch empathielenkende Techniken nachweisen zu können. Bietet der Text überhaupt noch Raum für Empathielenkung oder wandelt er sich zum reinen Bericht? 1.3.1 Empathie Die Analyse auf einen eventuell verwendeten Raumfilter hin deckt bereits einige Vereinfachungen des spätmittelalterlichen Textes auf. Die Erzählerkamera folgt hier allein der zentralen Figur Wilhelm durch den Raum, wodurch er zum Erzählfokus und schließlich auch zur Raumfilterfigur wird. Die Handlungsabschnitte der beiden Schlachten sind im Verhältnis zum Gesamttext deutlich verkürzt.337 Das Kampfgeschehen selbst hat dabei kaum mehr Interesse gefunden, allein der Ausgang der Schlachten wird etwas detaillierter thematisiert. Die Heiden werden dabei fast ausschließlich als Gruppe, ohne namentliche Nennung, betrachtet, so dass eine individuelle Wahrnehmung kaum möglich ist. Selbst zentrale Namen der Geschichte verschweigt der Erzähler zugunsten von unpersönlichen Umschreibungen.338 Die Innensichtdarstellungen legen ebenfalls starke Akzente auf Wilhelm und die christliche Familie, deren Empfinden über den Gesamttext hinweg immer wieder ausgeführt wird.339 Einige wenige Stellen zeigen auch die Gefühlswelt der Heiden Terramer und Tibald, allerdings ver-
_____________ 336 Als Christen werden Wilhelm, Kiburg, Heinrich, Irmenschart, Fiuiancz, Arnolt, Elis namentlich genannt. Als zusätzlich einzeln agierende Figuren treten der keiser, die keiserin und der k?fman auf. 337 Die erste Schlacht wird auf gut zwei Seiten der neu edierten Textfassung wiedergegeben (H235, 10/132rb bis H237, 5/133), die zweite Schlacht ebenso (H251, 16/145vb bis H253, 3/146vb). 338 So bleibt der Arofel bzw. Aérofle der früheren Texte einfach ein kúng (H236, 34/133va), Ehmereiz wird Kiburgen sun (H236, 31f/133va) und Halzebier, der Vivianz erschlägt, wird allein über seine Verwandtschaft zu einem anderen unbenannten Heiden (des Pinel der früheren Texte?) als sin sun, des selben sun (H235, 34/132vb) bezeichnet. 339 Gewertet wurden hier, in Analogie zur Analyse der vorher besprochenen Texte, Innensichten, die aus Körperzuständen, Mimik und Gestik abzuleiten sind sowie über Emotionsberichte vermittelte Innensichten. Wilhelms Körper ist beispielsweise krafftlos (H237, 4f/133va), die der Heiden wunnd vncz vff den tod (H253, 1/146vb) (=Körperzustände). Umarmungen beteuern beispielsweise die Liebe der Familienmitgleider zueinander, z.B. Wilhelm und Kiburg (H237, 16/134ra) sowie Elis und Wilhelm (H240, 3/136rb) (=Mimik und Gesten). Emotionsberichte vermitteln z.B., dass Wilhelm sich in semlichen angsten vnd n °ten (H236, 9f/133ra) befindet, dass jm we ze mGt (H238, 24f/135ra) ist oder dass Kiburg leid vnsaglich (H237, 12/133vb). Für die Christengruppe finden sich insgesamt mehr als 25 Belege.
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bleibt das Verhältnis bei etwa 1:5 zugunsten der Christen.340 Empathie wird so mit beiden Gruppen, freilich in starkem Ungleichgewicht, möglich. 1.3.2 Mitleid Eine qualitative Betrachtung der gewährten Innensichten legt immer noch eine große Anzahl an Belegen, die Leid der Figuren ausdrücken, offen. Kampfverletzungen stechen entsprechend der Abwendung vom Kampfgeschehen allerdings weniger hervor, und auch über Mimik und Gestik ausgedrücktes Leid verliert an Dominanz, ohne freilich zu verschwinden.341 Innerhalb der verbliebenen als Codierungen für Leid zu verstehenden Gesten sind Umakzentuierungen festzustellen: Das vorher so auffallende Weinen verschwindet fast ganz und ist allein auf Wilhelms Trauer um Fiuiancz und später Rennuart beschränkt (vgl. H236,13/133ra bzw. H253, 30/147va). Das nicht weiter spezifizierte Klagen setzt sich deutlich durch, wobei neben Wilhelm auch die christliche Familie und Rennuart klagen, Wilhelm aber immer die Sonderstellung behauptet und nur für ihn so eindrückliche Formulierungen wie mit kl¢gklicher klag geclagt (H236,16/133a) gebraucht werden. Daneben dominieren die Emotionsberichte durch den allwissenden Erzähler, der die n°ten von Fiuiancz, Wilhelm, Kiburg, der Familie und der Christen generell beschreibt.342 Das Leiden der Christen ist geprägt von Trauer um die Toten der ersten Schlacht (so leidet die gesamte christliche Familie immer wieder wegen Fiuiancz Tod und der Gefallenen generell), wird mehrfach hervorgehoben und kann so als vom Rezipienten moralisch legitimierbar eingestuft werden. Auf Heidenseite fällt nun ein anderer Einsatz von Leidemotionen auf: Leid wird in Bezug auf eine Einzelfigur ausschließlich für Terramer und dort ausschließlich in Form einer einzigen Klage mitgeteilt. Dabei ist Terramers Leid wegen der Verluste und auch wegen Kiburgs Festhalten am christlichen Glauben eng mit Zorn verbunden, wodurch das Leid in Ag-
_____________ 340 Es finden sich zwei Belege für Terramer (H238, 8f/134vb; H244, 9/139vb), einer für Tibald (H244, 27/140ra), einer für Terribuleis (H148ra/254, 16) und ein Beleg für die Gruppe (H251, 28/145vb; H253, 1/146vb). 341 Lediglich die heraushängenden Gedärme Fiuiancz’ scheint auch der spätmittelalterliche Erzähler seinem Publikum nicht vorenthalten zu wollen (vgl. H235, 35/132vb). 342 Schlüsselworte sind dabei not und leid: Fiuiancz liegt inn so groser not (H236, 3/132vb und ähnlich H236, 9/133ra). Wilhelm ist auf dem Weg zum Königshof in semlichen angsten vnd n°ten (H236, 9f/133ra) und ihm ist we ze mGt (H238, 24f/135ra). Kiburg leid vnsaglich wegen Fiuiancz’ Tod (H237, 12/133vb). Die Familie ist vnsaglich leid vnd betrüpt wegen der vielen Gefallenen (H240, 5/136va und ähnlich H253, 14f/147raf).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
gressivität umschlägt, wie an der direkten Emotionsverkettung in H134vb deutlich wird: Vnd do er der w"rheit jnnen ward, do was sin clag vnmausen gros vnd von grimmem zorn wolt er ein grimmen sturm tGn an die burg Orans (H238,8ff/134vb). Auch die einzige gezeigte Emotion Tibalds ist grim wegen Kiburg, woraus Tibald dann auch den Sturm auf Orange motiviert (vgl. H244, 27/140ra). So kann der Rezipient dem einzigen Leid zeigenden Heiden Mitleid nur verweigern, da der Zustand des Leidens direkt aufgehoben und in bedrohenden Zorn, Wut und Angriffslust seiner Tochter gegenüber umgewandelt wird. Die beiden Verweise auf Leid der Heiden als Gruppe finden sich erst nach der zweiten Schlacht innerhalb einer Beschreibung, die mit Freude die Niederlage und die Verluste der Heiden betont.343 Aufgrund dieses Kontextes muss zumindest mit verweigertem Mitleid, vielleicht sogar mit Schadenfreude als Publikumsreaktion gerechnet werden. 1.3.3 Sympathie Verfolgen wir die Innensichten über die leidtragenden Inhalte hinaus qualitativ weiter, so tritt auf Seite der Christen mit Macht eine bisher nur wenig Rolle spielende Gemütslage auf, die das oben thematisierte Leid zumindest relativiert. Freude und Zuversicht gewinnen deutlich an Terrain, was sich an einer dem Leid fast ebenbürtigen Anzahl an Belegen – in dem sonst so viel kürzeren Text – manifestiert. Diese Freude müssen wir deshalb näher betrachten, weil sie sich aus tiefem Gottvertrauen zu motivieren scheint und somit als sympathiefördernde Innensicht fungiert. So ist selbst in den leidvollsten Momenten der Erzählung Trost möglich: Als die Christen erfahren, dass Fiuiancz im Geruch der Heiligkeit starb, [d]o ward ir betrüpt ettwas gelichtret (H240,7136va) und auch den Worten des Priesters nach der zweiten Schlacht wird bestätigt, dass sie die Christen getrost (H253,19/147rb) haben. Die Figuren scheinen von Zuversicht getragen: Wilhelm und Kiburg freuen sich an kleinen Erfolgen, an der Umkehr des einst feigen königlichen Heeres (H251,13/145va), an der Rückkehr Wilhelms nach Orange (H245, 27/141ra) und Kiburg wird wol ze mGt, als sie
_____________ 343 Die beiden Stellen lauten im Kontext: 1) Do die heiden die zweÿ panner sachent, do waz erst ir j"mer gros derra, die noch denn lepten, wonn ir was "n zal vil erschlagen vnd dick vmb ir panner kommen, aber die cristen verlúrent nie kein panner (H251, 28ff /145vbf). Die Genugtuung über die christliche Überlegenheit macht Mitleid hier mehr als unwahrscheinlich. 2) Do was ir ouch vn zal vil wunnd vncz vff den tod vnd die noch gesunt warent, den was als not ze fliehen, daz si hinder inen liessent, was si hattent, vnd vff der heid vil tieren, sch"f, rinder vnd aller hand spis (H253, 1ff /146vbf). Es dominiert eindeutig die Freude über die Flucht der Heiden, die den Christen viel Gut hinterlassen.
1. Empathielenkung auf der Ebene des epischen Berichts (E1)
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die zur Unterstützung anrückenden Christenheere sieht (H246,25/141vaf). Diese Zeichen des Optimismus nehmen dem Leid Tiefe und Tragik, ohne in die Handlung verändernd einzugreifen. Die Nähe der Figuren zur Verzweiflung, die wir sowohl in Aliscans als auch im Willehalm feststellten, scheint in diesem Text bewusst durch ein anders geartetes Glaubensideal, das wesentlich auf Gottvertrauen im Sinne von Zuversicht beruht, ersetzt. Die räumlichen Beschreibungen344 fallen fast allesamt den Kürzungen zum Opfer und in den wenigen verbliebenen Beschreibungen zeichnet sich eine klare Opposition ab: Während Fiuiancz vnder ein linden (H235,36/132vb) stirbt, verwGstent die Heiden waz da was (H245, 9/140va). Andere Beispiele weisen darauf hin, dass der Erzähler nicht immer gleich stark verkürzt, woran wiederum abzulesen ist, wann ihm Gegebenheiten wirklich am Herzen liegen: So wird das zahlenmäßige Ungleichgewicht zwischen Christen und Heiden fast über Gebühr betont, ihr Verhältnis scheint glich als ein schilling wider ein pfund (H235,17/132rb).345 Dem Erzähler ist es wichtig, die christliche Niederlage in der ersten Schlacht auch diesem Publikum des 15. Jahrhunderts nicht durch kämpferische Unterlegenheit zu begründen sondern allein durch die geringere Anzahl der Christen. Im Figurenverhalten ist selbst im Kampf heidnisches Handeln kaum mehr auszumachen. Zwar wird an mehreren Stellen erwähnt, dass Heiden anwesend und am Kampfgeschehen beteiligt sind, doch wird kein Zweikampf näher beschrieben. Damit entfällt das größte Handlungsspektrum der Heiden, das Kampfgeschehen, welches sie in den beiden früheren Texten deutlich besetzten. Individuelles Verhalten sieht sich reduziert auf die Begegnungen von Terramer und Tibald mit Kiburg, in der Tibalt flucht und ihr droht (vgl. H244, 27/140rb), während Terramer sie liebkost und mit Bekehrungsangeboten lockt (vgl. H244, 28/140rb). Als Kiburg aber seine Angebote ablehnt, greift er Orange an (vgl. H238, 19-23/135ra). Dieser direkte Angriff des Vaters auf seine Tochter wird wohl auch von diesem Publikum verurteilt. Ein weiteres, überraschend ausgebautes Handlungssegment betont ebenfalls ein für die Heiden wenig rühmliches Verhalten: In für den Text erstaunlich vielen Wiederholungen beschreibt
_____________ 344 Die Analysekategorie des Primacy Effects greift in diesem Text nicht, da der von uns gewählte Stoff den Mittelteil der Hystoria einnimmt und sich der ‚erste Eindruck‘ des Rezipienten bereits lange im Vorfeld etabliert hat. 345 Dieses zahlenmäßige Missverhältnis formulieren zahlreiche weitere Textstellen: So wird hervorgehoben, dass auf einen Christen 100 Heiden kommen (H235, 24/132va), dass die Heiden so zahlreich sind, daz die nieman gezellen kond (H243, 28/139va; ähnlich auch H252, 27/146va). Der Sieg gegen die Heiden in der ersten Schlacht scheint unmöglich, wonn der heiden was ze vil (H251, 26/145vb).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
er fast ebenso ausführlich die Flucht der Heiden wie die gesamte zweite Schlacht. An Wendungen wie vnd was jnen als not ze fliehen, das ettlich in das mer vielent vnd ettlich "n segel enweg fGrrend vnd fr "gtent keim marner nach (H252,29f/146vb) und flúchtig mit grosem schaden vnd mit schanden und vnzal hattent iro vil daz leben verlorn (H252f,35f/146vb) lässt sich die bittere Schadenfreude des Erzählers deutlich ablesen.346 Den Christen hingegen wird ihre Tapferkeit nicht abgesprochen: Fiuiancz erschlägt vor seinem Tod noch fünf Könige (vgl. H235, 33/132vb), Kiburg verteidigt tapfer Orange (vgl. H238, 2-4/134va), und die Überlegenheit der Christen – trotz großer Überzahl der Heiden – in der zweiten Schlacht beweist sich darin, dass keiner der christlichen Banner jemals beschädigt wird, während die Heiden alle Banner verlieren (vgl. H251, 29f/146ra). Rennuart ist auch hier der erfolgreichste Kämpfer, wobei die Zugehörigkeit des jungen Heiden zu den Christen bzw. sein Hass auf den Glauben der Heiden in einer neu erfundenen Handlung demonstriert wird: In 146vb schlägt er mit Wucht eine heidnische Götterstatue entzwei.347 Da sich der größte Textteil der Kampfpause widmet, bleiben entsprechend auch die maßgeblichen zwischenmenschlichen Verhaltensweisen der Christen erhalten, wobei gerade in Bezug auf die Liebesbeziehungen bewusst verkürzt und jegliche körperliche Anziehung ausgespart bleibt: Der Erzähler legt großen Wert auf das Festhalten Wilhelms an seinem Gelübde gegenüber Kiburg348 und an Kiburgs Festhalten an Wilhelm und dem christlichen Glauben;349 von persönlicherer Zuneigung oder gar körperlicher Liebe erfährt der Rezipient nichts. Die christlichen Zeugnisse von Mitleid und Barmherzigkeit innerhalb der Sippe sehen sich vollkommen übernommen. Das Königspaar bleibt auch in der Hystoria negativ dargestellt und missachtet jegliches Gebot der
_____________ 346 Ähnliche Textstellen, die ebenfalls immer wieder die Flucht der Heiden hervorheben, sind: H252, 28/146va; H253, 2/146vb; H253, 4f/147ra. Weniger die Flucht, dafür aber die riesigen Verluste der Heiden betont die folgende Passage: vnd hattent kleinen pris beiaget die heiden vnd grosen verlust geh"n der lúten, wonn sÿ hattent mer denn fúnff vnd zweinczig tusing man verloren, vnd vnder den warent fúnffczehen kúng und fúnff vnd trisig kúnges súnen "n ander edel volck (H253, 69/147ra). 347 H252, 33ff/146vb: Vnd do Renvart den got sach, do nam er sin stangen vnd schlGg den abgot, das er ze kleinen stucken brach, vnd den guldinen grifen ouch. 348 Z.B. als Wilhelm alle ihm vom Kaufmann in Mollinn (= Laon bzw. Munleun, der Königshof) angebotenen Ehren ablehnt: aber er wolt nút essen noch trincken wonn wasser vnd brot,/ wann er wolt sin gelúpt halten, die er gott vnd siner frowen Kiburg gelopt hatt (H239, 16f/135vb; ebenso auch H137va/241, 17f und H241, 25f/137vb). 349 Vgl. Kiburgs Reaktion auf die Bitten und Drohungen ihres Vaters: Es halff allez nút, si was stett an got vnd wolt weder durch daz lieb kosen ir vatters noch durch daz getr°wen ir mannes nit von dem gl?ben l"n vnd sich von got keren (H24428ff/140rb).
1. Empathielenkung auf der Ebene des epischen Berichts (E1)
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Hilfeleistung.350 Auch hier hebt sich der Kaufmann als positives Gegenbild ab, zeigt erbermd (H239,19/135vb) mit Wilhelm und tett jm zucht vnd eren (H239, 15/135vb). Allerdings wird hier nicht mehr auf die ritterliche Abstammung des Kaufmanns hingewiesen. Er ist vielmehr ein burger von der statt (H239, 13/135vb). Rennuart wird auch in diesem Text von Wilhelm aufgenommen (vgl. H242f/ 138rbff) und auch hier gewährt man den Heiden die Bestattung ihrer Toten (vgl. H253f/147vaf). Die genaue Motivation der ausschließlich über Figurenreden vermittelten Handlungen wird in der Besprechung der dritten Empathielenkungsebene jedoch zeigen, dass hier einschneidende Ummotivierungen stattfinden. Fragt man nun nach den spürbar evaluativen Techniken, die der Text nützt, um seine Figuren in ihrem Äußeren und in ihren Eigenschaften (adjektival oder nominal) zu bewerten, so fällt auf, dass der spätmittelalterliche Erzähler kaum auf diese Techniken zurückgreift: Er verwendet weder Figurenbezeichnungen noch schreibt er den Figuren Eigenschaften über Adjektive zu. Ebensowenig widmet er sich, bis auf wenige Ausnahmen, dem körperlich konstanten Aussehen seiner Figuren. Allein die situationellen Erscheinungsbilder der Christen, d.h. den Gegensatz von kriegerischer und höfischer Ausstattung, nimmt er auf351, wobei ihm vor allem an den Insignien gelegen scheint, die das christliche Kämpfen als Kampf für Gott beleuchten. So beschreibt er mit Freude die Banner, darunter das Wilhelms in pl"w himelfarw vol guldiner sternen (H251, 11f/145va) und ein anderes Banner der Christen da stGnd Pnser herr am crúcz (H251, 27f/145vb). Beim Äußeren der Heiden wird die wolframsche Zweiteilung in Schönheit und beängstigende Andersartigkeit zwar aufgegriffen, doch der Akzent liegt dabei klar auf der Bedrohlichkeit der heidnischen Erscheinung. Denn die einzige individuelle Beschreibung von Kleidung und Ausstattung trifft die Rüstungen des Heeres von König Purrel, die in ihrer ganzen Anderweltigkeit beschrieben werden.352 Und auch sonst ist die Rede von bedrohlichen moren vnd tatlen vnd gehúrnt lút (H235,26/132va).
_____________ 350 Die verweigerte Ehrerbietung durch Kaiser und Kaiserin drückt sich hauptsächlich in Figurenreden aus (vgl. Empathielenkungsebene 3 der Figurenreden). Auf jeden Fall werden die Tore vor Wilhelm bewusst verschlossen, die Hilfeleistung wird ihm zunächst einmal verweigert (vgl. H239/135va-136rb). 351 Wie in den anderen Texten bleibt Wilhelm bis zu seiner Rückkehr zu Kiburg nach Oranse ungewaschen und in Kampfkleidern (vgl. H241, 17f/137va), und genauso tritt Kiburg mit den Jungfrauen in Oranse kriegerisch gekleidet auf (vgl. H245, 17/40va oder H245, 33/41ra). Beim Fest hingegen legen alle ihre höfische Kleidung an (vgl. H47, 7/42ra). 352 von einer hand wúrmen húten, heissent Mussusel vnd mag kein stahel noch ÿsen noch kein geschmid durch si komen noch keiner hand dinges denn allein der adamast (H252, 22ff/146va).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
1.4 Zwischenergebnisse zur Empathielenkungsebene des epischen Berichts Auf die zentralen Leitfragen der Arbeit bezogen können die aus der Analyse der ersten Empathielenkungsebene entstandenen Ergebnisse wie folgt zusammengefasst werden: 1.4.1 Technische und inhaltliche Umsetzung von Empathielenkung Erzähltechnische Umsetzung: Die drei Texte verfügen auf der Ebene des epischen Berichts, vor allem aufgrund des unterschiedlichen Textumfangs bei der Empathielenkung über verschiedene Startbedingungen. Dennoch machte die Analyse deutlich, dass alle drei Texte narrative Strukturen systematisch zur Empathielenkung einsetzen. Im Detail fallen allerdings Unterschiede in der Auswahl der Techniken sowie in der Häufigkeit ihrer Anwendung insgesamt und bezüglich bestimmter Figuren auf (Unterschiede bei der inhaltlichen Füllung dieser Techniken werden weiter unten diskutiert). Die Häufigkeit der Verwendung empathielenkender Techniken im Gesamttext entscheidet darüber, ob der Text intensive Empathien seines Publikums für bestimmte Figuren fördert oder ob er eine größere Distanz von Rezipient und Figur privilegiert. Dabei verwenden Aliscans und Willehalm in hohem Maß nahezu alle analysierten empathielenkenden Techniken und signalisieren damit großes Interesse an Empathielenkung überhaupt. Demgegenüber fehlen in der Hystoria maßgebliche Techniken, wie z.B. die Raum- und Figurenbeschreibungen, fast vollständig. Und da dieses Defizit auch durch eine eventuell dichtere Anwendung der übrigen empathielenkenden Techniken nicht ausgeglichen wird (auch Innensichten sind z.B. weniger stark angewendet), ergibt sich unweigerlich eine geringere Aufforderung zu Empathie. Maximale Tiefe der Empathie kann dann entstehen, wenn die ohnehin zahlreich eingesetzten empathielenkenden Techniken zusätzlich auf eine oder wenige Figuren konzentriert werden. Dabei nimmt der Willehalm zweifellos die führende Rolle ein, denn im wolframschen Text werden nicht nur alle empathielenkenden Techniken in hoher Anzahl eingesetzt, sondern diese werden auch weitgehend auf Willehalm fokussiert. Aliscans nimmt insofern eine Sonderrolle ein, als dieser Text zwar Empathielenkungsstrukturen recht dicht verwendet, diese aber durch die Dreiteilung der Aufmerksamkeit auf die Figuren Vivïens, Guillaume und Renouart breiter streut und so zwar insgesamt Empathiereaktionen des Rezipienten anstrebt, allerdings weniger auf einen Einzelhelden konzentriert als beispielsweise der Willehalm.
1. Empathielenkung auf der Ebene des epischen Berichts (E1)
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Der zweite gewichtige Unterschied präsentiert sich in der Akzentuierung auf bestimmte empathielenkende Techniken. Denn die drei Texte ziehen im epischen Bericht augenscheinlich bestimmte Techniken zur Empathielenkung vor, verringern den Einfluss anderer und missachten wieder andere vollständig. Aus dieser spezifischen Auswahl entsteht ein unterschiedlicher Grad der Spürbarkeit der lenkenden Strategien. Aliscans stellt dabei ein erstes Extrem dar, denn dieser Text greift beispielsweise zu so direkten Lenkungsstrategien wie Vorausblicken (die auf den zukünftigen Erfolg einer Figur verweisen), eindeutig positiven oder negativen Figureneigenschaften und Figurenbezeichnungen. Der Erzähler des Willehalm verzichtet hingegen weitestgehend auf solch deutliche Lenkungen und greift zu subtileren Methoden (wie das Setzen von Bedeutungsnuancen und impliziten Bewertungen). Die Spürbarkeit der Lenkung in der Hystoria ist insofern gering, als sie auf die deutlichsten Lenkungsmethoden (wie die Erzählerkommentare und Figurenbeschreibungen, vgl. oben) generell verzichtet.353 Die technische Gestaltung der Empathielenkung auf der Ebene des epischen Berichts im Willehalm manifestiert damit ein hohes Interesse an intensiven Empathiereaktionen des Rezipienten, die primär durch subtile Lenkungsstrategien provoziert wird, während Aliscans auf ebenfalls intensive – aber auf drei Figuren gesplittete – Empathiereaktionen und eine selbst für den Rezipienten deutlich fühlbare Lenkungsmethode setzt. Die Hystoria lässt wenig Interesse an tiefer Empathie und entsprechend auch wenig Interesse an intensiver Lenkung erkennen. Inhaltliche Konkretisierung der narrativen Strukturen: Der Rückgriff der drei Texte auf konkrete inhaltliche ‚Füllungen‘, die den potentiell mitleid- und sympathielenkenden Erzähltechniken erst zu einer tatsächlich mitleid- und sympathiefördernden Wirkung verhelfen, zeigt uns weitere Verschiebungen an: Im Willehalm und in Aliscans nimmt das Leid der Figuren, welches Rezipientenmitleid fördern kann, eine zentrale Stellung ein. Allerdings steht es nur im Willehalm in absoluter Form ohne Milderung oder Überwindung nach der siegreichen zweiten Schlacht. Denn in Aliscans ist Figurenleid zwar unweigerlich mit der Niederlage der ersten Schlacht verbunden, sieht
_____________ 353 Mögliche Gründe für Veränderungen sollen zusammenfassend in den Endauswertungen nach der Analyse der drei Textebenen auf ihre empathielenkenden Strukturen hin betrachtet werden. In Bezug auf die unterschiedlichen Lenkungsgrade kann man bereits an dieser Stelle annehmen, dass das wolframsche Publikum keine Durchbrechungen des fiktionalen Geschehens (z.B. durch Vorausblicke) und ebenso keine allzu autoritäre Lenkung schätzte. Inwieweit dies an Gattungserwartungen oder zeitliche Entwicklungen geknüpft sein kann, wird noch zu erörtern sein.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
sich aber genauso nach dem Sieg aufgehoben und in Freude umgewandelt. In der Hystoria schließlich gibt es Momente der uneingeschränkten tiefen Trauer selbst während der Schlachten – dank unerschütterlichem Vertrauen auf die Hilfe und Gnade Gottes – nurmehr in deutlich gemilderter Form. Diese unterschiedlichen Ausprägungen des Figurenleides erklären sich zumindest teilweise anhand der aus dem Kontext ableitbaren Gründe für das Leiden: Während in Aliscans und der Hystoria Figuren wegen der konkreten Situation der Niederlage bzw. wegen der Gefallenen leiden, ist das Leiden der Christen im Willehalm darüber hinaus in einem Leid aufgrund der Situation eines Krieges (unter Verwandten) und der Gefahr für eigene Schutzbefohlene verankert, welches sich durch den Sieg nicht beheben lässt. Das Leiden der Christen im Willehalm ist damit häufig ein Mitleiden mit dem bedrohten Nächsten, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass Mitleid auch über die engste Sippenbindung und die ‚Eigengruppe‘ hinaus (Willehalm-Rennewart; Willehalm-Heiden; Wimar-Willehalm) manifestiert wird. Dass das Mitleid als moralisch gefordert betrachtet werden kann, zeigt die negativ gezeichnete verweigerte Unterstützung durch den Königshof. Während diese Szene im französischen Rezeptionsraum auf eine konkrete Königskritik am schwachen und feigen König und dessen Loyalitätsbruch zielt, fordert der Willehalm im deutschen Rezeptionsraum auf abstraktere Weise Mitleid als Verhaltensideal. Gerade weil Leid und Mitleid im altfranzösischen, vor allem aber im spätmittelalterlichen Text, bei weitem nicht mehr in vergleichbarem Maße als empathielenkender Inhalt eingesetzt werden, müssen wir die extreme Filterung des Leides aus der menschlichen Gefühlswelt im Willehalm als Sonderform deuten, die auf einen hohen Stellenwert dieser Emotionen im Wertehorizont des Publikums verweist. Im Bereich der Sympathieförderung ist es nicht erstaunlich, dass Aliscans in der inhaltlichen Füllung der Figurenbeschreibungen primär auf heroische Argumente setzt, denn schließlich machen diese wesentlich die Gattungskonventionen der chanson de geste aus. So dominiert die Kraft und Tapferkeit der Figuren, ihr kraftvolles Aussehen und die Verbundenheit der Sippe miteinander. Im Willehalm setzen sich höfische Elemente, wie die Liebesbeziehungen und das höfischere Erscheinungsbild verstärkt durch. Allerdings sind auch hier überraschende Abweichungen festzustellen: Denn das körperliche Ideal, das Willehalm und Gyburc präsentieren, weicht deutlich von den höfischen und den heroischen Erwartungen ab und ist als allein christliches zu werten, in dem sich das Leid und Mitleid der Figuren widerspiegeln. Die Hystoria verzichtet auf heroische sympathielenkende Inhalte und verlagert ihre Inhalte stark in den höfischen bzw. christlichen Bereich. Dass der vorbildlich agierende Kaufmann Wimar nicht mehr ritterlicher Abstammung ist, sondern einfach als ein Bürger der
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Stadt bezeichnet wird, scheint auf einen neuen Bezugsraum hinzudeuten, der sowohl die heroische als auch die höfische Welt, ebenso wie den Erfahrungsbereich der Kreuzzüge der Vergangenheit zuweist.
1.4.2 Empathielenkung in Bezug auf Christen und Heiden Auf der Basis dieser technischen und inhaltlichen Rahmenbedingungen beeinflussen die Texte die Figurenwahrnehmung des Rezipienten und dabei vor allem die Wahrnehmung der oppositionellen Gruppen der Christen und Heiden. Fassen wir die empathie-, mitleid-, und sympathielenkenden Strategien zusammen, kommen wir zu dem folgenden Ergebnis: Der wolframsche Text fördert Empathie für Christen und Heiden. Zwar arbeitet man hier mit starken quantitativen Akzentuierungen; doch sind die Momente, in denen auch Heiden Innensichtdarstellung gewährt wird, bei weitem nicht so verschwindend gering, dass Empathie nicht möglich wäre. Dies wird vor allem vor der Folie des altfranzösischen und des spätmittelalterlichen Textes deutlich, die beide Innensichten in Bezug auf Heiden fast hin zur Inexistenz verschieben, so dass sich Empathie kaum bilden kann. Moralisch legitimierbares Mitleid wird im Willehalm nur in sehr wenigen Fällen für Heiden, ausgiebig aber für Christen gefördert. Unangefochten steht das Leid der Heiden an den Auswirkungen des Krieges. Da die Heiden jedoch die Angreifer darstellen und die Rechtmäßigkeit dieses Angriffes in den Augen des zeitgenössischen Rezipienten fraglich sein dürfte, bleibt dieses Mitleid affektiv und kann nicht moralisch legitimiert werden. Auf das persönliche Leid eines Heiden wird nur im Falle von Terramers väterlichem Schmerz fokussiert, doch auch hier kann das Leid nur bedingt nachvollzogen werden, führt er doch Krieg gegen die eigene Tochter und gegen deren nun ‚richtigen‘ Glauben. Demgegenüber stehen unzählige Betonungen von christlichem Leiden, welches in allen Fällen auch moralisch legitimierbar ist und welches das Mitleid des Rezipienten zu einer, soviel kann man an dieser Stelle bereits vermuten, bestimmenden Rezeptionsreaktion werden lässt. Die Frage nach der Sympathie des Rezipienten zeigt für den Willehalm, dass für die Figurengruppe um Willehalm allein Sympathie geweckt wird, dass andere Gruppen, so die um den Königshof und auch die Heiden, sowohl positive als auch negative Bewertungen erfahren und damit neben Sympathie auch mit Antipathie zu rechnen ist. Dabei kritisiert der Text jedoch nie explizit, vielmehr zeigt sich Kritik an fehlenden oder halbherzi-
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
gen positiven Bewertungen und an eindeutig falschem Verhalten bzw. falschen Motivationen (wie z.B. die Feigheit und den Egoismus des Königs und der Königin und der Kampf der Heiden gegen das Christentum schlechthin). Demgegenüber schaffen der altfranzösische und auch der spätmittelalterliche Text klar Sympathie für Christen und Antipathie für Heiden (und den Königshof). Das Bestreben des mittelalterlichen Textes, Heiden auf den ersten Blick genauso mit empathie-, mitleid- und sympathiefördernden Strukturen zu bedenken ohne jedoch jemals eine Gleichberechtigung auch nur ansatzweise zu erreichen, muss – in Anlehnung an Mergells Begrifflichkeit – als ‚scheinbare Zweischau‘ gewertet werden: Sowohl die quantitativen als auch die qualitativen Argumente belegen eindeutig eine Benachteiligung der Heiden, die von Empathie zu Sympathie noch deutlich abnimmt. 1.4.3 Empathielenkung in Bezug auf die zentrale Figur Willehalm Aber nicht nur in der Vermittlung der Heiden lassen sich erste vorläufige Ergebnisse formulieren, auch die Darstellung der den drei Texten gemeinsam zentralen Figur Willehalm zeigt erste Tendenzen: In allen drei Texten nimmt Willehalm in Bezug auf die empathie-, mitleid- und sympathiefördernden Strukturen eine Hauptrolle ein. Dabei erscheint Willehalm vor allem im wolframschen Text durchgehend als klagender und weinender Held. Sein Leid ist dabei durchaus moralisch legitimierbar und fördert damit in hohem Maße das Mitleid des Rezipienten. Im Rahmen der Frage nach einer durchgehenden Sympathieförderung für die Figur, lässt sich aussagen, dass der Guillaume des altfranzösischen und der Wilhelm des spätmittelalterlichen Textes durchgehend positiv bewertet werden, weswegen unbedingt von konstanter Sympathieförderung ausgegangen werden muss. Im Willehalm tauchen im Figurenverhalten jedoch Passagen auf, deren zeitgenössische Bewertung uns im Moment noch unklar erscheint. Denn wir müssen in Erwägung ziehen, dass sein Verhalten dem schwer verwundeten Arofel und dem Königspaar gegenüber vom Zeitgenossen durchaus kritisch oder gar negativ gewertet wurde. Entsprechend wichtig ist es, diese fragwürdigen Verhaltensweisen in den folgenden beiden Empathielenkungsebenen im Blick zu behalten. Trotz dieser Bewertungsschwierigkeiten hat Willehalm im wolframschen Text das größte Sympathiepotential: Denn während der altfranzösische Text auf drei Helden fokussiert und der spätmittelalterliche Text insgesamt weniger sympathielenkend eingreift, sieht sich auf den wolframschen Willehalm eine beträchtliche Anzahl sympathielenkender Strukturen angewendet.
2. Empathielenkung auf der Ebene der persönlichen Erzählinstanz (E2)
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2. Empathielenkung auf der Ebene der persönlichen Erzählinstanz (E2) Betrachteten wir bisher allein das innere ‚Gerüst‘ eines Erzähltextes, den epischen Bericht, so wenden wir uns nun der zweiten Ebene zu, auf der empathielenkend eingegriffen werden kann: der Ebene der Erzählerkommentare durch eine persönlich hervortretende Erzählerfigur. Die empathielenkende Macht dieser Kommentare beruht hauptsächlich, und dies wurde im Kapitel zum Analysemodell bereits erläutert, auf Autorität und Glaubwürdigkeit eines als Figur greifbaren Erzählers.354 Dieser Erzählerfigur zuzuordnende Textpassagen können Rezipientenempathie über implizite Imperative (auf Nachvollzug setzende Kommentare ohne direkte Aufforderung) oder explizite Imperative (auf Nachvollzug setzende Kommentare mit direkter Aufforderung) fördern. Im Rahmen beider Möglichkeiten können primär entweder affektiv oder primär rational wirkende Kommentarstrukturen wirken. Zunächst gilt es, den Grad der Glaubwürdigkeit und Autorität der wolframschen Erzählerfigur zu bestimmen, da dieser die lenkende Wirkung der Kommentare maßgeblich beeinflusst. Im Anschluss werden die empathielenkenden Erzählerkommentare der drei ausgewählten Texte den Subkategorien grundständige Empathie, Mitleid und Sympathie zugeordnet. 355
_____________ 354 Als Kommentare werden in dieser Arbeit die folgenden Passagen betrachtet: (1) kürzere Passagen, die sich aus dem Erzählfluss des epischen Berichts insofern abheben, als sie ausführlicheres Lob oder ausführlichere Kritik beinhalten. Sie müssen kein personales ‚Ich‘ oder andere Deiktika aufweisen, die die Erzählerfigur ankündigen. (2) Passagen, die das Hervortreten eines Ichs, mit oder ohne deiktische Verweise bzw. Ausrufe einer nicht dem epischen Bericht zuzurechnenden Stimme, aufweisen. 355 Dabei stufe ich fast alle Kommentare als empathielenkend ein. Nur sehr wenige Kommentare, die sich beispielsweise auf ein Lob des Mäzens oder die Bedingungen des Dichters beziehen, die also nicht die fiktionale Welt betreffen, kommen nicht in Betracht. Erzählerkommentare können aufgrund ihrer Artifizialität und ihrer Eigenschaft, die narrative Illusion zu durchbrechen, auch als Empathiehemmer betrachtet werden. Dies ist jedoch stark von der inhaltlichen Ausgestaltung abhängig: Je nachdem ob Kommentare Einfühlung demonstrieren bzw. fordern oder im Gegenteil Einfühlung verweigern oder gar verbieten übernehmen sie empathiefördernde oder empathiehemmende Funktion. Ein Beispiel für empathiehemmenden Einsatz von Erzählerkommentaren sind dabei die Kommentare in den Dramen B. Brechts, die bekanntlich distanzierende Funktion übernehmen.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
2.1 Wolframs Willehalm – Erzählerkommentare (E2) 2.1.1 Autoritätsfindung im Prolog In Wolframs von Eschenbach Willehalm wird die Erzählerfigur für den Rezipienten bereits im Prolog von W1, 1 bis W5,14 durch Nennung des eigenen Namens und weiterer Details zur (Dichter-) Persönlichkeit greifbar. Es ist in der Tat ein maßgeblicher Zweck des Prologs, das Publikum von der Glaubwürdigkeit der Erzählerfigur zu überzeugen. Dies geschieht auch durch Rückbezug auf die Wertvorstellungen des Publikums: So affirmiert der Erzähler zunächst seinen aufrichtigen Glauben an Gott, indem er dem Prolog einen gebetsartigen Einstieg gibt und Gott lobt und preist: Ane valsch du reiner,/ du dri unt doch einer,/ schepf#re über alle geschaft (W1, 1ff)356. Seine Kompetenz als Dichter kann er nicht aufgrund lateinischer Bildung einfordern.357 Deshalb verweist er auf die kunst, die ihm die notwendige Einsicht gibt und bittet Gott um seine Unterstützung, um unlosen sin so wise (W2,25).358 Dadurch definiert er sich nicht nur als tiefgläubiger Christ, sondern stellt sein Werk gleichzeitig unter den Schutz Gottes – und einer unter Gottes Schutz stehenden Dichtung wird wohl leicht eine gewisse Qualität zugesprochen. Aber auch über das weltliche Autoritätsgefüge sichert der Erzähler die Qualität seiner Dichtung ab: Er beruft sich auf eine französische Quelle, die mit keiner deutschen Dichtung vergleichbar ist und die von den stets als Vorbild fungierenden Franzosen hoch gerühmt wird (vgl. W4,30-5,11). Diese will er getreu dem Original wiedergeben (vgl. W5, 12-14). Damit dürfte auch der literaturkritische Rezipient positiv gestimmt gewesen sein. Zudem scheint gerade in der Historizität des Stoffes, die Wolfram mit dem Willehalm zum ersten Mal beanspruchen kann, ein Qualitätsargument für das Publikum zu liegen: Der Erzähler betont: diz m#re ist war, doch wunderlich (W5, 15) und
_____________ 356 Der Lobpreis Gottes zieht sich dabei insgesamt noch bis W2, 17. 357 Dass Wolfram von Eschenbach (im Gegensatz zu Heinrich von Veldeke, Hartmann von Aue und Gottfried von Straßburg) keine lateinische Schulbildung (Studium der Fächer des Trivium) genossen hat und damit kein litteratus, kein Gebildeter im engeren Sinne ist, gilt in der Forschung als gesichert (vgl Bumke 2004: 5ff). 358 Die Prologstelle niht anders ich geleret bin:/ wan han ich kunst, die git mir sin (W2, 21f) ist auf verschiedene Weise zu übersetzen. Einen Überblick über die möglichen Lesarten gibt Heinzle in seinem Kommentar der Ausgabe aus dem Jahr 1991 (vgl. Heinzle 1991: 821). Sin ist dabei in jedem Fall als ein von Gott gewährtes Erkenntnisvermögen zu sehen, das über den religiösen Demutstopos hinaus den Anspruch hoher Dichtungskompetenz erhebt, die der des lateinisch Gebildeten zumindest gleichkommt. Ich lese die Stelle zudem eher als Rechtfertigung für die eigene Kunst denn als Polemik gegen die ‚gelehrten‘ Dichter.
2. Empathielenkung auf der Ebene der persönlichen Erzählinstanz (E2)
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scheint sich dabei bewusst von der Fiktionalität abzusetzen, die dem höfischen Roman bisweilen vorgeworfen wurde.359 Gerade weil viele der Angaben des Erzählers zur eigenen Person und zum Stoff als topisch zu betrachten sind, zeichnet sich hier deutlich ab, dass dieser Text auf einen konventionellen glaubwürdigen Erzähler setzt, dessen Führung sich der Rezipient nach diesem Prolog bedenkenlos anvertrauen kann. 2.1.2 Empathie Als empathielenkend im Sinne einer Förderung von grundständiger Empathie werden sowohl Erzählerkommentare verstanden, welche die Empathie der Erzählerfigur für Figuren oder Figurengruppen präsentieren und damit implizit auf Nachvollzug setzen (impliziter Imperativ) als auch Erzählerkommentare, welche den Rezipienten zu einer entsprechenden Reaktion explizit auffordern (expliziter Imperativ). Diese Empathie der Erzählerfigur kann sich entweder aus einem Teilen der Emotionswelt der Figur ableiten und/oder aus dem Nachvollzug ihres Denkens und Handelns. Insgesamt muss die Erzählerfigur dem Rezipienten die Figuren so vermitteln, dass es naheliegt, deren Fühlen und Handeln zu verstehen. Im Bereich einer ermöglichten Teilnahme an den Emotionen der Figuren fallen immer wieder Erzählerkommentare auf, in denen die Erzählerfigur Verständnis für den Schmerz der Christen, vor allem aber für den Schmerz Willehalms präsentiert. Dieser gibt sich seinem Leid ganz hin, nachdem er dem sterbenden Vivianz die Beichte abgenommen hat. Die Erzählerfigur formuliert hierzu: waz möhte der marcrave tuon […] er enhet ouch trurens do genuoc […]? (W67, 3-7). Dem Rezipienten wird das Weinen und Klagen des bereits in E1 beschriebenen ‚weinenden Helden‘ Willehalm als nachvollziehbar vermittelt.360 Und in logischer Folge demonstriert die
_____________ 359 Diese Kritik wurde zunächst in Frankreich geäußert. Payen verweist auf den Prolog der Chanson des Saisnes des Jean Bodel (ca.1165-1210), in dem der Dichter die bretonische Artusepik als unwahr bezeichnet. Hier schreibt er, dass allein die französischen Stoffe (also die chansons de geste), Wahrheit vermitteln (vgl. Chanson des Saisnes, Zeile 11: Cil de France sont voir chascun jour aparant) („Die französischen Geschichten zeigen tagtäglich ihren Wahrheitsgehalt“). Payen fasst die Aussagen Jean Bodels bezüglich der Artusromane treffend zusammen: „leur contenu est illusoire et leur enseignement nul; ils ne visent d’autre but que le divertissement“ (vgl. Payen 1997: 60). 360 Dieses Verständnis der Erzählerfigur für die Gefühle Willehalms sieht sich auch in W162, 13 ausgedrückt: Im Vorfeld wurde Willehalms niedergeschlagener Zustand geschildert (wan in minne und jamer twanc; W162, 12), der sich daraus ableitet, dass er Gyburc allein im umkämpften Orange zurücklassen musste um selbst Hilfe in Munleun zu holen. Daraufhin suggeriert der Erzählerkommentar Verständnis: waz pfandes hete er lazen dort! (W162, 13). Insgesamt werden die Verluste Willehalms bestätigt und so sein Leid gerecht-
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
Erzählerfigur Verständnis für die Trauer der Christen nach der zweiten Schlacht, die diese nicht gegen Siegesfreude einzutauschen bereit sind: swa so werder tote l#ge,/ wer da lachens pfl#ge?/ ungern ich iemen des da zige (W445, 11ff). Diesem Verständnis für die Emotionen Willehalms und der Christen steht ein Desinteresse der Erzählerfigur für die Emotionen der Heiden gegenüber. Erzählerkommentare, die deren Emotionen nachvollziehen, lassen sich nicht nachweisen. Auch in Bezug auf ein Nachvollziehen des Figurenhandelns dominiert Verständnis für Christen. Vor allem bezüglich des umstrittenen Figurenverhaltens gibt die Erzählerfigur Erklärungen an, die dieses freilich noch nicht positiv aufwerten, aber doch nachvollziehbar machen. Die Tötung der Heiden aus Rache beispielsweise erklärt die Erzählerfigur am Beispiel des Kampfes zwischen Poufameiz und Willehalm. Willehalm erschlägt den Heiden, weil er so Rache für alle hingenommenen Verluste nehmen kann: sus kund er rache geben/ um sinen schaden den er kos (W55,26f). Am Königshof wiederum ist es der Zorn, der ihn zwingt, so maßlos seiner Schwester gegenüber zu handeln (dem marcraven zorn gebot; W152,28). Selbst in Bezug auf die kleinste Tat macht die Erzählerfigur Empathie möglich, so auch, als Willehalm Vivianz’ Leiche niederwerfen muss. Denn schließlich muss er sich gegen die heranrückende Heidentruppe verteidigen.361 Eine zweite Figur, deren Verhalten über Erzählerkommentare nachvollziehbar gemacht wird, ist Rennewart: Die Kommentare begründen Rennewarts schockierend unhöfisches Verhalten durch seine Unerfahrenheit und Uwissenheit.362 Figurenhandeln der Heiden wird in Erzählerkommentaren nur in sehr wenigen Fällen nachvollziehbar gemacht. In einem empathielenkenden Kommentar wird die Entscheidung Terramers zur Flucht am Ende der zweiten Schlacht als notwendig begründet (des was et do dehein ander rat; W436, 2). Einerseits wird so der eventuelle Vorwurf von Feigheit und Treulosigkeit abgewendet. Andererseits demonstriert der Kontext durch-
_____________ fertigt: aller krone gewinne/ und al Secundillen riche,/ diene möhten sicherliche/ mit des grales stiure niht widerwegen/ der grozen vlust der muose pflegen/ uf Aliscanz der markis (W24-29). 361 er tet so der der wer bedarf (W70, 22). 362 Als sich Rennewart mitten im höfischen Festmahl eine brutale Verfolgungsschlacht mit den Knappen liefert, wird das auf seine Unerfahrenheit zurückgeführt: doch lert in ungewonheit,/ daz starke trinken überstreit/ sine kiusche zuht und leret in zorn (W276, 11ff). Das Vergessen seiner Stange, seiner einzigen Waffe, beim Aufbruch zur Schlacht wiederum führt die Erzählerfigur auf seine Begeisterung an den Kriegsvorbereitungen zurück und macht die Verfehlung so nachvollziehbar (vgl. W314, 28-W315, 9). Dabei zeigt die Erzählerfigur Verständnis für Rennewarts Ergriffensein angesichts der aufmarschierenden Truppen. Nicht die älteste Frau könnte sich dieser Faszination entziehen (geschweige denn also ein junger Kämpfer!): ez enist dehein wip so alt,/ der ez dicke vür si vuorte,/ ir jugende muot si ruorte,/ daz si ir ougen lieze swingen dar (W315, 2-5).
2. Empathielenkung auf der Ebene der persönlichen Erzählinstanz (E2)
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gehend die sich abzeichnende Niederlage der Heiden, dass auch von einer gewissen Schadenfreude des Publikums ausgegangen werden muss und die ermöglichte Empathie eine nur sekundäre Funktion dieses Verses darstellt. In einer prinzipiellen Frage wird Empathie mit dem obersten Heidenführer Terramer jedoch verhindert: In der Frage, warum Terramer entscheidet, gegen seine Tochter in den Krieg zu ziehen, verweigert die Erzählerfigur ihre Einfühlung. Sie fragt vielmehr: wie tet der wîse man alsô? (W12, 8). Im Willehalm verbleibt die Erzählerfigur damit in allen empathielenkenden Erzählerkommentaren bei einer Lenkung über impliziten Imperativ, d.h. die Kommentare fordern den Nachvollzug des Rezipienten rein implizit und verzichten auf direkte Aufforderungen. Dominierend ist die Verwendung rational lenkender Strukturen, so dass zusätzlich eine gewisse Distanznahme von allzu affektiver Anteilnahme am Geschehen festzustellen ist. 2.1.3 Mitleid Mitleidförderung über impliziten Imperativ: Wie fördert der Text nun über die Erzählerfigur Mitleid? Ein großer Teil der mitleidfördernden Erzählerkommentare funktioniert dabei, wie oben bereits angekündigt, über implizite Imperative, die auf den Nachvollzug des von der Erzählerfigur präsentierten Mitleids durch den Rezipienten setzen, ohne diesen direkt zu befehlen. Auch hier können sowohl Kommentare verwendet werden, die primär an den affektiven Nachvollzug appellieren als auch solche, die eher die ratio des Rezipienten ansprechen. Mitleidförderung über impliziten Imperativ: Als in höchstem Maße affektiv sind die Formen von exclamatio und interiectio einzustufen, anhand derer die persönliche Erzählinstanz spontan und ehrlich wirkende Mitleidsaffekte ausdrückt. Merkmale der Anteilnahme sind dabei Wörter wie owe, ô und ey. An der Verteilung dieser Aus- und Zwischenrufe wird klar, dass sich die Erzählerfigur allein vom Schicksal der Christen bewegt zeigt. Immer wieder ertappt man sie bei emotionaler Anteilnahme. Nicht durch Zufall wird auf diese Weise gerade das Schicksal der Hauptfiguren Willehalm, Vivianz und Gyburc, für die der Text auch auf E1 Mitleid fördert, ausgedrückt.363
_____________ 363 Anlässlich der Enterbung Willehalms durch seinen Vater ruft der Erzähler: ouwe daz man den niht liez/ bi sins vater erbe! (W7, 16f) und provoziert damit erstes Mitleid mit dem noch kaum bekannten Willehalm. In gleicher Weise bedauert er Vivianz’ Tod: ouwe daz siniu jungen jar/ ane mundes granhar/ mit tode namen ende! (W13, 25ff) Ohne Ausruf und damit eher zum pathe-
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
Doch darüber hinaus sieht sich sogar die Schlachtendarstellung, die bisher die größte Neutralität (man denke an den Begriff der ‚Zweischau‘) aufwies, subjektiv überfärbt. Denn der Erzähler fiebert eindeutig mit den Christen und suggeriert so dem Rezipienten die gleiche Haltung: Als die Schlacht in vollem Gange ist und Terramer mit seinen riesigen Heeren eingreifen will, um den Sieg der Heiden endgültig herbeizuführen, reagiert der Erzähler mit dem scheinbar unkontrollierten Ausruf: owe daz er nu komen sol,/durh den diu sorclichiu dol/ und daz angestliche liden/ die getouften niht wil miden! (W399, 7-10). Dieses owe fühlt eindeutig mit den Christen und es offenbart sich im Detail, dass dol und liden, die doch offiziell auf beiden Seiten vorherrschen, einmal mehr allein auf Christen bezogen werden. Die scheinbar neutrale Berichterstattung sieht sich durch solch affektivmitleidige Erzähleräußerungen deutlich in eine subjektive und wertende Präsentation umgewandelt. Andere, auf rationalen Nachvollzug setzende implizite Imperative vermitteln dem Rezipienten in ruhigerem Ton, dass eine mitleidige Reaktion in dieser Situation naheliegt. Zur Unterstützung der Argumente geht die Erzählinstanz selbst mit gutem Beispiel voran und fördert damit über ein Zusammenspiel aus Argumentation und Vorbildfunktion auf doppelte Weise Mitleid. In diesem Bereich nimmt vor allem die Anteilnahme an Willehalms Schicksal eine zentrale Rolle ein. Am deutlichsten eingesetzt ist das Erzählermitleid in einem für den Helden eher kritischen Moment, nämlich nach Willehalms umstrittenem Zornausbruch am Königshof. In einem doppelten Kunstgriff betont der Erzähler zunächst, dass Willehalms Leid so enorm sei, dass es selbst Ungläubige, wie juden, heiden, publicane zum Erbarmen hätte bewegen können364. Diese Worte legitimieren zum einen Willehalms Verhalten durch die Betonung der Größe seines Leids (welches ungewöhnliches Verhalten entschuldigt); zum anderen macht genau diese Größe des Leids Willehalms Zornausbruch insofern verständlich, als der Königshof durch die Ignoranz dieses Leids selbst moralisch zweifelhaft agiert. Die Behauptung, dass selbst Anhänger anderer Religionsgemeinschaften, darunter die gegnerischen heiden, Mitleid mit Willehalm hätten, stellt für den Rezipienten fast eine Provokation dar: Denn wenn selbst Heiden Mitleid mit Willehalm empfinden können, ist diese Reaktion einem mittelalterlichen Christen, dessen Religion zusätzlich Mitleid und Nächstenliebe fordert, erst recht geboten. In den folgenden
_____________ tischen Nachvollzug anregen soll wohl die teilnehmende Anrede an Gyburc: ey Gyburc, süeze wip,/ mit schaden erarnet wart din lip (W14, 29f). 364 er möht erbarmen die halt sint/ des waren gelouben ane,/ juden, heiden, publicane (W162, 28ff). Die Bedeutung des Wortes publicane ist dabei umstritten. Heinzle vermutet, dass es hier für die Angehörigen häretischer Bewegungen steht, „die zu Wolframs Zeit […] der Kirche schwer zu schaffen machten“ (Heinzle 1991: 952).
2. Empathielenkung auf der Ebene der persönlichen Erzählinstanz (E2)
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Versen setzt der Erzähler dieser Argumentation gleichsam die Krone auf, indem er sein persönliches Mitleid ausdrückt und damit implizit zum Nachvollzug seines Mitleids auffordert: Mich müet ouch noch sin kumber./ dunk ich iemen deste tumber,/ die sm#he lid ich gerne (W163, 1ff). Auf eventuell immer noch existierende Bedenken des Publikums, Willehalm nach seinem Zornausbruch zu bemitleiden, reagiert der Erzähler mit diesen Worten direkt. Denn er bedenkt sogar die Möglichkeit, dass manch einer dieses Mitleid für Willehalm vielleicht für dumm halten könnte. Doch selbst in diesem Fall, so der Erzähler, will er an seinem Mitleid gerne festhalten, denn er ist sich der richtigen Reaktion sicher. Zwei mögliche Rezipientengruppen scheinen sich abzuzeichnen: Die erste, deutlich favorisierte Gruppe versteht Willehalms Verhalten und spricht ihm ihr Mitleid nicht ab. Die zweite Gruppe, weniger vorbildhaft, verurteilt Willehalm ob seines Verstoßes gegen die höfischen Verhaltensregeln – und entlarvt sich dabei als gefühlloser als mancher Heide. Wieder einmal wird deutlich, dass übergroßes und auch außergewöhnliches Leiden weniger Kritik als Mitleid auslösen soll.365 Steht Willehalm für die überlebenden Christen, so repräsentiert Vivianz, wie bereits in E1 deutlich wurde, die Masse der christlichen Gefallenen. Es verwundert daher nicht, dass der Erzähler über Vivianz auch um Mitleid für diese Gruppe wirbt.366 Wieder erscheint Dummheit als Attribut derjenigen, die Anteilnahme verweigern: ich w#re immer mer ein gans/ an wizzenlichen triuwen,/ ob mich der niht solde riuwen (W13, 22ff). Mitleid wird gleichsam zur ethischen Forderung, die der Erzähler später an sich selbst demonstriert: nu sold ich klagen/ Heimriches tohter sun (W48,4f). Triuwe und Mitleid sehen sich im ersten der zitierten Kommentare deutlich verknüpft. Wer wahre Treue zeigt, hat Mitleid mit dem Leidenden. Wer wiederum Mitleid verweigert, offenbart gleichzeitig mangelnde Treue. Vivianz stellt dabei relativ früh im Text einen Präzedenzfall für die richtige Rezeptionshaltung dar, welche triuwe und Mitleid als zwei Seiten einer Medaille ver-
_____________ 365 Neben Willehalm ruft beispielsweise auch Heimrich das Mitleid des Erzählers hervor. Der Erzähler verknüpft dabei eine ausgiebige Innensicht in die Gefühlswelt der Figur mit der Beteuerung des eigenen Mitleides: Heimrich al eine/ mich nu da erbarmet sere,/ daz die endelosen ere/ so tiuwer sin alter koufte/ und anderstunt sich toufte/ sin geslehte da in bluote./ wie was im do ze muote,/ da siniu kint und kinde kint/ und er selbe in sölhen nAten sint,/ dar zuo mage unde man?/ sin herze muose jamer han (W405, 20-30). Wieder wird dieses Leid als Preis für die ewige Seeligkeit verstanden. Der Rezipient soll folglich Leid und Mitleid als notwendiges Erdenschicksal verstehen, das den Weg zur Erlösung öffnet. Das Erleben des an sich negativen Leids wird damit notwendig und positiv. 366 Nur so erklärt sich, dass sich das Schicksal Vivianz’, obwohl er schon ganz am Anfang stirbt, durch den ganzen Text zieht, so dass der Erzähler noch im Abschnitt 380 über Vivianz betont: wie mich din tot erbarmet (W380, 17). Der Rezipient ist damit zu Mitleid mit allen toten Christen angehalten.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
bindet. Der Erzähler geht sogar so weit, dass er das eigene Seelenheil vom aus Treue empfundenen Mitleid abhängig macht, heißt es doch, ebenfalls in Bezug auf Vivianz: mich jamert durh die s#lde min./ und vreu mich doch wie er restarp,/ der sele werdekeit er rewarp (W48,28ff).367 Jammer, Leiden und Mitleiden sehen sich damit zu einem heilsbringenden Verhalten erhoben. Wenden wir den Blick nun auf die Heidenseite, so müssen wir feststellen, dass Mitleid mit Heiden kaum gefordert wird, dass gerade Mitleid mit Einzelfiguren keine geförderte Rezipientenreaktion ist. Allein im Fall Noupatris’ bedauert der Erzähler dessen Tod. Allerdings muss man hier bedenken, dass dieses Mitleid mit der Klage um Vivianz, der im gleichen Kampf tödlich verwundet wird, einhergeht: Ich bin noch einer, swa manz sagt,/ der ir tot mit triuwen klagt:/ disen durh pris und durh den touf;/ und jenen durh den tiuren kouf,/ daz er ouch prises gerte (W23, 15-19). Auf den ersten Blick wirkt dieser Kommentar als würde in gleichem Maße um einen jungen Christen und einen jungen Heiden getrauert, und entsprechend wird dieser Kommentar von der Forschung immer wieder als Beleg für die mergellsche ‚Zweischau‘ angeführt.368 Doch auch hier sollte man treffender den Begriff der ‚scheinbaren Zweischau‘ verwenden, denn bei genauerem Hinsehen wird wieder deutlich, wie konsequent der Text – auch erzählerisch – eine wirkliche Gleichstellung vermeidet. Im Vergleich wirkt der junge Heide trotz allen Lobes deutlich unterlegen: Wo Vivianz für seinen Glauben und für den Ruhm kämpft (durh pris und durh den touf), bleibt Noupatris allein das Streben nach dem weltlichen Ruhm (daz er ouch prises gerte). Die Wirkung dieser Leidbekundung des Erzählers für Noupatris ist folglich, gerade im Vergleich mit Vivianz, deutlich eingeschränkt. Über die mögliche ewige Verdammnis der Heiden insgesamt äußert die persönliche Erzählinstanz jedoch aufrichtiges Bedauern: nu gedenke ich mir leide,/ sol ir got Tervigant/ si ze helle han benant (W20,10ff). Ein Zweifel daran, dass Heiden, sofern sie als Heiden sterben, verdammt werden, spricht wohl nicht aus dieser Textstelle.369 Im Kontext der Bewunderung
_____________ 367 Deshalb schlage ich eine Übersetzung vor, die diese Verknüpfung von Jammer und Seelenheil deutlich herausstellt, etwa, wie Heinzle es tut: „Mein Seelenheil verlangt, dass es mich schmerzt.“ 368 Z.B. Young 2000: 146. Young differenziert hier treffend zwischen der erzählerischen Methode, die nach ihm der mergellschen ‚Zweischau‘ entspricht und der theologischen Einstellung des Erzählers, die uneingeschränkt das Christentum verteidigt. Ich glaube jedoch, dass selbst die erzählerische Methode nur scheinbar eine ‚Zweischau‘ vermittelt und damit in weniger starkem Widerspruch zur theologischen Einstellung des Erzählers steht. 369 Auch Young liest diesen Kommentar als klare Position des Erzählers: „Angesichts der Farbenpracht der geschmückten Heiden […] bedauert der Erzähler ihre verlorenen Seelen sehr. In seiner Positionsbestimmung läßt er sich als Christ aber keineswegs von der menschlichen Seite der Tragödie beeinflußen: Die nicht-christlichen Ritter sind wegen ihrer Anbetung des falschen Gottes zur Hölle verdammt“ (Young 2000: 145).
2. Empathielenkung auf der Ebene der persönlichen Erzählinstanz (E2)
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der heidnischen Tapferkeit und Kampffertigkeit ist sie vielmehr als Bedauern über die ‚falsche‘ Religion derselben zu lesen. Dass diese in allen weltlichen Belangen ausgezeichneten Scharen im falschen Glauben der Hölle entgegengehen, ist bedauerlich. Und dieses Bedauern muss aus der Sicht eines Christen durchaus den Gedanken an eine mögliche Änderung dieser Tatsache beinhalten. Dieser Text, der niemals einen Bekehrungsversuch oder gar Bekehrungszwang formuliert, drückt so über die persönliche Erzählinstanz die Hoffnung auf eine Errettung aller Heiden aus, die nur über das Christentum möglich ist. Die konjunktivische Formulierung sol ir got Tervigant/ si ze helle han benant (W20, 10ff) scheint anzuzeigen, dass überlebende Heiden durchaus noch freiwillig zur Taufe treten könnten, wie es Gyburc und ansatzweise auch Rennewart demonstrieren. Das Erzählermitleid spricht damit jeglichem blinden Hass, aber genauso der Akzeptanz der heidnischen Religion, eine Absage aus.370 Mitleidförderung über expliziten Imperativ: Bereits auf der Ebene des epischen Berichts fiel auf, dass der mittelhochdeutsche Text auf allzu direkte Strategien der Empathielenkung weitgehend verzichtet. Entsprechend verwundert es nicht, wenn die eben beschriebenen impliziten Mitleidsimperative quantitativ dominieren. Allerdings sind auch einige direk zu Mitleid aufrufende Imperative festzustellen. Beeindruckend ist dabei, dass diese Mitleidsimperative die einzigen Imperative von Seiten der persönlichen Erzählerinstanz im gesamten Text darstellen. Die Aufrufe zum Mitleid erhalten damit eine exponierte Position. In Bezug auf die Christengruppe sind vier Mitleidsimperative näher zu betrachten. Davon betrifft jeweils ein Imperativ Willehalm und die Christen generell, während Gyburc zweimal Anlass für einen Erzählerimperativ ist. So ruft der Erzähler in W52, 1 den Rezipienten in Bezug auf Willehalm auf: sinen jamer sult ir prisen (W52, 1). Willehalm steht hier im Kreise der wenigen Überlebenden der ersten Schlacht. Die Klage ist grenzenlos. Mit seinem Kommentar fordert der Erzähler, das tiefe Leid Willehalms zu preisen, beugt damit eventuellen Vorwürfen an einen vor Klage gelähmten Heerführer vor und etabliert erneut Leiden als preisenswerte Emotion und Mitleid als vorbildliche Reaktion. Einen noch direkteren Mitleidsappell formuliert der Erzähler zugunsten von Gyburc. Hier heißt es: ob ich nu niht so sinnic si,/ daz ich gesagen künne ir not,/ so lats iu erbarmen doch durh got (W111, 30-112, 2).371 Im Demutstopos der Unbeschreibbarkeit wird hier Gyburcs Leid als unermesslich klassifiziert. Diese not soll anerkannt wer-
_____________ 370 Vgl. dazu später die Ausführungen zu den Kommentaren des Erzählers, die dessen Haltung bezüglich Glaube, Glaubenskrieg und Schuld besprechen. 371 Genauso muss es als Aufforderung zu Mitleid verstanden werden, wenn der Erzähler das Publikum aufruft, an Gyburcs vorhtlich ungemach zu denken (vgl. W162, 16).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
den und entsprechend – hier finden wir das Mitleid mit dem göttlichen Willen verknüpft – erbarmen nach sich ziehen. Die oben bereits beschriebene weitere Variante, welche Mitleid als Folge der triuwe sieht, findet sich erneut in einer Mitleidsforderung in Bezug auf alle Christen formuliert: owe kristen liute,/[…] wirt nu von maneger hende/ uf iuch gestochen unt geslagen!/ swer triuwe hat, der solt iuch klagen./ ir sit durh triuwe in dirre not (W400, 1-9). Damit wird das Mitleid mehr und mehr zur am meisten geforderten und auffällig hervorgehobenen Rezeptionsreaktion, nicht zuletzt indem die Erzählerfigur es nach und nach in ihren Kommentaren als notwendige Folge der triuwe, als Voraussetzung für s#lde und als Entsprechung göttlichen Willens etabliert. Auf Heidenseite finden wir lediglich einen Mitleidsimperativ, der dem Rezipienten außerdem in doppelt abgeschwächter Form begegnet und somit kaum wirklich Mitleid hervorrufen dürfte: Die Erzählerfigur kommentiert den Tod des Heidenkönigs Arofel mit den Worten: noch solden kristenlichiu wip/ klagen sinen ungetouften lip (W81, 21f). Diese indirekte Aufforderung macht einerseits durch die konjunktivische Formulierung deutlich, dass zwar um Arofel geklagt werden sollte, dass dies aber faktisch nicht so ist. Außerdem wendet sie sich lediglich an die weibliche Christenheit, wobei diese Einschränkung auf das weibliche Publikum nur dadurch zu erklären ist, dass der Erzähler Arofels Tod hauptsächlich aus der Sicht des Minneideals als bedauernswert einstuft. Insgesamt kann dieser Imperativ durch die Anzahl der Einschränkungen nurmehr als scheinbarer Aufruf zu Rezipientenmitleid gewertet werden, der, hätte der Erzähler wirklich zum Mitleid mit Arofel bewegen wollen, vermutlich anders, im Sinne der hinreichend besprochenen Beispiele, formuliert worden wäre. Verweigertes Mitleid: Genauso machtvoll wie zum Nachvollzug gestellte Mitleidsbekundungen können Kommentare sein, in denen die Erzählerfigur ihr Mitleid – trotz leidvoller Figurensituation – explizit verweigert. Auch dabei erhält der Rezipient Wegweiser für die eigene Rezeption, die zum einen in Richtung von Gleichgültigkeit, zum anderen in Richtung von Schadenfreude gelenkt werden kann. Bezeichnenderweise existieren in Bezug auf die Christengruppe um Willehalm allein Kommentare des gewährten Mitleids im Stil der oben besprochenen Passagen.372 Dahingegen straft der Erzähler die Heiden
_____________ 372 Allerdings wurde bereits in E1 deutlich, dass die Christengruppe in der Bewertung durch den Text keineswegs homogen auftritt, sondern dass der Köngishof, d.h. der König, die Königin, manche Höflinge und Teile des königlichen Heeres eine negative Sonderstellung einnehmen. Diesem Urteil entsprechend zeigt der Erzähler wenig Mitleid mit Vertretern dieser Gruppe. Wenn Rennewart den umkehrenden, nach Gemach und Bequemlichkeit strebenden Kämpfern des französischen Königs übel zusetzt, kann der Erzähler nur Scha-
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doch in recht breitem Maße mit weniger anteilnehmenden Strukturen. Ein erster Typus solcher mitleidsverweigernder Kommentare lässt sich rational noch recht gut nachvollziehen, denn hier setzt der Erzähler bei einem konkreten Fehlverhalten der Figur an, aus dem sich logisch die Mitleidsverweigerung ableiten lässt. So bedauert er Poydwiz’ Tod deshalb nicht, weil sich dieser von seinen Truppen entfernt hatte: swer die sinen ie verkos,/ der wart eteswenne ouch sigelos (W412, 19f). Ob es vielleicht Gründe für Poydwiz’ Verhalten gegeben hat, interessiert den Erzähler hier nicht, so dass dem Rezipienten als einzige mögliche Begründung für Poydwiz’ Verhalten dessen mangelnde triuwe zu den Seinen bleibt. Verurteilung und Schadenfreude scheinen die naheliegenden Reaktionen.373 Die verweigerte Trauer des Erzählers um Cernubiles Tod bildet wiederum ein Gegenbeispiel zum Mitleid für Vivianz. Denn während das Andenken an Vivianz’ Tod über den gesamten Text hinweg und für alle Zeit gefordert wird, beteuert der Erzähler in Bezug auf den Tod Cernubiles, dass ein Klagen deswegen sinnlos sei, weil dieses doch aufgrund mangelnder Bindung weit hergeholt sei und weil mittlerweile ohnehin auch alle Überlebenden der Schlachten tot seien.374 Wenn man bis hierher noch eine relativ sachliche Argumentation gegen Mitleidsbekundungen beobachten kann, scheint ein zweiter Typus von Kommentaren den Heiden Anteilnahme unbegründet abzusprechen. Die Haltung des Erzählers gilt vielmehr als selbsterklärlich: So wird Aropatin und seinem Heer bereits beim Aufmarsch eine vernichtende Niederlage gewünscht, womit eine gewisse bittere Ablehnung und damit im Umkehrschluss eine Parteinahme für die Christen im Kampf doch sehr deutlich wird: nu müeze in als Welfe,/ do der ze Tüwingen vaht,/ gelingen aller siner maht:/ so scheidet er dannen ane sige./ alsus ich sin mit wunsche phlige
_____________ denfreude empfinden: ich dinge daz ir niht lachet,/ als ir nu vreischet wiez in erget/ alda si Rennewart bestet (W321, 28ff). 373 Ebenfalls diesem Typus der Mitleidsverweigerung entspricht der Kommentar zu den Verwundungen des heidnischen Spähers, der die Kriegsvorbereitungen der Christen vor der zweiten Schlacht ausspioniert. Zu den aus dieser negativ gesehenen Spionagetätigkeit hervorgehenden Verletzungen heißt es aus dem Munde des Erzählers mitleidslos: sus sol der wartman wider komen (W334, 7). 374 Nachdem Heimrich von Narbonne Cernubile getöete hat, heißt es: Ob ich mich nu dar umbe sene,/ daz ist ein verre sippez klagen./ die ir leben dannen solten tragen,/ ob si nimer strites gegerten/ mit lanzen noch mit swerten,/ die ze beder sit da dolten not,/ si w#ren doch alle sider tot (W408, 30-409, 6). Der Sinn dieses Kommentars ist in der Forschung umstritten. Dabei erscheint es vor dem Hintergrund des Gesamttextes recht unwahrscheinlich, dass der Erzähler den Heiden verhöhnen will, wie Kühnemann annimmt (vgl. Kühnemann 1970: 127). Eine gewisse Genugtuung über den Tod des Heiden ist jedoch nicht zu verleugnen (vgl. Nellmann 1973: 152), gerade wenn man bedenkt, dass z.B. das Andenken an Vivianz und andere christliche Kämpfer immer wieder gefordert wird.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
(W381, 26-30).375 Genauso bitter und genauso wenig argumentativ nachvollziehbar ist die Schadenfreude über den Tod des Cliboris, der von Bernart von Brubant getötet wird. In fast ironischer Weise ruft der Erzähler dazu auf, den überdimensionalen schiffförmigen Helmschmuck des Heiden zu beklagen. Dann heißt es: in die barken gienc der bluotes wac:/ swer marn#re drinne w#re gewesen,/ der möhte unsanfte sin genesen (W411, 8-10). Zwar kann der prachtvolle Helmschmuck immer auch als Kritik einer vanitas mundi, die die Heiden in ihrem Schmuck zur Schau tragen, verstanden werden und eventuell als Grund für Mitleidsverweigerung gelten. Trotzdem scheint der Schlüssel zu diesen Versen nicht in sachlicher Argumentation zu liegen. Vielmehr verlässt der Erzähler hier deutlich den Ton des höfischen Romans und kippt in die hyperbolische Tradition der Heldenepik über. Genauso deutlich wie im Heldenepos wird hier Mitleid mit dem Feind zugunsten von schadenfreudig düsterem Amusement verweigert. 2.1.4 Sympathie Trotz der Eindrücklichkeit der zur Mitleidsförderung verwendeten Erzählerkommentare kommt dem eigentlichen Großteil der empathielenkenden Kommentare nicht mitleidfördernde, sondern sympathielenkende Funktion zu, also die Funktion, für die Wertschätzung bestimmter Figuren und Figurengruppen zu werben oder gegen dieselbe zu argumentieren. In einer ersten Gruppe von Kommentaren können diese Wertungen direkt auf Figuren bezogen in Form von offenem Lob und offener Kritik formuliert werden und damit den Eindruck des Rezipienten von einer Figur maßgeblich prägen. Eine weitere Gruppe sympathielenkender Kommentare bezieht sich zwar nicht konkret auf Einzelfiguren, doch stellen sie wichtige Wegweiser in den Fragen des Textes rund um die Themenkomplexe Glaube, Glaubenskrieg und Schuld dar, deren Beurteilung wiederum die Figurenbewertung maßgeblich beeinflusst. Schon im Voraus sei bemerkt, dass alle sympathielenkenden Kommentare allein implizit zum Nachvollzug auffordern. Auf direkte Appelle wird hier verzichtet. Lob und Kritik des Erzählers: Im Willehalm formuliert die Erzählerfigur verstärkt Lob und positive Eigenschaften der Figuren und Figurengruppen, während Kritik eine vergleichsweise geringe Rolle spielt. In den konkreten
_____________ 375 Heinzle beleuchtet die historischen Bezüge dieses Kommentars (vgl. Heinzle 1991: 1054). Der Erzähler wünscht den Heiden eine ähnliche Niederlage wie die des jungen Welf VII. vor Tübingen im Jahr 1164. Diese war für ihn „um so schimpflicher […], als sein Belagerungsheer dasjenige seines Gegners, des Pfalzgrafen Hugo von Tübingen, an Stärke weit übertraf“ (Heinzle 1991: 1054).
2. Empathielenkung auf der Ebene der persönlichen Erzählinstanz (E2)
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inhaltlichen Ausgestaltungen des Figurenlobes begegnet uns ein bereits aus dem epischen Bericht bekanntes Phänomen: In einem Großteil der lobenden Kommentare bleibt die Erzählerfigur so allgemein, dass die Informationen über die Figuren fast in ein Stereotyp verfallen, welches für den Rezipienten gewöhnlich geworden und damit nur noch begrenzt als individueller Wert wahrgenommen werden kann. So werden Willehalm und seiner Familie die schon in der Figurenbeschreibung häufigen Werte von werdekeit, triuwe, minne, manheit, ellen, güete, kiusche, tugent, pris, güete, hochgemüete etc. zugesprochen.376 Kommentare, die auf das aus dem epischen Bericht bereits hinlänglich bekannte Vokabular zurückgreifen, betonen natürlich die Vorbildlichkeit der Figuren. Doch gerade über die im Willehalm sehr breite Streuung dieses Lobes verschwimmt es leicht zu einem gleichförmigen, aber wenig individuellen Positiven. Entsprechend mehr Gewicht ist den originelleren lobenden Kommentaren beizumessen, die der Erzähler durchaus auch formuliert. Diese deutlich hervorstechenden Äußerungen greifen auf besondere rhetorische Mittel zurück, wobei gerne Vergleiche, auch intertextueller Art, eingesetzt werden. Die Auswahl der Figuren, für die solch auffälliges Lob formuliert wird, scheint die Vermutung zu bestätigen, dass systematisch zwischen eher stereotypem und daher wenig markantem Lob und elaboriertem Lob unterschieden wird. Der Erzähler macht beispielsweise deutlich, dass ihm an der Betonung einer fast mythischen Tapferkeit Gyburcs wirklich gelegen ist, indem er diese durch intertextuelle Vergleiche mit den beiden hervorragenden Kriegerinnen Camille von Volcan und Carpite aus Heinrichs von Veldeke Eneasroman hervorhebt.377 Bilder wiederum rufen, ohne eine direkte Wertung vorzugeben, beim Rezipienten eine deutliche Assoziation hervor, die der Figur als positiver Wert beigegeben wird. Diese Bilder können eine so starke Aufwertung der Figuren transportieren, wie sie explizit nicht formulierbar wäre. Entsprechend beschreibt die Erzählerfigur Willehalms Suche nach den Seinen in der ersten Schlacht folgendermaßen: der marchgrave Willalm - / ob ich so von dem sprechen mac:/ gesaht ir ie den nebeltac,/ wie den diu liehte sunne sneit?-/ als durhliuhteclich er streit/ mit der suoche nach sinem künne (W40, 8-13). Willehalm wird also mit einem Lichtstrahl aus der Dunkelheit verglichen. Betrachtet man die Szenerie vor dem Hintergrund
_____________ 376 Vgl. beispielsweise für Willehalm W11, 25-29/ 70, 28/ 105, 27/ 312, 17ff/ W87, 16-22, für Vivianz W48, 25ff/ 42, 22 und für die Brüder W7, 1-9/ 243, 2f/ 249, 20f. Einzig individuelleres Lob ist die Tapferkeit Gyburcs im Kampf für das Christentum, das für eine (ehemals heidnische) Frau (!) nicht selbstverständlich ist (vgl. W243, 23-28) und die Klugheit Willehalms, die ihn die Heiden mühelos einige Male an der Nase herumführen lässt (vgl. W105, 27). 377 doch was si selbe harnaschvar,/ daz diu maget Carpite/ vor Laurent in dem strite/ noch Camille von Volcan,/ ir newederiu het ez so guot getan (W229, 26-30).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
mittelalterlicher Religiosität, so erscheint Willehalm deutlich als fast messianisch anmutendes Zeichen der Göttlichkeit. Seine Suche nach den Verwandten und Vasallen, dieser Akt tätiger Nächstenliebe, wird als Ursache genommen, um ihn zu einer Heilsfigur zu stilisieren.378 Noch direktere Formen des Lobs durch Rückgriff auf den religiösen Wertehorizont bilden die Apostrophe an zu Heiligen stilisierte Figuren, die der Erzähler zugunsten von Willehalm, Gyburc, ansatzweise aber auch zugunsten von Vivianz formuliert; man denke nur an das bereits erwähnte herre sanct Willehalm im Prolog der Dichtung (W4, 13).379 Betrachten wir nun die auf Heiden bezugnehmenden Kommentare, so fällt eine ähnliche Zweiteilung auf. Im Bereich der weltlichen Werte finden wir auch hier ein eher stereotypes Lob anhand der bereits mehrmals erwähnten Hochwertwörter, wobei die Heiden den Christen in diesen Kategorien in nichts nachstehen. Exemplarisch kann die Ebenbürtigkeit von Willehalm und Tesereiz im Zweikampf gelten: da was manheit gein ellen komen,/ und diu milte gein der güete,/ kiusche und hochgemüete,/ mit triuwen zuht ze beder sit (W87, 16-19). Doch auch hier sehen sich bestimmte Figuren für bestimmte Eigenschaften durch ausgefeilteres Lob besonders hervorgehoben. War es für Christen der Bezug zum Göttlichen, so ist es für Heiden der Bezug zur Minne. Wieder stellt der junge Tesereiz, dem der Erzähler anhand gewagter rhetorischer Mittel eine besondere Minnefähigkeit zuschreibt, ein Exempel dar: Tesereiz wird bei seinem Tod als der minne ein blüender stam (W88, 12) bezeichnet, dessen Körper so süß ist, dass es das Feld um ihn herum so zuckersüß hätte werden lassen können, dass die Bienen an ihm Nahrung gefunden hätten.380 Mit dieser Umschreibung des Todes wird deutlich eine Parallele zum Tod Vivianz’ geschaffen, der im
_____________ 378 Heinzle verweist zudem auf das biblische Buch der Weisheit, auf das der Text hier direkt zurückzugreifen scheint: „unser Leben vergeht wie Nebel, der von den Strahlen der Sonne vertrieben wird“ (Weisheit 2, 3) (vgl. Heinzle 1991: 862). Auf ähnlich symbolträchtige Weise wird Willehalms Festhalten am Treuegelübde Gyburc gegenüber gelobt. Als er in Laon Wasser dem Wein vorzieht, wird das Wasser als Trank der Nachtigall bezeichnet, die davon besser singt als vom teuersten Wein. Mit Willehalm werden dadurch die Werte Reinheit, Liebe, Schönheit, aber auch Glaube und Bibeltreue assoziiert (vgl. LexMA 6, 1000-1001; Artikel: Nachtigall): er begunde im hertiu wastel geben,/ und trinken des diu nahtegal/ lebt, da von ir süezer schal/ ist werder dann ob si al den win/ trunke der mac ze Botzen sin (W136, 6-10). 379 Auch Gyburc gilt, in Entsprechung zu Willehalm, als Heilige: Ei Gyburc, heilic vrouwe/ din s#lde mir die schouwe/ noch vüege, daz ich dich gesehe/ alda min sele ruowe jehe./ durh dinen pris den süezen/ will ich noch vürbaz grüezen/ dich selben und die dich werten/ so dasz si wol ernerten/ ir sele vors tiuvels banden (W403, 1-10). An Vivianz wendet sich die Erzählerfigur weniger eindeutig, doch drängt sich in Wortwahl und Art der Anrede eine Nähe zu den eben zitierten Apostrophen an Willehalm und Gyburc auf: wer s#lde welle erwerben,/ der sol dich eren, Vivianz./ vor got du bist lieht und glanz (W380, 14ff). 380 Alda der minn#re lac erslagen./ daz velt solde zuker tragen/ al umb ein tagereise./ der clare kurteyse möht al den bien geben ir nar (W88, 1-5).
2. Empathielenkung auf der Ebene der persönlichen Erzählinstanz (E2)
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locus amoenus unter dem Duft von Aloe gestorben war (vgl. W69,10-15). Genauso wie Vivianz’ Heiligkeit exemplarisch für die Heiligkeit aller Christen steht, muss Tesereiz als exemplarisch für die Minnefähigkeit der Heiden betrachtet werden. Bei aller Parallelität ist jedoch zu betonen, dass es nicht die Stimmung einer sakralen Heiligkeit ist, die Tesereiz’ Tod umgibt, sondern allein die Süße der Minne. Und darin liegt wohl auch der entscheidende Unterschied: Denn während den Christen die Tugend der zweifachen Minne (Menschenliebe und Gottesliebe) zugeschrieben werden kann, zeichnen sich Heiden allein durch die weltliche Minne aus.381 Und selbst die Minnesüße wird nicht wirklich vollzogen, schließlich bleibt die Formulierung konjunktivisch (solde bzw. möht; vgl. die zitierende Fußnote unten). Wieder einmal konstruiert der Text eine Zweischau, die beim genaueren Hinsehen eine deutlich unterschiedliche Gewichtung offenbart. Die Distribution dieser kunstvollen rhetorischen Lobstrukturen einerseits auf die Göttlichkeit von Willehalm, Gyburc und Vivianz und andererseits auf die Minnefähigkeit von Tesereiz scheint die Vermutung zu bestätigen, dass der Erzähler zur Markierung wirklich wichtiger Werte von blassen Lobesfloskeln Abstand nimmt und zu außergewöhnlichen und beeindruckenden Mitteln greift, auf die der Rezipient mit größerer Wahrscheinlichkeit eindeutig reagiert. Inhaltlich kristallisiert sich ein Gegenüber von weltlicher, gepaart mit göttlicher Liebe und einfacher weltlicher Liebe heraus. Dass erstere nach mittelalterlichem Verständnis die Überlegene ist, muss nicht gesondert betont werden.382 Insgesamt ergibt sich aus der unterschiedlichen Anwendung von topischem und tatsächlichem Lob einerseits und der inhaltlichen Differenzierung andererseits erneut eine scheinbare Gleichberechtigung. Der Text erreicht den Anschein einer breit und gleichberechtigt gestreuten positiven Bewertung, ohne jedoch dem Rezipienten eine deutliche Führung vorzuenthalten und konstruiert im scheinbar gleichwertigen Inhalt einen Unterschied, den der mittelalterliche Rezipient mühelos entlarvt. Fragen wir nach kritischen Erzählerkommentaren, so wird schnell deutlich, dass der wolframsche Erzähler gerade in Bezug auf die in E1 als umstritten herausgearbeiteten Figurenverhalten kaum direkt kritisiert, sondern seine Wertungen in schwierig zu greifende Kommentare kleidet. Da dieses erzählerische Vorgehen für eine gewisse Subtilität steht, ergibt
_____________ 381 Zum Wechselspiel von geistlichen und weltlichen Handlungsmotivationen im Konflikt zwischen Christen und Heiden bietet Gerok-Reiter äußerst interessante Beobachtungen (vgl. Gerok-Reiter 2000). 382 Auf diesen Unterschied geht beispielsweise Lofmark ein. Bezüglich des Defizites der Heiden schreibt er treffend: „Der Heide ist für die Liebe aufgeschlossen, doch er hat sie bisher nur weltlich erfahren“ (Lofmark 1989: 409).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
sich für den modernen Interpreten vor dem Hintergrund der aktivierten Werteparadigmen die Problematik einer eindeutigen Bestimmung dieser Kritik. Dennoch können gerade diese Erzählerkommentare weitere Indizien für die endgültige Einstufung des in E1 bereits beschriebenen umstrittenen Figurenverhaltens liefern und müssen deshalb in aller Vorsicht diskutiert werden. Willehalms Zorn am Königshof betreffend stellt der Erzähler nun einen Verstoß gegen den höfischen Wert der zuht fest: Sogar ein einfacher Zuhörer seiner heftigen Worte dem Königspaar gegenüber sieht die Vorschriften der höfischen zuht gestört,383 und über Willehalm heißt es explizit: sinem manlichem sinne/ was doch diu kiusche zuht betrogen (W153, 14f). Seine sonstige Tapferkeit und Tugend scheint also durch den Verstoß gegen die zuht doch irgendwie, zumindest momentan, beeinträchtigt zu sein. Später kehrt er Alyze zuliebe wieder ins höfische Verhalten zurück: done mohter/ sine zuht niht mer gebrechen:/ swaz er zornes kunde sprechen,/ der wart vil gar durh si verswigen (W154, 2f). In Bezug auf diesen Zuchtverstoß betont die Erzählerstimme, dass es auf die Gründe für denselben ankommt (so sol ich in bereden baz,/ war umbe er siner zuht vergaz; W163,5f). Und im Anschluss bietet der Erzähler eine Begründung, die man nur als Legitimation auffassen kann: des twanc in minne und ander not/ und mage und lieber manne tot (W163,9f). Das mit Genitiv verwendete ‚twingen‘ beinhaltet auch in der mittelhochdeutschen Semantik einen eindeutig auferlegten Zwang, der kaum eine Verhaltensalternative zulässt.384 Die Elemente, die Willehalm zwingen, nämlich die Liebe zu Gyburc, das Leid im Allgemeinen und im Speziellen über den Tod von Vasallen und Verwandten, können kaum negativ bewertet werden, wodurch sein Auftritt ehrenhaft und legitim erscheint. Interpretiert man minne und not teleologisch, d.h. als Wunsch, Gyburc aus dem belagerten Orange zu retten, und als Notwendigkeit, sein Land in einer aussichtslosen Situation gegen die eigene angeheiratete Sippe zu verteidigen und den Tod geliebter toter Kämpfer im Namen Gottes zu rächen, so lässt sich Willehalms Zorn auch als gelebter Akt von Mitleid und Barmherzigkeit fassen, die ihm in diesem Moment aufgrund der standhaften Abwehrhaltung des Königshofes keine andere Wahl lassen. Diese Interpretation sieht sich durch die Beobachtungen von
_____________ 383 sine zuht begund er stoeren,/ der merken wolte siniu wort,/ diu er sprach vor dem künege dort (W144, 12ff). 384 Vgl. BMZ 1963, Bd. 3, S. 162, Zeile 27f, Eintrag: ‚twingen‘. Diese Legitimation, die der Erzähler hier dem Verhalten Willehalms gibt, wird von der Forschung noch zu wenig beachtet. Immer noch wird Willehalms Verhalten als Relikt der „ungebändigten Emotionen und der Gewalt“ (Young 2000: 150) betrachtet. Doch die Begründung, warum Willehalm so handelt, sagt deutlich aus, dass die Figur nicht aus heldenepischem Exzess heraus zornig agierte, sondern von der äußerst höfischen minne dazu gezwungen war. Willehalms Verhalten ist damit zwar in der höfischen Welt ungewöhnlich, jedoch nicht als Rückfall in die Wertewelt der chanson de geste zu begreifen.
2. Empathielenkung auf der Ebene der persönlichen Erzählinstanz (E2)
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Katharina Mertens Fleury bezüglich des Parzival bestätigt, die in ihrer rezenten Arbeit zum Mit-Leiden überzeugend belegt, dass im Falle eines Interessenkonfliktes von zuht und Mitleid eher der Verstoß gegen die zuht in Kauf zu nehmen als das Gebot des Mitleids zu missachten ist.385 Und genau dieser Interessenkonflikt liegt auch im Willehalm vor. Allein Willehalm entscheidet sich, im Gegensatz zu Parzvial bei seinem ersten Besuch auf der Gralsburg, richtig für Mitleid und Barmherzigkeit Gyburc und seinen Schutzbefohlenen gegenüber. Nach Mertens Fleury muss Parzival das mitleidige Verhalten erst nach seinem Scheitern anhand des eigenen Leidensweges erlernen.386 Willehalm hingegen hat diese Fähigkeit zum Mitleiden mit dem Nächsten von Anfang an. Damit ist der vom Erzähler festgestellte Zuchtverstoß nur auf den ersten Blick als Kritik an der Figur zu lesen. Doch genau mit diesem ersten skeptischen Blick rechnet die Erzählerfigur. Sie bestätigt den Zuchtverstoß, liefert daraufhin jedoch Legitimationen und überlässt die Bewertung Willehalms somit nicht dem Zufall.387 Zuchtverstoß und anschließende Legitimation kommen einer
_____________ 385 Mertens Fleury stellt dabei fest, dass Wolfram die Szene Parzivals auf der Gralsburg geradzu auf diesen Konflikt hin inszeniert: „Bei Chrétien ist es zunächst der Konflikt zwischen höfischer Erziehung zum Schweigen und der Neugier, wobei als eigentlicher Grund der Hinderung am Fragen die Sünde angegeben wird ([Perceval] 3593; 6393f). Bei Wolfram stehen höfische zuht und affektive Leidenspartzipation miteinander in Spannung“ (Mertens Fleury 2006: 147). Gerade die Erzählerkommentare heben dann in Wolframs Parzival die Anforderung des Mitleids hervor (vgl. Mertens Fleury 2006: 150). 386 Mertens Fleury belegt dies überzeugend anhand der verschiedenen Parzival-SiguneBegegnungen, die je verschiedene Stufen von Parzivals Fähigkeit zum Mitleiden markieren (vgl. Mertens Fleury 2006: 150-168). 387 Das zweite umstrittene Verhalten Willehalms, nämlich die Tötung Arofels in W81 wird vom Erzähler erstaunlicherweise überhaupt nicht direkt kommentiert. Allein ein gewisses Bedauern des Erzählers drückt sich an der Formulierung aus: war umbe sold i’z lange sagen?/ Arofel wart aldâ erslagen (W81, 11f). Dieses Bedauern unter Betonung der hohen weltlichen Tugend Arofels wird im Folgenden noch ausgebaut. Nach Meinung des Erzählers ist durch den Tod Arofels der wîbe dienst gekrenket (W81, 18). Und weiter lesen wir: dâ erschein der minne ein vlüstic tac (W81, 20). Zu Willehalms Verhalten hören wir jedoch keinen Kommentar. Ob aus dem Bedauern des Erzählers und aus seiner Schweigsamkeit ein impliziter Vorwurf an Willehalm spricht, kann hier letztlich nicht beantwortet werden. Wäre dies so, müsste spätestens auf der Ebene der Figurenreden deutlichere Kritik an Willehalms Verhalten formuliert werden, denn allein die Schweigsamkeit des Erzählers erschiene als Figurenkritik, gerade vor dem Hintergrund der Konventionen zeitlich nahestehender Texte, zu schwach. Zum Vergleich sei betont, wie deutlich Parzivals Unterlassen der Mitleidsfrage als falsch markiert wird. Hier zeigt sich der Erzähler zwar bedauernd, aber doch auch entsetzt: ôwê daz er niht vrâgte dô! (P240, 3). Noch deutlicher kritisierend erscheinen später die Worte Sigunes: ‚ôwê daz iuch mîn ouge siht, […] sît ir vrâgens sît verzagt! (P255, 2ff). Sie beschimpft ihn als gunêrter lîp, verfluochet man (P255, 13). Auch die späteren Worte Trevrizents machen dem Rezipienten deutlich, dass Parzival in diesem einen Verhalten keine Sympathie gebührt: sît kom ein rîter dar geriten:/ der möhtez gerne hân vermiten;/ von dem ich dir ê sagte,/ unprîs der dâ bejagte,/ sît er den rehten kumber sach,/ daz er niht zuo dem wirte sprach/ ‚hêrre, wie stêt iwer nôt?’ (P484, 21-27).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
Umbewertung gültiger Ideale gleich. Gerade vor dem Hintergrund des Parzival, den Wolfram vor dem Willehalm verfasste, erweist sich diese als logischer Schritt. Wie wenig greifbar eine eventuelle Kritik an Willehalms Verhalten bleibt, zeigt erst die Deutlichkeit der Kritik an anderen Figuren und Figurengruppen. Da wird zunächst kein Zweifel daran gelassen, dass das Verhalten der Bewohner von Orleans und ihres Amtmannes, die Willehalm auf seinem Weg nach Munleun nicht ohne Wegzoll passieren lassen wollen, falsch ist. So heißt es in eindeutigem Vokabular: ez was iedoch ein sünde,/ daz man in niht riten liez (W113, 18f). Und weiter liest man: es solt diu stat laster han/ daz sie gein dem einen man/ des gerüeftes sich enbarten (W114, 9ff). Auch in einem späteren Rückblick verurteilt der Erzähler noch einmal das Verhalten der Bewohner von Orleans (W209, 20-29).388 Erstaunlich wenig direkt trifft die Kritik den sonst so negativ dargestellten Königshof. Sie ergibt sich allein aus dem eindeutig negativ zu bewertenden Handeln, das gegen Sippentreue, Tapferkeit und Nächstenliebe steht (vgl. E1) und den entsprechenden Figurenäußerungen (vgl. E3). Der Text beschränkt sich somit auf implizite Kritik über das Figurenhandeln und Figurenreden sowie über explizite Kritik aus dem Munde der Figuren. Die Erzählinstanz enthält sich eines Kommentars. Indirekt wird das Verhalten der Höflinge gegenüber Willehalm, als sie ihm in Munleun Begrüßung und jegliche Ehrerbietung verweigern, als Unrecht deklariert: da kund er zuo gebaren,/ als erz billich e dolte,/ daz ir deheiner wollte/ im bieten ere noch gemach (W130, 8-11). Die Forderung nach Nächstenliebe klingt entsprechend an: nach siner grozen ungehab/ im niemen vriuntlich trAsten bot,/ der n#me pflihte siner not (W130, 14ff). Eng mit der Kritik des französischen Königshofes verbunden ist die des französischen Heeres, das noch vor dem Beginn der zweiten Schlacht aus Faulheit und Feigheit umkehren möchte. Der Erzähler macht dabei deutlich, dass sie mit diesem Verhalten ir vürstie schanden (W302,6), dass sie sich damit auch gegen Gott wenden und sich schämen sollen: ir schemlich wider wenden/ diu kriuze solte schenden,/ diu an si waren gemachet (W321, 25ff). Unter den Heiden werden die beiden Anführer des Kriegszuges, Terramer und Tybalt, ebenso wie Verwandte und die Heidengruppe insgesamt spürbar kritisiert.389 Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang,
_____________ 388 Willehalm reitet hier nach seinem Aufenthalt am Königshof ein zweites Mal durch Orleans. Diesmal, als Anführer eines Heereszuges, hindert ihn niemand an der Durchreise: der marhgrave mohte ane zol/ durh Orlens nu riten wol;/ in habete nu da niemen zuo./ es was von erste ouch ze vruo (W209, 17-20). 389 Eine klare Einteilung in kritisierte und nicht kritisierte Heidengruppen (wie es bei den verschiedenen Christengruppen der Fall ist) kann hier nicht festgestellt werden. Lediglich einige Figuren, wie die exemplarischen Minneritter Noupatris und Tesereiz, sehen sich von jeder Kritik ausgeschlossen.
2. Empathielenkung auf der Ebene der persönlichen Erzählinstanz (E2)
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dass die Erzählerfigur den Angriff der Heiden grundsätzlich als falsch verurteilt: Terramer handelt falsch, er unvuoget, wenn er den Ehemann seiner Tochter bekriegt.390 Er hätte sie niemals angreifen dürfen, denn si waren im sippe al geliche,/ Willelm der lobes riche/ und Tybalt, Arabeln man (W12,911). Hier zeichnet sich bereits ab, dass der Vorwurf der missachteten Loyalität innerhalb der Sippe zum Hauptangriffspunkt des Erzählers wird. Entsprechend sehen sich in den kritisierenden Kommentaren die Verwandtschaftsbeziehungen fast provokativ integriert, so dass beispielsweise der Hass Tybalts auf seinen Schwager Willehalm als ungerechtfertigt erscheint: sin sweher hazzete in ane not (W11,30). Das Verwandtschaftsverhältnis sollte wohl nach der Ansicht der Erzählerfigur einen solchen hasserfüllten Racheangriff verhindern, so dass der Erzähler auch konsequenterweise Poydjus von Griffanje vorwirft, daz er siner muomen sun/ der sippe wolde lonen./ billicher solder schonen/ Ir und aller wibe (W82,30-83, 3). Dass es der Dichter mit den positiven Adjektiven die Heiden betreffend (vgl. E1) nicht allzu ernst meint, zeigt auch, dass der heidnische Glaube Weisheit auszuschließen scheint, und vielmehr Torheit beinhaltet. Denn schließlich heißt es über den im epischen Bericht häufig als wise bezeichneten Terramer aus dem Munde der Erzählerfigur: er selbe was vertoret,/ daz er an si geloubte/ unt sin alter wisheit roubte,/ als ob er w#re nach jugende var (W352,14-17). Der Vorwurf, die Heiden würden sich von den falschen Göttern betören lassen, stellt damit einen deutlichen, wenngleich erwarteten Kritikpunkt dar.391 Für den Rezipienten wird die Kritik an einem Kommentar zum Kreuzzeichen auf dem Gewand der Christen deutlich, der ihn gegen die Heiden aufgebracht haben dürfte. So heißt es: uf ir wapenlichiu kleit/ was Christes tot, den da versneit/ diu heidenisch ungeloubic diet.[…] wir sulens ouch gelouphaften pflegen,/ sam taten die getouften dort (W31, 25-32, 1). Angriff und Glaube der Heiden sehen sich in all diesen Versen gleichermaßen tief verurteilt. Damit liefern diese kritisierenden Erzählerkommentare wichtige Argumente für die Lösung des so komplexen Problems der Schuldfrage in diesen Auseinandersetzungen. Hier scheint es so, als sei die Schuld bei den von den falschen Göttern verblendeten und entsprechend die Sippenloyalität missachtenden Heiden zu suchen. Während damit das Heidentum an sich Kritik erfährt, sieht sich auf Christenseite allein die Figurengruppe um den Königshof kritisiert. Auf beiden Seiten ist die Kritik des Erzählers aus verletzter Sippenloyalität abzuleiten. Doch während diese auf Seite der
_____________ 390 Terramer unvuoget,/ daz in des niht genuoget,/ des sine tohter duhte vil. […] swen min kint ze vriunde kür,/ ungerne ich den ze vriunt verlür (W11, 19-30). 391 swen die gote da betrugen,/ die druf waren gemachet,/ des geloube was verswachet (W360, 26ff).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
Christen nicht ganz durchzugreifen und sich auf alle Figuren auszubreiten vermag, führte sie auf Heidenseite zum Krieg. Da es der Verdienst von Willehalms Zornausbruch ist, die Loyalität und triuwe unter den Christen wiederherzustellen, erscheint die Kritiklosigkeit des Erzählers plausibel. Eine endgültige Klärung der Bewertung des vorerst als umstritten bezeichneten Figurenverhaltens ist jedoch erst in einer Endauswertung möglich. Gelenkte Urteilsfindung: Glaube, Glaubenskrieg und Schuld: Die bisher besprochenen sympathielenkenden Erzählerkommentare über Lob und Kritik bezogen sich meist konkret auf Einzelfiguren bzw. Figurengruppen. Doch die Frage, inwieweit Wertschätzung von Seiten des Rezipienten entstehen kann, hängt bei der spezifischen Problematik dieses Textes auch entscheidend von der Bewertung und Einschätzung einiger abstrakter Handlungskonstituenten ab. Denn über allem stehen die großen Fragen nach der Bewertung der verschiedenen Glaubensrichtungen, nach der Rechtfertigung von Glaubenskriegen im Allgemeinen und nach der Schuld an dem im Text geschilderten Krieg. Von der Antwort auf diese Fragen wird die Beurteilung der Figuren- und Figurengruppen entscheidend mitbeeinflusst. Dass uns die Stimme der persönlichen Erzählinstanz in Bezug auf diese Unsicherheiten wichtige Orientierungspunkte liefern wird, können wir fest annehmen. Denn es ist davon auszugehen, dass auch der mittelalterliche Rezipient in diesem hochkomplexen und vor dem zeitgenössischen Rezeptionshorizont nicht eindeutig zu bewertenden Plot der Führung bedurfte.392 Dass der Erzähler in religiösen Fragen für die Wertschätzung des christlichen Glaubens steht, ist nicht weiter verwunderlich. Interessanter wird es dort, wo er sich dem Vergleich von Christentum und Heidentum widmet. Zunächst sieht sich dieser Religionsunterschied im Antagonismus von Weisheit und Torheit ausgedrückt: Mit dem Glauben an den christlichen Gott assoziiert der Erzähler Weisheit, während im Gegenzug Torheit für den Glauben an die heidnischen Götter steht.. Entsprechend ist Gyburcs Vater Terramer, wie oben bereits in anderem Zusammenhang bemerkt wurde, nach Ansicht des Erzählers vertoret,/ daz er an si geloubte/ unt sin alter wisheit roubte,/ als ob er w#re nach jugende var (W325,14-17). Heiden lassen sich von ihren falschen Göttern betrügen und betören und schwö-
_____________ 392 Aus der Sicht des mittelalterlichen Rezipienten – in einer vom Sippengedanken dominierten Gesellschaft – führt wohl vor allem die Tatsache, dass die Kriege unter Verwandten stattfinden, zu Bewertungsschwierigkeiten: Sippennähe sieht sich paradoxerweise mit Ferne im Glauben korreliert, so dass der Vater die Tochter, der Schwiegersohn den Schwiegervater etc. bekriegt (vgl. dazu auch Greenfield/Miklautsch 1998: 215-220).
2. Empathielenkung auf der Ebene der persönlichen Erzählinstanz (E2)
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ren damit dem einzig richtigen Glauben ab.393 In ihrer Torheit vertrauen sie auf die Hilfe ihrer Götter im Kampf, worüber sich der Erzähler fast amüsiert und die Machtlosigkeit der Heidengötter betont: Mahumet und Kahun/ in mohten kranke helfe tuon,/ oder swaz man anderr gote da vant,/ ez w#re Apollo oder Tervagant (W399,3-6).394 Vor dem Hintergrund dieser Alleingültigkeit des christlichen Glaubens und der Abwertung anderer Glaubensrichtungen stellt sich die Frage nach dem Schicksal ihrer Anhänger. Dabei steht – in einer Schlacht mit Tausenden von Toten – der Gedanke an das Schicksal nach dem Erdenleben verständlicherweise im Zentrum. Gyburc verwendet in ihrer Rede vor der zweiten Schlacht den Begriff gotes hantgetat, also Geschöpfe Gottes, für Christen und Heiden und schafft damit eine Gemeinsamkeit zwischen den Anhängern beider Religionen, die bis in die Gegenwart konträre Diskussionen anstößt.395 Wie weit geht die Gemeinsamkeit zwischen Christen und Heiden? Steht Heiden als Gottesgeschöpfen gar das ewige Heil offen? Wir wollen nach den Stellungnahmen der Erzählinstanz in Bezug auf diese Problematik fragen. Diese vertritt in einer bemerkenswerten Anzahl von Kommentaren durchaus mit der Kreuzzugsideologie konform gehende Meinungen. Nicht zuletzt durch diese Erzähleräußerungen rückt die thematisierte historische Begebenheit aus dem 9. Jahrhundert überhaupt so deutlich in die Nähe der um 1220, also dem Entstehenszeitpunkt des Willehalm, immer noch aktuellen Kreuzzugsbewegungen. Das inhaltliche Gewicht dieser zahlreichen Kommentare darf nicht zugunsten weniger – wenngleich bemerkenswerter – Passagen verachtet werden. So wird das Kreuzzeichen auf den Gewändern der Christen derart kommentiert, dass der Krieg, wie das folgende Zitat andeutet, in die Nähe eines Akts der compassio mit dem leidenden und sterbenden Jesus rückt: uf ir wapenlichiu kleit/ was Christes tot (W31,23f). Der immer wiederkehrende Hinweis auf das Kreuz als Symbol für Leiden und Sterben Christi, der bereits in E1 im Rahmen der Beschreibung der Figurenbekleidung auffiel, scheint für den
_____________ 393 Entsprechend äußert sich die Erzählerfigur in Bezug auf die Götterwagen, die die Heiden mit in die Schlacht ziehen: swen die gote da betrugen,/ die druf waren gemachet,/ des geloube was verswachet (W360, 26ff). Demgegenüber ist derjenige als weise bezeichnet, der stets im christlichen Glauben lebt: ein wise man nimmer lat,/ er endenke an sine kristenheit (W48, 20f). 394 Ein gewisses Amusement des Erzählers ist zweifellos in der Darstellung des Kampfes zwischen den Truppen Heimrichs von Narbonne und denen Aropatins von Ganfassahe zu erkennen. Hier macht sich der Erzähler darüber lustig, dass es die Truppen aus Ganfassahe ja verunsichern könnte, dass der Götterwagen Mahomets schon relativ weit entfernt ist: den von Ganfassashe/ Mahumeten karrasche/ mac lihte sin ze verre:/ seht ob in daz iht werre (W383, 1518). 395 Vgl. W306, 28. Da diese Gedanken in einer direkten Rede Gyburcs formuliert werden, soll eine nähere Betrachtung ihrer Worte sowie ein kurzer Forschungsüberblick über deren Interpretationsspektrum im Rahmen der dritten Empathielenkungsebene (E3: Ebene der Figurenreden) erfolgen.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
Willehalm die These von Andreas Kraß zu bestätigen, nach der im Zuge des frömmigkeitsgeschichtlichen Paradigmenwechsels, der sich im 12. Jahrhundert vollzog, das Phänomen des Mitleids auch insofern neu gedeutet wurde, als eine affektive, identifikatorische Haltung zum leidenden christlichen Gott mehr und mehr auftaucht.396 Auf jeden Fall kämpfen Christen im Auftrag und nach dem Willen Gottes, wobei sie ihre Taufe, wie einen Jagdhund die Fährte, zum richtigen Handeln, das in diesem Falle Krieg bedeutet, führt.397 Für diesen Akt der Aufopferung wird ihnen das ewige Heil, oder, mit höfischen Worten ausgedrückt, die ewige saelde gewährt.398 Entsprechend formuliert die persönliche Erzählinstanz mit Bewunderung, wie Vivians der lobes rich/ sich selben verkouft umb unseren segen;/ und wie sin hant ist tot belegen,/ diu den gelouben werte/ unz er sin verh verzerte (W48, 10-14). Vivianz erscheint damit einmal mehr als Märtyrer, der, wie Jesus, in Aufopferung für die anderen starb. Und auch in Bezug auf die Gesamtheit der sterbenden Christen kreieren weitere Erzählerkommentare Szenen und Bilder, die zumindest insofern an die gängigen Konzepte der Kreuzzugswerbung und das Rolandslied erinnern dürften, als sie an der Erlösung der im Kampf gefallenen Christen und der Verdammung der im Kampf gefallenen Heiden keinen Zweifel lassen: Die Seelen der toten christlichen Kämpfer werden von Engeln in den Himmel getragen,399 erlangen den Sold des ewigen Lebens400 unt sint nu dort in dem pardis (W14, 27f). Als Zeichen der Macht des christlichen Gottes im Vergleich zur Machtlosigkeit der heidnischen Götter gilt dann auch der Sieg der Christen – und damit die Niederlage der Heiden – nach der zweiten Schlacht. Die zahlenmäßige Unterlegenheit der Christen illustriert damit folglich nicht nur die Tapferkeit der christlichen Kämpfer, sondern auch das Eingreifen Gottes in diesen ungleichen Kampf. Diese Erzählermeinung geht so weit, dass sie Gyburcs Übertritt und den Landbesitz der Christen als gottgewollt deklariert: Jesus mit der hAhsten hant/ die claren Gyburc und daz lant/ im des tages in dem sturme gap (W450,1-3). Das Schicksal
_____________ 396 Vgl. Kraß 2000: 282f. 397 Zur Metapher der Hundefährte vgl. W435, 10-15: sus wurben die da waren/ verdecket mit der toufe,/ so der edele vorloufe,/ der siner verte niht verzagt/ und ungeschütet nach jagt,/ swenn er geswimmet durch den wac. Der Kampf der Christen ist eindeutig Ergebnis des göttlichen Willens, wie das folgende Zitat deutlich macht, welches die Christen als Kämpfer bezeichnet, die got ze dienste dar geschuof (W19, 2). 398 diu reine kristenliche diet,/ den ir s#lde daz geriet/ daz si ime sturme ir lip verlurn (W451, 3ff). 399 do manec werder gast/ mit engelen in den himel vlouc (W14, 9f). 400 des manger sele wol gelanc,/ do die getouften sturben,/ die mit hohem prise erwurben/ den solt des ewigen lebens (W37, 18-21). In W451, 7-10 bietet der Erzähler diese Heilssicherheit der Christen in einer Form an, die an die Rede des Bischofs Turpin aus dem Rolandslied erinnert: der vürste, der grave, der barun,/ swer durh Heimriches sun/ da was belegen ame re,/ ir neheines sele wirt nimmer we.
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der Heiden wird vom Erzähler weitaus düsterer gezeichnet. Dabei macht er deutlich, dass ein als Heide sterbender Kämpfer seiner Ansicht nach prinzipiell in die Hölle verbannt ist: ouch vrumte der getouften wic/ daz gein der helle manec stic/ wart en straze wis gebant./ diu heidenschaft wart des ermant,/ da von diu helle wart gevreut:/ ir lac manec tusent da gestreut (W38, 25-30). Dabei muss allerdings festgehalten werden, dass der Erzähler auf weitere Kommentare dieses Inhaltes verzichtet. Man kann daraus wohl einerseits die Sicherheit des Erzählers ablesen, dass ein sterbender Heide zunächst verdammt ist. Gerade vor dem Hintergrund des oben bereits besprochenen Mitleids des Erzählers bezüglich der Verdammung der Heiden (nu gedenke ich mir leide,/ sol ir got Tervigant/ si ze helle han benant; W20, 10ff) müssen wir mit Carl Lofmark aber auch vermuten, dass ihm diese Vorstellung nicht lieb, sondern eher bedauernswert, dabei aber unvermeidbar erscheint.401 Die Erzählinstanz tätigt im Rahmen dieser Zweiteilung in prinzipiell zur Erlösung und prinzipiell zur Verdammung bestimmte Figuren auch emotional-affektive Ausrufe, die jegliche Unparteilichkeit überschreiten. Vielmehr offenbart der Erzähler sich selbst und die Christen als Eigengruppe, die Heiden wiederum als Fremdgruppe. Wenn er in der zweiten Schlacht wünscht Jesus hab die sine:/ die anderen uz al der heiden lant,/ der müeze pflegen Tervagant (351,28ff),402 dann trennt er damit eindeutig die Verbündeten Jesu von den ‚Anderen‘ ab und weist den Schutz und die Hilfe ausschließlich den Christen zu. Jegliche Hoffnung auf eine Unterstützung Tervagants ist, wie er oben bereits deutlich machte, vollkommen sinnlos: Er kann seine Gläubigen nicht schützen. In diesen Parteinahmen des Erzählers liegt eine Absage der Erzählerfigur an den in der Kritik so gerne gesehenen Gedanken einer vom Text vertretenen Gotteskindschaft der Heiden. Denn warum sollte der christliche Gott dann allein die Seinen schützen? Aus dieser Sicherheit der Erlösung erwächst in manchen Kommentaren eine gewisse Begeisterung am Krieg und am Töten, die ebensowenig unterschlagen werden darf. Allerdings sind solche Textstellen im Willehalm selten und die Begeisterung am Kampf speist sich dabei allein aus der Freude am Dienst an Gott und in keiner Weise aus Hass den Heiden ge-
_____________ 401 Diese Kopplung von Überzeugung und gleichzeitigem Bedauern zieht auch Carl Lofmark in Erwägung, indem er einerseits über die Verdammung der Heiden und Erlösung der Christen bemerkt: „Das ist eine grausame Lehre; aber Wolfram musste sie glauben. Sie gehörte zur Religion seiner Zeit, sie beherrschte die volkssprachige Literatur, aus der er gelernt hatte, und auch die Propaganda, mit der um ihn der fünfte Kreuzzug gepredigt wurde“ (Lofmark 1989: 399). Andererseits hält er fest, dass Wolfram gerade vor dem Hintergrund von Veldekes Eneasroman vielleicht möchte, dass es anders wäre. „Er hat von Veldeke gelernt: die Helden der Eneit sind ‚edle Heiden‘“ (vgl. Lofmark 1989: 399). 402 Etwas weniger explizit, aber auch in diesem Sinne zu deuten, sind die folgenden Erzählerkommentare: die getouften got behüete! (W375, 16) und Got waldes an der siges kür (W425, 24).
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genüber. Dennoch wird in diesen wenigen Passagen das in diesem Kontext erfolgende Töten gelobt und legitimiert: wol im der da so gestreit,/ daz sin sele signunft enpfienc!/ s#lecliche ez dem ergienc (W420,12-14). Auch Willehalms Kämpfen erscheint im glorreichen Licht des Gotteskampfes: hurta, wie der markis/ den beden leben warp da pris,/ dises kurzen lebens lobe,/ und dem daz uns hohe ist obe!/swa die gezimierten/ uf in punierten,/ ungezalt valt er se nider (W420, 15-21). Doch auch wenn Gott den Krieg will, so legt der Erzähler großen Wert darauf, dass dieser für die Figuren und für die Gesellschaft unendliches Leid bedeutet. Damit distanziert er sich, ohne die Rechtmäßigkeit des Krieges an sich in Frage zu stellen, von der Kriegseuphorie sowohl der Heldenepen als auch der der ersten Kreuzzugswerbung. 403 Dieses Leid trifft, und dies betont der Erzähler immer wieder, alle beteiligten Figuren und Figurengruppen. Eine trennende Unterscheidung zwischen den gegnerischen Parteien gibt es in dieser prinzipiellen Gleichsetzung von Krieg und Leid nicht. So bedauert der Erzähler: owe nu des mordes,/ der da geschach ze beder sit (W402, 1f).404 Christen und Heiden begiengen an den liuten,/ ob si stocke sollten riuten,/ sine dorften harter houwen niht (W381, 9ff). In der negativen Einstellung dem Krieg generell gegenüber und in der Betonung des Leids, das dadurch für alle entsteht, ebnet der Erzähler prinzipiell den Weg für eine gleichberechtigte Darstellung des Leides von Christen und Heiden. Die bisherige Analyse zeigt jedoch, dass diese grundsätzliche Bereitschaft des Rezipienten für beide Seiten nicht gleichberechtigt genützt wird, denn potentiell mitleidsfördernde Strukturen sehen sich hauptsächlich zugunsten von Christen eingesetzt. Lesen wir diese Stellungnahmen des Erzählers, so müssen wir uns auch dem folgenden berühmten Erzählerkommentar von W450,12-20 widmen: maneger zunge sprache klage/ da rewurben vil ze klagene/ und da heime not ze sagene./ die nie toufes künde/ enpfingen, ist daz sünde,/ daz man die sluoc alsam ein vihe?/ grozer sünde ich drumbe gihe:/ es ist gar gotes hantgetat,/ zwuo und sibenzec sprache, die er hat. Betrachten wir nur die Stimme des Erzählers, ohne sie mit anderen Figurenstimmen zu vermischen, so kann sich die nicht zu verleugnende Kritik daran, Heiden wie Vieh zu erschlagen, nicht auf die Handlung des Willehalm beziehen. Denn im ‚Erschlagen wie Vieh‘
_____________ 403 Entsprechend reduziert sieht sich die Anzahl derjenigen Passagen, die sich an Gewalt und Brutalität zu erfreuen scheinen. Dieser Verdacht besteht immer dann, wenn Grausamkeiten beschrieben werden, ohne das damit verbundene Leid für die Figur zu thematisieren. Solche Passagen zeigen sich im Willehalm fast ausschließlich außerhalb des Schlachtgeschehens in Zusammenhang mit dem burlesken Rennewart, der Knappen zerquetscht und den Küchenchef grillt. In der leidvollen Grundstimmung des Textes mögen solche Szenen erleichternd und befreiend gewirkt haben. Mit dem Witz dieser Passagen beschäftigt sich Röcke 2002. 404 Vgl. auch die Feststellung des Erzählers, als die 2. Schlacht beginnt: da wuohs dem jamer sin gewin (W243, 30). Auch hier ist der Jammer auf beiden Seiten gemeint.
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steckt unweigerlich ein überzeugtes und überlegtes Töten von Massen über das Notwendige hinaus – das leidvolle Töten im Willehalm lässt sich nur schwer mit dieser Formulierung assoziieren.405 Vielmehr muss die Bemerkung als Absage an Vorgängertexte, wie z.B. das häufiger angesprochene Rolandslied, eventuell auch an eine Absage des helden-epischen altfranzösischen Textes Aliscans betrachtet werden.406 Im Willehalm führt die Christen nicht mehr blinder Hass, sondern die Abwendung einer konkreten Bedrohung, wie in direktem Anschluss an diese Äußerung deutlich wird. Denn hier erhebt Terramer Anspruch auf den Titel des Kaisers des Römischen Reiches.407 Dieser für jeden mittelalterlichen Rezipienten äußerst erschreckenden Vorstellung können die christlichen Kämpfer nur begegnen, indem sie das Christentum verteidigen, so der Erzähler: si kundenz anders rüeren/ mit den ecken, die daz werten (W450, 26f)408. Die nächsten Zeilen beschreiben das christliche Verhalten abschließend als heilsstiftend: des nu ir sele sint vil lieht:/ sine ahtent uf kumber niht (W450,29f). Die umfassende Lektüre dieser leider allzu häufig einzeln besprochenen Erzählerkommentare legt auf die Frage nach der Bewertung der verschiedenen Religionen und der Notwendigkeit des Glaubenskampfes nur eine Antwort nahe: Nach den Aussagen der persönlichen Erzählinstanz ist es Sünde, Heiden aus blindem Hass unter Verachtung ihrer Menschlichkeit zu erschlagen. Denn dies würde nicht nur bedeuten, die Schöpfung Gottes zu verachten, sondern auch den überlebenden Heiden die Chance
_____________ 405 Diese Argumentation soll erst im Anschluss an die vervollständigende dritte Empathielenkungsebene der Figurenreden in einer Gesamtauswertung weiter ausgeführt werden. Schon jetzt sei bemerkt, dass die leidvolle Grundstimmung des mittelhochdeutschen Textes von mir als Zeugnis eines ‚Tötens aus Notwendigkeit‘, das den Glaubenskrieg keineswegs kritisiert, lediglich unangenehm macht, betrachtet wird. Dieses steht in fundamentalem Gegensatz zum ‚Erschlagen wie Vieh‘ des Rolandsliedes und stellenweise auch noch des altfranzösischen Textes Aliscans. Damit stimme ich mit Lofmark überein, der bemerkt: „Das, was Wolfram […] als sünde tadelt, ist nicht, daß man Heiden getötet hat, sondern daß sie wie Vieh hingeschlachtet wurden“ (Lofmark 1989: 411). 406 Dafür spricht auch ein direkter Bezug zum Rolandslied, wo es heißt: si uilen sam daz uihe zetal,/ si slugen si uon dem wal/ rechte sam di hunte (RO5421ff). Menschen abzuschlachten, wie es hier beschrieben wird, muss nach der Textstelle im Willehalm als Frevel an Gottes Schöpfung verstanden werden. Zur Forschungsdiskussion um diese Textzeilen vgl. etwa Kartschoke 1968: 301, Ochs 1968: 25ff, J.W. Schröder 1975: 405, Ruh 1980: 180ff, Lofmark 1989: 410f. 407 Dies formuliert eine Form der Psychonarratio (ausführlich im Rahmen der dritten Empathielenkungsebene der Figurenreden besprochen), die hier nur angegeben werden soll, um der Argumentation der gehäuften Erzählerkommentare an dieser Stelle folgen zu können: der admirat Terramer/ mit manegem richem künege her/ wolte bringen al die sprache/ uf den stuol hinz Ache/ und dannen ze Rome vüeren (W450, 21-25). 408 Eine weitere, etwas frühere Textstelle formuliert genau diesen Gedanken einer Notwendigkeit des Kampfes, die den Christen keine Wahl lässt: waz mugen die kristen liute tuon,/ sine weren sich al die wile si leben?/ got selbe mac in trost wol geben (W392, 20ff).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
auf eine eventuelle spätere Umkehr (wie sie Gyburc zeigt und wie sie in Rennewart angelegt ist) zu nehmen. Gleichzeitig legitimiert die Verteidigung des christlichen Glaubens und der bedrohten Christen das Töten der Heiden in der unvermeidbaren Konfrontation und sichert den kämpfenden Christen sogar das ewige Seelenheil zu. Solange die kriegerische Auseinandersetzung besteht, ist Töten der Heiden also nicht nur legitim, sondern sogar heilsfördernd. Sobald die Notwendigkeit der Verteidigung des Christentums jedoch nicht mehr besteht, ist Töten der Geschöpfe Gottes aus purem Hass Sünde. Vor diesem Hintergrund der Kommentare der persönlichen Erzählinstanz zu Glaube und Krieg können wir nun die Frage nach der Verantwortlichkeit für diesen von allen als leidvoll wahrgenommenen Krieg beleuchten. In Bezug auf eine eventuelle Schuld Gyburcs, die ja schließlich durch ihren Glaubensübertritt, der Flucht aus dem Heidenland und der Hochzeit mit Willehalm den Krieg auslöst, finden wir relativ früh im Text – es liegt offensichtlich im Interesse des Erzählers, schnell auf ungute Gefühle seines Publikums zu reagieren – einen langen Erzählerkommentar (W30,21-31, 20). Dieser führt als Antwort auf diese große Frage eine exemplarische Urteilsfindung vor, die sich dem Rezipienten Stück für Stück zum Nachvollzug anbietet. Wie häufig startet die Erzählerfigur mit der Aussprache eines eventuell im Rezipienten schwelenden Vorwurfs an eine Figur, in diesem Fall an Gyburc: din minne den touf versnidet;/ des toufes wer ouch niht midet,/ sine snide die von den du bist erborn (W30,25ff).409 Dieser harte Vorwurf steigert sich schließlich in eine sehr persönliche Anklage des Erzählers, die gleichzeitig dem Rezipienten eventuell auf der Zunge liegende Worte selbst formuliert: min herze dir ungünste giht (W30,30). Das erste Urteil, das das Herz formuliert, klagt Gyburc also an. Doch im Folgenden fordert der Erzähler, diesen Vorwurf noch einmal zu überdenken; er fragt nach: War umbe? Ich solte e sprechen/ waz ich wolde rechen;/ oder war tuon ich minen sin? (W31, 1ff). Das Überdenken des Urteils führt zur Zurücknahme des Vorwurfes und zur Rehabilitation Gyburcs: unschuldic was diu künegin,/ diu eteswenne Arabel hiez/ und den namen ime toufe liez/ durh den der von dem worte wart (W31, 4-7). Denn der Grund für ihren Übertritt und da-
_____________ 409 Diese Verse offenbaren am besten ihren Sinn in einer recht textnahen Übersetzung, die ich wie folgt vorschlage: „Deine Liebe tötet die Getauften; und die Verteidigung der Getauften muss dann wiederum die töten, von denen du geboren bist“. Diese Situation Gyburcs erinnert doch stark an die aristotelische Definition des Tragischen, das im unschuldig Schuldigwerden einer Figur gipfelt (vgl. Aristoteles, Poetik, 1453a). Allerdings sieht sich die Schuld Gyburcs durch die Verankerung des Geschehens am christlichen Weltbild gleichsam zurückgenommen, denn schließlich ist es der heilbringende Glaube selbst, der ihren Übertritt und damit den Angriff der Heiden hervorruft. Damit bleibt das Geschehen tragisch, die Schuld muss jedoch vom christlichen Rezipienten auf den Angriff der Andersgläubigen verlagert werden.
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mit allen Übels ist schließlich die Liebe zu Gott, die keinen Angriff zulässt. Das Opfer, das die Christen wegen Gyburcs Übertritt zu bringen haben, rückt die Erzählerfigur mit den folgenden Zeilen in den Kontext des Leidens Christi für die Menschheit und lässt es so als Akt der notwendigen compassio mit Christus erscheinen, die durch das Heil der Seele belohnt wird: das wort vil kreftecliche vart/ zer magde vuor (diu ist immer magt),/ diu den gebar, der unverzagt/ sin verh durh uns gap in den tot./ swer sich vinden lat durh in in not,/ der enpfahet unendelosen solt:/ dem sint die sing#re holt,/ der don so hell erklinget (W31,8-15). Das Urteil des Erzählers, zu dem der Rezipient eingeladen wird, lautet also: Da Gyburc stets aus Gottesliebe handelte, kann sie nicht negativ bewertet werden. Es bleibt damit gültig, dass durh Gyburge al diu not geschach (W306, 1), aber diese Not ist nicht auf ein Fehlverhalten oder eine Schuld Gyburcs zurückzuführen; sie ist vielmehr als tragisches Ergebnis eines an sich guten Handelns zu verstehen. Eigentlich entsteht das Leid aus der notwendigen Verteidigung des Christentums und muss so weiter ertragen werden. In etwas abstrakterer Form gerät dennoch auch die weltliche Liebe in den Verdacht, die Schuld am Krieg zu tragen, denn Willehalm und Gyburc drücken immer wieder ihre gegenseitige tiefe Liebe aus (vgl. dazu vor allem ihre Figurenreden in E3). Es scheint daher recht unwahrscheinlich, dass sich Gyburcs Abwendung vom Heidenland allein und ausschließlich durch ihren christlichen Glauben begründet. Auf diese Problematik reagierend setzt sich der Erzähler mit der Liebe auseinander. Ein erstes legitimierendes Argument besteht in der naturgemäßen – und vor allem in der mittelalterlichen Lyrik traditionellen – Verknüpfung der Bereiche Liebe und Leid, in deren innerer Logik es steht, dass Liebe immer auch Leid mit sich bringt, dass wer liebt, auch leiden muss.410 Entsprechend steht diese Kombination programmatisch für den Text, definiert der Erzähler im Prolog doch sein Werk durch die Worte von minne und ander klage (W4,26), wobei hier speziell die Kriege das der Liebe immer innewohnende Leid verkörpern.411 Diese Kriege erscheinen damit fast als Fatalität, die im Rahmen der Liebe – wenn sie es denn nun wert ist – hingenommen werden muss. Das Leid, das aus der Liebe folgt, ist für jeden sichtbar und
_____________ 410 Die Verkettung der Begriff von Liebe und Leid ist schon sehr früh in der höfischen Literatur nachweisbar, so zum Beispiel im wohl ersten mittelhochdeutschen Tagelied Dietmars von Aist Slâfest du, vriedel ziere? (entstanden um 1125). Dor lesen wir im dritten Vers der zweiten Strophe: liep âne leit mac niht sîn, Liebe ohne Leid kann es nicht geben. Als Beleg im Willehalm kann auch W281, 5f gelten: swer zaller zit mit vreuden vert,/ dem wart nie gemach beschert. 411 Deswegen verknüpft der Erzähler Krieg und Liebe über das Leid miteinander: wan urliuge und minne/ bedurfen beidiu sinne./ einez hat semfte und leit,/ daz ander gar unsemftekeit (W385, 3-6). Und es wird nicht umsonst betont, dass Willehalm durch Gyburc liep und leit/ e dicke het enpfangen (W279, 4f).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
spiegelt sich am besten in der vom Erzähler vorgetragenen Geschichte wider, in der Freude kaum zu finden ist: ich müese haben guoten list,/ swenne ich vreude drinne vunde (W280, 22f). Der groze kumber des Krieges muss als leidvolles Element dieser Liebe gesehen werden, das sich durch die LiebeLeid-Theorie gerechtfertigt sieht: swer wibe lon ze reht erholt,/ eteswenne der grozen kumber dolt:/ ob denne der minne süeze/ sölhen kumber büeze,/ swa der site wirt begangen,/ da ist der minne solt enphangen (W385, 7-12).412 Dieses Leid ist für den Rezipienten nicht zu übersehen, doch darin soll nicht die Strafe für irgendeine Schuld gesehen werden, wie die Erzählerfigur verdeutlicht. Die ausschließlich positive Sicht und der hohe Wert von treuer aufrichtiger Liebe bleiben im gesamten Text unangefochten.413 Insgesamt sieht sich so selbst die weltliche Liebe vom Erzähler verteidigt. Eine Abkehr von ihr wird nie verlangt. Das Kampfgeschehen liefert uns dabei jedoch Indizien, dass die höchste Form der Liebe erst in der Kombination von göttlicher und weltlicher Liebe entstehen kann, wodurch die Beziehung zwischen Willehalm und Gyburc, die beide Formen der Liebe zeigen, einmal mehr aufgewertet wird. Im Rahmen des eben dargelegten hohen Wertes der weltlichen Liebe gilt auch das Minnestreben der Kämpfer als prinzipiell lohnenswert. Doch hier wird Perfektion nur erreicht, wenn das Streben nach der Minne der Frauen mit dem Streben nach der Liebe Gottes verbunden wird. Entsprechend wird dann auch allein den Christen der doppelte Lohn (der Gottes und der der Frauen) zugesprochen.414 Somit ist das Lob der Heiden für ihre Minnefähigkeit gleichzeitig tragischerweise auch Kritik: Sie ließen sich von den falschen Göttern betören und gehen so, trotz Streben nach Perfektion, fehl. Als Reaktion suggeriert die Erzählinstanz jedoch kaum Freude, sondern führt eine bedauernde, leidvolle Grundstimmung vor. So ist der Tod vieler Heiden ein Verlust für die weltliche Minne.415 Was letztlich allerdings zählt – und dies dürfte auch für den Rezipienten plausibel gewesen sein –, ist die Liebe Gottes. Allein für die weltliche Liebe zu kämpfen scheint ein Relikt aus vergangenen Zeiten zu sein.
_____________ 412 All diese Kommentare spiegeln dabei wohl eine höfische Diskussion um das Verhältnis von Leben und Leiden wider, die zu dem Ergebnis zu führen scheint, dass Freude, Liebe und Leid stets miteinander verwoben sind, wobei kurze Momente des Glücks im Verhältnis zu langen Passagen des Leidens stehen (vgl. Young 2000: 157). 413 So betont der Erzähler in W83, 10-14: des wibes herze treit der man:/ so gebent diu wip den hohen muot./ swaz iemen werdekeit getuot,/ in ir handen stet diu sal./ wert minne ist hoch an prüevens zal. 414 die ir leben dannen brahten,/ werdiu wip in lons gedahten:/ die aber da namen ir ende,/ die vuoren gein der Hende/ diu des soldes hat gewalt,/ der vür allen solt ist gezalt./ diu selbe hant ein voget ist/ und ein scherm vür des tievels list (W371, 22-30). 415 So ist beispielsweise der Todestag von Arofel der minne ein vlüstic tac (W87, 16f, vgl. auch W87, 21f).
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Der Krieg entsteht von Heidenseite aus Rache für die Tatsache, dass sie Gyburc bzw. Arabel verloren. Auch sonst taucht die Rache immer wieder als Motivationsgrund auf, sowohl in Bezug auf die generelle Kriegsmotivation als auch in Bezug auf konkrete Kriegstaten. Die Bewertung dieser Rache ist schwierig (vgl. E1), wie am Beispiel Willehalms, der Arofel aus Rache für Vivianz tötete, deutlich wurde. Erleichternd wirken dabei nun die Erzählerkommentare, die sich recht eindeutig zur Rache äußern und die uns so nicht zuletzt helfen können, die Tötung Arofels durch Willehalm zu bewerten. Denn in einigen Textstellen wird sehr deutlich, dass die Rache als Motivationsgrund durchaus legitim erscheinen soll. Während der zweiten Schlacht findet ein Zweikampf zwischen Poydwiz und Willehalms Bruder Heimrich statt, der mit dem Tod Poydwiz’ endet. Interessant wird der Fall deshalb, weil die Tötung Poydwiz’ durch Heimrich als Racheakt für die vorangegangene Tötung des verwandten Christen Kiun bezeichnet wird. Das Urteil des Erzählers dazu lautet: den rach Heimriches sun/ billich: er was sin mac (W411, 30f). Die Tötung erscheint hier deshalb billich, also gerechtfertigt, weil der vorher getötete Kiun Heimrichs Verwandter, mac, ist. Und wenn es über die Tötung Poufameiz’ durch Willehalm heißt sus kund er rache geben/ umb sinen schaden, den er kos (W55, 26f), dann scheint uns dies zu suggerieren, dass rache eine selbstverständliche Motivation im Kampf darstellt. Dass der Erzähler tatsächlich durchgehend dieser Meinung ist, zeigt auch der folgende Kommentar anlässlich der Beschreibung christlicher Verluste: waz denne, und hant si schaden genomen?/ si suln ouch schaden erzeigen nuo (W398,2f).416 Damit sieht sich die bereits in E1 getroffene Vermutung bestätigt, dass Rache keineswegs zu verurteilen ist. Vielmehr hängt ihre Bewertung von der zugehörigen Motivation des Rächenden ab: handelt der aus einer Art triuwe zu einem getöteten Verwandten, muss das Verhalten als positiv gelten.417 Die oben beschriebene Figurenkritik zeigte eindrücklich, dass der Erzähler die beiden Kriege für die Christen für unvermeidbar hält, da diese verpflichtet sind, die Bedrohung des gesamten fränkisch-römischen Reiches abzuwenden. Doch der Erzähler zeigte ebenfalls in der Kritik, dass ohne den Angriff der Heiden, ohne den Angriff Terramers auf seine Tochter, diese leidvolle Situation nie entstanden wäre. Während er den Heiden ihren Angriff als falsches Verhalten vorwirft, wird die Verteidi-
_____________ 416 Ebenfalls untermauert sieht sich diese Interpretation durch den Erzählerkommentar in W380, 16-381, 7: Hier wird in Folge eines Anrufes an den Heiligen Vivianz, also in positivverherrlichendem Kontext, und in Folge der Leidbekundung des Erzählers über Vivianz’ Tod die Schlacht durch die Rache an Vivianz (und Myle) begründet: des wart erklenget manec swert (W380, 24). In diesem Kontext der Beteuerung der Ungerechtigkeit des Todes der beiden jungen Helden erscheint die Rache als gerechtfertigt und keineswegs umstritten. 417 Dies bestätigen Greenfield/Miklautsch 1998: 190.
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gung der Christen legitimiert. Lob und Legitimation auf der einen Seite und traurige, aber deutliche Kritik auf der anderen Seite zeichnen sich damit im Willehalm als empathielenkende Strategien der persönlichen Erzählinstanz ab. 2.2 Aliscans – Erzählerkommentare (E2) Die altfranzösische Erzählerfigur ist sowohl in ihrem grundlegenden Auftreten als auch in ihrem empathielenkenden Eingreifen fundamental von der Erzählerfigur im mittelhochdeutschen Epos zu unterscheiden. Der altfranzösische Text Aliscans bleibt anonym, d.h. es bekennt sich keine Dichterpersönlichkeit zu diesem Werk. Dennoch tritt neben dem epischen Bericht die Stimme einer expliziten Erzählerfigur auf. Im Vergleich zum Willehalm sind ihre Möglichkeiten der Autoritätsfindung äußerst begrenzt. Wie bereits in E1 festgestellt wurde, finden wir in Aliscans keinen Prolog, sondern einen Beginn in medias res direkt ab der ersten Zeile der ersten Laisse. Damit entfällt der privilegierteste Ort zur Selbstpräsentation der Erzählerfigur. Und auch sonst wird eine solche Selbstpräsentation nirgendwo im Text nachgeholt. In dieser Anonymität erfährt der Rezipient nichts über individuelle Züge des Erzählers, nichts über seinen Bildungsgrad und seine Grundüberzeugungen, nichts über eventuell vorher verfasste Werke. Allein der Wert des Epos selbst wird in verschiedentlich eingeschobenen Kommentaren hervorgehoben, wobei die Hauptqualitäten in seinem religiösen Gehalt, seiner ästhetischen Vollkommenheit und dem Wahrheitsgehalt liegen sollen. Laut Erzähler ist die Anhörung des Liedes als durchwegs erbaulich zu betrachten, da Guillaume ein Heiliger ist, dessen Beispiel den Rezipienten moralisch anleiten kann.418 Für die Vollkommenheit der Bearbeitung spricht, dass der Erzähler die Dichtung selbst als fiere chançon (A30, 1116 und A102, 5378)419 bezeichnet, so dass das Publikum niemals eine schönere hören wird.420 Weiter soll der Verweis auf den historischen Wahrheitsgehalt der chanson das Publikum überzeugen. Der Erzähler spricht von einer Voire chançon […] Jamés plus voire ne vos diront jugler (A78, 4046ff)421 und weist auf eine schriftliche Quelle hin.422
_____________ 418 Por ce est bone la chançon oïr/ Que il est sainz: Dex l’a fet beneïr/ Et en sa gloire et poser et seïr,/ Avec les angles aorer et servir/ […]: Mout bon essample i puet en retenir (A21, 713) („es ist gut, das Lied zu hören, weil er [Guillaume] ein Heiliger ist: Gott hat ihn gesegnet […]: Man kann sich das als gutes Beispiel vor Augen führen“). 419 „edles Lied“. 420 Eine entsprechende Behauptung findet sich in A30, 1116ff. 421 Der Erzähler spricht von einem „wahren Lied […] niemals werden Spielleute eine Geschichte erzählen, die mehr der Wirklichkeit entspricht“.
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Doch auch diese Qualitätsmerkmale der chanson werden nicht mit der Erzählerfigur verknüpft. Aus all dieser Anonymität ergibt sich, dass die Erzählerfigur in diesem Text über eine wenig individuelle, wenngleich in dieser Gattung unangefochtene und starke Grundautorität verfügt.423 Es kann deshalb schon jetzt vermutet werden, dass in den Erzählerkommentaren dieses Textes weniger mit individuell autoritätfordernden argumentativen Strategien der Empathielenkung gearbeitet werden wird, denn diese entsprechen kaum den Anlagen der Aliscanschen Erzählerfigur. Die Erzählinstanz nutzt dafür aber eine im Willehalm fast unbekannte Strategie, Kommentare effizient lenkend einzusetzen. Denn sie sendet durchgehend phatische Signale aus, woraus sich ein gemeinsames Erleben im Sinne einer Erzähler-Rezipienten-Gemeinschaft ergibt. Dieses starke phatische Interesse der Erzählerfigur, d.h. ein Streben nach einem stark ausgeprägten und durchgehenden Kontakt zwischen ihr und dem Publikum, sind in Aliscans so allgegenwärtig, dass selbst in Passagen des epischen Berichts die Präsenz des Erzählers stets spürbar bleibt. So werden berichtende Sätze immer wieder durch la veïssez bzw. leus oïssiez oder sachoiz424 eingeleitet. Auf diese Weise erreicht der Erzähler anhand von Merkmalen stetiger Präsenz eine Nähe zum Publikum, die sonst nur durch eine persönlichere Charakterisierung möglich wäre. Dabei nützt er offensichtlich die Gewohnheit des Publikums an eine mündliche Vortragssituation, die das häufige Durchbrechen der fiktionalen Abläufe durch die direkten Anreden ohne Probleme akzeptieren lässt. Es entsteht der Eindruck eines gemeinsamen Erlebens und damit die Möglichkeit, dem Publikum Erzähleremotionen und -affekte zu präsentieren und diese wiederum gezielt zur Nachahmung zu stellen. 2.2.1 Empathie Im Bereich der Förderung grundständiger Empathie verbleibt die persönliche Erzählinstanz noch bei rational wirkenden Strukturen. In diesen drückt sie zum einen ihr Verständnis für bestimmte Emotionen, zum anderen ihr Verständnis für bestimmte Handlungen der Figuren aus. In Übereinstimmung zum Willehalm zeichnet sich auch in diesem Text ab, dass Erzählerkommentare nicht primär zur Förderung von grundständiger
_____________ 422 li escris (A96, 5149) („die Schriften“). 423 Zum Erzähler der chanson de geste allgemein vgl. Suard 1993: 19ff. 424 „ihr hättet sehen können..“ bzw. „ihr hättet hören können…“ bzw. „wisst, dass…“; vgl. beispielsweise A3, 58 / 102, 5354/ 107, 5512/ 111, 5848/ 88, 4530.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
Empathie eingesetzt werden. Auch hier ergibt sich eine insgesamt geringe Anzahl von Belegen. Bei der Auswertung der wenigen Beispiele fällt dennoch ein gewichtiger Unterschied zum Willehalm auf. Wo im wolframschen Text Einfühlung vor allem in das Leid der Figuren ermöglicht wurde, ist hier vom Leid der Figuren überraschenderweise nicht die Rede. Vielmehr ist hier die Angst die wichtigste Emotion. Alles dreht sich um tatsächlich auftretende oder potentiell denkbare Angstgefühle der Figuren, genauer gesagt der Christen, und den unmittelbaren Folgehandlungen von Angst, z.B. Flucht. So versteht die Erzählinstanz Guillaumes Angst, die dieser angesichts der riesigen Zahl der heidnischen Gegner verspürt: Mes tant i ot de la gent paienor/ Soz ciel n’a home qui n’en eüst peor (A2, 31f).425 Aus demselben Grund beschreibt die Erzählerfigur auch die Angst Vivïens und Bertrans als nachvollziehbar.426 In direkter inhaltlicher Ergänzung signalisiert die Erzählerfigur dann Verständnis für Guillaumes Flucht vor dem Kampf mit dem Heiden Margot in Laisse 112. Dieser trägt, laut Erzähler, eine so furchterregende Geißel, dass ein Ausweichen vor dieser Waffe nur nachvollziehbar ist.427 Wie so häufig in Aliscans interessieren dabei nur Emotionen und Handeln von Christen. Empathie mit Heiden vermittelt zumindest die persönliche Erzählinstanz nicht. Betrachtet man die Förderung grundständiger Empathie als Vorbereitung jeder intensiveren Empathieform (Einfühlung als Voraussetzung von Mitleid und Sympathie), so erscheint es logisch, dass Empathie von der Erzählerfigur gerade in Momenten gefördert wird, in denen Figuren, für die der Text langfristig Sympathie wecken möchte, problematisch fühlen, sprechen oder handeln. War so im Willehalm vor allem Leid und Zorn der Figuren zu verteidigen, so gilt es hier lediglich jeden Vorwurf mangelnder Tapferkeit auszuräumen. Angesichts der unangefochtenen Kampffertigkeit und Tapferkeit aller Christen um Guillaume im Gesamttext scheint potentielle Angst ein eher kleines Problem zu sein. Nur gelegentlich ist es nötig, den Verdacht der Furchtsamkeit durch Erzählerkommentare zu entkräften. Die meisten Erzählerkommentare werden jedoch kaum das Denken des Rezipienten maßgeblich steuern, sondern lediglich bereits Selbstverständliches unterstreichen. Aliscans kennt fundamentale Probleme der Bewertung, die originelleres Eingreifen notwendig machen würden, nicht.
_____________ 425 „Aber da war so viel heidnisches Volk, dass es unter dem Himmel keinen Menschen gibt, der davor nicht Angst gehabt hätte.“ In die Gruppe der Menschen, die vor den Heiden Angst gehabt hätten, sieht sich der Rezipient mit einem solchen Kommentar eingeschlossen. Die Angst Guillaumes wird so nachvollziehbar. 426 In Bezug auf Vivïens vgl. A4, 87-90, in Bezug auf Bertran vgl. A5, 120f und A6, 127f. 427 Vgl. A112, 5955ff.
2. Empathielenkung auf der Ebene der persönlichen Erzählinstanz (E2)
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2.2.2 Mitleid Obwohl der epische Bericht deutlich machte, dass das Leid bereits in Aliscans über weite Teile des Textes hinweg eine dominierende Figurenemotion darstellt und der epische Bericht entsprechend auch Rezipientenmitleid förderte, sind auf der Ebene der persönlichen Erzählinstanz kaum indirekte oder direkte Mitleidsimperative festzustellen. In den einzigen beiden Varianten formuliert der Erzähler religiöse Fürbitten an Gott bzw. Jesus (und diese natürlich allein zugunsten von Christen), die stark affektiv geprägt sind. In der ersten dieser Fürbitten ruft er Gott an, sich der Christen generell zu erbarmen: Dex pent des noz, qui el ciel fet vertuz! (A115, 6099).428 Neben diesem Einsatz für die Christengruppe schlechthin wird eine zweite Fürbitte zugunsten Rainouarts eingesetzt. Der junge, auf der Seite der Christen kämpfende Heide wird hier einmal mehr vorbehaltlos dem christlichen Glauben zugeordnet und dem christlichen Gott unterstellt, denn der Erzähler ruft aus: Or ait Jhesus de Rainouart pité (A165, 7107).429 Insgesamt vermögen es diese wenigen Kommentare jedoch nicht, im Text nachhaltig zu Mitleid aufzurufen. Die persönliche Erzählinstanz verzichtet auf diese spezielle Form der Empathielenkung fast ganz. Nicht nur ist das Figurenleid eine weniger exponierte und deshalb weniger problematische Figurenemotion; auch Rezipientenmitleid entspricht anscheinend nicht den ersten Prioritäten aliscanscher Empathielenkung. 2.2.3 Sympathie Durch das Zurücktreten empathielenkender und mitleidlenkender Kommentare übernimmt ein Großteil der Erzählerkommentare im altfranzösischen Text noch deutlicher als im Willehalm (wo immerhin die Mitleidlenkung eine wichtige Rolle spielt) sympathielenkende Funktion. Diese Sympathielenkung erfolgt in Aliscans zunächst in der uns bekannten Form von Lob und Kritik, die meist ohne direkte Aufforderung an den Rezipienten auf Nachvollzug der Erzählerurteile setzt (Steuerung über impliziten Imperativ). Diese Urteile sind zumeist wenig umstritten und insgesamt weniger komplex als im Willehalm, so dass diese Kommentare auch mit der weniger individuell aufgebauten Autorität der Aliscanschen Erzählerfigur wirken können. Die Technik mit dem nachhaltigsten Effekt stellt in Aliscans jedoch bei weitem – denn diese Kommentare stechen quantitativ heraus – der auf affektiven Nachvollzug setzende Kommentar dar.
_____________ 428 „Gott, der im Himmel Wunder vollbringt, erbarme sich der Unseren“. 429 „Jesus erbarme sich Rainouarts!“
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
Lob und Kritik der Erzählinstanz: Lob und Kritik fallen – wie erwartet – in Aliscans wesentlich eindeutiger aus als im Willehalm. Die christlichen Kämpfer, einschließlich Rainouart und Guibourc, werden uneingeschränkt gelobt; die Heiden und die Gruppe um den französischen König sehen sich hingegen uneingeschränkt kritisiert. Auch wenn die Strategie von Lob und Kritik bereits bekannt ist, sollen die einzelnen Strukturen insofern näher beleuchtet werden, als sie wichtige Einblicke in die Normen- und Wertehorizonte der altfranzösischen persönlichen Erzählinstanz gewähren. So kann das übergroße Lob, welches Guillaume in Laisse 21 gewidmet wird, als Wegweiser für ideales Verhalten schlechthin betrachtet werden; denn hier gibt der Erzähler zu verstehen, dass dieses Verhalten Gott dazu bewegt, Guillaume zum Heiligen zu erheben: Mout se pena torjorz de Deu servir/ Et de sa loi essaucier et cherir,/ Onc n’ot nul jor vers paien de loisir;/ Quant le tenoit, nel fesoit pas languir,/ Mes a droite ore l’ame del cors partir;/ Il nel met mie en sa prison gesir./ Por ce nel porent ainc Sarrazin cherir!/ Mes nostre Sire le volt si maintenir/ Qu il son angle li tramist au morir./ Por ce est bone la chançon a oïr/ Qu il est sainz: Dex l’a fet beneïr (A21, 699-709).430 Dieses Lob Guillaumes skizziert ein Ideal, welches verlangt, im Dienst Gottes zu leben und zu kämpfen. Auffällig ist dabei, dass das Töten von Heiden, auch wenn es sich um Unterlegene, Besiegte und Gefangene handelt, Grund für unangefochtenes Lob ist. Entsprechend wird auch die Tötung Aérofles nicht als Problem, sondern im Gegenteil als moralisch richtiger und pragmatisch notwendiger Akt betrachtet.431 Die einzige Chance für eine Heidenfigur, im Ansehen zu steigen besteht in der Möglichkeit, zum christlichen Glauben überzutreten.432
_____________ 430 „Unaufhörlich opfert er sich im Dienste Gottes, für die Ehre und seine Liebe zum Glauben. Niemals gönnte er sich einen Tag Aufschub im Kampf gegen die Heiden. Wenn er einen von ihnen zu fassen bekam, ließ er ihn nicht lange warten, sondern trennte ihm sofort die Seele vom Körper, ohne ihn noch in seinen Gefängnissen ausharren zu lassen. Deshalb brachten ihm die Heiden niemals Zuneigung entgegen! Aber unser Herr wollte ihm so sehr seine Unterstützung beweisen, dass er ihm im Augenblick seines Todes einen Engel schickte. Das Lied ist würdig, angehört zu werden, weil Guillaume ein Heiliger ist: Gott hat ihn gesegnet“. 431 Vgl. A40, 17067-1722. Auch in Aliscans wird an dieser Stelle kein Erzählerkommentar eingesetzt, doch bereits die Gestaltung des epischen Berichtes machte deutlich, dass das Verhalten Guillaumes keinerlei Bedenken wachruft. 432 Eine Figurenrede, ausnahmsweise auf dieser Ebene zitiert, belegt dies: So verwandelt sich der Hass Rainouarts gegenüber dem Heiden Bauduc in dem Moment in Wertschätzung, als der Heide seinen Willen bekundet hat, sich taufen zu lassen. Genau ab diesem Moment verwendet Rainouart die verwandtschaftliche Anrede cosins (A170, 7361) („Cousin“) (zu dieser Veränderung in der Haltung Rainouarts vgl. A169f).
2. Empathielenkung auf der Ebene der persönlichen Erzählinstanz (E2)
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Neben dem skrupellosen Heidentöten fällt in diesem Text ein zweites Verhalten auf, das im Gegensatz zum Willehalm, wo es sich zumindest problematisiert sieht, gelobt wird: Guillaumes Auftritt am Königshof. Auch hier muss sein Verhalten als äußerst gewagt betrachtet werden, schließlich greift er den König und die Königin sowohl in verbalem als auch in körperlichem Angriff noch viel heftiger an als sein mittelhochdeutsches Äquivalent. Bei dieser Erhebung gegen den König musste das Publikum wohl kurz erschrecken. Der Erzähler lobt Guillaumes Verhalten aber durchgehend: Gerade sein Wagemut konnte den Ruhm des Königshofes retten, wobei die Hofangehörigen als orgueillex, als Hochmütige, bezeichnet werden, die man nur mit drastischen Mitteln zur Vernunft bringen kann.433 In dieser chanson de geste, in der das Verhalten der Figuren weniger höfisiert ist als bei Wolfram, passt die Szene in den heroischen Wertehorizont. Das Publikum kann dieses Lob akzeptieren und sich über die Zurechtweisung des schwachen französischen Königs freuen. Guillaumes Verhalten ist der unproblematische und gerechtfertigte Zorn eines typisch heroischen Protagonisten einer chanson de geste.434 Was die Heiden anbelangt, so finden wir kein Figurenlob, das über die Benennung ihrer Stärke und Tapferkeit auf der ersten Sympathielenkungsebene hinausgeht. Vielmehr thematisiert der Erzähler das seiner Ansicht nach negativ zu bewertende Verhalten der Heiden den Christen gegenüber: Margot behandele Guillaume vilment (A112, 5963f), d.h. auf erniedrigende Weise, Desreez und Baudus beweisen laut Erzähler eine pute maniere (A43, 1811), ein verachtungswürdiges Benehmen, als sie Guillaumes Verkleidung als Heide enttarnen. Die klare Parteinahme fällt daran auf, dass entsprechendes Verhalten der Christen mit positiver Schadenfreude aufgewertet wird, während die Heiden für entsprechendes Verhalten Kritik erfahren. Dass jedoch nicht alle Christen uneingeschränkt gelobt werden, zeigt sich an der Kritik des Königshofes. In Laisse 63 macht der Erzähler durch
_____________ 433 Mout fu la cort por Guillelme essaucie […] Ce a Guillaume conquis par s’estoutie ;/ Issi vait d’ome qui orgueillex chastie:/ Ja n’en jorra s’il mout bel nel manie (A70, 3363-68) („dank Guillaume wurde der Wert des Hofes erhöht. Das hat Guillaume durch seinen Wagemut erreicht; so geht es dem Mann, der die Hochmütigen zurechtweist: Er würde sein Ziel niemals erreichen, wenn er ihnen nicht hart zusetzen würde“). 434 Eine rein heroische Ausrichtung des altfranzösischen Textes im Vergleich zum Willehalm belegt auch die Gestaltung der Figur Rainouarts. Dieser wird in Aliscans vom Erzähler weniger wegen seiner inneren Werte gelobt, als vielmehr wegen seines Nutzens für die christlichen Kämpfer. Erst durch seinen beeindruckenden Einsatz in der zweiten Schlacht wird er zum zweiten Hauptheld neben Guillaume erhoben, wobei auch hier Sympathie allein über die Argumente der Tötung unglaublich vieler Heiden, des bedingungslosen Einstehens für die christliche Partei und damit seiner maßgeblichen Verdienste am christlichen Sieg gefördert wird (vgl. beispielsweise A183, 7901/ A112, 5961f).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
sentenzenhafte Kommentare deutlich, dass der Hof nicht richtig handelt, wenn er den schlecht gekleideten Guillaume nicht unterstützen will. Der Erzähler kritisiert, dass anscheinend nur Reichen geholfen wird und erhebt einen Bauernspruch zur in diesem Fall zutreffenden Wahrheit: Et de ce dist li vileins veritez:/ Qui le suen pert cheüz est en viltez (A63, 2849f).435 Verantwortlich dafür ist hauptsächlich der das Hofverhalten prägende König. Dabei wird ihm der für einen König wohl schlimmste Makel zugesprochen, nämlich die Angst. Dieser Angst widmet sich ein ganzer Absatz in Laisse 73 (A73, 3469-76), der schließlich mit der Betonung endet: Tel poor ot onques n’osa parler (73, 3476) 436. Der Text legt größten Wert auf diese Königskritik, die den Vasallen Guillaume zum eigentlichen Träger der Herrschaftsqualitäten macht und die den König als hoffnungslosen Schwächling darstellt.437 Seine Schwächen scheinen auf alle Angehörigen dieses Hofes negativ abzufärben (ausgenommen seine Tochter Aélis). Immer wieder tauchen die escuiers mit negativem und provozierendem Verhalten gegenüber Rainouart auf.438 Nicht vergessen werden darf auch die vor dem zweiten Kampf fliehende Truppe des Königs, für die der Erzähler die verächtliche Bezeichnung coarz failliz (A95, 5030ff), also ehrlose Feiglinge, benutzt. Sympathielenkung über affektiven Nachvollzug: Besonders deutlich treten in Aliscans die auf affektiven Nachvollzug setzenden Strategien in den Vordergrund, die besonders gut in Verbindung mit dem oben erwähnten phatischen Interesse der Erzählinstanz funktionieren. Denn wenn Rezipient und Erzähler scheinbar gemeinsam erleben, erfolgt der affektive Nachvollzug der vom Erzähler gezeigten affektiven Sympathieurteile fast automatisch. Wirksamstes sympathielenkendes Mittel in diesem Prozess des gemeinsamen Erlebens ist das durchgehend verwendete inclusive we,439 welches das Publikum mit dem Erzähler und diese beiden wiederum mit der Eigengruppe des Textes, d.h. den sympathischen Figuren des Textes, fest zusammenschweißt. So bezeichnet er die Christengruppe im Text konse-
_____________ 435 „in dieser Hinsicht behält der einfache Mann recht, der spricht: „Wer sein Hab und Gut verliert, fällt in Verachtung“. 436 „er hat so große Angst, dass er nicht mehr zu sprechen wagt“. 437 Diese Interpretation sieht sich auch vom literarischen Kontext der Bataille d’Aliscans bestätigt. Denn ein weiterer wichtiger Zyklus der chanson de geste, der sog. ‚Empörerzyklus‘, beschäftigt sich ausschließlich mit Auseinandersetzungen zwischen Vasallen und dem Souverän, vgl. z.B. Gormond et Isembart, Doon de Mayence, Chevalerie Ogier, Renaud de Montauban, Les Quatre Fils Aymon, Raoul de Cambrai und Girart de Roussillon. 438 In Laisse 76 beispielsweise schleppen sie Rainouarts Stange, seine einzige Waffe, während er schläft in einen Stall und vergraben sie im Misthaufen (vgl. A76, 3840). 439 Nach dem Terminus von Fowler inclusive we (Fowler 1977b:138).
2. Empathielenkung auf der Ebene der persönlichen Erzählinstanz (E2)
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quent als les noz.440 Damit schafft er zwei Gemeinschaften des Rezeptionserlebnisses: 1) die Eigengruppe, bestehend aus ihm, dem Publikum und den Christen und 2) die Fremdgruppe, die damit den Heiden zufällt. Diese klare Trennung unterstreicht das geschaffene Gruppenerlebnis, indem sie den Rezipienten die Ereignisse von Anfang an parteiisch mitverfolgen und damit affektisch mitfiebern, miterleiden, mitfreuen und mithassen lässt. Die Erzählinstanz demonstriert in diesem Rahmen eine rege affektgeladene Anteilnahme am Geschehen, für die eine klare Parteinahme für die Christen kennzeichnend ist: Geschieht den Christen Unheil durch die Heiden, drückt der Erzähler deutlich seinen Unwillen in Unglücksausrufen aus. So ruft er etwa beim bevorstehenden Tod Vivïens anteilnehmend: Dex, quel domage! (A11, 317),441 bei dem Unvermögen der Christen Aérofle zurückzudrängen, kommentiert er: Mal soit de ce qu’il l’aient remeü! (A11, 304).442 Aus allen Zeilen spricht eine bedingungslose affektive Anteilnahme am Schicksal und an den Nöten der Christen.443 Auch im folgenden Beispiel bedient sich der Erzähler affektiver, diesmal bewundernder Ausrufe, die sein Publikum neben den im Lob genannten Qualitäten für die Familie Guillaumes begeistern soll: A! Dex, quex freres! Com chascun s’esprova! (A97, 5168).444 Die weitaus am häufigsten verwendeten Kommentare, die den Text genauso dominieren wie das inclusive we, stellen jedoch die optativisch formulierten Wünsche, meist religiöse Fürbitten, des Erzählers dar. Diese fallen durch die Verwendung des altfranzösischen subjonctif und der stets ähnlichen Formulierung auf, wobei die Wünsche sowohl positiv im Sinne einer erstrebten Rettung oder Unterstützung als auch negativ im Sinne von Verwünschungen der Figuren auftreten. Immer formuliert sie der Erzähler gebetsartig an Gott, Maria und eine Vielzahl von Heiligen, entsprechend der im altfranzösischen Epos durchgehend vertretenen Meinung, dass Gott allein Entscheidungsgewalt zugeschrieben werden kann.445 Die positiven Wünsche zum Schutz von Figuren werden dabei ausschließlich auf Christen und Rainouart verwendet, wobei Guilllaume
_____________ 440 441 442 443
Je nach Kontext „die Unseren“, „uns“, „unser“ etc.; vgl. z.B. A106, 5503/ 109, 5771. „Gott, welch Unglück!“. „Unheil darüber, dass sie ihn nicht zurückdrängen können!“. Die einzige Ausnahme bildet erneut die Gruppe um das Königspaar. Vor allem das flüchtige königliche Heer wird vom Erzähler mit Beleidigungen bedacht (vgl. A94, 5014/ 95, 5047). 444 „ah! Gott, welch Brüder! Wie jeder von ihnen sich bewies!“ 445 Eines der schönsten Beispiele finden wir in A30, 1108-1112: Or le garisse cil qui le mont cria/ Et qui Adam de la terre gita/ Et sa moillier de sa coste forma/ Et en la Virge pucele s’aombra/ Et el desert .XL. jorz jeuna! („dass ihn derjenige schütze, der die Erde erschuf, der Adam aus Lehm formte und seine Frau aus seiner Rippe schuf, der sich in der Jungfrau gebar und der in der Wüste 40 Tage gefastet hat!“).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
der weit größte Anteil zukommt. So finden wir für ihn beispielsweise: Jhesu le puisse secorre et maintenir! (A31, 1152)446, Or le garisse le roi de maiesté! (A32, 1240)447, Or le garisse cil qui le mont forma! (A38, 1553). 448 Aber auch Guibourc, Bertrand und Aymer werden entsprechend mit Schutz- und Heilswünschen bedacht.449 Aus der bedingungslosen Anteilnahme am Schicksal der Christen ergibt sich in logischer Folge die Ablehnung der Heiden. Diese bedenkt der Erzähler kontrastiv mit hasserfüllten Verwünschungen, die ihre Vernichtung und Verdammung herbeisehnen. Finden Zweikämpfe zwischen einem Christen und einem Heiden statt, werden den eben beschriebenen Segenswünschen für den Christen entsprechend Sätze wie – hier im Fall Baudus – Li rois de gloire, qui tot a en justise,/ Doint au paien que sa char soit malmise! (A44, 1851f)450 gegenübergestellt. Den Text dominieren aber weniger Einzelverwünschungen als Erzählerausrufe, die die gesamte Heidengruppe betreffen, und die den Sinn des Ausrufs Dex les maudie! (A14, 437)451 in allen Variationen durchspielen. Zusammenfassend lassen sich den in positiven Wünschen für die Christen angewendeten Verben garir, secorrir, beneïr, pantir 452 die kontrastiv auf Heiden bezogenen Verben maleïr, maudir und craventer453 entgegenstellen. Die durchgängige Verwendung der immer gleichen Wendungen über den gesamten Text hinweg macht den bewussten Einsatz dieser Sequenzen deutlich. Der Rezipient kann sich den heftigen und spontan wirkenden Affekten des Erzählers kaum entziehen, sondern steigt vielmehr ins Miterleben ein und vollzieht die formelhaft wiederholten affektiven Äußerungen sehr wahrscheinlich mit. Damit übernimmt er ohne rationalen Nachvollzug, von Argumentationen uneingeschränkt, die Partei der Christen allein durch Affektübertragung. Diese Technik kann nur funktionieren, wenn in Bezug auf die Urteilsbildung keine prinzipiellen Zweifel bestehen. Stimmen die Affekte aber weitgehend mit den Grundüberzeugungen des Publikums überein – was in Bezug auf die Meinung von Christen und Heiden zutreffen dürfte – kann die Affektübertragung problemlos funktionieren.
_____________ 446 447 448 449 450 451 452 453
„möge Jesus ihn schützen und unterstützen!“ „möge der König der Herrlichkeit ihn schützen/retten!“ „möge ihn der Schöpfer der Welt schützen/retten!“ Für Bertrand wird eine weitere tragende Vokabel im Rahmend der Schutzwünsche verwendet: beneïr (que Dex puist beneïr; A5, 114) („Gott segne ihn“). „auf dass unser König der Ehre, der die Welt regiert, dem Heiden einen grausamen Tod beschere!“ „Gott verfluche sie!“. „schützen“, „schützen“, „erbarmen“. „verwünschen“, „verdammen“, „vernichten“.
2. Empathielenkung auf der Ebene der persönlichen Erzählinstanz (E2)
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Gelenkte Urteilsfindung: Glaube, Glaubenskrieg und Schuld: Der altfranzösische Erzähler tritt damit gerade im Vergleich zum willehalmschen Erzähler weniger als reflektierende denn als affektiv kommentierende Figur in Erscheinung. In Konsequenz ergibt sich daraus, dass wir weniger programmatisch über thematisch relevante Grundüberzeugungen informiert werden. Allerdings besteht dazu auch weniger Notwendigkeit, denn bisher spricht der Text doch eine relativ klare und unproblematische Sprache. Dennoch sollen entsprechende Erzählerkommentare im Folgenden synthetisiert werden. In Bezug auf die Bewertung der verschiedenen Glaubensrichtungen treten in den Kommentaren des Aliscanschen Erzählers zunächst christliche Elemente noch stärker zutage. Oben wurden bereits die affektiven Einschübe besprochen, die sich fast ausschließlich an Gott, Maria, Jesus oder diverse Heilige wenden. Zudem sieht sich die gesamte Handlung sehr viel deutlicher als im Willehalm vom Willen und vom Eingreifen Gottes abhängig, wodurch jeder Erfolg der Christen sympathiefördernd bedacht wird, denn wenn Gott zugunsten einer Figur eingreift, impliziert das ein positives Gottesurteil. Den Erwartungen entsprechend werden Guillaume bei weitem die meisten göttlichen Unterstützungen zugewiesen, dicht gefolgt von Rainouart. Ohne die unbestrittene Tapferkeit der Helden in Frage zu stellen wird darin deutlich, dass alle Erfolge allein auf die Gnade und Hilfe Gottes zurückzuführen sind: So schützt Gott Guillaume und Rainouart in zahlreichen Zweikämpfen, die sie ohne seine Hilfe nicht lebend überstehen hätten können.454 Darüber hinaus schickt ihnen der Heilige Geist neue Kräfte, wenn sie ihnen versagen würden,455 und Gott leitet in hingebungsvoller Liebe die Schläge Guillaumes.456 Gott ist es auch, der entweder die Bekehrung oder den Tod der Heiden will. So führt der Kampf Rainouarts gegen Bauduc nicht zum Tod desselben, weil Gott die Bekehrung des Heiden möchte: Mes Dex de gloire a le paien sauvé; / Ne velt
_____________ 454 Im Kampf Guillaumes gegen die sieben Könige hört der Rezipient beispielsweise, dass Gott Guillaume geschützt hat: Mes Damedeu a le baron tensé (A32, 1274) („Aber Gott hat den Baron geschützt“). Auch im Kampf gegen Desramé nimmt Guillaume keinerlei Schaden, car il avoit Jhesucrist a garant (A116, 6156f) („weil Jesus Christus sein Beschützer war“). Für Rainouart vgl. entsprechende Stellen in A115, 6083 und A158, 6929. 455 Vgl. z.B. in Bezug auf Guillaume: Cuer li revint, hardement recovra;/ Saint Esperit la force li doubla (A30, 1100f) („er fasst neuen Mut, findet seine Künheit wieder; dank des Heiligen Geistes verdoppelt sich seine Kraft“). Als Rainouart an die Heilige Maria betet, wird seine Bitte sofort erfüllt: Dist Rainouart: „Sainte Virge henoree,/ Secorez moi, roïne coronee!“/ A icest mot est sa vertu doublee (A167, 7253ff) („Rainouart sagt: Heilige verehrte Jungfrau, helfen Sie mir, gekrönte Königin! Bei diesem Wort verdoppelt sich seine Kraft“). 456 Dex l’ama mout, qui son cop a guïé (A32, 1213) („Gott, der seinen Schlag führte, liebte ihn sehr“).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
que muire, si ait crestïenté (169, 7312f).457 Auf Heidenseite zeichnen sich die Götter durch Machtlosigkeit aus, die im Gegensatz zum Christengott ihren Gläubigen in den Einzelkämpfen nicht beistehen können.458 Greift dennoch einmal ein heidnischer Gott ein, dann verhilft er zu so unrühmlichen Dingen wie zur Flucht übers Meer, wie im Falle Desramés und Hurés, die sich aus Angst vor den Christen auf ihre Schiffe zurückziehen und deren Gott, den der Erzähler mit deable, also Teufel, umschreibt, sie bis nach Cordoba treibt (vgl. A162, 7007ff). Auch wenn der Glaubenskrieg in Aliscans ebenfalls viel Leid provoziert, so wird doch deutlich, dass der Erzähler einen Wert seiner Dichtung in der Einmaligkeit und in der Grausamkeit dieser Schlacht zwischen Christen und Heiden sieht und dass damit ein gewisses, für die chanson de geste durchaus typisches Moment der Kriegsverherrlichung einhergeht.459 Dieser Eindruck sieht sich in der sprachlichen Gestaltung der Erzähleräußerungen bestätigt, die häufig positiv konnotierte Lexik mit den Termini von Krieg und Schlacht verbindet. So verknüpft der Erzähler die Qualität seiner chanson (Jamés meillor n’orra nus hom chanter; A95, 5128)460 mit der Ankündigung einer Fiere bataille (A95, 5129);461 an anderer Stelle ist die Rede vom merveilleus hustin (A103, 5380).462 In diesem Kontext wird auch das Außergewöhnliche dieser Schlacht betont, das sich in der einmaligen Gefahr der Figuren widerspiegelt,463 wobei gerade dieses generelle Gefahrenmoment mit positiven Assoziationen vernetzt wird: Biaus fu li jorz et li solauz luit cler,/ Et la bataille fist mout a redouter (A111, 5846).464 Aus dieser Kriegsverherrlichung ergibt sich im Vergleich zum Willehalm eine Abschwächung des tragischen Moments, das vor allem in der härteren religiösen Ausrichtung im Sinne einer unumstrittenen Kreuzzugsideologie, verbunden mit heroischen Erwartungen des Publikums, begründet scheint.
_____________ 457 „Aber der Gott der Ehre hat den Heiden errettet;/ er will nicht seinen Tod, sondern seine Bekehrung zum christlichen Glauben“. 458 Sovent reclaiment Mahomet et Cahu,/ Mais ne lor vaut, pris sont et retenu (A172, 7491f) („oft rufen sie Mahomet und Cahu an, aber das nützt ihnen nichts, sie werden gefangen und festgehalten“). 459 Den Aspekt der Kriegsverherrlichung, der Leid und Tod manchmal vollkommen verdrängt, betont auch Guidot: „Mouvements, châtoiements et couleurs, éclats des armes, joyeuses sonneries de trompettes créent une atmosphère de fête d’où toute idée de mort est provisoirement bannie“ (Guidot 1993: 23; Einführung zur Edition). 460 „Keiner wird jemals ein besseres [Lied] singen“. 461 „stolze Schlacht“. 462 „wunderbare Schlacht“. 463 Vgl. A16, 548f/ 31, 1119f und A30, 1114f. 464 „der Tag war schön und die Sonne schien hell, und die Schlacht war sehr furchterregend“.
2. Empathielenkung auf der Ebene der persönlichen Erzählinstanz (E2)
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Vor diesem Hintergrund erstaunt es auch nicht, dass die altfranzösische Erzählinstanz keine Kommentare bezüglich einer eventuellen Schuldfrage äußert. Die Schuld ist so fraglos auf Seite der Heiden zu suchen, dass solche Kommentare schlicht und einfach unnötig wären. 2.3 Hystoria von dem wirdigen ritter sant Wilhelm – Erzählerkommentare (E2) Fragen wir nun nach der Erzählerfigur im spätmittelalterlichen Text, der rund 300 Jahre später entstand, so stellen wir fest, dass dieser kaum mehr eine persönliche Erzählinstanz kennt. Wir finden in der Hystoria weder einen Prolog noch sonst im Text Einschübe oder Kommentare, die sich einer solchen Erzählerfigur zuordnen lassen würden. Und wenn sich – an einer Stelle – doch ein Sprecher offenbart, dann bleibt dieser neutral und schaltet sich nicht empathielenkend ein.465 Allein einige wenige Überreste einer von einer Erzählerfigur gefärbten Darstellungsweise lassen sich erkennen. So finden sich lediglich die Reste eines inclusive we, das sich freilich auf das formelhafte Gebetselement vnsers herren beschränkt, an dem aber durchaus die Parteilichkeit des Erzählers für die Christen und ihren Glauben ablesbar ist.466 Eine ähnliche Parteinahme zeigen Passagen, die sich zwar in den epischen Bericht fließend integriert finden und deshalb kaum isolierbar sind, die aber über Sichtbares hinausgehende Interpretationen enthalten und somit die subjektive Meinung eines Erzählers fast unmerklich einflechten: Dabei handelt es sich ausschließlich um Interpretationen, die bestimmte Handlungen explizit dem Eingreifen Gottes zuschreiben. Diese Hilfe Gottes unterstützt Wilhelm, führt die Christen zum Sieg und bewirkt nicht zuletzt, dass eine riesige Anzahl an Heiden erschlagen wird.467 Problematisierungen von Seiten der persönlichen Erzählinstanz hinsichtlich Kriegslegitimation oder Minnelegitimation liegen in keiner Weise vor. Der Prosabearbeiter ist, wie Holger Deifuß treffend feststellt,
_____________ 465 Er begründet als Sprecher lediglich seine Verkürzung im Vergleich zum wolframschen Text: Waz Rennuart wunnders vnd mannlicheit begangen habe, davon wer vil ze sagen, daz man vnderwegen l"t durch der kúrczung willen. Besunder h°rent eins: Es fGgt sich, das in einer schar (H251, 30ff/146ra). 466 Vgl.: Also fGr Wilhelm mit sinem kleinen herr in dem namen Pnsers herren (H132rb/235, 18f) und fronlichamen vnsers herren Ihesu Cristi (H236, 26/133rb). 467 Die Unterstützung Wilhelms durch Gott zeigt H237, 32/134,rb: vnd halff jm gott, daz er durch daz her kam, daz in nieman erkant. Den christlichen Sieg führen die folgenden Passagen auf die Hilfe Gottes zurück: H235, 25/132va; H235, 30f/132va; H251, 24f/145vb. Dass der Tod der Heiden Gottes Wille ist, zeigt das folgende Zitat: Noch denn halff got den cristenen, daz ir "n zal vil erschlagen ward (H252, 27/146va).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
„an einer Diskussion über die Gerechtigkeit des Glaubenskampfes, die für ihn a priori und unumstößlich feststeht, nicht interessiert“.468 Insgesamt präsentiert sich die Hystoria als Text ohne persönliche Erzählerfigur, der empathielenkende Strukturen allein – und damit stark implizit – in den Ebenen E1 (Ebene des epischen Berichts) und E3 (Ebene der Figurenreden) verwendet. Die fehlende Lenkung durch eine persönliche Erzählinstanz steht dabei für einen Zuwachs an Neutralität und Sachlichkeit und entsprechend auch für ein höheres Maß an freier ungelenkter Urteilsbildung von Seiten des Rezipienten. 2.4 Zwischenergebnisse zur Ebene der persönlichen Erzählinstanz Auf die zentralen Leitfragen der Arbeit bezogen, können die aus der Analyse der zweiten Empathielenkungsebene entstandenen Ergebnisse wie folgt resümiert werden: 2.4.1 Erzähltechnische und inhaltliche Umsetzung von Empathielenkung Erzähltechnische Umsetzung: Auf dieser Ebene der Kommentare durch eine persönliche Erzählinstanz unterscheiden sich die drei untersuchten Texte noch fundamentaler als auf der Ebene des epischen Berichts: Während der Willehalm wohl am intensivsten auch mit längeren Kommentaren arbeitet und der Erzähler von Aliscans ebenfalls deutlich spürbar eingreift, verzichtet der spätmittelalterliche Text auf diese Lenkungsebene fast vollkommen. Doch auch die beiden älteren Texte, in deren Empathielenkungsprozess Kommentarstrukturen einen äußerst wichtigen Stellenwert einnehmen, gehen erzähltechnisch sehr unterschiedliche Wege. Im Willehalm fördert die persönliche Erzählerfigur Empathie, Mitleid und Sympathie für bestimmte Figuren und Figurengruppen. Zu diesem Zweck kann sie auf eine sehr ausgeprägte individuelle Glaubwürdigkeit und Autorität zurückgreifen, die v.a. im Prolog etabliert wird. Entsprechend arbeitet der Text hier hauptsächlich mit vorgegebenen Urteilen und Argumentationen zu Figuren, die dem Rezipienten unter Appell an seine ratio und das Vertrauen in diese Erzählinstanz zum Nachvollzug gestellt sind. Dabei ist dem Erzähler vor allem an der Förderung von Rezipientenmitleid (wie die einzigen Imperative belegen) und Rezipientensympathie (sichtbar an der großen Zahl eingesetzer Strukturen) gelegen. Eine weitere Besonderheit des Textes liegt darin, dass eine hohe Konzentration
_____________ 468 Deifuß 2005: 131.
2. Empathielenkung auf der Ebene der persönlichen Erzählinstanz (E2)
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von Kommentaren genauso wie auffallend lange und komplexe Kommentare Grundprobleme des Textes markieren: So liegt es nahe, dass die Frage nach der Bewertung von Willehalms schwierigem Verhalten, nach der Bewertung der verschiedenen Glaubensrichtungen, der Berechtigung eines Glaubenskrieges sowie die Frage nach der Schuld auch dem zeitgenössischen Rezipienten (zumindest in Ansätzen) Probleme bereiteten. Denn gerade hier diskutiert die Erzählinstanz verschiedene Gesichtspunkte und mögliche Interpretationen, um dann eine präferierte Meinung zu diesem Problem zu präsentieren. Die altfranzösische Erzählinstanz setzt ihre Kommentare nun weitgehend anders ein. Wohl auch weil die Erzählinstanz hier mangels Prolog oder prologartiger Einschübe über weniger individuelle Präsenz verfügt, arbeitet der Text verstärkt über einen stetigen Kontakt zwischen Rezipient und Erzähler und schafft über Techniken wie die des inclusive we und der vielen phatischen Signale gleichsam eine Erlebnisgemeinschaft. Es ergibt sich das Ambiente eines intensiven Miterlebens des Rezipienten am fiktionalen Geschehen und auf dieser Basis setzt die Erzählinstanz verstärkt affektiv lenkende Kommentare ein, die den Rezipienten mühelos mitreißen. Auf die Förderung grundständiger Empathie und auf die Förderung von Mitleid wird dabei fast ganz verzichtet. Das entscheidende Einsatzgebiet ist die Sympathielenkung. Hier finden wir die aus dem Willehalm bekannten komplex argumentierenden Erzählerkommentare noch nicht – wohl auch, weil dieser Text weniger ‚große Fragen‘ aufwirft. Die Kommentare drücken vielmehr nachdrückliche und klare Wertungen aus, die keiner Diskussion bedürfen. Erzähler, Rezipient und die Christen bilden eine Eigengruppe, die sich ihrer Sache sicher ist. Festzuhalten bleibt in Bezug auf die persönliche Erzählerfigur deshalb ein Interesse primär an Sympathie im altfranzösischen Text, ein Interesse primär an Mitleid und Sympathie im mittelhochdeutschen Text und ein fehlendes Interesse an jeglicher Form von Empathie im spätmittelalterlichen Text. Zudem arbeitet Aliscans primär mit affektivmiterlebenden Überzeugungsstrukturen, während der Willehalm auf rational-argumentative Strategien setzt. Die Absenz der Erzählerfigur in der Hystoria ist als besonders auffälliger erzähltechnischer Einschnitt zu begreifen, der wohl, wie viele andere Veränderungen, einer allgemeinen Tendenz zur Verkürzung geschuldet ist.469 Warum gerade über den Verzicht auf Erzählerkommentare so deut-
_____________ 469 Henkel nennt dieses Phänomen eine „gezielte Reduktion der rhetorischen Ausgestaltung der Romane zugunsten der erzählten Handlung“ (Henkel 1992: 9f). Strohschneider beschreibt die Verkürzungstendenzen näher und stellt dabei auch das Kürzen der Erzählerreflexionen fest: „Nicht selten betrifft dabei der Vorgang des Kürzens Deskriptionen, Digressionen, Reflexionen des Erzählers sowohl Monologe und Dialoge seiner Romanfi-
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
lich gerafft wird, ist nicht eindeutig zu klären. Ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren ist dabei wahrscheinlich. Zum einen präsentiert die Hystoria bereits im epischen Bericht so klare Fakten, dass eine Orientierungshilfe für den Rezipienten nicht notwendig wird. Darüber hinaus muss es jedoch andere Gründe geben, denn trotz ähnlich klarer Orientierung verzichtet Aliscans in keinem Fall auf empathielenkende Kommentare. Da, wie die Untersuchung der beiden Vorgängertexte ergibt, die primäre Funktion von Erzählerkommentaren überhaupt in ihrer empathielenkenden Funktion liegt, bleibt zu vermuten, dass der spätmittelalterliche Text keine intensiven Empathiereaktionen hervorrufen möchte, sondern dem Rezipienten vielmehr das Gefühl der Distanz vermittelt, auf reine Handlungsvermittlung setzt und ihn entsprechend zu einer weniger empathischen Rezeption aufruft.470 Außerdem gibt der Text dem Rezipienten so das Gefühl größerer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit, was den Bedürfnissen des geübteren Lesers wohl mehr entsprach als eine autoritäre Erzählerfigur. Inhaltliche Konkretisierung der narrativen Strukturen: Wenn die Erzählinstanz nicht direkt mit nackten Empathie-, Mitleids- oder Sympathieimperativen arbeitet, müssen zusätzliche Argumente verwendet werden, die den Rezipienten von einer Empathie-, Mitleids- oder Sympathiewürdigkeit der Figur überzeugt. Im Willehalm argumentiert die Erzählinstanz in Bezug auf Empathie- und Mitleidförderung mit dem tiefen Leid der Figuren, für welches sie Nachvollzug demonstriert. Auf diese Weise wird einmal mehr das Leid der Figuren als ungewöhnlich problematisiert, gleichzeitig aber gerechtfertigt. Wohl kaum wird der Rezipient das tiefe Leid der Figuren als Zeichen von Schwäche betrachten, wenn die autoritäre Erzählinstanz zu Einfühlung und Mitleid aufruft! An den sympathielenkenden Kommentaren fällt auf, dass vor allem die Nähe zur Göttlichkeit (vor allem in den Umschreibungen göttlichen Auserwähltseins im Fall von Willehalm,
_____________ guren, zielt die Brevitas der Redaktion also auf die Summa facti des erzählten Handlungsgeschehens“ (Strohschneider 1991: 428f). 470 Eindeutige Faktenvermittlung würde so Vorrang vor literarischem Genuss erhalten. Cramer bestätigt die Tendenz von Sammelunternehmen, wie die Hystoria eines darstellt, „die alten Geschichten als Geschichte, als Darstellung einer als normativ verstandenen Vergangenheit“ auf mehr oder wenige distanzierte Weise zu betrachten (vgl. Cramer 1990: 86). Müller verweist diesbezüglich auf das Bestreben, über solche Texte die eigene (meist konstruierte) Genealogie zu erfassen (vgl. Müller 1977: 49ff). Er sieht im durchgängigen Bestreben von Autoren, die überlieferte volkssprachliche Epik als Bericht über wirklich Geschehenes auszuweisen, ein „Indiz für einen drohenden Traditionsverlust, denn wo die Tradition unbefragt gilt, ist die Trennung in res ficta und res facta sekundär. […] Wenn die Versuche um 1500, zwischen erdichteter und geschichtlicher Überlieferung zu scheiden, das Gebiet der letzteren so befremdlich weit ausdehnen, dann dokumentiert sich darin ein Interesse an der Verbindlichkeit der Tradition auch unter veränderten historischen Bedingungen und in einem veränderten Rezeptionskontext“ (Müller 1977: 52).
2. Empathielenkung auf der Ebene der persönlichen Erzählinstanz (E2)
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Vivianz und auch Gyburc) und das von den Figuren manifestierte Mitleid aus triuwe mit dem leidenden Nächsten als Argumente für die Christen verwendet werden. Über diese beiden Bereiche beweisen sie die erfolgreiche Verknüpfung von zwischenmenschlicher Liebe und Liebe zu Gott, welche sich zum obersten Wert erhoben sieht. Während die Notwendigkeit der Gottesliebe nicht erstaunt, erscheint die Betonung der misericordia, des helfenden Mitleids am Nächsten, die der Erzähler als notwendige Folge der triuwe, als Voraussetzung für saelde und als Entsprechung des göttlichen Willens aufwertet, doch bemerkenswert. Mitleid erscheint im Text als die diesseitige Realisierungsform von Liebe zu Gott. Angesichts dieser Verknüpfung, die erst die Erzählerkommentare deutlich sichtbar machen, erstaunt das Gewicht des Mitleids, welches bereits für den epischen Bericht festgestellt wurde, weit weniger. Dass diese Gedanken eine Eigenleistung Wolframs darstellen, beweist ein Vergleich mit der inhaltlichen Ausgestaltung der Erzählerkommentare in Aliscans. Im Bereich der Förderung gründständiger Empathie geht es vor allem darum, Figuren von einem eventuellen Vorwurf der Ängstlichkeit zu befreien und deshalb die Angst der Figuren nachvollziehbar zu machen. Das Leid der Figuren spielt in den Erzählerkommentaren weder für Empathie noch für Mitleid eine Rolle. Sympathielenkende Kommentare argumentieren für Figuren dann mit deren Tapferkeit, aber vor allem mit deren christlicher Überzeugung. Allein der aufrichtige und bedingungslose Glaube an die eine wahre und richtige Religion ist ein Grund für Sympathie. Ideales Verhalten zeichnet sich durch bedenkenlos durchgeführten Glaubenskrieg und Tötung der Gegner im Namen der Religion aus. Die Erzählerfigur selbst ignoriert dabei das Leid der einzelnen Figuren im Kriegsgeschehen (dieses ist vor allem über den epischen Bericht und die Figurenreden dargestellt) und konzentriert sich auf das Kriegsgeschehen als Abfolge von Schlachten, die aufgrund ihrer Größe und Einmaligkeit verherrlicht werden. 2.4.2 Empathielenkung in Bezug auf Christen und Heiden Bezüglich der Einschätzung von Christen, Heiden, deren Religionen und des Glaubenskrieges verschafft die Empathielenkung auf der Ebene der persönlichen Erzählerfigur in vielen Bereichen Klarheit. Im Willehalm fördert die persönliche Erzählinstanz grundständige Empathie allein für Christen. Die Kommentare ermöglichen die Teilnahme an den Emotionen der Christen genauso wie sie ihr Handeln auch in umstrittenen Fällen nachvollziehen. Terramers Angriff hingegen sieht sich als unverständlich deklariert, wodurch den Heiden Empathie in einem entscheidenden Punkt
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
entzogen wird. Mitleid wird ebenfalls in hohem Maße für Christen sowohl über implizite als auch über explizite Imperative gefördert. Mitleid für Heiden führen die Erzählerkommentare allein in der Form eines diffusen Bedauerns über die wahrscheinliche Verdammung der sterbenden Heiden vor. Wenn sich dieses Bedauern auch nicht in konkretem Mitleid mit leidenden Heiden manifestiert – denn hier entziehen die Kommentare Mitleid explizit – , so macht es doch deutlich, dass Hass durch Bedauern ersetzt wird, welches bedenkenloses Töten sehr viel schwieriger, wenn nicht unmöglich, macht. In den sympathielenkenden Kommentaren, die Wertschätzung für die Figuren vermitteln, zeigen die Erzählerkommentare eine ähnliche Strategie wie der epische Bericht. Diese lässt sich als ‚scheinbare Zweischau‘ bezeichnen. Stereotyp wirkende lobende Kommentare werden auf alle Figurengruppen verteilt. Rhetorisch ausgefeilter und deshalb allein wirklich nachdrücklich fördert der Text Sympathie nur für Christen, darunter vor allem für Willehalm, Vivianz und Gyburc. Kritisiert werden entsprechend die beiden verbleibenden Gruppen des Königshofes und auch die der Heiden. In grundsätzlichen Kommentaren wendet sich die Erzählerfigur zwar gegen blinden Heidenhass, hält jedoch daran fest, dass allein das Christen-tum zum ewigen Heil verhilft. Der Glaubenskrieg ist zwar, genauso wie der Tod vieler Heiden bedauerlich, doch letztlich aus Gründen einer Verteidigung des Christentums nicht zu vermeiden. Die Schuld am Krieg liegt klar nicht bei Willehalm oder Gyburc, sondern auf Seite der Heiden, die einen Angriff auf die nächsten Verwandten unternehmen. Die Öffnung des Willehalm den Heiden gegenüber erscheint besonders vor der Folie des altfranzösischen Textes deutlich, der auch in den Erzählerkommentaren Empathie, Mitleid und Sympathie allein für Christen fördert und Antipathie und Hass für Heiden vorzeichnet. 2.4.3 Empathielenkung in Bezug auf die zentrale Figur Willehalm Am Umgang der Erzählerfigur mit der zentralen Figur Willehalm zeigt sich schließlich, dass diese durchgehend Einfühlung, Mitleid und Sympathie mit Willehalm formuliert und diese Empathieformen auch vom Rezipienten, teilweise explizit, verlangt. In den empathiefördernden Kommentaren sieht sich Willehalms extremes Leiden und Klagen ausdrücklich gerechtfertigt. In den sympathielenkenden Kommentaren fordern explizite Imperative Mitleid vom Rezipienten für die leidende Figur. Was Willehalms von uns als umstritten angesehenes Verhalten am Königshof und bei der Tötung Arofels angeht, verzichten die Kommentare vollkommen auf Kritik, was, gerade im Vergleich zu Wolframs Parzival, doch verwundert. Zwar wird in Bezug auf Willehalms Zorn am Königshof festgestellt,
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
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dass dieser einen Verstoß gegen die höfische zuht darstellt, doch erfolgt im Anschluss eine Umwendung dieses Zuchtverstoßes zur legitimierten und durchaus positiv zu wertenden Tat, da minne und not Willehalm twingen. Gerade vor dem Hintergrund der harschen und deutlichen Kritik an anderen Figurengruppen (am Königshof und auch an den Heiden) soll der Rezipient Willehalms Verhalten zwar als ungewöhnlich und unhöfisch auffassen, es aber in keinem Fall verurteilen. Diese nahegelegte Rezeptionsreaktion scheint sich fest an die Figur Willehalm zu binden. Sein Erscheinungsbild, sein Klagen und auch sein Zorn sind ungewöhnlich und unerwartet für eine höfische Figur – werden aber nicht verurteilt, sondern teilweise explizit gerechtfertigt und sogar positiv umgedeutet. Dass eine Diskussion von Willehalms Verhalten und teilweise auch eine Rechtfertigung nötig ist, weist uns darauf hin, dass Willehalms Handeln auch für den mittelalterlichen Rezipienten nicht unumstritten gewesen sein kann. Gerade der Kontrast zu Aliscans, wo Willehalm durchgehend gelobt wird (auch für seinen Zorn am Königshof) und wo jegliche problematisierenden Kommentare fehlen, macht diese Lesart wahrscheinlich.
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3) Mit dieser dritten Empathielenkungsebene verlassen wir die Stimme des (persönlichen und unpersönlichen) Erzählers und wenden uns den diversen Figurenstimmen zu, die dem Rezipienten die fiktionale Welt aus der Sicht der Figuren präsentieren. Im Vergleich zu den Innensichtdarstellungen im Rahmen des epischen Berichts werden hier weit ausführlichere Einblicke in das innere Erleben der Figuren vermittelt. Außerdem rufen die Figurenreden beim Rezipienten die Illusion eines unmittelbaren Kontaktes zur sprechenden Figur hervor. So entsteht der Eindruck einer aufrichtigen und unverfälschten Informationsübermittlung, der Empathie begünstigt. Figurenreden präsentieren das innere Erleben der Figuren hauptsächlich über Formen der direkten Rede, die in Monologen und Dialogen formuliert sein kann. Eine Sonderform bilden dabei die Soliloquien, die ohne direktes Gegenüber geäußert werden und damit im Effekt der Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit unübertroffen sind. Psychonarrationes vermitteln schließlich in einer weiteren Steigerung Innensichten, die von den Figuren selbst nicht verbalisiert werden, die aber über die Form des Ausdrucks deutliche Nähe zur Figurenstimme aufweisen.471 Gerade in Bezug auf Sympathielenkung können solche Passagen extrem aussagekräftig sein, denn schließlich kann die Figur über ehrliche und fernab jeglicher
_____________ 471 Vgl. die theoretischen Ausführungen zum Analysemodell im vorhergehenden Großkapitel.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
Berechnung liegende ‚gute‘ Gedankengänge, die der Rezipient schätzt, Sympathiepunkte erhalten oder im Gegenzug durch geheim und nur für sich gedachte ‚schlechte‘ Gedanken, die der Rezipient verurteilt, unsympathischer werden. In genau dieser Illusion des heimlichen Einblicks in eine Figur liegt die enorme Macht dieser Strukturen. Dabei ist prinzipiell zu unterscheiden, ob solche Psychonarrationes sympathiefördernd im Sinne von Legitimationen und/oder positiven Bestätigungen oder sympathiehemmend im Sinne von Enttarnungenen eingesetzt werden. Erweiterung und Ergänzung erfahren diese genannten Redeformen durch indirekt wiedergegebene Figurenrede, die für eine gewisse Raffung und eine größere Distanz zur Figur im Vergleich zur direkten Rede steht. 3.1 Wolframs Willehalm – Figurenreden (E3) 3.1.1 Empathie Empathie kann entstehen, wenn der Rezipient Innensichten, also Einblicke in das Figurenbewusstsein, erhält - und genau diese Funktion übernimmt ein Großteil der Figurenreden.472 Jede dieser Figurenreden ist damit als Privileg zu betrachten. Entsprechend genügt auch hier allein die Untersuchung der quantiativen Distribution, um das Empathiepotential der verschiedenen Figuren zu bestimmen. Die gegenüberliegende Tabelle zeigt die Verteilung der innensichtpräsentierenden Figurenreden in Wolframs von Eschenbach Willehalm in ihrer Distribution auf Christen und Heiden. Rennewart steht dabei allein – schließlich befindet er sich aufgrund seiner Abstammung einerseits und seines kämpferischen Einsatzes andererseits zwischen den Fronten. Die unterstrichenen Figurennamen stellen die sich deutlich von der Gruppe abhebenden Hauptredner dar. 473 Insgesamt arbeitet der Text Willehalm in ca. 36% seiner Gesamtverse mit Figurenreden.474 Eine nähere Betrachtung der quantitativen Verteilung zeigt, dass die Figurengruppe der Christen im Vergleich zu den Heiden ein gut vierfach verstärktes Privileg der möglichen Präsentation von Innensichten genießt. Die Zahl der Figuren, die für Empathie bereitstehen, ist auf Heidenseite fast um die Hälfte geringer (18: 11). Dies müsste für Hei-
_____________ 472 Nicht berücksichtigt werden allein diejenigen (sehr wenigen) direkten und indirekten Reden, die rein handlungsbeschreibend sind, also keine subjektive Sicht der Figur bieten. 473 Da sich Figurenreden bisweilen nur auf Teile eines Verses erstrecken, ist eine perfekte mathematische Genauigkeit nicht zu erreichen. Diese ist aber auch nicht notwendig, um die Verteilung der Figurenreden in ihren großen Strukturen erkennen zu lassen. 474 Von insgesamt 14010 Versen des Gesamttextes bestehen, zusammengesetzt aus Christen-, Heiden-, und Rennewartrede ca 5000 Verse aus Figurenreden. Dies entspricht ca. 36%.
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
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den keinen Nachteil darstellen, denn eine Konzentration von Innensichten auf wenige Figuren kann durchaus fördernd für eine intensive Empathiereaktion des Rezipienten sein. Doch dass hier die geringere Anzahl der innensichtpräsentierenden Heiden nicht im Sinne einer solchen Empathiekonzentration zu lesen ist, sondern doch als frappierende Benachteiligung, macht die äußerst geringe Zahl der Redeverse der Figuren deutlich.
Christen
Heiden
Rennewart
Innensichtpräsentierende Redeverse der Figurengruppe
etwa 3800 (= ca. 76% der Redeverse);
etwa 900 (= ca. 18% der Redeverse);
etwa 300 (= ca. 6% der Redeverse)
Innensichtpräsentierende Redeverse pro Figur
Willehalm (ca. 1562) Gyburc (ca. 937) Heimrich (ca. 221) Königin (ca. 210) König Loys (ca. 155) Bernart (ca. 143) Ernalt (ca. 113) Irmenschart (ca. 84) Vivianz (ca. 76) Buove (ca. 63) fliehende franz. Truppe (ca. 59) Bertram (ca. 52) Alyze (ca. 44) Wimar (ca. 37) Höflinge (ca. 31) Gruppe (ca. 21) Gybert (ca. 13) Cherubin (ca. 3)
Terramer (ca. 606) Burggraf von Cler (ca. 62) Tesereiz (ca. 29) Arofel (ca. 26) Rubual (ca. 28) Tybalt (ca. 19) Matribleiz (ca. 19) Ehmereiz (ca. 17) Gruppe (ca. 23) Oukin (ca. 16) Poydwiz (ca. 11)
Die beiden Heerführer Willehalm und Terramer dominieren auf beiden Seiten die Redeanteile, wobei auf christlicher Seite Gyburc neben Willehalm eine bedeutende Stellung einnimmt (immerhin 2/3 seines Redeanteils). Terramer hingegen steht auf Heidenseite in der Dominanz weitge-
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
hend allein. Tybalt, auf dessen Betreiben der Krieg hauptsächlich zurückgeht, ist dabei fast in die Bedeutungslosigkeit zurückgedrängt, was doch ein eigenartiges Bild auf die Hierarchie und den Zusammenhalt der Heidengruppe wirft. Die christliche Familie kommt dagegen ihrer inneren Hierarchie entsprechend zu Wort, wobei die eigentlich primär Betroffenen, Willehalm und Gyburc, die Spitze einnehmen. Der einzige himmlische Sprecher im Gesamttext – der Engel Cherubin475 – ist ebenfalls auf Christenseite zu verorten. Allein dass Cherubin als Sprecher auftritt, verdeutlicht einmal mehr den vom Text vertretenen bedingungslosen christlichen Glauben. Für alle oben aufgeführten Figuren fördert der Text Empathie. Dabei zeigen die Zahlenverhältnisse eine deutliche Privilegierung der Christen, auch in Einheitlichkeit und Geschlossenheit der sippe, auf. Die inhaltliche Ausgestaltung dieser Figurenreden muss nun zeigen, inwieweit sich dieses Privileg auch in den Sonderformen der Empathie, Mitleid und Sympathie aufrechterhält. Dazu systematisieren wir die oben quantitativ erfassten Figurenreden nach den in ihnen referierten Inhalten, je nachdem ob die Figur Leid ausdrückt und entsprechend für Mitleid wirbt oder Inhalte formuliert, die den Rezipienten zu Wertschätzung für sie führen. 3.1.2 Mitleid Ein dominierender Inhalt der Figurenreden im Willehalm ist tatsächlich das Leid, dessen Ausdruck wir prinzipiell als mitleidfördernd begreifen. Die Reden einer Figur können ihr eigenes Leid thematisieren und so auf sie bezogenes Rezipientenmitleid auslösen. Sie können aber auch Mitleid (als Form eigenen Leidens) mit anderen Figuren äußern und so Rezipientenmitleid zusätzlich für die bemitleidete Figur fördern. Dabei entscheidet, wie bereits in den vorhergehenden Analysepartien, die Ausführlichkeit der Darstellung des Leides sowie der Grad der moralischen Legitimierbarkeit desselben über die Art des geförderten Rezipientenmitleids. Christen: Willehalm, der, wie oben gezeigt wurde, über die quantitativ größten Redeanteile verfügt, macht sein Leid zum stabilsten Inhalt seines Redens. Für dieses Leid nennt er drei große Auslöser: Zum einen lösen die schmerzhaften persönlichen Verluste von toten Verwandten und Vasallen, wie beispielsweise der Tod von Vivianz und des gesamten Heeres in der
_____________ 475 In Anlehnung an den Himmelschor der Cherubine taucht bei Wolfram ‚Cherubin‘ auch als Einzelname eines Engels auf, vgl.: Cherubin, der engel lieht/ sprach (W49, 23f).
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
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ersten Schlacht, Leid aus.476 Zum anderen belastet ihn das sich primär als Mitleid mit Lebenden definierende Leiden mit seinen gefangenen Verwandten und mit Gyburc im belagerten Orange.477 Schließlich betont eine Vielzahl von Reden die leidvolle Grundsituation schlechthin.478 Alle Leidreden in ihrer Gesamtheit führen dazu, dass sich Willehalms Leid in einer ungewöhnlichen Stetigkeit über den Text hinweg auch persönlich ausgedrückt sieht. Selbst der Sieg in der zweiten Schlacht kann es nicht lindern. Vielmehr erreicht es in der Klage um den vermissten Rennewart einen neuen Höhepunkt. Hier spricht Willehalm: min totiu vreude, niht diu lame,/ ime herzen ist verswunden (W455, 18f). Und wenig später bestätigt er, dass ein Ende des Leides für ihn nicht in Sicht ist: aller künege hende/ möhten mit ir richeit/ niht erwenden mir min leit (W456, 22ff). So bemerkt Rohr richtig: „In der Matribleiz-Episode [unmittelbar nach dieser Klagerede] findet Willehalm zurück zur Tagespolitik. Doch ist dies kein Überwinden seiner Trauer, sondern es ist eine Kapitulation vor der Maßlosigkeit seines Schmerzes.“479 Willehalm ist also als klagender Held, vom ersten bis zum letzten Vers der Handlung, zu begreifen. Die drei genannten Hauptgründe für Willehalms Leid machen deutlich, dass dieses sich aus aufrichtiger triuwe, die letztlich zur Totenklage und zum Mitleid mit toten oder leidenden Verwandten und Vasallen führt, speist. Damit sind alle von Willehalm angeführten Gründe für sein Leid aus zeitgenössischer Sicht moralisch legitimierbar. Allein die Tatsache, dass Willehalm zu keinem Zeitpunkt sein Leid überwindet, könnte ihn der Schwäche verdächtig machen, weshalb wir diese Unüberwindbarkeit des Leides näher beleuchten müssen.480
_____________ 476 In der Redepassage W93, 26-94, 4 klagt Willehalm beispielsweise um Vivianz: Vivianz ist tot./ in min selbes schoze er lac,/ der tot sin jungez herze brach (W93, 28ff). Im 39. Abschnitt leidet Willehalm, weil seine Mitkämpfer weniger und weniger werden: miner mage kraft nu siget,/ sit sus ist geswiget/ Monschoy unser krie./ ei Gyburc, süeze amie,/ wie tiuwer ich dich vergolten han! (W39, 9-13). 477 Willehalm beklagt, dass er in der ersten Schlacht elf seiner Kämpfer aus den Augen verloren hat, die sich wohl in Gefangenschaft befinden (gevangen und sus verlorn/ ich dannoch einleve vürsten han; W151, 16f). Willehalm würde am liebsten selbst sterben, wenn ihn nicht das Mitleid mit Gyburc zurückhalten würde: nu wil ich niht wan todes gern,/ und ist daz min ander tot,/ daz ich dich laze in sölher not (W39, 18ff). 478 Diese generelle Klage schwingt in den meisten Leidreden Willehalms mit. Als beispielhaft kann auch hier eine Rede der ersten Schlacht gelten, in der Willehalm zum einen seine Verluste über die Karls des Großen in Ronceval stellt und zum anderen die tragische Situation des Krieges, der aus Liebe entstand, beklagt: nu sten ich vreude und helfe bloz./ […] dem keiser Karel w#re ze vil/ dirre vlüste zeinem male./ die er tet ze Runzevale/ […] des muoz ich immer jamers pflegen,/ ob ich han manlichen sin./ ei Gyburc, süeziu künegin,/ wie nu min herze git den zins/ nach diner minne! wan ich bins/ mit jamers laste vast überladen,/ daz ich den künfteclichen schaden/ an dir nu muoz enpfahen (W51, 10-25). 479 Rohr 1999: 64. 480 Während der planctus des Heldenepos und das Leid der Legendenfigur positiv zu bewerten ist, wird tiefes Leid im Roman dann problematisch, wenn es zu Verzweiflung und Läh-
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
Die Omnipräsenz der Leid- und Klagereden rückt den Willehalm in die Nähe des literarischen planctus, jenes Klageliedes, das im 13. Jahrhundert bereits eine lange Tradition aufweist.481 „Ausdruck der Trauer und des Schmerzes, der Preis der Verlorenen, Äußerungen über die schlimme Auswirkung des Verlustes, über den Kreis der Betroffenen […], Anklagen gegen die Verursacher, Aufforderungen zum Mitklagen“482 gehören zum planctus und gerade die längeren Monologe Willehalms stellen typische, in den Text integrierte Formen desselben dar: Vor dem Rat der Heerführer in Orange betont Willehalm beispielsweise in 84 Versen seinen Schmerz über den Tod der sieben höchsten Fürsten, über die Gefangennahme von acht Verwandten, die Verstümmelung und Tötung von christlichen Kindern, Frauen und Männern, klagt seinen Schwiegervater Terramer des Unglücks an und ruft seine anwesenden Verwandten zum Mitleid und zur Hilfe auf: min sweher ist uf mich geriten,/ den getouften wiben sint gesniten/ ab die brüste, gemarteret sint ir kint,/ die man in gar erslagen sint,/ und uf gesetzet ze manegem zil: […] alsus hat Tybalt sinen haz/ und Terramer der starke/ volbraht uf miner marke./ ez sint ehte miner mage/ gevangen, […] mir lagen ouch siben vürsten tot/ der h Ahsten von unserem riche./ ich bite iuch alle geliche/ daz ir mich vreuden armen/ iuch alle lat erbarmen (W297, 13-30).483
Weitere größere Klagereden finden sich z.B. angesichts des toten Vivianz (vgl. W 62,23-64, 30) und des vermissten Rennewart (vgl. W452, 19456, 24). Dem Publikum dürften solche Klagereden zumindest aus dem Rolandslied bekannt gewesen sein. Allerdings geht der Willehalm durch die Häufigkeit kleinerer planctus-ähnlicher Reden und durch den so entstehenden klagenden Grundton der Reden Willehalms deutlich über die aus der höfischen Epik bekannten Klageszenen hinaus und nimmt somit eine Sonderstellung im Feld der mittelalterlichen Klage ein. 484 Die Erwartungen des Publikums sehen sich damit auch insofern übertroffen, als sich aus diesem dauerhaften Leiden des Helden – neben den romanhaften und heldenepischen Zügen des Textes – nun auch über die Anrede Willehalms als ‚Heiliger‘ im Prolog hinausgehend Legendenelemente erkennen lassen,
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mung des zum Handeln verpflichteten Herrschers führt (vgl. dazu die Ausführungen zum Leid als – in besonderen Umständen – umstrittener Emotion im epischen Bericht). Vgl. dazu beispielsweise Thiry 1978, Hengstl 1936, Oberhänsli-Widmer 1989. LexMA 6, 2198-2199, Artikel: planctus. Die gesamte sehr lange Redepassage situiert sich von W297, 6 bis W299, 30. In der Chanson de Roland genauso wie im Rolandslied wird der planctus ausschließlich von Kriegern angesichts der Leiche eines Nahestehenden gesprochen (zu den planctus-Passagen in der Chanson de Roland vgl. Zumthor 1959). Im Willehalm hingegen klagen Krieger, vor allem Willehalm selbst, auch über den Krieg und das Leid generell sowie aus Mitleid. Außerdem werden planctus-Passagen auch anderen Figuren (darunter Frauen), wie z.B. den christlichen Familienmitgliedern, vor allem Gyburc, zugestanden (vgl. später die Reden Gyburcs).
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
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die an das Leid der Märtyrer oder das der Helden der Legendenromane Hartmanns erinnern, wenn sie diesen Leidensäußerungen auch nicht vollends entsprechen.485 Dass die Dauerhaftigkeit von Willehalms Leid dem Zeitgenossen tatsächlich ungewöhnlich erscheinen musste, verdeutlichen Figurenreden von Willehalms Brüdern, die dieses nicht nur feststellen, sondern auch auf die Problematik eines eventuell verzweifelten und damit unbrauchbaren Heerführers anspielen. Zweimal wird Willehalm explizit von seinen Brüdern aufgefordert, sein Leid nach außen zu dämpfen um seinen Verpflichtungen als Heerführer nachzukommen (W457,3-11 und W467, 20-23; s.u.). Bezeichnenderweise geschieht dies gerade dann, als Willehalm nach der zweiten Schlacht den Höhepunkt der Klage erreicht, obwohl er als weltlicher Herrscher nun eigentlich Optimismus ausstrahlen sollte. So weist ihn Bernart scharf zurecht: du bist niht Heimriches sun,/ wiltu nach wibes siten tuon./ groz schade bedarf genendekeit./ über al diz her wirt ze breit/ der jamer durh dich einen,/ wiltu hie selbe weinen/ reht als ein kint nach der brust./ süeze vinden, manege sure vlust,/ niht anders erbes muge wir han (W457, 3-11). Im gleichen Sinne spricht Gybert in den letzten Versen des Fragments: solher site niht bedarf […] den got hers hat gewert,/ daz er trAsten solte (W467,20-23). Übermäßiges Klagen ist folglich mit weiblicher Schwäche, Leidunterdrückung dagegen mit männlicher Stärke assoziiert. Kritik also an Willehalm? Willehalm selbst sieht die Forderungen seiner Brüder ein: iedoch stet ez mir also:/ ich muoz gebaren als ich vro/ si, des ich leider niht enbin./ ez ist des houbtmannes sin,/ daz er genendecliche lebe/ und sime volke trAsten gebe (W460, 1520). Gleichzeitig verteidigt er sich aber gegenüber Bernart: got weiz wol waz er hat getan./ nu geloube, manlich wiser man,/ ob du sist so gehiure,/ dirre sige mir schunpfentiure/ hat ervohten in dem herzen min,/ sit ich guoter vriunde muoz ane sin,/ an den al min vreude lac (W459, 23-29). In Übereinstimmung mit der Erzählerstimme (E2) leitet Willehalm sein Leid als notwendige Folge aufrichtiger triuwe, als verpflichtendes Mitleid dem Nächsten gegenüber, ab. In der folgenden Passage beweist er, dass sich tiefstes Leid und politisch souveränes Handeln nicht widersprechen müssen: Er tritt in der folgenden Matribleiz-Szene als innerlich gefasster Heerführer auf. Dass er dem Klagen aber keinesfalls abschwört, beweist ein kurzer
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485 Im Vergleich zu den Legendenromanen z.B. Hartmanns (z.B. Gregorius) fehlt bei Willehalm ein klares Vergehen als Ursache des Leides. Denn vor allem die Erzählerkommentare legitimierten Willehalms Verhalten als durchaus richtig. In der Endauswertung soll auf eine eventuelle Nähe von Willehalms Leid zum Legendenleid noch einmal eingegangen werden. Die Nähe des Willehalm zur Gattung der Legende diskutieren v.a. Ohly 1961/62 und Ruh 1980. Ohly plädiert dafür, den Text gar als ‚Legende‘ zu bezeichnen. Ruh verweist auf die problematischen Heldenfiguren Willehalm und Gyburc, die man sowohl als Heilige, aber in ihrem Handeln auch als Menschen fassen kann. Legendennähe leitet man dabei jedoch primär aus dem Prolog des Willehalm ab, der den Text mit einem Eingangsgebet Gott widmet und Willehalm als Heiligen bezeichnet.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
gen aber keinesfalls abschwört, beweist ein kurzer Erzählerbericht, heißt es doch im letzten Dreißigerabschnitt des Textes (W467) in einer fast trotzigen Bekräftigung: alrest begunde meren/ der marcrave die sinen klage (W467, 14f).486 Ein Streben nach Überwindung des Leidens kann demnach nicht festgestellt werden.487 Willehalms Leidbekundungen dominieren den Text bis zum Ende, auch gegen die Stimmen seiner Brüder, und werden nicht zurückgedrängt. Der Text schafft es so, auch dauerhaftes und tief verzweifeltes Leid, das aber nie zur an Gott verzweifelten desperatio wird, zu legitimieren. Leiden erscheint als eigener Wert. Dies deutet darauf hin, dass gerade Willehalms eigene Leiderfahrung ihn zum so mitleidsfähigen (wie bereits gezeigt wurde und wie im Folgenden noch einmal zu zeigen sein wird) Protagonisten macht. Diese Interpretation entspricht durchaus mittelalterlichen Vorstellungen von Leidens- und Mitleidensfähigkeit, wie Katharina Mertens Fleury (unter Rückbezug auf Bernhard von Clairvaux) zeigt, die die Funktion des Leidens als notwendige Vorbereitung zur Fähigkeit des Mitleidens belegt: „Gleiches ist durch Gleiches verstehbar, weshalb die eigene Leidenserfahrung das Mitleiden mit dem Anderen ermöglicht“..488 Wie vor diesem Hintergrund erwartet, formuliert Willehalm Mitleid tatsächlich in ungewöhnlichem Maße – gerade wenn man zwischen zu erwartendem Mitleid und darüber hinausgehendem Mitleid unterscheidet. Als in gewisser Weise normativ verankert und deshalb zu erwarten fassen wir vorgeprägte Mitleidsprozesse, die aus den Forderungen der Sippenloyalität und triuwe erwachsen, während wir demgegenüber Mitleidsformen stellen, die über solche Bindungsverhältnisse hinaus entstehen. Wenngleich die Intensität des ausgedrückten Mitleides erstaunt, so verwundert
_____________ 486 Schon frühere Textpassagen bereiten die Erkenntnis, dass Willehalm trotz seines Leids ein vorbildlicher Heerführer ist, vor. So gelingt es Willehalm trotz seines tiefen Kummers, die Bewohner von Orange zur Verteidigung der Stadt zu motivieren, während er nach Munleun reitet, um Hilfe zu holen (vgl. W96, 25ff). Und auch die Reden Willehalms zur Motivation seiner Männer vor der zweiten Schlacht erfüllen alle Anforderungen an einen Heerführer, wie sie uns aus zeitgenössischen Fürstenspiegeln überliefert sind (vgl. Bumke 2002: 283ff und die Textstellen W224, 6-225, 7 und W319, 29-320, 30). 487 Damit steht der Text im Gegensatz zum Rolandslied. Wir finden dort eine Szene von zunächst überraschender Parallelität: Auch Karl klagt so sehr um seinen gefallenen Neffen Roland, dass er sich nicht mäßigen kann. Daraufhin erfährt er eine erste Mahnung durch einen Engel (RO7001-7016). Schließlich erfolgt eine zweite Mahnung durch seine Fürsten (RO7574-77) und eine dritte Mahnung durch die bekehrte Heidenkönigin Brechmunda (RO8648-8656). Nach dieser dritten Mahnung mäßigt Karl tatsächlich - im Gegensatz zu Willehalm - sein Klagen: er ne clagete niemer mêre/ alsô grimmiclîchen sêre,/ sô er dâ vor tet (RO8659-8661). Willehalms Beharren auf seiner Klage, das von der Erzählerfigur gestützt wird, deutet somit den aus der chanson de geste und dem Rolandslied bekannten Erwartungshorizont um. 488 Mertens Fleury 2006: 25. Dabei verweist sie auch auf Hahn 1977 und Green 1982.
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
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es doch in der Sache an sich kaum, wenn Willehalm Mitleid mit seiner Frau Gyburc bekundet.489 Auch Mitleid seinen Verwandten gegenüber, wie im Fall des sterbenden Vivianz, ist grundsätzlich zu erwarten.490 Aufmerksam wird man dahingegen, wenn Willehalm Mitleid einem heidnischen Küchenjungen, Rennewart, gegenüber bekundet, indem er sich mitfühlend bezüglich dessen Misshandlungen zeigt (vgl. W190, 22ff) und schließlich sogar fragt: trut geselle min,/ ich w#ne du bist ein Sarrazin./ nu sag mir umb din geslehte/ unt din her komen rehte (W192, 27-30). Hier spricht reines Interesse am Nächsten, denn der Nutzen Rennewarts für Willehalm, der sich später erweisen wird, kann hier von Willehalm noch nicht erkannt werden. Dass ‚untätiges‘ Mitleid alleine nicht ausreicht, demonstriert Willehalm ebenfalls im Gespräch mit Rennewart, beschließt er doch angesichts dessen Schicksals gar, sich seiner anzunehmen und ihm ein besseres Leben zu verschaffen.491 Willehalm wagt sich in dieser Reaktion über die reine Eigengruppe hinaus, obgleich Rennewart sicher in dieser Situation nicht als gefährlicher Feind bezeichnet werden kann. Diese Zwischenstellung Rennewarts macht es möglich, dass Willehalm im Moment der Gefahrlosigkeit sein Mitleid auch über die Christengruppe hinaus zeigt. Mitleidbekundungen dem eigentlichen Feind gegenüber finden sich nur in diesen Momenten der Gefahrlosigkeit, wohingegen im Krieg Erbarmungslosigkeit dominiert (weswegen die Tötung Arofels nur logisch erscheint). Ein weiteres Beispiel für ungewöhnliches Mitleid in Momenten der Gefahrlosigkeit stellt die Rede an den Heidenkönig Matribleiz im Anschluss an die zweite Schlacht nach dem Sieg der Christen dar. Hier entschließt er sich, auch dem ehemaligen Feind gegenüber Barmherzigkeit zu zeigen und diesem und den Seinen das siebte Werk der Barmherzigkeit, nämlich die Bestattung der Toten, zu gestatten.492 Dabei ist es gleichgültig, ob er primär aus verwandtschaftlicher Verbundenheit gegenüber Gyburc
_____________ 489 Vgl. z.B. W122, 6-123, 3/ 149, 5-30/ 166, 1-30. 490 Vgl. z.B. W60, 21-61, 17/ 62, 1-64, 30. 491 In W191, 22f formuliert Willehalm dem König gegenüber den Wunsch, Rennewarts unschönes Leben zu verbessern: ‚waz ob ich, herre, im sin leben/ baz berihte, ob ich mac?’ Später sagt Willehalm Rennewart verbindlich Hilfe und Unterstützung in jeder, auch in materieller Hinsicht, zu: ich bereite dich schone swes du gerst (W194, 8). 492 Willehalm spricht hier voller Ehrerbietung und Mitgefühl zu Matribleiz: ir habt mit werdeclichen siten/ [I]uwer zit gelebt so schone, daz nie houbt under krone/ ob küneges herzen wart erkant,/ den beiden vor uz w#re benant/ so manec hochlicher pris./ ich mac iuch loben in allen wis, […] ich künd iu, wol gelobter man,/ minen willen, des ich bite;/ ich getruwe iu wol, ir sit dermite:/ nemt dirre gevangen liute ein teil […] swaz hie künege lige erslagen,/ daz ir die suochet zu dem wal/ und rehte nennet über al/ beide ir namen und ir lant./ die sol man heben al zehant/ schone von der erden,/ daz si iht ze teile werden/ deheime wolf, deheime raben (W461, 30-462, 19). Bereits Laktanz (ca. 250 – 325 n. Chr.) fügt in seiner ausführlichen Beschreibung der Werke der Barmherzigkeit als siebtes Werk wohl in Anschluß an Tob 1, 20 – die Bestattung der Toten hinzu (vgl. Laktantius, Institutionum epitome 60, CSEL 19, S. 746 und LexMA 1:1473, Artikel: Barmherzigkeit).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
handelt oder aus reiner Menschlichkeit – denn in jedem Fall ist Willehalms Verhalten ungewöhnlich und unerwartet, selbst wenn er die Heiden als seine Verwandten betrachtet. Allein der Grad des Ungewöhnlichen hinge von dieser Entscheidung ab, die jedoch von der Forschung letztlich nicht zu beantworten ist. Auf jeden Fall aber manifestiert hier Willehalm erneut in einer eher unerwarteten Situation tätiges Mitleid, also Barmherzigkeit.493 Da sich diese Textszene nicht in der altfranzösischen Vorlage findet, kann man diese Geste Willehalms, und damit sein über das Erwartete hinaus angewendete Mitleid nicht bedeutsam genug einschätzen. Willehalm demonstriert anhand seiner Reden in der Tat, dass Leiderfahrung und Mitleidsfähigkeit zusammengehören, dass deshalb der eigenen Leiderfahrung nicht abzuschwören ist, sondern diese vielmehr als der Mitleidsfähigkeit ebenbürtiger Wert verstanden werden muss. Nach Willehalm formuliert Gyburc den zweitgrößten Anteil an christlichen Figurenreden. Auch hier stehen Bekundungen ihres Leides an erster Stelle der Redeinhalte. Ihr Leid erscheint insofern besonders tragisch, als sie Schmerz sowohl wegen der vielen getöteten Christen als auch wegen der vielen getöteten Heiden, die ja für sie auch Familienmitglieder sind, empfindet.494 Wenn sich dieses Leid in Verzweiflung und Todessehnsucht steigert, dann deswegen, weil sie sich selbst als Ursache für das Leid von Christen und Heiden erkennt, weil sie sich selbst als Geißel der Schöpfung betrachtet: ich schur siner hantgetat,/ der bede machet und hat,/ den kristen und den heiden!/ ach waz vlust in beiden/ an mir wuohs, bede in und uns! (W253,9-13). In dieser tragischen Situation liegt das Besondere ihres Leidens: Gyburcs Konflikt offenbart exemplarisch das einerseits Unvermeidliche und andererseits Bedauernswerte dieser Kriege. Aufgrund ihrer Sippenzugehörigkeit zu beiden Kampfparteien kann auch Gyburcs Leid als aus der Sicht des Rezipienten moralisch legitimierbar gelten, denn sie manifestiert triuwe zu beiden Familien, zweifelt nie am christlichen Gott und darüber hinaus darf sie als Frau – ohne politische Verantwortung – durchaus Schwäche zeigen.
_____________ 493 Auch W. Schröder bestätigt, dass die Begnadigung der Verwandten eine unerwartete und besondere Tat darstellt, ist doch „schon das eine Anerkennung der grösseren Höhe des allgemein Menschlichen gegenüber dem Konfessionellen, daß nicht durch den Glaubenswechsel alle diese Bande zerrissen erscheinen wie in den französischen Epen“ (W. Schröder 1962: 274). 494 Um getötete Christen, darunter vor allem um Vivianz und Myle, die, wie bereits mehrfach betont wurde, oft stellvertretend für alle getöteten Christen stehen, klagt Gyburc in den Redepassagen W100, 28-102, 20/ 253, 6-259, 12/ 252, 30-253, 5. Gerade in den Redepassagen vor der zweiten Schlacht beklagt Gyburc auch die verwandten Heiden (vgl. die indirekt wiedergegebene Rede W252, 30-253, 5 und W253, 6-259, 12) und fördert so Rezipientenmitleid auch für die Heidengruppe.
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
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Auch in ihrem Mitleid setzt Gyburc ganz eigene Akzente. Dabei wollen wir ihre vieldiskutierte Rede (W306, 4-310,29), die sie vor der zweiten Schlacht an die Verantwortlichen der Heere richtet und deren Tragweite bis heute in der Forschung umstritten bleibt, in diesem Abschnitt der Mitleidlenkung besprechen – denn Gyburcs Rede erweist sich bei genauem Hinsehen als Mitleidsrede. Es fällt zunächst auf, dass Gyburc den christlichen Gott primär als einen barmherzigen versteht, der selbst stets Barmherzigkeit zeigt und diese darüber hinaus als Grundelement des christlichen Glaubens festlegt.495 Ihr Glaube verlangt zweierlei, und genau diese zwei Dinge, die für sie bedeuten, Ehre auf christliche Weise zu mehren (daz ir kristenlich ere meret; W306, 19), fordert sie von den Fürsten zu Beginn ihrer Rede. Zum einen verlangt sie den tapferen Glaubens- und Rachekrieg gegen die Heiden. 496 Zum anderen verlangt sie, die Heiden nach einem eventuellen Sieg zu schonen: und ob der heiden schumpfentiur erge;/ so tuot daz s#lekeit wol ste:/ hAret eines tumben wibes rat,/ schonet der gotes hantgetat (W306,27f).497 Wichtig für die Einschätzung Gyburcs durch den mittelalterlichen Rezipienten ist hierbei, dass sich Gyburc in keinem Fall gegen den Glaubenskrieg als solchen ausspricht, „vielmehr wird der Sieg der Christen vorausgesetzt, um das von Gyburc eingeforderte Erbarmungshandeln als übergreifendes Lösungsmuster üben zu können.“498 Priorität hat das Mitleid mit den bedrohten Christen und dem bedrohten Christentum, also letztendlich der Dienst an Gott. Damit entspricht sie allen bisher bearbeiteten Textstimmen; der Rezipient wird dadurch nicht überrascht. Das von allen Textstimmen formulierte Gebot des Erbarmens steht nicht im Widerspruch zum Glaubenskrieg.
_____________
495 Diese Akzentsetzung Gyburcs zeigt sich nicht erst in ihrer Rede vor der zweiten Schlacht, sondern zieht sich durch den gesamten Text. So vertraut sie stets auch für Willehalm und sich selbst auf die Barmherzigkeit Gottes: ich geloub, Altissimus,/ daz du got der hAhiste bist/ vil st#te an allen valschen list,/ Unt daz din wariu Trinitat/ vil tugenthafter bermede hat./ sit daz wir nu zerbarmen sin,/ ich und der geselle min (W100, 28-101, 4). In ihrer Rede ist Gott für Gyburc primär ein barmherziger Gott, der nicht müde wird, dem Menschen seine erbarmungsvolle Hand zu reichen: sin erbarmede richiu minne/ elliu wunder gar besliuzet,/ des triuwe niht verdriuzet,/ sine trage die helfecliche hant (W309, 12-15). 496 daz ir mit strite uf Alischanz/ rechet den jungen Vivianz/ an minen magen und an ir her (W306, 21ff). 497 Die Übersetzung des Verses so tuot daz s#lekeit wol ste lässt verschiedene korrekte Übersetzungen zu, die leichte Sinnverschiebungen zur Folge haben. Ich favorisiere dabei eine Übersetzung, die sich an die vorausgehende Aufforderung Gyburcs, auf christliche Weise Ehre zu mehren, im Sinne von: „dann handelt so, dass sichtbar wird, dass ihr als Christen in der Gnade Gottes steht.“ Diese Übersetzung wird auch von Bertau 1972: 1152, Mohr 1979: 325 und Haug 1985: 188 gestützt. Dass Gyburc sich keinesfalls als tumb im Sinne von ‚unerfahren‘ oder ‚einfältig‘ bezeichnet, sondern vielmehr auf ihre mangelnde theologische Bildung, die sie sicher nicht hat, hinweist, hat spätestens Heinzle 1991: 1023 hinreichend begründet. 498 Kleppel 1996: 153.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
Auch in der Bezeichnung der Heiden als Schöpfung Gottes, als hantgetat, liegt zunächst nichts Ungewöhnliches, denn die Gottesgeschöpflichkeit wird Heiden aus christlicher Sicht nie abgesprochen. In der Folge scheint Gyburc die zeitgenössische Diskussion aufzugreifen, auf die sich dann auch der Erzähler im bereits besprochenen Kommentar W450, 15-18 zu beziehen scheint, nämlich auf die Frage, ob Ungläubigkeit aus Unkenntnis des Christentums Sünde sei.499 Genauso wie der Erzähler später im Text arbeitet Gyburc auf eine Verneinung hin: Sie führt die zu Heiligen erhobenen Heiden des Alten Testaments (Elias, Noah, Kaspar, Melchior, Balthasar etc.; vgl. W307, 1-14) und die ungetauften Kinder auch von christlichen Familien (vgl. W307, 14-25) als Bezugspunkte an. Die erste Gruppe zeichnet aus, dass sie zur Gruppe der vorchristlichen Heiden gehören, die auch ohne christliche Lehre und Taufe das Gesetz Gottes im Herzen trugen.500 Die zweite Gruppe der Kinder zeichnet aus, dass sie, ebenfalls ohne Kenntnis der christlichen Lehre und Taufe leben, dass ihnen jedoch vorherbestimmt sein kann, mittels der Taufe die Vergebung der Sünden zu erlangen oder, im Fall eines Todes vor der Taufe, durch ein Gnadenwunder Gottes doch Erlösung zu finden.501 Der Mensch kann prinzipiell auf eine Erlösung Gottes hoffen, wie Gyburcs Vergleich der Menschen mit dem gefallenen Engelschor zeigt, denn der Mensch wurde allein durch bösen Rat verführt, während den Engel seine eigene Arglist gegen Gott auflehnen ließ.502 Deswegen können alle Menschen, auch die Heiden, auf die Gnade Gottes hoffen: die heiden hin zer vlust/ sint alle niht benennet (W307, 14f). Und wenig später lesen wir: er mac sich erbarmen über sie,/ der rehte erbarmekeit truoc ie (W307,29f). Schließlich vergab der sterbende Jesus am Kreuz seinen ärgsten Feinden. Und genau diesem Beispiel
_____________ 499 Vgl. Heinzle 1991: 1086f und Knapp 1983: 607. Im bereits in E2 besprochenen Erzählerkommentar W450, 12-20 bezeichnete es der Erzähler als Sünde, diejenigen wie Vieh zu erschlagen, die nie toufes künde/ enpfingen, die also nichts von der christlichen Erlösungslehre wissen. Knapp sieht diese Verse geradezu als Definition des Heidentums im Gegensatz zum Ketzertum (vgl. Knapp 1983: 607). 500 In der mittelalterlichen Theologie und Literatur werden die vorchristlichen Heiden strikt von den zeitgenössischen Heiden unterschieden. Während erstere Christi Lehre nicht kannten, sperren sich letztere bewusst gegen die christliche Missionierung. Die vorchristlichen Heiden haben nach Röm 2, 14f das in die Herzen geschriebene Gesetz (vgl. LexMA 4, 2001-2013; Artikel: Heiden/Heidentum). 501 In Bezug auf die ungetauften Kinder verweist Bumke auf eine Lehrmeinung, derzufolge die christliche Mutter dem Kind Gnade vermittle (vgl. Bumke 1959: 166). Doch Gyburc spricht, wie Heinzle treffend bemerkt, nirgendwo vom Tod der Kinder, sondern nur davon, dass alle Kinder, auch in einem getauften Mutterleib, Heiden seien (vgl. Heinzle 1991: 1025). 502 W308, 1 bis 308, 30 formuliert die im Mittelalter wohl gängige Geschichte des 10. Engelschores, dessen Verwaisung durch den Sturz Luzifers und seiner Gesellen Gott zur Erschaffung des Menschen veranlasste. Vgl. hierzu z.B. Ruh 1980: 182.
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
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sollen die Krieger laut Gyburc nach dem Sieg folgen. Sie sollen den Heiden verzeihen und Barmherzigkeit zeigen; um dem göttlichen Gebot der Barmherzigkeit zu folgen.503 Es gibt aus dieser Perspektive viele Gründe, die Heiden nach einem Sieg nicht im Sinne einer Vernichtung der Gottesfeinde zu töten: Es mag unter ihnen Heiden geben, die auch ohne Taufe dem christlichen Gott gefällig handeln (man denke an Rennewart), es mag Heiden geben, die zu einer späteren Glaubensumkehr bestimmt sind. Somit haben viele von ihnen bisher eventuell einfach die christliche Lehre noch nicht ausführlich genug vernommen.504 Und das schwerste Argument liegt im Verzeihen nach göttlichem Vorbild. Weiter bleibt zu diskutieren, ob Gyburc den Heiden über die Verse dem s#ldehaften tuot vil we,/ ob von dem vater siniu kint/ hin zer vlust benennet sint (W307, 26ff) eine den Christen ebenbürtige Gotteskindschaft zuspricht. Zwar sind mit dem vater siniu kint mit großer Wahrscheinlichkeit die ‚Kinder von Gott dem Vater‘ im Sinne aller ungetauften Menschen gemeint.505 Doch muss man deshalb nicht, wie Heinzle es tut, automatisch die Unterscheidung zwischen Christen und Nicht-Christen aufgeben.506 Denn die folgenden Worte er mac - also kann - sich erbarmen über sie, machen deutlich, dass ihr Status nicht dem der getauften Christen gleichkommt, denen Gottes Erbarmen doch in verbindlicherem Maße zugesagt wird. Außerdem erscheint dies auch angesichts des im gesamten Werk und auch von Gyburc betonten Wertes der Taufe mehr als unwahrscheinlich.507 Vor dem
_____________ 503 Vgl. W309, 1-6: Swaz iu die heiden hant getan,/ ir sult si doch geniezen lan/ daz got selbe uf die verkos/ von den er den lip verlos./ ob iu got sigenunft dort git,/ lats iu erbarmen ime strit. 504 Dass die Unwissenheit zumindest mancher Heiden bezüglich des christlichen Glaubens betont werden soll, erscheint insofern logisch, als auch der mehrfach zitierte Erzählerkommentar in W450, 15-18 das Abschlachten wie Vieh derjenigen Heiden thematisiert, die nie toufes künde (W450, 15) erreichte, die also die christliche Lehre nicht genau kennen (diese Parallele sehen u.a. auch Kartschoke 1968: 301, Ochs 1968: 25ff und Lofmark 1989: 410). Wie wenig Gyburcs heidnische Familie beispielsweise über den christlichen Glauben weiß, wird an Gyburcs Gesprächen mit ihrem Vater Terramer offenbar. Er kennt die gängigen Vorwürfe und Bedenken dem christlichen Glauben gegenüber, nicht aber ausreichend die Antworten, die ihn vom Gegenteil überzeugen könnten (vgl. W215, 10-217, 8/ 218, 1-30 und W219, 23-221, 26). Dabei ist immer eine Hoffnung auf eine Änderung dieses Zustandes mitzudenken. 505 Heinzle sieht in siniu kint die Menschen im Allgemeinen, also Christen und Heiden. Andere Lesarten bezeichnet er entsprechend als „zwar theoretisch möglich“, doch wenig überzeugend (vgl. Heinzle 1991: 1025). 506 Vgl. Heinzle 1991: 1025. 507 Entsprechend betont Fasbender 1997: 27 die Bedeutung der Taufe im gesamten Werk, z.B. im Prolog, die erst die Gotteskindschaft im eigentlichen Sinne bewirkt. Die erscheint in Anlehnung an Mc 16, 16 Taufe als conditio sine qua non für Gotteskindschaft: Wer zum Glauben kommt und sich taufen lässt, wird gerettet werden; wer aber nicht glaubt, wird gerichtet werden“ (Mc 16, 16). Lofmark weist zudem darauf hin, dass auch im Parzival, wo Wolfram damit spielt, dass die Tränen der durchwegs positiv dargestellten Heiden Belaka-
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
Hintergrund des Gesamttextes liegt die Interpretation W. J. Schröders nahe, nach der zwei Arten von Gotteskindschaften zu unterscheiden sind: Schröder setzt der übernatürlichen Gotteskindschaft (durch die Taufe begründet) die natürliche Gotteskindschaft (durch die Schöpfung Gottes; noch vor dem Sündenfall) entgegen.508 Gyburcs Rede wendet sich damit gegen die weit verbreitete ursprüngliche radikale Kreuzzugsideologie, wie sie Bernhard von Clairvaux beispielsweise noch vertrat, die die Gottesfeinde radikal vernichten oder zwangsbekehren wollte. Kulturhistorisch ist dabei vielfach belegt, dass sich im 12. und 13. Jahrhundert über Kontakt und Auseinandersetzung mit den Heiden ein neuer Umgang ergab, dass die Heiden als auf dem Weg zur Erkenntnis begriffen wurden.509 Vor diesem Hintergrund ist Gyburcs Rede weder radikal noch ketzerisch. Sie definiert lediglich, und dies ist um 1220 mehr als legitim, Mitleid und Barmherzigkeit als zentrale Punkte des Glaubens und fordert deren Anwendung auch auf die besiegten und damit gefahrlosen Heiden.510 Im Text erreicht den Rezipienten
_____________ ne (vgl. P471, 23), Razalic (vgl. P798, 6-22) und Feirefiz (vgl. P752, 24ff) zwar an eine Taufe erinnern können, dass sie aber in keinem Fall das Sakrament der Taufe ersetzen können. Denn schließlich muss Feirefiz dann nochmal wirklich getauft werden. Die poetische Taufe allein reicht demnach nicht aus (vgl. Lofmark 1989: 400). 508 Voraussetzung für das Heil ist jedoch die übernatürliche Gotteskindschaft der Christen (vgl. Schröder 1975: 407). „Diese Gedanken entsprechen völlig der kirchlichen Meinung: die Gotteskindschaft ist ein dem Menschen geschenktes, neues übernatürliches Sein, das ihn zum Kind Gottes macht. Sie ist eine formale Wirkung der heiligmachenden Gnade, die dem Menschen in der Taufe verliehen wird. […] Die Taufe beseitigt die Erbsünde und vermittelt den Stand der Gnade, sie ist die notwendige Voraussetzung zur Erlangung des Heils“ (Schröder 1975: 405). 509 Vgl. Mayer 2000: 202f. Die Muslime sind so zwar ‚Feinde des Kreuzes‘ (Phil 3, 18), doch sehen sich die lateinischen Philosophen und Theologen gezwungen, sich mit deren philosophischer Gotteslehre auseinanderzusetzen, die in wichtigen theologischen Fragen (der Schöpfung, Vorsehung und Freiheit) im Gegensatz zur christlichen Theologie und Kirche steht. Im Zuge dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung in Rahmen eines 'Kriegs der Worte' ist auch der von Abaelard um 1140 verfasste Dialogus inter Philosophum, Judaeum et Christianum, in dem der philosophus Heide und Muslim ist, zu nennen. 510 Die Konzepte von Mitleid und Barmherzigkeit erfahren über die seit dem 11. Jahrhundert entstehenden Reformorden eine kontinuierliche Aufwertung. Dabei bilden die mystischen Theologien, wie beispielsweise die Bernhards von Clairvaux, die dem Gottesbild menschliche Züge verleihen und damit eine persönliche Begegnung des Gläubigen mit Gott ermöglichen, die Grundlage. Im 12. Jahrhundert kann die Nachfolge Christi schließlich als die dominierende religiöse Lebensform bei frommen Laien, bei dem regulierten Klerus und bei den Mönchen betrachtet werden (vgl. Hehl 1999: 49). Im 13. Jahrhundert sehen sich Mitleid und Barmherzigkeit im Zuge der franziskanischen Christus- und Passionsmystik weiter aufgewertet. Die biblisch-christliche Tradition sieht das Mitleid des Menschen in dessen Gottesebenbildlichkeit begründet. Leiden Anderer soll Mitleid wecken: So wie den Heiland die Mühseligen und Beladenen, Kranken und Sünder jammern, so soll sich jeder seines Nächsten annehmen und dessen leibliche wie geistige Not in tätiger Liebe abzuhelfen suchen. Kraß stellt so in seinen Untersuchungen zu mittelalterlichen Mariensequenzen für
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
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kein Zeichen, dass die ausgesprochenen Inhalte in irgendeiner Weise unerhört sein könnten (niemand kommentiert ihre Rede) – und die Abwendung von der ersten Kreuzzugsbegeisterung scheint um 1220 nicht mehr als Auflehnung gegen die Kirche. Aufgrund ihrer Rolle als ‚Zwischenfigur‘ erscheint die Rede maßgeschneidert. Ihre Rede ist keine Toleranzrede bezüglich des heidnischen Glaubens, sie ist auch keine Schonungsrede im Sinne einer allgemeinen Schonung der Heiden. Gyburcs Rede ist eine christliche Mitleidsrede wie sie aufrichtiger kaum konstruiert sein könnte. Die Figuren im Text fordert sie zu Barmherzigkeit, also tätigem Mitleid den Heiden gegenüber auf. Den Rezipienten führt sie in die Richtung eines Mitleides mit den unwissenden und eventuell zur Verdammung bestimmten Heiden. Die leidthematisierenden Figurenreden der übrigen Christen sollen im Folgenden synthetisiert dargestellt werden, da sie weitreichende Übereinstimmungen aufweisen. Auch diese Reden der übrigen Christen fördern beim Rezipienten moralisch legitimiertes Mitleid, denn sie führen Leid auf aufrichtige triuwe zu Gefallenen und zu lebenden, leidenden Verwandten zurück. Die christliche Familie trifft der Tod der Verwandten und Vasallen ebenso wie Willehalm. Entsprechend äußern sie diesen Schmerz in vielen Reden, die die Gefallenen beklagen.511 Darüber hinaus finden sich zahlreiche Reden, die ein Teilen von Willehalms und Gyburcs Leid jenseits von eigenem Rachestreben ausdrücken. So beteuern die Familienmitglieder immer wieder unaufgefordert Mitleid und leiten daraus die helfende Tat in Form von militärischer Unterstützung ab. Willehalms Vater Heimrich bekundet: dinen kumber wil ich leiden (W150, 3). Und Bernart formuliert entsprechend, dass auch er den Schmerz des Bruders teilt und ihm mit helfender Hand beistehen wird: ob ich helfecliche hant/ mit gabe oder in
_____________ das 12. Jahrhundert eine Innovation des Marienbildes im Sinne eines Frömmigkeitskonzeptes „jenseits dogmatisch-traditioneller Mariologie, ein Konzept identifikatorischer Compassio-Frömmigkeit, die den christlichen Heilsweg in der menschlichen Dimension des Leidens und Mitleidens ansetzt“ fest (Kraß 1994: 101). Vor allem im 13. Jahrhundert wird der bisherige Ablauf der Auseinandersetzung mit Andersgläubigen deutlich kritisiert, denn das kriegerische Vorgehen sieht sich unvereinbar mit der Forderung allumfassender Nächstenliebe. Schließlich fordert das Neue Testament Nächstenliebe auch Feinden und Heiden gegenüber (vgl. Bergpredigt, 1. Korintherbrief 13, 7). Besonders Franziskus von Assisi bezieht dabei Stellung, indem er die friedliche Lösung aller Konflikte predigt und entsprechend 1211 bzw. 1213/1214 (leider vergeblich) versucht, die Muslime in Syrien und Marokko von der Wahrheit des christlichen Glaubens zu überzeugen. Auf einen eventuellen Einfluss franziskanischer Theologie auf den Willehalm weist unter anderen Kiening hin, der auch feststellt, dass Wolfram in W406, 29ff auf das dreibalkige Kreuz Christi als Zeichen auf den Rücken der Krieger besteht. Dieses dreibalkige Tau-Zeichen wurde zum zentralen Signum der Franziskaner erhoben (vgl. Kiening 1991: 183; Kiening verweist dabei auf Ratzinger 1959: 35f). 511 Vgl. dazu beispielsweise die Klage Buoves über die unzähligen Toten (vgl. W171, 10-14) und die Klage der Königin um die Verwandten (vgl. W164, 14-19).
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strite/ ie truoc zeheiner zite,/ die han ich noch (es wirt nu not)/ und wil si vüeren in sin gebot,/ mines bruoder der uns truric ist komen:/ ich han die vlust mit im genomen (W170, 24-30). Die auffällige Wiederholung dieser Redeinhalte, die dadurch entsteht, dass am Königshof in Munleun fast alle Familienmitglieder nacheinander ähnliche Inhalte ausdrücken, weist erneut auf die Bedeutung dieser Zusagen von Mitgefühl mit Willehalm und Gyburc und der entsprechenden Hilfeleistung hin. 512 Rennewart: Zwischen Christen und Heiden steht Rennewart. Obwohl er primär als burleske und komische Figur hervortritt, fördern seine Figurenreden auch Mitleid, welches sich vor allem aus der aufgedeckten ungerechten Behandlung durch den französischen König, an dessen Hof er lebt, ergibt. Gerade in den Leidbekundungen zeigt sich, dass Rennewart nach mittelalterlichem Verständnis innerlich fern von bäuerlichem Wesen ist. Er beweist, dass er – trotz der Mängel, die er in Bezug auf höfische Erziehung aufweist – seine Situation als leidvoll und traurig empfindet und gewährt zum Teil erschütternde Einsichten über seine Situation. Obwohl König Louis von seiner königlichen Abkunft weiß, lässt er ihn als Küchenjunge in sm#hlich arbeit (W193,15) groß werden. Er empfindet schame (W193, 24), die als Beweis für sein edles Inneres betrachtet werden kann.513 Walter Haug fasst die von Rennewart formulierten Inhalte treffend zusammen: „Er wächst in der höfischen Gesellschaft unhöfisch auf. Er ist sich deshalb seiner Erniedrigung schmerzlich bewußt, und schämt sich seines Zustands.“514 Heiden: Auf Heidenseite tritt Gyburcs Vater Terramer als einziger großer Sprecher auf. Auch aus seinen Reden geht hervor, dass er leidet, wenngleich dieses Leid als logische Folge der oben aufgezeigten quantitativen Benachteiligung an Redeversen relativ in den Hintergrund tritt. Terramers
_____________ 512 Ernalt, Willehalms Bruder, sagt als erster Gyburc sofort Hilfe zu, als er über Willehalm von der Niederlage in der ersten Schlacht hört: waz wirret Gyburge der süezen?/ mac min helfe daz gebüezen?/ daz hat si wol verschuldet her (W120, 3ff). Am Hof in Munleun fordert Willehalms Mutter Irmenschart die Männer entschlossen auf, Willehalm zu helfen. Dabei macht sie die Ehre der Sippe von dieser Hilfsaktion abhängig: und helfet dem der zuns ist komen,/ des vlust wir alle han vernomen./ […] ob sin künne ir pris wil tuon,/ so wirt Willalm min sun/ ergetzet swaz im wirret (W152, 19-25). 513 Für Haferland spielt die Scham im höfischen Wertesystem als Komplement zur Ehre eine ausgezeichnete Rolle. „Wer sich schämen kann, der gewinnt Ehre, und obwohl es scheinen könnte, als sei er nur auf diese aus, sorgt doch die Scham dafür, dass sie ihn nicht korrumpiert. Ja, die Scham wird – sowenig sie schon Tugend ist – von keiner Tugend übertroffen und garantiert schließlich das Heil.“ (Haferland 1989: 241). Dabei bezieht er sich unter anderem auf den Parzival, in dem Wolfram schreibt: scham gît prîs ze lône/ und ist doch der sêle krône (P319, 9-10). 514 Haug 1975: 221.
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Leid entsteht aus zwei Gründen: Zum einen leidet natürlich auch dieser große Heerführer aufgrund der vielen gefallenen Heiden in den beiden Schlachten.515 Zum anderen aber, und dieses Leid wird noch stärker betont, belastet ihn das tragische Verhältnis zu seiner Tochter Gyburc, deren Glaubensübertritt ihn dazu treibt, Krieg gegen sie zu führen. Er vergleicht sein Schicksal mit dem des biblischen David, der gegen sein Kind Absalon kämpfen muss und dessen Sieg hauptsächlich schmerzhaft bleibt: der schaden ich nu schaffe./ uz mines herzen saffe/ ist doch ir liehter blic erblüet. […] Davit sm#hen sig erkos,/ do Absalon den lip verlos:/ do w#re er gerne vür in tot./ nu ist künftec mir diu selbe not (W355,9ff bzw. 15-18). Der Krieg gegen die eigene Tochter ist Terramer keineswegs gleichgültig. Entsprechend schlagen seine harten Worte gegenüber Gyburc gelegentlich in trauriges Flehen um, das ihn dem Rezipienten in seiner Verletzlichkeit zeigt.516 Das Leid eines um seine Tochter kämpfenden Vaters wäre auch aus mittelalterlicher Sicht als moralisch legitimierbar zu begreifen. Allerdings ist Terramers Leid um seine Tochter immer auch aus der Überzeugung genährt, dass er gegen das Christentum und Gyburcs christlichen Glauben kämpfen muss, wie sich am folgenden Zitat zeigt: ach ich vreuden arm man,/ daz ich sölh kint ie gewan’,[…] daz also hertecliche/ an siner s#lde kann verzagen/ unt sich den goten wil entsagen! (W217,9-14). Damit wird uneingeschränkt moralisch nachvollzogenes Mitleid des Rezipienten mit dem leidenden Heidenkönig sehr unwahrscheinlich. Terramer befindet sich aus mittelalterlich-christlicher Sicht klar auf dem falschen Weg. Man versteht ihn (Empathie), ohne jedoch mehr als affektives Mitleid empfinden zu können. 3.1.3 Sympathie Die Frage nach dem Sympathiepotential der Figurenreden verlangt nun eine Beleuchtung der übrigen, über Leid hinausgehenden Redeinhalte. Denn nur die Figuren, welche aus Rezipientensicht positiv zu bewertende Einblicke in ihr inneres Erleben präsentieren, können Sympathiegefühle des Rezipienten hervorrufen. Dabei zeichnen sich große, vom Text strategisch eingesetzte Redeinhalte ab, die Figuren immer wieder formulieren und die deutlich sympathieförderndes bzw. sympathiehemmendes Wirkungspotential aufweisen.
_____________ 515 da von enpfienc ich herzenleit./ al miner gote heilekeit/ solte erbarmen und guotiu wip,/ daz ich so manegen werden lip/ uz mime geslehte alhie verlos (W354, 10-13). 516 So präsentiert er sich in W217 im Gespräch mit seiner Tochter ganz als leidender Vater, der um das Wohl seiner Tochter kämpft und der sie vom – aus seiner Sicht falschen christlichen Glauben – abbringen will: ei süeziu Gyburc, tuo so niht./ swaz dir ie geschach oder noch geschiht/ von mir, daz ist min selbes not:/ ja gieng ich vür dich in den tot (W217, 15-18).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
Christen: Beim Hauptsprecher der Christen, Willehalm, machen die Beteuerungen seines christlichen Glaubens den ersten und größten deutlich sympathiefördernden Redeinhalt aus. Immer wieder bringt Willehalm seine christliche Überzeugung sowohl feststellend als auch in Form von Gebeten und Anrufen Gottes zum Ausdruck, begründet die Heilssicherheit der christlichen Kämpfer durch die Erlösungslehre Jesu und entspricht so der Bibelexegese seiner Zeit.517 Zudem zeigt er sich als idealer Christ demütig vor Gott, bezeichnet sich als armer tumber (W39,30) und akzeptiert Gottes Ratschlüsse bedingungslos, selbst wenn es sich bei allem Leid um die tragische Folge seiner aufrichtigen Liebe handelt: ‚got hat ze gebene/ vreud und angest swem er wil:/ er mac mir lacheb#riu zil/ wol stozen nach dem weinen,/ wil mich sin güete meinen (W259, 26-30). Selbst in den verzweifeltsten Situationen, z.B. als er Gyburc allein in Orange zurücklassen muss und nicht weiß, ob er sie jemals wiedersehen wird, vertraut er auf Gottes Hilfe: Got ist helfe wol geslaht:/ der hat mich dicke uz angest braht (W103, 1f). Einmal mehr wird hier deutlich, dass sein Leid insofern nicht negativ zu bewerten ist, als es niemals in eine Verzweiflung an Gott, niemals in einen Parzivalschen zwîvel, zu kippen droht. Willehalm fühlt sich konstant im christlichen Heilsplan sicher aufgehoben. Zumindest teilweise auch aus diesem Glauben leitet sich ein weiterer, von Willehalm häufig formulierter Redeinhalt ab, nämlich Forderungen von Mitleid, vor allem in seiner helfenden Form der barmherzigen Tat, die wir als misericordia bezeichnen. Willehalm bekundet dabei, dass diese misericordia einen ihm wichtigen Wert darstellt, was dem Rezipienten durchaus sympathisch sein dürfte. Seinem Vater gegenüber beschreibt er die religiöse Bedeutung der Hilfstat, von der sich Willehalm zutiefst überzeugt zeigt. Mitleid und helfende Tat erscheinen in Willehalms Augen als notwendige Nachahmung des göttlichen Vorbildes, als eigentliches Anliegen von Leben und Tod Jesu: nu hilf mir durh die staeten kraft/ der dritten geselleschaft./ ich meine daz der vater bat/ den sun an sin selbes stat:/ des was der geist ir beder wer./ durh die dri namen ich ger/ daz du dine tugent bekennest/ und dir mich ze kinde nennest./ so stet din helfe ane wanc/ mit troste miner vreude kranc (W149, 19-28).518
_____________ 517 Vgl. dazu beispielsweise die Rede Willehalms vor der ersten Schlacht an seine Kampfgenossen in W17, 11-18. Hier bekennt er sich zu seinem Glauben und ruft zur Verteidigung des Christentums auf. Das Kreuz steht für ihn als Zeichen der Erlösung: Wan sit sich kriuzes wis erbot,/ Jesus von Nazareth, din tot,/ da von hant vlühteclichen ker/ die bAsen geiste immer mer (W17, 12ff). 518 Entsprechend fordert Willehalm auch von seiner Schwester, der Königin, nicht nur im Namen weltlicher triuwe, sondern auch im Namen Gottes Unterstützung: welt ir nach sime lone/ mit deheime dienste ringen,/ ir sult die triuwe bringen/ vür in ame urteillichen tage,/ daz ir nach den sit in klage,/ die waren und iu verhsippe sint,/ iuwer bruoder und iuwer swester kint (W166, 4-10). Dafür, dass Mitleid die richtige Reaktion darstellt, können die zahlreichen Dankreden Wille-
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
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Der Glaube Willehalms ist damit wesentlich geprägt vom Vertrauen in Gott, welches sich im zwischenmenschlichen Bereich in der Barmherzigkeit zeigen muss. Diese Worte ebenso wie die oben bereits besprochenen mitleidzeigenden Redeinhalte dürfen als in Bezug auf den mittelalterlichen Rezipienten sympathieauslösend verstanden werden. Wenngleich Willehalm in vielen Bereichen exemplarisch erscheint, zeigen seine Figurenreden doch auch deutlich, dass er als Figur nicht immer unproblematisch bleibt. Denn beachtliche Redepassagen widmen sich Legitimierungen des eigenen Handelns, die uns wohl, ähnlich wie die problematisierenden Erzählerkommentare in E2, indizieren, dass auch das mittelalterliche Publikum Orientierungen in der Bewertung benötigte. Die hohe Konzentration an Legitimationen weist auf fünf ,Problembereiche‘ im Verhalten Willehalms hin, die im Vorfeld bereits auftauchten und die auf dieser Ebene nun eine letzte Kommentierung durch die Figur selbst erfahren: 1) Die Tötung Arofels verstößt im Grunde gegen die ritterliche Vorschrift, von dem im Kampf Unterlegenen Sicherheit zu nehmen und damit gegen Willehalms selbst auferlegtes, eben beschriebenes Gebot von Mitleid und Barmherzigkeit. Konnte anhand der dargestellten Fakten auf E1 und mangels Erzählerkommentare auf E2 noch keine sichere Einschätzung dieses Verhaltens erfolgen, so soll hier die im Vorfeld lediglich der Vollständigkeit halber erwähnte Psychonarratio, welche die Begründung für Willehalms Verhalten liefert, näher beleuchtet werden: Als Willehalm dem schwer verletzten Arofel gegenübersteht, denkt er an Vivianz. Dieser Gedanke führt den Wunsch nach Rache herbei, der ihn schließlich Arofel töten lässt: do der marcrave siniu wort/ vernam, daz er so grozen hort/ vür sin verschert leben bot,/ er dahte an Vivianzes tot,/ wie der gerochen würde,/ unz daz sin jamers bürde/ ein teil gesenftet w#re (W79, 25-80, 1). Es geht ihm also um die Rache an Vivianz und die daraus entstehende Linderung seines eigenen Leides, wie auch in einer offenen, diesmal direkten Rede an Terramer deutlich wird: du garnest al min herzeser,/ und daz din bruoder Terramer/ mine besten mage ertAtet hat,/ und daz din helfeclicher rat/ da bi so volleclichen was (W80, 17-21). Persönliches Leid und Rache für die Eigenen sehen sich als Tötungsmotivation bestätigt. Darüber hinaus weist Willehalm Arofel direkte Mittäterschaft an den Verlusten der Christen zu. Durch diesen Verweis der Mittäterschaft Arofels am Tod Vivianz’ (der wiederum, wie in E1 gezeigt wurde, stellvertretend für die toten Christen steht), erhalten wir einen weiteren Hinweis für die Einschätzung dieses Tötungsakts, denn
_____________ halms als Beweise stehen, z.B. gegenüber Rennewart (vgl. W194, 25ff/ 330, 28-331, 12), den Bürgern Oranges (vgl. W231, 4-9/ 231, 10-18), seinem Heer (vgl. W210, 6f / 234, 14-22/ 245, 24-30), den zurückkehrenden flüchtigen Franzosen (vgl. W331, 24-29/ 333, 1-8), Wimar (vgl. W131, 8-11/ 175, 26-29) und gegenüber Irmenschart (vgl. W161, 11-22).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
damit tritt der im Parzival von Wolfram bereits beschriebene Sonderfall in der Forderung nach Erbarmen im Kampf ein. Im Parzival formuliert der Ritter Gurnemanz seinem jungen Schüler Parzival gegenüber: lât derbärme bî der vrävel sîn./ sus tuot mir râtes volge schîn./ an swem ir strîtes sicherheit/ bezalt, ern hab iu sölhiu leit/ getân diu herzen kumber wesn,/ die nemt, und lâzet in genesn (P171,25-30). Die Ausnahme von der Forderung nach Barmherzigkeit liegt im Sonderfall, dass der Unterlegene dem Sieger im Vorfeld übergroßes Leid zugefügt hat – und dies trifft im Willehalm zu, wodurch sich Willehalms Verhalten legitimiert sieht.519 Dieses Ergebnis wird durch die in E1 aufgezeigten intertextuellen Bezüge gestützt, die, in Bezug auf Ernstkämpfe im Gegensatz zu Turnierkämpfen, Rache als legitimen Tötungsgrund darstellen.520 Auch die Erzählerkommentare auf E2 verurteilen die Rache keineswegs, sondern unterstützen vielmehr die, die sie als Kampfmotivation wählen, wenn es um die triuwe gefallenen Freunden gegenüber geht. Entsprechend scheint es nicht verwunderlich, dass Willehalm in seiner großen Rückblicksrede521 die Tötung Arofels als wohlreflektierte und keineswegs, wie man ihm vorwerfen könnte, affektische Handlung beschreibt und hier erneut zur Rache als Motivation steht: al anders mir ze muote was: sines sterbens mich baz luste,/ want ich smorgens kuste/ Vivianzen dicke also tot (W203,26-29).522 Dabei drückt er sogar Zufriedenheit und eine gewisse Genugtuung über die Tat aus: swaz mir nu tuot Terramer,/ ich han im doch daz herzeser/ an dem werden künige also gesant,/ da von im jamer wirt bekannt (W204, 15-18). Und wenig später spricht er: ane rüemen will ichz sagen,/ der
_____________ 519 Werner Schröder, für den Willehalms Verhalten „nicht bloß unchristlich, sondern zugleich unhöfisch und unritterlich“ zugleich ist, führt seine kritisierende Meinung ebenfalls auf Gurnemanz zurück. Dabei geht er jedoch davon aus, dass der Sonderfall des extremen Leides nicht zutrifft, weil nicht Arofel persönlich Vivianz getötet habe: „Arofel persönlich hatte Willehalm den herzen kumber um Vivianz nicht angetan, und er wäre der von Gurnemanz empfohlenen erbärme auch sonst nicht unwürdig gewesen“ (W. Schröder 1962: 273). Dabei muss man jedoch bedenken, dass Vivianz’ Wunden sich über den gesamten ersten Textabschnitt durch die verschiedensten Heiden akkumulieren und dass Willehalm zudem nicht weiß, wer Vivianz tatsächlich getötet hat. Genauso stellvertretend wie Vivianz für die gefallenen Christen steht (vgl. E1 und E2), genauso steht die gesamte Heidenschaft für die Tötung Vivianz’. Es ist also durchaus anzunehmen, dass Willehalm in Arofel einen mächtigen Stellvertreter für das ihm tiefstes Leid zufügende Heidenkollektiv sieht. 520 Greenfield/Miklautsch sehen so berechtigt in der Tötung Arofels keine Verletzung der Normen der ritterlichen Gesellschaft: „Willehalm bringt Arofel um, weil er triuwe gegenüber seiner sippe zeigen muß. […] für Willehalm muß der Tod von Vivianz gerächt werden, und daher ist es seine Pflicht, Arofel umzubringen“ (Greenfield/Miklautsch 1998: 190). 521 Die gesamte Redepassage situiert sich von W203, 19 bis W207, 30. 522 Dass man die Tötung Arofels durch Willehalm aufgrund der formulierten Racheintention nicht als affektisch bezeichnen, bestätigt auch Werner Schröder in seinem Aufsatz „Die Hinrichtung Arofels“: „Von Notwehr ist keine Rede, und es handelt sich auch nicht um eine Affekthandlung“ (W. Schröder 1974: 222).
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
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heiden hat min hant erslagen,/ ob ichz rehte prüeven kann,/ mer denn min houbet und diu gran/ der har hab mit sunder zal (W206,19-23). Willehalms Worte wirken bitter. Von Kriegsbegeisterung kann keine Rede sein. Doch ebensowenig findet Reue ihren Platz. Vielmehr drückt Willehalm Ergebenheit in seine Rolle als Heerführer und Verteidiger der Christen aus, die solche Akte von ihm verlangt. Vor diesem Hintergrund kann das Bekenntnis Willehalms, sich durch die Tötung der vorbildlichen Minneritter Arofel und Tesereiz an der Minne verschuldet zu haben (ich han der minnen hulde/ verloren durh die schulde; W204, 25f) nur als Zurkenntnisnahme eines notwendigen Übels gedeutet werden. Durch den mehrfachen Rückbezug auf den als Märtyrer gestorbenen, fast heiligen Vivianz ist die Tötung Arofels gleichsam als Rache für die getöteten Christen und die Christenheit schlechthin zu verstehen, die legitim und notwendig ist, auch wenn weltliche Werte, wie die Minne, dadurch verletzt werden. Denn im Zweifelsfall stehen göttliche vor weltlichen Werten. In Anbetracht der von Willehalm gelieferten ausführlichen Reflexionen und Legitimierungen seines Verhaltens wäre es falsch, die Tötung Arofels als Rückfall in archaisch-heroisches Verhalten zu betrachten. Es ist vielmehr als reflektiertes Verhalten eines Christen zu fassen, der nicht in Freude am Kampf sondern im Bewusstsein des Notwendigen handelt. 2) Auf den ersten Blick schockierend ist auch Willehalms Auftritt vor dem Königspaar des Römischen Reiches, vor allem seiner Schwester, der Königin gegenüber. Er beleidigt beide und hätte seiner Schwester um ein Haar den Kopf abgeschlagen, wenn nicht beider Mutter dazwischengetreten wäre. Willehalms Verhalten erscheint affektgeladen, unkontrolliert und unhöfisch. Die Figurenreden legitimieren Willehalms Verhalten jedoch auf dreifache Weise: Zum einen weisen sie darauf hin, dass Willehalm kaum unkontrolliert handelt. Zum anderen betonen sie die positive Intention Willehalms. Und darüber hinaus setzen sie es in Relation zu dem in noch viel höherem Maße falschen Verhalten des Königspaares. Zunächst zur Frage der Unkontrolliertheit und der Intention. Willehalm handelt kaum im Affekt, denn er kündigt sein Verhalten in einer Redepassage dem Kaufmann Wimar, der ihm Herberge gewährt, gegenüber bereits an. Dabei plant er einen im Vergleich zur späteren Ausführung noch heftigeren Angriff auf das Königspaar, als dieser dann tatsächlich geschieht, will er hier doch dem König zunächst mit seinem Schwert den Kopf spalten.523 Er begründet dieses aggressive Verhalten als Reaktion auf die Missachtung des Königs, der ihm bei seiner Ankunft in Munleun weder Mitleid noch Hilfe gewährte, sondern ihm, um mit Willehalms Worten zu sprechen,
_____________ 523 durhs küneges swarte uf sinen bart/ ditze swert sol durhverte gern:/ des will ich in vor den vürsten wern (W138, 6ff).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
allein sm#he und spot (W138, 9) zeigte. Ein Soliloquium offenbart dann auch hier eine Reflexion Willehalms, in der er verschiedene Verhaltensmodelle abwägt. Dies führt zu der Entscheidung, einen tätlichen Angriff auf den König doch zu unterlassen, weil er Gyburc dadurch noch mehr in Gefahr gebracht sieht und er lieber auf die Ankunft seines Vater und seiner Brüder vertrauen will.524 Größter Entscheidungsfaktor ist damit – noch über der persönlichen Schmach – das Wohl Gyburcs. Willehalms Verhalten präsentiert sich als geplant und überlegt und ist nur dem Anschein nach affektgeladen. Es kann als politisches Mittel betrachtet werden, seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen und den eigenen Stolz und die eigenen Entschlossenheit auszudrücken.525 Handlungsmotivation ist primär die triuwe und das tätige Mitleid mit Gyburc. Als Willehalm nun tatsächlich vor dem Königspaar steht, wirkt sein Reden insofern legitimierend für alles folgende Verhalten, als er klar die Unrechtmäßigkeit der königlichen Verachtung herausstellt. Willehalm blickt zurück und betont, dass König Loys seinen Status maßgeblich ihm verdankt, da er nie zum König gewählt worden wäre (gap ich iu rAmische krone; W145,17), ohne dass Willehalm viele Jahre Kämpfe für ihn ausgetragen hätte (ich han ouch vil durh iuch gestriten; W146,7). Außerdem habe Willehalm sieben Jahre auf bis heute ausbleibende Hilfe gewartet (nu han ich siben jar gebiten; W146, 8). Nicht nur der König wird von Willehalm systematisch abgewertet, sondern auch die Königin, der er gar vorwirft, mit dem heidnischen Hauptgegner Tybalt ein Verhältnis gehabt zu haben. 526
_____________ 524 Sih ich disen zagen,/ den künec, wirt er von mir erslagen,/ kan mich sin volc vor tode sparen,/ die vürsten sulen mir doch enpfaren./ waz ob sich krenket al min werben?/ diu helfe muoz verderben,/ als ich Gyburge enthiez,/ die ich in grozer angest liez./ ich wil mines vater beiten/ mit zwivels arbeiten:/ die muoz ich haben unz an in./ het er denne veterlichen sin,/ daz mac an mir wol werden schin./ mir helfent ouch die bruoder min/ und swaz ich werder mage han (W139, 1-15). 525 Diese Vermutung sieht sich von den Untersuchungen Althoffs bestätigt, der anhand zahlreicher historischer Beispiele belegt, dass Emotionsexzesse häufig nur scheinbar spontan sind, sondern vielmehr bewusst eingesetzt werden. Wie im Willehalm erweist sich das Verhalten der Agierenden bei genauerem Hinsehen als „[n]icht unkontrolliert, sondern zweckorientiert“. Insgesamt nimmt er an: „Je entschiedener man erscheinen wollte, desto extremere Reaktionen und Emotionen zeigte man offensichtlich“ (Althoff 1997: 267). Überbordende Emotionen sind also nur scheinbar – und in der Interpretation des neuzeitlichen Lesers – überbordende Emotionen. Vielmehr sind sie Teil einer Inszenierung, für die durchaus rationales, kontrolliertes Kalkül angenommen werden kann. „So trugen Signale aus dem Arsenal emotionaler Ausdrucksformen eher zur Stabilisierung als zur Destabilisierung mittelalterlicher Ordnungen bei, denn sie wurden so rational aufgenommen und verstanden wie sie ausgesandt wurden“ (Althoff 1997: 280). 526 Vgl. W153, 20-30. Dieser Vorwurf der Untreue an die Königin kommt auch im Vorlagentext Aliscans vor. Lofmark und Heinzle plädieren allerdings überzeugend dafür, dass es sich um eine Personenverwechslung handeln dürfte und der Königin kein Ehebruch mit dem Heidenkönig Tibalt, sondern mit einem christlichen Grafen Tedbald nachgesagt wird (vgl. Lofmark 1972: 75f und v.a. Heinzle 1991: 946). Auch wenn der Betrug mit einem Heiden
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
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Auch sie verdankt Willehalm die Königinnenwürde, da er ihretwillen Loys als König unterstützte (vgl. W158, 1-159, 30). Angesichts des unbestritten falschen Verhaltens des Königspaares bei der Ankunft Willehalms in Munleun erscheinen die Vorwürfe Willehalms recht glaubhaft. Damit bleibt Willehalms Verhalten radikal. Die Offenlegung seiner Motivationen macht jedoch auch Wertschätzung möglich, sieht sich doch die Radikalität seines Verhaltens durch das in noch weit höherem Maße falsche Verhalten des Königspaares und seine positive Intention legitimiert. Willehalms Verhalten scheint insofern gut und richtig, als er aus triuwe zu den Seinen handelt und sein zunächst friedliches Auftreten auf Ignoranz stößt und scheitert. Sein Anliegen, die Rettung Gyburgs und Oranges, lässt sich nur durch ein Überschreiten der höfischen Verhaltensvorstellungen realisieren. Wie bereits in E2 bemerkt, steht hier mitleidiges Verhalten im Interessenkonflikt zu höfisch maßvollem Verhalten, wie es die zuht vorschreibt. Und die Figurenreden Willehalms legen damit endgültig fest, dass er sich vorbildlicherweise für den Kampf für Gyburc und die Seinen in Orange entscheidet. 3) Schließlich scheinen in der Liebesbeziehung zwischen Willehalm und Gyburc potentielle Vorwürfe zu lauern, denn auch hier formuliert Willehalm zahlreiche Reden, die als Legitimationen dieser Liebe verstanden werden können. Diese sind insofern besonders angebracht, als zum einen der Krieg durch diese Liebe ausgelöst wird und zum anderen gerade Passagen, die diese Liebe auch in ihrer Körperlichkeit näher beschreiben, von Wolfram im Vergleich zu Aliscans stark ausgebaut werden. Willehalms Reden weist wohl auch deshalb – ergänzend zu den Erzählerkommentaren – den eventuellen Vorwurf des weltlichen Egoismus ausdrücklich zurück. Die Reden Willehalms vermitteln das Bild einer rein positiven Beziehung. Seine Gespräche mit Gyburc, angeredet durch süeze amie (z.B. W92,25), sind geprägt von Wertschätzung und Vertrauen, die sich immer wieder in der gemeinsamen Leidbewältigung zeigen.527 Sie ist für ihn eine gleichberechtigte Partnerin, mit der er seine Entscheidungen bespricht und deren Rat er ernst nimmt (vgl. W95, 10-96,5 oder W103, 1-8). Trotz allen durch den Krieg verursachten Leides bleibt für ihn diese Liebe unangreifbar, er bereut sie nie. Vielmehr beweist sich die Größe dieser Liebe gerade in der Größe des Leides in W95, 11-15: wer möht ouch haben den ge-
_____________ noch schwerer wiegen würde, so bleibt doch die Anklage des Ehebruchs an sich in jedem Fall bestehen. 527 Etwa: nu geben beide ein ander trost:/ wir sin doch trurens unerlost (W92, 29f).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
win,/ als ich von dir beraten bin/ an hoher minne teile,/ sin leben w#re darumbe veile,/ und allez daz er ie gewan?528 Neben Gesprächen mit ihr nehmen Reden über seine Treue ihr gegenüber breiten Raum ein. Während seiner Reise zum Königshof nach Laon beteuert er immer wieder den verschiedenen Gesprächspartnern gegenüber seinen Treueeid zu Gyburc. Dieser besagt, dass er sich eingedenk ihrer gefährlichen Situation in Orange selbst keine Freude gönnen möchte.529 Willehalm betont durchgehend Treue und höchste Liebe, wodurch das Publikum diese nur positiv betrachten kann und sie zum Sympathieauslöser für Willehalm wird. Das eigentliche Hauptargument für Willehalm und diese Liebe nennt er selbst in einem Rückblick auf seine Entführung Gyburcs aus ihrer heidnischen Familie, die ja Ursache für alles Leid ist. Willehalm macht deutlich, dass Gyburc nicht hauptsächlich seinetwegen mitkommen wollte, sondern dass ihre Liebe zu Gott ausschlaggebend war: daz tet si, durh den touf noch mer-/ mit mir danne ir überker-,/ denne durh mine werdekeit (W298,21ff).530 Damit handelt es sich nicht um eine Entführung, sondern um ein Verlassen der Heimat aus freien Stücken. Willehalm ist der Verdächtigung egoistischen Liebesbedürfnisses freigesprochen – darüber hinaus wird das ursprüngliche Problem zum Sympathieauslöser umdefiniert. 4) Direkt daran anschließend steht das Problem des Glaubenskampfes, welcher vor allem durch die oben besprochenen Erzählerkommentare, die das Erschlagen der Heiden wie Vieh anklagten und durch die Rede Gyburcs, die Mitleid mit Heiden forderte, in den Verdacht des Problematischen gerät. Dabei beleuchtet Willehalm verschiedene Gründe, die allesamt darauf hinweisen, dass der Kampf notwendig und unvermeidbar ist. Willehalm betrachtet den Krieg als einen Angriffskrieg der Heiden. Dass sich die Christen lediglich verteidigen, wird besonders deutlich, wenn Willehalm diese Gräueltaten uf miner marke (W297,22) lokalisiert. Wenn er zudem die Formulierung benützt min sweher ist uf mich geriten (W297, 13), so erscheint der Angriff gerade in Anbetracht der entstandenen Verwandtschaftsbeziehung unrecht. Jegliche Eigenbeteiligung und Schuld seinerseits weist Willehalm zurück und verweist auf Terramere,/der die grozen überkere/ tet ane mine schulde (W466, 5ff). Von diesem Angriff geht wiederum eine
_____________
528 Vgl. Greenfield/ Miklautsch 1998: 245: „So sehr ihn die Verluste der ersten Schlacht schmerzen mögen, ist seiner Rede jedoch nirgends eine Spur von Anklage gegen seine Frau zu entnehmen“. Vgl. dazu auch Schumacher 1967: 143. 529 Beispielsweise gegenüber seinem Bruder Ernalt (W119, 2-18), gegenüber dem Kaufmann Wimar (W132, 23-28), gegenüber seiner Nichte Alyze (W156, 20-30) oder der Königin (W174, 20-29). 530 Die These W. Schröders, nach der Gyburcs Liebe zu Willehalm den entscheidenden Beweggrund zu ihrer Flucht aus dem Heidenland bildet, widerspricht meiner Meinung nach den betreffenden Textpassagen (vgl. Schröder 1970: 209).
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manifeste Gefahr für das Christentum an sich aus, denn das Ziel der Heiden ist nach Willehalm, den christlichen Glauben zu schwächen und zu zertreten.531 Den Heiden geht es demnach nicht nur um Gyburc, sondern auch um territoriale und religiöse Machterweiterung. In diesem Zusammenhang werden Gräueltaten der Heiden erwähnt, die eine Verteidigung von Menschen und Land einmal mehr als notwendig darstellen.532 Damit dienen diese Äußerungen Willehalms klar der Legitimiation, zielen sie doch deutlich darauf ab, den im Text beschriebenen Krieg als einen bellum iustum, einen gerechten Krieg darzustellen. Denn aus mittelalterlicher Weltsicht ist nicht jeder Krieg an sich zu verurteilen. Vielmehr lassen sich unter dem Begriff bellum iustum kriegerische Handlungen als gut und notwendig, sogar vor Gott, beurteilen. Als prägend können die Ausführungen Augustinus’ gelten, die von den Autoren des Früh- und Hochmittelalters weitgehend übernommen werden.533 Nach Augustinus gibt es gerechte Kriege, die notwendigerweise geführt werden müssen und die auch ein Christ nach reiflicher Prüfung und Überlegung gutheißen kann. Als Bedingungen für einen gerechten Krieg nennt Augustinus das Hauptziel der Erlangung des Friedens.534 Als Beispiel wird die Verteidigungsmaßnahme eines angegriffenen Volkes, das bemüht ist, Ordnung und Gerechtigkeit wiederherzustellen angeführt: Iusta autem bella definiri solent quae ulciscuntur iniurias, si qua gens vel civitas quae bello petenda est, vel vindicare neglexerit quod a suis improbe factum est, vel reddere quod per iniurias ablatum est.535 Mit diesem Beispiel sieht sich die von Willehalm beschriebene Situation vollkommen erfasst, wodurch der Verteidigungskrieg als berechtigt und positiv erscheint. Angesichts der territorialen Bedrohung des christlichen Abendlandes durch zahlenmäßig weit überlegene Heiden seit dem 7. Jahrhundert sind diese Gefahr und die Notwendigkeit der Verteidigung für den zeitgenössischen Rezipienten wohl nachvollziehbar.
_____________ 531 Dies formuliert Willehalm explizit in W17, 4-7: und enlat uns niht verkrenken/ die heiden unsern gelouben,/ die uns des toufes rouben/ wolden, ob sie möhten. Das Bild des Zertretens des christlichen Glaubens finden wir in W17, 20ff: daz Apollo und Tervigant/ und der trügehafte Mahmet/ uns den touf iht under tret. 532 Solche Gräueltaten der Heiden beschreibt Willehalm beispielsweise in W297, 13-22: min sweher ist uf mich geriten,/ den getouften wiben sint gesniten/ ab die brüste, gemarteret sint ir kint,/ die man in gar erslagen sint,/ und uf gesetzet ze manegem zil:/ swer dar zuo schiezen will,/ den hant die heiden deste baz./ alsus hat Tybalt sinen haz/ und Terramer der starke/ volbraht uf miner marke. 533 Z.B. von Isidor v. Sevilla, Alkuin, Hinkmar, Anselm v. Lucca, Ivo v. Chartres (vgl. LexMA 1, 1849-1851, Artikel: bellum iustum). Gerade im ausgehenden 11. und beginnendem 12. Jahrhundert finden die augustinischen Schriften eine neue Rezeption und bilden so eine wichtige Grundlage des Kreuzzugsgedankens. 534 Vgl. Augustinus, Epistola 205 ad Bonifacium (PL 33, Sp. 942ff). 535 Augustinus, Quaestiones in Heptateuchum VI,10 (PL 34, Sp. 781). Im Gegenzug werden von Augustinus Kriege, die aus Machtgier und Ehrgeiz entfesselt werden, klar als grande latrocinium verurteilt (Augustinus, De Civitate Dei, IV, 6, PL 41, Sp. 117).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
Wenn alle Äußerungen Willehalms bisher als direkt sympathieauslösend oder als zunächst legitimierend und, darauf aufbauend, ebenfalls als sympathieauslösend eingestuft werden konnten, so entscheidet, verbunden mit der auch in den anderen Ebenen positiven Bilanz, nicht zuletzt sein Urteil über andere Figuren maßgeblich über das Urteil des Rezipienten. Auffällig ist dabei die prinzipielle Präferenz von Lob anderer Figuren im Gegensatz zu Kritik. Willehalm zeigt vor allem für seine Familie Wertschätzung, nicht zuletzt weil diese ihn unterstützt.536 Weniger selbstverständlich dagegen ist seine uneingeschränkte Hochachtung für den einfachen Kaufmann Wimar, der als einziger am Hof in Munleun Interesse für sein Schicksal zeigt und ihm bedingungslos und aufopferungsvoll Herberge gewährt. Denn Willehalm könnte das Verhalten des an Stand niedrigeren Kaufmanns als selbstverständlich betrachten. Doch vielmehr dankt er ihm seinen warmherzigen Empfang (vgl. W138, 18f), auch indem er ihn in einer Rede beim Festmahl viel später zu seinem Tischnachbarn wählt und dem Kaufmann so eine sehr ehrenvolle Position zuweist (vgl. W175, 26ff). Erneut sieht sich die vom Kaufmann gezeigte Barmherzigkeit dem traurigen Fremden gegenüber aufgewertet. Daran, dass sein Verhalten als vorbildlich gelten soll, kann kaum mehr ein Zweifel bestehen. Auf die Wertschätzung Rennewarts, die Willehalm ebenfalls ausdrückt, wurde bereits im Rahmen der Mitleidsförderung verwiesen.537 Ebenfalls bemerkenswert sind seine lobenden Worte für Arofel, Tesereiz und Matribleiz, deren ritterlichen Wert er ehrlich anerkennt, wobei immer der vorbildliche weltliche Minnedienst im Zentrum steht.538 In dieser Wertschätzung der weltlichen Qualitäten der Heiden entspricht er dem Lob des unpersönlichen und persönlichen Erzählers. Doch auch hier wird immer klar, dass die Wertschätzung nur partiell, auf den weltlichen Bereich beschränkt, ist, dass der Glaube einer umfassenden Wertschätzung entgegensteht. Denn
_____________ 536 Z.B. lobt er die aus triuwe entstandene Unterstützung seiner Brüder Buove (vgl. W235, 2430), Bernart (vgl. W236, 24-30) und des Schetis (vgl. W242, 21-30). Ähnliches Lob stellt Willehalms Vergleich seines Vaters Heimrich mit einem Falken, der begierig ist, den Kranich zu schlagen, dar. Er setzt seinen Kampfesmut so zugunsten seines Sohnes ein (vgl. W273, 6-14). 537 Dieses Lob auf Rennewart findet seinen Höhepunkt, als Rennewart nach der zweiten Schlacht vermisst wird. Hier bezeichnet Willehalm den jungen Heiden als seine rechte Hand (min zeswiu hant; W452, 20) und hält eine wahre Lobrede auf ihn: Ei starker lip, clariu jugent,/ wil mich din manlichiu tugent/ und din süeziu einvaltekeit/ und din pris hoch und breit etc. (W453, 1-4). 538 Arofel strebte nach Willehalm stets nach vollendetem Minnedienst (daz al sin sin/ ie was gerende uf den gewin/ daz im diu minne londe; W204, 7ff). Auch an Tesereiz lobt er vor allem den Minnedienst (wart nach minne ie dienst ersehen,/ man muose im volgen und jehen/ daz ers phlac und guoten willen truoc; W205, 11ff). In der Rede an Matribleiz verlagert Willehalm die Wertschätzung stärker auf den ritterlich-kämpferischen Bereich, spricht von werdeclichen siten (W461, 30), von hohem pris (W462, 5), manheit und triuwe (W462, 7) des Heiden.
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
239
auch die Heiden abwertende Worte wie ‚ir gunerten Sarrazin,/ ob bediu hunde und swin/ iuch trüegen und da zuo diu wip,/ sus manegen werlichen lip,/ vür war möht ich wol sprechen doch/ daz iuwer ze vil w#re dannoch’ (W58,15-20) gehören zu Willehalms Heidenbild. Vollkommene Ablehnung zeigt Willehalm interessanterweise aber nicht den Heiden, sondern allein dem König und seinen Höflingen gegenüber. Den König trifft ein vernichtendes Urteil, das niemals zurückgenommen wird, nennt ihn Willehalm doch disen zagen (W139, 1). Darüber hinaus weist er auf die Unähnlichkeit zu dessen Vater, Kaiser Karl, gnadenlos hin (vgl. W179, 2-13). Der Königshof und sein König stehen für unpris (W131, 12), Mitleidlosigkeit, Feigheit und unterlassene Hilfeleistung, womit ihnen jegliche Sympathie entzogen wird. Viele der Redeinhalte, die Willehalm positiv bewerten und somit sympathiefördernde Funktion übernehmen, sehen sich systematisch auch von anderen Figuren aufgegriffen. Im Folgenden wird deshalb auf wiederkehrende Inhalte nurmehr verwiesen, während der Fokus des Interesses auf individuellen Zügen liegen soll. Ein Großteil der Reden Gyburcs beteuert die Aufrichtigkeit ihres Bekenntnisses zum christlichen Glauben. Sie beweist zu allen Zeiten Vertrauen in den christlichen Gott und zeigt niemals Zweifel oder Wankelmütigkeit, wodurch alle Bedenken einer bekehrten Heidin gegenüber ausgeräumt werden.539 Vor allem in ihren Versuchen, dem Vater die christliche Schöpfungslehre und das Erlösungsversprechen des christlichen Gottes näherzubringen, vermittelt diese Figur dem Rezipienten ein eindrucksvolles Bild ihrer christlichen Überzeugung. Auf diese Weise wendet Gyburc den wohl gewichtigsten Verdacht, den der Rezipient hegen könnte, ab. Denn dieser könnte darin bestehen, sie sei primär aus fleischlicher Liebe zu Willehalm mit ihm geflohen, hätte also den Kriege aus Egoismus provoziert. Wie Willehalm hält auch sie fest, dass sie durh des hAhisten gotes hulde (W310,18) übertrat und allenfalls ein teil (W310,19) die Liebe zum Markgrafen ausmachte.540
_____________ 539 Sie manifestiert dies besonders eindrücklich in den Gesprächen mit ihrem Vater Terramer, in denen sie Festigkeit im Glauben und umfassende Kenntnisse der christlichen Lehre beweist (vgl. W215, 10-217, 8, W218, 1-30 und W219, 23-221, 26). Hier preist sie den christlichen Gott als Schöpfer aller Dinge, zeigt sich informiert über Sündenfall, Heilsgeschichte und Erlösung durch Jesus Christus. Im letzten der drei Redeabschnitte versucht sie sogar, die größten Bedenken ihres Vaters dem christlichen Glauben gegenüber auszuräumen. Eines dieser Bedenken hegt Terramer gegen den scheinbar schwachen, am Kreuz sterbenden Jesus. Gyburc erwidert: do Jesus mennischeit/ der tot an dem kriuze müete,/ innen des sin leben blüete/ uz der gotlichen sterke./ lieber vater, nu merke:/ innen des unt diu mennischeit erstarp,/ diu gotheit ir daz leben erwarp (W219, 24-30). 540 Argumente für diese Behauptung liefern auch die Rückblicke auf ihr früheres Leben, in dem sie nach ihren Aussagen weitaus mehr Reichtum und Macht besaß und zudem einen guten Mann und Kinder hatte. Materielle Güter haben ihren Übertritt also nicht bewirkt (vgl. W215, 10-217, 8).
240
III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
Gerade weil Gyburc in allen Teilen sympathiefördernd vermittelt wird, kann ihr Urteil für den Rezipienten als durchaus richtungsweisend gelten. Dass sie dabei häufig ihre christliche Familie lobt, erstaunt nicht.541 Die Beurteilung der Christen wird dadurch nicht maßgeblich verändert. Doch auch im Bereich der Sympathielenkung setzt sie sich wie keine andere Figur mit den Heiden auseinander und vermittelt dem Rezipienten ein komplexes Modell zur Einschätzung derselben. Zum einen lobt sie die menschlichen Qualitäten ihrer heidnischen Familie.542 Daran, dass der Krieg der Heiden falsch und unrechtmäßig ist, lässt sie jedoch keinen Zweifel. Entsprechend heftig fällt diesbezüglich auch ihre Kritik aus. Sie bewertet den Angriff Tybalts und indirekt auch den Terramers als falsch: nu hat mines vater nachvart/ mir disiu herzeser getan./ daz müese Tybalt han verlan (W100, 28-102, 20). Außerdem bezichtigt sie Terramer in seinem Werben und seinen Drohungen der tumpheit (W215, 10-217,8) und der einvaltekeit (W253, 6-259,12).543 Zudem nützt Gyburc ihre Abstammung zu ausgedehnten Warnungen vor den heidnischen Plänen und legt damit einen nicht zu unterschätzenden Grundstein für Antipathie-Reaktionen des Publikums: Sie berichtet vom Hass der heidnischen Familie ihr und den Christen gegenüber (W266, 10-268, 2), warnt vor ihren Listen (W232, 16233, 8) und ihrer enormen Macht (W94, 8-95, 2). Zudem deckt sie auf, dass es den Heiden weniger um die Rückholung ihrer selbst geht als um die Ausdehnung ihres Herrschaftsbereiches: Sie enthüllt Tybalts Erbansprüche an Spanien und Frankreich (W221, 7-21), bezeichnet sie aber als Unrecht und Lüge und fragt Terramer vorwurfsvoll: wiltu durh lüge verderben/ din triuwe an din selbes vruht (W221, 20f). Gerade mit diesem letzten Argument streut sie Sympathiehemmer gegen die Heiden. Die partielle Wertschätzung des Rezipienten für die weltlichen Werte der Heiden wird so vom Gedanken an Gefahr und Unrecht überdeckt. In Bezug auf den Angriffskrieg und das konkrete Verhalten der Heiden fördert Gyburc so deutlich Antipathie.
_____________ 541 Sie lobt Willehalm vor allem ob seiner Tapferkeit und Treue (vgl. z.B. W89, 20ff/ 220, 1-30 und W294, 2ff), Heimrich beispielsweise ob seines Edelmuts und seiner Würde (vgl. z.B. W253, 19). 542 In Bezug auf Tybalt beteuert Gyburc mehrmals, dass er frei von allen Untaten sei (vgl. W310, 13 und 310, 15f). An ihrem Sohn Ehmereiz lobt sie, dass er und sein Heer Orange und damit Gyburc nicht persönlich angriffen (vgl. W266, 10-18). 543 Die Attribute tumpheit und einvaltekeit können in Erinnerung an Wolframs Parzival durchaus auch positives Potential in sich bergen, wenngleich sie zu diesem Moment als Kritik fungieren. Sie würden dann bedeuten, dass Terramer prinzipiell erkenntnisfähig ist, dass er allein zu seiner jetzigen Entwicklungsstufe die Erkenntnis noch nicht gewonnen hat. Damit würde die Kritik in logischer Folge zur oben besprochenen Mitleidsrede Gyburcs stehen, wo sie die Unwissenheit an sich als geringere Schuld sieht als die bewusste Entscheidung gegen den christlichen Gott.
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
241
Innerhalb der Redepartien der übrigen Christen können Beteuerungen der innerfamiliär gezeigten triuwe und Barmherzigkeit als maßgebliche sympathielenkende Redeinhalte betrachtet werden. Dies erstaunt nicht, sind diese Reden doch hauptsächlich zwischen den beiden Schlachten angesiedelt.544 Die meisten Figuren drücken ihr Mitleid mit Willehalm und Gyburc und ihre Hilfsbereitschaft so bereitwillig und intensiv aus, dass ihre Reden nur als äußerst sympathiefördernd gesehen werden können. Den positiven Höhepunkt stellt dabei wohl das Reden des ritterlichen Kaufmanns Wimar dar. Dieser fragt bei Willehalms Ankunft in Munleun als erster und einziger nach Willehalms Bedürfnissen, obwohl dieser arm und leidend erscheint und kommt damit der Pflicht nach, Barmherzigkeit zu üben.545 Wenn die übrigen Höflinge in Munleun zwar über den ärmlich aussehenden Willehalm sprechen und sich fragen, was er wohl will, ihm gegenüber aber schweigen, erinnert die Szenerie wahrscheinlich nicht zufällig an Wolframs Parzival, wo sich auch Parzival zwar fragt, warum Anfortas leidet, die Frage jedoch nicht ausspricht.546 Der Kaufmann Wimar löst die Situation vorbildlich, indem er sich nach Willehalms Leid erkundigt und ihm seine Hilfe anbietet: ir habt doch ungemach erliten,/ […] sit ieslicher des vergaz,/ der iuch sus eine hat gesehen,/ nu lat den trost an mir geschehen/ daz ich iuch dienstes müeze wern (W130,21-27). Er gewährt ihm Herberge und versorgt ihn mit allem, was er aufbieten kann. Auch als er von Willehalms Situation erfahren hat, bestätigt er immer wieder sein Mitleid: iuwer kumber sol mich riuwen,/ unz ir an vreuden habet gewin,/ ob ich han toufb#ren sin (W135, 28ff). Christliche Gesinnung wird hier erneut mit dem Wert des Mitleids verknüpft: Wer rechten Glauben beweisen will, muss Mitleid zeigen. Wimar verkörpert so das im Parzival lange erstrebte ideale Mitleidsverhalten und erinnert an die nicht weniger ideale biblische Figur des Barmherzigen Samariters aus Lucas 10. Die Rolle des Kaufmanns ist so sehr darauf konzentriert, ein positives Gegenbild zum mitleidlosen Königspaar abzugeben, dass man die Funktion dieser Figur gar als eine Verkörperung idealen Mitleids auffassen muss. Denn Wimars Reden kreisen fast ausschließlich um den Themenkomplex von Mitleid und Erbarmen. Die Figur des mitleidigen Kaufmanns wäre bei weitem nicht so exponiert, gäbe es nicht das mitleidlose Reden des französischen Königspaares,
_____________
544 Eine Ausnahme bilden die Reden des sterbenden Vivianz (vor allem W49, 16-22/ 65, 1167, 2/ 68, 17-69, 9), der fast ausschließlich seinen christlichen Glauben beteuert. Dies bestätigt unseren in E1 und E2 formulierten Verdacht, dass die Figur des Vivianz weniger als Handlungsträger denn als Ideal des christlichen Märtyrers konzipiert ist. 545 Die sechs Werke der Barmherzigkeit gebieten es – in Anlehnung an Mt 25, 31-46 und Lc 6, 36 – den Hungrigen zu speisen, den Dürstenden zu tränken, den Fremden zu beherbergen, den Nackten zu bekleiden, den Kranken und den Gefangenen zu besuchen (vgl. LexMA 1:1473; Artikel: Barmherzigkeit). 546 Vgl. W127, 18-23 und W128, 6-129, 7.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
das als deutlich antipathiefördernd einzustufen ist. Obwohl Königin und König zur Sippe Willehalms gehören und ihm damit mehr verpflichtet sind als der Kaufmann, zeigt sich die Königin unberührt von Willehalms leidvoller Erscheinung und macht ihm Vorwürfe: nu wil er aber ein niuwez her,/ daz gein den heiden si ze wer/ vür der küneginne Gyburge minne./ ungerne wesse ich in hinne./ iuwer deheiner kom hin vür:/ besliezet vaste zuo die tür;/ Ob er uzen klopfe dran,/ daz man in wise iedoch hin dan (W129,25-130, 2). Die Königin deutet die äußeren Zeichen, die ihr Willehalms Anblick liefert, durchaus richtig. Sie weiß von seinen Heidenkämpfen und befürchtet, dass er ein neues Heer will. Es fehlt ihr also nicht an der Erkenntnis des leidenden Anderen. Dennoch entscheidet sie sich gegen eine Hilfeleistung, weil ihr Interesse an eigenem Besitz, eigener Macht und eigenem Komfort stärker ist.547 Ihr Verhalten ist damit nachvollziehbar (Empathie), jedoch moralisch verwerflich und fördert so Antipathie des Rezipienten. Der König bleibt zunächst wortlos, doch folgt er den Handlungsanweisungen seiner Gattin und empfängt Willehalm nicht. Angesichts des zornigen Willehalm ist er jedoch zu jeder Hilfeleistung bereit.548 Später, nach Willehalms Angriff auf die Königin, wird er erneut zögerlich und lässt sich auch von seiner Familie nur schwer zu einer Hilfeleistung überzeugen. Bezeichnend hierfür ist das unentschlossene Abwarten, ausgedrückt durch die Worte: ich berate mich umb iuwer ger (W169, 30 und 179, 1). Auch ihm geht es primär um Selbstinszenierung und Abhängigkeitsverhältnisse, nicht um Mitleid und Hilfe: wolt ir erenz riche,/ so möht ir willecliche/ min helfe gerne enpfahen./ wil iu daz versmahen,/ so dien ich aber anderswar:/ so ist deste minner iuwer schar/ gein der heidenschefte (W179, 21-27). Seine Reden offenbaren vor allem Ratlosigkeit und die Abhängigkeit von seinen Beratern; auch hier steht seine Eitelkeit im Zentrum.549 Barmherzigkeit ist mit Sicherheit keine Handlungsmaxime des französischen Königshofes. Wie dieses Verhalten zu bewerten ist, zeigt Irmenschart, die bisher ausschließlich positiv bewertet aufgetreten ist und der man deshalb eine gewisse Autorität zuerkennen kann: die von Heimrich sint erborn,/ ob sin künne
_____________ 547 Die Königin befürchtet, dass er sie und ihren Mann, den König, um all ihren Besitz bringt (vgl. W147, 7-10: ouwe wie wenic uns denne belibe!/ so w#re ich diu erste die er vertribe./ mir ist lieber daz er warte her,/ denne daz ich siner genaden ger). Auch in W163, 22-26 fürchtet sie sich nur um ihre eigene Unversehrtheit. 548 In seiner Rede von W146, 25 bis W147, 5 ordnet sich der König Willehalm unter, betont, dass er immer seinem Rat folgte, will Willehalms Zorn unbedingt von sich abwenden und verspricht ihm alle Hilfe, die er sich wünscht. 549 In W181, 1-30 kann sich der König selbst nicht entscheiden, ob er Willehalm nun unterstützen soll oder nicht. Dabei zieht er auf belustigende Weise selbst in Erwägung, dass man ihn für einen zage halten könnte (vgl. W181, 17). Schließlich kann er nur um Beratung bitten: ieslich man durh triuwe jehe,/ waz er t#te, unde stüendez im/ als mir, waz rates ich nu nim./ der muoz vil eben mezzen dar,/ ob er mir werdekeit bewar (W181, 25-30).
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
243
ir pris wil tuon,/ so wirt Willalm min sun/ ergetzet swaz im wirret./ swen zageheit des irret,/ der möhte sanfter wesen tot (W152, 22-27). Erst spät entscheidet sich das Königspaar zur Hilfe, wobei allein die Königin in einem höheren Redeanteil ihr neu entstandenes Mitgefühl für Willehalm und Gyburc noch glaubhaft vermitteln kann.550 Insgesamt jedoch bleibt ein negativer Eindruck an den Figuren haften; die Antipathie kann über die wenigen folgenden Redepartien des Königspaares kaum mehr ganz überwunden werden. Rennewart: Der junge Heide Rennewart steht zwischen den gegnerischen Gruppen. Obwohl er seiner Abstammung nach Heide ist, ist er als Küchenjunge am französischen Königshof aufgewachsen und setzt sich im Kampf bedingungslos für die Christen ein. Seine Sonderstellung begründet sich zudem aus seiner oft komischen und burlesken Art, die ihn von den übrigen Figuren deutlich abhebt. Vom zeitgenössischen Rezipienten sind deshalb einige Vorbehalte zu erwarten, vor allem zu dem Moment, als er noch ein Küchenjunge am Hofe des französischen Königs ist und sein Engagement für die Christen noch nicht unter Beweis gestellt hat. Die Figurenreden Rennewarts spiegeln nun diese besonderen Bedingungen der Figur wider, wobei hier versucht wird, eventuelle Vorwürfe vorausschauend auszuräumen und sympathiefördernd einzugreifen. Ein erster Vorbehalt des mittelalterlichen Rezipienten könnte in der Vermutung bestehen, dass Rennewart sich vielleicht doch der heidnischen Religion zugehörig fühlen und er entsprechend eine Gefahr für den christlichen Glauben darstellen könnte. Dem begegnet Rennewart, indem er überraschenderweise schon sehr früh eine freiwillige Zuwendung zum christlichen Gott bekundet (und han michs nu gehabt an Christ; W193, 11), die sich aus der Enttäuschung ableitet, dass Mahomet seine Bitten nie erhörte.551 Auch auf den aus christlicher Sicht möglichen Einwand, dass er trotzdem die Taufe verweigert, reagiert Rennewart: nu ist mir der touf niht geslaht (W193,19). Die Taufe ist hier als das höchste und offizielle Siegel für den christlichen Glauben zu sehen, dem sich Rennewart im Moment noch nicht gewachsen fühlt.552 Rennewart steht für die Art der Bekehrung, die sich von den Zwangstaufen vollkommen uninformierter Heiden ab-
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550 Vgl. W164, 10-165, 27/ 167, 1-168, 16 und W170, 6-30. 551 Vgl. W193, 2-30. 552 Zwar ist das mittelhochdeutsche nû sprachlich tatsächlich nicht eindeutig temporal zu fassen, wie Heinzle (Heinzle 1991: 969) im Gegensatz zu Knapp (Knapp 1970: 133) richtig feststellt. Dennoch tritt in der semantischen Dimension des Ausspruchs eine temporale Dimension neben die kausale: Anlage und Herkunft machen es dem jungen Heiden zunächst unmöglich, ganz unkompliziert die Taufe zu empfangen. Eine Änderung dieser Meinung im weiteren Verlauf der Ereignisse scheint dennoch prinzipiell möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
hebt und die sich über den Kontakt und den Dialog mit den Andersgläubigen im 12. und 13. Jahrhundert entwickelt (vgl. oben die Mitleidsrede Gyburcs). Der Weg zur christlichen Taufe ist als Weg zu verstehen, die Lehre des christlichen Glaubens zu hören und dann die Taufe entgegenzunehmen. „Er erscheint sozusagen als anima naturaliter christiana, die den Weg in die Kirche erst allmählich zu finden vermag.“553 Wichtig und entscheidend für das Urteil des Rezipienten sind der bekundete ‚richtige‘ Glaube, die klare Abwendung von den Heidengöttern und, vielleicht am allerwichtigsten, die triuwe im Kampf zu Willehalm und die Hass- und Rachegedanken in Bezug auf das heidnische Heer, die Rennewart eindeutig auf der Seite der Christen verorten. Ebenso legitimiert wird sein unhöfisches Auftreten, seine Verstöße gegen die höfische zuht, die den Rezipienten misstrauisch machen könnten. Dabei offenbaren seine Reden zunächst die Gründe für sein maßloses Verhalten und machen es so nachvollziehbar. Die Figurenreden Rennewarts informieren den Rezipienten über seine schlechte Behandlung seit frühester Kindheit durch den französischen König, der ihm keinerlei Erziehung zukommen ließ.554 Dies erscheint umso unrechtmäßiger, als Rennewart gleichzeitig auf seine hohe Abstammung, die ihn eigentlich für die höfische Welt und ihre Sitten prädestiniert, hinweist.555 Zudem ist er am Hof immer wieder Provokationen ausgesetzt, die ihn zu Zornausbrüchen verführen.556 Daneben legt sein Reden Zeugnis über sein höfisches Inneres ab: Er formuliert sein Streben nach höfischer Liebe (zur Königstochter Alyze) und nach ritterlicher Bewährung im Kampf für die Christen.557 Gründe für seine Abweichungen vom höfischen Verhaltenskodex liegen also im vom König verschuldeten Defizit an Erziehung und der unrechtmäßigen Behandlung begründet. Angesichts seiner hohen Abstammung, des christlichen Glaubens, der angestrebten höfischen Tugenden und seines überzeugten Einsatzes für die Christen wird Rennewarts maßloses Verhalten als Replik auf äußerst unrechtmäßige Provokation legitimiert
_____________ 553 554 555 556
Haug 1975: 221. Vgl. W193, 1-30/ 287, 1-288, 30 und W287, 1-288, 30. Vgl. W193, 1-30/ 290, 23-30. Sein zorniges und gewalttätiges Verhalten ist vor allem Ergebnis der Provokation am Hof, wie seine gutmütigen Warnungen den Knappen gegenüber zeigen (vgl. W275, 19-276, 2). 557 Rennewart gesteht, dass er sich nach Liebe sehnt (sol iemer wert amie/ minen lip umbevahen,/ daz mac ir wol versmahen;/ wan ich bin wirde niht gewent,/ unt han mich doch dar nach gesent; W193, 26-30). Er offenbart in einem inneren Monolog, dass die Liebe zu Alyze seinen Bart sprießen ließ, denn diese hatte ihn beim Abschied in Munleun geküsst: mine grane, die mir sint an gezunt,/ ges#t ir minne uf minen munt,/ diu mir stiure uf dise vart/ mit kusse gap (W287, 11-14). Schon in den ersten Gesprächen Rennewarts mit Willehalm verdeutlicht er, dass er nach ritterlicher Ehre strebt, dass er sich immer schon danach sehnte (vgl. W193, 14-30).
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
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und sympathiefördernd vermittelt. Ritterlich und höfisch auch nach außen zu wirken scheint nurmehr eine Frage der Zeit.558 Heiden: Für den Rezipienten sind, gerade in diesem Text, der so oft mit scheinbarer Zweischau arbeitet, die Figurenreden der Heiden von enormer Bedeutung. Welche Werte formulieren sie für sich? Welche Motivationen und Ziele der Kriegsführung motivieren sie? Prinzipiell erscheint der Angriffskrieg auf die Christen in den Augen des Rezipienten negativ. Doch auf der Basis des ihnen zugestandenen überaus positiven höfischen Auftretens und Verhaltens bestünde hier durchaus die Möglichkeit, vom Rezipienten positiv bewertete Inhalte anzusprechen, die den Angriffskrieg vielleicht sogar teilweise legitimieren oder in den Hintergrund rücken lassen könnten. Terramer formuliert seinen aufrichtigen Glauben an die heidnischen Götter, der komplex und strukturiert erscheint.559 Dieser Glaube ist es, der ihn zum Krieg gegen seine Tochter treibt, denn zunächst schreckt Terramer durchaus vor einem kriegerischen Angriff auf Gyburc zurück. Erst vom Baruk, dem heidnischen Kirchenoberhaupt, und den Priestern wird er zum Krieg überredet: daz ruoch erkennen Mahumet,/ daz ich durh Tybaldes bet/ ungerne uf dinen schaden vuor,/ unze michs bi unserr e beswuor/ der baruc unt die ewarten sin:/ die gaben mirz vür sünde min,/ daz ich dich t#te liplos (W217, 19-25). Die Schuld liegt aus der Sicht Terramers bei den Christen, die er als die schuldehaften (W338, 8) bezeichnet, denn sie haben Gyburc ihm und den Göttern genommen (vgl. W44, 10f). Die bisher sowohl von der persönlichen Erzählerfigur als auch von Gyburc formulierten Vorwürfe gegenüber Terramer, seine eigene Tochter angegriffen zu haben, finden so eine direkte Kommentierung. Terramers Zögern ist ob der Bindung zur Tochter positiv zu bewerten. Doch dann erweist sich der aus der Sicht des Rezipienten falsche Glaube als stärker. Einmal mehr erscheint ein Heide in seinen Anlagen positiv, doch ob seines Glaubens zu falschem Handeln geführt. Und selbst die an sich positiv einzuschätzende Liebe Terramers zu seiner Tochter steht nicht immer unangefochten, denn häufig formuliert er auch Hass und Erbarmunglosigkeit, z.B. wenn er Gyburc eine Verfluchte nennt (Arabel diu vervluochet; W44, 9) und sie eher auf dem Scheiter-
_____________ 558 Bereits in E1 wurde darauf verwiesen, dass Rennewarts Zorn der eines unerzogenen, also tumben Jungen ist. Die tumpheit Rennewarts drückt nach Haug einen mehr oder weniger natürlichen Zustand aus, der durch Erziehung und Reifung zu überwinden ist. Mit zorn aus tumpheit ist naturgemäß immer zu rechnen; er hat Anspruch auf Nachsicht und Geduld (vgl. Haug 1975: 230). 559 Dies ist insofern durchaus Zeugnis einer Aufwertung, denn der heidnische Glaube erscheint sowohl in seiner Organisationsstruktur als auch in der Tiefe des Glaubens seiner Anhänger dem Christentum durchaus ebenbürtig und wird keineswegs ins Lächerliche gezogen (vgl. Greenfield/Miklautsch 1998: 250f).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
haufen verbrennen will, als sie als Christin zu sehen: e si zuo Jesuse kere,/ ich sols uf einer hürde e sehen/ verbrennen gar: daz müeze geschehen (W44, 28ff). Sein Ziel ist es, Gyburc zu einer Abkehr vom christlichen Glauben und der Taufe zu zwingen (daz Arabeln des gezeme,/ ob es geruochet Tervigant,/ daz si diu kristenlichen bant/ und den touf unere; W44, 24-27). Beide Pläne – Gyburcs Abwendung vom christlichen Glauben und die Tötung der eigenen Tochter – müssen auf den mittelalterlichen Rezipienten dämonisch und teuflisch gewirkt haben, schließlich führt Terramer einen Kriegszug gegen die Tochter und gegen die Taufe. Allein eine Rückbekehrung Gyburcs wäre katastrophal. Den Gipfel des Negativen aber erreicht Terramer, wenn er die Vermutungen, die Gyburc bereits in ihren Reden formulierte, Realität werden lässt. Eigentliches Ziel der Heiden ist weniger die Bekehrung Gyburcs als der Herrschaftsanspruch auf das fränkisch-römische Reich. Terramer will die ‚Römer‘ töten und selbst die Römische Krone tragen: also daz vor uns sterben/ Loys Rom#re,/ da ich billicher w#re/ künec. ir hArt michz lange klagen,/ min houbt solde rAmisch krone tragen,/ dar umbe min veter Baligan/ verlos manegen edelen man (W338,18-24).560 Diese Pläne verhelfen Terramers bereits im Abschnitt 44 formulierter Abneigung gegen die Christen, die er als von taverne ingesinde./ von salsen suppierren (W44, 12f) bezeichnet, erst zu ihrer eigentlichen Bedeutung. Die Drohungen des obersten Heerführers müssen den zeitgenössischen Rezipienten erschaudern lassen: Sie signalisieren eine existentielle Gefahr für das gesamte Christentum. Gyburc erscheint nur noch als Vorwand für das, was eigentlich ein Kampf um die politische und religiöse Weltherrschaft ist. Wieder werden anfänglich gestreute, wenigstens in Ansätzen sympathiefördernde Strukturen deutlich revidiert. Und auch der aufrichtige Glaube der Heiden wird insofern untergraben, als der Text immer wieder unterstreicht, dass selbst die überzeugtesten Heiden die Taten des christlichen Gottes bewundern und ihn als beeindruckend mächtig sehen: Terramer stellt fest, dass die Schäden, die das kleine Christenheer in der ersten Schlacht unter seinem Heer angerichtet hat, einem Wunder gleichkommen und dass der christliche Gott ebenfalls ein Wunder vollbrachte, indem er Steinsarkophage für die getöteten Christen auf dem Schlachtfeld erscheinen ließ.561 Die Niederlage der Christen,
_____________ 560 Die Gültigkeit dieser Pläne Terramers sieht sich durch eine Psychonarratio bestätigt. Hier hört der Rezipient: Terramer den stuol da ze Ache/ besitzen wolde und dannen ze Rome varn,/ sinen goten pris also bewarn,/ Diu Jesus helfe wolde leben,/ daz diu dem tode wurde gegeben./ sus wold er rAmische krone/ vor sinen goten schone/ und vor al der heidenschaft tragen (W340, 4-11). 561 Vgl. W107, 18-108, 22: ich mac der kristenheite gote/ alerste nu grozes wunders jehen:/ selh wunder ist an mir geschehen,/ daz ein hant vol riter mich/ hat nach entworht durh den gerich,/ daz ich den ungelouben rach,/ den man von minem kinde sprach,/ Arabeln diu Tybalde enpfuor. Zum Wunder der Steinsarkophage vgl. W357, 16-359, 30.
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
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die der Rezipient eventuell als Schwäche aufgefasst haben könnte, wird so von Feindesseite (!) aufgewertet und legitimiert. Trotz allen Unverständnisses wirkt die Macht des Christengottes auf die Heiden, während deren Götter die Christen in keiner Weise beeindrucken können. Die Hierarchie der Glaubensrichtungen ist einmal mehr klar festgesetzt. Die übrigen sprechenden Heiden verfügen nur über sehr geringe Redeanteile. Immer wiederkehrende Inhalte ihres Sprechens betreffen ihre Kampfmotivationen und Ziele, die sich mit denen Terramers decken. Sie sind angetrieben von ihrem Glauben und der Treue zu Terramer, doch auch sie träumen von der Übernahme der Weltherrschaft.562 Eine Besonderheit, die innerhalb der Sympathielenkungsstrukturen auf Christenseite kaum vorstellbar sind, bildet die innerhalb der eigenen Gruppe formulierte Kritik am Heerführer Terramer und dem Verhalten der Kämpfer. So wirft der Burggraf von Cler Terramer vor, sein Heer aufgrund von Unachtsamkeit nicht angemessen vor Willehalm zu schützen und anstatt dessen faul herumzuliegen.563 Außerdem klagt er ihn mangelnden Mitleides und mangelnder Anerkennung ihm, seinem Späher, gegenüber an: swaz iemen kumbers durh iuch neme,/ daz ahtet ir als ein kleine breme/ viele uf einen grozen ur (W335,7ff). Terramers enorme Macht lässt ihn die Sorgen und auch Leistungen seiner Kämpfer vergessen; die innere Loyalität des heidnischen Heeres wird dadurch getrübt. Dass der Text diesen Vorwürfen durchaus eine wichtige Stellung einräumt, zeigt sich daran, dass die Reden des Burggrafen den größten Anteil an heidnischen Figurenreden nach Terramer selbst bilden und beispielsweise weit über dem Anteil des eigentlichen Angreifers Tybalt liegen. Schließlich erfährt das Heer der Heiden durch Matribleiz eine weitere interne Kritik: Dieser bezeichnet die Flucht der Heiden nach der zweiten Schlacht als Schande für das Heer und den Wert der Tapferkeit: daz unser vluht ie wart ersehen,/ des mac min herze unsanfte jehen (W463, 15f). Diese Flucht war nicht absolut notwendig, wie sein eigenes Beispiel zeigt: sin dienstman Matribleiz/ wart zer vluht nie geborn./ ich was ie wol zer wer erkorn, […] ich wart ergriffen an der wer (W463, 18-22). Den Heiden wirft er Versagen und Schuld vor: het wir uns alle baz gewert,/ des w#re der heiden mer ernert (W463, 27f). Dass Terramers Rede, die die Kampfmotivation des Machtgewinns vor das Ziel seine Tochter zurückzuholen stellt, keineswegs im Affekt geäußert, sondern durchaus ernst zu nehmen ist, belegt eine Psychonarratio der Heidengruppe. Hier offenbart auch das Heidenkollektif den Machtgewinn und die Zerstörung des Christentums als als wahre Intention: Oransche und Paris/ si gar zerstAren solten./ dar nach si vürbaz wolten/ _____________ 562 Tesereiz strebt die Unterwerfung Willehalms und dessen Zwangsbekehrung an (vgl. W86, 5-30), Rubual möchte das gesamte Geschlecht Heimrichs vernichten (vgl. W43, 3-30), Ehmereiz will die Schmähung seiner Götter durch Willehalm rächen (vgl. W75, 4-20). 563 swaz al iuwerem here geschiht,/ daz welt ir haben doch vür niht./ ir liget hie ungewarnet (W334, 19ff).
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
on: Oransche und Paris/ si gar zerstAren solten./ dar nach si vürbaz wolten/ uf die kristenheit durh rache (W339,30-340, 3). Dem Rezipienten suggerieren solche Äußerungen, dass nicht nur die Verteidigung Oranges und Gyburcs notwendig erscheint, sondern vielmehr die Verteidigung des fränkischrömischen Reiches und des Christentums. Dadurch dass der Text dem Rezipienten diese Motivationen zugänglich macht, bewertet er den Angriff der Heiden und ihre Ziele eindeutig – aus christlicher Sicht – als gefährlich und verwerflich, denn die nachvollziehbaren Gründe, wie die Trauer um die Tochter etc., stehen nur im Hintergrund. Der Verteidigungskrieg der Christen erfährt damit eine weitere positive Bewertung. Die sympathielenkenden Strukturen der Figurenreden der Heiden tragen so interessanterweise zu einer Sympathieförderung zugunsten der Christen bei, während den Heiden und ihren Zielen einmal mehr Wertschätzung verweigert wird. Die einzige Ausnahme bilden die Figurenreden Matribleiz‘ nach dem Ende der zweiten Schlacht und damit nach dem Sieg der Christen. Nicht nur kritisiert er die eigenen Reihen (s.o.), auch stellt er den Heidenglauben in Frage: unser wer und unser gote her/ half niht (W463,12f). Negativ zu bewertende Inhalte äußert er nicht. Begreifen wir Matribleiz deshalb als 'sympathischen' Heiden, so fällt auf, dass er dies nur sein kann, weil er sich von seiner Zugehörigkeit zur Heidengruppe und selbst von der Absolutheit seines Glaubens distanziert. Sympathie ist damit nur möglich, nachdem der Machtanspruch der Heiden abgewehrt ist und diese die Vorherrschaft der Christen und ihres Gottes anerkennen. 3.2 Aliscans – Figurenreden (E3) Auch im altfranzösischen Text Aliscans werden Figurenreden in hohem Maße zur Empathielenkung eingesetzt. Doch auch hier geht dieser Text sowohl formal als auch inhaltlich eigene Wege.
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3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
3.2.1 Empathie Christen
Heiden
Rainouart ca. 815 (= ca. 28%)
Innensicht- präsentierende Redeverse der Figurengruppe
ca. 1610 (= ca. 56%)
ca. 460 (= ca. 18%)
Innensichtpräsentierende Redeverse pro Figur
Guillaume: ca. 952 Guibourc: ca. 234 Bertran: ca. 86 Vivïen: ca. 63 Hernaut: ca. 48 Sanson : ca. 16 povres hom564: ca. 13 mestre quex565: ca.12 portier: ca.12 chastelain: ca.8 Guimar: ca.6 saint angle566: ca.3 Guion: ca.3 Guichart: ca.2 Aymer: ca.2 Guibert: ca.2
Aérofle : ca. 104 Bauduc: ca. 77 Desramé: ca. 42 Valegrape: ca. 29 Haucebier: ca. 18 mesage : ca. 18 Esmeré : ca. 18 un Turc : ca. 15 Grishart : ca. 10 Baudins: ca. 9 Desreez: ca. 8 Flohart : ca. 5 Crucados: ca. 4 Baudus : ca. 4 Margot: ca. 2 Mugalé: ca. 1 Agrapart: ca. 1
Gruppen: Franzosen: 108 Knappen: 30 Bewohner Orléans: 10
Gruppe: ca. 95
In Aliscans scheinen Figurenreden fast omnipräsent. Sie sind so breit über den Text gestreut und so konsequent in Erzählpassagen eingebettet, dass sich unweigerlich der Eindruck eines hohen Redeanteils gemessen am Gesamttext ergibt. Dennoch offenbart die rein quantitative Analyse, dass auch hier lediglichlich 35% des Gesamttextes aus Redeversen bestehen,
_____________ 564 Der Besitzer des von den Heiden verwüsteten Ackers, vgl. A171, 7435. 565 Der Küchenchef, der von Rainouart über dem Feuer gegrillt wird, vgl. A87, 4525. 566 Der Engel, der mit Vivïen spricht, vgl. A14, 422.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
wie es auch im Willehalm in etwa der Fall ist.567 Daraus lässt sich ableiten, und die Zahlen der obigen Tabelle bestätigen dies, dass den einzelnen Figuren durchschnittlich eine sehr viel größere Anzahl von Redeauftritten zukommt, wobei die Länge der jeweiligen Redepassagen dafür sehr begrenzt ist. Im Durchschnitt spricht eine Figur in Aliscans pro Redeauftritt ca. 6 Verse lang, und die längste Rede der Hauptfigur Guillaume überschreitet 47 Verse nicht.568 Diese große Anzahl kurzer Redepassagen, oft nur ein oder zwei Verse lang, sind zum einen stark dem mündlichen Sprachgebrauch verpflichtet, zum anderen, und dieser Aspekt ist für unsere Betrachtung von weitreichenderer Bedeutung, verhindert sie längere und damit im Rezeptionserlebnis intensivere Empathieprozesse: Die Figuren können ihre Innensichten bei weitem nicht so detailliert und nuanciert beschreiben wie im Willehalm.569 Darüber hinaus fällt auf, dass der altfranzösische Text in der prozentualen Verteilung der Figurenreden auf die drei Hauptparteien Christen, Heiden und Rainouart auf andere Gewichtungen setzt als der wolframsche: Gleich bescheiden bleibt der Anteil der Heiden an den Redepassagen (mit 18% der gesamten Figurenreden). Dabei ist auch hier eine im Vergleich zu Christen (11 Sprecher) relativ große Anzahl heidnischer Sprecher (17 Sprecher) festzustellen, wodurch eine tiefere Empathie für die wenigen einzelnen Christenfiguren möglich wird. Zwischen der Christengruppe und Rainouart erfolgt jedoch eine deutliche Umverteilung zugunsten von Rainouart: Die Redeanteile des jungen, zwischen den Parteien stehenden Heiden erreichen in Aliscans bedeutende 28% der gesamten Figurenreden.570 Damit sieht sich das bereits in E1 aus der Betrachtung des Raumfilters abgeleitete Ergebnis, dass Rainouart im altfranzösischen Text eine fast gleichberechtigte Stellung neben Guillaume einnimmt, auch auf der Ebene der Figurenreden bestätigt. Vor allem wenn man bedenkt, dass Rainouart erst ab dem zweiten Teil des Textes auftritt und er dennoch so bedeutende Redeanteile erreicht, wird deutlich, dass wir in Aliscans zwischen einem Helden der ersten Schlacht (Guillaume) und einem Helden der zweiten Schlacht (Rainouart) unterscheiden müssen. Auch hier
_____________ 567 Von insgesamt 8185 Versen nehmen ca. 2885 Verse Redepassagen ein. 568 Im Gegensatz dazu stehen die Redepassagen im Willehalm, die im Durchschnitt über 20 Verse lang sind (z.B. Willehalm durchschnittlich ca. 19 Verse, Gyburc durchschnittlich ca. 26 Verse, Bernart durchschnittlich ca. 28 Verse etc.). Die längsten Reden der Hauptfiguren erstrecken sich entsprechend auf weit über 100 Verse. 569 In ihrem die Texte Willehalm und Aliscans vergleichenden Aufsatz stellt Huby-Marly fest, dass der wolframsche Text viele der kurzen direkten Reden Guillaumes streicht und auf längere Reden setzt: „Wolfram a souvent tendance à concentrer en un seul monologue le contenu de plusieurs monologues de la Chanson“ (Huby-Marly 1985: 36). Die Anteile der Figurenrede am Gesamttext berücksichtigt Huby-Marly jedoch nicht. 570 Bei Wolfram machen die Reden Rennewarts nur ca. 6% aus.
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
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ist davon auszugehen, dass diese Gleichberechtigung zu einer weniger intensiven Empathie für den einzelnen Helden führt. Die übrigen Figuren treten weit hinter Guillaume und Rainouart zurück. Gerade Guibourc bekommt im Vergleich zum Willehalm nur sehr wenig Mitspracherecht. Auch der Rest der christlichen Familie sieht sich dominiert von Guillaume. Auf Heidenseite ist überraschenderweise der am klarsten hervortretende Sprecher nicht einer der beiden Heerführer Desramé oder Thiébaut, sondern Bauduc. Diesem gesteht der Text wohl deshalb eine größere Rolle zu, weil er sich von Rainouart am Ende der zweiten Schlacht bekehren lässt und mit seinem Volk zum christlichen Glauben übertritt. Der eigentliche Kriegsverursacher Thiébaut bekommt keine einzige Möglichkeit, den Rezipienten durch einen Einblick in seine Überzeugungen für sich zu gewinnen. Die nicht besonders zahlreichen Reden Desramés müssen inhaltlich gesondert betrachtet werden. Die Benachteiligung der Heiden erscheint in diesem Text noch deutlicher, wenn man bedenkt, dass ein Großteil ihrer Reden namentlich nicht näher bestimmten Figurengruppen zugeschrieben wird, die keine individuelle Empathie begünstigen. 3.2.2 Mitleid Christen: Bereits im altfranzösischen Text dominieren Leidensbekundungen einen Großteil der Redepassagen Guillaumes. In den von Guillaume gelieferten Begründungen für dieses Leid zeigen sich jedoch im Vergleich zum Willehalm deutliche Unterschiede. Denn Guillaume klagt und leidet primär aufgrund der erlittenen Verluste in der ersten Schlacht. Mitleid und Mitgefühl mit dem lebenden Nächsten, wie z.B. mit Gyburc und den Überlebenden, wird in diesem Text kaum formuliert.571 Verlustklage steht somit deutlich über Mitleidklage, was bewirkt, dass Guillaumes Leid mit großer Wahrscheinlichkeit für den Rezipienten weniger überraschend ist, da ritualisierte Totenklage, wie sie auch Guillaume häufig äußert, zum Erwartungshorizont gehört. 572 Weniger überraschend ist Guillaumes Leid auch aus einem zweiten Grund: Es ist deutlich an das Schlachtgeschehen und die Verlusterlebnisse gebunden. So thematisiert Aliscans ab dem Beginn der zweiten Schlacht,
_____________ 571 In den meisten Leidbekundungen formuliert Guillaume die Trauer um die Gefallenen der ersten Schlacht, so z.B. in A15, 465-77/ 24, 831-58/ 41, 1742-48/ 45, 1881-87/ 46, 194047/ 46, 1974-80/ 50, 2216-25/ 52, 2288-95. Die Angst um die in Orange allein zurückgebliebene Gyburc spielt dabei kaum eine Rolle. 572 Klassische Totenklagen finden sich in Bezug auf Vivïen, vgl. A23, 807-16/ 24, 831-58/ 26, 882-928.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
die unter dem Vorzeichen des Sieges steht, keinen Ausdruck guillaumeschen Leides mehr. Dies liegt zum einen daran, dass Rainouart ab diesem Zeitpunkt die zentrale Figurenrolle übernimmt. Zum anderen jedoch sind die Verluste der ersten Schlacht beendet und die Zeit der Hoffnung und des Sieges ist angebrochen. Auch nach der Schlacht – als bei Wolfram das Leid Willehalms seinen Kulminationspunkt erreicht – leiden weder Guillaume noch seine Gefährten. Die letzten Worte Guillaumes zur zweiten Schlacht klingen erleichtert und positiv: Jhesus en soit loëz!/ Bien avez fet, mout grant preu i avrez (A170, 7356f).573 Damit belässt der altfranzösische Erzähler das Leid Guillaumes im für den Rezipienten nachvollziehbaren Bereich der Trauer um eine verlorene erste Schlacht und die damit verbundenen Toten. Die schwierigere Klage eines Willehalm nach dem Sieg über die Heiden, der Anlass zur Freude sein sollte, ausgelöst unter anderem durch einen vermissten, die Taufe verweigernden jungen Heiden, wird in diesem früheren Text noch nicht ausgeführt. Insgesamt ist dem während der ersten Schlacht leidenden Guillaume das moralisch legitimierte Mitleid der Rezipienten sehr sicher. Zudem fördern die Reden Guillaumes Mitleid mit den gefallenen Christen, vor allem mit dem immer wieder beklagten Vivïen. Ebenfalls verringert wird der Eindruck eines großen Leidens durch die weitgehend im Hintergrund verbleibende Guibourc, denn das Schicksal dieser religiösen ‚Problemfigur‘ stellt sich im Vergleich zu Wolframs Text noch relativ einfach dar. Guibourc fühlt sich allein dem christlichen Glauben zugehörig und entsprechend häufig wendet sie sich an Dex (A49, 2136) („Gott“) oder Sainte Marie (A49, 2139/ A50, 2233) („Heilige Maria“). Zwar zeigt sie auch hier Leid- und Schuldgefühle, weil ihr Glaubensübertritt den Krieg verursachte: Haï, […] lasse maleüree,/ Or puis je dire que sui achetivee,/ Par moi sont ja meinte jovente usee./ De com fort ore je fui de mere nee!/ Sainte Marie, roïne coronee,/ Quar fusse je et morte et enterree!/ Ma grant dolor n’iert jamés oublïee/ Tant que je soie en la terre boutee (A50, 2229-2236).574 Doch dabei äußert sie nie Mitgefühl mit ihren heidnischen Verwandten. Der Gedanke, dass die Tötung von Heiden prinzipiell ein Problem für sie darstellt, drängt sich dem Rezipienten an keiner Stelle auf. Vollkommen problemlos bietet sich dem Rezipienten damit moralisch legitimiertes Mitleid als Rezeptionsreaktion an.
_____________ 573 „Jesus sei gelobt! Das habt Ihr gut gemacht und werdet großen Lohn dafür empfangen.“ 574 „ah, ich Arme, ich kann wohl verzweifelt sein. Wegen mir starben viele junge Menschen. Gott, welch Unglück geschah, als ich einst geboren wurde. Heilige Maria, Königin, wenn ich nur tot und beerdigt sein könnte! Dieser tiefe Schmerz wird niemals vergessen werden können, bevor ich nicht beerdigt werde“.
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
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Rainouart: Der junge Heide Rainouart, der im altfranzösischen Text eine so wichtige Hauptrolle neben Guillaume einnimmt, offenbart auch in diesem Text sein Leid darüber, dass er trotz seiner hohen Abstammung vom König keinerlei Erziehung erhielt.575 Doch im Verhältnis zum Zuwachs seiner Sprechanteile wird dieses Leid Rainouarts nicht aus-, sondern im Gegenteil eher abgebaut. Seine Rolle beschränkt sich in Aliscans primär auf die eines fast übermenschlichen Kämpfers. Mitleid des Rezipienten ist dabei nur selten erwünscht. Heiden: Heiden zeigen in ihren Figurenreden keinerlei Leid (also auch kein Mitleid) und werden nicht von anderen Figuren bemitleidet. Rezipientenmitleid wird damit auch über diese letzte Empathielenkungsebene nicht gefördert, weshalb die Heiden ganz ohne Mitleidsförderung verbleiben. 3.2.3 Sympathie Christen: Aliscansche Sympathielenkung über Figurenreden lässt sich anhand zweier großer Bereiche, die die Reden des gesamten christlichen Personals dominieren, maßgeblich bestimmen. Gerade weil alle Christen einschließlich Guillaume und Guibourc auf diese Weise sympathielenkend reden, soll auf eine Besprechung der Einzelfiguren zugunsten einer Beleuchtung des für alle Figuren gültigen Phänomens verzichtet werden.576 Zum einen ist eine Omnipräsenz des christlichen Glaubens in allen Äußerungen festzustellen. Zum anderen formulieren alle Christen den Heiden gegenüber uneingeschränktem Hass. Beide Eigenheiten der Figurenrede sind in diesem Text, der primär heroische Erwartungshorizonte aktiviert, als absolut sympathiefördernd zu werten. Die Figurenreden aller Christen weisen konstant floskelhafte Bezüge auf den christlichen Glauben auf. Entsprechend beginnen unzählige – auch im Inhalt sehr weltliche – Redepassagen mit Dex bzw. Por Deu oder sind unterbrochen von Wendungen wie por amor Deu oder se Deu plest.577 So bittet z.B. Bertran Vivïen, sich auszuruhen: Vivïens sire, [..]/ por amor Deu, qui tot a a baillier,/ Quar vos alez sor cel estanc couchier (A6, 152ff).578 Und Guillaume verknüpft Teile des Glaubensbekenntnisses mit der Ankündigung neuer Kämpfe: Por Deu, seignor, le verai creator,/ Tant com vivons, meinte-
_____________ 575 Vgl. A88, 4536-61/ 95, 5082ff/ 95, 5096-110 und A126, 6346-50. 576 Guibourc hebt sich allerdings so stark von Wolframs Gyburc ab, dass eine Einzelbesprechung im Anschluss erfolgen soll. 577 Z.B. A8, 211 (Bertran), A7, 164 (Bertran), A12, 326 (Vivïen), A15, 465 (Guillaume). 578 „Herr Vivïen, bei der Liebe Gottes, der alles gibt und nimmt, legt euch an diesem Teich nieder“.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
nons bien l’estor (A15, 465f).579 Technisch rücken diese Eigenarten der Aliscanschen Figurenrede den Text stärker in die Nähe einer oralen Form von Literatur, bilden sie doch stark die gesprochene Rede ab. Gleichzeitig stellen sie inhaltlich den Glauben der Einzelnen noch stärker in den Vordergrund und schaffen eine konstante Verbindung von Glauben und Handeln, so dass christliches Vorgehen, auch christliches Kämpfen, prinzipiell als gottgefällig vermittelt wird. Die klare religiöse Überzeugung aller Teilnehmer führt zu einem tiefen Hass, den die beiden Gruppen reziprok empfinden und der sich nicht zuletzt in einem sehr rauen Ton der Figurenreden in Form von verbalisierter Wut, Herausforderungen, Beleidigungen und Beschimpfungen bezüglich der Gegenpartei manifestiert. So weisen die christlichen Figuren denselben abwertenden Hass den Heiden gegenüber auf wie die unpersönliche Erzählerstimme im epischen Bericht. Guillaume nennt sie im inneren Monolog cele gent, cui Dex otroit grant mal (A18, 626), stellt wenig später fest [t]rop en i a! und wünscht Damedeu les meheigne! (A19, 639).580 Die andere Religionszugehörigkeit gilt dabei durchgehend als legitimer Grund zu töten, wie Guillaume selbst verdeutlicht: Puis que li hom n’aime crestïenté/ Et qu’il het Deu et despit charité,/ N’a droit en vie, jel di par verité;/ Et qui l’ocist, si l’en set mout bon gré./ Tuit estes chien par droiture apelé,/ Car vos n’avez ne foi ne lëauté (A32, 1256-1262).581 Das im Rahmen des epischen Berichts aufgeführte gesamte Repertoire der beschimpfenden Heidenbezeichnungen sieht sich in den Figurenreden aufgegriffen und dominiert damit weite Teile des Textes. Über diese beiden Merkmale des tiefen Glaubens und des bedingungslosen Hasses Heiden gegenüber sieht sich die Besonderheit sympathielenkender Figurenrede in Aliscans weitgehend für alle Figuren erfasst. Allein Guibourcs Rolle soll noch einmal näher beleuchtet werden, da diese doch stark von der Gyburc des wolframschen Textes abweicht. Bezeichnend ist dabei, dass selbst Guibourc, die doch ihre Verwandten auf der Gegnerseite weiß, die Heiden in keiner Weise in ihren Reden lobt, sondern dass selbst sie puren Hass formuliert und den Heiden wünscht: As vis deables
_____________ 579 „bei Gott, unserem Herrn, des wahren Schöpfers, lasst uns, da wir noch am Leben sind, den Kampf weiterführen“. 580 „dieses Volk, dem Gott großes Unheil schenken möge“ bzw. „zu viele gibt es davon! Gott möge sie vernichten!“ 581 „sobald ein Mensch die christliche Religion nicht mag, Gott hasst, die Barmherzigkeit verachtet, hat er kein Recht zu leben, davon bin ich wahrhaftig überzeugt. Und derjenige, der ihn tötet, hat einen Dämon beseitigt. Er hat Gott gerächt, der ihm dafür dankbar ist. Man nennt Euch mit gutem Grund Hunde, denn ihr habt weder Glaube noch Gesetz“.
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
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soient il commandez! (2147).582 Weitere Reden, die diese Thematik vertiefen würden, existieren in Aliscans nicht, wodurch die Rolle der sprechenden Guibourc hauptsächlich auf Bekundungen ihres tiefen christlichen Glaubens und ihre Liebe zu Guillaume 583 beschränkt bleibt. Nicht nur ihr Leid ist damit seiner Tiefendimension beraubt, auch gehen von dieser Guibourc – in Aliscans eine Nebenfigur – keinerlei für den Rezipienten problematische Handlungsimpulse aus. Rainouart: Und auch Rainouart präsentiert sich in Bezug auf eine eventuelle Sympathie des Rezipienten als noch problemloser. So lässt der Text beispielsweise keinen Zweifel daran, dass Rainouart überzeugter Christ geworden ist. Er beruft sich so häufig auf Gott, Maria, Jhesu de maiesté (A114, 6057) und die verschiedensten Heiligen, wie Saint Denis (A77, 3909) oder Saint Thomas (A149, 6698), dass es für einen nicht christlich erzogenen Küchenjungen doch erstaunlich ist. Zudem lässt man gerade ihn einen wohl unbestrittenen Grundsatz der christlichen Lehre gegenüber dem Heidenkönig Haucebier vertreten: In diesem Streit geht es um den Wert von äußerem Reichtum im Vergleich zu inneren Werten. Für den Heiden Haucebier ist äußerer Schmuck gleichbedeutend mit menschlichem Grundwert, beleidigt er doch Rainouart wegen seiner ärmlichen Erscheinung.584 Rainouart hingegen vertritt die Überzeugung, dass sich die Qualität des Menschen allein in seinem Inneren zeigt, dass Gott allein über wahre Armut oder wahren Reichtum entscheidet: Le cuer n’est mie en l’ermin engoulez,/ Ainz est ou ventre la ou Dex l’a plantez./ Rois qui por dras tient homë en viltez/ N’est pas preudom, sachiez de verité,/ Quar tiex est riches qui chiet en povretez,/ Et tex est povres a cui Dex done assez (A157, 6899-6903).585 So zeigt sich Rainouart informiert und überzeugt zugleich, verhält sich wie ein wahrer Christ und widersteht mühelos den zahlreichen heidnischen Bekehrungsversuchen. 586 Entsprechend drastisch ist seine Abwertung des
_____________ 582 „zu den schlimmsten Teufeln mit ihnen!“ Genauso distanziert wie die persönliche Erzählinstanz bezeichnet Guibourc die Heiden als la gent mescreant (z.B. A81, 4230; „ungläubiges Volk“) oder Turs (z.B. A54, 2356) („Türken“). 583 Vgl. z.B. A49, 2136-47/ 55, 2369-83/ 55, 2433-40. 584 Dies drückt er mit den folgenden Worten aus: Tes, fol escervelez!/ Ja hom a pié n’iert par moi adesez./ Tes dras ne valent .II. deniers monneez;/ Bien sembles fox, se tu estoies rez (A157, 6893-96) („schweig, du Verrückter ohne Verstand! Niemals würde ich einen Mann ohne Rüstung anrühren. Deine Kleidung ist keine zwei Dinare wert. Man würde dich für einen Verrückten halten, wenn dein Kopf rasiert wäre“). 585 „Das Herz sitzt nicht in hermelingefütterter und -verzierter Kleidung, sondern in der Brust, dort, wohin Gott es gesetzt hat. Ein König, der einen Mann aufgrund seiner Kleidung verachtet, ist nicht weise, seid dessen gewiss, denn der Reiche ist arm und der Arme ist vor Gott von Reichtümern überhäuft“. 586 Er widersteht beispielsweise Valegrape (vgl. A138, 6493f), Bauduc (vgl. A166, 7164ff) und Grishart (vgl. A140, 6527ff). Gegenüber Bauduc beteuert er besonders beeindruckend die
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
heidnischen Glaubens: Mahomet ist nach Rainouarts Überzeugung keine zwei Eier ohne Schalen wert, man könne ihn getrost in die Gosse stoßen wie einen toten Hund.587 Er ordnet sich so stark den Christen zu, dass er die Heiden als pute racine (A125, 6305) und lignage de singe (A125, 6306)588 bezeichnet und die Heiden ohne Gewissensbisse bekämpft. Selbst Verwandte tötet er meist mit Stolz, wenn diese sich seinen Bekehrungsversuchen verweigern.589 Seine Zuneigung macht er allein vom richtigen Glauben abhängig, der die Blutsverwandtschaft übertrifft. Dies wird sehr deutlich, wenn er ruft: Je sui filz Desramé,/ Mes s’il ne croit Jhesu de maiesté,/ Je l’ocirré de cest tinel quarré (A114, 6056ff).590 Unentschlossenheit in der Religionszugehörigkeit oder emotionale Schwierigkeiten, die ein Übertritt mit sich bringt, spielen in Aliscans noch keine Rolle. Der christliche Glaube führt vielmehr ohne weiteres zur Taufe von Rainouart und zur Bekehrung des Heidenkönigs Bauduc. Heiden: Die heidnischen Figurenreden lassen sich in sehr wenige Kategorien einteilen, die allesamt eher Antipathie als Sympathie bewirken. Die erste, weitaus größte Kategorie, die alle Heidensprecher ausgiebig gebrauchen, kann mit dem Titel ‚Drohungen und Provokationen‘ gefasst werden. Über die Pejorativa und Verwünschungen in inneren Monologen (wie sie auf Christenseite dominieren) hinaus, erscheinen Heiden oft als direkte Aggressoren, die die Christen herausfordern und provozieren. Der Ton ist dabei stets ähnlich, wie er bereits in der zweiten Laisse durch Desramé festgelegt ist: Tuit morrez a dolor!/ Encui perdra Guillaume sa valor;/ Ja de ses homes n’istra uns de cest jor (A2, 42ff).591 Diese Siegessicherheit, die immer wieder hervorbricht, lässt den Rezipienten wahrscheinlich Partei für die
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Überzeugtheit seines Glaubens: Ge croi en Deu et ses saintes bontez,/ Et la pucele quel porta en ses lez./ Tant com je vive n’en ert mes cuers tornez („Ich glaube an Gott und seine Gnade, und an die Jungfrau, die ihn trug. Solange ich lebe, werde ich mein Herz nicht davon abwenden“). „Quar Mahomet ne vaut .II. oés pelez, […] Si le puet l’en giter en ces fossez/ Si comme un chien se il estoit tüez“. „Hurenstamm“ / „Affenvolk“. So stellt Rainouart befriedigt fest: Monjoie! escrie, Guillaume, j’ai josté./ Alons as autres, cestui ai affiné./ Mi cosins iert et de mon parenté (A114, 6047-49; „Monjoie! rief er, Guillaume, ich habe gekämpft./ Gehen wir zu anderen über, mit diesem bin ich fertig./ Er war mein Cousin, einer meiner nächsten Verwandten“). In den Versen A157, 6861-66 zeigt Rainouart Reue, weil er seine nächsten Verwandten erschlagen und seinen Vater Desramé verletzt hat. Im Anschluss bemüht er sich, nicht mehr gegen nächste Verwandte zu kämpfen, doch als Bauduc den christlichen Glauben zunächst verweigert, kämpft er doch auch gegen diesen Cousin und wirft so seine Selbstvorwürfe wieder über Bord (vgl. A166ff). „ich bin der Sohn Desramés, aber wenn er nicht an Jesus, den König den Ehren, glaubt, werde ich ihn mit dieser großen und harten Stange erschlagen“. „ihr werdet alle unter Qualen sterben! Heute noch wird Guillaume seine Macht verlieren; keiner seiner Männer wird den heutigen Tag überleben“.
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zahlenmäßig weit benachteilten Christen ergreifen. In höchstem Maße unsympathisch dürften dem christlichen Rezipienten die Verunglimpfungen des christlichen Glaubens gewesen sein, die stets die Machtlosigkeit des christlichen Gottes betonen.592 Darüber hinaus werden immer neue Bekehrungsversuche der Heiden, vor allem gegenüber Rainouart dokumentiert, die ebenfalls nur negativ bewertet werden können.593 Die Heiden selbst zeigen sich standhaft in ihrem Glauben; allein Bauduc lässt sich von Rainouart am Ende bekehren. Und allein diesem Heiden ordnet der Text auch sympathiefördernde Reden zu: Bauduc verlangt die Taufe594 und drückt Wertschätzung für Rainouart aus.595 Einen wichtigen Punkt für die Bewertung des Rezipienten macht die Kampfmotivation aus. Diese beschreibt Desramé in der zweiten Schlacht als Rache an Guillaume für die toten Vasallen und Könige, aber auch, und dies stellt den ursprünglichen Angriffsgrund dar, für die Tatsache, dass Guillaume seinem Neffen Thiébaut Land nahm (Guibourc erscheint bezeichnenderweise nicht als Kriegsauslöser). Dafür soll nun Rache erfolgen: Hui est li jorz que l’en rendré saluz;/ N’i garira mes juenes ne chenuz;/ Ja de ses homes n’en eschapera nus,/ Et il meïsmes iert as forches pendus (A115, 6125-28).596 Genauso gibt auch die Heidengruppe die Rache für die Entehrung Thiébauts als Kriegsgrund an; nun soll die Christenheit zerstört werden (vgl. A9, 238-50). Diese teilweise durchaus legitimen Gründe werden jedoch von vorher als sympathisch etablierten Christen sofort als Lügnerei abgetan: Voir, dist Bertran, vos i avez menti (A9, 251).597 Ohne eine alternative Wahrheit anzugeben, hat Bertran so die Heiden als Lügner bezeichnet und die Kriegslegitimation der Heiden zumindest teilweise zurückgenommen. Insgesamt können die überheblichen, drohenden, nach der Zerstörung der Christenheit strebenden Heiden, die sonst keine Gelegenheit bekommen eine nachvollziebare Innenweltsicht zu präsentieren, vom mittelalterlichen Rezipienten in keiner Weise positiv bewertet werden.
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592 Die Heidengruppe formuliert so beispielsweise: Ja vostre Deu ne vos avra mestier,/ Ne vos parra secorre ne aidier (A29, 1063f; „euer Gott wird Euch von keinerlei Nutzen sein, er wird euch weder retten noch euch helfen können“). Damit wird wahrscheinlich auch die häufige Kritik der mittelalterlichen islamischen Welt aufgegriffen, die in Leid und Kreuzigung Jesu den Beweis seiner Machtlosigkeit sah. So fragte auch Terramer im Gespräch mit Gyburc, warum der sterbende Jesus nicht von den anderen Göttern vom Kreuz errettet wurde (vgl. W219, 1f). 593 Vgl. die Bekehrungsangebote an Rainouart durch Desramé (A154, 6801-7), Valegrape (A140, 6524-27/ 143, 6604f) und Grishart (A148, 6687-96). 594 Vgl. A169, 7315-27/ 170, 7391. 595 Vgl. A164, 7058-65/ 169, 7334-37 und 170, 7345. 596 „heute werde ich es ihm mit gleicher Münze heimzahlen. Er wird weder Alte noch Junge schützen können. Nicht einer seiner Vasallen wird entkommen und er selbst wird am Galgen erhängt werden“. 597 „in Wahrheit, sagt Bertran, habt ihr gelogen“.
258
III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
3.3 Hystoria von dem wirdigen ritter sant Wilhelm – Figurenreden (E3) 3.3.1 Empathie Christen
Heiden
Innensichtpräsentierende Redeverse der Figurengruppe
ca. 206 (= ca. 78% der Redeverse)
ca. 13 (= ca. 6% der Redeverse)
Innensichtpräsentierende Redeverse pro Figur
Wilhelm (ca. 93) Kiburg (ca. 60) keiserin (ca. 11) Irmenschart (ca. 8) Fiuiancz (ca. 7) keiser (ca. 6) Alter Ritter (ca. 4) Heinrich (ca. 3) priester (ca. 3) engel (ca. 3) Arnold (ca. 2)
Terramer (ca. 11) Terribuleis (ca. 2)
Rennuart ca. 46 (= ca. 17% der Redeverse)
Gruppen: Fliehendes Heer (ca. 3) unbestimmte Gruppe (ca. 2) Brüder (ca. 1)
Der Text des 15. Jahrhunderts arbeitet in ca. 41% des Gesamttextes mit Figurenreden598 und liegt damit im Anteil der Figurenreden am Gesamttext leicht höher als die Texte Willehalm und Aliscans. Die zunehmende Verschriftlichung der Texte führt anscheinend zu längeren Einzelreden: Während Aliscans auf viele kurze Reden setzt, verlängern sich die Einzelreden im Willehalm, und auch in der Hystoria sprechen Figuren meist über mehrere Prosazeilen hinweg. Der quantitative Anteil der heidnischen Fi-
_____________ 598 Von insgesamt 649 Prosazeilen des Gesamttextes geben ca. 265 Zeilen Figurenreden (von Christen, Heiden und Rennuart) wieder.
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
259
gurenreden findet sich auf ca. 6% der Gesamtreden extrem verringert und erreicht damit einen Tiefpunkt. Das Publikum ist somit fast ausschließlich mit den zahlreichen christlichen Sprechern, vor allem mit Wilhelm und Kiburg, konfrontiert, womit Empathie in diesem Text fast ausschließlich mit Christen und Rennuart entstehen kann. Auf christlicher Seite zeigt sich einerseits die Entwicklung hin zu wenigen zentralen Hauptfiguren und andererseits die Entwicklung hin zu einer starken Frauenrolle: Kiburgs Redepassagen machen in diesem Text immerhin zwei Drittel der Redeanteile Wilhelms aus. Damit sieht sich die Entwicklung einer zunehmenden Konzentration auf den Haupthelden Willehalm und einer Verstärkung der Rolle Gyburcs seit der altfranzösischen chanson de geste konsequent weitergeführt. Die übrigen christlichen Figuren treten demgegenüber stark in den Hintergrund. 3.3.2 Mitleid Wilhelms Leid ist in den Figurenreden, im Gegensatz zum Willehalm, nicht mehr omnipräsent. Zwar klagt Wilhelm noch über den Tod Fiuiancz’, später auch über Rennuarts Verschwinden und den Krieg generell.599 Deutlich gemindert aber ist die Intensität des Leidens, und auch die Situation schlechthin veranlasst Wilhelm in geringerem Maße zur Klage. Obwohl das Gottvertrauen der Figuren nicht größer ist als das der Figuren des Willehalm, wirkt sich hier Wilhelms Glaube im Sinne eines gemilderten Leidempfindens aus. Leid ausgelöst durch Mitleid spielt zwar nach wie vor innerhalb der christlichen Familie eine wichtige Rolle, doch auch hier ist das Leiden weniger intensiv ausgedrückt.600 Das Leid der Zwischenfigur Rennuart verändert sich im Vergleich zu den Vorgängertexten inhaltlich wenig. Rennuart klagt immer noch über die schlechte Behandlung am Königshof trotz seiner hohen Abstammung. 601 Für die Christen und Rennuart kann so nach wie vor moralisch legitimiertes Mitleid des Rezipienten, wenngleich weniger intensiv, angenommen werden. Unter den Heiden spielt Leid kaum eine Rolle. In einer einzigen Klagerede drückt Terramer sein Leid über die abtrünnige Tochter aus (vgl. H244, 9-17/139vbf). Zwar verleiht ihm dieses Leid menschliche Züge und
_____________ 599 Vgl. die Klage um Fiuiancz in H236, 13-15/133ra, die Klage um den vermissten Rennuart in H253, 22-29/147rbf sowie die Klagerede über den Krieg allgemein H238, 32f/135rb. 600 Auf Wilhelms Bitte um Hilfe hin drücken seine Eltern und Geschwister nach wie vor ihr Mitleid aus (z.B. seine Schwester in H241, 1-4/137rb; sein Bruder Arnold in H238, 33ff/ 135rb und seine Mutter in H240, 11-19/136vaf). Doch auch sie betonen ihr Leid weniger als im Willehalm. 601 Vgl. H242, 33 – 243, 2/138vb und H248, 13ff/143ra.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
provoziert mit Sicherheit auch einen Mitleidsaffekt des Rezipienten, doch zu moralisch legitimiertem Mitleid kann dieser Affekt nicht führen, da die Rede ansonsten vor allem dem Zweck des Rückbekehrungsversuches gewidmet ist. Terramers Flehen und Liebkosen der Tochter hält nur solange an, bis sie sich deutlich zum Christentum bekannt hat. Schon in der nächsten Figurenrede Terramers kündigt dieser einen erbarmungslosen Sturm auf Orange und Kiburg an (vgl. H245, 1f/140rb). Insgesamt kann festgehalten werden, dass die Rezeptionsreaktion Mitleid in diesem spätmittelalterlichen Text nicht mehr die exponierte Rolle spielt, die ihr im Willehalm zukommt. Die Frömmigkeit der Figuren drückt sich weniger im Leiden aus Mitleid aus als vielmehr in einer vom Glauben gegebenen Zuversicht. 3.3.3 Sympathie Christen: Ein wenig stärker vertreten sind dagegen die sympathielenkenden Strukturen. Dabei dürfte ein Hauptargument für Wilhelm in seinem tiefen christlichen Glauben liegen, welcher maßgeblich für die oben erwähnte leidmildernde Zuversicht Wilhelms verantwortlich ist. Diese lässt ihn nicht nur fest von der Errettung der Seelen ausgehen, sondern auch vom bevorstehenden Sieg der Christen. Bedingung für den Sieg ist dabei, und dazu ermahnt Wilhelm entsprechend seine Kämpfer, daz si got an rfftent vnd jm ze eren strittent vnd den globen ze beschirmen. Die Folge, auf die Wilhelm fest vertraut, ist dann: so werent si sicher, gott liessi si nit (H250, 20f/145ra). Gleiches verlangt er von Gyburc, als er sie verlässt, und es wird deutlich, dass für ihn die Rettung von Burg und Bevölkerung vom Vertrauen auf Gott abhängt: vnd hab du ?ch ein gGt getrúwen in gott und rGff jn flislich an vnd bis nit ze zag, das du durch ir tröwen ald durch ir geheis die burg vff gebist, so mugent si si ?ch mit keinem sturm gewinnen; so ist hie ?ch spis genGg (H237, 28ff/134rb). Wilhelm entspricht damit ohne Zweifel einem in Nuancen anderen mittelalterlichen Frömmigkeitsideal als Wolframs Willehalm: Während Willehalm seinen Glauben vor allem durch sein Mitleiden mit anderen Figuren beweist, demonstriert der spätmittelalterliche Wilhelm seinen Glauben in aus Gottvertrauen abgeleiteter Zuversicht. Beide Frömmigkeitsformen sind vorbildlich, allein die Akzentsetzungen sind verschieden. In auffälligem Kontrast zu Wolframs Willehalm rechtfertigt Wilhelm sein Verhalten an keiner Stelle. Dies erscheint nur logisch, denn in der Hystoria gibt es keine Anzeichen dafür, dass Wilhelms Verhalten in irgendeiner Form umstritten sein könnte. Der Glaubenskrieg insgesamt erscheint moralisch in keinster Weise fragwürdig, die Tötung Arofels wird bis zur Unkenntlichkeit verkürzt (kein Flehen des Heiden, kein Bitten um
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
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Sicherheit),602 Wilhelms Zorn am Hof ist gemildert, verlangt kein Eingreifen von außen und wird von niemandem thematisiert,603 die Liebe zwischen Gyburc und Wilhelm ist jeder sexuell-fleischlichen Dimension entkleidet und präsentiert sich allein als reife und vollkommene Ehe. Diese Entproblematisierung kann nur zum Teil durch die allgemein extreme Verkürzung begründet werden, denn an anderen Stellen greift der Prosateur durchaus auch erweiternd ein und gestaltet ihm wichtige Stellen ausführlich. Der Text spart vielmehr alle potentiell angreifbaren Aspekte seiner Hauptfigur strategisch aus, so dass ein wenig individueller, aber vorbildlicher Held übrig bleibt.604 Als logische Folge kommt den Urteilen, die dieser unumstritten vorbildliche Held über andere Figuren formuliert, entsprechende Autorität zu. Im Gegensatz zu Willehalm lobt und kritisiert der spätmittelalterliche Wilhelm der Hystoria ausschließlich Christen und schenkt den Heiden entsprechend keinerlei Aufmerksamkeit. Das Lob trifft, dem sparsamen Text entsprechend, nur den gefallenen Fiuiancz und den vermissten Rennewart.605 Kritisiert werden auch hier das Königspaar und der Königshof, wenn auch weniger drastisch als in Aliscans und Willehalm.606 Die auf Kiburg angewendeten sympathielenkenden Strategien weisen ähnliche Grundzüge auf. Auch das Leid der weiblichen Hauptfigur wird durch ihr Gottvertrauen in den Hintergrund gedrängt. Und wenngleich auch die wolframsche Gyburc fest ihren christlichen Glauben betont, so erscheint der Glaube Kiburgs in ihren Reden noch dominierender. Wie auch Wilhelm setzt sie ins Zentrum ihres Glaubensverständnisses die Zuversicht im Leid (im Gegensatz zur Barmherzigkeit im Zentrum von Gyburcs Glaubensverständnis): Gott der allmechtig, der mich geschaffen h"t von nicht "n min verdienen, der haut mir och krafft vnd macht verlúhen (H247, 15f/142rb).607
_____________ 602 Die gesamte Szene lautet: Darnach kam jn kúng an, der bot jm land vnd lút, daz er in liesse leben; er wolt es aber nit tn vnd er tot in vnd zoch im sin gewand ab vnd leit das an vnd sin rosß vnd sin schwert, wonn er vmb ross vnd schwert waz kommen (H236, 34 bis 237, 2/ 133va). 603 Die gesamte Szene lautet: Ab der red ward der marcgr"ff als zornig, daz er der keiserin die cronen ab dem h?pt warff vnd erwust si be: dem h"r, das man jm si kum vss den henden brach vnd beschalt si recht úbel. Vnd also kam Heinrich, sin vatter, vnd sin mter vnd enpfiengent inn vnd fragten jn, was sin kumber vnd sin not wer (H239, 33-36/ 136rb). 604 Auf diese Tendenz, alle eventuell zweifelhaften Charaktereigenschaften der christlichen Figuren zugunsten einer Exemplarizität zu vermeiden, verweist auch Deifuß (Deifuß 2005: 129). 605 Für das Lob Fiuiancz' siehe H236, 13ff/133ra; H236, 17ff/133rb; für das Lob Rennuarts siehe H251, 17ff/145vb; H253, 22-29/147rbf. 606 Vgl. z.B. H239, 26-30/136raf und H241, 32ff/138ra. 607 Ihrem Vater gegenüber lässt der sonst so häufig kürzende Autor sogar die glaubensbekenntnisähnlichen Ausführungen Kiburgs ungewöhnlich ausführlich stehen. Sie beschreibt hier Gott als den Schöpfergott und Erlösergott sowie seine Macht, die sich im Tod Jesu am Kreuz manifestiert. In den selben Passagen weist sie, trotz des allgemein verringerten
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
Von einem barmherzigen Gott ist hier nicht mehr die Rede. Wie im Willehalm dient diese überdeutliche Betonung des Glaubens Kiburgs dazu, jegliches Misstrauen der bekehrten Heidin gegenüber auszulöschen. Darüber hinaus dient der Glaube in diesem Text stärker als in den Vorgängertexten der Vermeidung exzessiven Leidens.608 Ihren heidnischen Verwandten gegenüber findet Kiburg, Wilhelms Äußerungen entsprechend, kein lobendes Wort mehr. Terramer wird auch hier der tumpheit (H244,18/140ra) bezichtigt, und an Tybalt lässt sie ebenfalls nichts Freundliches mehr (vgl. H247, 15-32/142rbff). Auch die Reden der übrigen Christen lassen einige Besonderheiten erkennen. Fast zu erwarten ist die Abschwächung der Kritik der Kaiserin, Wilhelms Schwester, gegenüber. Hier greift vor allem Wilhelms Mutter legitimierend ein und führt das falsche Verhalten der Kaiserin auf deren Schmerz um den toten Fiuiancz und ihr Wesen als Frau (!) zurück (vgl. H240, 16-19/136,vb). Auch hier setzt sich also die Tendenz, christliche Figuren zu idealisieren, durch. Besonders auffällig veränderte Figurenreden finden sich am Ende der zweiten Schlacht. So setzt Wilhelms Familie (Vater Heimrich und die Brüder) in der berühmten Matribleiz-Szene neue Akzente: Obwohl Wilhelm auch hier die die toten heidnischen Verwandten einbalsamieren und in ihre Heimat überführen lässt, resultiert diese Tat nicht nur aus Mitleid und triuwe Gyburc und den verwandten Heiden gegenüber, sondern wird vielmehr durch die Worte der Familie ausgelöst: es wer aber notdurfftig, das du lgtest, daz die toten ab dem feld kemment, ein semliche menge vervnreint den lufft von schmack, vnd das die cristen beuolhen wurdent der gewichten erden (H253,36-254,3/ 147vb). Weitere Gefangene werden ebenfalls befreit, auf daz si die toten ab dem feld tügent (H254,30f/148va). Es geht hier also lediglich darum, den Gestank abzuwenden und Ordnung zu machen – um so wahrscheinlich adäquate Bestattungsbedingungen für die Christen zu schaffen. Mitleid mit den Heiden ist keine Motivation mehr. Aus diesen zusätzlichen Figurenreden – und vor dem Hintergrund der allgemeinen Tendenz zur Idealisierung – können wir schließen, dass Barmherzigkeit den Heiden gegenüber wohl nicht positiv bewertet hätte werden können. Erst der
_____________ Raums, noch expliziter als Gyburc auf die Machtlosigkeit der heidnischen Götter im Vergleich zum christlichen Gott hin (vgl. H243, 31-244, 8/139vaf; H244, 18-25/140ra). 608 Figurenreden Kiburgs, die die Liebe zu Wilhelm als Grund für ihren Glaubensübertritt angeben, entfallen. Dem Prosateur „ist einzig und allein daran gelegen, mit der Prosabearbeitung nachzuweisen, daß nur durch den festen Glauben an Gott und seinen Beistand die Widrigkeiten des Lebens zu meistern sind; so wird auch der durch das Sakrament der Ehe legitimierten Minne lediglich der Status einer nachgeordneten Handlungsmotivation eingeräumt“ (Deifuß 2005: 132).
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
263
pragmatische Grund der Säuberung von den Leichen vermag die Aktion zu legitimieren. Am meisten fallen jedoch vollkommen neue, vom Prosateur hinzugefügte Sprecher auf, Figuren also, die weder aus Aliscans noch aus dem Willehalm bekannt sind. Trägt man der Tatsache Rechnung, dass der Text normalerweise ausschließlich verkürzt oder den status quo belässt, so muss den wenigen neu geschaffenen Elementen besonderes Gewicht beigemessen werden. Da ist zum einen ein alter ritter, der es am Ende schafft, den Kaiser zur Aufstellung eines Heeres zu überzeugen. Das von ihm angeführte Argument wirft ein neues Licht auf die Entscheidung der Familie und Ritter, Wilhelm im Kampf zur Seite zu stehen. Der alte Ritter betont, dass die Heiden noch nie so weit vorgestoßen seien. Und l"nd ir si an dem marcgr "fen úber hand gewinnen, si komment noch fúrer vnd dez gewinnet die keiserlich cron schannd vnd vner vnd spricht man, jr sigent nit Karolus sun vnd kind, wonn der hett ein semliches nút get"n (H242, 1-4/138ra). Der weise Ritter betont die Gefahr für Territorium und Christentum, die von den Heiden ausgeht. Der Kaiser, der sich auf diese Argumentation hin umstimmen lässt, agiert folglich kaum aus triuwe und/oder Mitleid mit Willehalm oder Kiburg, sondern primär aus einer militärischen Notwendigkeit heraus. Der Reichsgedanke gewinnt deutlich Oberhand über zwischenmenschliche Werte, seien sie nun höfisch oder christlich motiviert. Als zweiter neuer Sprecher taucht ein Priester am Ende der zweiten Schlacht auf. Dieser schafft es, die Trauer um die Gefallenen nach der zweiten Schlacht zu zerstreuen, indem er auf die Rettung ihrer Seelen verweist: Vnser her ist nitt ze clagnen, wonn ir selen sind vor gotz angesicht in dem leben der ewigen fr°id, wann das h"n ich gesehen, daz die heilgen engel jr selen gewartet h"nd (H253, 16ff/147rb). Er agiert als Zeuge für die von der Kreuzzugsideologie vertretenen Lehre. Auch hier sieht sich der bereits festgestellte Grundgedanke aufgegriffen, nach dem der Glaube nicht das Leiden ins Zentrum rückt, sondern die Zuversicht. Schließlich sind die Seelen aller Toten erlöst. Ausdauernde Klagen sind so unnötig geworden. Wilhelm trauert allein weiter, weil er Rennewarts Tod fürchtet und dieser nicht getauft ist, für ihn also die folgenden Worte des Priesters zutreffen: Jch h"n ouch gros fr°die gesehen an den b°sen geisten, die der heiden selen gefürt h"nd in die pittren hell (H253,18f/147rb). Der Priester und Wilhelms Reaktion auf seine Worte machen nicht nur deutlich, dass es in der Hystoria keinen Zweifel an der Erlösung der Christen und der Verdammung der Ungetauften gibt (dies betont auch der Willehalm). Im Gegensatz zum wolframschen Text wird hier kein Gedanke an eine mögliche Errettung auch der Heiden oder an eine eventuelle zukünftige Glaubensumkehr verschwendet. Das Schicksal der Heiden ist im Negativen besiegelt und daran wird nichts geändert.
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
In Bezug auf die Bewertung der Heidengruppe fällt auf, dass bereits die Hinwendung zu Heiden ein Problem darstellt. Nur so lässt sich erklären, dass die Liebe der schönen Königstochter Elis zum heidnischen Küchenjungen Rennuart anfangs nicht durch Anziehung, sondern durch Mitleid motiviert ist. Zunächst erbarmet si (H242, 23/138va) der Junge, der von den Knechten verspottet wird. Doch dieses Erbarmen betrifft nicht generell den armen Nächsten, wie es im Willehalm häufig der Fall ist, sondern deutlich nur den Königssohn Rennuart, denn er tut ihr leid, wonn jr hercz seit ir, daz er edel von geburt was (H242,23f/138va). Bevor das Publikum das Verhalten von Elis und ihre Zuneigung gutheißen kann, muss Rennuarts hohe Abstammung als legitimierender Faktor genannt werden. Rennuart: Der junge Heide Rennuart formuliert auch in der Hystoria ausschließlich sympathiefördernde Reden. Darin thematisiert er seinen Glauben an den christlichen Gott und die entsprechende Abwendung vom Heidentum,609 den Hass gegen die Heiden und die Treue zu Willehalm, 610 die Liebe zu Elys611 und seine Kampfeslust.612 Die Kritik an Mahomet ist im Vergleich zu den Vorgängertexten noch stärker ausgebaut und reflektierter formuliert, womit sich die bisherigen Ergebnisse der Akzentuierung des christlichen Glaubens und der Abwertung des Heidentums fortsetzen.613 Überraschenderweise ebenfalls ausgebaut ist die Geschichte seiner Vergangenheit: Seine Brüder haben ihn aus Neid verkauft, weil sein Vater ihn besonders liebte.614 Diese negativ zu wertende und die Brüder kritisierende Intention wurde bisher nicht thematisiert und kann als sympathiehemmend für die Brüder, aber auch als Aufwertung für Rennuart verstanden werden. Insgesamt sieht sich Rennuart zu weiten Teilen seines komisch-burlesken Auftretens enthoben und gliedert sich damit einheitlicher in die Reihe der vorbildlichen Kämpfer ein.
_____________ 609 Vgl. H242, 29-32/138vb und H251, 3f/145rb. 610 Hier formuliert Rennuart sogar die Bereitschaft Vater und Brüder aus Hass zu töten (vgl. H249, 11-15/143vbf: so bin ich jnen so gehasß, das ich minen vatter vnd brüder als wol t°te als ander). 611 Vgl. H250, 1ff/144va und H251, 20f/145vb. 612 Vgl. H250, 11/144vb und H251, 19ff/145vb. 613 Vgl. H242, 29-33/138vb: Ich heiß Rennuart vnd betten Machmeten, den grosen got, an vnd h"n in aber dick vnd vil angerüfft vnd jm min ellend vnd min not geclaget, er wolt mich aber nie erh°ren vnd darvmb bin ich jm zwifflen vnd will mich han an Cristum, dem du ?ch vndertenig bist. 614 Vgl. H248, 24-27/143rb: Vnd do ich ein kind waz, do verkoften mich min brder, wonn von miner sch°ni vnd daz ich minem eni, mines vatter vatter, glich waz, darvmb hatt mich min vatter gar lieb vnd daz mgt min brder vnd verkofften mich. Rennuarts Schicksal ähnelt dabei wohl nicht zufällig dem des alttestamentarischen Joseph, der ebenfalls von seinen Brüdern verkauft wurde, weil dieser der Liebling des Vaters war. Über Joseph rückt Rennuart in die Nähe derjenigen Heiden, die trotz fehlender Taufe von Gott Liebe und Erhöhung fanden (vgl. Genesis 3750).
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
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Heiden: Die Reden der Heiden beschränken sich fast ausschließlich auf Drohungen gegenüber Wilhelm oder den Christen generell. Abgesehen von Terramer sprechen die übrigen Heiden nur im Rahmen ihrer Schlachtrufe Apollo, Machmet, Tervigant (H235, 20f/132rb), die noch einmal auf die Differenz des Glaubens und auf den vom christlichen Rezipienten als falsch empfundenen Polytheismus hinweisen. Insgesamt machen die Figurenreden Sympathie für Heiden unmöglich. 3.4 Zwischenergebnisse zur Ebene der Figurenreden Auf die zentralen Leitfragen der Arbeit bezogen können die aus der Analyse der dritten Empathielenkungsebene (Figurenreden) entstandenen Ergebnisse wie folgt resümiert werden: 3.4.1 Erzähltechnische und inhaltliche Umsetzung von Empathielenkung Erzähltechnische Umsetzung: Figurenreden werden in allen drei Texten in ausgeprägtem Maße zum Zweck der Empathielenkung eingesetzt. Im Anteil der Figurenreden am Gesamttext herrscht mit ca. 35% in Aliscans und Willehalm und ca. 41% in der Hystoria weitgehende Übereinstimmung. Allein in der konkreten Gestaltung lassen sich Unterschiede erkennen, die, gerade in Bezug auf Aliscans und Willehalm, auf eine Entwicklung von rein oral vermittelter zu auch in Buchform vorliegender Dichtung hinweisen. Während der altfranzösische Text sehr viele sehr kurze Reden einsetzt, nutzt der mittelhochdeutsche Text verstärkt längere Redepassagen, die sich über mehrere Dreißigerabschnitte erstrecken können und die so aufgrund ihrer Länge und der daraus entstehenden Komplexität auf eine schriftliche Überlieferung angewiesen sind. Kurze, Mündlichkeit imitierende Reden stehen so elaborierteren Reden gegenüber, die detailliert argumentieren und rhetorisch brillieren. Der erhöhte Anteil der Figurenreden am Gesamttext in der Hystoria in Zusammenhang mit wenigen Sprechern deutet auf eine Fortführung dieser Entwicklung von Oralität zu Schriftlichkeit hin. Bezüglich des Empathielenkungseffekts lässt sich die bereits für E2 formulierte Beobachtung bestätigen, dass Aliscans primär auf rein affektive Empathie setzt: Viele kurze, oft spontan wirkende Ausrufe der Figuren fördern weniger rationalen Nachvollzug als affektives Miterleben, während längere Reden, wie sie im Willehalm und auch in der Hystoria auftreten, eine intensivere und komplexere Empathie ermöglichen. Entspre-
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
chend finden sich auch für die Ausgestaltung von Mitleid und Sympathie über Figurenreden in den späteren Texten vielfältigere Möglichkeiten. Die Tiefe des Empathieeffekts für einzelne Figuren sieht sich in Aliscans, wie bereits erwartet, weniger nachhaltig verfolgt, da die Rolle des Hauptsprechers zwischen Guillaume (in der ersten Schlacht) und Rainouart (in der zweiten Schlacht) aufgeteilt wird. Im Willehalm hingegen ist der Fokus der geförderten Rezipientenempathie durchgehend Willehalm. Gyburc tritt nicht zu ihm in Konkurrenz, sondern dominiert allein Zwischenpassagen. Inhaltliche Konkretisierung der narrativen Strukturen: Die inhaltliche Konkretisierung der Figurenreden in den drei analysierten Texten lässt zunächst eine deutliche Verschiebung in der Bedeutung des Leides als Auslöser von Mitleid erkennen. Der den Ausgangspunkt bildende Text Aliscans formuliert hauptsächlich während der ersten Schlacht, die zur Niederlage der Christen führt, tiefes Leid (vor allem in Bezug auf Guillaume). Das Leid Guibourcs spielt dabei eine recht geringe Rolle. Das in diesem Text von Figuren ausgedrückte Leid ist, und damit besteht Übereinstimmung zu den Ergebnissen der vorhergehenden Empathielenkungsebenen, fest an die Niederlage der ersten Schlacht und an die Klage um die dort Gefallenen gebunden. Der christliche Sieg am Ende der zweiten Schlacht führt entsprechend zu zufriedenen und freudigen Figurenreden. Im Willehalm findet die Anzahl der leidthematisierenden Reden dann ihren Höhepunkt. Klagereden von Christen und Heiden um gefallene Kämpfer machen dabei nur einen Teil aus. Im Zentrum steht dagegen klar das von Christen formulierte Mitleid für Willehalm und Gyburc, aber auch das gegenseitige Mitleid der beiden Hauptfiguren, welches sich immer in seiner helfenden Form der misericordia präsentiert. Der Leidausdruck generell, auch der exzessive Willehalms, wird an verschiedenen Stellen ausdrücklich legitimiert. Willehalm begründet sein Leiden gerade mit der notwendigen triuwe anderen gegenüber und beruft sich dabei immer wieder auf den leidenden Gott, in dessen Nähe der leidende, gläubige Mensch damit rückt. Der Wert des Mitleids sieht sich vor allem von Gyburc und Willehalm in ungekannter Universalität gefordert. Sie zeigen und fordern Mitleid selbst in unerwarteten Bereichen. Gyburc verlangt in ihrer Mitleidsrede, barmherziges Handeln, wenn möglich, d.h. in Momenten der Gefahrlosigkeit, auch auf Heiden, deren Eigenschaft der Geschöpflichkeit Gottes hervorgehoben wird, auszudehnen. Willehalm bemitleidet Rennewart und zeigt nach der Schlacht den Heiden gegenüber Barmherzigkeit. In der Hystoria sieht sich das Leid dann prinzipiell, und nicht nur für die Zeit nach dem Sieg, sondern generell, von seiner Position der vorherrschenden Emotion ver-
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
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drängt. Einige Klagereden bleiben, doch Rezipientenmitleid dürfte hier keine tragende Rolle mehr spielen. Im Rahmen der sympathielenkenden Redeinhalte herrscht ebenfalls grundsätzlich Übereinstimmung, im Detail zeigen sich jedoch folgenreiche Unterschiede. Der in allen drei Texten am deutlichsten positiv verwendete Redeinhalt ist der von den Figuren bekundete christliche Glaube. In Aliscans ist dieser ein Glaube, der der frühen Kreuzzugsideologie entspricht: Er ist tief und entschieden und von Hass den Heiden gegenüber geprägt. Im Willehalm wird dann ein Glaube gefordert, in dessen Zentrum der Gedanke an die Barmherzigkeit Gottes steht und der sich klar von der Kreuzzugsideologie entfernt. Ausgeprägtes Leiden ist mit diesem Glauben vereinbar. Die Figuren der Hystoria wiederum bekunden einen anderen Glauben, nämlich einen, der primär eine auf Gottvertrauen basierende Zuversicht verlangt und daher allzu tiefes Leid zurückdrängt. Von ursprünglicher Kreuzzugsideologie ist wenig zu spüren, doch zeichnen sich die Reden durch eine unumstrittene Akzeptanz des Prinzips des Glaubenskrieges aus. Somit fördert der Glaube der Figuren in allen drei Texten Sympathie – doch jeweils mit anderem Schwerpunkt. Dieser Unterschied wirkt sich auch auf den Wert der Sippentreue aus, der ebenfalls in allen Texten sympathiefördernd eingesetzt ist. Während Sippentreue in Aliscans primär in seiner feudalhöfischen Dimension formuliert wird, erhält die Sippentreue im Willehalm eine religiöse Dimension im Sinne eines barmherzigen Einstehens für den Nächsten. In der Hystoria schließlich stehen eher unpersönlich staatspolitische Intentionen im Vordergrund, wohingegen die hier vertretene Religiosität die Forderung nach Barmherzigkeit weniger betont. Die Unterstützung Willehalms ist primär notwendig, um Glaube und Reich zu schützen (vgl. die Worte Loys: wer dem rich vnd dem globen w°lt helffen; H242, 6/138ra). Weiter positiv eingesetzt sieht sich im Willehalm und auch in der Hystoria die Liebe zwischen Willehalm und Gyburc, die in ihrer Treue und Tiefe sympathiefördernde Funktion übernimmt. Aliscans schränkt die Rolle dieser Ehebeziehung und der Frauenfigur demgegenüber noch stark ein. 3.4.2 Empathielenkung in Bezug auf Christen und Heiden Empathie anhand von Figurenreden wird in den drei Texten primär für Christen und Rennewart und erst sekundär für Heiden ermöglicht: Die Heiden erhalten in Aliscans und Willehalm jeweils ca. 18% der Figurenreden; der spätmittelalterliche Text reduziert diesen Anteil noch einmal auf nur ca. 6%. Im Willehalm sprechen die Christen in 76% der Redepassagen, wodurch in diesem Text, der sich, wie in der Forschung immer wieder
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III. Analyse der ausgewählten Texte nach ihren empathielenkenden Strukturen
bemerkt wird, am meisten den Heiden zu öffnen scheint, eine doch überraschend deutliche Privilegierung der Christen festzustellen ist. Über Figurenrede vermittelte Rezipientenempathie für Heiden ist im Willehalm dennoch wahrscheinlich, während sie in Aliscans nur in sehr eingeschränktem Maße, in der Hystoria kaum mehr vorstellbar ist. Mitleid mit Figuren kann durch die Redepassagen ebenfalls in starkem Maße hervorgerufen werden, da, wie oben bereits festgestellt wurde, Leid und Mitleid einen Hauptinhalt der Figurenreden ausmachen. Die Tiefe des Leides präsentiert sich im Willehalm als am beeindruckendsten, da allein hier die langen Redepassagen vorherrschend mit dem Thema ‚Leid‘ in Verbindung gebracht werden. Das von Christen so häufig formulierte Leid fördert dabei fast durchgehend moralisch legitimiertes Mitleid des Rezipienten. In Bezug auf Heiden verweigern Aliscans und Hystoria Mitleid vollkommen. Im Willehalm wird affektives Mitleid immerhin mit dem Heidenführer Terramer möglich, der einige leidpräsentierende Figurenreden formuliert. Moralisch legitimiertes Mitleid auf konkrete Textsituationen bezogen können jedoch auch im Willehalm allein Christen erreichen. Allerdings formulieren im wolframschen Text Willehalm und Gyburc Mitleid für Heiden in Bezug auf deren Zustand im Unglauben und Unwissen und fördern eine entsprechende Mitleidreaktion auch beim Rezipienten. Noch eindeutiger präsentiert sich die Sympathieförderung. Selbst im Willehalm, der tendenziell die größte Öffnung den Feinden gegenüber wagt, können die Heiden vor allem aufgrund ihres Glaubens kaum Wertschätzung erhalten. Selbst die Figur, die ihnen am nächsten steht, nämlich Gyburc, bringt ihren heidnischen Verwandten in ihren Reden nur Kritik entgegen. Diese Kritik bedeutet zwar nicht, dass sie nicht mit ihnen fühlt oder dass ihnen blinder Hass entgegengebracht werden soll; nichtsdestotrotz wird Sympathie klar verweigert. Die Heiden selbst offenbaren in ihren Figurenreden die wohl stärksten sympathiehemmenden oder gar zerstörenden Inhalte: Sowohl Terramer als auch die Gruppe seiner Heerführer drücken ihr Bestreben aus, das Christentum zu zerstören und selbst das fränkisch-römische Reich zu regieren. 3.4.3 Empathielenkung in Bezug auf die zentrale Figur Willehalm Die Vergleiche mit dem altfranzösischen Helden Guillaume und dem spätmittelalterlichen Wilhelm machen deutlich, dass Willehalms Handeln in manchen Punkten auch dem mittelalterlichen Rezipienten ungewöhnlich und deshalb schwierig zu bewerten erscheinen musste. Darauf deuten zahlreiche Legitimierungen hin, die einen großen Teil von Willehalms Figurenreden einnehmen. Dem gegenüber steht eine völlige Absenz sol-
3. Empathielenkung auf der Ebene der Figurenreden (E3)
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cher legitimierenden Reden überhaupt in Aliscans und der Hystoria, die beide durchwegs einen unumstrittenen und auf die zu erwartende Weise vorbildlichen Helden präsentieren. Wolframs Willehalm hingegen äußert sich gerade zu den Situationen, in denen sein Verhalten von der Forschung als umstritten bewertet wird, umfassend (Tötung Arofels, Zorn am Königshof, tiefes Leid, Liebe zu Gyburc, Glaubenskrieg). Dabei zeigt er sich selbst überzeugt von der Richtigkeit und Notwendigkeit seines Handelns – auch wenn dieses gezwungenermaßen Leid nach sich zieht. In Antizipation eventueller Bedenken des Publikums gibt er ausführlich Begründungen für sein Handeln an, wodurch er erreicht, dass dieses nachvollziehbar, notwendig und richtig erscheint. Gerade die Reflexionen machen deutlich, dass Willehalms Handeln keineswegs den ‚Rückfall‘ in heroisches Handeln darstellt. Seine Argumente sind dabei auch vor zeitgenössischem Hintergrund so überzeugend, dass wir von einer sympathiefördernden Umwendung dieser umstrittenen Figurenhandlungen ausgehen können. Sein Abweichen vom Erwartungshorizont begründet sich dabei hauptsächlich und immer wieder durch die von ihm – und allen Hauptfiguren – vertretene spezifische Form des Glaubens, die von ihm Leid und Mitleid als oberste Prioritäten fordert, zuerst für das Christentum und die Christen, dann auch für Heiden. Insgesamt muss Willehalm für den Bereich der Figurenreden erneut als absoluter Sympathieträger gelten.
IV. Auswertung und Schlussbetrachtung Empathie, Mitleid, Sympathie – daran, dass die ausgewählten mittelalterlichen Texte in hohem Maße rezeptionslenkende Signale aussenden und diese auch kohärent einsetzen, besteht nach der Anwendung des Analysemodells kein Zweifel. Die Ergebnisse ermöglichen dabei zum einen erste systematische Aussagen zur Funktionsweise mittelalterlicher Empathielenkung. Zum anderen erlaubt die Auswertung derjenigen empathielenkenden Strukturen, welche sich auf die Vermittlung der Heiden und der zentralen Figur Willehalm beziehen, einen neuen Blick auf die ‚großen Fragen‘ des wolframschen Textes.
1. Empathielenkung als Element mittelalterlichen Erzählens Die im Analysemodell beschriebenen potentiell empathielenkenden Techniken finden tatsächlich konsequent und systematisch Anwendung und werden darüber hinaus durch bestimmte inhaltliche Konkretisierungen ebenso systematisch mitleid- bzw. sympathiefördernd eingesetzt. In den drei analysierten Werken lenkt die erzählerische Vermittlung den Rezipienten so auf allen Ebenen des narrativen Textes – bei in weiten Teilen gleicher Handlung – zu unterschiedlichen Empathiereaktionen den fiktiven Einzelfiguren und Figurengruppen gegenüber. Bevor wir diese Lenkung bezüglich der Vermittlung der Heiden und des Helden Willehalm in den drei Texten nachzeichnen, können bereits einige Erkenntnisse zur Empathielenkung als Element mittelalterlicher Epik formuliert werden. Eine erste sichere Erkenntnis liegt darin, dass es, wie bereits eingangs vermutet wurde, ‚die eine‘ Funktionsweise mittelalterlicher Empathielenkung nicht gibt. Obwohl in allen drei Texten auf die im Analysemodell definierten potentiell empathielenkenden Techniken und auch auf die erwarteten inhaltlichen Konkretisierungen zurückgegriffen wird, offenbaren Unterschiede in der Akzentuierung und Kombination dieser Techniken eine starke Variabilität. Dies erscheint wenig überraschend, denn es bietet sich nicht nur eine Fülle von Erzähltechniken zur Verwendung an, sondern darüber hinaus eine Vielzahl von möglichen inhaltlichen Konkretisierungen, die grundständige Empathie noch durch Mitleid und gegebenenfalls Sympathie ergänzen. Wie im Folgenden noch dargelegt werden
1. Empathielenkung als Element mittelalterlichen Erzählens
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wird, spielen dabei die verschiedenen Bewertungsparadigmen eine große Rolle. Auf der Basis der Analyse der drei ausgewählten Texte lässt sich die Variabilität des Phänomens bezüglich eines begrenzten Texkorpus aufzeigen, wobei wir zwischen der Variabilität von Empathielenkung aufgrund der erzähltechnischen Umsetzung und der Variabilität von Empathielenkung aufgrund der inhaltlichen Konkretisierung unterscheiden. 1.1 Variabilität durch die erzähltechnische Umsetzung 1.1.1 Tiefe der ermöglichten empathischen Bindung Literarische Texte können eine mehr oder weniger tiefe empathische Bindung des Rezipienten an die fiktionalen Figuren fördern. Darüber entscheidet zum einen die Quantität der verwendeten empathielenkenden Techniken in einem Text überhaupt und zum anderen deren Verteilung auf das Figurenpersonal. Je mehr empathiefördernde Techniken auf eine Figur konzentriert werden, desto tiefer ist wahrscheinlich die Empathie des Rezipienten für diese Figur. Die weit längste der drei Stoffbearbeitungen, der Willehalm Wolframs von Eschenbach, bietet insofern optimale Bedingungen, als sie es möglich macht, den Rezipienten über einen langen Rezeptionszeitraum hinweg (und damit über eine hohe Anzahl empathiefördernder Strukturen) an eine Figur zu binden. Doch natürlich sagt die Länge allein noch wenig über die tatsächlich geförderte Tiefe der Empathie aus, denn der zur Verfügung stehende Raum muss auch mit empathielenkenden Techniken gefüllt sein. Sowohl der Willehalm als auch Aliscans weisen dabei einen sehr intensiven Einsatz empathiefördernder Techniken auf. Die Hystoria hingegen verzichtet auf viele Möglichkeiten lenkend einzugreifen ersatzlos.1 Für die Förderung wirklich tiefer Empathie ist darüber hinaus die konstante Konzentration dieser empathielenkenden Techniken auf wenige Figuren notwendig. In Aliscans wird die Tiefe der Bindung an eine Figur insofern gemindert, als hier eine im Textverlauf wechselnde Konzentration auf zwei oder sogar drei Protagonisten erfolgt.2 Die altfranzösische
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Besonders auffällig ist dabei der Verzicht auf die Lenkung durch Kommentare einer persönlichen Erzählinstanz. Aber auch auf der Ebene des epischen Berichts greift die Hystoria auf einige maßgebliche Techniken, wie z.B. die Figurenbeschreibung, weit weniger zurück als die beiden anderen Texte. Während der ersten Schlacht konzentrieren sich die empathielenkenden Techniken zunächst auf Vivïen, dann auf Guillaume. In der Zeit zwischen den beiden Schlachten kon-
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IV. Auswertung und Schlussbetrachtung
chanson de geste zeigt damit weniger Interesse an einem festen Empathieträger als der wolframsche Text, in dem sich die meisten empathielenkenden Techniken auf Willehalm beziehen. Ihn lernt der Rezipient damit in einer Tiefe verstehen, die in der chanson de geste nicht erreicht werden kann und noch weniger im spätmittelalterlichen Roman.3 Wir können entsprechend festhalten, dass Willehalm und Aliscans auf intensive Empathiereaktionen des Publikums spekulieren, die jedoch einerseits auf eine Figur konzentriert und andererseits auf mehrere Figuren gestreut werden. Die Hystoria wiederum fördert schon allein mangels Masse eingesetzter Techniken kaum tiefe empathische Rezipientenreaktionen. 1.1.2 Spürbarkeit der Lenkung Die Art der zur Empathielenkung verwendeten Erzähltechniken bewirkt nun Unterschiede in der Spürbarkeit der Lenkung. Diese verschiedenen Grade der Spürbarkeit legen Zeugnis von einem je eigenen Umgang mit dem Rezipienten ab. Dass sowohl Aliscans als auch Willehalm auf eine doch auch für den Rezipienten spürbare Führung setzen, zeigt die durchgehende Präsenz von lenkenden Erzählerkommentaren in beiden Texten. Denn im Gegensatz dazu beweist der Text der Hystoria, dass auch ein Verzicht auf diese explizite Lenkungsform möglich ist. Bleiben wir zunächst im Bereich der Erzählerkommentare, so sind im Rahmen dieser prinzipiellen Akzeptanz spürbarer Führung in Aliscans und Willehalm textspezifische Präferenzen festzustellen: Während in Aliscans die Erzählerfigur häufiger offensichtlich empathielenkend eingreift, indem sie beispielsweise über die Verwendung des inclusive we eine offensichtliche Gemeinschaft der christlichen Rezipienten und der christlichen Figuren schafft und auch häufig auf explizite Rezeptionsimperative zurückgreift, verzichtet der Willehalm weitgehend auf diese Form der Erzählerkommentare und setzt auf weniger direkte Führung, welche dem Rezipienten beispielsweise kaum spürbar über die vom Erzähler manifestierte Reaktion eine bestimmte Empathiereaktion zum Nachvollzug anbietet. Über die Erzählerkommentare hinaus können vor allem die im Rahmen des epischen Berichts (E1) analysierten Sympathielenkungstechniken als spürbar lenkend bezeichnet werden. So verwendet die chanson de geste in großem Ausmaß evaluative Figurenbezeichnungen zur Sympathielenkung,
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zentrieren sich die empathiefördernden Techniken erneut auf Guillaume. In der zweiten Schlacht nimmt dann jedoch klar Renoart die Stellung des zentralen Protagonisten ein. Neben Willehalm kommt Gyburc eine wichtige Stellung zu. Auch die Bedeutung dieser Figur bleibt im Textverlauf konstant, so dass sie als zweite Empathieträgerin fungiert.
1. Empathielenkung als Element mittelalterlichen Erzählens
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während der Willehalm diese kaum einsetzt und der spätmittelalterliche Text ganz darauf verzichtet. Insgesamt ist eine zunehmende Verlagerung von einer spürbaren, expliziten Empathielenkung hin zu einer impliziten Empathielenkung festzustellen, die dem Rezipienten stärker das Gefühl einer eigenständigen und nicht beeinflussten Meinungsbildung suggeriert, ohne freilich die Rezeptionsreaktionen wirklich ungelenkt zu lassen. 1.1.3 Affektiver Nachvollzug und Miterleben vs. rationaler Nachvollzug Bei jedem lenkenden Eingriff können Texte auf zwei grundsätzlich verschiedene Wege Empathie fördern: Zum einen können sie den Rezipienten kraft affektivem Nachvollzug und Miterleben zu Empathie führen. Zum anderen können sie Empathie kraft rationalem Nachvollzug privilegieren. Die erste, über Miterleben und affektiven Nachvollzug arbeitende Empathielenkung setzt dabei klar der altfranzösische Text Aliscans ein. Auffällige Merkmale zeigen sich hauptsächlich auf den Ebenen des Erzählerkommentars und der Figurenrede. So fördert beispielsweise ein Großteil der Erzählerkommentare in Aliscans das Miterleben der Rezipienten am fiktionalen Geschehen und setzt entsprechend auf affektiven und miterlebenden Nachvollzug der von der Erzählerfigur manifestierten Empathiereaktionen. Im Willehalm hingegen wird auf eine miterlebende Rezeption weit weniger Wert gelegt, wie aus der geringeren Zahl affektischer Erzählerausrufe und allgemein aus einem geringeren phatischen Interesse der Erzählerfigur abzuleiten ist. Um dennoch empathielenkend zu wirken, setzt der wolframsche Text auf Glaubwürdigkeit und Autorität der Erzählerfigur, die er, u.a. aufgrund des Prologs, in dem der Erzähler als Persönlichkeit hervortritt, problemlos erreicht und die dann durch eigene Argumentationen und Urteile einen rationalen Nachvollzug des Rezipienten wahrscheinlich machen. Solche empathielenkenden Strukturen arbeiten in ihrem argumentierenden Charakter auch mit komplexeren Gedankengängen, die der altfranzösische Text in dieser Ausführlichkeit nicht bietet. Diese Beobachtung sieht sich durch die Verwendung der Figurenreden bestätigt, denn auch hier präsentiert Aliscans eine sehr große Anzahl kurzer Figurenreden, die weniger komplexe Innensichten als vielmehr aktuelles Erleben der Figuren wiedergeben. Diese Mündlichkeit und Spontaneität widerspiegelnden Reden aktivieren erneut die affektive Anteilnahme des Rezipienten am Schicksal der Figuren. Dem stehen im Willehalm längere Redepassagen gegenüber, in denen Figuren ihre Emotionen, aber auch ihre Motivationen und ihre Weltsicht umfassend darstellen und
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IV. Auswertung und Schlussbetrachtung
so entsprechend den rationalen Nachvollzug ihres Denkens und Handelns ermöglichen. Greifen wir Termini der Rhetorik auf, so scheint in Bezug auf die Steuerung der Rezipientenempathie die Präferenz zum pathos in Aliscans einer Präferenz zum ethos im Willehalm zu weichen. 1.2 Variabilität durch die inhaltliche Konkretisierung der narrativen Strukturen Die Art der inhaltlichen Füllung der einzelnen Erzähltechniken ist allein für die Kategorien von Mitleid und Sympathie von Relevanz, da Empathie bereits aufgrund der angewendeten Erzähltechnik, unabhängig von einem speziellen Inhalt, gefördert wird. 1.2.1 Eindeutigkeit vs. Nuancierung Wenn die drei Texte auch bei der inhaltlichen Füllung eigene Wege gehen, so hat dies unter anderem Einfluss auf die Eindeutigkeit der Empathielenkung. Aliscans steht innerhalb der betrachteten Texte für den maximalen Grad an Eindeutigkeit. Die chanson de geste wählt die Inhalte ihrer empathielenkenden Strukturen so, dass sich eine eindeutige Polarisierung zwischen den beiden im Text beschriebenen Figurengruppen ergibt. Sie füllt auf allen Textebenen empathiefördernde Innensichten nur in Bezug auf die christliche Figurengruppe mit mitleidfördernden Inhalten und schafft im Rahmen der sympathielenkenden Strukturen durch klar wertende, manchmal drastische Wortwahl eine deutliche Opposition zwischen sympathie- und antipathiestiftenden Strukturen. Empathiereaktionen sind dem Rezipienten so eindeutig vorgegeben. Sympathie und Mitleid mit Heiden werden gezielt verhindert. Im Willehalm verliert sich diese Eindeutigkeit, weil auf drastisch negative Inhalte fast ganz verzichtet wird und sich so keine Polarisierung der Figurengruppen ergeben kann. Vielmehr sehen sich positiv oder neutral zu bewertende Inhalte breit und auch gruppenübergreifend verwendet. Dem Rezipienten bietet sich ein weniger eindeutiges Bild. Auch wenn Empathie, Mitleid und Sympathie trotzdem gelenkt werden, so muss er sich Überschneidungen stellen, die unweigerlich eine nuanciertere Figureneinschätzung verlangen. Im Extremfall könnte dies zu Orientierungslosigkeit der Rezipientenreakion führen – warum dies allerdings beim Willehalm nicht wirklich der Fall ist, wird im Folgenden noch besprochen
1. Empathielenkung als Element mittelalterlichen Erzählens
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Der spätmittelalterliche Text kehrt zwar zur eindeutigen Rezeptionsperspektive zurück, jedoch erreicht er dies nicht über negativ zu wertende Inhalte, sondern allein über den fast vollkommenen Ausschluss einer Figurengruppe (der Heiden) aus jeglichen empathielenkenden Strukturen. 1.2.2 Aktivierung verschiedener Wertehorizonte Im Blick auf die aufgezeigten möglichen Erwartungshorizonte machen sich weitere unterschiedliche Akzentsetzungen der Texte bemerkbar. Denn selbst wenn viele positiv und negativ besetzte Normen und Werte zeitübergreifende Gültigkeit beanspruchen, lassen sich doch, vor allem im Bereich der Sympathielenkung, Schwerpunktsetzungen der Texte innerhalb der zeitgenössischen Wertehorizonte feststellen. Aliscans greift für die inhaltliche Konkretisierung der ausgewählten Erzähltechniken primär auf Inhalte des heroischchristlichen Wertehorizontes zurück, der Heldenverehrung, Kriegslust, Glauben und Glaubenskampf problemlos vereint und die Kriegslust und den Heidenhass gerade auch aus dem Glauben speist. Entsprechend gehören übermenschliche Stärke und Tapferkeit der Protagonisten, die sich auch im wenig edlen, dafür aber Stärke zeigenden Figurenaussehen spiegeln, neben dem christlichen Glauben zu den hauptsächlichen positiven Inhalten. Gewalt- und Zornexzesse sowie ein gewisses Maß an Grausamkeit sind ebenfalls feste Bestandteile dieses Paradigmas.4 Die im Willehalm verwendeten Inhalte entfernen sich deutlich von diesem heroischen Wertehintergrund. Vielmehr sind Hauptargumente für Figuren häufig dem höfischen Werteparadigma entlehnt, was sich am prinzipiell höfischen Erscheinungsbild der Figuren, aber auch an ihrem im Vergleich zu Aliscans gemäßigten Verhalten und den ihnen zugeschriebenen Eigenschaften sowie in der stärkeren Betonung der Liebesthematik widerspiegelt. Eine Höfisierung ist damit auf jeden Fall festzuhalten. Auch wenn die prinzipielle Priorität des Glaubens und die hagiographischen Elemente beibehalten bzw. noch ausgebaut werden (beispielsweise durch den Prolog in Gebetform), so sieht sich der christliche Wertehorizont in seinen Prioritäten doch deutlich verändert. Es dominiert nicht mehr die christliche Lehre, die ein erbarmungsloses Interesse am Töten der Heiden vertritt. Vielmehr rücken im Rahmen des christlichen Glaubens die Werte von Leiden, Mitleiden und Barmherzigkeit in den Vordergrund. Denn das
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Dies zeigt sich in allen empathielenkenden Strukturen. Kondensiert findet sich die Konzentration auf den heroisch-christlichen Wertehorizont in der Beschreibung des Figurenaussehens, der Figureneigenschaften und der Figurenbezeichnungen.
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IV. Auswertung und Schlussbetrachtung
von den Figuren manifestierte Leiden (mit seinen Sonderformen Mitleid und Barmherzigkeit) sieht sich durchgehend so vermittelt, dass es mit großer Wahrscheinlichkeit Rezipientenmitleid und auch Rezipientensympathie fördert. Leiden und Mitleiden werden insgesamt zu dominierenden sympathiefördernden Inhalten. Überraschenderweise sind dabei diese christlichen Werte nicht unbedingt mit der höfischen Welt in Einklang zu bringen: Repräsentanten der höfischen Welt (die Königin, der König, sein Heer, sein Hof) zeigen das vor allem geforderte barmherzige Mitleid nicht bzw. nicht unaufgefordert. Die Königin erscheint im schlechten Licht, weil sie ihrem leidenden Bruder bewusst ihr Mitleid und ihre Hilfe verweigert und erst Leid zeigt, als sie vom Tod ihrer Verwandten erfährt (vgl. W164, 10ff). An ihrem Beispiel wird deutlich, dass Leid aufgrund von Todesfällen innerhalb der Sippe und daraus entstehenden Rachegedanken (also das typische Leid und Mitleid der heroischen Welt) nicht mehr ausreichen, sondern dass Mitleid auch mit dem lebenden Nächsten verlangt wird. Andere durchwegs gelobte Figuren beweisen Mitleid auch unaufgefordert mit den lebenden Nächsten (vgl. Willehalm, Gyburc, Heimrich und Irmenschart, Ernalt, Wimar etc.). Besonders der ritterliche Kaufmann Wimar hebt sich als positives Beispiel von der Hofgesellschaft ab, indem er fern jeder Berechnung (und damit als klarer Gegensatz zur Königin) Willehalm seine Hilfe anbietet. Den Höhepunkt gelebter Barmherzigkeit zeigt jedoch Willehalm den besiegten Heiden gegenüber: Selbst mit dem Feind wird Barmherzigkeit, wenn sie gefahrlos vollzogen werden kann, verlangt. Der Willehalm erhebt damit einen die höfischen Werte überformenden christlichen Wertehorizont zum obersten Bezugspunkt. Der heroische Wertehorizont spiegelt sich allenfalls noch im Wert der Tapferkeit, die die Figuren im Kampf beweisen. Kampfbegeisterung wird kaum mehr vermittelt. Die von der Forschung häufig in Bezug auf Willehalms Verhalten vermuteten ‚Rückfälle‘ in die heroische Wertewelt sind, wie die Auswertung der auf Willehalm bezogenen empathielenkenden Strukturen zeigen werden (s.u.), für den wolframschen Text nicht anzunehmen.5 Die Hystoria von dem wirdigen ritter sant Wilhelm entfernt sich ebenfalls von heroischen Zügen, denn die Schlachten werden kaum mehr dargestellt. Aber auch die höfische Welt verliert insofern an Bedeutung, als die Liebe zwischen Kiburg und Wilhelm wieder in den Hintergrund tritt und auch sonst nicht auf explizit höfische Eigenschaften und Konventionen
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Diese Vermutung gründet sich auf die mehrfach thematisierten umstrittenen Verhaltensweisen Willehalms: Das erbarmungslose Töten des Heiden Arofel (in dem sich der grausame Krieg generell spiegelt), der Zorn am Königshof und das konstante Leiden und Klagen. Die auf diese Verhaltensweisen bezogenen empathielenkenden Strukturen werden unten detailliert besprochen.
1. Empathielenkung als Element mittelalterlichen Erzählens
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verwiesen wird. Vielmehr tritt auch hier der christliche Horizont mit Dominanz hervor, der jedoch im Vergleich zum Willehalm ein eigenes Frömmigkeitsideal formuliert. Primärer Inhalt des von den Figuren immer wieder beteuerten Glaubens ist nicht mehr die Barmherzigkeit, wie es im wolframschen Text der Fall war, sondern die aus dem Glauben abgeleitete Zuversicht. Das Leid wird entsprechend schnell durch dieses Gottvertrauen gelindert. Barmherzigkeit dem Feind gegenüber scheint undenkbar. In allen drei Texten dominiert somit ein christlicher Wertehorizont, jedoch mit jeweils anderer Schwerpunktsetzung. Es setzen sich verschiedene Frömmigkeitsideale durch, die sicher auch als Spiegel religionsgeschichtlicher Strömungen zu fassen sind. Aliscans formuliert den Glauben der ursprünglichen Kreuzzugsideologie. Dass zu Wolframs Zeit über den Einfluss der Mystik und diverser neu entstehender Orden Leiden und Mitleiden, sowohl mit Gott als auch mit dem Nächsten, zu neuer Bedeutung kam, wurde bezüglich der Rede Gyburcs vor dem Fürstenrat betont. Die Hystoria hingegen formuliert ein eher klassisches Glaubensideal, welches vom Menschen im Leid Zuversicht verlangt (man denke beispielsweise an den biblischen Hiob). Das Leiden an sich ist hier nicht weniger groß als im Willehalm, und auch das Gottvertrauen der Figuren ist als gleich groß zu verstehen. Allein die Akzente verschieben sich von einem intensiv vollzogenen Leiden zum Akzent der Zuversicht. 1.3 Unterschiedliche Schwerpunktsetzung auf Empathie, Mitleid und Sympathie Die drei Texte lassen eine Vielzahl empathielenkender Strukturen nachweisen, wobei Aliscans und Willehalm stark lenkend eingreifen, während in der Hystoria ein geringes Führungsinteresse vorherrscht. Innerhalb der Schwerpunktsetzung von grundständiger Empathie, Mitleid und Sympathie zeigen die Texte ebenfalls eigene Akzente und machen dabei auf eine weitere Variable von Empathielenkung aufmerksam. Keiner der Texte bleibt bei der Förderung grundständiger Empathie, alle setzen außerdem auf die Sonderformen Mitleid und Sympathie, allerdings mit unterschiedlicher Gewichtung. Die altfranzösische chanson de geste zielt primär auf klare und intensive Rezipientensympathien – und entsprechend auch Antipathien: Durch den Faktor des Miterlebens ergreift der Rezipient klar Partei für die eigene Gruppe, und entsprechend deutlich zeichnet sich die Feindesrolle ab. Das Leid der Figuren und damit das potentielle Mitleid der Rezipienten spielt nur vorübergehend (während der ersten Schlacht) eine Rolle, wird dann aber überwunden.
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IV. Auswertung und Schlussbetrachtung
Der Willehalm hingegen provoziert im gesamten Textverlauf in erster Linie das Mitleid der Rezipienten, welches durch die vielfältigsten Techniken massiv gefördert wird. Dieses Mitleid des Rezipienten mit dem Leid fiktionaler Figuren muss dabei compassio sein, denn tätiges Mitleid bleibt ausgeschlossen. Die Kirchenväter verurteilen dabei die rein compassio verbleibende Anteilnahme des Rezipienten. Doch selbst vor dieser theologischen Kritik kann der Willehalm bestehen, ist das Mitleiden des Rezipienten hier doch nicht als sinnloses Genießen zu betrachten, da es sich zum einen auf die Christen richtet, die einen vorbildlichen Kampf für das Christentum führen und damit in heilsgeschichtlichen Kontext rücken. Zum anderen fördert der Text auch Mitleid mit dem Feind (s.u.), was ebenfalls als Tugend zu betrachten ist.6 Zudem sind die Hauptträger des Rezipientenmitleids zukünftige Heilige, deren Leid so nachvollzogen wird. Die compassio des Rezipienten richtet sich damit auf christliches Leiden und ist als vorbildlich einzustufen. Darüber hinaus zeigt ein Blick auf die innerfiktional geforderten Werte, dass dort gerade die misericordia, die Barmherzigkeit, zum höchsten Wert erhoben wird: Gott ist primär ein barmherziger Gott und die Figuren sollen nach diesem Vorbild Barmherzigkeit dem Nächsten gegenüber beweisen. Der Nächste ist dabei immer zunächst der nächste Christ, wenn möglich aber auch der Feind. Somit kann dem Text durchaus eine Erziehungsfunktion zugeschrieben werden: Die dominierende Reaktion ‚Mitleid‘ ist compassio, die das christliche Leid nachvollziehen lässt und zugleich im zwischenmenschlichen Bereich zur misericordia mahnt. In der Hystoria verliert das Mitleid des Rezipienten diese zentrale Stellung und es treten erneut primär Empathie und Sympathie, wenn auch weniger intensiv gefördert, in den Vordergrund. Auch ohne greifbaren mittelalterlichen Rezipienten lässt sich damit zumindest in Ansätzen rekonstruieren, ob und auf welche Weise die drei analysierten Texte die Empathie ihrer Rezipienten fordern und fördern. Die folgende Tabelle macht dabei deutlich, wie unterschiedlich die drei Texte empathielenkende Strukturen einsetzen. In Abhängigkeit von den verschiedensten Einflussfaktoren, die die Forschung noch klären muss, werden je spefizische Empathielenkungsstrategien möglich. Für den Moment lässt sich vermuten, dass die Spürbarkeit der Lenkung und der Grad der Affektivität im Zuge der Entwicklung von Schriftlichkeit zu Mündlichkeit eher abnehmen und sich die Konzentration auf einen oder wenige
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Als Form einer erstrebenswerten tugendreichen compassio bezeichnen mittelalterliche Quellen, so Alanus ab Insulis und Ps.-Richard von St. Viktor, auch die Feindesliebe oder die compassio mit dem Nächsten (vgl. Alanus ab Insulis, Summa de Arte Praedicatoria, PL 210, Spalte 186; Ps.-Richard von St. Viktor, Explicatio in Cantico Canticorum, PL 196, Spalte 489; vgl. auch die Ausführungen von Mertens Fleury 2006: 19).
1. Empathielenkung als Element mittelalterlichen Erzählens
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Haupthelden durchsetzt. Außerdem zeigt sich eine starke Abhängigkeit von sich wandelnden Wertehorizonten, die bis zu verschiedenen Akzentsetzungen innerhalb des christlichen Wertehorizonts führt. Die übrigen Variablen (Schwerpunkt der empathischen Reaktion; Eindeutigkeit der Lenkung) zeigen keine eindeutige Entwicklung auf und sind daher wohl als text- und autorenspezifisch zu werten. Schon jetzt bietet sich das Desiderat, diese Erkenntnisse anhand weiterer Textbetrachtungen, vor allem auch bezüglich anderer Gattungen, weiter zu vertiefen. Alisc ans
W illeha lm
Hy storia
Sympathie
Mitleid Sympathie
Sympathie
+++ (Vivïens, Guillaume, Renoart)
+++ (Willehalm)
+
Spürbarkeit Affektivität Aktivierte Wertehorizonte
+++
++ +++
+ +
heroisch christlich
christlich (höfisch) (heroisch)
christlich (späthöfisch)
Eindeutigkeit der Lenkung
+++
++
+++
Schwerpunkt der empathischen Reaktion Tiefe der empathischen Reaktion Art der Lenkung:
Bei allen Unterschieden präsentieren Aliscans und die Hystoria dem Rezipienten klare Empathieforderungen. Die lenkenden Strukturen weisen eindeutig in eine Richtung (der Sympathie mit Christen), die Rangfolge der aktivierten Wertehorizonte ist klar festgelegt. Dagegen können wir vermuten, dass Wolframs Willehalm nicht nur heute der Forschung Fragen aufgibt, sondern auch Ansprüche an die zeitgenössischen Rezipienten stellte: Die Lenkungsstrukturen sind hier wenig spürbar und der Text aktiviert verschiedene Wertehorizonte. Gleichzeitig setzt der Text auf maximal tiefe Rezipientenempathie und fordert auf ungewöhnliche Weise das Mitleid seines Publikums. Dennoch ist es äußerst unwahrscheinlich, dass der Text die Reaktion des Rezipienten offen lässt. Umso notwendiger scheint es, in Bezug auf für uns umstrittene Figuren die genauen vom Text gesendeten Lenkungsstrukturen ernst zu nehmen. Synthetisieren wir die Ergebnisse der drei Empathielenkungsebenen und damit aller Ebenen des narrativen Textes in Bezug auf die großen Fragen
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IV. Auswertung und Schlussbetrachtung
des Willehalm, so führen die empathielenkenden Strukturen überraschenderweise doch zu einem recht einheitlichen Bild der vom Text privilegierten Rezipientenreaktionen. Diese lassen sich nun, dank des erstellten Paradigmas der Empathie, nuanciert beschreiben.
2. Empathie, Mitleid, Sympathie und die ‚großen Fragen‘ des Willehalm 2.1 Mitleid für Heiden Aliscans und die Hystoria zeichnen ihren Rezipienten ein eindeutiges Heidenbild. Alle Textebenen vermitteln in Aliscans ausführlich den Eindruck von diabolischen Feinden Gottes, deren große Tapferkeit nur dazu dient, die Tapferkeit der letztlich siegenden Christen noch klarer herauszustellen. In der Hystoria verschwindet die Ausführlichkeit der Darstellung und damit das Interesse an Heiden in weiten Teilen. Nichtsdestotrotz ist die namenlose Heidenschar verachtenswert und feindlich – und klar zur Hölle bestimmt. Dass der Willehalm – gerade vor der Folie dieser Texte sowie auch des Rolandsliedes – ein nuancierteres Heidenbild zeichnet, muss nicht mehr betont werden. Die Öffnung den Heiden gegenüber ist mittlerweile Forschungskonsens. Begriffe wie ‚Toleranz‘ und ‚Menschlichkeit‘ zur Beschreibung dieser Öffnung laufen allerdings Gefahr, sich als anachronistisch und inhaltlich unpassend herauszustellen. Ich schlage deshalb auf der Grundlage des vorgestellten Analysemodells und der anschließenden Textanalyse ein neues Beschreibungsmodell vor. Eine große Besonderheit des wolframschen Textes in Bezug auf die Vermittlung von Christen und Heiden liegt darin, dass er dem Rezipienten ermöglicht, auch Heiden in ihren Emotionen und Handlungen zu verstehen, also grundständige Empathie zu entwickeln. Diese grundständige Empathie präsentiert sich zunächst im Vergleich zu Christen als qualitativ gleichwertig. Dies lässt sich allein an der Tatsache ablesen, dass der Text auch die Heiden – dabei vor allem Gyburcs Vater Terramer und die Heiden als Gruppe – über diejenigen narrativen Techniken vermittelt, die grundständige Empathie zu fördern vermögen.7 Wir können für den Wil-
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Im Willehalm wendet der epische Bericht beispielsweise die gleichen grundständige Empathie fördernden Techniken auf Christen und Heiden an, und auch Figurenreden der Heiden werden durchaus wiedergegeben. Demgegenüber verneint die Hystoria jegliche grundständige Empathie für Heiden allein aufgrund mangelnden Interesses für die Darstellung dieser Figurengruppe überhaupt. Und auch in Aliscans werden kaum Strukturen, die grundständige Empathie fördern können, auf Heiden verwendet.
2. Empathie, Mitleid, Sympathie und die ‚großen Fragen‘ des Willehalm
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lehalm davon ausgehen, dass der Rezipient sowohl ausreichende Einblicke in das innere Erleben der Heiden erhält als auch über deren Handlungsmotivationen informiert ist, dass er sich in ihre Emotionen einfühlen und ihr Handeln nachvollziehen kann. Allein in der Quantität der angewendeten empathiefördernden Techniken ergibt sich ein Ungleichgewicht zugunsten der Christen, das aber allein für die Intensität der Empathie, nicht aber für ihr prinzipielles Vorhandensein, entscheidend ist. Was eine Steigerung dieser grundständigen Empathie in Rezipientenmitleid anbelangt, so unterscheiden wir – je nach Intensität der Darstellung und Ursache des Leidens – zwischen affektivem und moralisch legitimierbarem Mitleid. Dabei zeigt die Analyse, dass konkret im Textverlauf auftretendes Leid der Heiden zwar thematisiert wird, dass dieses jedoch lediglich kurz dargestellt wird und meist moralisch nicht legitimierbar ist.8 Zusätzlich zur ohnehin festzustellenden quantitativen Benachteiligung ergibt sich damit auch eine qualitative Benachteiligung, die Rezipientenmitleid für Heiden nur im Sinne eines affektiv verbleibenden und damit eines partiellen Mitleids fördert. Daneben gibt es überraschenderweise durchaus wenige Momente, in denen dem Rezipienten moralisch legitimierbares Mitleid für Heiden nahegelegt wird. Dieses bezieht sich aber eben nicht auf konkret im Textverlauf entstandenes Leid, sondern ist allgemeiner. Einmal formuliert die persönliche Erzählerfigur ihr Mitleid mit Heiden insofern, als sie ihre ‚falschen‘ Götter wahrscheinlich in die ewige Verdammnis führen und stellt dieses Mitleid dem Rezipienten zum Nachvollzug.9 Mitleid also weniger in spezifischen Situationen und mit Einzelfiguren als religiös motiviert mit dem Schicksal der Heiden, dem ‚falschen‘ Glauben anzugehören und damit primär zur Hölle bestimmt zu sein. Darüber hinaus wird dem Rezipienten über Figurenstimmen und Figurenhandeln Mitleid mit Heiden nahegelegt: In ihrer Rede vor dem Fürstenrat ruft Gyburc zu Barmherzigkeit, d.h. zu tätigem Mitleid, Heiden gegenüber in Momenten der Gefahrlosigkeit auf.10 Ein Erzählerkommentar bestätigt diese Forderung.11 Willehalms Verhalten nach der zweiten Schlacht sowie seine Rede an Matribleiz realisieren schließlich genau diese geforderte Barmherzigkeit. Hier basiert
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Zum Beispiel leidet Terramer aufgrund des Glaubensübertritts seiner Tochter (was vom christlichen Publikum nicht moralisch legitimiert werden kann) oder lediglich kurz und einmalig über Gefallene der Schlachten. Die Erzählerfigur verweigert Mitleid Heiden schließlich fast ganz. Vgl. die Textstelle W20, 10ff (nu gedenke ich mir leide,/ sol ir got Tervigant/ si ze helle han benant ) und die Ausführungen dazu. Vgl. die Rede Gyburcs vor dem Fürstenrat in W306, 1-310, 30 bzw. die Besprechung dieser Rede. Vgl. den Erzählerkommentar in W450, 15-18 bzw. die Besprechung dieses Kommentars.
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IV. Auswertung und Schlussbetrachtung
die Barmherzigkeit erneut auf einem Mitleid mit der Unwissenheit, mit dem falschen Glauben der Heiden.12 Gleichzeitig wirkt das Gebot Gottes, Mitleid auch mit dem Feind zu zeigen und diesem zu verzeihen, wie Jesus es am Kreuz demonstrierte.13 Alle drei Textebenen rufen den Rezipienten damit nicht zu Mitleid bezüglich eines konkret entstehenden Leides auf, nicht zu einem Mitleiden im Textverlauf, wie es für Christen gefördert wird, sondern auf abstraktere Weise zu religiös motiviertem Mitleid mit Heiden bezüglich ihres Zustandes im Irrglauben. Sympathie verlangt zusätzlich auch die Wertschätzung des Rezipienten. Dabei offenbart die Analyse eine auffällige Widersprüchlichkeit, die so konsequent konstruiert ist, dass wir diese nicht als Ergebnis von Zufällen oder gar als mangelnde Entscheidungskraft des Dichters betrachten dürfen, sondern sie als feinsinnige Strategie des Textes begreifen müssen. Mittels vieler narrativer Techniken wird betont, dass Heiden in Bezug auf alle weltlichen Werte, deren Eckpfeiler Tapferkeit, Minnedienst und Treue darstellen, als den Christen annähernd ebenbürtig gelten können.14 Wenn nun diese Werte allein den weltlichen Bereich betreffen und der Glaube der Heiden durchgehend als falsch und irreführend abgewertet wird – und dies wird er tatsächlich auf allen Textebenen – , so liegt darin noch kein Widerspruch, sondern lediglich eine natürliche Beschränkung von Sympathie auf den weltlichen Bereich. Doch eigenartigerweise kann sich die Sympathie auch im weltlichen Bereich nicht durchsetzen. Denn im Handeln vermögen Heiden die theoretisch gelobten Werte nur bedingt zu manifestieren. Die vom Text dargestellten Figurenhandlungen der Heiden zeigen, dass sich ihre eigentliche Tapferkeit in Zweikämpfen gegen die Christen nicht durchsetzt, dass selbst Flucht nicht vermieden werden kann. Die persönliche Erzählerfigur formuliert entsprechend starke Kritik am Verhalten der Heiden und selbst im Heer werden über Figurenreden die eigenen Reihen kritisiert und auf mangelnde Loyalität hingewiesen. Signifikantestes Beispiel aber ist das Verhalten Terramers, dessen Angriffskrieg gegen die Tochter, seine Todesdrohungen ihr gegenüber und seine Machtansprüche auf das fränkisch-römische Reich vom Text durchgehend, sowohl von der Erzählerstimme als auch von den Figurenstim-
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Dies belegte der Erzählerkommentar in W450, 15-18, der es als Sünde bezeichnete, die Heiden, die nie toufes künde enpfiengen (W450, 15f), abzuschlachten wie Vieh. Gyburc weist in ihrer Rede vor dem Fürstenrat explizit auf die Vorbildhaftigkeit des göttlichen Verzeihens hin (v.a. W309, 1-19). Vgl. im epischen Bericht den Komplex der Figurenbeschreibungen, d.h. das Aussehen, die Eigenschaften und Bezeichnungen der Figuren; auch die persönliche Erzählinstanz formuliert Lob auf die weltlichen Werte der Heiden und selbst die christlichen Figuren drücken in ihren Reden Wertschätzung für z.B. die Tapferkeit und den Minnedienst der Gegner aus. Allein quantitativ entfallen weit mehr lobende und positiv wertende Strukturen auf die christlichen Figuren.
2. Empathie, Mitleid, Sympathie und die ‚großen Fragen‘ des Willehalm
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men (darunter die seiner Tochter Gyburc), verurteilt werden. Der Text schafft damit in der Sympathielenkung eine Art ‚scheinbare Zweischau‘: Vor allem im epischen Bericht, aber auch in den Erzählerkommentaren spricht der Text den Heiden theoretisches Lob zu. Doch diese positiven Werte können in Zusammenhang mit dem Heidenglauben im vom Text dargestellten Handlungsausschnitt nicht wirken. Es kann daher nur der falsche Glaube sein, der die gelobten weltlichen Werte der Heiden zu verkehren bzw. sie an ihrer Realisierung im Handeln zu hindern vermag. Sinnbildlich hierfür mag die an sich positiv zu bewertende Liebe Terramers zu seiner Tochter Gyburc stehen, die durch den Rat der heidnischen Priester – und damit durch den Glauben Terramers – zum ‚falschen‘ Krieg gegen die Tochter gewendet wird. So signalisiert der Text im Ganzen eine, wenngleich gemäßigte Antipathie den heidnischen Angreifern gegenüber. Denn Wertschätzung kann der Rezipient für das im Text manifestierte Denken und Verhalten kaum entwickeln, muss es vielmehr verurteilen. Er kann die Heiden folglich verstehen, kennt ihre Gefühle und Motivationen, weiß, dass sie aus aufrichtigem Glauben agieren – und weiß dennoch, dass sie falsch handeln. Verknüpfen wir die Ergebnisse aus der Mitleid- und Sympathieförderung, so ergibt sich eine leicht zu konstruierende Logik. Zum einen müssen wir festhalten, dass alle Textstrukturen primär Mitleid und Sympathie mit Christen fordern: Daran, dass der Glaubenskrieg richtig ist, besteht kein Zweifel, auch wenn er als leidvoll und lediglich notwendig vermittelt wird. Darüber wird nun im Willehalm die Forderung laut, die Heiden aufgrund ihres Irrglaubens zu bemitleiden. Diese Forderung ergibt erst vor dem Hintergrund, dass Heiden rein menschlich den Christen ebenbürtig sind und sich diese positiven Anlagen allein nicht realisieren können, richtig Sinn. Der einzige Grund, warum sich die Anlagen der Heiden nicht realisieren können, muss in ihrem Glauben liegen. Ihr Scheitern kommt einem Gottesurteil gleich, welches den christlich Glaubenden die Unterstützung zukommen lässt. Der Text fordert somit neben Empathie auch Mitleid mit den Irrgläubigen. Die Figuren im Text können dieses Mitleid in die helfende Tat, in die Barmherzigkeit, überführen, sobald die Gefahr für die Christen und das Christentum gebannt ist, also nach dem Sieg der Christen. Der Rezipient kann allein compassio, tatenloses Mitleid, entwickeln. Aber die im Text demonstrierte Handlung legt ihm für den zwischenmenschlichen Bereich auch misericordia, Barmherzigkeit, nahe und erzieht ihn so zum umfassend barmherzigen Christen. In Rückbezug auf die im ersten Kapitel der Arbeit geschilderten Schwerpunkte der Forschungsdiskussion zum Willehalm kann das auf fiktionaler Ebene manifestierte Mitleid den Heiden gegenüber, welches eine Vorbildfunktion für die Haltung des Rezipienten ein-
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IV. Auswertung und Schlussbetrachtung
nimmt, weiter spezifiziert werden: Dieses Mitleid mit den Heiden bedeutet – weder auf der fiktionalen Ebene noch auf der Ebene der Rezeption – einen Aufruf zur Absage an den vor dem christlichen Sieg stattfindenden Glaubenskrieg, denn dieser gilt, im Sinne einer Reaktion auf den Angriff der Heiden, als notwendige Verteidigung des Christentums. Mitleid bedeutet auch nicht, die Heiden aus dem Bedürfnis allgemeiner Menschlichkeit und Humanität heraus nach dem Sieg der Christen zu schonen, denn treibende Kraft ist der Wille, das Gebot der Barmherzigkeit zu erfüllen. Und Mitleid bedeutet am allerwenigsten, den falschen Glauben der Heiden zu tolerieren und sie damit auf ewig diesem auszuliefern. Mitleid soll für den Rezipienten vielmehr heißen, den falschen Glauben der Heiden zu bedauern und auf eine Errettung im Sinne überzeugter Glaubensumkehr (wie es das Beispiel Gyburcs und ansatzweise auch das Beispiel Rennewarts verdeutlicht15) zu hoffen. Der Text vermittelt dem Rezipienten Christen und Heiden damit keineswegs im Sinne einer ‚Zweischau‘, um den mergellschen Terminus erneut aufzugreifen. Denn für Christen (dabei müssen wir immer an die Gruppe um Willehalm denken) wird sowohl quantitativ wie qualitativ viel intensiver Empathie gefördert. Hier lenkt der Text in Richtung maximaler grundständiger Empathie, maximalen Mitleides und maximaler Sympathie. Empathie und Mitleid für Heiden sind, gerade im Vergleich zu den älteren Texten mit ähnlichem stofflichem Hintergrund, wie Aliscans und das altfranzösische und mittelhochdeutsche Rolandslied, eine Errungenschaft und etwas Besonderes zugleich – ohne dabei aber revolutionär oder gar ketzerisch zu sein. 2.2 Uneingeschränkte Empathie, Mitleid und Sympathie für Willehalm Auch in Bezug auf den Helden Willehalm zeigen sich die Texte Aliscans und Hystoria für den modernen Interpreten eindeutiger. Sie präsentieren keine kritischen Momente für den Haupthelden, sondern lassen ihn in Übereinstimmung mit dem primär aktivierten Wertehorizont sprechen und agieren, und auch die Erzählerkommentare in Aliscans vermitteln allein Wertschätzung und Lob. Der Willehalm präsentiert sich demgegenüber komplexer, schließlich stellt die Forschung immer wieder umstrittenes
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Gyburc und Rennewart werden im Gesamttext durchgehend sympathiefördernd vermittelt. Gerade in Bezug auf Rennewart ist dies nicht selbstverständlich, ist er doch zunächst ein grobschlächtiger Küchenjunge, dessen christlicher Glaube freilich angesprochen, nicht aber durch die Taufe bestätigt wird. Diese positive Darstellung kann als Verweis auf die Vorbildrolle dieser beiden Figuren – und auf die Hoffnung, die sich aus ihrem Schicksal für alle anderen Heiden ableitet – verstanden werden.
2. Empathie, Mitleid, Sympathie und die ‚großen Fragen‘ des Willehalm
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Figurenverhalten fest. Doch auch hier sprechen die empathielenkenden Strukturen, die auf den Protagonisten Willehalm angewendet werden, eine deutliche Sprache: Sie fördern durchgehend Empathie, Mitleid und auch Sympathie für den in der Forschung so oft umstrittenen Protagonisten. Bereits die grundständige Empathie fördernden Erzähltechniken sehen sich in hohem Maße auf Willehalm konzentriert: In allen Textebenen wird Willehalm der quantitativ größte Anteil an empathiefördernden Techniken zugeschrieben. Ihren Höhepunkt erreicht die Empathielenkung für Willehalm in der Mitleidsförderung. Hier erweist sich das Leiden der Figur als quasi omnipräsent, so dass von einer systematischen Gestaltung ausgegangen werden muss. Leidthematisierende Strukturen dominieren sowohl den epischen Bericht als auch die Figurenreden Willehalms. Dabei ist das Leid stets so begründet, dass es als – von Seiten des Rezipienten – moralisch legitimierbar eingestuft werden kann: Willehalm leidet aus triuwe zu gefallenen Christen, aus Mitleid mit dem lebenden Nächsten und wegen der dilemmatischen Situation schlechthin. Der einzige mögliche Vorwurf bestünde darin, das extreme Ausmaß des Leides eines Heerführes zu kritisieren. Allerdings sieht sich gerade das Ausmaß des Leides in zahlreichen Strukturen legitimiert, so dass wir davon ausgehen können, dass sich das ungezügelte Leid Willehalms gegen die Aufrufe zur Leidunterdrückung, die z.B. von seinen Brüdern formuliert werden, durchsetzt. 16 Die im Text stets religiös verstandene triuwe und das Mitleid machen es ihm geradezu zur religiösen Pflicht, das Leid ungemildert zu erleben. Willehalms Leid ob der dilemmatischen Grundsituation wird immer wieder in die Nähe eines Nachvollzugs des Leidens Christi gerückt: Willehalm kämpft im Zeichen des Gekreuzigten, ihm werden immer wieder heilsgeschichtliche Züge zugeschrieben (man denke an die messianischen Züge Willehalms, der die Seinen sucht, an sein Leid unter Ölbaum und Linde in Orange und an seine körperliche Versehrtheit). Damit erscheint sein Leid als compassio mit Christus, als höchste, da auf Gott gerichtete Form des Mitleidens überhaupt.17 Im zwischenmenschlichen Bereich zeigt Willehalm Mitleid stets im Sinne der misericordia, also als Barmherzigkeit, denn er versucht stets, dem Leid der anderen Abhilfe zu schaffen. Das Leiden Willehalms führt so einerseits zur einmal mehr dominierenden Rezipientenreaktion und
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Legitimationen des enormen Leides liefert zum einen Willehalm selbst in seinen Figurenreden, die direkte Antworten auf die Vorwürfe seiner Brüder liefern, zum anderen aber auch die persönliche Erzählerfigur, die das Leid Willehalms versteht und verteidigt. Vgl. die theoretischen Betrachtungen zum Mitleid. Auf Gott gerichtet wird der compassio, dem notwendigerweise tatenlos verbleibenden Mitleid, höchster Wert zugesprochen. Im zwischenmenschlichen Bereich hingegen ist das tätige Mitleid, das heißt die misericordia oder auch die Barmherzigkeit, vorzuziehen.
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IV. Auswertung und Schlussbetrachtung
wird andererseits zum Sympathieauslöser. Leiden generell und Leiden aus Mitleid sehen sich zu höchstem Wert erhoben. Milderungen des Leides gehören nach der Argumentation des Textes eher einem zu überwindenden, starren Festhalten an höfischen Verhaltensregeln an.18 Stellen wir die Frage nach der Sympathielenkung bezüglich des Helden, müssen wir die Frage nach der von der Forschung bisweilen vermuteten Entwicklung des Helden aufgreifen. Einer solchen Theorie scheinen die aufgedeckten empathielenkenden Strukturen zu widersprechen. Denn im Falle einer Entwicklung des Helden, wie sie tatsächlich in vielen mittelalterlichen Texten in Wolframs Umfeld beschrieben wird,19 müsste der Endzustand im Vergleich zum Anfangszustand der Vollkommenheit näher sein.20 Entsprechend müsste dem Rezipienten Willehalms Verhalten zu Beginn oder im Verlauf des Textes in irgendeiner Form als kritikwürdig vermittelt werden. Denn schon ein oberflächlicher Blick auf die empathielenkenden Strukturen anderer mit Entwicklungen arbeitender Texte lässt erkennen, dass mittelalterliche Texte dabei nie allein auf das sich möglicherweise ergebende Urteil des Rezipienten vertrauen, sondern stark rezeptionslenkend eingreifen und der Figur zu diesen Momenten Sympathie entziehen.21 Kritisch wird dabei im Willehalm stets die Tötung Arofels ge-
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Dies lässt sich daraus ableiten, dass die Hauptsympathieträger des Textes, Willehalm und Gyburc, wiederholt eine Leidunterdrückung verweigern, die ihnen von anderen Familienmitgliedern, die fester in das höfische System eingegliedert scheinen, nahegelegt wird. Gyburc kann ihre Tränen nicht zurückhalten, obwohl ihr Schwiegervater Heimrich es ihr nahelegte (W261, 15-268, 30). Willehalm besteht sowohl am Königshof auf der Demonstration seines Leides und Mitleides, indem er fastet und auf Körperpflege verzichtet, obwohl ihn seine Schwester zu einem Überwinden dieses Leides überreden will (vgl. insgesamt W174, 1ff). Nach der zweiten Schlacht verteidigt Willehalm sein Leid den Brüdern gegenüber (W457ff). Dass die Leid- und Mitleidverweigerung des Königspaares durchwegs Kritik findet, wurde mehrfach betont. Die Mahnungen vor allem der höfischen Festgesellschaft zur Mäßigung der Trauer betrachtet auch Bumke als Kritik an den höfischen Formen als bloßen Äußerlichkeiten, von denen sich Willehalm und Gyburc abheben (vgl. Bumke 1991: 227f). Der Begriff der ‚Entwicklung‘ mag hier umstritten sein. Ich verwende ihn trotzdem, um den Bezug zur Entwicklungstheorie im Willehalm zu wahren. Man denke nur an die Endzustände der Ausgeglichenheit von Minne- und Aventiurestreben im Erec und Iwein, an die Vereinigung von religiöser und weltlicher Bildung im Parzival, an die Heiligkeit Gregorius in Hartmanns Gregorius und an vollendetes Gottvertrauen in Hartmanns Armer Heinrich. Im Folgenden beziehe ich mich stets auf diese, das unmittelbare literarische Umfeld des Willehalm bildenden Meilensteine der mittelalterlichen Literatur, wenngleich natürlich viel weiter gehende Vergleiche möglich werden, die die vorliegende Arbeit jedoch nicht leisten kann. Gerade was Sympathie anbelangt, so vermitteln die Erzählerkommentare dort, dass Sympathie den Helden zeitweilig entzogen wird, da bestimmte Aspekte der Figur oder des Figurenverhaltens beim Rezipienten keine Wertschätzung hervorrufen können: Im Armen Heinrich Hartmanns gilt Heinrich als der versmâhte vor gote (AH115), und den Aussatz, der ihn befällt, versteht man als die sw#ren gotes zuht (AH120). Und auch die Reaktion Heinrichs auf
2. Empathie, Mitleid, Sympathie und die ‚großen Fragen‘ des Willehalm
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sehen. Doch die Analyse der sich auf diese Szene beziehenden empathielenkenden Strukturen zeigt deutlich, dass weder Erzählerkommentare noch Figurenstimmen die Tötung Arofels kritisieren. Willehalm selbst zeigt in einer späteren Figurenrede keine Reue, sondern allein Bedauern über die Notwendigkeit der Tötung Arofels. Die intertextuellen Bezüge machten dabei deutlich, dass sich in Ernst- und vor allem in Glaubenskämpfen außerhalb der Welt spielerischer Turniere zur Tötung des Gegners keine Verhaltensalternative bietet, es sei denn der Gegner wechselt durch den Glaubensübertritt auf die Seite der Eigengruppe. Dies tut Arofel nicht und so gebietet es die rache – die aus der triuwe zum toten Vivianz und allen Gefallenen entsteht – und der Schutz des Christentums (denn Gefahr durch den selbst verletzten, mächtigen Arofel ist nicht auszuschließen) zu töten. Diese Interpretation unterstützend sieht sich die Rache, sofern sie positiv motiviert ist, niemals abgewertet, sondern im Gegenteil immer wieder als normal und legitim bezeichnet. Willehalms Zorn, der die Tötung Arofels begleitet, ist dabei kein archaisch-heroischer unkontrollierter und maßloser Zorn.22 Er ist vielmehr einer, der sich aus dem
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diese Strafe Gottes entspricht nicht dem durch Hiob vorgegebenen biblischen Ideal, wie die Erzählerstimme verdeutlicht: dô scheit in sîn bitter leit/ von Jôbes geduldikeit./ wan ez leit Jôb der guote/ mit geduldigem muote, […] dô tete der arme Heinrich/ leider niender alsô:/ er was trûric und unvrô (AH 133-148). Dass das Leid Heinrichs im Gegensatz zum Leid Willehalms hier nicht gebilligt wird, liegt im entscheidenden Unterschied des Selbstmitleides in Abgrenzung zum Leiden aus Mitleid. Und auch im Gregorius lässt der Erzähler keinen Zweifel daran, dass das Beilager der Geschwister eine grôze missetât (G340) durch des tiuvels rât (G339) ist. Und entsprechend soll der Rezipient diese nicht nachahmen, sondern sich vielmehr durch gegensätzliches Verhalten auszeichnen: In geschach diu geswîche/ von grôzer heimlîche:/ heten si der entwichen,/ sô w#ren si unbeswichen./ nû sî gewarnet dar an/ ein ieglîche man/ daz er swester und niftel sî/ niht ze heimlîche bî:/ez reizet daz ungevüere/ daz man wol verswüere (G411-420). Die Figuren durchlaufen also nicht nur strukturell einen Weg von der Krise zu Erlösung und Freude, sondern erfahren auch einen vorübergehenden Entzug von Sympathie, indem sie schon durch offensichtliche Erzählerkommentare (weitere empathielenkende Strukturen müssten noch untersucht werden) kritisiert werden. Zwar bemitleidet sie der Rezipient, doch kann er ihr Leid aufgrund der vorhergegangenen Fehler nicht für unverdient erklären, so dass Sympathie nicht entstehen kann. So sieht sich auch der seine Gattin vorübergehend vergessende Iwein deutlich kritisiert und Lunete scheint sich in ihrer Schmährede fast an den Rezipienten zu wenden, wenn sie – zur Artusrunde – spricht: der sol iu sîn unm#re/ als ein verrât#re (IW3117f). Und entsprechend schließt sich auch hier die Aufforderung zu besserem Verhalten an: doch sulent ir in allen/ deste wirs gevallen/ die triuwe und êre minnent/ und sich des versinnent/ daz nimmer ein wol vrumer man/ âne triuwe werden kan (IW3175-80). Und auch die vom Erzähler gewährte Innensicht spricht Iwein eindeutig Schuld zu: Er verlôs sîn selbes hulde:/ wan ern mohte die schulde/ ûf niemen anders gesagen:/ in hete sîn selbes swert erslagen (IW 322124). Auch im Parzival wird das Unterlassen der Mitleidsfrage als Schuld Parzivals begriffen (Vgl. P240, 3/ 255, 2ff/ 255, 13/ 484, 21-27). Die Krise all dieser zentralen Figuren ist immer auch gekennzeichnet durch lenkende Textstrukturen, die dem Rezipienten die Verurteilung der Figur in diesem einen falschen Verhalten nahelegen. Wäre unkontrollierter maßloser Zorn hier Handlungsantrieb Willehalms, müsste sein Verhalten tatsächlich kritisch eingestuft werden.
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Mitleid mit den Seinen speist und damit ein notwendig religiöser. Willehalm verstößt hier nicht gegen das im Parzival formulierte ritterliche Gebot Gurnemanz’, den verwundeten Gegner zu begnadigen; denn hier greift der Sonderfall der Rache für in der Vergangenheit zugefügtes übergroßes Leid. Es zeigen sich demnach keinerlei Indizien, die dem zeitgenössischen Rezipienten Kritik an der Tötung Arofels suggerieren und Sympathie entziehen würden. Noch stärker legitimiert sieht sich Willehalms zorniges und gewalttätiges Auftreten am Königshof. Auch hier wird dem Rezipienten von den empathielenkenden Strukturen aller Textebenen vermittelt, dass Willehalms Zorn kein affektisch unkontrollierter ist. Zum einen kündigen seine Figurenreden das Verhalten als notwendig an. Und zum anderen bestätigten Erzählerkommentare das, was Willehalm ebenfalls selbst formuliert, nämlich die Begründung dieses brutalen Auftretens mit dem Leid das ihn beherrscht. Und dieses Leid ist in maßgeblichen Teilen Mitleid mit Gyburc und den Seinen, die allein im gefährdeten Orange ausharren. Dass der König durch bittende Gesten und Worte nicht zur Hilfeleistung zu bewegen ist, zeigt sich deutlich. Und entsprechend notwendig ist Willehalms entschlossenes Verhalten. Die empathielenkenden Strukturen legen so nahe, dass Willehalm hier nur scheinbar mit einem unkontrollierten Emotionsexzess reagiert. Vielmehr setzt er den Schein des Exzesses ein, um auf seine Stellung und seine Entschlossenheit hinzuweisen.23 Dass Willehalm hier richtig handelt, zeigt auch ein Vergleich zum Parzival. Denn in einem Interessenkonflikt von mâze und Mitleid (wie ihn Parzival bei seinem ersten Besuch auf der Gralburg und Willehalm in Orange gleichermaßen erleben) ist dem Mitleid der Vorzug zu gewähren.24 Willehalms Zorn steht damit weder im Fall Arofels noch am Königshof für unkontrollierten Emotionsexzess und kann damit nicht als Rückfall in den archaisch-heroischen Wertehorizont gelten. Nach der Darstellung des Tex-
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Diese Vermutung sieht sich von den Untersuchungen Althoffs bestätigt, der anhand zahlreicher historischer Beispiele belegt, dass Emotionsexzesse häufig nur scheinbar spontan sind, sondern vielmehr bewusst eignesetzt werden. Wie im Willehalm erweist sich das Verhalten der Agierenden bei genauerem Hinsehen nicht unkontrolliert, sondern zweckorientiert. Insgesamt nimmt Althoff an: „Je entschiedener man erscheinen wollte, desto extremere Reaktionen und Emotionen zeigte man offensichtlich“ (Althoff 1997: 267). Überbordende Emotionen sind also nur scheinbar – und in der Interpretation des neuzeitlichen Lesers – überbordende Emotionen. Vielmehr sind sie Teil einer Inszenierung, für die durchaus rationales, kontrolliertes Kalkül angenommen werden kann. „So trugen Signale aus dem Arsenal emotionaler Ausdrucksformen eher zur Stabilisierung als zur Destabilisierung mittelalterlicher Ordnungen bei, denn sie wurden so rational aufgenommen und verstanden wie sie ausgesandt wurden“ (Althoff 1997: 280). Vgl. die Beobachtungen von Mertens Fleury 2006: 147ff.
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tes handelt Willehalm in beiden Fällen so, wie es die Verteidigung der Seinen und des Christentums verlangt. Es zeichnet sich ab, dass Leiden für die gute Sache der Verteidigung des christlichen Glaubens positiv vermittelt werden soll. Der Glaubenskrieg ist für Willehalm uneingeschränkt leidvoll und jedes freudigen Momentes bar. In Zusammenhang mit der vom Text ebenfalls stark geförderten Mitleidsreaktion des Rezipienten erstaunt Willehalms Verhalten gegenüber Matribleiz daher nicht: Die Christen haben gesiegt, die Heiden haben das Land geschlagen verlassen. Es droht keine Gefahr mehr. Nun muss Willehalm nicht mehr Land und Leute verteidigen, sondern kann das im Text omnipräsente Gebot universeller Barmherzigkeit auch den verwandten Feinden gegenüber zeigen. Der Text fördert damit uneingeschränkte Empathie, Mitleid und Sympathie mit dem Helden. Willehalms Emotionsexzesse zeigen die einzige Motivation, die diese nicht als kritikwürdig, sondern als vorbildlich ausweisen kann: Sie speisen sich aus dem Dienst an Gott und dem Christentum. Damit beweisen die aufgedeckten empathielenkenden Strukturen im Willehalm mehr Kohärenz als zunächst vielleicht erwartet. In der fiktionalen Welt gelten Leiden und Mitleiden, vor allem in der tätigen Form der Barmherzigkeit (misericordia), als höchste Werte der christlichen Welt. Sie beanspruchen universelle Anwendung, primär der eigenen Gruppe und dem eigenen Glauben gegenüber, darüber hinaus, wenn keine Gefahr mehr für diese Sippe und den Glauben besteht, auch den eigentlichen Feinden gegenüber. Durch die erzählerische Vermittlung wird dem Rezipienten diese Wertewelt nahegelegt. Entsprechend scheint es logisch, dass auch innerhalb der Rezeptionsreaktionen das Mitleid eine dominierende Stellung einnimmt. Auch hier wird Mitleid, primär für Christen, daneben aber auch für Heiden gefordert. Es kann dabei auch aus mittelalterlicher Perspektive als positive Reaktion gelten, da diese compassio zum einen mit den sich im Glaubenskrieg befindenden Christen leidet und zum anderen in Richtung einer vorbildlichen misericordia erzieht. Schließlich belegen mittelalterliche Quellen die Überzeugung, dass selbst erfahrenes Leid eine notwendige Vorstufe zwischenmenschlichen Mitleides darstellt.25 Niemals in Frage gestellt wird allerdings die Sympathie mit den Christen und die Notwendigkeit des Glaubenskampfes. Das Vorgehen der Christen (außer
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Auf die Funktion des Leidens als notwendige Vorbereitung zur Fähigkeit des Mitleidens weist Mertens Fleury (unter Rückbezug auf Bernhard von Clairvaux) hin: „Gleiches ist durch Gleiches verstehbar, weshalb die eigene Leidenserfahrung das Mitleiden mit dem Anderen ermöglicht“ (Mertens Fleury 2006: 25; dabei verweist sie auch auf Hahn 1977 und Green 1982).
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dem der Gruppe um den Königshof, s.u.), und auch das Verhalten Willehalms, ist durchgehend richtig und vorbildlich. Eine Besonderheit des Textes liegt wohl darin, den Rezipienten häufig mit Umbewertungen zu konfrontieren. So belegt die Auswertung der empathielenkenden Strukturen, dass der Text immer wieder Verhaltensweisen legitimiert und positiv bewertet, die vielleicht für den mittelalterlichen Rezipienten auf den ersten Blick anstößig wirken könnten: Willehalms exzessives Leiden sieht sich nach und nach legitimiert und zum Vorbild erhoben; Mitleid und Barmherzigkeit werden nicht nur, wie erwartet, in Bezug auf die Eigengruppe, sondern auch in Bezug auf die Feinde verlangt und demonstriert; Willehalms Verstöße gegen die höfische mâze und zuht erweisen sich als richtige Entscheidung zugunsten gelebter misericordia. Die Absolutheit des höfischen Normenhorizonts sieht sich auf diese Weise geschickt diskutiert und als – in Momenten des Interessenkonfliktes mit Werten des christlichen Glaubens – zu überwinden erklärt. Die Gruppe um den Königshof demonstriert exemplarisch, dass höfisches, nicht vom Glauben überformtes Verhalten falsch und feige wird. Diese vom Text signalisierte Orientierung des Rezipienten lässt die Gattungsfrage des Willehalm noch einmal überdenken. Hier sollte man doch noch einmal erwägen, den Willehalm als Typus des späthöfischen Legendenromans zu begreifen, der die höfischen Werte um die noch höher stehendere Forderung von Mitleid und Barmherzigkeit ergänzt und gleichsam überformt. Aus dieser Perspektive offenbart sich der Willehalm als Text, der vor allem deshalb komplex und kompliziert wirkt, weil er mit Erwartungshorizonten spielt, diese diskutiert und, ganz im jaußschen Sinne, durch Präsentation eines neuen vorbildlichen Horizontes übertrifft.26 Gerade in Bezug auf mittelalterliche Texte, deren Rezipienten nicht mehr greifbar sind, erweist sich die Kombination aus narratologischer Analyse und rezeptionsästhetischen Fragestellungen als ein fruchtbarer Weg zu bisher verborgenen Lesarten. Eine Anwendung der etablierten Methode auf weitere Texte könnte dabei das Funktionieren mittelalterlicher Empathielenkung noch genauer in seinen Abhängigkeiten und Variabilitäten beleuchten. Vorläufig kann Empathielenkung als sinnvolle Kategorie narratologischer Rezeptionsforschung bestätigt werden, die eine
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Vgl. Jauß 1970: 176: „Der Idealfall […] sind Werke, die den durch eine Gattungs-, Stiloder Formkonvention geprägten Erwartungshorizont ihrer Leser erst eigens evozieren, um ihn sodann Schritt für Schritt zu destruieren, was durchaus nicht nur einer kritischen Absicht dienen, sondern selbst wieder poetische Wirkungen erbringen kann“. Nach Jauß kann die „emotionelle Identifikation des Betrachters mit dem Helden […] als kommunikativer Vollzugsrahmen derart Verhaltensmuster tradieren, neu bilden oder auch eingespielte Verhaltensnormen in Frage stellen oder durchbrechen“ (Jauß 1975: 306).
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Konstituente der erzählerischen Vermittlung bezeichnet. Eine entsprechende Textanalyse fragt nach dem empathielenkenden Potential narrativer Strukturen im Blick auf einen idealen Rezipienten als Adressaten der Empathielenkung. Sie füllt damit eine Leerstelle, die sich aus Genettes Fokalisierungsbegriff logisch ergibt: Fokalisierung impliziert dabei immer schon die Tatsache, dass der Rezipient die erzählte Welt mit den Augen der fokalisierenden Figur wahrnimmt. Dass Fokalisierung auch emotionale Auswirkungen auf den Rezipienten hat, wurde dabei bisher zu wenig berücksichtigt. Die Kategorie der Empathielenkung fragt nun nicht mehr nur nach der Wahrnehmung der erzählten Welt, sondern nach den von Textstrukturen auslösbaren Empathiereaktionen des Rezipienten, von denen die Subkategorien ‚grundständige Empathie‘, ‚Mitleid‘ und ‚Sympathie‘ wichtige Eckpfeiler darstellen. Die Ergebnisse machen deutlich, dass narratologisch-rezeptionsästhetisch orientierte Betrachtungen mittelalterlicher Literatur ihren Platz in der Forschung verdienen. Denn hier liegt ein Schlüssel zum im Verborgenen liegenden Wirkungsspektrum mittelalterlicher Texte auf ihr zeitgenössisches Publikum.
Verzeichnis der Abkürzungen A. Häufig zitierte Primärtexte A
AH CdR ER
F G
H
IW
P
La Bataille d'Aliscans. Herausgegeben von C. Régnier. Bände 1 und 2. Paris 1990. Die Zitatangabe erfolgt über die Nummer des altfranzösischen Erzählabschnitts (Laisse) und die genaue Verszahl. Die in Klammern und Anführungszeichen angegebenen deutschen Übersetzungen stammen von mir. Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Übersetzt von S. Grosse. Herausgegeben von Ursula Rautenberg. Stuttgart 1993. Das altfranzösische Rolandslied. Zweisprachig. Übersetzt und kommentiert von W. Steinsieck. Stuttgart 1999. Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Nach dem Text von L. Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von D. Kartschoke. Stuttgart 1986. Fierabras. Herausgegeben von M. Le Person. Paris 2003. Hartmann von Aue: Gregorius. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von F. Naumann. Übertragung von B. Kippenberg. Nachwort von H. Kuhn. Stuttgart 2002. Deifuß, Holger: Hystoria von dem wirdigen ritter sant Wilhelm. Kritische Edition und Untersuchung einer frühneuhochdeutschen Prosaauflösung. Frankfurt/Main 2005. Die Zitatangabe erfolgt über die Angabe der Seiten- und Zeilenzahl in der Edition von Deifuß sowie über die Spaltenangabe der von Deifuß zugrundegelegten Handschrift. Hartmann von Aue: Iwein. Text der siebenten Auflage von G.F. Benecke, K. Lachmann und L. Wolff. Übersetzung und Nachwort von T. Cramer. 4., überarbeitete Auflage. Berlin & New York 2001. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Mittelhochdeutscher Text nach der 6. Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung von Peter
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Knecht, Einführung zum Text von Bernd Schirok. Berlin & New York 1998. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von D. Kartschoke. Stuttgart 1993. Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Text der Ausgabe von W. Schröder. Übersetzung, Vorwort und Register von D. Kartschoke. 3., durchgesehene Auflage. Berlin & New York 2003.
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