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German Pages 696 [698] Year 2017
Jürgen Schneider
Einigkeit, Recht und Freiheit. 25 Jahre deutsche Wiedervereinigung (1990–2015) Eine ordnungstheoretische Analyse
Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 132.3 In Kommission bei Franz Steiner Verlag Stuttgart
Jürgen Schneider Einigkeit, Recht und Freiheit. 25 Jahre deutsche Wiedervereinigung (1990–2015)
BWSG beiträge zur wirtschaftsund sozialgeschichte Band 132.3 Herausgegeben von Markus A. Denzel, Jürgen Schneider, Andrea Leonardi, Jürgen Nautz, Philipp R. Rössner, Margarete Wagner-Braun Schriftleitung: Prof. Dr. Markus A. Denzel Historisches Seminar Universität Leipzig Postfach 100920 04009 Leipzig Redaktion: Mechthild Isenmann Andrea Bonoldi Werner Scheltjens Sabine Todt
Jürgen Schneider
Einigkeit, Recht und Freiheit. 25 Jahre deutsche Wiedervereinigung (1990–2015) Eine ordnungstheoretische Analyse
In Kommission bei:
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: © Bundesregierung / Klaus Lehnertz Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Jürgen Schneider In Kommission bei Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Druck: KM-Druck, Groß-Umstadt Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-515-11845-3 (Print) ISBN 978-3-515-11848-4 (E-Book)
5
DRITTER TEIL
I.
1.
1.1. 1.2. 2. 3.
4.
5.
5.1. 5.2.
Die Väter der deutschen Einheit: George Bush sen., Helmut Kohl, Michail Gorbatschow
13
George Bush und die deutsche Wiedervereinigung 1989/90 Von Horst Möller
13
Helmut Kohl – Kanzler der deutschen Einheit Von Horst Möller
23
Michail Gorbatschow und die deutsche Wiedervereinigung 1989/90 Von A. A. Ganjlkin und A. S. Černjaev
30
Der politische Rahmen: Mit dem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 endete der totalitäre SED-Staat DDR
39
Der „Kalte Krieg“ und die Wiedervereinigung Deutschlands aus der Sicht von W. Daschitschew. Vom totalitären SED-Staat der DDR zur friedlichen rechtsstaatlichen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland
39
Der „Kalte Krieg“ und die Wiedervereinigung Deutschlands aus Sicht von W. Daschitschew
39
Vom totalitären SED-Unrechtsstaat der DDR zur freiheitlich rechtsstaatlichen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland
46
Die unausweichliche deutsche Frage Von Eberhard Kuhrt
56
Der Weg zur deutschen Einheit. Der Traum der Deutschen, in Einheit und Freiheit zu leben, wurde am 3. Oktober 1990 erfüllt Von Wolfgang Bergsdorf
84
Friedlicher Aufstand und Revolution 1989/90. Aspekte des Aufstandpotentials: Stimmungen und Arbeitsbedingungen in Volkseigenen Betrieben
95
Bürgerrechtsbewegung, Zusammenbruch der DDR, Fluchtbewegung, Öffnen des Eisernen Vorhangs, Volksaufstände, Fall der Berliner Mauer und Öffnen der innerdeutschen Grenze
118
Bürgerrechtsbewegung Von Rainer Eppelmann und Gerd Poppe
118
Zusammenbruch der DDR und deutsche Einheit Von Rainer Eppelmann und Manfred Speck
123
6
5.3.
Fluchtbewegung Von Bernd Eisenfeld
133
Ungarn öffnet den Eisernen Vorhang (Juni / September 1989): DDR-Bürger fliehen über Österreich in die Bundesrepublik Deutschland Deutsche Botschaft, Budapest
136
Manuela Beckmanns Flucht über die bundesdeutsche Botschaft in Prag nach Nürnberg Von Hans-Peter Kastenhuber
149
Wende von unten – Leipzig 9. Oktober 1989. Die gescheiterte Gegenoffensive der Sicherheitskräfte Von Walter Süß
152
9. November 1989: Der Tag, an dem die Berliner Mauer fiel Von Richard Schröder
166
5.8.
Das Öffnen des Eisernen Vorhangs an der innerdeutschen Grenze
175
5.8.1.
BLICK NACH „DRÜBEN“ Von Andrea Thema
175
Die innerdeutsche Grenze (1945-1989) und ihre Öffnung Von G. Arnold
184
Der antifaschistische Schutzwall – Ursache des wirtschaftlichen Ruins der DDR? Von Hans-Gerd Adler
188
Die Öffnung der innerdeutschen Grenze am 9./11. November 1989 Von Hans-Gerd Adler
194
Ein großes Jahr. Die Hofer Region während der Friedlichen Revolution (1989/90) Von Arnd Kluge
204
Elektrische Wiedervereinigung. Entstehung, Trennung und Zusammenschluss des Stromnetzes in Deutschland Von Walter Schossig
221
Die ersten freien Wahlen in der Geschichte der SBZ / DDR am 18. März 1990: Legitimation für die Wiedervereinigung
231
Der Geburtsmakel der DDR. Die Furcht der SED vor freien Wahlen Von Karl Wilhelm Fricke
231
Die ersten freien Wahlen in der SBZ / DDR am 18. März 1990: Legitimation für die Wiedervereinigung Von Dieter Grosser
243
5.4.
5.5.
5.6
5.7.
5.8.2. 5.8.3.
5.8.4. 5.8.5.
5.8.6.
6. 6.1.
6.2.
7
7.
Die internationale Durchsetzung der deutschen Wiedervereinigung Von Eberhard Kuhrt
248
Der Staatsvertrag über die „Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion“ trat am 1. Juli 1990 in Kraft Von Dieter Grosser
266
„Kommt die DM – bleiben wir. Kommt sie nicht, dann gehen wir zu ihr“: Währungsumstellung: Von der Binnenwährung DDR-Mark zur konvertiblen DM am 1. Juli 1990
272
Das Herauslösen der sozialistischen Banken aus dem „einheitlichen sozialistischen Finanzsystem der DDR“
272
9.2.
Auf dem Weg zur Währungsunion (1989 bis zum 30. Juni 1990)
276
9.3.
Die Währungsunion mit der Deutschen Demokratischen Republik am 1. Juli 1990
289
Währungsumstellung am 1. Juli 1990: Ein Erfahrungsbericht Von Arvid Mainz
302
Mit einer Million Mark im Trabbi unterwegs Von Timm Kanning
313
9.6.
Aktivitäten der privaten Banken in den neuen Bundesländern
318
10.
Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. August 1990 Von Wolfgang Schäuble
327
Der Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 Von Henner Jörg Boehl
335
Die Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages zur DDR-Aufarbeitung (1992-1998) und eine Bestandsaufnahme der DDR-Wirklichkeit in den 1980er-Jahren
337
Die Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages zur DDR-Aufarbeitung (1992-1998) Von Rainer Eppelmann
337
12.2.
Bestandsaufnahme der DDR-Wirklichkeit in den 1980er-Jahren
343
13.
Die Wiedervereinigung der deutschen Sprache Von Wolfgang Bergsdorf
345
8.
9.
9.1.
9.4. 9.5.
11.
12.
12.1.
8
II.
Wirtschaftsordnungspolitische Maßnahmen aus einem Guß: Transformation bei laufendem Betrieb
350
Die Interdependenz von Staatsform und Wirtschaftsordnung. Die Grundprobleme des Wirtschaftens in Demokratien mit Marktwirtschaft und in totalitären Diktaturen mit politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaften
350
Sondergutachten des Sachverständigenrats vom 20. Januar 1990. Wirtschaftsordnungspolitische Maßnahmen aus einem Guß bei der Modernisierung der fünf neuen Bundesländer: Privatisierung und Neu-Aufbau der Wirtschaft bei laufendem Betrieb
356
Die Transformation des „einheitlichen Staatshaushalts der DDR“: und die Gründung der Deutschen Kreditbank AG
372
3.1.
Die Transformation des „einheitlichen Staatshaushalts der DDR“
372
3.2.
Gründung der Deutschen Kreditbank AG am 19. März 1990 Von Horst Hartte
373
Die Schlußbilanzen der Volkseigenen Betriebe der DDR zum 30.6.1990 bestätigen empirisch die These von Ludwig von Mises, dass eine Wirtschaftsrechnung in den Betrieben der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft der DDR unmöglich war Von Horst Hartte
380
Die Ludwig von Mises-These von der Unmöglichkeit einer . Wirtschaftsrechnung in der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft
380
Schlußbilanzen der Volkseigenen Betriebe der DDR zum 30.6.1990: Ohne jegliche ökonomische Aussagekraft. Die Notwendigkeit von DM-Eröffnungsbilanzen zum 1.7.1990
383
Vergleich mit den Goldmarkbilanzen von 1924 und Vergleich mit den DM-Eröffnungsbilanzen von 1948/49
385
Vergleichende Betrachtung zwischen der Schlußbilanz in Mark der DDR zum 30.6.1990 und der DM-Eröffnungsbilanz zum 1.7.1990
387
Auswertung der ersten hundert veröffentlichten DM-Eröffnungsbilanzen
401
Ergänzende Bestätigung durch die Gesamteröffnungsbilanz der Treuhandanstalt
401
Die Privatisierung des Volkseigentums durch die Treuhand anstalt (1990-1994)
403
1.
2.
3.
4.
4.1.
4.2.
4.3. 4.4.
4.5. 4.6. 5.
9
5.1.
Volkseigene Betriebe (VEB) Von Klaus Krakat
403
Detlev Karsten Rohwedder: Die Treuhand erfüllt ihren Auftrag: Schnelle Privatisierung – entschlossene Sanierung – behutsame Stilllegung
406
Vom Plan zum Markt: Erfolge, die schmerzen Von Gerd v. Gusinski
421
5.3.1.
Aus VEB wurden AG und GmbH
421
5.3.2.
Mitte 1990 wurde es ernst
428
5.3.3.
Zukunftsperspektiven eröffnen
436
5.4.
Privatisierte Unternehmen: Träger der wirtschaftlichen Erneuerung Von Gerd v. Gusinski
448
5.4.1.
Vom Plan zum Markt: Weitgehend geschafft
448
5.4.2.
Notwendigkeit von Sanierung und Privatisierung
450
5.4.3.
Investitionen und Arbeitsplätze als Übernahmebedingung
451
5.4.4.
Investoren und ihre Motive
455
5.5.
Treuhandanstalt und der Zusammenbruch des RGW Von Hermann Clement
471
5.5.1.
Aufgaben und Ausgangslage für die Treuhandanstalt (THA)
471
5.5.2.
Abhängigkeit der DDR-Betriebe vom RGW-Markt
471
5.5.3.
Wegfall der Geschäftsgrundlage
473
5.5.4.
Wahrnehmung und Reaktion
475
5.6.
Die Privatisierung des Handels in den neuen Bundesländern. Ein Überblick aus der Arbeit der GPH Gesellschaft zur Privatisierung des Handels mbH Von Wolfgang Bernhardt
478
Kriminalität von Einzelakteuren und Wirtschaftskriminalität im Einigungsprozeß
490
Privatisierung und Kriminalität Von Kari-Maria Karliczek
490
Wirtschaftskriminalität im Einigungsprozess Von Kai Renken und Werner Jenke
499
5.2.
5.3.
5.7. 5.7.1. 5.7.2.
10
5.8.
5.8.1.
Die Treuhandanstalt im Bild der Öffentlichkeit. Vor allem die „Bild-Zeitung“, das „Neue Deutschland“, der „Spiegel“, die „tageszeitung“ und die „Superzeitung“ stellten die THA eindeutig negativ dar. Von Hans Mathias Kepplinger unter Mitwirkung von Christian Kolmer
510
Die Presseresonanz der THA
511
5.8.1.1. Qualitative Analysen: Fallstudien zur Liquidation, Sanierung und Privatisierung
511
5.8.1.2. Quantitative Analysen: Themen und Tendenzen der Berichterstattung
517
5.8.1.3. Vergleich zwischen den Interessen der Anrufer beim Bürgertelefon und den Themen der Berichterstattung
522
III.
Die Hinterlassenschaft der SED-Nomenklatura: 23 Jahre (1965-1988) verschleppter Strukturwandel erfordert einen radikalen Neu-Aufbau bei laufendem Betrieb (1990-1994)
529
Der verschleppte Strukturwandel: Die DDR besaß 1988 eine Struktur der Wirtschaft wie die BRD 1965
529
2.
Das Aus für die Kombinate
531
3.
Arbeitsmarkt: Problem Nr. 1. Verdeckte und offene Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern
533
Veraltete Strukturen, verschlissener Kapitalstock und personelle Überbesetzung
538
5.
Außenwirtschaftliche RGW-Zwänge und ihre Folgen
542
6.
Schwierige Integration – massive Unterstützung
548
6.1.
Aufbau einer effizienten Verwaltung
549
6.2.
Enorme Finanztransfers
551
7.
Marktanteile hart umkämpft
554
8.
Die Privatisierung durch die Treuhand setzt Zukunftszeichen. Suche nach Investoren. Der Auftrag der Treuhand und seine Realisierung
557
Investitionsmotive westdeutscher und ausländischer Unternehmen in den Neuen Bundesländern
561
Reges Gründungsgeschehen: Handwerk und Freie Berufe
564
1.
4.
9. 10.
11
11.
Die radikalen ordnungspolitischen Maßnahmen aus einem Guß machen die Neuen Bundesländer zur stärksten Wachstumsregion von allen früheren sozialistischen Ländern in Ost-Europa
571
Die fünf neuen Bundesländer nach der Wiedervereinigung: Eine ökonomische und ökologische Zwischenbilanz (1990-2015)
573
1.
Der Neuaufbau der Wirtschaft und der Landwirtschaft
573
1.1.
Der Neuaufbau der Wirtschaft Von Udo Ludwig
573
Der Übergang von der Zentralplanwirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft
573
Die Rückkehr zu privatwirtschaftlichen Eigentumsverhältnissen an den Produktionsmitteln
579
1.1.3.
Die Modernisierung der Wirtschaft
587
1.1.4.
Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen
592
1.1.5.
Gesamtwirtschaftlicher Aufholprozess
598
1.2.
Transformation der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern Von Eberhard Schulze
607
Der Neuaufbau der Landwirtschaft Von Udo Ludwig
621
Ökologische Zwischenbilanz Von Karl Mannsfeld
629
Familienunternehmen – radikal anders und äußerst erfolgreich Von Arnold Weissman
650
Die Symbolkraft des Wiederaufbaus der Dresdner Frauenkirche für den Neubeginn im vereinten Deutschland Von Karl Mannsfeld
654
IV.
1.1.1. 1.1.2.
1.3. 2. 3. 4.
Auswahlbibliographie
661
12
13
DRITTER TEIL Einigkeit, Recht und Freiheit 25 Jahre deutsche Wiedervereinigung (1990-2015) Die Väter der deutschen Einheit: George Bush sen., Helmut Kohl, Michail Gorbatschow George Bush und die deutsche Wiedervereinigung 1989/901 Von Horst Möller Wäre es ohne die USA 1989/1990 zur Wiedervereinigung Deutschlands gekommen? Die Frage ist spekulativ, zeigt aber das Problem: Vom Frühjahr 1989 bis zum Sommer 1990 gab es zahlreiche wichtige Akteure im diplomatischen Prozess, der die Wiedervereinigung herbeiführte. Drei Staatsmänner aber spielten eine zentrale Rolle: der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl, der Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbačev und der amerikanische Präsident George Bush sen. Zwar standen sie in diesem weltpolitischen Schachspiel nicht allein, auch andere Staatsmänner sowie ihre politischen und diplomatischen Berater nahmen wichtige Aufgaben wahr, beispielsweise die Außenminister Hans-Dietrich Genscher, Eduard Ševardnadze und James Baker, doch ohne die drei erstgenannten führenden Politiker wären die Verhandlungen anders verlaufen: Die politische Mitwirkung der amerikanischen und der europäischen Regierungen war unterschiedlich, Zustimmung und Ablehnung waren ebenso wie der jeweilige Zeitpunkt für ihr Engagement verschieden; bei fast allen Akteuren veränderte sich während weniger Monate ihre Haltung. Die einleitende Frage bleibt hypothetisch, nicht aber die folgende Feststellung: Präsident Bush hat früher als andere Staatsmänner den weltpolitischen Wandel infolge der Auflösung der kommunistischen Diktaturen erkannt und in diesem Prozess früher als alle anderen eine Chance zur Wiedervereinigung Deutschlands gesehen. Er ist jedoch noch weitergegangen, er hat diese Möglichkeit begrüßt. Und während der dritte entscheidende Akteur, die sowjetische Führung, nur widerwillig und zögerlich diese Richtung einschlug, war Bush neben Kohl derjenige, der die Wiedervereinigungspolitik mit Energie vorangetrieben hat. Allerdings gab es auch in der amerikanischen Administration unterschiedliche Positionen, außerdem banden die USA ihre Unterstützung an Bedingungen, ohne deren Erfüllung sie der Wiedervereinigung nicht zugestimmt hätten. Bereits am 12. Mai 1989 schrieb Präsident Bush vertraulich an Bundeskanzler Kohl, „dass sich uns eine historische Chance bietet“, die Ost-West-Beziehungen zu 1
Gekürzter und bearbeiteter Text eines Vortrags bei der „Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen“, Sept. 2003, in: Mitteilungen der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen. Herausgegeben im Auftrag der Gemeinsamen Kommission von Horst Möller und Aleksandr Cubarjan, Bd. 3, München 2008, S. 38-49.
14
verändern.2 Welche Konsequenzen daraus für Deutschland zu ziehen waren, blieb zu diesem Zeitpunkt allerdings offen. Noch im Herbst 1989 zeichneten sich zwei Denkschulen in der amerikanischen Administration ab: Sie stimmen aber in der grundlegenden Diagnose überein, dass der weltpolitische Wandel eine nachhaltige Veränderung der innerdeutschen Beziehungen herbeiführen werde. Die Differenz lag im Ausmaß dieser Konsequenz. Außenminister James Baker sprach in einer Rede am 16. Oktober 1989 in New York vor der Foreign Policy Association noch von „reconciliation“, Bush hingegen in einem Interview mit der New York Times am 24. Oktober, das unmittelbar nach einem Telefongespräch mit Kohl stattfand, von „reunification“. Der amerikanische Präsident erklärte unter anderem: er teile nicht die Sorge einiger europäischer Länder hinsichtlich einer möglichen Wiedervereinigung Deutschlands, er befürchte keinen deutschen Neutralismus. Es sei Aufgabe der deutschen, britischen und französischen NATO-Partner, sich über dieses Thema zu verständigen. Der Führer der demokratischen Mehrheit des amerikanischen Senats, George Mitchell, bezeichnete die Wiedervereinigung sogar schon im Oktober 1989 als „unvermeidlich“. Die Mauer werde in relativ kurzer Zeit abgerissen werden, es werde zu einem „gewissen Grad an größerem Föderalismus zwischen Ost- und Westdeutschland“ kommen.3 Warum erwiesen sich die USA so aufgeschlossen gegenüber der konstruktiven Lösung der deutschen Frage? Eine Reihe langfristiger Gründe standen neben kurzfristigen. Die langfristigen nenne ich nur summarisch, die unmittelbare Vorgeschichte behandle ich etwas ausführlicher. 1. Schon während der Besatzungsjahre steuerten die Amerikaner früher und intensiver als die anderen Besatzungsmächte auf den Wiederaufbau einer deutschen Demokratie zu. Sie betrachteten die Teilung als Ergebnis des Kalten Krieges und setzten auf eine schnelle politische, ökonomische und verteidigungspolitisch-strategische Integration der Bundesrepublik Deutschland in die westliche Welt. Im Laufe der Jahrzehnte war die Bundesrepublik auch ökonomisch zu einem der wichtigsten Partner der USA geworden. Da die Amerikaner selbst in großräumigen Kategorien dachten, lag für sie die Integration Europas auch im amerikanischen Interesse. Die Zweiteilung Europas betrachteten die USA nicht als endgültig. Stärker als andere Staaten des Westens verbanden sie die militärische Sicherung mit einer politischen Mission zugunsten der weltpolitischen Ausdehnung der demokratischen Staaten. Aufgrund dieser Ausgangsbasis standen für die amerikanische Politik militärische Scherung des Westens, Antikommunismus und Demokratisierung Osteuropas, die Ostdeutschland einbezog, in einem Zusammenhang. Die damals naiv erscheinende Berliner Rede, die Präsident Ronald Reagan vor dem Brandenburger 2
Hanns-Seidel-Stiftung (Hrsg.): Dokumentation der Preisverleihung an George Bush am 13. November 1999. Sonderausgabe. Politische Studien, München 1999, S. 60, 63 f., 75.
3
Zusammenfassung dieser Äußerungen in einem Bericht Teltschiks für Bundeskanzler Kohl am 24. Oktober 1989, in: ebd., S. 465-467.
15
Tor an die Adresse des sowjetischen Generalsekretärs richtete: „Herr Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor, reißen Sie diese Mauer nieder!“, zielte zwar – wie alle vergleichbaren Reden – auf den öffentlichkeitswirksamen rhetorischen Effekt, besaß aber zugleich eine ideelle, auf Demokratisierung und Freiheit ausgerichtete Komponente. 2. Die kurzfristigen Gründe für die Sensibilität der amerikanischen Führung in Bezug auf die deutsche Frage lagen in der Sicherheitspolitik. Die neue amerikanische Regierung Bush bereitete seit 1987 eine außen- und sicherheitspolitische Bestandsaufnahme vor. Sie behandelte auch Perestroika und Glasnost’ in der Sowjetunion und sollte Grundlage des außenpolitischen Konzepts der Bush-Administration werden. Aus Präsident Bushs erster diesbezüglicher Weisung an den Politischen Koordinierungsausschuss ging die Analyse unter dem Titel „Nationale Sicherheitsüberprüfung – Westeuropa 12“ (NSR 12) hervor. In ihr findet sich eine zusammenhängende Darstellung der Beziehungen der USA und Westeuropas zur Sowjetunion unter dem Aspekt der Verteidigungspolitik und der Rüstungskontrolle. Weitere Analysen folgten, doch waren es, wie Philip Zelikow – damals außenpolitischer Berater in der Bush-Administration – und Condoleezza Rice feststellten, nicht die Analysen, sondern die Ereignisse, die eine Wendung herbeiführten. Bush wollte vermeiden, dass sich die Niederschlagung von Reformbewegungen durch sowjetische Truppen wie in Ungarn 1956 und Prag 1968 wiederholte. Er wartete deshalb, bis das Solidarność-Verbot in Polen aufgehoben wurde, bevor er am 17. April 1989 ein offizielles Signal gab: Hilfe aus dem Westen könne gleichzeitig mit einer Liberalisierung in den osteuropäischen Staaten erfolgen. „Der Westen kann jetzt eine kühne Vision der Zukunft Europas mutig Vorschlagen: Wir träumen von dem Tag. an dem es keine Schranken für die Bewegungsfreiheit von Menschen, Waren und Ideen mehr gibt“.4 Präsident Bush verfolgte von Beginn seiner Amtszeit an viel weitergehende Ziele als die führenden Beamten des Außenministeriums, er wünschte eine Revision der gesamten Europapolitik, die den Auflösungserscheinungen innerhalb der kommunistischen Diktaturen Rechnung trug. In Bezug auf die Deutschlandpolitik wurden die beiden unterschiedlichen Positionen schon im März 1989 deutlich: So betrachtete die Leiterin des Koordinierungsausschusses für Europapolitik, die frühere amerikanische Botschafterin in der DDR Rozanne Ridgway den Status quo als Basis des Friedens, sie hielt es – in Übereinstimmung mit der Mehrheitsmeinung im amerikanischen Außenministerium – nicht allein für voreilig, sondern auch für unklug, die deutsche Frage von amerikanischer Seite aufzugreifen. Demgegenüber verraten andere Mitglieder des Ausschusses, Philip Zelikow und Robert Blackwill, die USA müssten ihrerseits in der deutschen Frage in die Offensive gehen, wenn
4
Zelikow, Philip / Rice, Condoleezza: Sternstunden der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas. 2. Aufl., Berlin 1997, S. 54.
16
der Kalte Krieg sich dem Ende nähere.5 Auch innerhalb der CIA sowie bei den Vereinigten Stabschefs bestanden analog die beiden Positionen. Außenminister James Baker und seine engsten Berater repräsentierten eher die Status-quo-Politik. Damit sind die beiden hauptsächlichen Denkschulen bezeichnet, es hing nun zum einen von der politischen Entwicklung selbst ab, zum anderen von der Zielsetzung des amerikanischen Präsidenten. Dabei kam es entscheidend auf die Reaktion an, denn das Tempo der Entwicklung bestimmten nicht die Politiker des Westens. Dies haben nicht nur Diplomaten verkannt, sondern auch Staatsmänner wie François Mitterrand. Doch anders als Margaret Thatcher, die aufgrund ihrer Starrheit und ihres Denkens in Klischees zu einer realistischen außenpolitischen Diagnose unfähig war, erwies sich der französische Staatspräsident nach anfänglich eher hinhaltendem Widerstand als flexibel. Seit dem Zusammentreffen mit Bundeskanzler Kohl in Larché am 4. Januar 1990 modifizierte er seine Haltung, dadurch gewann er im Zusammenwirken mit Kohl Einfluss, zwar nicht auf den Prozess der Wiedervereinigung im engeren Sinn, aber auf ihre europapolitische Einbindung. Je stärker sich in den USA im Laufe der Monate die Waage zu einer offensiven Europa- und Deutschlandpolitik neigte, desto mehr geriet die britische Politik in die Isolation, zumal sie zunächst ähnlich wie Mitterrand auf Gorbačevs Weigerung vertraute, die sowjetische Deutschlandpolitik zu verändern; einmal mehr erwies sich, dass amerikanisch-britische Kooperation nicht so selbstverständlich ist, wie es heute erscheint. Aus Anlass der Europareisen des amerikanischen Präsidenten mit dem 40-jährigen NATO-Jubiläum als Höhepunkt stand im Übrigen eine neue sicherheitspolitische Initiative auf der Tagesordnung. Innerhalb der NATO und in der Bundesrepublik gab es Streit über eine Modernisierung der nuklearen Kurzstreckenraketen (Lacos), innerhalb der amerikanischen Administration vertraten der Sicherheitsberater von Präsident Bush, Brent Scowcroft, und sein Stab die Auffassung, die USA hätten das konventionelle Gleichgewicht in Europa zu lange vernachlässigt, eine sicherheitspolitische Initiative sei an der Zeit. Ergebnis war der Vorschlag, sehr zügig zu einer dramatischen Reduzierung der konventionellen Streitkräfte in Europa zu gelangen und so das konventionelle Gleichgewicht herzustellen. Tatsächlich bot der Brüsseler NATO-Gipfel am 29. und 30. Mai 1989, der durch die amerikanische Diplomatie mit geheim gehaltenen Informationsreisen zu den wichtigsten Partnern vorbereitet wurde, die beste Gelegenheit. Der stellvertretende Außenminister Lawrence Eagleburger und Robert Gates, Stellvertreter Scowcrofts, wurden zu Margaret Thatcher, François Mitterrand und Helmut Kohl gesandt. Nicht nur der NATO-Gipfel wurde ein großer Erfolg für die amerikanische Politik, die hier nicht allein ihre machtpolitische, sondern ihre konzeptionelle Führungsrolle bewies. Auch die anschließenden Pressekonferenzen und die Reise Bushs durch die Bundesrepublik boten Gelegenheit, die neue Vision vom Ende des Kalten Krieges, dem Ende der weltpolitischen Teilung und der Teilung Europas zu
5
Ebd., S. 55.
17
verkünden sowie schließlich in diesem Kontext eine Lösung der deutschen Frage anzudeuten. Wie reagierten die USA auf die dramatischen Veränderungen vom Oktober und November 1989? Die prinzipielle Bereitschaft zur konstruktiven Lösung der deutschen Frage war seit Monaten erkennbar. Präsident Bush musste sich durch die Entwicklung bestätigt fühlen, die Frage war, zu welchen Bedingungen die USA die Wiedervereinigung selbst aktiv betreiben wollten, nicht aber mehr, ob sie sie prinzipiell wollten. In der amerikanischen Außenpolitik gewann diejenige Denkschule an Boden, die für Präsident Bushs konstruktive Deutschlandpolitik eintrat. Präsident Bush hatte in seiner Rede am 31. Mai 1989 in Mainz konkret an Reagans Berliner Appell angeknüpft: „Wie in Ungarn müssen überall in Osteuropa die Grenzen fallen. Nirgends wird die Trennung zwischen Ost und West deutlicher als in Berlin. Dort trennt die brutale Mauer Nachbar von Nachbar, Bruder von Bruder. Diese Mauer ist ein Monument des Versagens des Kommunismus. Sie muss fallen“.6 Der Unterschied zur Rede Reagans lag in der Situation. Zum einen sprach Bush vom „Versagen des Kommunismus“ zu einem Zeitpunkt, als das System an vielen Stellen zu bröckeln begann, zum anderen verwies er auf Ungarn, wo die Auflösung schon weit fortgeschritten war. Ungarn sollte wenige Monate später eine noch entscheidendere Rolle spielen, als Ministerpräsident Miklós Németh und Außenminister Gyula Horn nach Verhandlungen mit Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher die Grenze nach Österreich öffneten und damit der Fluchtweg aus der DDR über Ungarn offen war. Nachdem auch für die 6.000 DDR-Flüchtlinge in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag Ende September eine Lösung durch Verhandlungen mit der tschechoslowakischen Regierung gefunden worden war, hatte die Mauer Löcher bekommen, bevor sie tatsächlich am 9. November geöffnet wurde. Auf der anderen Seite war nicht klar, wie die Sowjetunion reagieren würde, die auf dem vergleichsweise kleinen Territorium der DDR (110.000 km2) nahezu 400.000 Angehörige der Roten Armee stationiert hatte. Auch Kurzschlusshandlungen der sowjetischen Armee oder der DDR-Führung, die immerhin über die Nationale Volksarmee und paramilitärische Einheiten der Volkspolizei verfügte, waren in dieser dramatischen Situation nicht ausgeschlossen. Die Zahl und die Teilnehmer der Demonstrationen gegen das DDR-Regime wuchsen ständig, die Situation wurde beinahe täglich kritischer. Die Destabilisierung des Warschauer Paktes und der kommunistischen Regime barg also durchaus Gefahren. Aber noch am 9. November sagte Baker in einem Telefongespräch zu Genscher: „Die Vereinigten Staaten begrüßen die dramatischen Ereignisse, aber es ist noch ein langer Weg von der Reisefreiheit bis zur Vereinigung. Vielleicht ist es voreilig, die Vereinigung jetzt anzusprechen“. 6
Baker, James Addison: Drei Jahre, die die Welt veränderten. Erinnerungen, Berlin 1996, S. 150 f.
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Andererseits hatte der amerikanische Botschafter in der Bundesrepublik, Vernon Walters – ohne von Baker dazu autorisiert zu sein – im Herbst 1989 mehrfach öffentlich die Wiedervereinigung prophezeit. Es ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass öffentliche Erklärungen der Beteiligten damals den Zweck hatten, den Boden jeweils für die eigenen Vorstellungen zu bereiten. Im November lautete die Frage nicht mehr, ob die USA die Wiedervereinigung im Prinzip wollten, sondern zu welchen Bedingungen sie die Wiedervereinigung selbst aktiv betreiben würden. In der amerikanischen Außenpolitik hatte sich diejenige Denkschule durchgesetzt, die für die Wiedervereinigung, und damit Präsident Bushs Politik eintrat. Außenminister James Baker hat in seinen Erinnerungen ,,The Politics of Diplomacy“ (1995) diesen Prozess beschrieben. So mussten beispielsweise noch im September Redeentwürfe mehrmals überarbeitet werden, damit die Presse nicht die unterschiedlichen Positionen innerhalb der amerikanischen Außenpolitik heraushören konnte. In diesem Fall hätte die sowjetische Politik vermutlich versucht, mit der ihr genehmeren Richtung eine restriktive Politik in der Wiedervereinigungsfrage durchzusetzen. Zu Recht konstatierte Baker: „In gewisser Weise ist die internationale Politik ein ständiger Verhandlungsprozess. 1989, als der Niedergang der Großmacht Sowjetunion sich abzeichnete, gab es keine kritischeren Verhandlungen als jene, die die Art und Weise dieses Niedergangs regeln sollten. Imperien entschwinden nicht einfach still in die Nacht; Macht wird selten einfach abgegeben, friedliche Transitionen sind die Ausnahme. Zwar war bis Jahresmitte ziemlich sicher, dass die Sowjets ihre Positionen rund um den Globus abbauen würden, doch die entscheidende Frage lautete: Wie weit wird der Kreml tatsächlich gehen?“7 So war Gorbačev sehr verärgert, als Präsident Bush nach dem NATO-Gipfel im Juli 1989 nach Polen und Ungarn reiste und dort begeistert begrüßt wurde. Bushs Triumph wurde zu Recht als Niederlage der Sowjetunion in ihrer eigenen machtpolitischen Einflusszone, also innerhalb des Warschauer Pakts, angesehen. Auch die deutsche Frage war eingebettet in die gesamte transatlantische Politik der USA. Als die Zielrichtung klar war, kristallisierten sich Ende November 1989 vier Bedingungen der amerikanischen Politik heraus. Anlass war der 10-Punkte-Plan, den der Bundeskanzler am 28. November im Deutschen Bundestag ohne Absprache mit irgendeiner Regierung oder auch nur seinen Ministern vorgetragen hatte. Washington erkannte, dass Kohl damit das Gesetz des Handelns an sich gerissen hatte und wollte ihn bremsen bzw. das Verfahren bestimmen. Die vier amerikanischen Bedingungen lauteten: 1. Ohne verschiedene Varianten der Wiedervereinigung auszuschließen, musste das Prinzip der Selbstbestimmung der Deutschen, in dieser Situation also der DDR-Bevölkerung, gelten.
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Ebd., S. 122f.
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2. Die deutsche Vereinigung müsse im Kontext der dauerhaften Verankerung des vereinigten Deutschland in der NATO und der sich weiter integrierenden Europäischen Gemeinschaft erfolgen. Dabei mussten die alliierten Rechte in Deutschland berücksichtigt werden. 3. Die Vereinigung musste schrittweise und friedlich erfolgen. 4. Die Unverletzlichkeit der Grenzen, wie sie in der Schlussakte der KSZE in Helsinki gefordert wurde, musste auch für ein vereinigtes Deutschland gelten. Konkret bedeutete dies die völkerrechtlich verbindliche Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als deutsch-polnischer Grenze durch das vereinigte Deutschland.8 Für die USA galt im Übrigen die gleiche Verpflichtung wie für Frankreich und Großbritannien. Sie alle hatten sich im Deutschlandvertrag in der Fassung vom 23. Oktober 1954 in Artikel 7 verpflichtet, sich für die Wiedervereinigung einzusetzen, trotzdem stellte sich für die amerikanische Regierung die Frage, wie es gelingen konnte, den Einklang zwischen Washington, Paris, London und Bonn herzustellen. Am 2./3. Dezember aber wartete auf den amerikanischen Präsidenten nicht allein die Frage der westalliierten Abstimmung, sondern das erste persönliche Treffen mit Gorbačev, der zu diesem Zeitpunkt nicht allein den amerikanischen Bedingungen, sondern der Wiedervereinigung überhaupt ablehnend gegenüberstand. Die Präsidentenberater Robert D. Blackwill, Condoleezza Rice, Philip Zelikow und Dennis Ross rieten dem Präsidenten für das Treffen auf dem Kreuzer „Maxim Gorki“ vor Malta, weiterhin am Ziel der Wiedervereinigung festzuhalten, aber den Vorschlag einer Vier-Mächte-Konferenz zurückzuweisen. Bushs Eindruck von dem Treffen war fälschlicherweise, dass Gorbačev die Wiedervereinigung nicht grundsätzlich ablehne, aber Vorsicht beim Verfahren verlange. Deshalb legte der amerikanische Präsident anschließend den Bundeskanzler darauf fest, vernünftig und nicht zu schnell zu agieren, um Gorbačev nicht in Bedrängnis zu bringen. Der Zehn-Punkte-Plan dürfe nicht als Zeitplan verstanden werden. NATO-Mitgliedschaft und zunehmende europäische Integration mit dem vereinigten Deutschland als Mitglied seien unverzichtbare Voraussetzungen. Kohl stimmte Letzterem zu, wollte aber möglichst schnell freie Wahlen in der DDR und eine anschließende Konföderation beider deutscher Staaten als nächsten Schritt zur Wiedervereinigung. Tatsächlich stellte sich aber schon bald heraus, dass Gorbačev keineswegs so weit gehen wollte. Er habe nichts gegen eine Demokratisierung der DDR, gehe aber von ihrer Fortexistenz und ihrem Verbleib im Warschauer Pakt aus, die Einheit könne als Endziel betrachtet werden. Während der nächsten Wochen verschärfte sich die Situation, während gleichzeitig innerdeutsche Verhandlungen über westliche Wirtschaftshilfe, freie Wahlen, Zeitplan und mögliche Formen der Vereinigung stattfanden. Beim Besuch Kohls in Dresden am 19. Dezember kam er nicht allein 8
Ebd., S. 160. Zelikow / Rice: Sternstunden, S. 115. Küsters / Hofmann: Deutsche Einheit, S. 65.
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mit Ministerpräsident Modrow zusammen, um diese Fragen zu besprechen, sondern sprach auch zu Hunderttausenden. Der Ruf während der Demonstrationen, „Wir sind das Volk!“ wurde zu „Wir sind ein Volk!“. Die Dynamik der Bürgerrechtsbewegung in der DDR gewann zunehmend Einfluss auf die internationale Diplomatie und bestärkte Kohl in dem Ziel, die Weichen für die Wiedervereinigung unwiderruflich zu stellen. Dabei blieben die zögerlichen Reaktionen aus dem Westen, die prinzipielle Unterstützung Washingtons und die Ablehnung durch Moskau auszutarieren. Die NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik, die für diese selbst, aber auch für Washington eine unverzichtbare Bedingung der Wiedervereinigung blieb, stellte bis zum Sommer 1990 das größte Hindernis dar. Es bedurfte langwieriger Verhandlungen von Seiten Washingtons und Bonns mit Moskau, um diese Bedingung durchzusetzen. In der zweiten Hälfte des Januar 1990 legten die Regierungen in Washington, Moskau und Bonn den Fahrplan und die Verfahrensweise fest. Washington sah sich vor drei zentrale Herausforderungen gestellt: 1. Wie schnell sollte die Wiedervereinigung realisiert werden? 2. Wie sollten die außenpolitischen bzw. internationalen Aspekte der Wiedervereinigung geregelt werden? 3. Welche Bedingungen könnten die NATO-Partner akzeptieren? Für Washington bestand vor allem das Problem, seine in völliger Übereinstimmung mit der Bundesregierung und den NATO-Partnern formulierte Bedingung der dauernden NATO-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschland nicht zum Bumerang werden zu lassen. Die Sowjetunion hätte andernfalls den Spieß umdrehen können. Sie hätte behaupten können, nicht sie, sondern die USA hätten die Wiedervereinigung durch die für die Sowjetunion unakzeptable Bedingung der NATO-Mitgliedschaft verhindert.9 Über das Prozedere, nicht das Ziel, bestanden noch Differenzen zwischen dem State Department und dem Stab des Präsidenten. Sie betrafen die Frage, welche Bedeutung der Sowjetunion im Prozess der Wiedervereinigung zukommen solle und welcher Zeitplan vorzusehen war. Die Präsidentenberater im Weißen Haus plädierten aus Rücksicht auf die Deutschen für eine schnelle Wiedervereinigung, sofern es um die inneren Probleme gehe, aber für eine gewisse Verzögerung der außenpolitischen Verhandlungen, um Zeit für die Verhandlungen mit der Sowjetunion zu gewinnen. Das State Department wollte der Sowjetunion demgegenüber eine stärkere Rolle einräumen. Ross und Zoellick fürchteten gar, andernfalls könne die Bundesrepublik den Versuch machen, ihrerseits allein mit der Sowjetunion zu verhandeln, wodurch die USA ihre Einwirkungsmöglichkeiten verlören. Dies war eine abwegige Befürchtung, hatten doch Kohl und Genscher – mit der einen Ausnahme des Zehn-Punkte-Plans – immer auf eine sehr enge Abstimmung nicht allein mit den USA, sondern seit Anfang Januar 1990 erneut auch mit Frankreich und anderen Verbündeten Wert gelegt. Andererseits konnte die Bundesregierung nicht davon
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Zelikow / Rice: Sternstunden, S. 165 f. Küsters / Hofmann: Deutsche Einheit, S. 84 f.
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absehen, dass die Ausreisewelle und die Fluchtbewegung aus der DDR enorm anschwoll und sich noch immer verstärkte. Allein im Jahre 1989 hatten fast 350.000 Personen die DDR verlassen – bei 16 Millionen Einwohnern eine beträchtliche Zahl. Die ersten freien Wahlen zur Volkskammer der DDR am 18. März 1990 brachten einen Sieg der durch die CDU geführten „Allianz für Deutschland“. Sie bildete eine große Koalition unter Führung des CDU-Politikers Lothar de Maizière, in der auch die SPD vertreten war. Nachdem sich die Mächte auf das Verfahren geeinigt hatten, begannen im Mai 1990 die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen der Außenminister, die bis Juli 1990 abgeschlossen wurden. Die Vereinbarungen dienten als Ersatz für einen Friedensvertrag und sahen die endgültige Anerkennung der bestehenden Grenzen durch Beschlüsse des Deutschen Bundestages und der nun demokratisch gewählten Volkskammer der DDR vor. Der entscheidende Durchbruch in der Frage der NATO-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschland gelang in zwei Schritten, beim Besuch Michail Gorbačevs in Washington vom 30. Mai bis 3. Juni 1990 sowie beim Besuch Helmut Kohls in Moskau bzw. dem Ferienort Gorbačevs am 15. und I7. Juli 1990. Die Stärke der Bundeswehr wurde auf 370.000 Mann festgelegt. Auch bei der Vorbereitung der beiden wichtigsten Treffen haben sich Bush und Kohl jeweils in Telefongesprächen eng abgestimmt. So sagte der Bundeskanzler dem amerikanischen Präsidenten am 30. Mai, beide Staaten müssten gegenüber Gorbačev in Bezug auf eine bedingungslose NATO-Mitgliedschaft Deutschlands unbedingt hart bleiben.10 Am 3. Juni erklärte der Präsident in der gemeinsamen Pressekonferenz mit Gorbačev, der beiderseitige Verhandlungen über die Formulierung vorausgegangen waren: Ein „vereinigtes Deutschland solle Vollmitglied der NATO sein“. Auch wenn Gorbačev diese Ansicht nicht teile, seien beide „in voller Übereinstimmung, dass die Frage der Bündniszugehörigkeit gemäß der Schlussakte von Helsinki eine Angelegenheit ist, die von den Deutschen entschieden werden müsse“.11 Die Frage, ob das Treffen vom 31. Mai bis 3. Juni in Washington bereits die Akzeptanz Gorbačevs für die NATO-Mitgliedschaft gebracht hat, ist in der Forschung umstritten. Eindeutig ist indessen die Formulierung von George Bush im Fernschreiben an Helmut Kohl am 4. Juni 1990: „In dem Maße, wie wir den sowjetischen Sicherheitsinteressen außerhalb der 2+4-Gespräche Rechnung tragen können, werden unsere Chancen steigen, dass wir Gorbačev dazu bewegen können, ein vereinigtes Deutschland als volles Mitglied der NATO zu akzeptieren“.12
10 Küsters / Hofmann: Deutsche Einheit, S. 1161. 11 Ebd., S. 1178: Public Papers of the Presidents of the Unites States, George H. W. Bush, 1989, Book 1, January 20 to June 30, Washington 1989, S. 756. Baker: Drei Jahre, S. 226. Michail Gorbatschow: Erinnerungen, Berlin 1995, S. 723. 12 Küsters / Hofmann: Deutsche Einheit, S. 1178 f.
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Die Hinweise von Bush bezogen sich auf den NATO-Gipfel und die bilateralen Beziehungen mit der Sowjetunion. Tatsache ist also, dass Gorbačevs Zustimmung zu Bushs Formulierung ein wesentlicher Fortschritt, noch nicht aber der endgültige Durchbruch war. Dieser kam erst am letzten Tag von Helmut Kohls Besuch bei Gorbačev am 15./16. Juli 1990, der genau an dem Punkt anknüpfte, den Bush bezeichnet hatte. Bei seiner Mitteilung an Bush über die Verhandlungsergebnisse erklärte der Bundeskanzler am 17. Juli in einem Telefongespräch, er habe mit der von Gorbačev schließlich akzeptierten Formulierung an die Formel von Camp David am 24./25. Februar angeknüpft.13 Das Gesprächsergebnis fasste der Bundeskanzler am gleichen Tag in einem Schreiben an Staatspräsident Mitterrand zusammen.14 Die britische Premierministerin sandte ebenfalls am 17. Juli 1990 ein Schreiben: „Dear Helmut, I send you my warmest congratulations on the success of your visit to the Soviet Union. Securing President Gorbachev’s agreement to a united Germany in NATO is a mighty step forward in the interests of Europe and the West as a whole [...] Warm regards yours ever Margaret“.15 In seiner Laudatio bei der Verleihung des Franz-Josef-Strauß-Preises an George Bush am 13. November 1999 erklärte Helmut Kohl: „Viel weitsichtiger als viele Beobachter in den Vereinigten Staaten, als viele in Europa und auch bei uns in Deutschland, hat George Bush die Veränderungen in Mittel- und Osteuropa erkannt und die Entwicklungen vorausgeahnt. [...] Für George Bush war von Anfang an klar, dass der gemeinsame Wille der Deutschen zu Einheit und Freiheit, dass das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes Vorrang haben muss vor allen geopolitischen Überlegungen von europäischem Gleichgewicht und Machtbalance. [...] Wir haben nicht vergessen, dass es seine Unterstützung war, die uns auch geholfen hat, die aus den bitteren Erfahrungen unserer Geschichte kommenden Vorbehalte mancher unserer westlichen Partner und Verbündeten bei der Wiedervereinigung aus dem Weg zu räumen. [...] Die Tatkraft von George Bush hat entscheidend dazu beigetragen, dass in unglaublich kurzer Zeit von knapp elf Monaten die deutsche Einheit Wirklichkeit wurde. [...] Mit dem Namen des 41. Präsidenten der Vereinigten Staaten, mit Präsident George Bush ist die Einheit Deutschlands in Frieden und Freiheit untrennbar verbunden“.16
13 Ebd., S. 1372. 14 Ebd., S. 1374f. 15 Ebd., S. 1377. 16 Franz-Josef-Strauß-Preis 1999. Dokumentation der Preisverleihung an George Bush, Grünwald 1999, S. 60 ff., 75.
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Helmut Kohl – Kanzler der deutschen Einheit Von Horst Möller 1. Je länger die deutsche Teilung dauerte, desto weniger Deutsche glaubten an die Möglichkeit der Wiedervereinigung, selbst das verfassungsrechtlich bindende Gebot in der Präambel des Grundgesetzes, die deutsche Einheit in Frieden und Freiheit zu vollenden, wurde in weiten Teilen der Öffentlichkeit als deklamatorisch angesehen. Als der damalige CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß 1973 eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Frage erzwang und es die unveränderte Gültigkeit dieses Gebots bekräftigte, legten ihm das seine politischen Gegner als Kalte-Kriegs-Politik aus. Als Bundeskanzler Helmut Kohl am 7. September 1987 – also gut zwei Jahre vor dem Zusammenbruch der DDR - in seiner Begrüßungsrede für den DDR-Staatsratsvorsitzenden in Bonn erklärte: „Die Bundesregierung hält fest an der Einheit der Nation, und wir wollen, daß alle Deutschen in gemeinsamer Freiheit zueinander finden können“, sprachen seine Kritiker von „Wiedervereinigungsrhetorik“. Noch am 11. Mai 1989 erklärte der damalige niedersächsische Ministerpräsident und spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder: „Ich kann mir eine Einheit, die die Wiederherstellung des Nationalstaates zum Ziel hätte, unter den Bedingungen wie ich sie erwarte, nicht vorstellen [...]“. Und der damalige ebenfalls sozialdemokratische Regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Momper, sagte keine zwei Monate vor der Öffnung der Berliner Mauer am 14. September 1989: Die „zurzeit stattfindenden Übungen in Wiedervereinigungsrhetorik helfen niemandem [...]. Es geht nicht um Wiedervereinigung, sondern es geht darum, daß die DDR ihre Krise löst und daß den Menschen die Selbstbestimmung gewährt wird, die sie selbst wollen“. Das neue Grundsatzprogramm der SPD vom Januar 1989 betonte zwar das Recht der Deutschen auf Selbstbestimmung, doch müsse offen bleiben, „ob und in welcher Form die Deutschen in beiden Staaten in einer europäischen Friedensordnung zu institutioneller Gemeinschaft finden“. Diese Formulierungen waren zumindest unentschieden, vielleicht ein bewusst zweideutiger Kompromiss, zumal es auch in der SPD weiterhin Befürworter der Wiedervereinigung gab. In den europäischen Nachbarländern sahen die führenden Politiker die Wiedervereinigung eher noch skeptischer, obwohl über Jahrzehnte hinweg der Anspruch der Bundesrepublik Deutschland auf die deutsche Einheit verbal akzeptiert worden war. Entscheidend aber blieb: Alle Verfassungsorgane der Bundesrepublik waren auf diesen grundgesetzlichen Auftrag verpflichtet und mussten folglich die deutsche Frage völkerrechtlich offenhalten. Da diese Rechtsposition jedoch bei immer mehr Politikern und in der öffentlichen Meinung zunehmend fraglicher wurde, gewann das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagen-Vertrag, das die Bayerische Staatsregierung auf Druck von Strauß durch ihre Klage herbeigeführt hatte, seine fundamentale politische Bedeutung. Trotzdem unterliegt es keinem Zweifel: Weder für alle Regierungen der Nachbarstaaten, noch für die engeren Verbündeten, noch für alle deutsche Spitzenpolitiker war die Wiederver-
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einigung ein unbestrittenes und selbstverständliches Ziel, obwohl es vom Grundgesetz vorgegeben wurde. 2. Die längerfristige Entwicklung nach 1945 hatte infolge des Kalten Krieges die Teilung Deutschlands und Europas vertieft. Trotz gemeinsamer Sprache, Kultur und Herkunft, trotz vieler verwandtschaftlicher und freundschaftlicher Verbindungen, trotz der durch Rundfunk und Fernsehen gegen den Willen der DDRFührung aufrecht erhaltenen Kommunikationseinheit zwischen West und Ost war die wachsende Kluft innerhalb Deutschlands, die durch die ständige DDR-Propaganda und andere Maßnahmen vergrößert wurde, unverkennbar. Chancen, wenigstens mentalitätsmäßig die Einheit der Nation zu bewahren, erwuchsen aus einer Reihe von Abkommen seit den 1970er Jahren, die Kontakte ermöglichten, vor allem aber aus Abschwächungen des Ost-West-Gegensatzes. Doch tatsächlich blieben solche Chancen politisch begrenzt, wie mehrere Tauwetterperioden, z. B. partiell erfolgreiche Abrüstungsverhandlungen oder der KSZE-Prozess 1973/1975 zeigten. Stärkere Wirkungen konnten nur von innerkommunistischen Reformprozessen bzw. einer Schwächung der beherrschenden Führungsmacht des Warschauer Paktes – der Sowjetunion – ausgehen. Und hier lagen im letzten Jahrzehnt vor dem Zusammenbruch der DDR die entscheidenden Voraussetzungen für die Chancen auf Wiedervereinigung. Trotz aller autonomen Entwicklung innerhalb der SED-Diktatur blieb sie machtpolitisch von der Sowjetunion abhängig. Zwei Ursachen stehen am Beginn der Auflösungserscheinungen des Sowjetblocks, die auch die innerdeutsche Entwicklung bedingten, die erste und ausschlaggebende liegt in der Sowjetunion selbst: Die nach dem Doppelbeschluss der NATO 1979 beginnende Nachrüstung überforderte die wirtschaftlich aufgrund ihrer kommunistischen Systemzwänge schwächelnde Sowjetunion. Das inzwischen gerontokratische, wenn nicht sklerotische Führungssystem der KPdSU war nicht in der Lage, notwendige Reformen durchzuführen. Als der neue Generalsekretär Michail Gorbatschow mit zunächst zaghaften Reformen begann, geschah es in letzter Minute oder schon zu spät. Eingedenk der generellen Diagnose von Alexis de Tocqueville, der gefährlichste Augenblick für ein schlechtes Regierungssystem ist der der Reform. Wenngleich sich in den Nachkriegsjahrzehnten immer wieder Aufstände und Proteste im kommunistischen Machtbereich ereigneten, beispielsweise am 17. Juni 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in Prag, schlug die Rote Armee sie blutig nieder. Doch entwickelte sich seit 1980 mit der Solidarność in Polen eine anwachsende organisierte Arbeiteropposition, der das Regime trotz des verhängten Kriegsrechts nicht wirklich Herr werden konnte. Dieses erste Beispiel einer kommunistischen Diktatur, in der es trotz brutaler Maßnahmen nicht gelang, die Opposition zu unterdrücken, erwies sich als Menetekel auch für die anderen Diktaturen und damit als zweiter wesentlicher Faktor für deren Machtverlust während der 1980er Jahre. Zugleich bildete seit 1974 der menschenrechtliche sogenannte Korb III des Helsinki-Vertrages einen Berufungsgrund für Dissidenten, dem die DDR-Führung unter Honecker mit einem starken Ausbau des Repressionsapparats
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des Staatssicherheitsdienstes zu begegnen versuchte. Trotzdem entwickelten sich in der DDR, zum Teil unter kirchlichem Dach, Friedens- und Umweltbewegungen, die immer stärker oppositionellen Charakter annahmen. Die Ausbürgerung der Liedermachers Wolf Biermann 1976 bildete einen Kristallisationspunkt für viele Künstler und Schriftsteller in der DDR, die ihre marxistischen (!) Ideale von der realsozialistischen Funktionärsdiktatur verraten fühlten. Aufgrund dieser Voraussetzung verstärkte sich die Bürgerrechtsbewegung, sie wuchs durch immer zahlreicher werdende offene Ausreisewünsche in die Bundesrepublik zu einem Massenprotest an, der in eine friedliche Revolution mündete. Für ihren Erfolg entscheidend wurde, daß die sich durch Gorbatschows Reformkurs verändernde Sowjetunion nicht mehr den Willen – und auch nicht mehr die Kraft – besaß, die Proteste wie in der Vergangenheit niederzuschlagen. Diese Entwicklung bedeutete zunächst nur die Schwächung und schließlich den Machtverlust der SED-Diktatur, jedoch keineswegs die Demokratisierung der DDR oder gar die Wiedervereinigung Deutschlands, weil sie nur in einem komplizierten internationalen und innerdeutschen Prozess erreichbar war. Doch erwuchsen aus der friedlichen Revolution die Voraussetzungen, auf denen die Bundesregierung agieren konnte. 3. Nun kam die Stunde Helmut Kohls, der zur schwindenden Zahl derer gehörte, die stets entschieden am Ziel der Wiedervereinigung festgehalten hatten, mochte dieses Ziel auch noch in weiter Ferne liegen. Nach der Maueröffnung am 9. November 1989 gelang es ihm, gegen vielfältigen und entschiedenen, vor allem internationalen, aber auch manchen innerdeutschen Widerstand, alle genannten Voraussetzungen optimal zu bündeln und die Wiedervereinigung auf die Tagesordnung der internationalen Politik zu bringen. Für diese Politik aber gab es außerhalb Deutschlands zunächst kaum Verbündete. Und es wird oft vergessen, dass die ‚alte’ Bundesrepublik auch 1989 kein vollständig souveräner Staat war: Nach dem Deutschland-Vertrag von 1955 blieben die ursprünglichen Besatzungsmächte sowohl für Deutschland als Ganzes als auch für das völkerrechtlich unter VierMächte-Verantwortung stehende Berlin zuständig, auch Westberlin war trotz der engen Bindungen rechtlich kein Teil der Bundesrepublik. Ohne die vier Mächte konnte es keine Wiedervereinigung geben, weswegen trotz aller komplizierten, 1990 vor allem von Wolfgang Schäuble geführten innerdeutschen Verhandlungen, das internationale Parkett entscheidend wurde, auf dem es außer den vier Mächten selbst noch zahlreiche weitere Mitspieler gab, wegen der zwar nicht politisch, doch völkerrechtlich ungeklärten Frage der Oder-Neiße-Grenze auch Polen. Einer der ganz Wenigen, die sehr früh eine Wiedervereinigung ins Auge fassten und sie unterstützten, war der amerikanische Präsident George W. Bush sen. Schon im Mai 1989 dachte er angesichts der Krisen im Sowjetblock über eine mögliche Lösung der deutschen Frage nach. Alte Verbündete Helmut Kohls, wie der französische Präsident François Mitterrand, blieben zögerlich bis ablehnend, andere wie die britische Premierministerin Margret Thatcher oder der italienische Premier Giulio Andreotti erwiesen sich als harte kompromisslose Gegner der deutschen Vereinigung. Zu den wenigen internationalen Unterstützern zählten der
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französische Präsident der EU-Kommission Jacques Delors, der ehemalige französische Verteidigungsminister François Léotard und der spanische Premierminister Felipe Gonzales. Michail Gorbatschow, der das unschätzbare Verdienst hat, weder in Polen noch in der DDR militärisch eingreifen zu lassen und durch dieses besonnene Verhalten unabsehbares Blutvergießen verhinderte, wollte indes keineswegs die Wiedervereinigung, schon gar nicht in Verbindung mit der NATOMitgliedschaft eines vereinigten Deutschlands. Vielmehr musste sie ihm unter dem Druck der Verhältnisse, unter denen seine Regierung stand und der wirtschaftlichen Schwäche der Sowjetunion, mühsam abgerungen werden. Zwar hielt auch er die DDR, wie alle kommunistischen Regimes, für reformbedürftig, doch abschaffen wollte er sie keineswegs. So zählte Michail Gorbatschow zu den Vätern der Wiedervereinigung, jedoch eher als Getriebener, nicht wie George W. Bush sen. als Treibender. 4. Auch innerhalb Deutschlands fand die Wiedervereinigungspolitik Kohls keineswegs nur Unterstützer. Der Schriftsteller Günter Grass lehnte die Wiedervereinigung mit der absurden Begründung ab, ein Volk, das Auschwitz verursacht habe, habe das Recht auf Einheit verwirkt. Der Kanzlerkandidat der SPD, Oskar Lafontaine, sprach sich ebenfalls gegen die Wiedervereinigung aus; innerhalb der westdeutschen Linken überwog generell die Skepsis, die im übrigen auch einer der Architekten der sozial-liberalen Ostpolitik, Egon Bahr, teilte, obwohl er später die Ostpolitik als entscheidenden Schritt zu Wiedervereinigung bezeichnete. Und selbst in der Bürgerrechtsbewegung der DDR, deren großes, unverzichtbares Verdienst die friedliche Revolution bleibt, herrschten zum Teil diffuse Vorstellungen über einen ‚dritten Weg’, den eine reformierte DDR gehen könne, über die Neutralisierung eines vereinigten Deutschlands u. a .m.: Die Zwei-Plus-VierGespräche bildeten ein instruktives Beispiel nicht nur für solche Überlegungen im DDR-Außenministerium Markus Meckels, sondern auch für Versuche des zeitweiligen Ministerpräsidenten Hans Modrow oder Gregor Gysis, den französischen Staatspräsidenten Mitterrand gegen die Wiedervereinigung einzunehmen. Gysi erklärte unter anderem, eine Wiedervereinigung würde den Sieg der politischen Rechten in Europa bedeuten. In Frankreich herrschten, zwar nicht bei der Bevölkerung, die mit 65 bis 70 Prozent eine große Zustimmung zur Wiedervereinigung bewies, aber bei einem Teil der politischen und wirtschaftlichen Eliten große Befürchtungen vor einem politisch und wirtschaftlich übermächtigen Deutschland, weshalb Mitterrand zumindest eine vorherige oder besser gleichzeitige Intensivierung der europäischen Integration forderte. Der Glücksfall bestand darin, dass er bei Kohl auf offene Ohren stieß, weil der Bundeskanzler von Beginn an die Wiedervereinigung europäisch einbetten wollte. So oder so: Von den vier wichtigsten Mächten war nur eine – die USA, wo allerdings auch unterschiedliche Positionen zwischen Weißem Haus und Foreign Office existierten – ohne Wenn und Aber auf Seiten Helmut Kohls, die meisten anderen europäischen Staaten waren ebenfalls keine Befürworter der Wiedervereinigung. Natürlich besaß diese Ablehnung weniger aktuelle politische Gründe, vielmehr spielte die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg
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und die Unterdrückung großer Teile Europas durch das nationalsozialistische Deutschland eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die diplomatische Kunst Kohls bestand nun darin, sowohl die Besorgnisse zu zerstreuen, als auch die letztlich ausschlaggebende Unterstützung aller vier zumindest aber dreier Mächte zu gewinnen. Und da nach einem vielzitierten Wort es in dieser deutschen Existenzfrage nicht allein um die westlichen Verbündeten ging, sondern der Schlüssel zur Wiedervereinigung in Moskau lag, musste vor allem Gorbatschow gewonnen werden, auf dessen Weigerung nicht allein Margret Thatcher hoffte, aber eben auch Mitterrand. Polen musste zumindest aus der engsten Entscheidung herausgehalten und über die Grenzfrage beruhigt werden – diese aber wurde wegen der Vertriebenen, die damit endgültig auf ihre ursprüngliche Heimat, die früheren deutschen Ostgebiete, verzichten mussten, zu einem zusätzlichen innerpolitischen Problem. Helmut Kohl wusste genau, dass an der völkerrechtlichen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als deutsch-polnischer Grenze kein Weg vorbeiführte, doch brauchte er, was jedoch allerorten missverstanden wurde, bis zum definitiven Erfolg ein doppeltes Faustpfand – nicht allein gegenüber Polen, sondern auch gegenüber den Vertriebenen. Helmut Kohl hatte sich in seiner bis dahin siebenjährigen Amtszeit ein großes Vertrauenskapital erworben, das nach anfänglichen Irritationen wegen eines missglückten Interviews auch für das Verhältnis zu Gorbatschow galt. Er hatte durch seine rücksichtsvolle, die kleineren europäischen Partner einbindende Politik großes Ansehen in der EU gewonnen. Jeder kannte ihn als überzeugten Europäer und Friedenspolitiker, der alles andere als ein deutscher Nationalist war. Diese persönliche Vorgeschichte, die mehr und mehr auch seine Kontakte zu den Reformkräften in Polen und Ungarn umfasste, erwies sich als Voraussetzung seiner Überzeugungsarbeit, dass kein Nachbar etwas von einem wiedervereinigten Deutschland zu befürchten habe. Als wesentlich erwies sich ein dosierter Zeitplan, weil viele Reaktionen auf die deutsche Entwicklung nicht in direkter Ablehnung bestanden, sondern im Versuch, die Wiedervereinigung hinauszuzögern. Als Kohl deshalb seinen weder mit dem Koalitionspartner FDP, noch mit den Verbündeten abgesprochenen 10-Punkte-Plan am 28. November 1989 im Deutschen Bundestag im Alleingang verkündete, bildete dies ein großes Risiko, wie die auf dem Fuße folgenden ablehnenden bis empörten Reaktionen zeigten. Doch hatte Helmut Kohl, der seit dem 9. November die neue Chance zur Wiedervereinigung erkannte und mit George W. Bush sen. immer entschiedener auf sie zuzusteuern begann, richtig kalkuliert: Zum einen konnte ihm tatsächlich niemand Übereilung vorwerfen, sah der Plan doch eine zeitliche Streckung des Wiedervereinigungsprozesses vor. Zum anderen ging es schließlich gar nicht mehr um einzelne Inhalte des Plans, weil die Bürgerrechts-, Protest- und Ausreisebewegung aus der DDR eine immer größere Dynamik erzeugte, auf die die Politik reagieren musste, wollte sie nicht unkalkulierbar überrollt werden. Entscheidend blieb am 10-Punkte-Plan deshalb nur eins: Der Bundeskanzler hatte damit den klaren Willen der Bundesrepublik Deutschland bekundet, jetzt den Prozess der Wiedervereinigung entschieden voranzutreiben, hatte doch Hel-
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mut Kohl früher als die Meisten erkannt, wie eng der zeitliche Spielraum, das sogenannte Zeitfenster, war. Nicht punktgenau zu handeln, barg die Gefahr, die einmalige, zu diesem Zeitpunkt unverhoffte Chance zur Wiedervereinigung zu verspielen. Helmut Kohl zurrte mit seinem Überraschungscoup des 10-PunktePlans die internationale Agenda gegen den Willen der (mit Ausnahme der USA) wichtigsten Partner fest: Bloß indirektes Torpedieren dieses Ziels wurde immer schwieriger, die anderen Regierungen mussten sich in den nächsten Wochen und Monaten so oder so zur deutschen Politik stellen. Von nun an begann Kohls internationale Gipfeldiplomatie, die ohne Zweifel eine Meisterleistung war. Mit ihr näherte sich die Bundesrepublik nun Schritt für Schritt dem Jahrzehnte lang erklärten, aber nie in konkretes Handeln umsetzbaren Ziel der deutschen Einheit: Die wachsende innerdeutsche Dynamik nutzte Helmut Kohl schon seit der Maueröffnung als geschicktes Druckmittel. Nach und nach gelang es dem Bundeskanzler, ab Januar 1990 zunächst Mitterrand zu überzeugen, dann in mehreren Schritten bis zum Sommer 1990 Gorbatschow. Dabei erwies sich der amerikanische Präsident George Bush insbesondere beim Besuch des sowjetischen Generalsekretärs in Washington Ende Mai 1990 als entschiedenster Unterstützer, blieb doch bis zum Juli 1990 die NATO-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschland strittig – sie aber war eine der Bedingungen der USA für die Wiedervereinigung, aber auch Kohls, nicht aber unbedingt Außenminister Hans-Dietrich Genschers. In dem Verhandlungsmarathon gab es immer wieder Fortschritte und Rückschritte und ab 18. März 1990 erstmals eine durch freie Wahlen legitimierte Volkskammer in der DDR und eine durch sie gewählte Koalitionsregierung aus CDU und SPD, geführt von Lothar de Maizière (CDU). Seit der Erstürmung der Stasi-Zentrale in Berlin im Januar 1990 sowie dem sogenannten ‚Runden Tisch’ spielten die Bürgerrechtler bzw. neu gegründete oder, wie im Falle der SPD wiedergegründete, demokratische Parteien nun ihrerseits eine eigenständige Rolle in diesem Prozess. Tatsächlich bestand er aus unterschiedlichen parallelen Entwicklungen, die aber durch die internationalen Entscheidungen freigesetzt wurden. Beteiligt waren schließlich viele Bundesministerien, Bundesminister und hohe Beamte, beispielsweise aus dem Bundeskanzleramt, dem Bundesfinanzministerium oder dem Auswärtigen Amt, insbesondere in den Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen der Außenminister, bei denen Hans-Dietrich Genscher im Verein mit seinen Kollegen eine wesentliche Rolle spielte. Am Ende aber besaßen nur Genscher, der amerikanische Außenminister James Baker und der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse wirklichen Einfluss auf diesen Teil der Verhandlungen. Entscheidend wurden schließlich zum einen das dialektische Verhältnis, in dem Helmut Kohl und François Mitterrand die europäische Integration und die Wiedervereinigung vorantrieben, zum anderen die Fortschritte bei Kohls Verhandlungen mit Gorbatschow, die im Juli 1990 mit dem sowjetischen Zugeständnis der NATO-Mitgliedschaft, der Zusage des terminierten Abzugs der sowjetischen Armee in der DDR endete. Dieser komplizierte Abzug, der mit Bediensteten und Angehörigen etwa 500.000 Menschen betraf, wurde durch finanzielle Zu-
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geständnisse der Bundesregierung in zweistelliger Milliarden-Höhe (in DM ) ermöglicht, für die Helmut Kohl und Theo Waigel sich zu Recht einsetzten. Im Ergebnis brachten diese Verträge mit dem rechtlich zum 3. Oktober 1990 vollzogenen Beitritt der fünf in der DDR wiedergegründeten Länder zur Bundesrepublik und dem Abzug der Roten Armee, der bis 1994 erfolgte, eine fundamentale, ja revolutionäre Veränderung der europäischen, ja der Weltpolitik sowie der politischen und materiellen Lebensbedingungen der bisher unterdrückten Nationen. Am Endpunkt des gesamten Prozesses 1991 erfolgte die Auflösung der Sowjetunion, nachdem sich zuvor schon der Warschauer Pakt aufgelöst hatte. Damit endete die politische und militärische Beherrschung nicht allein der DDR durch die Sowjetunion, sondern ganz Ostmitteleuropas, so dass indirekt auch diese Staaten von der Wiedervereinigung und direkt vom Abzug der Roten Armee profitierten. Die völkerrechtliche Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze beseitigte den Schwebezustand zwischen dem faktischen Vollzug der Abtrennung ehemals deutscher Ostgebiete und der offenen Rechtsfrage. Die Lösung der deutschen Frage, also die Wiedervereinigung, betrieb Helmut Kohl in intensiven Verhandlungen und damit erstmals in der deutschen Geschichte ausschließlich friedlich und schließlich, nach langem Widerstreben der meisten Beteiligten im europäischamerikanischen Konsens. Damit wurde ein struktureller, jahrzehntelanger politischer Gefahrenherd in der Mitte Europas beseitigt. Die Wiedervereinigung Deutschlands 1989/90 erwies sich als nachhaltigstes und größtes europäisches Friedensprojekt des 20. Jahrhunderts. So wenig eine solch gigantische Leistung von einem einzelnen Staatsmann zu erbringen ist, so unbezweifelbar zeigen die inzwischen in großer Zahl zugänglichen bzw. veröffentlichten Dokumente, dass Helmut Kohl hieran (unterstützt vor allem von George W. Bush sen.) den größten Anteil hatte.
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Michail Gorbatschow und die deutsche Wiedervereinigung 1989/90 Von A. A. Galkin und A. S. Černjaev Über die Wiedervereinigung Deutschlands sind Hunderte von Büchern, Tausende von Artikeln geschrieben, eine Vielzahl von Dokumentar- und Spielfilmen gedreht und eine große Zahl von Interviews gegeben worden. Es scheint, als seien alle Wechselteile dieses Ereignisses von Weltbedeutung gewissenhaft verfolgt worden. Von Teilnehmern und Augenzeugen der Ereignisse, von Wissenschaftlern und Journalisten sind zahlreiche Dokumente und andere Zeugnisse, die sich den inneren und äußeren Aspekten der Sache widmen, in Umlauf gebracht worden. Man sollte meinen, es gäbe keine Geheimnisse mehr, die dem Verständnis von Ursachen und Ablauf der Wiedervereinigung im Wege stünden. Nichtsdestoweniger dauern die Auseinandersetzungen an, und allem Anschein nach sind wir noch weit davon entfernt, mit Recht behaupten zu können, unsere Kenntnisse über den Prozess der Vereinigung seien vollständig und erschöpfend. Dafür gibt es objektive Gründe. Einer davon ist die geringe historische Distanz. Das Ereignis ist noch frisch im Gedächtnis und nicht frei von emotionalen Empfindungen: Die von ihm ausgelösten Wogen des Streites haben sich noch nicht geglättet, politische Vorlieben beherrschen das Feld, und die an den Ereignissen Beteiligten haben sich in der verdienten oder für sie erstrebenswerten historischen Rolle nicht etabliert. Ein anderer Grund ist die Einseitigkeit der Informations- und Quellenbasis. Am zugänglichsten für die Forscher – und umso mehr für das Publikum – haben sich die Materialien erwiesen, die eine Vorstellung lediglich der äußeren Aspekte der Sache vermitteln. Die tieferliegenden Aspekte, darunter jene, die man gemeinhin als Hintergründe bezeichnet, sind in Vielem bisher der Öffentlichkeit noch nicht zugänglich. Die Folge – zahlreiche oberflächliche Urteile, Substitution von Analyse durch Mutmaßung sowie Unverständnis für die Motive der wichtigsten handelnden Personen. Daher das Fazit: Bei der Erforschung der Ereignisse, die zur Wiedervereinigung Deutschlands geführt haben, der treibenden Kräfte dieses Prozesses und der Beweggründe, die ihn ermöglichten, ist es noch zu früh, einen Schlusspunkt zu setzen. Eine wirkliche Kenntnis davon, was sich ereignet hat, und wie es sich ereignet hat, ist ohne eine allseitige Betrachtung der Rolle Michail Gorbačevs nicht möglich. Die Bedeutung seines Beitrags zur Wiedervereinigung Deutschlands wird wohl niemand bestreiten. Allerdings wird dieser recht verschieden interpretiert. Und die Rede ist hier nicht unbedingt von den politischen Gegnern Gorbačevs, von denjenigen, für die alles, was er getan hat, nur ein Zeichen trägt: ein Minus. Das Unverständnis für die wahren Motive Gorbačevs und die falsche Interpretation konkreter Episoden des Verhandlungsprozesses sind manchmal so tiefgreifend, dass sie die Bedeutung nicht nur der Rolle Gorbačevs völlig entstellen, sondern auch die Bedeutung all dessen, was sich ereignet hat. Die Politik Gorbačevs in der deutschen Frage kann nur dann richtig verstanden und bewertet werden, wenn sie in einen globaleren Kontext eingebettet wird: seine
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Einschätzung der Weltlage, seine entschlossene Festlegung auf die Beendigung des „Kalten Krieges“, der die Menschheit an den Rand der Selbstvernichtung geführt hat und die Entwicklung der Ereignisse in der Sowjetunion selbst. Die Lösung der deutschen Frage sollte zu einem Faktor bei der Demontage der Konfrontation der Systeme werden. Mitte der 80er Jahre trat das deutsche Problem für die sowjetische Führung in zwei Erscheinungsformen auf. Es gab zwei deutsche Staaten und zwei sowjetischdeutsche Politiken. Gemeinsam war ihnen, dass die eine wie die andere zumindest einer Korrektur und einer Erneuerung bedurfte. Die Beziehungen sowohl zur DDR als auch zur BRD hatten sich historisch herausgebildet, wobei sich viel Irrationales und ideologisch Realitätsfernes angesammelt hatte. Die Frage einer Wiedervereinigung Deutschlands stellte sich anfänglich praktisch nicht, obgleich es für viele Experten in der Sowjetunion offenkundig war, dass sie früher oder später erfolgen würde. Als Gorbačev an der Spitze der UdSSR stand, verfügte er über genügend Unterlagen darüber, dass sich die Lage in der DDR bei weitem nicht zum Besten gestaltete. Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme wurden nicht gelöst, sondern verdrängt. Die Unzufriedenheit mit der Politik der Führung erfasste sämtliche sozialen Gruppen. In der DDR, ebenso wie in der Sowjetunion selbst, reiften Veränderungen heran. Unter diesen Bedingungen boten sich zwei mögliche, einander jedoch ausschließende Vorgehensweisen an. Die erste – der DDR eine Perestrojka nach dem Muster der Sowjetunion aufzuzwingen, d. h. Reformen von außen zu „initiieren“. Die zweite – unter Beachtung der Unabhängigkeit und Souveränität der DDR einen Kurs der Nichteinmischung in ihre Angelegenheiten zu verfolgen und lediglich auf vom Beispiel der eigenen „Perestrojka“ beeinflusste Veränderungen zu zählen. Aufgrund des historisch gewachsenen Charakters der Beziehungen mit den sozialistischen Verbündeten neigte die sowjetische Führung dazu, den ersten Ansatz zu verfolgen. Für Gorbačev selbst jedoch, der einen Kurs in Richtung einer tiefgreifenden Umgestaltung in allen Bereichen eingeschlagen hatte, war diese Vorgehensweise absolut unannehmbar, denn sie hätte den Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den Ländern Osteuropas jegliche Perspektive genommen. Bereits beim Zusammentreffen mit den Führern der Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes anlässlich der Beisetzung seines Vorgängers Konstantin Černenko erklärte ihnen Gorbačev, die sowjetische Führung werde das Prinzip der Nichteinmischung in die Angelegenheiten der Verbündeten strikt befolgen. Wie die Führung der DDR mit dieser neuen Situation umging und warum die Befreiung von der Vormundschaft die Haltlosigkeit des Regimes bloßlegte – dies ist eine andere Geschichte. Die Schwierigkeit eines Umdenkens in den Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland erklärte sich nicht nur aus der Komplexität des Problems. Eine nicht geringe Rolle spielten auch psychologische Momente. Für Gorbačev selbst, der als Kind alle Beschwernisse des Krieges und der deutschen Besetzung miterlebt hatte, war es wie für viele andere in der UdSSR nicht leicht, das „antideutsche Syndrom“ zu überwinden. Das betraf erst recht die Millionen einfacher Menschen. Als ein Mensch mit ausgeprägtem politischem Gespür war sich Gorbačev völlig darüber
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im Klaren, dass ein schroffes Überschreiten bestimmter fest etablierter Grenzen in den Beziehungen mit Deutschland kein Verständnis bei den Menschen in der UdSSR finden würde. Es war nötig, sie schrittweise darauf vorzubereiten. Eine positive Rolle bei der Überwindung des genannten „Syndroms“ spielten die jahrelangen bilateralen Beziehungen zur DDR. Einen wesentlichen Einfluss übte in dieser Hinsicht der Impuls der „Ostpolitik“ Willy Brandts aus, der Bewegung in die „deutsche Frage“ brachte. Atmosphärische Veränderungen in den Beziehungen zwischen UdSSR und BRD wurden schon im Juli 1987 während der Moskaureise des deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker erkennbar. Sein Gespräch mit Michail Gorbačev schien nichts Sensationelles zu beinhalten. So lenkte Gorbačev die Aufmerksamkeit seines Gesprächspartners auf die Bedeutung des Beitrags beider deutscher Staaten zur Sache des Friedens und der Sicherheit in Europa. Er vertrat erneut und hinreichend entschieden die sowjetische Position: zwei deutsche Staaten – dies sei die Realität. Jeglicher Versuch, sie zu revidieren, würde höchst unerwünschte Folgen haben. Nichtsdestoweniger klangen im Gespräch einige neue Töne an. Es stellte sich heraus, dass beide Seiten bereit waren – mehr noch, danach strebten – den Stillstand in den Beziehungen der beiden Länder zu beenden, der Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre vor dem Hintergrund der aktiven Beziehungen der UdSSR zu anderen Staaten besonders augenfällig geworden war. Nicht weniger wichtig war aber auch, dass Gorbačev im Prinzip eine Vereinigung Deutschlands nicht ausschloss – wenn nicht jetzt, so später: Man solle der Geschichte die Möglichkeit der Entwicklung lassen. Zu jener Zeit und unter jenen Umständen war dies ein bedeutsames Moment. Die Begegnungen die auf das Gespräch mit Weizsäcker folgten, darunter mit Franz Josef Strauß, Lothar Späth, Martin Bangemann, Hans-Jochen Vogel und besonders mit Hans-Dietrich Genscher trugen zur Klärung vieler Aspekte der „deutschen Frage“ bei. Gorbačev sprach immer öfter darüber auch in seinem Kreis und auf den Sitzungen des Politbüros. Auf einen weiteren Versuchsballon seitens Helmut Kohls antwortete Gorbačev mit einem Brief, in dem erstmals von einem „neuen Kapitel“ in den Beziehungen zwischen den beiden Ländern gesprochen wurde. Am 1. Oktober 1988 kam der Bundeskanzler nach Moskau. Um die Bedeutung dieses Besuchs insbesondere im Hinblick auf das künftige Herangehen an die deutsche Frage zu verstehen, ist es wichtig, die Atmosphäre der Begegnung und das bei beiden Politikern entstandene wechselseitige Vertrauen zu berücksichtigen. Am 28. Oktober 1988 fand im Katharinensaal des Kreml ein entscheidendes, vertrauensvolles Gespräch statt, das frei war von Feindseligkeit, ideologischem Geplänkel, Zweideutigkeit und Arglist. Beide Gesprächsteilnehmer stellten später fest, dass dies eine ehrliche, offene Unterhaltung war, die sich durch einen realistischen Ansatz, Verantwortungsbewusstsein und Optimismus und das Gefühl, eine Perspektive zu haben, auszeichnete. Im Politbüro zog Gorbačev die folgende Bilanz des Kohl-Besuchs: „Bislang ist zwar ein Umschwung nicht erfolgt, aber es hat einen starken Impuls in diese wichtige Richtung gegeben“.
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Die Beziehungen zwischen Gorbačev und Kohl nahmen bald einen freundschaftlichen Charakter an, was letzten Endes dazu beitrug, den Umgestaltungsprozess in der DDR ohne übermäßige Erschütterungen durchzuführen, als dort wie auch in den anderen Ländern Zentral- und Osteuropas stürmische Monate der politischen Erschütterungen anbrachen. Es war symbolisch, dass der „Kontakt“, der die beiden staatlichen Akteure vereint hatte, mit dem Auftritt Gorbačevs vor den Vereinten Nationen Anfang Dezember 1988 zusammenfiel. Vor der gesamten Welt wurde die wichtigste Grenze kenntlich gemacht: die Unumkehrbarkeit des Übergangs der UdSSR zu einer prinzipiell neuen Politik, der Verzicht auf ideologische Vorgaben in den Beziehungen zu welchen Ländern auch immer, Anfang Juni 1989 erfolgte ein Besuch Gorbačevs in der Bundesrepublik Deutschland. Die umfassende Analyse des deutschen Problems in den zwischen den beiden Besuchen vergangenen Monaten hatte ihn davon überzeugt, dass die harte Position in der Frage der deutschen Einheit, die bei ihm schon früher Zweifel hervorgerufen hatte, ohne Perspektive war. Selbstverständlich vermochte niemand, auch nicht Gorbačev, sich vorzustellen, wie und in welcher Geschwindigkeit die Ereignisse sich entwickeln würden. Weder in der UdSSR noch in der Bundesrepublik selbst konnten die ernsthaften Meinungsverschiedenheiten in der Frage der Einheit Deutschlands im Handumdrehen verschwinden. Nichtsdestoweniger klangen in der Gemeinsamen Erklärung, die während des Besuchs Gorbačevs in der BRD unterzeichnet worden war, neue Töne an, die in ihrer Gesamtheit ein ganz offensichtliches – wenn auch unausgesprochenes – Leitmotiv bildeten. Im Vieraugengespräch mit Gorbačev charakterisierte Kohl dieses Dokument als einen Schlussstrich, der unter die Vergangenheit gezogen worden sei und als eine Lichtquelle, die Wege in die Zukunft beleuchte. Analog war die Bewertung Gorbačevs, der das gemeinsame Dokument ein Zeugnis für den Durchbruch in den Beziehungen nannte. Wenn man heute im Rückblick die Ergebnisse dieses Besuchs und die Bedeutung der damals unterzeichneten Dokumente betrachtet, kann man mit voller Berechtigung die Schlussfolgerung ziehen: Damals wurde faktisch der Anfang für den Prozess der Vereinigung Deutschlands gemacht. Die Bündnispartner der BRD in der NATO erfassten sofort den untergründigen Sinn dessen, was sich in diesen Sommertagen in Westdeutschland ereignet hatte – sowohl die Amerikaner, als auch die Franzosen, die Engländer und alle übrigen. Dies war unter anderem an der Haltung der Presse klar erkennbar. Auch in der DDR begriff man die Bedeutung des empfangenen Signals, sowohl „oben“ als auch „unten“. Aber während die Mehrheit der Bevölkerung der DDR, die auf die Vereinigung eingestellt war, zur Kenntnis nahm, dass die UdSSR nicht beabsichtigte, die Willensäußerung des deutschen Volkes zu behindern und dass sich nichts mit den Vorgängen von 1968 in der Tschechoslowakei Vergleichbares ereignen würde, offenbarten die Führung der SED und die obersten Machthaber im Staate ihre Unfähigkeit, eine adäquate Schlussfolgerung aus den Ereignissen zu ziehen.
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Unterdessen existierte die objektive Möglichkeit, die deutsche Einheit ruhig und etappenweise zu erlangen. Bei einer schrittweisen Vereinigung hätte man einige negative Folgen und soziale Kosten, die später auftraten, vermeiden oder zumindest verringern können. Im Herbst 1989 wurde die Lage in Ostdeutschland ohne Übertreibung explosiv. Der Fall der „Berliner Mauer“ rief im deutschen Volk einen gewaltigen emotionalen Aufbruch hervor. Die Ereignisse konnten in der Tat jederzeit außer Kontrolle geraten und Anzeichen einer solchen Entwicklung gab es bereits. Dabei musste man ständig bedenken, dass auf dem Territorium der DDR sehr starke Verbände der sowjetischen Streitkräfte stationiert waren. Eine jegliche, selbst geringfügige Provokation gegenüber den sowjetischen Soldaten konnte Blutvergießen zur Folge haben. Man musste auch in Betracht ziehen, dass in der UdSSR wie auch in der DDR einflussreiche Kräfte existierten, die immer lauter den Einsatz der Streitkräfte „zur Herstellung der Ordnung“ forderten. Unter diesen Bedingungen sah Gorbačev seine wichtigste Aufgabe darin, den unausweichlichen Prozess der Wiedervereinigung Deutschlands in geordnete Bahnen zu lenken, die Gewaltvariante auszuschließen und dabei die staatlichen Interessen der Sowjetunion, insbesondere die der Armee, maximal zu berücksichtigen. Unter den veränderten Bedingungen konnte sie nicht in unveränderter Eigenschaft in Deutschland bleiben – und zwar nicht nur aus politischen (den internationalen Aspekt eingeschlossen), sondern auch aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus: Für den (an sich sinnlosen) Unterhalt unserer Streitkräfte in einem vereinigten Deutschland hätten ausländische Devisen bezahlt werden müssen. Zwischen Gorbačev und den Führern der westlichen Länder wurde ein intensiver Dialog geführt. Nach dem Rücktritt Honeckers hatte Gorbačev am 1. November 1989 in Moskau ein langes Gespräch mit dessen Nachfolger Egon Krenz. Bei dieser Unterredung ging er noch von der Annahme aus, dass die Führung der SED in ihrer neuen Zusammensetzung imstande sein werde, die Situation unter Kontrolle zu halten und schließlich eine Umgestaltung vorzunehmen, die eine stufenweise Annäherung und schließlich auch eine Fusion der DDR mit der BRD ermöglichen würde. Bei seinen Kontakten mit Genscher und Kohl versuchte er beharrlich, sich zu überzeugen, den Elementarkräften nicht nachzugeben und Zurückhaltung zu zeigen. Die verschärfte politische Lage sowohl in der DDR als auch in der BRD veranlasste sie jedoch, den Prozess zu forcieren. Noch am 11. November 1989 erklärte Kohl im Gespräch mit Gorbačev, als er über die Haltung der BRD in Bezug auf die Ereignisse in der DDR sprach: Den Deutschen ist bewusst, was Augenmaß bedeutet. Es bedeutet sowohl ein Gefühl für das rechte Maß als auch die Fähigkeit, bei der Planung von Handlungen ihre möglichen Folgen in Betracht zu ziehen, sowie das Gefühl der persönlichen Verantwortung. Jedoch bereits am 28. November, als die staatlichen Strukturen der DDR zu zerfallen begannen, verkündete der Kanzler im Bundestag ein „Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas“. Die Reaktion der sowjetischen Führung auf das Programm Kohls war äußerst scharf. Ungeachtet dessen erwies sich die Verstimmung über Kohl wegen der
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„Zehn Punkte“ als vorübergehend. Und außerdem gingen die Ereignisse bald über den Rahmen dieses Programms hinaus. Ende Januar 1990 fand im Arbeitszimmer Gorbačevs eine Beratung im engsten Kreis über die deutsche Frage statt. Als Ergebnis der Diskussion wurde eine Position festgelegt, die Gorbačev wie folgt formulierte: Einbringung einer Initiative zur Bildung einer „Sechsergruppe“ (die vier Siegermächte UdSSR, USA, England, Frankreich – und die beiden Deutschland BRD und DDR) zur Beratung über alle äußeren Probleme der deutschen Frage; in der Politik gegenüber der BRD Orientierung auf Kohl, wobei die Sozialdemokratische Partei Deutschlands nicht ignoriert werden sollte; Einladung des neuen Ministerpräsidenten der DDR, Modrow, und des neuen Vorsitzenden der SED, Gysi, zu Gesprächen nach Moskau; Aufrechterhaltung regelmäßiger Kontakte bezüglich des deutschen Problems mit London und Paris; Vorbereitung des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte aus der DDR durch Marschall Achromeev. Vieles musste sich in der Welt, in Europa und vor allem in der UdSSR in den Beziehungen zwischen Russen und Deutschen ereignen, damit eine derartige Lösung der deutschen Frage möglich wurde. Im Februar wurde auf der Konferenz von Ottawa eine Vereinbarung bezüglich der Gespräche über eine „abschließende Regelung“ im Rahmen der „Sechsergruppe“ erzielt. Danach fanden in Bonn, Berlin und Moskau drei Gesprächsrunden statt, die als „Zwei-plus-Vier“-Gespräche in die Geschichte der Wiedervereinigung Deutschlands eingingen. In der Folge wurde künstlich diplomatischer Nebel um diese Bezeichnung erzeugt. Die Gegner der Politik Gorbačevs behaupteten in Verfolgung politischer und bei einigen auch rein persönlicher Ziele, dass die Konzeption der Gespräche im Rahmen der „Sechs“ anfangs auf der Formel „4+2“ beruht habe, die eine Vorherrschaft der Siegermächte über beide deutsche Staaten vorausgesetzt habe. Dementsprechend wurde die dokumentarische und publizistische Umbenennung der Formel „4+2“ in „2+4“ als ein ungerechtfertigt großes Zugeständnis, wenn nicht gar als Kapitulation, ausgelegt. In der Wirklichkeit verlor eine solche bürokratisch-diplomatische Scholastik angesichts der sich abspielenden epochalen Veränderungen jegliche Bedeutung. Zumindest für die Sowjetunion und die anderen Siegermächte. Verständlich war das Interesse an der „Umkehrung der Ziffern“ auf deutscher Seite, die vom amerikanischen Außenminister Baker unterstützt wurde. Die Deutschen wollten einmal mehr demonstrieren, dass die Zeiten der Vergangenheit angehörten, als Deutschland als zweitrangiger Verhandlungspartner betrachtet worden war. Die Formel „2+4“ klang wie die Anerkennung dessen, dass die Deutschen selbst ihre deutschen Angelegenheiten entscheiden und sich die ehemaligen Sieger mit den internationalen Aspekten der Wiedervereinigung beschäftigen würden. Mit anderen Worten, die Ziffernfolge in dieser Formel wurde als Frage des nationalen Prestiges aufgefasst.
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Das Festhalten an einer Ziffernfolge, wenn es sich um das Schicksal Europas und der Welt handelte, entsprach nicht den Prinzipien Gorbačevs. Er dachte auch an die Perspektiven der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und einem künftigen vereinigten Deutschland. Er brauchte kein Feilschen um Kleinigkeiten. Für ihn war offenkundig, dass die Deutschen nicht nur das Recht hatten, ihre Angelegenheiten selbst zu entscheiden, sondern dies auch unweigerlich tun würden. Am 10. Februar 1990 erklärte Gorbačev bei einem Treffen mit Kohl, der ein weiteres Mal nach Moskau gekommen war, klar und unzweideutig: „Die Deutschen müssen selbst ihre Wahl treffen“. Und als Kohl nachfragte: „Sie wollen sagen, dass in der Frage der Einheit die Deutschen selbst die Wahl haben?“ erhielt er die klare Bekräftigung: „Ja […] im Kontext der Realitäten“. Anfang 1990 ging der Prozess der Wiedervereinigung Deutschlands, dessen entscheidende treibende Kraft – vor allem in der DDR – eine mächtige Volksbewegung geworden war, endgültig und auch formal in die Hände der Deutschen über. Das grundlegende Problem, das die Siegermachte zu losen hatten, war die Gewährleistung der europäischen Sicherheit unter sich prinzipiell verändernden Bedingungen. In den Vordergrund trat die Frage der künftigen Beziehungen eines vereinigten Deutschland zur NATO. Die Haltung der USA und der BRD in dieser Frage war eindeutig: Das vereinigte Deutschland muss vollberechtigtes Mitglied der NATO sein. Im Grunde genommen hatte der Beitritt des künftigen Deutschland zur NATO und infolgedessen die Verschiebung ihrer Kompetenzsphären um einige hundert Kilometer nach Osten für die UdSSR nicht so sehr geopolitische als vielmehr psychologische Bedeutung. Im Nuklearzeitalter generell und insbesondere unter den Bedingungen einer beginnenden Abrüstung (noch dazu, wo die Länder Osteuropas, die dem Warschauer Pakt angehörten, faktische Wahlfreiheit erhielten) veränderte der Eintritt des vereinigten Deutschland in die NATO im Wesentlichen nichts am Sicherheitsproblem der UdSSR. Ungeachtet dessen musste Gorbačev die Ansichten in der Gesellschaft, in der politischen Führung und speziell innerhalb des Militärs berücksichtigen. Deshalb suchte er nach Varianten, die einen direkten Beitritt des vereinigten Deutschland zur NATO ausschließen würden. Derartige Varianten wurden sowohl im engsten Kreis der Mitarbeiter Gorbačevs als auch im Politbüro des ZK der KPdSU während des gesamten Frühjahrs 1990 erörtert. So fand am Vorabend der Reise Ėduard Ševardnadzes Anfang Mai nach Bonn zur ersten Runde der „Zwei-plus-Vier“-Gespräche ein äußerst hartes Gespräch zu diesem Thema statt: Wir lassen Deutschland nicht in die NATO! Aber die weiteren Überlegungen führten zu der Erkenntnis, dass die alternativen Ideen einer Neutralisierung des vereinigten Deutschland oder sein gleichzeitiger Beitritt zu NATO und Warschauer Pakt nicht aufrecht zu erhalten waren. Wenn nämlich Einvernehmen in Bezug auf die Vereinigung bestand – also hinsichtlich der Aufhebung aller mit den Kriegsfolgen verbundenen Beschränkungen – dann erhielt Deutschland damit das souveräne Recht zu wählen, in welchem Block es sein oder ob es generell außerhalb eines Blockes bleiben wollte. Die in einer Direktive festgehaltene Position, mit der Ševardnadze zu den „Zwei-plus-Vier“-Gesprächen gereist war, „kam nicht durch“, was vorherzusehen war.
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Ende Mai 1990 reiste Gorbačev mit eben dieser Position nach Washington. In Bezug auf sein Verhalten bei den Gesprächen mit George Bush kamen nicht wenige Spekulationen auf, die die wirklichen Motive Gorbačevs entstellten. Der Kern der Sache bestand darin, dass es – wenn man sich auf den Boden der Tatsachen und der elementaren Logik stellte – unmöglich war, die frühere sowjetische Position zu behaupten. Gorbačev stand vor der Wahl: Entweder sich zu „widersetzen“, dann würde der Prozess der Vereinigung Deutschlands so oder so erfolgen, jedoch unter Umgehung der UdSSR und sogar gegen ihre Lebensinteressen, oder, geleitet von gesundem Menschenverstand, in der gesamten Angelegenheit seine Rolle zu erhalten und im Ergebnis ein freundschaftliches und dankbares Deutschland als Partner zu gewinnen – eine bedeutende Größe in der Weltwirtschaft und jetzt auch in der Politik. Am 31. Mai wurde eine Kompromissformel gefunden. Nun zu den letzten Akkorden des „Marsches“ in die Wiedervereinigung. Im Juli 1990 kam Kohl nach Moskau, um endgültige Klarheit über den Ablauf der Vereinigung Deutschlands zu schaffen Er traf mit Gorbačev in der Villa des Außenministeriums in der Spiridonovka-Straße zusammen. Kohl war präzise und energisch. Er spielte ein ehrliches, aber hartes Spiel. Er machte große Zugeständnisse, aber er erhielt die Hauptsache – ein vereinigtes Deutschland in der NATO. Einen Monat danach charakterisierte Gorbačev seine Haltung in der deutschen Frage in Helsinki in einem vertraulichen Gespräch mit Bush in folgender Weise: „Sie werden mir wahrscheinlich zustimmen, dass die Ereignisse in Osteuropa und die deutschen Angelegenheiten für uns schwieriger waren als für die USA. Ich sage Ihnen offen, dass es kolossaler Anstrengungen, einer gewaltigen Anspannung und großen politischen Willens bedurfte, um sich buchstäblich selbst zu überwinden, die alten Vorgehensweisen, die unerschütterlich schienen, abzulegen und so zu handeln, wie es die veränderten Realitäten erforderten. Ich muss bis heute bei uns im Lande diese Haltung erläutern, die Notwendigkeit des neuen Denkens und des neuen Herangehens an das, was in der Welt geschieht, beweisen und von der Richtigkeit dieser Schritte überzeugen. Dies ist nicht immer einfach, umso mehr, als es im Westen Leute gibt, die eine Analyse unterstellen, die auf der alten Denkweise beruht, und dies erschwert meine Lage“. In der Spiridonovka übergab Kohl Gorbačev den Entwurf eines „Großen Vertrags“ (der sich im Großen und Ganzen als akzeptabel erweisen sollte), und der nach seinen Worten das Vergangene abschließen und eine prinzipiell neue Etappe in den Beziehungen zwischen den beiden großen Nationen einleiten sollte – mit der Perspektive auf eine gegenseitige gedeihliche Zusammenarbeit und sogar auf eine Freundschaft. Zur Fixierung des Erreichten nahm Gorbačev Kohl mit zu sich in seine Heimat in Stavropol’. Die abschließenden Gespräche fanden in Archyz, einem kleinen malerischen nordkaukasischen Kurort, statt Dort übernachteten sie, oder genauer gesagt, verbrachten sie fast die ganze Nacht am Verhandlungstisch. Man ging in allen Details den Inhalt der Dokumente durch – den künftigen Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit, den Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland, den Vertrag über den befristeten Aufenthalt
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sowjetischer Streitkräfte, das Abkommen über überleitende Maßnahmen und anderes. In der Folge hat Kohl ehrlich und loyal mit der Unterstützung der überwältigenden Mehrheit der Deutschen all das erfüllt, was er mit seinem Wort und seiner Unterschrift besiegelt hatte. Er hat sein Vorgehen gegenüber der UdSSR auf Russland übertragen, wobei er übrigens seine Fairness gegenüber Gorbačev beibehielt und sich nicht durch einen diplomatischen „Gedächtnisverlust“ erniedrigte, dem einige frühere Partner Gorbačevs später unterlagen. Die Geschichte schritt voran. Am [31]1. August 1990 wurde in Berlin der Vertrag über die Vereinigung der BRD und der DDR unterzeichnet, am 12. September in Moskau der Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland. Am 9./10. November 1990 besuchte Gorbačev das bereits vereinigte Deutschland. Es fanden Feierlichkeiten und die Unterzeichnung von Dokumenten statt, die die völkerrechtlichen und moralisch-politischen Grundlagen für normale, wirklich freundschaftliche Beziehungen zwischen dem deutschen Volk und den Völkern der UdSSR legten. Wenn man heute auf die Ereignisse jener Zeit zurückschaut, hat man allen Grund festzustellen: Im Zuge einer staatlichen Logik, die die Beseitigung der Gefahr eines Atomkriegs und eine grundlegende Änderung der Weitpolitik sowie die Befreiung von der unheilvollen und bereits nicht mehr erträglichen Überrüstung zum Ziel hatte und auf der herausragenden Bedeutung dauerhafter, gutnachbarlicher Beziehungen mit Deutschland beruhte, war es Gorbačev, der recht behielt. Er hat unter diesen Bedingungen das äußerst Mögliche getan, um sein Ziel zu erreichen. 2. März 2006:
A. A. Galkin, Doktor der Geschichtswissenschaften, Professor. A. S. Černjaev, ehemaliger Berater des Präsidenten der UdSSR für internationale Angelegenheiten.2
1
In der Vorlage irrtümlich auf den 30.8. datiert.
2
Galkin, Aleksander, Tschernjajew (Hrsg.): Michail Gorbatschow und die deutsche Frage. Sowjetische Dokumente 1986-1991. Deutsche Ausgabe herausgegeben von Helmut Altrichter, Horst Möller und Jürgen Zarusky, kommentiert von Andreas Hilger. Aus dem Russischen übertragen von Joachim Glaublitz. Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte. Hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte, Bd., 83, München 2011, S. XXVII-XXXV.
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I. Der politische Rahmen: Mit dem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 endete der totalitäre SED-Staat DDR 1. Der „Kalte Krieg“ und die Wiedervereinigung Deutschlands aus der Sicht von W. Daschitschew. Vom totalitären SED-Staat der DDR zur freiheitlich rechtsstaatlichen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland 1.1. Der „Kalte Krieg“ und die Wiedervereinigung Deutschlands aus der Sicht von W. Daschitschew. Der intime Kenner der sowjetischen Geschichte Wjatscheslaw Daschitschew1 hat die verschiedenen Phasen der sowjetischen Expansion nach außen im langen Zeitablauf strukturiert.2 (1) Erste Periode oder die Vorstufe der sowjetischen Expansion nach außen (1918-1923): „In den Nachkriegsjahren 1918-1923, die durch soziale Erschütterungen in vielen europäischen Ländern charakterisiert waren, versuchte die kommunistische Führung Moskaus vergebens, die instabile turbulente Lage in Europa zu nutzen, um seine messianischen Ideen mit Hilfe einheimischer Kommunisten gewaltsam durchzusetzen. Das kam zum Beispiel in ihrem Streben zum Ausdruck, in den Jahren 1917-1919 die Sowjetmacht in den baltischen Republiken – Estland, Lettland und Litauen sowie in Ungarn – aufzurichten. Der mißglückte Versuch, Polen durch den Krieg in den Jahren 1919-1920 das sowjetische System aufzuzwingen, brachte der sowjetischen Führung die erste Enttäuschung: sie konnte sich davon überzeugen, daß die Bevölkerung Polens und, was aus der Sicht der marxistischen Theorie besonders deprimierend war, die polnischen Arbeiter die Rote Armee nicht unterstützen wollten und gegen sie hartnäckig kämpften. Die nationalen Gefühle erwiesen sich stärker als das ‚Klassenbewußtsein‘. Später soll Stalin gesagt haben: die Polen sind zum Sozialismus nicht geeignet. Das erklärt, warum die stalinistischen Säuberungen und Verfolgungen der Polen, darunter auch der polnischen Kommunisten, in den 30er Jahren und während des Krieges (Katyn) besonders brutal waren. Viel wichtiger für Moskau war damals die Förderung der revolutionären Bewegung in Deutschland. Aber die Niederlage der Novemberrevolution 1918 und das Scheitern der Räterepublik in Bayern 1923 bewegten Moskau, die Aufgaben 1
Prof. Dr. habil. Wjatscheslaw Daschitschew wurde 1925 in Moskau geboren. Von 1943 bis 1945 im Fronteinsatz, dann Studium an der Moskauer Universität. Als Leiter der Abteilung für außenpolitische Probleme im Rahmen der Akademie der Wissenschaften und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Konsultativen Beirats im Außenministerium setzte er sich mutig für die Überwindung des Stalinismus und der messianischen Herrschaftspolitik des Kremls ein.
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Daschitschew, Wjatscheslaw: Moskaus Griff nach der Weltmacht. Die bitteren Früchte hegemonialer Politik, Berlin / Bonn 2002.
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der kommunistischen Weltbewegung neu zu definieren“.3 Nach 1923 folgte eine relative Stabilisierung des Kapitalismus in Europa. (2) „Der Hitler-Stalin-Pakt am 23. August 1939 markierte den Übergang der sowjetischen Politik zu der zweiten, diesmal großangelegten sowjetischen Expansion in Osteuropa. Somit wurden Keime in den künftigen Zusammenbruch des sowjetischen Systems und des militanten Sozialismus gelegt. Die Zeitbombe begann für die Sowjetunion zu ticken. Dieser Pakt verdeutlichte auch eine enge Verflechtung der messianischen kommunistischen Ziele der sowjetischen Außenpolitik mit den hegemonialen Großmachtambitionen der führenden Elite der Sowjetunion. Man konnte kaum unterscheiden, wo die ‚klassenmäßigen‘ Ziele Moskaus endeten und wo seine nationalen Interessen begannen. Die Parole lautete: was der Sowjetunion zugute kommt, ist auch für die kommunistische Weltbewegung vorteilhaft. Moskau verwandelte sich zum Hüter und Förderer der kommunistischen Parteien in westlichen Ländern und betrachtete sich als die Basis für die Ausweitung des kommunistischen Systems“.4 (3) „Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die dritte Etappe der sowjetischen Expansion. Sie streckte sich nicht nur auf Europa, sondern auch auf andere Regionen der Welt. In den Jahren 1945-1948 erzwang die sowjetische Führung die Herrschaft in Mittel- und Osteuropa: in Polen, SBZ / DDR, der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Albanien und Bulgarien. Bezeichnend für die europäische Geschichte nach 1945 war die Sowjetisierung des östlichen Teils und die Atlantisierung (Amerikanisierung) des westlichen Teils Europas sowie die Entstehung und die Vertiefung der Unvereinbarkeit ihrer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen. Im Westen herrschte die bürgerliche Demokratie und eine freie, sozial orientierte Marktwirtschaft, im Osten die kommunistischen totalitären Regime und die politisch natural gesteuerte Zentralplanwirtschaft. Die Konfrontation mit den weit überlegenen Kräften des Westens, die Aufrüstung, die Notwendigkeit, die sowjetische Herrschaftssphäre in Osteuropa politisch, militärisch, wirtschaftlich und propagandistisch abzusichern – all das, vermehrt durch das ineffiziente, inflexible sowjetische Wirtschaftssystem, hat der Sowjetunion eine unerträgliche politische und wirtschaftliche Last aufgebürdet und von der Lösung wichtigerer Aufgaben der Innenpolitik abgelenkt. Die Politik der sowjetischen Führung gegenüber den Ländern Osteuropas hat sich im Laufe der Zeit modifiziert. Das Anfangsstadium der Errichtung der kommunistischen Regime in dieser Region von 1945 bis 1948 (der sogenannten Volksdemokratien) war durch gewaltsame Methoden, durch die Übertragung der stalinistischen Repressalien und Säuberungen auf dem Boden der ostmitteleuropäischen Länder, die Umstürze der bürgerlichen Regierungen und die Durchdringung der
3
Ebd., S. 41.
4
Ebd., S. 42.
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Staatsapparate dieser Länder mit moskautreuen Kadern, besonders in Verteidigungs- und Innenministerien, in Massenmedien und im Finanzwesen gekennzeichnet. Bis zum Tode Stalins wurden die Beziehungen der Sowjetunion zu den ostmitteleuropäischen Ländern beinahe nach Parteiprinzipien des ‚demokratischen Zentralismus‘ unter dem Deckmantel des ‚proletarischen Internationalismus‘ gestaltet. In Wirklichkeit bedeutete dies die vollständige Unterwerfung dieser Länder unter den Willen Moskaus (mit Ausnahme von Titos Jugoslawien und später Albaniens von Enver Hodsha). Unter Chruschtschow kam es zu vagen Versuchen einer allmählichen Liberalisierung dieser Beziehungen. Dieser Prozeß wurde nach dem Aufstand in Budapest 1956 unterbrochen. In der Breschnew-Ära kam es zu einer neuen Verhärtung der sowjetischen Politik gegenüber den ostmitteleuropäischen Ländern. Der Warschauer Vertrag und der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe wurden von Moskau bis in die Ära von Gorbatschow zentralistisch gelenkt. Das Streben der oppositionellen politischen Kreise und der breiten Schichten der Bevölkerung ostmitteleuropäischer Länder, sich von der sowjetischen Bevormundung und von der sowjetischen Dominanz zu befreien, wurde brutal niedergeschlagen, der Aufstand der Berliner Arbeiter am 17. Juni 1953, die Ungarische Revolution 1956, der Prager Frühling 1968. Die Herrschaft der Sowjetunion und ihr Sendungsbewußtsein stießen auf wachsenden Widerstand und die Eigenwilligkeit der regierenden Kreise der sozialistischen Länder, vor allem in Jugoslawien, Albanien, Polen, Rumänien, Nordkorea sowie China. Die Gegensätze zwischen der sowjetischen und der chinesischen Führung gipfelten 1961 in einen offenen militärischen Konflikt. Die hegemonialen Ansprüche des Kremls, die in der während des Prager Frühlings 1968 verkündeten ‚Breschnew-Doktrin‘ der ‚eingeschränkten Souveränität‘ ihren Niederschlag fanden, erlaubten nicht, harmonische, partnerschaftliche Beziehungen zwischen den sozialistischen Ländern zu gestalten. Sie versperrten den Weg zur Reformierung der politischen und wirtschaftlichen Systeme der Länder Ostmitteleuropas. Die Breschnew-Führung konnte und wollte nicht begreifen, daß der Prager Frühling, der die Bewegung zum Sozialismus mit menschlichem Antlitz symbolisierte, eine historische Chance schuf, vom überholten Stalinismus in politischen und wirtschaftlichen Strukturen sowie im geistigen Leben abzurücken, das Problem der Menschenrechte und Menschenfreiheiten auf eine neue, demokratische Weise zu lösen, einer herannahenden Krise des Systems vorzubeugen und Perspektiven für den Dritten Weg der Entwicklung sowohl für ostmitteleuropäische Länder, als auch für die Sowjetunion zu öffnen – einen Weg, der den Osten und Westen Europas näherbringen und auf lange Sicht zur Einheit des Kontinents führen könnte. […] Im Ergebnis hat sich die globale Konfrontation der Sowjetunion mit dem Westen, Japan und China in der Ära Breschnew (1965-1982) noch verstärkt“.5
5
Ebd., S. 43-45.
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„Die globale Hegemonialpolitik bleibt immer der destruktive Faktor der internationalen Beziehungen, sie führt zu Konfrontationen und Weltkriegen und endet für ihre Anstifter unabwendbar mit einem Fiasko. Daschitschew begründet die Gesetzmäßigkeit im System der internationalen Beziehungen, die ‚reflektierende Rückwirkung‘ der gemäß jede Herrschaftspolitik immer auf den Widerstand der Weltgemeinschaft stößt und letztendlich scheitert. In seinen Denkschriften für Breschnew, Gromyko, Andropow, Gorbatschow, für das ZK der KPdSU und das Außenministerium versuchte Daschitschew unermüdlich, diese Wahrheit der sowjetischen Führung zu verdeutlichen und sie zu bewegen, die messianische Hegemonialpolitik zu beenden. Erst unter Gorbatschow fanden seine Ideen Verständnis. In dem Buch ‚Moskaus Griff nach der Weltmacht‘ (2002) schildert Daschitschew, wie es zur unblutigen Entlassung Ostmitteleuropas aus der sowjetischen Herrschaft und zur Beendigung des Kalten Krieges kam. Seine Ideen trugen wesentlich zur Aufhebung der sowjetischen Dominanz über Ostmitteleuropa, zur Einstellung des Kalten Krieges und zur Wiedervereinigung Deutschlands bei“.6 Die Wiedervereinigung fand gegen den Willen der SED-Führung statt. Daschitschew schildert, wie die SED zur Wiedervereinigung stand. „In der ‚deutschen Frage‘ waren für die SED-Führung zwei Aspekte von entscheidender Bedeutung: die Frage der gesellschaftlich-politischen Ordnung Deutschlands und des Aufbaus des Sozialismus im östlichen Teil des Landes und die Frage der Einheit Deutschlands und der deutschen Nation […]. Viele Deformationen des Sozialismus und Gebrechen des stalinschen politischen und wirtschaftlichen Systems wurden auf deutschen Boden übertragen. In den 50er Jahren glaubte die DDR-Führung, nur stark zentralisierte, totale Macht sei die beste Form der Leitung der Gesellschaft unter den Bedingungen der Konfrontation mit der kapitalistischen BRD. Die Machtstruktur, die in der DDR entstand und sich behauptete, könnte man als staatsmonopolistischen bürokratischen Sozialismus mit einer großen Dosis Totalitarismus bezeichnen. Unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Effektivität demonstrierte dieses Staatsmodell seine Unfähigkeit, verglichen mit dem bürgerlich-demokratischen System der BRD. Es gab den Ostdeutschen weder ein hohes Lebensniveau, vergleichbar mit dem bundesdeutschen, noch elementare Rechte und Freiheiten zur Selbstverwirklichung des einzelnen und keine Möglichkeiten für breite internationale Kontakte. Es ist sehr bezeichnend, daß seit Bestehen der DDR Millionen Deutsche sie verlassen haben und in die BRD übergesiedelt sind, während in umgekehrter Richtung die Umsiedlung fast gleich Null ist. Vor dem Hintergrund der Erfolge der BRD brachen bei der Bevölkerung der DDR viele Illusionen in sich zusammen, viele Ideale verblichen, die mit dem Sozialismus verbunden waren.
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Klappentext
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Das in der DDR entstandene Regime konnte und kann politisch und ökonomisch nur bei Isolierung von der BRD bestehen, gestützt auf Gewalt gegen die eigene Bevölkerung. Als Stützen seiner Existenz dienen auch die Kultivierung von überholten ideologischen Dogmen und die Aufrechterhaltung eines Feindbildes in Gestalt des westdeutschen Imperialismus. Die Ideen des gemeinsamen europäischen Hauses, Offenheit gegenüber der Außenwelt, Glasnost, die Rechte und Freiheiten des einzelnen sind der entstandenen Machtstruktur der DDR fremd und für sie gefährlich. Für sie sind gewisse Spannungen in den Ost-West-Beziehungen vorteilhaft, die es erlauben, den Kurs auf Isolierung und Abgrenzung von der BRD zu rechtfertigen“.7 „21 Genossen machten im Januar 1990 dem ehemaligen SED-Politbüro hinter verschlossenen Türen den Prozeß. Die Mächtigen von gestern übten in Sack und Asche Selbstkritik – und schoben die Schuld für den Untergang des Regimes auf andere. Die Vernehmungsprotokolle hält der SED-Nachfolger, die PDS, Die Linke, bis heute unter Verschluß“.8 Auch Erich Honecker9 gehörte zu Stalins Erben, wie die Aussagen von Siegfried Lorenz und Ingeburg Lange zeigen: Siegfried Lorenz:10 „Honecker war ein eindeutiger Vertreter des Stalinschen Modells, das wir seit 1945 hier praktizieren, mit aller Konsequenz“.11 Ingeburg Lange:12 „Ich muß sagen, daß es die stalinistischen Strukturen nicht bloß oben gab, die gingen ja bis runter“.13 Jörg Baberowski14 hat darauf hingewiesen, daß mit Stalins Tod am 5. März 1953 die stalinistische Herrschaftsform noch nicht zu Ende war. Seine Worte gelten nicht nur für die UdSSR, sondern auch für die DDR. „Als Nikita Chruschtschow 1961 Stalins Leiche aus dem Mausoleum entfernen und an der Kremlmauer beisetzen ließ, schien es, als sei die blutige Vergangenheit tatsächlich für immer vergangen. Stalin war zum Verbrecher erklärt und als einbalsamiertes Symbol der Diktatur aus der Öffentlichkeit entfernt worden. Aber die ‚Kinder des XX. Parteitages‘ (14.2.-25.2.1956 in Moskau) zweifelten. Der Dichter Jewgeni Jewtuschenko fand 7
Ebd., S. 410 f.
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DER SPIEGEL 38/1992, „Ich hab an den geglaubt“, S. 86-104.
9
Kleßmann, Christoph: Honecker, Erich (1912-1994), in. DBE, Bd. 4, S. 166. 10 Seit 1967 im Politbüro. Seit 1976 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt. 1989 an Honeckers Sturz beteiligt. Müller-Enbergs, Helmut / Kölling, Andreas: Siegfried Lorenz (geb. 1930), in: Müller-Enbergs, Helmut et al. (Hrsg.): Wer war wer in der DDR? München 2000, S. 537 f. 11 DER SPIEGEL 38/1992, S. 104. 12 Seit 1973 im Politbüro und ZK-Sekretärin für Frauen. Müller-Enbergs, Helmut / Scharnhorst, Anke: Lange, Ingeburg, geb. Rosch (geb. 1927), in: Müller-Enbergs, Helmut et al (Hrsg.): Ebd., S. 501. 13 DER SPIEGEL 38/1992, S. 99. 14 Baberowski, Jörg: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2012, S. 508, 510 f.
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dafür die richtigen Worte. ‚Stalins Erben‘ nannte er sein Gedicht, das 1962 in der ,Prawda‘ erschien und den Überlebenden als Warnung dienen sollte. Der Diktator war gestorben, seine Leiche in der Erde vergraben worden. Aber seine Erben lebten noch“. In der SED-Nomenklatura der DDR lebte Stalin bis 1989/90 weiter. Stalins Erben Nein, Stalin ist nicht gestorben. Den Tod hält er für korrigierbar. Wir haben ihn aus dem Mausoleum entfernt, aber wie aus Stalins Erben Stalin entfernen? Manche seiner Erben beschneiden nach ihrem Rücktritt Rosen, aber insgeheim glauben sie, daß der Abschied nur vorübergehend ist. Manche beschimpfen Stalin von den Tribünen herab, aber sie selbst trauern nachts den alten Zeiten nach. Kein Zufall, daß die Erben Stalins heute Herzinfarkte erleiden. Ihnen, den Stützen von damals, gefallen die Zeiten nicht, in denen die Lager leer sind, und statt dessen die Säle, wo man Gedichte hört, überfüllt sind. Meine Heimat hat mir befohlen, mich nicht ruhigzustellen. Möge man mir auch sagen: „Beruhige Dich!“, ruhig kann ich nicht sein. Solange Stalins Erben noch auf der Erde sind, scheint es mir, als sei Stalin noch im Mausoleum geblieben.
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© Bundesregierung / Perlia-Archiv Zwischen diesen Bildern liegen 39 Jahre. Oben: Niederschlagung des Volksaufstandes Berlin, 17. Juni 1953 Unten: Abzug der GUS-Truppen, Rostocker Hafen, 27. März 1992
© Foto Detlev Steinberg / Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst
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1.2. Vom totalitären SED-Unrechtsstaat der DDR zur freiheitlich rechtsstaatlichen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland Deutsche Demokratische Republik (DDR 19491990)
Bundesrepublik Deutschland (seit 1949)
Staatsform
Sozialistischer Einheitsstaat mit 15 Bezirken
Bundesstaat (föderale Selbstbestimmung für Länder, Kreise, Städte und Gemeinden)
Rechtsstaat
SED steht über dem Recht: Unrechtsstaat
Rechtsstaat
Keine GewaltenGewaltenteilung teilung im Sozialismus
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Keine Verwaltungsgerichtsbarkeit im Sozialismus
Kommunale Selbstverwaltung
Teil des totalitären zentralistischen sozialistischen Einheitsstaates
Staat insgesamt
Sozialistische totalitäre Diktatur
Beitritt am 3. Oktober 1990 gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes (GG). Das GG gilt als Verfassung für das gesamte deutsche Volk. Neue Bundesländer: Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Freistaat Sachsen, SachsenAnhalt, Freistaat Thüringen
Gewaltenteilung
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Kommunale Selbstverwaltung im Grundgesetz verankert Freiheitlich rechtsstaatliche Demokratie
Für den Vergleich des totalitären SED-Staates mit der freiheitlich rechtsstaatlichen Demokratie der Bundesrepublik werden 5 Kriterien herangezogen: -
Staatsform Rechtsstaat Gewaltenteilung Verwaltungsgerichtbarkeit Kommunale Selbstverwaltung
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Staatsform: Vom sozialistischen zentralistischen Einheitsstaat zum Bundesstaat Deutsche Demokratische Republik (DDR, 1949-1990) Sozialistischer zentralistischer Einheitsstaat. Auflösung der Länder. Bezirke als Mittelbehörde. „Die Politik der SED ist auf die weitere allseitige Stärkung des sozialistischen Staates der Arbeiter und Bauern als einer Form der Diktatur des Proletariats gerichtet, die die Interessen des ganzen Volkes der Deutschen Demokratischen Republik vertritt“.15 „Er ist Hauptinstrument der von der Arbeiterklasse geführten Werktätigen bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und auf dem Wege zum Kommunismus“.16 Fazit: Sozialistischer zentralistischer Einheitsstaat.
Bundesrepublik Deutschland (ab 1949) „Die BRD ist nicht bereit, ihre Verfassungsidentität preiszugeben, um dafür die verlorene staatliche Einheit aller Deutschen zurückzugewinnen. Mit den Drei Westmächten kommt sie im Deutschlandvertrag (1952) überein, das Ziel der deutschen Wiedervereinigung unter Wahrung der Kernsubstanz des Grundgesetzes im europäischen Kontext anzustreben: Das wiedervereinigte Deutschland, ‚das eine freiheitlich-demokratische Verfassung, ähnlich wie die Bundesrepublik, besitzt und das in die europäische Gemeinschaft integriert ist“. (Art. 7 Abs. 2)“.17 Fazit: Bundesstaat.
Rechtsstaat Rechtsstaatsmaßstäbe: „Absolutes und oberstes Entscheidungskriterium aufgrund der Rechtsstaatsidee ist der ‚Primat des Rechts‘. Die oberste Staatshandlungskategorie verpflichtet den Staat zu dauernder Selbstbindung an das von ihm gesetzte Recht, auf die Maßstäbe Sachlichkeit und Unparteilichkeit und auf die Anerkennung des Rechts als Eigenwert in allen Lebensbereichen“.18
15 Programm der SED, Berlin (-Ost) 1976, S. 40. 16 Steeger, Horst (Hrsg.): Lexikon der Wirtschaft. Volkswirtschaft, Artikel: Staat, Berlin (-Ost) 1980, S. 567. 17 Isensee, Josef: Staat, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 5. Bd., 7. Aufl., 1995, Sp. 152. 18 Albrecht, Alfred: Rechtsstaat, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. 4, 1988, S. 742.
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Deutsche Demokratische Republik (DDR, 1949-1990)
Bundesrepublik Deutschland (ab 1949)
Sozialismus (SED) steht über dem Recht. „Uns ist er als Rechtsstaat Diener und Schützer des vor ihm bestehenden und ihm Schranken setzenden Rechtes. Für die amtliche sowjetzonale Doktrin ist der Staat vor dem Recht, und das Recht nur für den Staat da, als sein Produkt und Ausdruck seines Machtwillens“.19
Die Rechtsstaatsidee ist durch das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) und die Landesverfassung als staatsprägendes Prinzip in der Konkretisierung als sozialer Rechtsstaat durch eine breite öffentliche Meinung anerkannt und verfassungsgesetzlich gesichert.
Fazit: Sozialistischer Unrechtstaat.
Fazit: Recht steht über dem Staat.
Gewaltenteilung Gewaltenteilung ist ein Grundsatz für die Organisation der Staatsgewalt, der Machtmißbrauch bei deren Ausübung verhindern und die Freiheit der Bürger sichern soll.20 Deutsche Demokratische Republik (DDR, 1949-1990) „In den sozialistischen Ländern ist diese dominierende Stellung der kommunistischen oder sozialistischen Partei regelmäßig in der Verfassung garantiert (z. B. Art. 1 Abs. 1 DDR-Verf.: Art. 6 UdSSRVerf.: Art. 3 Abs. 1 poln. Verf.). Die sozialistische Staatstheorie lehnt die klassische Gewaltenteilung ab, da der Schutz vor Machtmißbrauch gegenüber einer sich historisch im Recht befindlichen Partei nicht mehr notwendig sei“.21 Der sozialistische Staat kennt keine Gewaltenteilung, die Souveränität des werktätigen Volkes findet ihren Ausdruck in der Einheit der Staatsgewalt, die sich im System der Volksvertretungen verkörpert.
Bundesrepublik Deutschland (ab 1949) „In den rechtsstaatlichen Demokratien ist die Rechtsprechung unabhängig von den beiden anderen Gewalten. Neben der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Zivil- und Strafjustiz; Gerichtsbarkeit, Gerichtsverfassung), gibt es Verwaltungsgerichtsbarkeit, die gegen Akte oder Unterlassungen der Verwaltung angerufen werden kann. Die Institution der gerichtlichen Normenkontrolle ist als besondere Ausprägung der Gewaltenteilung zu bewerten, da sie ermöglicht, die Mehrheitsentscheidungen des Parlaments zu kontrollieren und auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen und im Falle der Verfassungswidrigkeit unangewendet zu lassen. Die Normenkontrolle kann einem besonderen Verfassungsgericht zugewiesen sein, das die Befugnis hat, verfassungswidrige Gesetze für nichtig zu erklären. […] Bundesstaatlichkeit – eine Grundidee der Organisation der staatlichen Gewalt – bewirkt eine vertikale Teilung der staatlichen Funktionen“.22
Fazit: Keine Gewaltenteilung im Sozialismus
Fazit: Gewaltenteilung
19 Draht, Martin: Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit in der DDR, 2. Aufl., Bonn 1954, S. 89. 20 Starck, Christian: Gewaltenteilung, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. 2, 1986, S. 1023. 21 Brunner, Georg: Einführung in das Recht der DDR, München 1979, S. 19, 56 f. 22 Starck, Christian: Gewaltenteilung, S. 1025.
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Verwaltungsgerichtsbarkeit Verwaltungsgerichtsbarkeit ist eine insbesondere dem Rechtsschutz des Bürgers gegen Akte der öffentlichen Gewalt dienende Einrichtung; sie wird durch unabhängige, von den Verwaltungsbehörden getrennte Gerichte ausgeübt.23 Deutsche Demokratische Republik (DDR, 1949-1990)
Westzonen / Bundesrepublik Deutschland
In der DDR wurde die Verwaltungsgerichtsbarkeit beseitigt. Sozialistische Definition der Verwaltungsgerichtsbarkeit: „Besondere Form der Entscheidung von Streitigkeiten auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts entweder durch ordentliche Gerichte (angelsächsisches System) oder durch spezielle Verwaltungsgerichte (kontinentales System). Sie besteht in den meisten bürgerlichen Staaten; in Frankreich seit 1790, in Preußen und Österreich seit 1875. Als Ausdruck der sog. Gewaltenteilung liegt ihr formal der Gedanke zugrunde, die Rechtsmäßigkeit von Verwaltungsakten richterlich überprüfbar zu machen. In der DDR und den meisten sozialistischen Staaten gibt es keine Verwaltungsgerichtsbarkeit. Im Sinne der einheitlichen sozialistischen Staatsgewalt kann die Gesetzmäßigkeit von Verwaltungsmaßnahmen nicht nur im Beschwerdewege von der übergeordneten Stelle überprüft werden, sondern unterliegt auch der Kontrolle durch die staatlichen Machtorgane, bes. der Volksvertretungen und der Arbeiter- und Bauern-Inspektion“.24
Nach 1945 wurden in den Ländern auf landes- oder besatzungsrechtlicher Grundlage wieder Verwaltungsgerichte eingerichtet. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist eine insbesondere dem Rechtsschutz des Bürgers gegen Akte der öffentlichen Gewalt dienende Einrichtung; sie wird durch unabhängige, von den Verwaltungsbehörden getrennte Gerichte ausgeübt, und zwar durch die (allg.) Verwaltungsgerichte und durch die Finanz- und Sozialgerichte als besondere Verwaltungsgerichte. Als Verwaltungsgerichtsbarkeit werden üblicherweise nur die allgemeinen Verwaltungsgerichte bezeichnet.
Fazit: Im Sozialismus keine Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Fazit: Sofortige Verwaltungsgerichtsbarkeit in den Westzonen / Bundesrepublik Deutschland.
Kommunale Selbstverwaltung Die kommunale Selbstverwaltung „bedeutet, daß bestimmte Aufgaben nicht durch den Staat, sondern in weitgehender rechtlicher Unabhängigkeit (‚Autonomie‘) durch eigenständige juristische Personen des öffentlichen Rechts (Staatsorganisation) erfüllt werden, im Falle der kommunalen Selbstverwaltung eben durch kommunale Körperschaften, unter denen die Gemeinden den ersten Rang einnehmen (Kommunalrecht). Daß sich mit dieser Selbstverwaltung im Rechtssinne heute 23 Sendler, Horst: Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Herzog, Roman u. a. (Hrsg.): Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl., 2. Bd., 1987, S. 3840. 24 In: Meyers Neues Lexikon, 2. Aufl., Bd. 14, Leipzig 1979, S. 516 und Brunner, Georg: Einführung in das Recht der DDR, S. 21.
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ebenso wie im 19. Jahrhundert zugleich die Vorstellung bürgerschaftlicher Selbstverwaltung, also weitgehender Beteiligung der Bürger an den sie betreffenden Entscheidungen, verbindet, muß hier ebenso angemerkt werden wie die bare Selbstverständlichkeit, daß mit ‚Selbstverwaltung‘ entgegen dem Wortsinn nicht etwa der Vollzug anderweitig getroffener Entscheidungen, sondern die Entscheidung selbst gemeint ist; man spräche also besser von Selbstentscheidung, Selbstgestaltung o. ä.“.25 Deutsche Demokratische Republik (DDR, 1949-1990)
Bundesrepublik Deutschland (ab 1945)
„Die Zielsetzung der Arbeiterklasse blieb stets […] die Beseitigung des bürgerlichen Staates und die Errichtung einer neuen Staatsordnung. […] Dies erreichen die Werktätigen nicht durch die Selbstverwaltung in Städten und Gemeinden, sondern durch die Übernahme der Staatsgewalt. Deshalb ist […] die Ersetzung des Klassenkampfes durch die Losung von einem Kampfe der Arbeiterklasse für die kommunale Selbstverwaltung […] unmarxistischer Sozialdemokratismus. [… Man] unterliegt einem […] Irrtum, wenn [… man] die Gemeinden und Kreise als Fundamente des Staates bezeichnet. […] Träger unserer staatlichen Ordnung ist das gesamte Volk und nicht das ‚Volk der Gemeinde‘ oder das ‚Volk des Kreises‘. Kreise und Gemeinden sind deshalb keine eigenen Herrschaftsgebiete innerhalb des Staatsgebietes. Infolge der grundlegenden Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Ostzone und der dadurch bedingten Veränderung der Staatsfunktionen ist kein Raum für selbstherrliche, die Staatsmacht dezentralisierende ‚Selbstverwaltung‘.“26
„Art. 28 Abs. 2 GG gewährleistet die kommunale Selbstverwaltung der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze. Kommunale Selbstverwaltung ist heute eine Form dezentraler staatlicher Verwaltung zur eigenverantwortlichen Erledigung öffentlicher Angelegenheiten durch Organe, die von dem Volk in den Gemeinden und Kreisen gemäß Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG konstituiert werden (Gemeinde, politische, Kreis). Selbstverwaltung im Rechtssinne ist die hauptsächliche Dezentralisation des Staatshandelns (Staatsorganisation). Sie ermöglicht Mitwirkung und sogar Mitbestimmung der jeweils besonders berührten Bürger im Hinblick auf die Art und Weise, wie die sie betreffenden Verwaltungsangelegenheiten durchgeführt werden sollen. Der Grundgedanke der Selbstverwaltung wurzelt in dem Verfassungsgrundsatz des demokratischen Rechtsstaates (Demokratie, Gewaltenteilung). Der Staat zieht die in den gesellschaftlichen Gruppen lebendigen Kräfte zur Ordnung der sie besonders berührenden (Verwaltungs-) Angelegenheiten in eigener Verantwortung heran (BVerfGE 33, 125, 159) und nutzt ihren Sachverstand für das Zustandekommen richtiger Verwaltungsentscheidungen, insbes. für die Setzung sachgerechter Verwaltungsrechtsnormen in Form von Satzungen und Verordnungen. Für die Einrichtung und normative Gestaltung der Selbstverwaltung gilt ein demokratisch-rechtsstaatlicher Gesetzesvorbehalt“.27
25 Herzog, Roman: II. Kommunale Selbstverwaltung, in: Herzog, Roman u. a. (Hrsg.): Evangelisches Staatslexikon, Bd. II, N-Z, 1987. 26 Zuckermann, Leo: Demokratische Ordnung und Selbstverwaltung. In: Demokratischer Aufbau 3 (1948), Heft 8, S. 170. 27 Weides, Peter: Selbstverwaltung, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. 4, 1995, S. 1164 f.
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Die Merkmale der Staats- und Rechtsordnung des totalitären SED-Staates DDR und der freiheitlich rechtsstaatlichen Demokratie Bundesrepublik Deutschland
Staatsform
Deutsche Demokratische Republik (DDR, 1949-1990) Sozialistischer Einheitsstaat
Rechtsstaat
SED steht über dem Recht: Unrechtsstaat
Gewaltenteilung
Keine Gewaltenteilung im Sozialismus
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Keine Verwaltungsgerichtsbarkeit im Sozialismus
Kommunale Selbstverwaltung
Gemeinden sind keine eigenen Herrschaftsgebiete innerhalb des Herrschaftsgebietes
Fazit:
Sozialistische totalitäre Diktatur
Bundesrepublik Deutschland (ab 1945) Bundesstaat
Beitritt gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland mit Wirkung vom 3. Oktober 1990
Rechtsstaat Gewaltenteilung Verwaltungsgerichtsbarkeit Kommunale Selbstverwaltung
Freiheitlich rechtsstaatliche Demokratie
Der emeritierte Professor für Alte Geschichte der Universität Konstanz Wolfgang Schuller äußerte „Gedanken zum Rechtsstaat“ bei einer Veranstaltung des Bundesministeriums der Justiz „Über die Justiz im Staat der SED“ (1994 in Leipzig): „Der Rechtsstaat besteht in der Bindung der öffentlichen Macht an das Recht, das seinerseits nicht willkürlich verordnet sein darf, sondern aus dem freien Zusammenwirken der Staatsbürger hervorgeht. Der Staat hat mittels des Rechtes die Freiheit und Unversehrtheit des einzelnen Staatsbürgers im Verhältnis zu seinen Mitbürgern zu schützen, das Recht hat aber die Funktion, den Bürger gegen den Staat selbst zu schützen. Dem dienen die Gleichheit vor dem Gesetz, die Grundsätze des rechtlichen Gehörs und der Unabhängigkeit der Richter, die Klarheit, Widerspruchsfreiheit, allgemeine Zugänglichkeit und Unverbrüchlichkeit des Rechts, seine Berechenbarkeit und Sicherheit, die Tatsache, daß man es diskutieren können muß, die Pflicht, Entscheidungen zu begründen, die Gewaltenteilung; in letzter Instanz eine freiheitliche Verfassung mit gesicherten Grundrechten. Es muß nicht einzeln nachgewiesen werden, wie sehr der sonstige Zustand des öffentlichen Lebens der DDR so gut wie allem widersprach, was den Rechtsstaatsbegriff ausmacht; verwiesen sei nur auf das Fehlen der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Im übrigen zeigt aber ein Blick auf Strafrecht und Strafrechtspraxis der DDR, in wie erschütternder Weise sich ein neuzeitliches politisches System von allen Errungenschaften der europäischen Zivilisation entfernen, ja sie großenteils in ihr Gegenteil verkehren konnte. Die DDR ging sogar hinter das römische Recht zurück, da ihre politischen Strafgesetze über weite Strecken nicht nur bewußt undeutlich
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waren, sondern durch Auslegung mit Anwendung sogar über den ohnehin schon weit gefaßten Wortlaut hinausgingen. Das schlimmste Beispiel der Anfangsjahre ist der Artikel 6 der Verfassung von 1949, das deutlichste der Endjahre ist die ‚Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit‘ des § 214 des Strafgesetzbuches von 1968. Auch hinter das Inquisitionsverfahren ist die DDR zurückgefallen. War dessen Absicht immerhin die Feststellung der objektiven Wahrheit gewesen, und war die dort vorgesehene Möglichkeit von ‚Verdachtsstrafen‘ immerhin ein Zeichen dafür gewesen, daß man sich wenigstens über den qualitativen Unterschied von nachgewiesener Schuld und bloßem Verdacht im Klaren war und beachtliche rechtliche Konsequenzen daraus zog, so zeigt die Justizpraxis der DDR, daß bewußt auch bei nicht nachgewiesener Schuld verurteilt wurde. Das folgt einmal aus der Gesamtheit des Untersuchungsverfahrens und der Verhörmethoden, zum anderen kann man es auch schwarz auf weiß nachlesen. In den Krisen vom Sommer 1953, vom Herbst 1956 und vom Herbst 1989 versicherten beziehungsweise forderten offizielle Stellen der DDR, daß in Zukunft nur noch Menschen bestraft werden sollten, die ‚wirklich‘ etwas getan hätten. Es war also immer klar gewesen, daß man auch auf bloßen Verdacht hin verurteilte und daß es auf die Feststellung der Wahrheit nicht in erster Linie ankam. Hilde Benjamin hatte all das sogar entgegen der sonst meist beobachteten Verschweige- und Vertuschungstaktik der SED einmal einigermaßen klar ausgesprochen. Während der nationalsozialistische Jurist Roland Freisler dem Grundsatz ‚nulla poena sine lege‘ (‚keine Strafe ohne Gesetz‘) den Satz ‚nullum crimen sine poena‘ (‚kein Verbrechen ohne Strafe‘) gegenübergestellt hatte, forderte Benjamin undeutlicher, daher aber umso heimtückischer, daß ein Verbrechen ‚nicht deshalb straflos bleibt, weil ein passendes Gesetz zu fehlen scheint‘. Gemeint (und praktiziert) war natürlich: in jedem Fall bestrafen, Gesetz oder nicht – wobei in beiden Fällen noch nicht einmal das Gesetz auf rechtsstaatliche Weise zustande gekommen war. Am zahlreichsten waren freilich die systematischen Verstöße gegen die freiheitlich-rechtsstaatlichen Errungenschaften von Aufklärung und Liberalismus. Das Ausgeliefertsein und die Hilflosigkeit derer, die Gegenstand der Untersuchung durch die Staatssicherheit waren, die bis zur Irrelevanz eingeschränkte Verteidigung, der früher auch physische, später hauptsächlich eher nur noch psychische, der Folter sich annähernde Druck auf den Beschuldigten – das und vieles andere mehr stieß das Strafverfahren jahrhunderteweit zurück. Freilich tat die DDR nach außen hin so, als stehe sie in der europäischen Rechtstradition. In vornehmlich für den Westen bestimmten Artikeln und Verlautbarungen verwies sie auf ihr geschriebenes Recht, das bei oberflächlicher Betrachtung – die bei den im allgemeinen desinteressierten und kenntnislosen Westlern vorausgesetzt werden durfte – den Anschein der Rechtsstaatlichkeit erwecken konnte; auch die Verfahrensorganisation mit Staatsanwaltschaft, Gericht, Hauptverhandlung und Instanzenzug sah bei einem flüchtigen Blick ganz respektabel aus. Keine Silbe wurde natürlich von der Praxis, etwa des Untersuchungsverfahrens vor der Staatssicherheit oder der Nichtaushändigung der Urteile, gesagt.
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Und auch der zentrale Faktor blieb dem Westen gegenüber unerwähnt, der Faktor, der (von der UdSSR übernommen) als weltliche Kraft noch nie in der Geschichte bestanden hatte und als Neuerung des 20. Jahrhunderts zugleich einen Sturz ins Bodenlose der institutionalisierten Willkür darstellte: die Existenz der kommunistischen Partei mit ihrem Allmachtanspruch. Die Verpflichtung so gut wie aller am Rechtsleben Beteiligten auf die durch keine Kontrolle geregelten Entschlüsse der Partei, sowohl in der Auslegung der (von der Partei ohnehin letztlich gemachten) Gesetze bis hin zu Entscheidung konkreter Einzelfälle, die ihr wichtig erschienen, ist ein Sachverhalt, der seinesgleichen bisher nicht gehabt hat. Gegen die Praxis des absoluten Fürsten, der Machtsprüche sprechen und Urteile bestätigen oder verwerfen konnte, erhob sich der öffentliche Entrüstungssturm der Literatur der Aufklärung. Kein Hahn krähte in der durch fortschrittliche Intellektuelle aus Ost und West gestützten geschlossenen Welt der SED-Diktatur gegen die schrankenlose Allmacht und die auf das Ziel der Machterhaltung gerichtete Willkür der Partei. Die DDR war somit kein Rechtsstaat; sie beanspruchte das auch gar nicht, sondern suchte nach Auswegen, etwa solchen gezwungenen Formulierungen wie ‚sozialistischer Rechtsstaat‘. Diese Formel war natürlich aus dem defensiven Bestreben entstanden, dem Begriff Rechtsstaat, der nun wirklich nicht auf die DDR paßte, etwas entgegenzusetzen. Dem diente auch die Vulgarisierung dessen, was Karl Marx als Recht definiert hatte, nämlich als den zum Gesetz erhobenen Willen der herrschenden Klasse. Übertrug man das auf diejenige Organisation, mittels derer die angeblich herrschende Klasse, die Arbeiterklasse, herrschte, nämlich die kommunistische Partei, dann ergab sich sehr schnell, daß der Wille der Partei das Recht darstellte. Damit hätte an sich jegliche auf Machterhalt gerichtete Willkür gerechtfertigt werden können; das geschah jedoch aus verschiedenen Gründen nur unvollkommen, von denen zwei genannt seien. Zum einen war die Partei im eigenen wohlverstandenen Interesse zum Zwecke der Herrschaftsstabilisierung an einer gewissen Regelhaftigkeit des Rechtslebens interessiert, was eher chaotisches unmittelbares Einwirken ihrerseits jedenfalls in der letzten Zeit der SED-Herrschaft unpraktisch erscheinen ließ; gleichwohl war es aus Gründen der allgemeinen Herrschafts-Struktur immer möglich und wurde nur dadurch im Vorfeld abgefangen, daß die Partei selber die Gesetze machte und die Justizangehörigen über die Parteimitgliedschaft auf sich verpflichtete. Zum anderen ist hier das Konspirationsprinzip zu nennen, das das gesamte öffentliche Leben der DDR und damit auch das Rechtsleben beherrschte. Schon vor dem Sturz des Kommunismus konnte man es wissen, aber jetzt ist überdeutlich, daß von Todesurteilen des Generalsekretärs angefangen über die Nichtveröffentlichung von Rechtsvorschriften bis hin zur Nichtaushändigung von Urteilen das Rechtsleben der DDR gerade in den für das Regime lebenswichtigen Bereichen im geheimen vor sich ging. Damit wurde zum einen eines der ursprünglichsten und hart erkämpften Prinzipien des Rechtsstaates rückgängig gemacht, und andererseits zeigt das, wie wenig die Akteure selber an ihre Rechtfertigungen glaubten. Wenn sie wirklich der An-
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sicht gewesen wären, ihr Vorgehen stimme mit ihren öffentlich verkündeten theoretischen Prinzipien überein, dann hätten sie daraus kein Geheimnis zu machen brauchen. Kann man die DDR daher als das Gegenteil eines Rechtsstaates, also als Unrechtsstaat bezeichnen? Von Seiten der ehemaligen SED gibt es Proteste gegen diese Charakterisierung, die aber mehr von Vernebelungsabsichten als von der Fähigkeit zu rationaler Argumentation zeugen. An dieser Stelle soll aus einem anderen Grunde gegen den Begriff Unrechtsstaat argumentiert werden. Abgesehen davon, daß er zu plakativ wirkt, impliziert er, es sei der SED zielgerichtet auf die Verwirklichung von Unrecht angekommen. Das wird man nicht sagen können – aber keineswegs deshalb, weil es der Partei etwa auf die Verwirklichung von Recht angekommen wäre, sondern deshalb – eher noch schlimmer! –, weil sie sich in ihrem Handeln überhaupt nicht an Begriffen wie Recht oder Unrecht orientierte. Selbst der Begriff Unrechtsstaat hat noch einen Bezug zum Recht, der der SED fehlte. Der SED und dem von ihr als Instrument geschaffenen Staat kam es auf die Erhaltung und Stabilisierung ihrer nicht auf einem allgemeinen Konsens beruhenden Herrschaft an, und dem diente das, was äußerlich in die Formen des Rechts gekleidet, aber jederzeit abgeändert werden konnte, also lediglich den Charakter zweckgerichteter Maßnahmen hatte. Wenn man eine Bezeichnung haben möchte, wäre ‚Maßnahmestaat‘ oder auch ‚Nicht-Rechtsstaat‘ am angemessensten; wenn das aber zu spitzfindig sein sollte, kann getrost ‚Unrechtsstaat‘ gesagt werden. Die Rückbesinnung auf die historischen Antriebe, die die konkreten Regelungen hervorgebracht haben, auf die wir als rechtsstaatliche Errungenschaften einer neuzeitlichen zivilisierten Gesellschaft nicht verzichten können, führt unweigerlich dazu, auch das ehemals westdeutsche und jetzt gesamtdeutsche Rechtssystem an diesen Prinzipien zu messen und so die Formulierung Bärbel Bohleys fruchtbar zu machen. Gerade von denen, die den Unrechtscharakter – oder reinen Maßnahmeoder Nichtrechtscharakter – der DDR-Justiz am eigenen Leibe empfunden haben, werden die Unzulänglichkeiten des hochkomplexen neuen Rechtssystems besonders deutlich gespürt; durch die Kritik, die am neu übernommenen Rechtssystem geübt wird, ist die Chance eröffnet, Fehlentwicklungen deutlicher zu erkennen und im Zuge der Wiederherstellung einer von allen Deutschen akzeptierten Einheit auch auf rechtlichem Gebiet zu Reformen zu kommen, die den ursprünglichen Antrieben des Rechtsstaatsgedankens eher entsprechen als die heutige Wirklichkeit. Dem Rechtsstaat ist es nämlich nicht erspart geblieben, in dieselbe Gefahr gekommen zu sein wie seine Vorgänger, indem nämlich historisch positive Absichten und Einrichtungen sich durch die weitere Entwicklung in Negativa verwandelt haben; möglicherweise potenziert sich ein Teil dieser Gefahren noch durch die Art und Weise, in der sich die europäische Integration entwickelt. So ist die strikte Bindung an das geschriebene Gesetz, die Berechenbarkeit und Rechtssicherheit gewährleisten sollte, auf dem besten Wege, das Gegenteil zu bewirken: Wenn alles und jedes Detail durch rechtliche Vorschriften geregelt wird, wird das Ergebnis Unübersichtlichkeit, Undurchschaubarkeit, Willkür und eben Rechtsunsicherheit sein; eine ähnliche Wirkung ist dadurch zu befürchten, daß die für sich gesehen
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unabdingbare wissenschaftliche und publizistische Diskussion ihrer schieren Massenhaftigkeit wegen nicht mehr handhabbar ist. Ebenso kann die Öffentlichkeit eines Strafprozesses, die ursprünglich dazu gedacht war, die Richter zu kontrollieren und somit ungerechte Urteile zu verhindern, durch den Druck der neuzeitlichen Massenmedien umgekehrt dazu führen, daß das Gericht nicht mehr unbefangen und von Stimmungen unbeeinflußt sein Urteil fällen kann, so daß wieder die Gefahr ungerechter Urteile – Freisprüche oder Verurteilungen – besteht. Auch könnte es sein, daß die Schutzrechte der Angeklagten gegen den Staat so übermäßig in Anspruch genommen werden, daß Prozesse vorwiegend mit Verfahrensfragen beschäftigt sind und unzumutbar lange dauern. Die Regelungsdichte hat weiter zur Folge, daß der freiheitliche Rechtsstaat Gefahr läuft, immer mehr zum – wohlmeinenden – Interventions- und Polizeistaat des 18. Jahrhunderts zu werden, und sie hat weiter zur Folge, daß immer mehr Lebenssachverhalte gerichtlich geprüft werden und demzufolge die Gerichte immer mehr in die Rolle eines parallelen Staatsapparates hineinwachsen; von ihrer Überlastung und der auch dadurch verursachten immer längeren Dauer der Prozesse ganz abgesehen. Auch unter diesen Gesichtspunkten war es richtig, in dieser Skizze nicht die konkrete Erscheinungsform der westdeutschen Justiz zum Maßstab für die der DDR zu nehmen, sondern die Prinzipien, die ihr – denn doch immer noch – zugrundeliegen. Eine Rückbesinnung auf sie und auf die historischen Kämpfe, denen sie entstammen, ist das geeignete Mittel, die Hinterlassenschaft der SED-Justiz dadurch wirklich zu bewältigen, daß gleichzeitig Fehlentwicklungen korrigiert werden, die ein ungehemmtes Wuchern eines nur noch technisch und äußerlich verstandenen Rechtsstaatsgedankens verursacht hat“.28
28 Schuller, Wolfgang: Gedanken zum Rechtsstaat, in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.): Im Namen des Volkes? Über die Justiz im Staat der SED, Leipzig 1994, S. 314 ff.
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2. Die unausweichliche deutsche Frage Von Eberhard Kuhrt 1. Betrachtet man die Entwicklung der deutschen Frage vom Ende des 2. Weltkrieges 1945 bis zum Ende der langen Nachkriegszeit 1990/91, so steht man vor einer Reihe von paradoxen Feststellungen. Deutschland – nach Abtrennung der Ostgebiete – wurde zweigeteilt, obgleich bei Kriegsende keine der Siegermächte eine Teilung anstrebte; in Potsdam hatten sie sich sogar grundsätzlich auf die Behandlung Deutschlands als wirtschaftliche, auf Sicht auch als administrative Einheit verständigt. Die Nachkriegsordnung begann zu bröckeln in dem Augenblick, als sie am stabilsten schien: nach dem Teil- und Ersatzfrieden von Helsinki, durch den die sowjetische Führung sich ihrer Hegemonie über die östliche Hälfte Europas sicher wähnte. Die Entspannungspolitik bewirkte auf deutscher Ebene nicht das, wofür sie konzipiert worden war – einen Wandel der DDR durch ihre Stabilisierung – , hatte aber dennoch Erfolge dank destabilisierender Wirkungen, die ihre Initiatoren gerade nicht angestrebt hatten.29 Und die Wiedervereinigung kam, obwohl kaum jemand mehr – jedenfalls in überschaubarer Zeit – mit ihr rechnete und die internationale Staatenwelt und auch ein großer Teil der politischen Klasse in Westdeutschland sich mit der Teilung als endgültigem Zustand abgefunden oder angefreundet hatten. Durch die gut vierzig Jahre der Zweistaatlichkeit ziehen sich zwei gegenläufige Entwicklungen: die offensichtliche internationale Verfestigung des Status quo als Ergebnis der von der Sowjetunion erreichten militärstrategischen Parität mit den USA auf der einen, die zunächst kaum wahrnehmbare, aber fortschreitende Erosion ihrer Machtbasis, ihres wirtschaftlichen und ideologischen Potentials in den 70er und 80er Jahren auf der anderen Seite. Die Hegemonie, die die Sowjetunion in den von ihren Truppen besetzten Gebieten Mitteleuropas mit Hilfe ihrer verbündeten kommunistischen Parteien bei Kriegsende errichtet hatte, war von vornherein und blieb über fast 45 Jahre ohne wirklichen inneren Halt. Sie wurde immer wieder mit Gewaltmitteln stabilisiert – in Deutschland 1953, Ungarn 1956, der Tschechoslowakei 1968, mehrmals und besonders seit 1980 Polen und permanent durch die Einsperrung der Einwohner hinter dem hermetisch abgeriegelten und militärisch bewachten Eisernen Vorhang –, und sie wurde brüchig, als ihre Aufrechterhaltung vor allem mit Zwangsmitteln nicht mehr möglich oder zweckmäßig war. Ihre Aufrechterhaltung erwies sich für die Sowjetunion als „imperiale Überforderung“ (Adomeit).30
29 Bleek, Wilhelm / Bovermann, Rainer: Die Deutschlandpolitik der SPD/FDP-Koalition 19691982, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Baden-Baden und Frankfurt/M. 1995 (künftig zitiert als Materialien Aufarbeitung), Band 5, S. 1141 ff. Kielmansegg, Peter Graf: Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000 (künftig zitiert als Kielmansegg), S. 552. 30 Adomeit, Hannes: Imperial Overstretch. Germany in Soviet Policy from Stalin to Gorbachev, Baden-Baden 1998 (künftig zitiert als Adomeit).
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2. Die Teilung Deutschlands war eine Folge des Ost-West-Konfliktes, also ein mittelbares Ergebnis des Zweiten Weltkrieges, nicht das unmittelbare, gewissermaßen die historische Vergeltung für den Hegemonial- und Vernichtungskrieg des nationalsozialistischen Reiches – obgleich es in den 80er Jahren manche Stimmen so darstellten, um der Teilung nachträglich eine historische Legitimation zu verschaffen. Alliierte Pläne zum „Dismemberment“ hatte es in der Tat gegeben, zuletzt waren sie auf der Konferenz von Jalta noch einmal grundsätzlich positiv, aber inzwischen ohne entschiedene Absicht und daher auch ohne konkrete Beschlüsse erörtert worden. Im März 1945 wurden sie zunächst von der Sowjetunion, dann von den USA und Großbritannien definitiv fallen gelassen; es war der Beginn des Kampfes um Deutschland, das zwar nicht der auslösende, aber der zentrale Streitpunkt des Kalten Krieges war. Die Umstände, unter denen sich die „Große Allianz“ in den offenen Ost-WestKonflikt verwandelte, waren auch situationsgebunden und kontingent. Dennoch war der Ost-West-Konflikt über Deutschland letztlich unvermeidbar, auch wenn zunächst beide Großmächte daran interessiert waren, definitive Entscheidungen aufzuschieben, um sich verschiedene Optionen offen und die Allianz nach Möglichkeit aufrecht zu erhalten.31 Aber die sowjetische Praxis in den von ihren Truppen besetzten Gebieten, vor allem in Polen, nährte die Befürchtung der Westmächte, dass der bisherige Partner auf die Errichtung einer Hegemonie in Europa zusteuere. Dieses Ziel hat Stalin offensichtlich in der Tat gehabt, und eine dominante Stellung der Sowjetunion lag durchaus in der Logik des Kräfteverhältnisses im Nachkriegseuropa, sofern die USA, wie von Roosevelt in Jalta angekündigt, ihre Truppen innerhalb von zwei Jahren über den Atlantik zurückgezogen haben würden. Stalin hat offenbar mehrere Ziele nebeneinander verfolgt, die zum Teil auch in sich spannungsreich waren und sich nicht zu einem geschlossenen Konzept verbinden ließen.32 Strategisches Ziel, geleitet von der sicheren Erwartung einer künftigen militärischen Konfrontation mit den Westmächten, war es, den militärischen Rückstand auf die USA aufzuholen und eigene Nuklearwaffen zu entwickeln. Territorial galt es zum einen, die Erwerbungen durch den Hitler-Stalin-Pakt zu sichern – für die Rückgewinnung der im Frieden von Riga 1921 abgetretenen Gebiete sollte Polen auf Kosten Deutschlands entschädigt werden –, zum anderen jede künftige Bedrohung aus dem Westen durch Beherrschung des Vorfeldes auszuschließen, also durch sowjetfreundliche Regime in den näheren und weiteren Nachbarstaaten bis hin nach Deutschland. Dabei verfuhr die Sowjetunion in ihrem Kontrollbereich durchaus nach einem „imperial-ideologischen Paradigma“,33 indem sie das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben weitgehend dem eigenen Modell 31 Küsters, Hanns-Jürgen: Der Integrationsfriede. Viermächte-Verhandlungen über die Friedensregelung mit Deutschland 1945-1990. München 2000, S. 213 ff. 32 Plaggenborg, Stefan (Hg.): Handbuch der Geschichte Russlands, Band 5/II: Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion, Stuttgart 2002 (künftig zitiert als Plaggenborg), S. 136 f. 33 Adomeit, S. 51 ff.
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anzugleichen suchte und, teilweise zunächst „antifaschistisch-demokratisch“ verbrämt, von ihr abhängige Regierungen installierte. Drittens waren zum Ausgleich der massiven Kriegszerstörungen Reparationen von Deutschland einzufordern, wobei die Mitkontrolle des Ruhrgebiets, also des industriellen Kerns Deutschlands, den Ansatzpunkt auch für politische Einwirkungsmöglichkeiten auf die Westzonen bieten würde. Die USA verfolgten demgegenüber das Ziel einer Sicherung des Weltfriedens durch eine neue kollektive Sicherheitsorganisation, ein internationales Wirtschaftssystem offener Märkte und eine Stabilisierung Europas durch demokratisch verfasste Staaten – wobei allerdings der Wunsch, die „Große Allianz“ aufrechtzuerhalten, noch über Potsdam hinaus, im Vordergrund stand. Hinsichtlich Deutschlands spielte die Überlegung eine Rolle, nicht indirekt für deutsche Reparationen aufzukommen – anders als nach dem Ersten Weltkrieg34 –; darüber hinaus standen sich in der Administration zwei Denkansätze, in diversen Abstufungen, gegenüber. Zeitweise schien, bis Jalta, die Idee eines „Karthago“-Friedens – staatliche Zergliederung, Niederhaltung des Industriepotentials – zur amtlichen Linie zu werden; einen Niederschlag hatte sie noch in der besatzungspolitischen Direktive der Joint Chiefs of Staff JCS 1067, in der es unter anderem hieß „Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als besiegter Feindstaat“. Tatsächlich aber war dies, wie sich auch in der Praxis der Besatzungspolitik zeigte, nicht durchhaltbar. Ein Wiederaufbau des zerstörten Nachkriegseuropas war nicht möglich ohne den Wiederaufbau und die politische Stabilisierung seines Zentrums; eine Verelendung Europas drohte den Boden zu bereiten für eine Ausbreitung des Kommunismus, auch in Frankreich und Italien. Und die historische Erfahrung lehrte, dass die Sicherheit auch der USA bedroht war, wenn das wirtschaftliche und militärische Potential Eurasiens unter die Kontrolle eines totalitären und damit expansiven Systems geriet.35 Nach der Ablehnung des Byrnes-Plans36 durch die UdSSR 1946 und dem Scheitern der Außenministerkonferenzen in Moskau und London 1947 gingen die USA definitiv zu ihrer neuen ost- und deutschlandpolitischen Line über: Einbindung Westdeutschlands in das „Containment“ der sowjetischen Hegemonialpolitik. Beide Staaten, die 1949 in Deutschland begründet bzw. konstituiert wurden, waren zunächst Protektorate ihrer jeweiligen Besatzungsmächte; in gewisser Weise blieb die DDR es bis zu ihrem Ende; einen „Homunkulus […], der in der sowjetischen Retorte gezüchtet wurde“, hat sie der vormalige „Regierende Boschafter“ Abrassimow aus der Rückschau genannt.37 Man darf darüber den entscheidenden 34 Backer, John H.: Die Entscheidung zur Teilung Deutschlands, Amerikas Deutschlandpolitik 1943-1948, München 1981, insbesondere S. 9 ff., 49 ff. 35 Leffler, Melvyn P.: For the Soul of Mankind. The United States, the Soviet Union, and the Cold War, New York 2007 (künftig zitiert als Leffler), S. 454. 36 Entmilitarisierung und gemeinsame Besetzung Deutschlands für 25 oder 40 Jahre, erörtert auf der Pariser Außenministerkonferenz 1946. 37 Wentker, Hermann: Außenpolitik in engen Grenzen. Die DDR im internationalen System, München 2007, S. 369.
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Unterschied nicht übersehen: Die Errichtung einer demokratischen und marktwirtschaftlichen Ordnung in den Westzonen entsprach auch den eigenen Wünschen und Zielen der dort lebenden Deutschen, die Gründung einer kommunistischen Diktatur mit politisch gesteuerter sozialistischer Zentralplanwirtschaft auf der anderen Seite wurde von der großen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt und war nur mit den Zwangsmitteln der Besatzungsmacht durchsetzbar. „Die DDR kann ohne uns, ohne die SU, ihre Macht und Stärke, nicht existieren. Ohne uns gibt es keine DDR. Die Existenz der DDR entspricht unseren Interessen, den Interessen aller sozialistischen Staaten. Sie ist das Ergebnis unseres Sieges gegenüber Hitlerdeutschland“.38 Diese Worte Breshnews zu Honecker fassen zutreffend den Existenzgrund der DDR zusammen. Sie waren im Juli 1970, als sie ausgesprochen wurden, so richtig wie 1949 und 1989. Es kam also nach dem Zweiten Weltkrieg zu keiner europäischen Friedensordnung, weil über die tragende Säule eines solchen Friedens – die Verfasstheit Deutschlands – kein Konsens zu finden war. Stattdessen wurde der bei Kriegsende erreichte Status quo praktisch eingefroren: Der Ost-West-Systemkonflikt spiegelte sich auf der mitteleuropäischen Vorderbühne als innerdeutsche Systemkonkurrenz. Beide Staaten traten mit dem Anspruch an, für „Deutschland“ zu stehen, der legitime Repräsentant des ganzen Volkes zu sein und als freiheitlich-demokratischer bzw. als sozialistischer Kern eines wiederherzustellenden Gesamtstaates das zukunftsfähige „Modell Deutschland“ zu errichten. Für die Bundesrepublik mit ihrer freiheitlichen Verfassung und dem bald nach der Währungsreform sich einstellenden Aufbauerfolg bedeutete dies, dass sie in der Tat die „Magnetwirkung“ nach Osten ausübte, die der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer – zugleich mit dem Akzent auf der europäischen Einbindung – und der erste Oppositionsführer Kurt Schumacher für sie als Ziel beansprucht hatten. Die DDR auf der anderen Seite sah sich in den Augen ihrer Einwohner dem ständigen Vergleich mit dem westlichen Teilstaat ausgesetzt. Die geteilte Nation – so könnte man in Anlehnung an Ernest Renan sagen – war der tägliche Systemwettstreit. 3. Die Einsicht, dass die Teilung eine längerwährende sein werde, wuchs in Deutschland erst allmählich in den 50er Jahren. Zu unnatürlich schien die Auseinanderreißung des Landes39, und zu instabil erschien auch das staatliche Gebilde im Osten, das ohne das Eingreifen der Besatzungstruppen schon den Volksaufstand im Juni 1953 nicht überlebt hätte und angesichts der anhaltenden Massenflucht –
38 Przybilski, Peter: Tatort Politbüro. Die Akte Honecker, Berlin 1991 (künftig zitiert als Przybilski) S. 281. 39 Den Zusammenhalt über die Grenze hinweg dokumentieren beispielsweise die Reisezahlen – Mitte der 50er Jahre rd. 2 Mio. Reisen jährlich in beiden Richtungen –, kulturelle und kirchliche Veranstaltungen im Westen mit großem Zuspruch auch aus der DDR und Ost-Berlin u. a., siehe Plück, Kurt: Innerdeutsche Beziehungen […] und ihre Rückwirkung auf die Menschen im geteilten Deutschland, in: Materialien Aufarbeitung, Band 5, S. 2015 ff.
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knapp 3,5 Millionen Menschen von 1945 bis zum Mauerbau40 – auch 1961 vor dem Aus stand. 1989 stellte Honecker zutreffend – auch wenn er es anders meinte – fest, dass die Bedingungen, die zum Bau der Mauer geführt hätten, nach wie vor bestanden. Mit seiner Grundlinie der Westbindung der Bundesrepublik, seiner „Achsendrehung der Bundesrepublik nach Westen“41 verfolgte Adenauer eine „Politik der zwei Ziele“:42 Die Integration in die westliche Werte-, Verteidigungs- und dann auch die westeuropäische Wirtschaftsgemeinschaft war aus grundsätzlichen und sicherheitspolitischen Gründen ein Ziel in sich, und zwar das vorrangige – entsprechend der Werteskala „Freiheit – Frieden – Einheit“, die, in dieser Reihenfolge, seiner Konzeption zugrunde lag. Gleichzeitig sollte die Westbindung die Voraussetzung dafür schaffen, dass die Sowjetunion, angesichts der Stärke und Einigkeit des Westens und ihrer eigenen inneren und auswärtigen Probleme, zu Verhandlungen über eine umfassende Entspannung und dabei auch eine Freigabe der DDR bereit sein würde. Diese Konzeption, die auch den heftig umstrittenen deutschen Wehrbeitrag zur NATO einschloss, verfolgte Adenauer gegen eine Reihe von öffentlich erörterten, meist mehr phantasiereichen als realistischen Konzeptionen einer Neutralisierung Deutschlands43 und setzte sie gegen parlamentarische und außerparlamentarische Widerstände durch.44 Das grundlegende Dokument einer gemeinsamen westlichen Sicherheits- und Deutschlandpolitik war der Deutschlandvertrag von 1954/55, in dem sich die drei Westmächte bei Eintritt der Bundesrepublik in die westliche Allianz das deutsche Sonderinteresse an der Beseitigung der Teilung zu eigen machten bzw. sich verpflichteten, dies zu tun.45 Diese Selbstbindung wurde in der Folgezeit regelmäßig 40 Zu den Flüchtlingszahlen siehe die detaillierte Übersicht in: Kuhrt, Eberhard / Buck, Hannsjörg / Holzweißig, Gunter (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft. Am Ende des realen Sozialismus Band 3, Opladen 1999, S. 397399. 41 Morsey, Rudolf: Die Deutschlandpolitik der Bundesregierungen Adenauer und die politischparlamentarische Diskussion 1949-1963, in: Materialien Aufarbeitung, Band 5, S. 1830. 42 Gotto, Klaus: Der Realist als Visionär. Die Wiedervereinigungspolitik Konrad Adenauers, in: Die politische Meinung 35, 1990, Heft 249, S. 8. 43 Gallus, Alexander: Die Neutralisten. Verfechter eines vereinten Deutschland zwischen Ost und West 1945-1990, Düsseldorf 2006 (künftig zitiert als Gallus). 44 Zu der Stalin-Note vom März 1952 hat sich in der Forschung inzwischen eine überwiegende Auffassung herausgebildet, die die These von der „verpassten Gelegenheit“ verneint. Siehe Ruggenthaler, Peter: Stalins großer Bluff. Die Geschichte der Stalin-Note in Dokumenten der sowjetischen Führung, München 2007, S. 17 ff. Wettig, Gerhard: Die Stalin-Note. Historische Kontroverse im Spiegel der Quellen, Berlin 2015. 45 In Artikel 7 heißt es: „Bis zum Abschluß der friedensvertraglichen Regelung werden die Unterzeichnerstaaten zusammenwirken, um mit friedlichen Mitteln ihr gemeinsames Ziel zu verwirklichen: ein wiedervereinigtes Deutschland, das eine freiheitlich-demokratische Verfassung, ähnlich wie die Bundesrepublik, besitzt und das in die europäische Gemeinschaft integriert ist“. Münch, Ingo von (Hg.): Dokumente des geteilten Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1968, S. 229 ff.
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bekräftigt, wobei den Beteiligten allerdings durchaus bewusst war, dass es dabei inzwischen um ein Fernziel, nicht um eine unmittelbar anstehende Handlungsverpflichtung ging. Für eine Lösung der deutschen Frage fehlten in den 50er Jahren und auch in der Folgezeit die Voraussetzungen. Das Kräftegleichgewicht verschob sich weiter zugunsten der Sowjetunion. 1955 notierte ein Mitarbeiter Adenauers: „Alles, was wir noch im vergangenen Jahr als anbietbar betrachtet haben [als Preis, der den Sowjets für die Wiedervereinigung ausreichen würde], hat sich unter der rapiden Entwicklung der Atom- und Wasserstoffbombe als unzureichend erwiesen“.46 Die Verkündung des „neuen Kurses“ in der DDR und in Ungarn durch die Nach-Stalinsche KPdSU-Führung 1953 zielte nur auf eine Verlangsamung des „Aufbaus des Sozialismus“; möglicherweise weitergehende Überlegungen des Innenministers Berija 1953 fanden im ZK-Präsidium keine Mehrheit und trugen zu seinem Sturz bei.47 Chruschtschow erklärte 1956: „Wir ziehen 17 Millionen Deutsche unter unserem Einfluss siebzig Millionen wiedervereinigten Deutschen, auch wenn sie neutralisiert sind, vor“48 – ein Satz, der, mit den entsprechenden Änderungen, auch von einem westlichen Politiker hätte stammen können. Der stillschweigende Minimalkonsens, der sich in den 50er Jahren ausbildete, bestand für beide Seiten darin, die Zugehörigkeit des jeweiligen deutschen Staates zum eigenen Einflussbereich abzusichern. Tatsächlich wurde schon bei den Genfer Vier-Mächte-Konferenzen 1955 auch nicht mehr wirklich über die Wiederherstellung der deutschen Einheit verhandelt. Die westliche Forderung nach freien Wahlen in ganz Deutschland entsprach zwar den demokratischen Grundwerten, dem Willen aller bundesdeutschen Parteien und, wie der Juniaufstand bestätigt hatte, auch dem Wunsch der DDR-Einwohner, aber er war für die Sowjetunion ebenso unannehmbar wie umgekehrt für den Westen die Herauslösung der Bundesrepublik aus der NATO und die Erarbeitung eines Friedensvertrages unter Einbeziehung der DDR-Regierung. Seit der zweiten Hälfte der 50er Jahre bemühte sich Adenauer, für das Teilungsproblem Zwischenlösungen zu eruieren. Die Bundesrepublik sei bereit, so erklärte er 1962, „über vieles mit sich reden zu lassen, wenn unsere Brüder in der Zone ihr Leben so einrichten können, wie sie wollen. Überlegungen der Menschlichkeit spielen für uns eine noch größere Rolle als nationale Überlegungen“.49 In zunächst vertraulichen Sondierungen gegenüber der Sowjetunion entwickelte er Ideen, das Problem der deutschen Einheit für eine mittlere Frist – die Rede war von etwa zehn Jahren – ruhen zu lassen, diese Zeit aber zu nutzen, um die inneren Verhältnisse in
46 Tagebucheintragung Herbert Blankenhorns (Abteilungsleiter im Auswärtigen Amt) vom 9. März 1955, zitiert nach Morsey, Rudolf: Die Deutschlandpolitik Adenauers, alte Thesen und neue Fakten, Opladen 1991, S. 34. 47 Adomeit, S. 92 ff. Plaggenborg S. 206 f. 48 Zitiert nach Kielmansegg, S. 163. 49 Kielmansegg, S. 166.
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der DDR freiheitlicher umzugestalten.50 Die sowjetische Führung hat sich hierauf nicht eingelassen. Nach dem Tod Stalins 1953 hatte der Kalte Krieg sich entschärft. Chruschtschow widerrief die Doktrin von der Unvermeidbarkeit von Kriegen zwischen dem sozialistischen und dem kapitalistischen Weltsystem und verkündete das Prinzip der „friedlichen Koexistenz“; es bedeutete nicht ein auf Dauer angelegtes Nebeneinander der beiden Systeme, aber eine Austragung des Gegensatzes mit nicht-kriegerischen Mitteln. Als Kampffeld proklamierte der neue sowjetische Führer die Wirtschaft: Binnen zehn Jahren werde die Sowjetunion die USA in allen wichtigen wirtschaftlichen Daten überholt haben; dieses Ziel wurde auch in das neue Parteiprogramm von 1961 übernommen. Und das Entsprechende geschah auf der deutschen Vorderbühne: Ulbricht verkündete die „ökonomische Hauptaufgabe“, Westdeutschland bis 1961 beim Pro-Kopf-Verbrauch der wichtigsten Güter zu überholen, damit „die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung“ zu beweisen und auch die „friedliebenden Kräfte in Westdeutschland in ihrem Kampf gegen die militaristisch-klerikale Herrschaft anzuspornen“.51 Für die UdSSR war in der Systemkonkurrenz gerade die DDR entscheidend: „Wenn sich der Kommunismus hier nicht als überlegen und lebensfähig erweist, dann haben wir nicht gewonnen. Diese Frage ist für uns grundlegend“.52 Um das aus sowjetischer und DDR-Sicht entscheidende Hindernis für einen erfolgreichen sozialistischen Aufbau in der DDR zu beseitigen, versuchte Chruschtschow 1958, aus einer vorgeblichen Position der Stärke die Westmächte unter Kriegsandrohung aus Berlin hinauszuzwingen, damit zugleich die akute Krise der DDR zu beenden und der NATO einen entscheidenden Schlag zu versetzen, der „das gesamte System der aggressiven Blöcke liquidieren“ sollte.53 Chruschtschow rechnete offenbar nicht damit, dass die Westmächte für ihre Rechte in West-Berlin einen Krieg riskieren würden, aber seine Ultimaten beruhten letztlich auf einem Bluff, da das tatsächliche militärische Kräfteverhältnis eine deutliche Überlegenheit des Westens auswies. Nach drei Jahren Nervenkrieg endete die Krise in der Betonierung des Status quo in Berlin und Deutschland. Aber den Westmächten ging es nur noch um die Wahrung ihrer Rechte in (West-) Berlin; eine gemeinsame wiedervereinigungspolitische Linie kam nicht mehr zustande. An der Grundidee seiner Deutschlandpolitik: im engen Konsens mit den drei Westmächten mit der Sowjetunion über eine Wiedervereinigung zu verhandeln, so-
50 Gotto, Klaus: Adenauers Deutschland- und Ostpolitik 1954-1963, in: ders. u. a.: Konrad Adenauer. Seine Deutschland und Außenpolitik 1945-1963, München 1975, S. 156 - 286., hierzu insbesondere S. 224 ff., 255 ff. 51 Ulbricht, Walter: Des deutschen Volkes Weg und Ziel, in: Einheit 14 1959, Heft 9, S. 1241 f., zit. nach Weber, Hermann: Geschichte der DDR, 2. Aufl., München 1986, S. 298. 52 So der damalige zweite Mann der UdSSR, Mikojan, 1961, Plaggenborg, S. 284. 53 So zu dem nordvietnamesischen Führer Ho Chi Minh: Wettig, Gerhard: Chruschtschow, die Berlinkrise und die Mauer, in: Jesse, Eckhard (Hg.): Eine Mauer für den SED-Staat, Berlin 2012, S. 74.
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bald diese, bedingt durch die inneren Probleme ihres Landes und Herrschaftsbereiches, sich dazu veranlasst sehen würde, hat Adenauer, trotz des vorläufigen Scheiterns in den 1950/60er Jahren, bis zum Ende festgehalten. Im März 1962 erklärte er in einem Interview, das Hauptinteresse der Sowjetunion könne eines Tages den inneren Schwierigkeiten im Ostblock gelten.54 Und in einer seiner letzten Reden sagte er: „Ich gebe die Hoffnung nicht auf: Eines Tages wird auch Sowjetrußland einsehen, daß diese Trennung Deutschlands und damit die Trennung Europas nicht zu seinem Vorteil ist. Wir müssen aufpassen, ob der Augenblick kommt. Aber wenn ein Augenblick naht oder sich zu nahen scheint, der eine günstige Gelegenheit bringt, dann dürfen wir ihn nicht ungenutzt lassen“.55 Bis zum Ende der 80er Jahre gab es für beide deutsche Staaten keine tatsächlichen Möglichkeiten einer operativen Wiedervereinigungspolitik. Für die SED-Führung musste auf absehbare Zeit das Ziel im Vordergrund stehen, die eigene Herrschaft zu stabilisieren, daher die Teilung und somit die Eigenexistenz ihres Staates national und international abzusichern und daher auch die gesamtdeutschen Vorbehalte des Konkurrenzstaates abzuwehren. Nachdem sie noch bis zum Ende der Herrschaft Ulbrichts am Ziel der deutschen Einheit unter kommunistischem Vorzeichen festgehalten hatte, tilgte sie in ihrer dritten Verfassung von 1974 alle gesamtdeutschen Bezüge und verlieh dem Bündnis mit der Sowjetunion „für immer und unwiderruflich“ Verfassungsrang. Für die Bundesrepublik umgekehrt konnte eine Wiedervereinigungspolitik erst dann möglich werden, wenn die Sowjetunion ihre westpolitischen Interessen neu definieren und dabei eine Änderung des Status quo in Mitteleuropa zulassen würde. Solange dies nicht geschah, gab es für eine am Ziel der deutschen Einheit orientierte Politik nur den Weg, ihre künftige Möglichkeit offen zu halten, im weitesten Sinne, national und international, auf Rahmenbedingungen hinzuwirken, unter denen sie möglich werden könnte, und vorerst die Härten der Teilung, wo möglich, zu mildern. Im Endeffekt hat sich die deutschlandpolitische Weichenstellung Adenauers als richtig erwiesen. Als die Sowjetunion in den 80er Jahren tatsächlich in die Lage kam, ihre Bündnisstaaten nicht mehr um jeden Preis festhalten zu können, die Breshnew-Doktrin aufgab und damit ungewollt auch das SED-Regime seiner eigenen Instabilität überließ, war die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit der Bundesregierung mit der US-Regierung Bush senior entscheidend, um die deutsche Einheit international durchzusetzen. Und die unzweifelhafte Einbindung der Bundesrepublik in NATO und EG erwies sich nicht als Hindernis, sondern als notwendige Voraussetzung der Wiedervereinigung. Kein anderer als einer der schärfsten publizistischen Gegner Adenauers in den 50er Jahren, Rudolf Augstein, hat 1990 festgestellt, „dass jetzt […] Adenauers Politik insgesamt ihre Rechtfertigung erfährt“.56 54 Morsey, Rudolf: Die Deutschlandpolitik Adenauers. Alte Thesen und neue Fakten, Opladen 1991, S. 43. 55 Auf einem Parteitag der CDU in Bonn am 21. März 1966, zitiert nach Morsey in Materialien Aufarbeitung, Band 5, S. 1862. 56 Augstein, Rudolf: Berlin, Berlin, in: Der Spiegel, Nr. 5, 29. 1. 1990, S. 18.
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4. Chruschtschows Berlin-Ultimatum 1958/59 und sein Kuba-Abenteuer 1962 waren noch einmal Versuche gewesen, handstreichartig, at the brink of war, den Nachkriegs-Status quo zu verändern. Nach dem Ausgang der Doppelkrise und der Errichtung der Berliner Mauer war die Frage der deutschen Einheit von der internationalen Agenda gestrichen. Beide Seiten hatten in den Abgrund des Krieges geblickt, beide waren an einer Minderung der Spannungen, einer Vermeidung von Eskalationen und an kooperativer Rüstungskontrolle interessiert. Die Westmächte waren erleichtert, die Krise ohne wesentliche Beschädigung ihrer Rechte in Berlin überstanden zu haben; niemand wollte noch mit querelles allemandes behelligt werden. Und auch die Sowjetunion brauchte eine Atempause; ihr neuer Führer Breshnew verfolgte wie sein Vorgänger das Ziel, die innere Stabilität seines Landes durch eine Erhöhung des Lebensstandards zu festigen. Dies schloss den Wunsch nicht aus, das internationale Kräfteverhältnis, wenn es ohne Gefahr möglich war, zu den eigenen Gunsten zu verschieben, etwa durch Ausgreifen des „sozialistischen Lagers“ in die Dritte Welt – Entspannungspolitik bedeutete nicht Ende des Klassenkampfes57 –, und weiterhin das Ziel zu verfolgen, die USA aus Europa zurückzudrängen58 oder sicherheitspolitisch von ihm abzukoppeln. Das unmittelbare Ziel aber war jetzt, auf der Basis strategischer Gleichrangigkeit mit den USA den Status quo in Europa abzusichern, die Rüstungskosten zu senken, den Westhandel zu verstärken und westliche Technologie nutzen zu können, um die eigene Industrie zu entwickeln und die eigenen Rohstoffreserven zu erschließen.59 Für die Bundesrepublik bedeuteten diese Rahmenbedingungen, dass Neuansätze in der Außen- und Deutschlandpolitik gefunden werden mussten. Man musste zum einen, um die eigenen außenpolitischen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern, Beziehungen zu den osteuropäischen Nachbarstaaten Deutschlands entwickeln, in denen sich auch deren Handlungsspielräume austesten ließen – und dies, ohne dem Verlangen der östlichen Vormacht nach endgültiger Anerkennung der Teilung zu entsprechen. Man musste vor allem die Synchronität mit den westlichen Verbündeten wiederfinden, ohne dabei die staatliche Zweiteilung endgültig festzuschreiben. Dabei war es notwendig, eine Lösung des Teilungsproblems in einen europäischen Zusammenhang einzuordnen; die Suche nach einer langfristig tragfähigen europäischen Friedensordnung wurde das Leitmotiv aller Ansätze zu einer außen- und deutschlandpolitischen Neuorientierung. Und schließlich musste man auf deutscher Ebene für eine nicht absehbare Zeit einen Modus des Umgangs mit dem SED-Regime finden, weil man nur im Zusammenwirken mit den Verantwortlichen in der DDR dem vordringlichen Ziel, einer Minderung der Teilungsfolgen und einer Verbesserung der Lage der Menschen im östlichen Landesteil, näher kommen konnte.
57 Gaddis, John Lewis: Der Kalte Krieg. Eine neue Geschichte, dt. München 2007 (künftig zitiert als Gaddis), S. 253. 58 So Breshnew nach Abschluss des Moskauer Vertrages, siehe Schmidt, Karl-Heinz: Dialog über Deutschland. Studien zur Deutschlandpolitik von KPdSU und SED 1960-1979, Baden-Baden 1998, S. 337. 59 Leffler, S. 242.
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Das Problem dabei war und blieb, wie eine pragmatische Politik der Teilungsfolgenerleichterung konzeptionell und praktisch zusammengedacht werden konnte mit dem Ziel, die Teilung in Freiheit zu überwinden, angesichts eines Gegenübers und dann Vertragspartners, dessen vitales Interesse an der eigenen Machterhaltung eben diesem Ziel diametral entgegenstand. Wie weit konnte man der deutschen Zweistaatlichkeit um der humanitären Ziele willen Legitimität verschaffen, ohne das eigentliche Ziel der Selbstbestimmung preiszugeben? Diese Frage wurde 1969/70 zum Gegenstand leidenschaftlicher Kontroversen. Die NATO fand ihren neuen strategischen Ansatz in dem Harmel-Bericht von 1967. In ihm wurden Sicherheits- und Entspannungspolitik in einen komplementären Zusammenhang gestellt und die Überwindung der Teilung Deutschlands als gemeinsames Ziel des Bündnisses – nicht zuletzt dank nachdrücklicher Bemühungen der Bundesregierung – bekräftigt: „Militärische Sicherheit und eine Politik der Entspannung stellen keinen Widerspruch, sondern eine gegenseitige Ergänzung dar. […] Eine endgültige und stabile Regelung in Europa ist jedoch nicht möglich ohne eine Lösung der Deutschlandfrage, die den Kern der gegenwärtigen Spannungen in Europa bildet. Jede derartige Regelung muss die unnatürlichen Schranken zwischen Ost- und Westeuropa beseitigen, die sich in der Teilung Deutschlands am deutlichsten und grausamsten offenbaren“.60 5. Das ostpolitische Vertragswerk, das die Bundesregierung Brandt Anfang der 70er Jahre verwirklichte – grundlegend der Moskauer Vertrag Juli 1970, durch Junktim und Gegenjunktim eng verknüpft mit dem Vier-Mächte-Abkommen über Berlin vom September 1971, der Warschauer Vertrag (Dezember 1970), der innerdeutsche Grundlagenvertrag (Dezember 1972) und der Prager Vertrag (Dezember 1973) – setzte den Rahmen für einen Modus vivendi – nicht weniger, aber, wie sich erweisen sollte, auch nicht mehr – und erwies sich als relativ stabiler Interessenausgleich für die Zeit der Teilung. Die Sowjetunion erreichte ihr Hauptziel, die Anerkennung des territorialen Status quo, musste aber die Einschränkung hinnehmen, dass die Grenzen als unverletzlich, nicht als unveränderlich bezeichnet wurden, was den friedlichen Wandel an der innerdeutschen Grenze offenließ. Der Selbstbestimmungsvorbehalt der Deutschen blieb erhalten: Zwar fand die deutsche Frage in den Vertragstexten selbst keinen unmittelbaren, sondern nur impliziten Niederschlag, aber dem Moskauer und dem Grundlagenvertrag war der „Brief zur deutschen Einheit“ beigegeben, in dem festgestellt wurde, „dass der Vertrag nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland steht, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt“. Die DDR wurde von der Bundesrepublik staatsrechtlich anerkannt, aber es war keine völkerrechtliche Anerkennung, die Beziehungen blieben von „besonderer Art“, und die (gesamt-) deutsche Staatsangehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland blieb unberührt. Umgekehrt wurden durch das Vier-Mächte60 Dokumente zur Deutschlandpolitik, hg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (künftig zitiert als DzD), Reihe V, Band 1, S. 2239 f.
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Abkommen die Lage um Berlin und der Verkehr zwischen der Stadt und dem Bundesgebiet stabilisiert, auch wenn Unklarheiten und Probleme – insbesondere hinsichtlich der internationalen Vertretung von Berlin/West durch die Bundesrepublik – blieben. Berlin war daher auch weiterhin im Ost-West-Geschäft ein ständiger Reibungspunkt, aber es wurde bis zum Ende der Teilung kein Krisenherd mehr. Um zweifelsfrei und rechtsverbindlich festzustellen, dass die deutsche Frage durch die Ostverträge nicht erledigt war, setzte die CDU/CSU-Opposition eine gemeinsame Erklärung des Bundestages durch, die dem sowjetischen Parlament übermittelt und durch die Ratifikation Teil des Vertragswerkes wurde. In ihr waren alle Grundpositionen der bundesdeutschen Deutschlandpolitik – darunter das Ziel der Selbstbestimmung aller Deutschen, die Unberührtheit der Vier-Mächte-Verantwortung für Deutschland als Ganzes und damit auch der Friedensvertragsvorbehalt, die Wahrung der Bindungen von Berlin (West) an den Bund und die Anwendung der Prinzipien der Entspannung auf das Verhältnis der Menschen und Institutionen in beiden Teilen Deutschlands – explizit ausformuliert.61 Auch wenn die Sowjetunion sich diese Interpretation naturgemäß nicht zu eigen machte, blieb damit doch eine am Ziel der deutschen Einheit orientierte Politik ohne Verletzung der Ostverträge möglich. Zum innerdeutschen Grundlagenvertrag setzte der CSU-Vorsitzende Franz-Josef Strauß gegen Widerstände in der eigenen Partei und Fraktion eine Klage der bayerischen Staatsregierung beim Bundesverfassungsgericht durch.62 Das einstimmig ergangene Urteil entsprach der Erwartung: Die Verfassungsmäßigkeit des Moskauer Vertrages wurde zwar festgestellt, zugleich aber wurden interpretierend „die verfassungsrechtlichen Grenzen aufgezeigt, die für das Ausfüllen des Vertrages durch spätere Vereinbarungen und Abreden bestehen. […] Aus dem Wiedervereinigungsgebot folgt: Kein Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland darf die Wiederherstellung der staatlichen Einheit als politisches Ziel aufgeben, alle Verfassungsorgane sind verpflichtet, in ihrer Politik auf die Erreichung dieses Zieles hinzuwirken – das schließt die Forderung ein, den Wiedervereinigungsanspruch im Innern wachzuhalten und nach außen beharrlich zu vertreten – und alles zu unterlassen, was die Wiedervereinigung vereiteln würde“.63 Für die deutschlandpolitische Konzeption, die die Regierung der SPD-FDPKoalition verfolgte – „über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander zu kommen“ –, hatte Brandts Mitarbeiter Egon Bahr 1963 wesentliche konzeptionelle Elemente unter dem Schlagwort „Wandel durch Annäherung“ in einem Vortrag in der Akademie Tutzing vorgestellt. Ihre zentrale Idee bestand darin, die DDR durch politische Anerkennung und wirtschaftliche Unterstützung zu stabilisieren, um der herrschenden Partei eine innere Liberalisierung zu ermöglichen, die auch zu einer 61 Texte zur Deutschlandpolitik, hg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (künftig zitiert als Texte), Band 10, Bonn 1972, S. 427 ff. 62 Möller, Horst: Franz Josef Strauß. Herrscher und Rebell, München/Berlin 2015, S. 460-476. Koerfer, Daniel: Den Anspruch wachhalten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Juli 2013, S. 7. 63
Texte, Reihe II Band 1, Bonn 1975, S. 79 ff.
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neuen deutsch-deutschen Annäherung führen könnte: „Die Zone muss mit Zustimmung der Sowjets transformiert werden. […] Die Mauer […] war ein Zeichen der Angst und des Selbsterhaltungstriebs des kommunistischen Regimes. Die Frage ist, ob es nicht Möglichkeiten gibt, diese durchaus berechtigten Sorgen dem Regime graduell so weit zu nehmen, dass auch die Auflockerung der Grenzen und der Mauer praktikabel wird, weil das Risiko erträglich ist“.64 Die Konzeption war brisant und frappierend zugleich. Sie verband die unumgängliche Aufnahme von Beziehungen zur DDR mit einer konstruktiven Perspektive; diese allerdings konnte wohl nur unter zusätzlichen Vorannahmen, vor allem der einer Konvergenz der Systeme, aufgehen. Problematisch war an der Programmskizze insbesondere die Erwartung, dass sich die Zustimmung der Sowjets für eine – letztlich eben doch systemändernde – Transformation der DDR werde gewinnen lassen.65 Und bei aller Bedeutung, die eine Anerkennung durch die Bundesrepublik für das SED-Regime haben musste, blieb doch die entscheidende Tatsache, dass die Angst und der Selbsterhaltungstrieb, die berechtigten Sorgen des Regimes in erster Linie nicht durch die gesamtdeutschen Vorbehalte der Bundesrepublik, sondern durch die Unfreiheit und die strukturellen Fehler des eigenen Systems und seine mangelnde Akzeptanz bei der eigenen Bevölkerung begründet waren.66 Der tragende Gedanke der neuen deutschlandpolitischen Konzeption war die schrittweise Entwicklung einer gesamteuropäischen Friedensordnung: Über ein Netz bilateraler Gewaltverzichtsabkommen und beidseitige Truppenverringerungen sollte schließlich ein kollektives Sicherheitssystem aufgebaut werden. Eine neue europäische Friedensordnung, so Brandt, müsste Grenzen einebnen und neue Formen der Zusammenarbeit möglich machen; als Elemente einer solchen Ordnung nannte er die Menschenrechte, ein europäisches Volksgruppenrecht, das Recht auf Freizügigkeit, die Informationsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht.67
64 DzD Reihe IV Band 9, S. 572-575. 65 Siehe Breshnews Worte zu Honecker im Juli 1990: „Es gibt, es kann und es darf zu keinem Prozeß der Annäherung zwischen der BRD und der DDR kommen. […] Alles konzentrieren auf die allseitige Stärkung der DDR“. In: Przybilski, S. 283 f. 66 Der mit Bahr befreundete Journalist Peter Bender hat den Gedanken „Wandel durch Stabilisierung“ bis in die Konsequenz zugespitzt und damit gezeigt, in welche Aporien er führen konnte: „Damit ist die erste Voraussetzung einer Liberalisierung bezeichnet: die Führung darf nicht mehr fürchten und das Volk darf nicht mehr hoffen, dass sich an der Tatsache der kommunistischen Herrschaft etwas ändert. Praktisch bedeutet das: außenpolitisch muss das Land bei Moskau und auf Moskauer Kurs bleiben; innenpolitisch muss die Partei die Schlüsselpositionen und bei allen wichtigen Entscheidungen das letzte Wort behalten“. In: Bender, Peter: Offensive Entspannung, Köln und Berlin 1964, S. 65. 67 Link, Werner: Außen- und Deutschlandpolitik in der Ära Brandt 1969-1974, in: Bracher, KarlDietrich u. a.: Republik im Wandel 1969-1974, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Band 5, Stuttgart1986, S. 163-282, hier S. 173.
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In der spezifischen Fassung, die Bahr diesem Gedanken in diversen Ausarbeitungen gab,68 war das langfristig anzustrebende Ziel eine Ersetzung der beiden Bündnisse durch ein mitteleuropäisches Sicherheitssystem, bestehend aus einer Zone atomwaffenfreier Staaten ohne fremde Truppen, mit einer Sicherheitsgarantie durch die beiden Großmächte. Das implizierte die Erwartung, dass die Sowjetunion bereit sein würde, die DDR, Polen und die Tschechoslowakei aus ihrem Machtbereich zu entlassen, wenn der Westteil Deutschlands und die Benelux-Staaten aus dem Bündnis mit den USA ausschieden. Die Überlegungen sind nie in ein Stadium eingetreten, in dem die vielfältigen Probleme, die diese Konstruktion aufwarf – sicherheitspolitischer ebenso wie europapolitischer Art69 – konkret hätten erörtert werden müssen. Garton Ashs Einschätzung dürfte zutreffen: „Das Resultat wäre eher ein Deutschland zwischen Ost und West gewesen als ein Deutschland als Teil des Westens“.70 An dieser Konzeption – die er gelegentlich auf die griffige Formel brachte „NATO und deutsche Teilung sind siamesische Zwillinge“71– hat Bahr bis 1990 im wesentlichen festgehalten und in den 80er Jahren alles Reden – „Gequatsche“ – über eine deutsche Wiedervereinigung mit ätzender Kritik – „Heuchelei“, „politische Umweltverschmutzung“ – übergossen. Im Mai 1988 führte er in einer Rede aus: „Nur wer die Zweistaatlichkeit ohne jedes Augenzwinkern bejaht und ihre Chancen im geteilten Europa sucht, kann über Deutschland reden, frei von einem Revisionismus, der noch in seiner Kraftlosigkeit schädlich bleibt“.72 1990 enttäuschte ihn die aus seiner Sicht zu konziliante Haltung der Sowjetunion in den Verhandlungen mit der Bundesregierung und den Westmächten; noch im Juni1990 bemerkte er: „Ich habe nicht gedacht, dass ich mir im Alter mehr Gedanken über die Sowjetunion werde machen müssen, als deren Vertreter selbst es tun“.73 Eine andere konzeptionelle Linie, die beim gegenwärtigen Quellenstand nur umrisshaft erkennbar ist, verfolgte offenbar der SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner, der Bahrs „Wandel durch Annäherung“ für „Narretei“ hielt.74 Er warnte vor einer zu starken Betonung der nationalen Argumentation in den Gesprächen mit 68 So in seinem unveröffentlichten Buchmanuskript 1965/66, in einer Studie „Konzeptionen der europäischen Sicherheit“ im Planungsstab des Auswärtigen Amtes 1968, einer weiteren Studie „Überlegungen zur Außenpolitik einer künftigen Bundesregierung“ vom August 1969 u.a., Vogtmeier, Andreas: Egon Bahr und die deutsche Frage, Bonn 1996 (künftig zitiert als Vogtmeier), S. 80 ff., 104 ff. 69 Link: Außen- und Deutschlandpolitik, S. 172 ff. 70 Garton Ash, Timothy: Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, München 1993 (künftig zitiert als Garton Ash), S. 122. Gallus S. 296 ff.: Egon Bahr – Antineutralist in neutralistischer Tradition. 71 Die Zeit, 1985 Nr. 20 72 Sturm, Daniel Friedrich: Uneinig in die Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90, Bonn 2006 (künftig zitiert als Sturm), S. 74. 73 Zitiert nach Karner, Stefan u. a. (Hg.): Der Kreml und die deutsche Wiedervereinigung 1990, S. 299. 74 Vogtmeier, S. 196.
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Moskau: „Jeder Versuch, die Deutschlandfrage nationalistisch zu lösen, führt mit tödlicher Sicherheit zur Isolierung der Deutschen und zur Selbstzerfleischung“.75 In einem Gespräch mit Honecker im Mai 1973 stimmte er dessen Kritik an Brandts „nationalistischen Parolen“ von einer offenen deutschen Frage zu. „Ihm sei klar“, so Wehner, „dass mit dem geschaffenen Vertragssystem alle Probleme geregelt wären und jeder Versuch, die bestehenden Realitäten zu ändern, ins Abenteurertum führen würde“.76 Und zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zitierte er später die Meinung von Honecker: „In zwei Jahren wird sich niemand mehr an das Geschreibsel der Juristen erinnern, die noch im Mittelalter zu leben scheinen“ und fügte hinzu: „Das entspricht völlig meiner Auffassung und dahin muss es auch kommen“. Honecker hat nach seinem Sturz festgestellt, dass Wehner zwar die kommunistische Partei abgelehnt habe, „aber sein Ziel war doch die Einheit der Arbeiterbewegung und der Aufbau einer sozialistischen deutschen Republik“.77 Mit dem Kanzlerwechsel von Brandt auf Schmidt 1974 wurde die ebenso kühne wie problematische Zielprojektion Bahrs von einem neu zu errichtenden Sicherheitssystem in den Hintergrund gedrängt zugunsten der pragmatischeren Leitidee einer „realistischen Entspannung“ auf der Basis eines stabilen Gleichgewichts zwischen den Blöcken.78 „‘Realistisch‘ bedeutete: Das Bündnis mußte sich stets des fortbestehenden Gegensatzes zwischen West und Ost in Wertvorstellungen, Zielen und Interessen bewußt bleiben. Entspannungspolitik konnte nur auf ausreichender Verteidigungsfähigkeit aufbauen“ (Genscher).79 Der Gegensatz zwischen beiden entspannungspolitischen Denkrichtungen brach wenige Jahre später an der Frage der NATO-Nachrüstung offen aus. Nach 1982 hat die SPD, nun in der Oppositionsrolle, in ihrem Bestreben, eine „neue Ostpolitik“ zu initiieren, wieder auf die Bahr’schen Ideen zurückgegriffen und mit der SED Vertragsentwürfe über eine chemiewaffenfreie Zone, einen atomwaffenfreien Korridor und eine „Zone des Vertrauens und der Sicherheit in Zentraleuropa“ sowie das gemeinsame Papier „Der Streit der Ideologien und die Gemeinsame Sicherheit“ ausgehandelt. Leitend war die Idee, dass nur Gemeinsame Sicherheit den Frieden in Europa bewahren könne; der Systemgegensatz zwischen freiheitlicher und diktatorischer Ordnung wurde daneben auf den Rang eines nur mehr „ideologischen“ Streitpunktes abgesenkt.80 Auch in der Politik gegenüber der DDR trat mit dem Kanzlerwechsel 1974 eine Akzentverschiebung ein in Richtung einer pragmatischen Politik des Machbaren unter Ausklammerung von Grundsatzfragen. Sie konnte 1982 von der Bundesregierung Kohl bruchlos, allerdings mit wieder stärkerer Betonung des normativen 75 Vogtmeier, S. 198, Anm. 151. 76 SED-Dokumente zu Wehners DDR-Besuch 1973, in Deutschland-Archiv (künftig: DA) 37, 1994, S. 616-627, hier S. 621. 77 Garton Ash, S. 295. 78 Vogtmeier, S. 204 79 Genscher, Hans-Dietrich: Erinnerungen, Berlin 1995, S. 475 80 Sturm, S. 88 ff. „Bahr wollte aus Kommunisten Sozialdemokraten machen. Eine solche Mission blieb Brandt, vor allem aber Schmidt, fremd. (A.a.O. S. 90)
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Abstandes zwischen Diktatur und Demokratie und des langfristigen Ziels – Freiheit ist der Kern der deutschen Frage – fortgeführt werden.81 Der Abschluss der Ostverträge und des Berlin-Abkommens machte den Weg frei für die KSZE. Nach dreijährigen Vorgesprächen und Verhandlungen wurde im Juli/August 1975 in Helsinki die Schlussakte unterzeichnet, sie bildete zusammen mit SALT I und dem ABM-Vertrag den Höhepunkt der internationalen Entspannungspolitik. Als Gewinner der Konferenz galt und sah sich selbst die Sowjetunion, die die Unverletzlichkeit der territorialen Nachkriegssituation, also ihre Hegemonie über die Staaten Ostmittel- und Südosteuropas, nun auch international, auch durch die USA, bestätigt bekam. Dafür war sie, obgleich zögernd, bereit, ihre Unterschrift auch unter das Prinzip der universellen Bedeutung und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und unter die Verpflichtung auf die Entwicklung menschlicher Kontakte, der internationalen Zusammenarbeit in Kultur und Bildung, der Informationsfreiheit und der Medienfreiheit zu setzen. „Wir sind die Herren im eigenen Haus“, versicherte beruhigend Außenminister Gromyko.82 Er hat sich hierin, ebenso wie wohl die meisten in Helsinki versammelten Politiker getäuscht. Welches Potential in den vereinbarten Prinzipien und Verpflichtungen lag, sollte in den folgenden anderthalb Jahrzehnten deutlich werden, als Bürger der Sowjetunion und der Ostblockstaaten, einzeln oder in sich bildenden Gruppen, sich auf diese von ihren eigenen Regierungen unterschriebenen Grundsätze beriefen und ihre Beachtung einzufordern begannen.83 6. Die Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland waren von entgegengesetzten Interessen bestimmt. Der Bundesrepublik ging es darum, dem Auseinanderleben der Nation entgegenzuwirken, daher möglichst viel an Kontakten und Begegnungen, gerade auf bürgerschaftlicher und privater Ebene, möglich zu machen und, auch mit Hilfe der im Grundlagenvertrag in Aussicht genommenen 81
Der zur Zeit der Wiedervereinigung als Chef des Kanzleramtes fungierende Minister Rudolf Seiters hat die deutschlandpolitische Linie nach 1982 bei einer öffentlichen Sitzung der zweiten Bundestags-Enquete-Kommission so charakterisiert: „Dabei erhielt die Vertragspolitik mit den kommunistisch regierten östlichen Nachbarstaaten und mit der DDR ihren jeweiligen politischen Stellenwert durch die Gesamtkonzeption, in die sie eingebunden war. Man darf hier daher nicht ohne weiteres geradlinige Kontinuitäten annehmen. […] Dabei war mit einem Gegenüber zu rechnen, der in grundsätzlichen Fragen entgegengesetzte Ziele verfolgte – nicht mehr menschliches Miteinander, sondern mehr staatliche Abgrenzung; nicht mehr innere Freiheit, sondern mehr Sicherheit des Herrschaftssystems – und dessen zentrales Anliegen es ständig blieb, die eigene chronisch instabile Herrschaft zu festigen, während es das Ziel der westlichen Deutschlandpolitik sein musste, zu einer schrittweisen Entschärfung der SED-Diktatur beizutragen, ja, sie letztlich zu destabilisieren – allerdings in langen Entwicklungslinien, nicht in plötzlichen krisenhaften Zuspitzungen, die unter den Bedingungen der Breschnew-Doktrin im Gegenteil kontraproduktiv wirken mussten“. Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“, Baden-Baden und Frankfurt/M. 1999, Band VIII, S. 207 f.
82
Überliefert von UNO-Botschafter Dobrynin, zitiert nach Gaddis, S. 233.
83
Siehe Altrichter, Helmut / Wentker, Hermann (Hg.): Der KSZE-Prozess. Vom Kalten Krieg zu einem neuen Europa 1975 bis 1990, München 2011.
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Einzelvereinbarungen, ein Netz von Kooperationen zu knüpfen. Die DDR dagegen hatte zunächst ihr wichtigstes Ziel – die staatliche Anerkennung und die Aufhebung ihrer weitgehenden internationalen Isolierung – erreicht und richtete nun ihr Bemühen darauf, die Kontakte zwischen Ost- und Westdeutschen eher knapp und unter enger Kontrolle zu halten und einem gefährlichen Aufwallen gesamtdeutscher Wünsche und Empfindungen entgegenzuwirken. „Abgrenzung“ war daher zu Beginn der 70er Jahre der Leitbegriff der SED-Westpolitik. Über die nationale Frage habe die Geschichte entschieden, erklärte Honecker auf dem 8. SED-Parteitag 1971. Der Name „Deutschland“ wurde aus nahezu allen offiziellen Bezeichnungen entfernt, und die Hymne der DDR, in der das „Vaterland Deutschland“ wiederholt vorkam, wurde fortan nicht mehr gesungen, sondern nur noch musiziert. Willige Wissenschaftler erbastelten die These, dass sich in der DDR eine eigene „sozialistische Nation“ konstituiert habe, auch wenn die Angehörigen dieser Nation der „Nationalität“ nach deutsch seien, eine subtile Differenzierung, die, wie die ganze Konstruktion, in der Bevölkerung nicht angenommen wurde. Die praktischen Beziehungen kamen zunächst langsam in Gang. Nach dem Verkehrsvertrag und dem Transitabkommen kam es nun zu Abkommen über Gesundheitswesen, Veterinärwesen, nichtkommerziellen Zahlungsverkehr, Post- und Fernmeldewesen, über die Ablösung individueller Straßenbenutzungsgebühren durch Pauschalzahlungen der Bundesregierung, über Sportbeziehungen, Vereinbarungen über Verbesserungen im Berlin-Verkehr und gemeinsame, überwiegend von der Bundesrepublik finanzierte Autobahnerneuerungen und den Bau einer Autobahn zwischen Berlin und Hamburg. Vor allem zeigten sich allmähliche Verbesserungen im Reise- und Besucherverkehr, auch wenn sie nicht an den Stand der frühen 50er Jahre heranreichten. In den 70er Jahren wuchs die Zahl der Ost-WestReisen auf über 1,5 Millionen jährlich an, darunter rd. 40.000 Menschen unterhalb des Rentenalters in sog. „dringenden Familienangelegenheiten“. Die Zahl der Reisen in die Gegenrichtung (aus der Bundesrepublik und aus dem Westteil Berlins) verfünffachte sich von 1971 bis 1979 auf über 6,4 Millionen. Den Folgen der Öffnung nach Westen, der allmählich wachsenden Möglichkeiten an Reisen, Begegnungen und auch westdeutscher Medienberichterstattung, aber auch der nach Helsinki stark anwachsenden Zahl von Ausreiseanträgen begegnete die SED unter anderem mit einer Verschärfung des politischen Strafrechts, mit einschränkenden Bestimmungen für Westjournalisten – im Einzelfall auch mit Ausweisungen – und mit einem Ausbau des Ministeriums für Staatssicherheit. Mitte der 70er Jahre lag die Zahl der „Inoffiziellen Mitarbeiter“ bei 200.000, auf die gesamte Zeit der DDR gerechnet, waren es über 624.000.84 Allerdings musste das MfS jetzt, mit Rücksicht auf die internationale Reputation des Regimes, auf öffentlich sichtbare Menschenrechtsverletzungen und Willkürakte nach Möglichkeit verzichten und mehr „verdeckt“ arbeiten, es verlegte seine Tätigkeit stärker in den Untergrund. Offen sichtbar blieb natürlich weiterhin das Selbstzeugnis der Berliner
84 Müller-Enbergs, Helmut: Die inoffiziellen Mitarbeiter, in: BStU, Anatomie der Staatssicherheit – Geschichte, Struktur, Methoden, Berlin 2008, S. 35 ff.
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Mauer und des Grenzregimes, dem insgesamt vermutlich über 1000 Menschen zum Opfer fielen. Allerdings brauchte die DDR Geld. Der frühere Abteilungsleiter im DDR-Außenministerium Karl Seidel meinte 1992, „die wirklich treibende Kraft hinter den Verhandlungen der DDR mit der Bundesrepublik sei ihr dringender Bedarf an DM gewesen“.85 Und Bundeskanzler Schmidt brachte in einer kritischen Anmerkung die innerdeutschen Beziehungen auf die knappe Formel „Mehr Menschlichkeit gegen Kasse“.86 Insgesamt sind dem ostdeutschen Staat bis 1989 rund 17 Mrd. DM aus der öffentlichen Hand zugeflossen – Transitpauschale, Postpauschale u. a., darunter auch knapp 3,5 Mrd. DM aus „Freikäufen“ von politischen Häftlingen und Familienzusammenführung87 – zuzüglich 6,6 Mrd. DM durch Privatpersonen (davon 4,5 Mrd. DM durch den Mindestumtausch). Nicht eingerechnet in diese Summen sind die Deviseneinkünfte aus dem Bereich „Kommerzielle Koordinierung“ des Staatssekretärs Schalck-Golodkowski in Höhe von insgesamt rund 27 Mrd. DM und natürlich auch nicht die privaten Geld- und Sachgeschenke in Höhe von über 60 Mrd. DM von 1949 bis 1989, die nicht nur ein gewichtiges Zeugnis des menschlichen Zusammenhalts im geteilten Land, sondern für die DDR auch ein nennenswerter Wirtschaftsfaktor waren.88 Der Hintergrund des wachsenden Devisenbedarfs der DDR war die von Honecker 1971 – in enger Anlehnung an einen Beschluss des 24. KPdSU-Parteitags vom selben Jahr – verkündete Politik der Hauptaufgabe: der „Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes […] in der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Mit dem Versuch, durch eine spürbare Verbesserung des Lebensstandards das System zu konsolidieren, folgte er dem Beispiel Breshnews in der Sowjetunion und generierte für die DDR dieselben Probleme. Denn auch hier blieb, ebenso wie auch in Ungarn oder in Polen, die Sozial- und Konsumpolitik vorwiegend kreditfinanziert und führte zu einer steil ansteigenden Westverschuldung.89 1978 war ein Stand erreicht, bei dem die DDR ihren Schuldendienst nur durch die Aufnahme neuer Kredite bedienen konnte. Bei den jährlichen Treffen der beiden Generalsekretäre auf der Krim war dieses Problem und die zu befürchtende Abhängigkeit vom Westen Gegenstand ständiger Ermahnungen durch die
85
Garton Ash, S. 234.
86
Kielmansegg, S. 529.
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Die „besonderen humanitären Bemühungen“ der Bundesregierung hatten 1963 unter Bundesminister Barzel im letzten Kabinett Adenauer begonnen; bis 1989 sind dadurch über 33.000 politische Häftlinge freigekommen und über 250.000 Familienzusammenführungen ermöglicht worden. Rehlinger, Ludwig: Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten 19631989, Berlin und Frankfurt/M. 1991, S. 247. Wölbern, Jan Philipp: Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63-1989, Göttingen 2014. „Besondere Bemühungen“ der Bundesregierung, Bd.1: 1962-1969, Sonderband der Reihe Dokumente zur Deutschlandpolitik, München 2012.
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Volze, Armin: Innerdeutsche Transfers, in: Materialien Aufarbeitung, Band 5, S. 2761-2797.
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Haendcke-Hoppe-Arndt, Maria: Außenwirtschaft und innerdeutscher Handel, in: Kuhrt / Buck / Holzweißig (Hg.): Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den 80er Jahren, Am Ende des realen Sozialismus, Band 2, Opladen 1996, S. 56.
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Moskauer Genossen.90 Auch auf sowjetisches Drängen erhöhte Honecker im Oktober 1980, kurz nach der Bundestagswahl, den Zwangsumtausch für Reisende aus dem Westen, was zu einem erheblichen Rückgang der Reisezahlen führte. Und er stellte in einer Rede die „Geraer Forderungen“ an die Bundesrepublik auf, die vor allem den Sonderstatus der innerdeutschen Beziehungen beseitigen sollten.91 Sie blieben durch die 80er Jahre ständiges Thema deutsch-deutscher Gespräche und Verhandlungen, aber auch Streitpunkt innerhalb der Bundesrepublik. Namentlich SPD-Politiker forderten, der DDR in diesen Forderungen entgegenzukommen und kündigten in Parteikontakten der SED im Falle eines Regierungswechsels die „volle Respektierung“ der DDR-Staatsbürgerschaft an. Die Reaktion der NATO auf die sowjetische Rüstung mit einer neuen Generation von Mittelstreckenraketen (SS 20) – also der von Bundeskanzler Schmidt initiierte „Doppelbeschluss“ vom Dezember 1979, die öffentliche Auseinandersetzung darüber und, nach dem Scheitern der Genfer Verhandlungen, der Stationierungsbeschluss des Bundestages und seine Umsetzung durch die inzwischen amtierende Bundesregierung Kohl – war ein für den Ost-West-Konflikt und auch für die Deutschlandpolitik weichenstellendes Ereignis. „War Anfang der 50er Jahre die Neutralisierung Deutschlands die Hauptgefahr gewesen, so war es in den achtziger Jahren die Versuchung, dem sowjetischen Drängen nachzugeben und damit eine Neutralisierung neuer Form, eine sowjetische Dominierung Westeuropas, zu ermöglichen“, urteilte der damalige Bundesaußenminister in seinen Memoiren.92 Gorbatschow hat, aus späterer Rückschau bestätigt, dass – so berichten Genscher93 und auch Teltschik – „der NATO-Doppelbeschluß die eigentliche Ursache für den Kurswechsel in der sowjetischen Außenpolitik gewesen war“. Auf der anderen Seite erneuerte die Durchsetzung des Doppelbeschlusses durch die Bundesregierung Kohl gegen starken öffentlichen Widerstand das Vertrauen der USA zu dem deutschen Verbündeten; 1990 war es für die internationale Durchsetzung der Wiedervereinigung ausschlaggebend. Für die DDR-Führung war die Nachrüstungsfrage einerseits nutzbar, weil sie sich als engagierter Verbündeter der Sowjetunion beim Einsatz für die Verhinderung der Nachrüstung profilieren konnte – wenn auch ohne durchschlagenden Erfolg und mit der unerwarteten Nebenwirkung, dass sie mit ihrer Agitation einer sich bildenden kirchennahen und potentiell oppositionellen Friedensbewegung im eigenen Staat Argumentationshilfe gab. Auf der anderen Seite konnte sie mit diesem Engagement zugleich die Wahrnehmung ihrer Sonderinteressen gegenüber der 90 Hertle, Hans-Hermann / Jarausch, Konrad (Hg.): Risse im Bruderbund. Die Gespräche Honecker-Breshnew 1974 bis 1982, Berlin 2006, S. 191 ff., siehe auch die Aufzeichnungen von Werner Krolikowski in: Przybilski , S. 321-356. 91 Die Forderungen betrafen die Aufwertung der Ständigen Vertretungen zu Botschaften, Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft, Abschaffung der Erfassungsstelle für Gewalttaten an der Grenze in Salzgitter und Regelung der streitigen Grenzziehung an der Elbe gemäß internationalen Standards. 92 Genscher, Erinnerungen, S. 427 f. 93 A.a.O., S. 507.
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Bundesrepublik legitimieren und gegenüber der Vormacht absichern. Der Satz, dass „von deutschem Boden Frieden ausgehen“ müsse, wurde denn auch zu einer von beiden Seiten ständig genutzten – und auch auf beiden Seiten nicht nur taktisch gemeinten – Konkordienformel in den innerdeutschen Gesprächen und Verhandlungen. Nach dem Stationierungsbeschluss, auf den die Sowjetunion mit der Verhängung einer „Eiszeit“ in den Beziehungen zur Bundesrepublik reagierte, begab sich Honecker auf einen kaum verhüllten Gegenkurs zu der Moskauer Linie, indem er feststellte, dass es jetzt darauf ankomme, den durch die Nachrüstung entstandenen Schaden für die Entspannungspolitik zu begrenzen. Im Hintergrund dieser Linie standen die Zahlungsbilanzprobleme der DDR. Die wirtschaftliche Situation der Ostblockstaaten spitzte sich an der Wende der 70er zu den 80er Jahren kritisch zu. In Polen hatte die Erhöhung von Lebensmittelpreisen zu Unruhen geführt, in denen sich die neue Gewerkschaftsbewegung „Solidarität“ geformt hatte – in der DDR hatte 1979 das MfS von Preiserhöhungen abgeraten, um „konterrevolutionären Ausschreitungen“ vorzubeugen94. Die Zahlungsschwierigkeiten Polens und Rumäniens lösten bei den internationalen Banken eine Vertrauenskrise aus, die auch die DDR erfasste und ihr den Zugang zu neuen Krediten versperrte. Gleichzeitig geriet die Sowjetunion in die offene Krise. Das Wirtschaftswachstum lag Anfang der 80er Jahre unter 1 %, die Arbeitsproduktivität sank, die Summe der strukturellen Schwächen bündelte sich zur Unbeweglichkeit des „planosoaurus sovieticus“ (Robert W. Campbell)95, die Kosten für das Sozialsystem waren nur noch mühsam aufzubringen, und die Sowjetunion geriet gleichzeitig mit der imperialen in eine soziale Überdehnung.96 Die verfügte Kürzung der preisbegünstigten Rohstofflieferungen an die Bündnispartner, u. a., trotz aller flehentlichen Warnungen Honeckers, der Erdöllieferungen an die DDR um rund 10 %, beschleunigte deren wirtschaftlichen Zusammenbruch. Das volle Ausmaß der Zahlungsprobleme der DDR anfangs der 80er Jahre kannte man im Westen nicht, aber die erkennbaren Probleme nutzte die Bundesregierung für eine Deutschlandpolitik der ökonomischen Hebel. Die beiden durch Franz Josef Strauß in Abstimmung mit dem Bundeskanzleramt eingefädelten97 Milliardenkredite 1983 und 1984, die durch weitere Unterstützungsleistungen in Höhe einer weiteren Milliarde DM ergänzt wurden,98 wendeten eine kurzfristige Zahlungsunfähigkeit ab. Als unmittelbare Gegenleistung, die offiziell nicht so genannt werden durfte, um den Deal nicht zu gefährden, baute die DDR die Schussautomaten („Splitterminen“) sowie einen Teil der Bodenminen an der innerdeutschen Grenze ab, entschärfte die vorher oft schikanösen Kontrollen von Westreisenden an den Grenzübergangsstellen und nahm den Zwangsumtausch wenigstens für Kinder
94 Hertle, Hans-Hermann: Die DDR an die Sowjetunion verkaufen? Stasi-Analysen zum ökonomischen Niedergang der DDR, in: DA 42 (2009), S. 478. 95 Plaggenborg, S. 495. 96 Plaggenborg, S. 498. 97 Möller: Franz Josef Strauß, 2015, S. 592 ff. 98 Hertle: Die DDR an die Sowjetunion verkaufen? DA 42, S. 477.
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zurück. Im Verlauf der 80er Jahre wurden weitere Ergebnisse sichtbar: Die DDR ließ Westreisen in weit größerem Umfang als bisher zu: 1987 waren es 5, im Jahr darauf 7,8 Millionen Reisen, davon mehr als eine Million von Personen unterhalb des Rentenalters.99 Die Bundesregierung erleichterte diese Reisen, die nicht nur von humanitärer, sondern auch von politischer Bedeutung waren,100 durch die Auszahlung eines Begrüßungsgeldes. Auch die lange stagnierenden Verhandlungen über ein Kulturabkommen kamen zum Abschluss, ebenso wie weitere Vereinbarungen, unter anderem über wissenschaftliche Zusammenarbeit, sowie eine wachsende Zahl von Städtepartnerschaften. Dass Honeckers Besuch 1987 von einem Großteil der Medien als definitive Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik gedeutet wurde, war eine Fehlinterpretation. In seiner Tischrede, die vereinbarungsgemäß auch vom DDR-Fernsehen übertragen wurde, machte Bundeskanzler Kohl deutlich: „Die Präambel unseres Grundgesetzes steht nicht zur Disposition, weil sie unserer Überzeugung entspricht. Sie will das vereinte Europa, und sie fordert das gesamte deutsche Volk auf, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Das ist unser Ziel. Wir stehen zu diesem Verfassungsauftrag, und wir haben keinen Zweifel, daß dies dem Wunsch und Willen, ja der Sehnsucht der Menschen in Deutschland entspricht“.101 Welche möglichen weiteren Schritte in der Deutschlandpolitik der ökonomischen Hebel noch latent waren, darüber lässt sich aus der Rückschau nur spekulieren. Der Niedergang der DDR ging kurz darauf, unter dem Druck der sowjetischen Reformpolitik und der dadurch ausgelösten Friedlichen Revolution, in den offenen Absturz über und überholte damit auf glückliche Weise alle weiteren Erfordernisse künftiger schrittweiser Verbesserungen.102 99 Nach einem Bericht des früheren DDR-Außenhandelsministers Gerhard Beil habe es im Vorfeld des Honecker-Besuches den Plan gegeben, „die Grenzen zu öffnen, wenn die Bundesregierung dafür die Zweistaatlichkeit anerkennen und die finanziellen Schwierigkeiten der DDR auffangen würde“. Bonn habe dem Vorhaben prinzipiell zugestimmt, gescheitert sei es an Honecker. Eine Bestätigung von bundesdeutscher Seite liegt nicht vor. Bei Überlegungen und Sondierungen dieser Art kommt es allerdings auf die genauen Formulierungen an. Siehe Jäger, Wolfgang: Die Deutschlandpolitik der Bundesregierungen der CDU/CSU-FDP-Koalition, die Diskussion in den Parteien und in der Öffentlichkeit 1982-1989, in: Materialien Aufarbeitung, Band 5, S. 1573. 100 „Auch sonst erwies sich diese größere Reisetätigkeit nicht als Entlastung für die SED. Statt die Geister zu beruhigen, bewirkte die Reise in den Westen eher das Gegenteil. … Rückreisende waren meist euphorisch, was sich nach Stunden oder Tagen als DDR-Insasse oft genug in Aggression, Wut und Lust zum heftigen Widerspruch verwandelte. Dieses von der Bundesregierung maßgeblich initiierte und geförderte private Besuchsprogramm zählte zu den nachhaltigsten Destabilisierungs- und Delegitimierungsfaktoren der SED-Diktatur“. Kowalczuk, IlkoSascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, 2. Aufl. München 2009, S. 185. 101 Texte, Reihe III Band 5, S. 195.. 102 Über eine bemerkenswerte Sondierung Schalck-Golodkowskis berichtete der frühere Chef der DDR-Plankommission Gerhard Schürer Anfang der 90er Jahre: Er habe 1988 in einem vertraulichen Gespräch mit Schalck am Rande einer Sitzung der „Arbeitsgruppe Zahlungsbilanz“ „illegal“ die Idee einer Konföderation mit der Bundesrepublik besprochen, „weil wir niemand
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Die deutschlandpolitische Diskussion in der Bundesrepublik war in den 80er Jahren von einem zunehmenden Gegensatz zwischen Unionsparteien und SPD gekennzeichnet. Die SPD versuchte in der Opposition, eine „neue Ostpolitik“ in enger werdenden Parteibeziehungen zur SED zu initiieren. Das Ziel der Selbstbestimmung auch für die Ostdeutschen wurde zwar parteioffiziell nicht aufgegeben, trat dabei aber immer mehr in den Hintergrund. Auch in den zahlreichen Begegnungen und Gesprächen begann „der ‚Sicherheitspartner‘ […] zum Partner zu werden“.103 Durch viele Gespräche gerade jüngerer SPD-Politiker mit SED-Vertretern in den 80er Jahren zieht sich die Bemühung, Vertrautheit und Nähe zu signalisieren, die Bereitschaft, die Geraer Forderungen zu erfüllen, Absprachen für den Fall eines SPD-Wahlsieges zu treffen, für den auch die Hilfe der DDR-Führung in Anspruch genommen wurde.104 Ende der 80er Jahre forderten SPD-Politiker die Streichung des Wiedervereinigungsgebotes in der Präambel des Grundgesetzes.105 Diese Tendenzen wurden nicht offizielle Parteilinie, aber sie gewannen zunehmend Einfluss bis in die Revolution und die Zeit der Wiedervereinigungsverhandlungen hinein.106 Die SPD-Spitze blieb bis in den Dezember 1989 auf der Linie, eine politische Einheit der Deutschen sollte erst in einem vereinten Europa erreicht werden, erst spät und zögernd fand sie den Anschluss an den von ihr unerwarteten – und für einige, darunter ihren Kanzlerkandidaten, auch unerwünschten – Zug zur Einheit. finden werden, der uns zwanzig Milliarden Dollar Schulden einfach abnimmt. Aus der Wirtschaftskraft heraus konnten wir, ohne den niedrigen Lebensstandard anzugreifen, nicht die Mittel finden. […] Alexander Schalck hatte mir aus seinen Verhandlungen mit Seiters frühzeitig signalisiert, daß dies nicht möglich sein würde, wenn nicht gleichzeitig ein Demokratisierungsprozeß vor sich geht. Deshalb hatten wir uns mit dem Gedanken, wirklich freie, demokratische Wahlen durchzuführen, auch schon beschäftigt“. In dem Pressebericht der „Welt“ hierüber vom 27. August 1991 wird berichtet, dass „aus dem Umkreis Schäubles“ mitgeteilt worden sei, die Frage einer Konföderation sei in den Gesprächen mit Schalck „nie Gegenstand der förmlichen Verhandlungen“ gewesen. Hertle, Hans-Hermann: Der Weg in den Bankrott der DDR-Wirtschaft, mit einem Anhang: Gespräch mit Gerhard Schürer, in: DA 25, 1992, S. 127-142 und: ders., „Das reale Bild war eben katastrophal!“, Gespräch mit Gerhard Schürer, in: DA 25 (1992), S. 1031-1039. Die Überlegungen Schürers und Schalcks machen, unabhängig von der Frage ihrer politischen Sinnhaftigkeit, die Ausweglosigkeit deutlich, in der führende Wirtschaftsfunktionäre die DDR am Ende der 80er Jahre sahen. 103 Kielmansegg, S. 544. 104 „Er möchte klar zum Ausdruck bringen, daß wir an einem Regierungswechsel in der BRD interessiert sind. Wir wünschen, daß J. Rau im Januar 1987 die Wahlen gewinnt“, sagt das Protokoll einer Besprechung Honeckers mit den Gesprächspartnern Rau und Lafontaine im Mai 1986, in: Potthoff, Heinrich: „Die Koalition der Vernunft“, Deutschlandpolitik in den 80er Jahren. 1995, S. 398, siehe auch Sturm, S. 81. 105 So Klaus Bölling im Mai 1989 bei einem Kongress in Berlin, siehe: Von Weimar nach Bonn, Freiheit und Einheit als Aufgabe, Köln 1989, S. 76. 106 Sturm, S. 195 ff. – Auch in der CDU gab es, wenngleich in geringerem Umfang, Tendenzen,
sich mit der Zweistaatlichkeit als Dauerzustand einzurichten, vgl. etwa die Protokolle der Gespräche von Walter Leisler Kiep mit Politbüromitglied Herbert Häber, in: Nakath, Detlef / Stephan, Gerd-Rüdiger (Hg.): Die Häber-Protokolle, Berlin 1999. Korte, Karl-Rudolf: Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982-1989, Stuttgart 1998, S. 394 ff.
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Eine kritische Einstellung gegenüber dem Ziel der deutschen Einheit und eine Tendenz, die DDR in einem milden Licht zu sehen, überwog in den 80er Jahren auch bei Künstlern und Schriftstellern und in einem zeitweise meinungsführenden Teil von Medien107 und Wissenschaft:108 In verschiedenen Ausformulierungen wurde die Argumentation variiert, die deutsche Teilung sei eine notwendige Voraussetzung des europäischen Friedens, sie könne als historischer Normalzustand Deutschlands oder müsse als Folge des von Deutschland begonnenen Krieges akzeptiert werden.109 Günter Grass erklärte in einer Rede im Februar 1990: „Auschwitz […] der Ort des Schreckens, als Beispiel genannt für das bleibende Trauma, schließt einen zukünftigen deutschen Einheitsstaat aus. Sollte er, was zu befürchten bleibt, dennoch ertrotzt werden, wird ihm das Scheitern vorgeschrieben sein“. Jürgen Habermas warnte vor einem „pausbäckigen DM-Nationalismus“, Theo Sommer davor, das „Gerippe der deutschen Einheit aus dem Schrank“ zu holen.110 In der Bevölkerung ergab sich, z. B. bei den regelmäßigen Umfragen des Instituts Allensbach, ein anderes Bild: Drei Viertel der Befragten hielten auch durch die 70er und 80er Jahre am Ziel der Einheit fest und lehnten eine Grundgesetzänderung ab; die meisten fügten auf Nachfrage hinzu, dass sie nicht damit rechneten, die deutsche Einheit selbst zu erleben.111 Die Einschätzung von Kielmansegg ist zutreffend: „Bis zum Ende gab es einen legitimen und einen illegitimen Staat in Deutschland. Es war ein Erfolg der DDR, daß ein großer Teil der westdeutschen politischen Klasse es nicht mehr so sehen
107 Reisebericht einer Gruppe von „Zeit“-Redakteuren: Sommer, Theo (Hg.): Reise ins andere
Deutschland, Reinbek 1986. 108 In einem selbstkritischen Rückblick stellte Kurt Sontheimer, Autor eines mehrmals aufgelegten
Lehrbuches über die DDR, fest: „Ich mußte mir zwar nicht vorwerfen, das SED-System ganz einseitig oder falsch dargestellt zu haben, aber das ganze Buch ging doch aus von der Annahme der Unumkehrbarkeit der politischen Entwicklung. Die DDR würde auch in Zukunft ein sozialistischer Staat bleiben. Ich verniedlichte zwar nicht den totalitären Herrschaftscharakter des SED-Staates, doch registrierte ich sorgsam alle Anzeichen, die darauf hindeuteten, daß sich in der DDR ein eigenes sozialistisches Staatsbewußtsein entwickelte, daß die DDR-Bürger sich in ihrer großen Mehrheit mit dem sozialistischen System arrangierten und ihm – auch im Vergleich zur Bundesrepublik – manche positiven Züge abgewinnen konnten“. Sontheimer, Kurt: Real war nur der schöne Schein, Rheinischer Merkur 23. Februar 1990. – Siehe auch die Aussage von Anne Köhler vom Meinungsforschungsinstitut Infratest, die über Befragungen von DDR-Reisenden berichtete: „Darüber hinaus mußten wir feststellen, daß auch die DDR-Berichterstattung in den Westmedien bzw. die Erkenntnisse der bundesdeutschen DDR-Forschung oftmals deutlich von unseren Ergebnissen abwichen. Dies galt insbesondere für die Frage der Akzeptanz des DDR-Systems durch die DDR-Bevölkerung und die damit verbundene Stabilität des gesamten Regimes […]“, in: Materialien Aufarbeitung, Band 5, S. 1638. 109 Kielmansegg, S. 546 ff. 110 Rödder, Andreas: Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, Mün-
chen 2009, S. 174 ff. 111 Jäger, Wolfgang: Die Deutschlandpolitik der Bundesregierungen der CDU/CSU-FDP-Koalition, in: Materialien Aufarbeitung, Band 5, S. 1610.
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wollte“.112 Aus der Rückschau hat es etwas Ironisch-Beklemmendes, dass im Westteil Deutschlands die Bereitschaft, das SED-Regime im Ostteil als dauerhaft anzuerkennen, zur selben Zeit wuchs, als es in seine systembedingte finale Krise eintrat. 7. Abschließend ist ein Blick auf die Lösung der deutschen Frage zu werfen. Die Friedliche Revolution, die in die Wiedervereinigung einmündete, gehört als ganze zum Themenkomplex der deutschen Frage. An dieser Stelle seien einige deutschlandpolitische Aspekte resümierend herausgegriffen. Die entscheidende Ursache dafür, dass die deutsche Frage auf die Agenda zurückkehrte, war das wirtschaftliche und politische Scheitern der Sowjetunion und ihrer Klientelstaaten; der Niedergang seit den 70er Jahren bildete den Hintergrund für Gorbatschows „Perestrojka“.113 „While the oil crisis of the 1970s eroded the strength of Western capitalism and brought huge revenues to Moscow, it diverted attention from the profound technological changes imperceptibly transforming capitalism in the United States, Japan, and Western Europe. Electronics, microprocessors, pharmaceuticals, and biotechnology were creating knowledge-based industries and services that would not only rejuvenate economic productivity in the United States but also refashion and refurbish its military capabilities. […] The Cold War tested the capacity of two alternative systems of governance and political economy to deal with the challenges of a postcolonial and postindustrial age“.114 Gorbatschow stellte nach seinem Amtsantritt fest: „Wir sind eingekreist nicht von unbesiegbaren Armeen, sondern von überlegenen Volkswirtschaften“.115 „Die Reform ist unvermeidlich – und absolut unmöglich“, hatte ein polnischer Journalist Anfang der 80er Jahre pointiert festgestellt. Gorbatschow bewies die Richtigkeit dieses Satzes, in beiden Teilen. Seine nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum schrittweise entwickelte Reformpolitik, die darauf zielte, die Produktivität der sowjetischen Wirtschaft zu erhöhen und die Kosten des Imperiums einschließlich der Militärausgaben zu senken, hatte für die Bündnisstaaten eine doppelte Wirkung: Sie ermutigte die Reformkräfte in den jeweiligen kommunistischen Parteien und weckte Reformerwartungen bei den Bevölkerungen, und sie verwies durch den – zunächst noch etwas nebulös formulierten – Verzicht auf die Breshnew-Doktrin die regierenden kommunistischen Parteien darauf, aus eigener Kraft die Stabilität ihrer Regime zu sichern. Die im Zuge der Glasnost‘-Politik zugelassene Debatte über die Geschichte des Stalinismus und der kommunistischen Herrschaft insgesamt führte gleichzeitig dazu, die Legitimität dieser Herrschaft in Frage zu stellen.116 Welche Konsequenzen die Entideologisierung der internationalen Beziehungen und das Anstoßen eines Reformprozesses für den System-Staat DDR haben würde, diese Frage scheint ihn zunächst nicht beunruhigt zu haben. 112 Kielmansegg, S. 552 113 Leffler, S. 461, Brzezinski, Das gescheiterte Experiment, deutsche Ausgabe Wien 1989, S. 269. 114 Leffler, S. 456 f, 465. 115 Leffler, S. 461. 116 Altrichter, Helmut: Russland 1989, Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München 2009,S. 114 ff., ders.: Kleine Geschichte der Sowjetunion, 4. Aufl. 2013, S. 186 ff.
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Die innere Schwäche der sowjetischen Herrschaft ist offensichtlich aus amerikanischer Sicht früher erkannt worden als aus europäischer. Dem neuen Außenminister Baker wurde in einem der ersten für ihn erarbeiteten Planungspapiere vorgetragen: „Die Sowjetunion ist eine Großmacht im Niedergang. In der Tat deuten alle Anzeichen darauf, dass die Sowjetmacht schwindet“.117 Und Präsident Bush gab als Devise seiner Europapolitik im Frühjahr 1989 aus: „Let Europe be whole and free“.118 Die in der DDR-Bevölkerung einsetzende Frustration darüber, dass Reformimpulse aus Moskau von der eigenen Staatsführung nicht aufgenommen, sondern brüsk zurückgewiesen wurden, und die schrittweise Öffnung des Eisernen Vorhangs in Ungarn – seit Mai 1989, definitiv am 11. September, zwei Wochen nach einem vertraulichen bundesdeutsch-ungarischen Gipfelgespräch in Bonn – setzte einen neuerlichen Flüchtlingsstrom aus der DDR über Ungarn, dann auch über Prag und Warschau in Gang. Er gab seinerseits Anstoß und Ansporn für die anschwellenden Massendemonstrationen in der DDR; ihr Kristallisationskern waren die Aktionen der neu gegründeten Oppositionsbewegungen, die großenteils aus unabhängigen kirchennahen Gruppen hervorgegangen waren.119 Nach dem 9.Oktober 1989, als die von den Sicherheitskräften vorbereitete Niederschlagung der Leipziger Montagsdemonstration wegen der unerwartet großen Masse der Demonstranten unterblieb, gelang es der SED nicht mehr, die Friedliche Revolution in ihrem Lauf aufzuhalten. Das Thema „deutsche Einheit“ war in der Massenbewegung – überwiegend nicht in der Bürgerrechtsszene – von vornherein latent. Denn mit der Beseitigung der SED-Diktatur würde auch der Entstehungsgrund des kommunistischen deutschen Teilstaates wegfallen. Otto Reinhold, leitender Gesellschaftswissenschaftler in der DDR, hatte in der Sache Recht, als er Anfang September in seiner Diktion feststellte, die DDR sei „nur als antifaschistischer, als sozialistischer Staat, als sozialistische Alternative zur BRD denkbar. Welche Existenzberechtigung sollte eine kapitalistische DDR neben einer kapitalistischen Bundesrepublik haben? Natürlich keine“. Eben darum aber war das Thema deutsche Einheit in der DDR zum Tabu geworden. Das Verlangen nach deutscher Einheit war gleichbedeutend mit dem nach Abschaffung der DDR, und dies war auch im Schutzraum der Kirche und in den Oppositionsgruppen nicht öffentlichkeitsfähig. In der Bürgerrechtsbewegung des Herbstes 1989 überwog zunächst die Orientierung am Ziel eines „dritten Weges“ in einer eigenständig bleibenden DDR. In den Massendemonstrationen wurde das Ziel der Einheit bereits vereinzelt artikuliert, so in Plauen am 7. Oktober 1989, aber in der Breite zerbrach das Tabu erst nach der Maueröffnung. Dann allerdings 117 Baker, James A.: Drei Jahre, die die Welt veränderten. Erinnerungen, deutsche Ausgabe Berlin 1996, S. 55. 118 Zelikow, Philip / Rice, Condoleezza: Sternstunden der Diplomatie, dt. 1997, S. 62 (in der amerikanischen Originalausgabe S. 31). 119 Pollack, Detlef: Der Zusammenbruch der DDR als Verkettung getrennter Handlungslinien, in: Jarausch, Konrad / Sabrow, Martin (Hg.): Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR, Göttingen 1999, S. 41 ff.
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wurde die Forderung nach der deutschen Einheit innerhalb von wenigen Wochen zum dominanten Thema. Die Bundesregierung bezog in ihren öffentlichen Aussagen zunächst die sichere Position, die Forderungen der Demonstranten nach demokratischen Reformen zu unterstützen.120 Anfang November ließ der neue SED-Generalsekretär Krenz bei der Bundesregierung sondieren, ob sie zu Kreditgewährungen in neuen Dimensionen (10 Mrd. DM 1989/90, danach 2-3 Mrd. jährlich) bereit sei. Vorausgegangen war eine relativ schonungslose Analyse der Wirtschaftslage durch Plankommissionschef Schürer und der Antrittsbesuch von Krenz in Moskau, bei dem Gorbatschow keine Hilfen in Aussicht stellen konnte. Die Bundesregierung antwortete, dass über Hilfen in dieser Größenordnung nur verhandelt werden könne, wenn die SED auf ihr Machtmonopol verzichte, oppositionelle Parteien zulasse und freie Wahlen anberaume.121 Dies war noch keine Wiedervereinigungspolitik, aber es war auch nicht mehr die bisherige Politik menschlicher Erleichterungen in kleinen Schritten, sondern der Übergang zur Forderung und Förderung systemsprengender Reformen. Durch die Öffnung der Mauer, die der neuen SED-Führung am 9.November versehentlich unterlief,122 kehrte die deutsche Frage zurück auf die politische Agenda, auch wenn europäische Politiker beschwörend versicherten, dies sei nicht der Fall. Die SED verlor ihr entscheidendes Disziplinierungsinstrument gegenüber der eigenen Bevölkerung; sie verlor aber auch die letzte Möglichkeit, das Grenzregime selbst, so wie Schürer es in seinem Papier empfohlen hatte, zum innerdeutschen Handelsobjekt zu machen. Bis zum Jahresende verließen rd. 300.000 Menschen die DDR und Ost-Berlin, in der Folgezeit waren es bis zur Volkskammerwahl rd. 12.000 wöchentlich. Die „Abstimmung mit den Füßen“, die fortgesetzten Massendemonstrationen und der anhaltende Verfall der Autorität der einstigen Führungspartei verhinderten die von der SED und auch von Gorbatschow erhoffte Restabilisierung der DDR unter einer „Perestrojka-Regierung“ Modrow. Die Frage
120 Der damalige Kanzleramtsminister Seiters erläuterte später in einer Anhörung der zweiten Enquete-Kommission: „Es war zu erwarten, dass das Übergreifen der Demokratiebewegung auf die DDR auch die deutsche Frage wieder ins Gespräch bringen würde, auch wenn Gorbatschow diese Konsequenz seiner Politik offenbar nicht rechtzeitig erkannt hat. Die Menschen – davon waren wir überzeugt – würden die Einheit fordern, sobald sie als reale Möglichkeit erkennbar würde. Gerade darum aber war es wichtig, die Reformentwicklung reifen zu lassen, ohne durch unzeitiges Thematisieren der Teilungsproblematik die Gegenkräfte der Reform, wo immer sie standen, herauszufordern“. (Materialien Überwindung der Folgen der SED-Diktatur, 1999, Band 8, S.211). 121 Am Tag nach der Besprechung mit Schalck-Golodkowski auch öffentlich vor dem Bundestag, siehe Texte Reihe III Band 7, S. 333. Kohl hatte die gleichen Forderungen schon kurz nach dem Sturz Honeckers, in einer Rede am 21. 10.1989 erhoben, a.a.O., S. 292 ff. 122 Im einzelnen Hertle, Hans-Hermann: Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates, 2. Aufl., Opladen 1999. Ders.: Chronik des Mauerfalls, Berlin, 12. Aufl. 2009.
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„Wie hältst du’s mit der deutschen Einheit?“ wurde aber jetzt auch zum Differenzierungskriterium innerhalb der Oppositionsbewegungen, denen die Meinungsführerschaft in der Bürgerbewegung entglitt.123 Das Zehn-Punkte-Programm Bundeskanzler Kohls vom 28. November 1989 war eine entscheidende Weichenstellung im Einigungsprozess. Zwar waren die meisten Formulierungen nicht neu, sondern durch frühere öffentliche und widerspruchslose Verwendung bereits eingeführt und abgesichert. Auch wurde das Vorhaben der Wiedervereinigung sehr vorsichtig, als nicht terminierter Stufenprozess konzipiert – Vertragsgemeinschaft, konföderative Strukturen, vorsichtig so genannt, um den transitorischen Charakter dieser Stufe deutlich zu machen, und schließlich Vereinigung in einem Bundesstaat – , und es sollte sich bald zeigen, dass der Fortgang der Ereignisse ein weit schnelleres Vorgehen als die im ZehnPunkte-Programm stillschweigend vorausgesetzten fünf bis zehn Jahre notwendig machte. Aber in der gleichzeitig diffusen und plastischen Situation des Spätherbstes 1989 war die Rede des Bundeskanzlers das notwendige Signal: sie konkretisierte die in der Luft liegenden Ideen zu einem operativen politischen Programm und setzte die Wiedervereinigung nun tatsächlich auf die politische Tagesordnung. Die erregte Reaktion Gorbatschows am 5. Dezember im Gespräch mit Genscher und die „fast tribunalartige Befragung“124 des Kanzlers beim Straßburger EG-Gipfel am 8. Dezember zeigten, dass die Rede auch im Ausland so verstanden wurde. Es war ein Erfolg, dass der Straßburger Gipfel am Ende eine gemeinsame Erklärung beschloss, in dem er sich die Formulierung aus dem „Brief zur deutschen Einheit“ zu eigen machte: „Wir streben die Stärkung des Zustandes des Friedens in Europa an, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt“.125 Uneingeschränkte Unterstützung fand das Programm bei der US-Regierung, unter der Voraussetzung, dass auch das geeinte Deutschland Mitglied der NATO bleibe. Der fortschreitende Verfall der staatlichen Autorität in der DDR, die unzweifelhaften Willensäußerungen der DDR-Bevölkerung und auch die zielsichere Politik der Bundesregierung, die den von der Volksbewegung ausgehenden Zeitdruck aufnahm, überzeugten bis Ende Januar die sowjetische Führung, dass die deutsche Einheit unvermeidlich war. Es gab keine realisierbare Alternative, auch für die nicht, die gern eine gefunden hätten. Die Volkskammerwahl am 18. März brachte ein eindeutiges Votum für die Wiedervereinigung und enttäuschte die Erwartungen in Moskau, der Wahlausgang werde immerhin zu einer Verlangsamung des Vereinigungsprozesses und damit zu einem Zeitgewinn für die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen führen.
123 Apelt, Andreas (Hg.): Der Weg zur Wiedervereinigung, Berlin 2010, S. 41 ff. 124 Kohl, Helmut: Vom Mauerfall zur Wiedervereinigung. Meine Erinnerungen, München 2009; S. 136. 125 Bulletin 174-89 vom 19.12.1989. „Diese etablierten Sprachformeln markierten auf diskursiver Ebene eine Form von Pfadabhängigkeit, aus der nicht einfach auszubrechen war“. Rödder: Deutschland einig Vaterland, S.157.
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8. Was hat, abschließend gefragt, die Deutschlandpolitik der Bundesregierungen für die schließliche Lösung der deutschen Frage bewirkt? Zunächst ist festzustellen, dass die größte Wirkung der Bundesrepublik nicht von dem ausging, was sie tat, sondern von dem, was sie war: eine freiheitlich verfasste Gesellschaft mit starker Wirtschaftskraft und hohem Lebensstandard, eingebunden in die westliche Allianz, kurz: der weitaus erfolgreichere Konkurrent im täglichen innerdeutschen Systemvergleich und für die DDR-Einwohner die „Referenzgesellschaft“, mit der sie ihre eigenen Lebensumstände verglichen, soweit sie es durch Medien, Besuche und eigene Kontakte konnten. Was die Deutschlandpolitik im engeren Sinne betrifft, so war es ihr entscheidendes Verdienst, die deutsche Frage, die rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen für die deutsche Einheit, offen gehalten zu haben. Dass 1989/90 die völkerrechtliche Lage (Vier-Mächte-Verantwortung, Friedensvertragsvorbehalt, Deutschlandvertrag, Brief zur deutschen Einheit) und auch die binnenstaatliche Rechtslage die Wiedervereinigung zuließen bzw. als Ziel festhielten, war angesichts der Zahl und des Gewichts der Vereinigungsgegner, insbesondere des anfangs harten Widerstands der Sowjetunion, ein unschätzbarer Vorteil. Dass die Menschen in Deutschland sich auch nach zwei bis drei Generationen der Teilung als zusammengehörig empfanden, war in der Nacht des Mauerfalls unmittelbar anschaulich, auch wenn sich in den folgenden Jahren der Transformationskrise zeigen sollte, dass die Jahrzehnte der Teilung tiefere Spuren hinterlassen hatten, als in der Euphorie des 9. November 1989 empfunden wurde. Die Grundkonstellation der Westbindung hat sich, wie erwähnt, auch hinsichtlich der Deutschlandpolitik bewährt, insbesondere was den Draht Bonn-Washington betraf. Aber auch in Europa konnten vorhandene Bedenken und gebliebenes Misstrauen – bei Teilen der politischen Klasse, weniger bei den Bevölkerungen – schließlich doch, dank dem Vertrauen, das die Bundesrepublik über Jahrzehnte aufgebaut hatte, überwunden werden. Neben den anderen Faktoren der Wiedervereinigung hat die Ost- und Vertragspolitik eine Bedeutung gehabt, die, entsprechend ihrer Vielschichtigkeit, differenziert beurteilt werden muss. „Über ein geregeltes Nebeneinander“ mit dem SEDStaat „zu einem Miteinander“ zu kommen, ist allenfalls in rudimentären Ansätzen gelungen. Die Konzeption Egon Bahrs – eine Wiederannäherung zwischen der Bundesrepublik und einer sozialdemokratisierten DDR im Rahmen einer europäischen Sicherheitsstruktur außerhalb der NATO – hat sich als irreal erwiesen. Andererseits aber hat die Aussöhnung mit den engeren und weiteren östlichen Nachbarn einschließlich der Anerkennung der deutschen Ostgrenze einen Vertrauensaufbau im Osten bewirkt, der ebenfalls zu den Voraussetzungen der Wiedervereinigung gehörte. Die KSZE, die durch die deutsche Ostpolitik möglich wurde, hat mit der Schlussakte von Helsinki zwar eine Anerkennung des Status quo bewirkt, aber zugleich eine Berufungsgrundlage für oppositionelle Kräfte in den kommunistischen Diktaturen geschaffen. Auch ist durch sie ein Rahmengefüge entstanden, das es 1990 der sowjetischen Führung schließlich erleichterte, auch einem in die Atlantische Allianz eingebundenen Gesamtdeutschland zuzustimmen. Und die innerdeutsche Vertragspolitik hat, indem sie Reisen, Kontakte und Kommunikation
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möglich machte, zum Zusammenhalt der Nation und auch, gegen die Absicht ihrer Initiatoren, zur anhaltenden Instabilität des SED-Regimes beigetragen. Was die Versuche angeht, „das Anomale zu normalisieren“126 und eine innere Anerkennung der Teilung Deutschlands zu bewirken, so verschwanden sie in der Versenkung, als die Situation da war. „Das Plädoyer für die Zweistaatlichkeit entpuppte sich in dem Augenblick als arrogant-elitäre technokratische Spielerei, in dem der bislang unterdrückte Teil der allseits unbestrittenen Nation bzw. des deutschen Volkes sichtbar und unmißverständlich die staatliche Einheit Deutschlands qua Selbstbestimmung forderte“.127
126 Adomeit, S. 117 127 Jäger, in Materialien Aufarbeitung, Band 5, S. 1610.
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3. Der Weg zur deutschen Einheit. Der Traum der Deutschen, in Einheit und Freiheit zu leben, wurde am 3. Oktober 1990 erfüllt Zum 70. Geburtstag von Prof. Zbigniew A. Maciąg Von Wolfgang Bergsdorf Es war ein langer Weg, der vor allem in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts zur Wiedervereinigung Deutschlands geführt hat. Einige seiner wenigen, auch wenn erst später erkannten Voraussetzungen wurden von und in Polen geleistet. 1979 begann das Pontifikat des polnischen Papstes Johannes Paul II., der auf seiner ersten Pilgerreise in sein Heimatland als zentrale Botschaft predigte: „Habt keine Angst.“ Diese päpstliche Ermutigung wirkte. Die Solidarnosc-Bewegung gewann deutlich an Zuspruch und Zulauf. Ihre Funktionäre wurden immer mutiger mit ihren ökonomischen und vor allem politischen Forderungen an das Regime. Am 24. Dezember 1981, am Heiligen Abend also, klingelte es an meiner Godesberger Haustür. Zwei Freunde baten um Einlass: Dr. Gösta Thiemer, der in den letzten Monaten eine Ausstellung mit Plakaten der Solidarnosc-Bewegung im Konrad-Adenauer-Haus in der Bonner Friedrich-Ebert-Allee organisiert und kuratiert hatte, sowie Dr. Zbigniew Maciag, der damals am Seminar für Politische Wissenschaften der Rheinischen Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn als. Gastdozent tätig war. Anlass des späten Besuches war die Verhängung des Kriegsrechtes durch das polnische Regime. Wir haben uns an dem Abend um eine Einschätzung dieser Maßnahme und ihre Folgen bemüht. Wir versuchten Zbigniew zu trösten, der an diesem Abend voller Ungewissheit war über das Schicksal seiner Familie, denn der Telefonverkehr war unterbrochen. Niemand von uns kam damals auf den Gedanken, dass die Verhängung des Kriegsrechtes in Polen einer der entscheidenden Voraussetzungen für die Implosion des Kommunismus in diesem Land werden würde und damit auch eine notwendige Vorbedingung für den Weg zur deutschen Einheit. Noch unter den Auspizien des Kriegsrechtes reiste ich in Begleitung von Dr. Gösta Thiemer 1985 nach Krakau. Auf Veranlassung unseres Jubilars hatte mich der damalige Rektor der Jagiellonen-Universität zu einer Gastvorlesung eingeladen. Das Thema war mir freigestellt. Zbigniew·erläuterte mir, dass die Diskussion genauso frei geführt werden könne wie in Bonn. Als Thema wählte ich „Sprache der Politik“ in der Annahme, dass dieser breite Gegenstand eine gründliche politikwissenschaftliche, aber auch politische Diskussion erlaube. Diese Annahme traf zu, trotz der Voraussage von Zbigniew war ich überrascht über den Freimut und die Offenheit, mit der die Krakauer Studenten die Diskussion führten. Einen Eindruck von der kriegszustandbedingten Not in der Bevölkerung bekam ich bei meinem Besuch bei Kardinal Macharski. Im Erzbischöflichen Palais stapelten sich Berge von Lebensmitteln und Kleidung, auf die Verteilung an die Bevölkerung wartend. Am 9. November 1989 sahen wir uns wieder – dieses Mal in Warschau. In Begleitung von Bundeskanzler Helmut Kohl erlebten wir aus der Ferne den Mauerfall. Am Morgen dieses Tages wurde Dr. Gösta Thiemer in den Räumen des Warschauer Schlosses feierlich in seine Aufgabe als erster Repräsentant der Konrad-
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Adenauer-Stiftung in Warschau eingeführt. Der ehemalige Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und spätere Ministerpräsident von Thüringen, Dr. Bernhard Vogel, war damals Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung und hatte klugerweise die polnische Hauptstadt ausgesucht, um dort die erste Repräsentanz seiner Stiftung im ehemaligen Ostblock zu eröffnen. Der Breslauer Hubert Wohlan, später Leiter der Polen-Redaktion zunächst des Deutschlandfunk, dann der Deutschen Welle fungierte damals als Dolmetscher. Helmut Kohl – überrascht von der Maueröffnung – flog am nächsten Tag über Hamburg nach Berlin, um dort auf zwei Kundgebungen zu sprechen. Am Abend war er wieder in Warschau und am nächsten Morgen in Kreisau, wo er gemeinsam mit dem polnischen Premierminister Tadeusz Mazowiecki einer von Bischof Nossol zelebrierten Messe beiwohnte. Dem Sturz des Honecker-Regimes und der Öffnung des Brandenburger Tores waren entscheidende Schritte vorausgegangen. Die wichtigste Voraussetzung war die zunächst wenig bemerkte Verabschiedung der Breschnew-Doktrin durch Gorbatschow, die den amerikanischen Botschafter in Deutschland, Vernon Walters, bei seinem Amtsantritt im April 1989 zu der Voraussage veranlasste, dass es noch während seiner Amtsdauer zur Wiedervereinigung Deutschlands kommen werde. Im Sommer des Jahres 1989 nutzten Tausende von DDR-Bürgern ihren Urlaub, um in den westdeutschen Botschaften in Prag, Budapest und Warschau ihre Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland zu erzwingen. Die erste Nagelprobe einer vollständig neuen Politik kündigte der ungarische Regierungschef Nemeth bei einem Geheimbesuch im August Bundeskanzler Kohl an. Er sagte zu, Anfang September die Grenzen zu öffnen. Als dies in der Nacht vom 10./11. September 1989 geschah, entstand eine Fluchtbewegung, die bis zum Jahresende 1989 mehr als 340.000 vorwiegend jüngere Leute aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland übersiedeln ließ. Massendemonstrationen in Berlin, in Leipzig, Erfurt, Dresden und anderswo erzwangen den Zusammenbruch des Honecker-Regimes und die Öffnung der innerdeutschen Grenzen am 9. November durch den Nachfolger Krenz. I. Am 11. November 1989 führte Bundeskanzler Kohl zwei Telefongespräche, die ihm Aufschluss über die Möglichkeiten und Notwendigkeiten seiner künftigen Deutschlandpolitik gaben. Sein erster Gesprächspartner war der am 8. November neu gewählte Generalsekretär der SED, Egon Krenz. Beide sprachen sich in diesem später veröffentlichten Telefonat über eine Verstärkung der Zusammenarbeit aus. Krenz wurde von Kohl befragt, was er nun an elementaren Veränderungen beabsichtige; hierauf antwortete der neue SED-Chef weitschweifig und ausweichend. Anschließend führte Bundeskanzler Kohl ein Telefongespräch mit dem sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow und berichtete ihm über das Telefonat mit Krenz. Kohl ließ Gorbatschow seine Schlussfolgerung wissen, dass Krenz keine Erfolgschance habe, weil und so lange er keine wirklichen Reformen auf den Weg bringen wolle. Gorbatschow widersprach dieser Prognose nicht. Kurz zuvor, am 10. November, hatte Gorbatschow dem Bundeskanzler eine Botschaft zukommen lassen, die von dessen Sorge um die Sicherheit der Roten Armee in der DDR erfüllt
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war. Damit wurde Kohl durch den sowjetischen Generalsekretär verdeutlicht, dass die Rote Armee, was auch immer geschehen möge, in ihren Kasernen bleiben würde. In früheren Gesprächen mit Kohl hatte Gorbatschow den ungarischen Ministerpräsidenten Nemeth als „einen guten Mann" bezeichnet, obwohl er durch die Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze im September die bis dahin geltenden Regeln des Ostblockes gesprengt hatte. Das „Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas“, das der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung am 28. November 1989 dem Deutschen Bundestag vortrug, war eine logische Konsequenz der Entwicklung der letzten Wochen. Denn die Bonner Regierung konnte seit dem Sommer davon ausgehen, dass die deutsche Einheit Thema der deutschen und internationalen Politik werden würde. Der Kanzler, der Außenminister und alle führenden Politiker der Regierungskoalition nutzten alle internationalen Begegnungen und Kontakte, um die Perspektive einer allmählichen Überwindung der deutschen Spaltung zu erläutern und hierfür zu werben. In seinem Zehn-Punkte-Plan fasste Kohl alle jene Elemente einschließlich „föderativer Strukturen“ zusammen, die in seinen Gesprächen auf internationaler Ebene immer wieder entwickelt worden waren. Er glaubte damals, dass der Zeithorizont zur Verwirklichung des Zehn-Punkte-Plans bis in das Jahr 1993 reichen würde. Das waren auch die zeitlichen Vorstellungen, die in der Bonner Koalition und Opposition vorherrschten. Dass dieser Zeithorizont der wahrscheinlichen Entwicklung nicht entsprach, erfuhr als erster auf eindringliche Weise der Bundeskanzler, als er zu seiner Begegnung mit dem neuen Ministerpräsidenten der DDR, Modrow, am 19. Dezember 1989 nach Dresden kam. Damals säumten Hunderttausende Menschen die Straßen vom Flughafen zum Verhandlungsort und demonstrierten für die Einheit Deutschlands. Kohl verstand spätestens am Abend seiner Ansprache an die Dresdner, dass der Wille zur raschen Einheit bei der Bevölkerung in der DDR alle Zeitpläne für eine allmähliche Verschmelzung der beiden Teile Deutschlands hinfällig machen würde. Das Ziel der deutschen Politik für die Tagesordnung des Jahres 1990 konnte also nur heißen: Die Einigung herbeizuführen, so schnell wie nötig und so geordnet wie möglich. Das Jahr 1990 begann mit Massendemonstrationen in der DDR zugunsten der deutschen Einheit. Aus der Parole des Herbstes „Wir sind das Volk“ war unter Weglassung des bestimmten Artikels und unter Hinzufügung eines verborgenen Adjektivs die Einheitsforderung „Wir sind ein Volk“ geworden. Alle Versuche der SED oder auch der revolutionären Avantgarde aus dem Herbst waren gescheitert, die Zweistaatlichkeit Deutschlands auch künftig mit der Behauptung einer eigenen kulturellen oder sozialen Identität zu legitimieren. Dies hatte auch in meinungsbildenden Kreisen der Bundesrepublik Deutschland zu einer bis dahin einmalig rasanten Veränderung ihrer Einstellung gegenüber der deutschen Frage geführt. Bis auf wenige Ausnahmen änderten alle Journalisten und Publizisten, die noch im November und Dezember für die Zweistaatlichkeit plädiert hatten, ihre Position und setzten sich für die Einheit Deutschlands ein. Das gleiche gilt für die Politiker der Opposition, die, mit Ausnahme der Grünen, dem bei den Massendemonstrationen überaus deutlich erkennbaren Willen der Bevölkerung ihre Referenz erwiesen.
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Einsichtig machte die Notwendigkeit einer schnelleren Herbeiführung der Einheit die nicht abreißende Übersiedlungswelle. Hier wird deutlich, dass an den politischen Entscheidungsprozessen des Jahres 1990 wie auch schon im Herbst des Vorjahres die Bevölkerung in der DDR der Hauptakteur war und die Politiker in West- und Ostdeutschland mit mehr oder weniger großem Geschick diesen Volkswillen zu steuern versuchten. Die Bonner Politik hatte sich aufgrund der katastrophalen Entwicklung der DDR-Wirtschaft zunächst mit wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen zu beschäftigen. Schon im Januar tagte in Ostberlin erstmalig die deutsch-deutsche Wirtschaftskommission. Die Bundesregierung bot der DDR sechs Milliarden DM zinsgünstiger zusätzlicher Kredite, um mittlere und kleinere Betriebe zu unterstützen. Auf einem ersten deutsch-deutschen Unternehmertag in Hannover berieten 200 Wirtschaftsexperten über die Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Auch der vom Bundeskanzler eingerichtete Kabinettsausschuss „Deutsche Einheit", der sich am 7. Februar konstituierte, sollte sich in erster Linie der wirtschaftlichen Herausforderung annehmen. Kohl bot damals der Regierung Modrow die sofortige Aufnahme von Verhandlungen über eine Währungsunion an, deren Voraussetzung eine grundlegende Wirtschaftsreform sei. Weil Modrow sich weigerte, diese Voraussetzung anzunehmen, scheiterte er bei seinem Besuch in Bonn mit der Forderung auf eine Finanzhilfe in Höhe von 16 Milliarden DM. Die Bonner Regierung nutzte alle ihre Möglichkeiten zur außenpolitischen Flankierung ihrer Einigungspolitik. Am 10. Februar erhielten Kohl und Genscher in Moskau von Gorbatschow die Zusicherung, dass sich Moskau einer deutschen Einheit nicht in den Weg stellen wird. Wenige Tage später einigten sich NATO und Warschauer Pakt bei der Wiener Konferenz zum Vertrag über die Konventionellen Streitkräfte in Europa (VKSE) auf eine Reduzierung ihrer Truppen in Mitteleuropa auf jeweils 195.000 Mann. In Ottawa vereinbarten die Außenminister der vier Siegermächte und der beiden deutschen Staaten eine Serie von Konferenzen nach der Formel 2 plus 4, um die alliierten Siegerrechte über Gesamtdeutschland abzulösen. Am 24. und 25. Februar sprachen sich der amerikanische Präsident George H. W. Bush und Bundeskanzler Kohl für die NATO-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschland aus. Kohl hatte mit dem amerikanischen Präsidenten und dem sowjetischen Staatschef sowie seinen europäischen Kollegen nicht nur in London, Paris, Brüssel und Rom in allen Phasen des Einigungsprozesses ständigen Kontakt. Die persönlichen Begegnungen bei Konferenzen und gegenseitigen Besuchen wurden ergänzt durch zahllose briefliche und persönliche Kontakte. Gleichzeitig bereiste Bundesaußenminister Genscher unablässig Europa, überquerte den Atlantik und band so Amerikaner, Sowjets und Europäer zusammen. In diesen entscheidenden Monaten gelang zwischen dem Kanzler und seinem Außenminister eine lückenlose Abstimmung. Die Opposition schaffte es nicht, Streit in der Regierungskoalition über Ziel, Wege und Geschwindigkeit des Einheitsprozesses zu entfachen. In dieser Zeit hat wöchentlich mindestens ein Abstimmungsgespräch der Vorsitzenden der Koalitionsparteien zusammen mit den Fraktionsvorsitzenden und ihren Parlamentarischen
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Geschäftsführern stattgefunden, damit die Abgeordneten und das Parlament in dieser Phase voll unterrichtet und einbezogen wurden, die von der vor allem außenpolitisch handelnden Regierung dominiert wurde. Gespräche mit der Opposition waren seltener während der Zeit des Volkskammerwahlkampfes. Die Grünen verfolgten die Deutschlandpolitik mit nicht nachlassendem Argwohn. Die SPD allerdings, inspiriert durch Willy Brandt, bekannte sich am 7. März schließlich und eindeutig zum Ziel der Einheit. In ihrem Fahrplan zur deutschen Einheit erklärte sie sich für einen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes. Die SPD war dann auch die erste der großen Parteien, die ihrer ostdeutschen Schwesterorganisation massiv unter die Arme griff. Die CDU tat sich sehr viel schwerer, weil die östliche Schwesterpartei als Blockpartei über Jahrzehnte mit der SED kollaboriert hatte. Erst ein grundlegender personeller Wechsel auf allen Ebenen der Partei und die Gründung der „Allianz für Deutschland" am 5. Februar ließ den Parteivorsitzenden der CDU den Startschuss zu einer breit angelegten Wahlkampfunterstützung geben. In dieser Allianz hatten sich auf Drängen von Helmut Kohl die DDR-CDU, die von der CSU unterstützte Deutsche Soziale Union (DSU) und der aus der revolutionären Avantgarde des Herbstes hervorgegangene Demokratische Aufbruch (DA) zusammengeschlossen. Das Ergebnis der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 hat alle demoskopischen und publizistischen Voraussagen nichtig gemacht. Die „Allianz für Deutschland“ ging mit 48,1 Prozent als eindeutiger Sieger aus der Wahl hervor. Die CDU allein erreichte über vierzig Prozent und wurde fast doppelt so stark wie die SPD, die als Favorit ins Rennen gegangen war. Mit diesem Wahlergebnis wurde posthum auch Konrad Adenauer von einer schwerwiegenden Beschuldigung freigesprochen. Ihm wurde von seinen Kritikern ein mangelnder Wille zur Wiedervereinigung vorgeworfen und mit seiner Furcht vor einem SPD-dominierten Ostdeutschland begründet. Die erste Etappe auf dem Weg zur deutschen Einheit war erreicht: In der DDR hat die erste freie Wahl die Tür für eine Regierung freigemacht, die sich zur Aufgabe stellen würde, die Einheit herbeizuführen, und sich so selbst überflüssig zu machen. II. Die Regierung der Großen Koalition unter Einschluss der FDP mit Ministerpräsident Lothar de Maizière an der Spitze begann am 12. April 1990 ihre Arbeit. Sie verpflichtete sich auf das Ziel eines geordneten Weges zur deutschen Einheit und wollte in sie die Interessen und Möglichkeiten der DDR-Bürger einbringen. Es war die erste Regierung in der jüngeren Geschichte, die das Ziel verfolgte, sich selbst überflüssig zu machen. Die Bonner Regierung bemühte sich jetzt darum, was sie früheren Regierungen der DDR stets verweigert hatte: Es galt, Ostberlin eine möglichst breite internationale Unterstützung zu verschaffen. Schon am 21. April stimmten die Außenminister der EG einem Drei-Stufen-Plan zur Eingliederung der DDR in die Europäische Gemeinschaft zu. Am 28. April stimmten die Staats- und Regierungschefs der EG dem
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Ziel der deutschen Einigungspolitik zu. Wenige Tage später eröffnete Bundesminister Genscher in Bonn die erste Ministerrunde der Zwei-plus-Vier-Konferenz, deren wichtigstes Thema die Bündniszugehörigkeit des vereinten Deutschlands war. Am 3. Juni erklärten der amerikanische Präsident Bush (Vater) und der sowjetische Präsident Gorbatschow auf einer gemeinsamen Pressekonferenz, dass die Bündniszugehörigkeit des vereinten Deutschlands von den Deutschen selbst entschieden werden könne. Vor allem in dieser Phase des Einigungsprozesses bewährte sich die vertrauensvolle und nahtlose Zusammenarbeit zwischen Bonn und Washington. Der amerikanische Präsident Bush (Vater) hat mit seiner Abrüstungsbereitschaft wesentlich dazu beigetragen, dass Gorbatschow nicht länger eine „westliche Gefahr“ einzukalkulieren hatte und sich auf einen strategischen Rückzug aus Mitteleuropa einlassen konnte. Und Bush hat die westeuropäischen Hauptstädte beruhigt, wenn und wann immer Befürchtungen über deutsches Hegemonialbestreben spürbar wurden. Er hat geholfen, die Zwei-plus-Vier-Formel zu entwickeln und damit die Verhandlungen über die deutsche Einheit auf deren „äußere Aspekte“ zu begrenzen. Er hat mit äußerster Behutsamkeit mit dafür gesorgt, dass die von anderen europäischen Staaten gestellten Ansprüche auf Mitverhandlung abgewehrt werden konnten. Er hat vor allem in Warschau um Vertrauen auf die deutschen Zusicherungen über die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze geworben. Der damalige Präsident Bush und seine Regierung haben von Anfang an tatkräftig und ohne jeden Vorbehalt den Einigungsprozess der Deutschen unterstützt und keinen Zweifel daran gelassen, dass die Wiedervereinigungsrhetorik früherer Jahre auch in der neuen Lage Geltung beanspruchen musste. Das persönliche Vertrauensverhältnis zwischen Bush und Kohl hat nicht den geringsten Zweifel an der Aufrichtigkeit der gegenseitigen Versicherungen und Zusicherungen aufkommen lassen. Bundeskanzler Kohl hat nicht eine Sekunde daran gezweifelt, dass der amerikanische Präsident zu seinen Verpflichtungen aufgrund des Deutschlandvertrages stehen würde. Und der amerikanische Präsident konnte sicher sein, dass die deutsche Regierung unter keinen Umständen mit der Idee spielen würde, aus der Gemeinsamkeit des Atlantischen Bündnisses herauszusteuern. Der amerikanische Präsident hat dem deutschen Bundeskanzler in dieser so wichtigen Phase der außenpolitischen Absicherung des Einheitsprozesses den Rücken freigehalten. Präsident Bush konnte Präsident Gorbatschow Ende Mai in Washington davon überzeugen, dass die Vereinigten Staaten keinerlei Absicht hatten, die inneren Probleme der UdSSR zu nutzen, um sich Vorteile zu verschaffen. Auch diese Gewissheit war eine ganz wichtige Voraussetzung für die Öffnung der sowjetischen Politik in der deutschen Frage. In der inneren Politik ging es in diesen wenigen Monaten vor allem um die Vorbereitung der Wirtschafts- und Währungsunion. Die Politik der Bundesregierung erfuhr dabei die volle Unterstützung der Deutschen Bundesbank. So wurde das Angebot des Bundeskanzlers vom 7. Februar an die DDR, in Verhandlungen über die Einführung der Währung der Bundesrepublik in der DDR einzutreten, von der Bundesbank loyal durch ihren Sachverständigenrat mitgetragen. Am 18. Mai wurde in Bonn der Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion
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unterzeichnet, der von beiden Parlamenten am 21. Juni verabschiedet wurde. Gleichzeitig beschlossen die Parlamente die endgültige Anerkennung der polnischen Westgrenze. Mit der Entschließung von Bundestag und Volkskammer über die endgültige Bekräftigung der Oder-Neiße-Grenze als unverletzlicher Westgrenze Polens gegenüber dem vereinten Deutschland gelang die außenpolitische Absicherung des Einigungsprozesses in einem zentralen, für Deutschland schmerzhaften, für die Zukunft Europas jedoch Frieden stiftenden Punkt. Die gemeinsamen Entschließungen der frei gewählten, demokratisch legitimierten Parlamente brachten damit den politischen Willen des deutschen Volkes zum Ausdruck, um den Preis eines endgültigen Verzichtes auf die Gebiete jenseits von Oder und Neiße die Einheit der Nation wiederzuerlangen. Mit dem dann später, am 14. November, unterzeichneten Vertrag über die Bestätigung der zwischen Deutschland und Polen bestehenden Grenze hat sich schließlich die stets eindeutige, völkerrechtlich abgesicherte Haltung des Bundeskanzlers durchgesetzt, allein einem frei gewählten gesamtdeutschen Souverän die Macht einzuräumen, verbindlich die Unverletzlichkeit der Oder-Neiße-Grenze zu garantieren. Der Bundesrat stimmte den beiden Beschlüssen des Bundestages über den Staatsvertrag und die Oder-Neiße-Grenze am 22. Juni 1990 zu, nur die damals von der SPD geführten Länder Niedersachsen (Schröder) und Saarland (Lafontaine) lehnten den Staatsvertrag ab. Dieser trat am 1. Juli 1990 in Kraft. Die DDR übergab ihre Hoheit über die Finanz- und Geldpolitik an die Bonner Regierung und die Frankfurter Bundesbank. Ein entscheidendes Stück des Weges zur deutschen Einheit ist damit von den Regierungen und Parlamenten in beiden Staaten Deutschlands gemeinsam gegangen worden. Dies setzte eine intensive Kooperation zwischen der Bonner und der Ostberliner Regierung auf allen Ebenen ebenso voraus wie eine enge Abstimmung zwischen den beiden Parlamenten. Dass die Telefonleitungen zwischen Ostberlin und Bonn wie auch die Transportmittel zwischen den Hauptstädten unter der Überlast nicht kollabierten, war nur der Improvisationskunst der Bundespost und der Bundeswehr zu verdanken. III. Wenige Tage nach dem 1. Juli begannen in Ostberlin die Verhandlungen zum zweiten Staatsvertrag, dem Einigungsvertrag, dessen Konditionen und Implikationen das herrschende innenpolitische Thema der nächsten Wochen bleiben würde. Es galt, unter äußerstem Zeitdruck für alle Felder des öffentlichen Lebens Vereinbarungen zu treffen, die die in den vierzig Jahren der Teilung entstandenen Diskrepanzen zwischen den bundesdeutschen Bestimmungen und den Regelungen in der DDR überwand und gleichzeitig Übergangsregelungen zu schaffen in den Fragen, bei denen die Übernahme der westdeutschen Bestimmungen zu Unzumutbarkeiten und Ungerechtigkeiten für die Bevölkerung der DDR geführt hätte. Während der ersten Hälfte des Jahres 1990 wurde die Bonner Regierung durch ihre außenpolitischen Aktivitäten stärker in Anspruch genommen als durch innenpolitische Auseinandersetzungen. Dies änderte sich mit dem Beginn der Verhandlungen über den Einigungsvertrag, der die Zustimmung der SPD benötigte.
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Aber nicht über die sehr schwierigen Fragen der Reprivatisierung entstand eine öffentliche Auseinandersetzung zwischen den Parteien in der Regierungskoalition und zwischen Regierung und Opposition, sondern sie entzündete sich vor allem an der strafrechtlichen Regelung der Abtreibung. Bundeskanzler Kohl lud die Vorsitzenden der Koalitionsparteien und der SPD sowie andere führende Politiker dieser Parteien mehrfach zu nächtlichen Sitzungen in das Kanzleramt, um diese und andere strittige Fragen des Einigungsvertrages zu besprechen und zu klären. Auch der damalige Kanzlerkandidat der SPD, Oskar Lafontaine, nahm an diesen intensiven Gesprächen zwischen Regierung und SPD teil. Als Ministerpräsident des Saarlandes hatte er dem ersten Staatsvertrag seine Zustimmung im Bundesrat verweigert. Dem CDU-Vorsitzenden gelang es in diesen Nächten mithilfe vor allem des bundesdeutschen Unterhändlers, dem damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, Einvernehmen in der Koalition und Kompromisse zwischen Koalition und SPD über die strittigen Elemente des Einigungsvertrages herzustellen. Er regelt auf tausend Schreibmaschinenseiten und hunderten Seiten Anlagen alle wesentlichen Probleme und Streitfälle. Der Einigungsvertrag konnte am 31. August von Schäuble und dem Ostberliner Unterhändler, Staatssekretär Günter Krause, unterzeichnet werden. Bundestag und Volkskammer verabschiedeten den Vertrag mit der erforderlichen qualifizierten Mehrheit gegen die Stimmen der PDS und der Grünen am 20. September. In dieser dritten Phase des deutschen Einigungsprozesses kam es zu einer sachund zielorientierten Zusammenarbeit zwischen der Regierung einerseits und Bundestag und Bundesrat andererseits. Parlament und Länder – und damit auch die Opposition in Bonn – waren von Anfang an in den Einigungsprozess eingeschaltet worden, ohne damit die Verantwortlichkeit der Exekutive zu verwischen. Bereits zweieinhalb Wochen nach Öffnung der innerdeutschen Grenze gab der Bundeskanzler am 28. November 1989 vor dem Deutschen Bundestag eine erste Regierungserklärung ab, der kontinuierlich im Laufe des ersten Halbjahres 1990 weitere Regierungserklärungen und Debatten zu deutschlandpolitischen Fragen folgten. Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestags wurde fortlaufend seit Ende 1989 unterrichtet. Auch die Länder wurden durch Gespräche mit den Chefs der Staats- und Senatskanzleien oder mit den Regierungschefs der Länder selbst ausführlich informiert. Als Bundeskanzler Kohl am 24. April 1990 dem DDR-Ministerpräsidenten de Maiziere als Arbeitspapier einen Vertragsentwurf über eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion unterbreitete, erhielten die Opposition noch am selben Tag und die Länder am folgenden Tag den Vertragsentwurf. Im Rahmen des Ratifizierungsverfahrens waren Bundestag und Bundesrat ohnehin intensiv mit dem Staatsvertrag befasst. Mit der Einrichtung des Ausschusses „Deutsche Einheit“ des Bundestages, der am 11. Mai 1990 erstmalig zusammentrat, wurde neben den bereits bestehenden Fachausschüssen ein besonderes Parlamentsgremium geschaffen, das die Regierung zur noch weitergehenden Einbindung der Legislative in den Einigungsprozess nutzte. Der Ausschuss tagte zwanzig Mal und ließ sich von der Bundesregierung nicht nur über den Fortgang der Verhandlungen mit der DDR informieren, sondern war auch federführend im Rahmen des parlamentarischen Ratifizierungsverfahrens
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beim Einigungsvertrag. Darüber hinaus nutzte der Bundesinnenminister als Verhandlungsführer der westdeutschen Seite den Ausschuss vor den jeweiligen Verhandlungsrunden mit der DDR als hilfreiches Beratungsorgan. In Ostberlin hingegen gestaltete sich die Zusammenarbeit der Parteien mit dem Näherrücken des Tages der deutschen Einheit umso schwieriger. Im Juli traten die Liberalen aus der Regierung de Maiziere aus, weil in der Ostberliner Koalition keine Einigung über den Wahlmodus erzielt werden konnte. Im August verließen die Sozialdemokraten die Ostberliner Regierung und nahmen de Maiziere die regierungsfähige Mehrheit. Sein mit der Bundesregierung abgesprochener Vorstoß in der Volkskammer, die vorgesehene erste gesamtdeutsche Wahl bereits am 14. Oktober durchzuführen, fand mangels Präsenz nicht die notwendige Zwei-DrittelMehrheit. Vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe wurde das nach langen Auseinandersetzungen von Volkskammer und Deutschem Bundestag verabschiedete Wahlgesetz im September für verfassungswidrig erklärt. Erst im Oktober konnte der Bundestag in seiner ersten Sitzung nach der Vereinigung ein neues Wahlgesetz verabschieden, das zwei getrennte Wahlgebiete mit jeweils einer FünfProzent-Klausel vorsah und Listenvereinigungen ermöglichte. Während in dieser Phase die innenpolitischen Diskussionen dominierten, konnte die außenpolitische Absicherung des Einigungsprozesses vollendet werden. Den Durchbruch erzielte Bundeskanzler Kohl bei seinem Besuch im Kaukasus. Er erhielt die Zusicherung Gorbatschows, dass das vereinte Deutschland seine volle Souveränität erhalten werde und danach frei über seine Bündniszugehörigkeit entscheiden könne. Diesem Erfolg der deutschen Diplomatie war der NATO-Sondergipfel Anfang Juli vorangegangen, auf dem die NATO dem Warschauer Pakt die „Hand zur Freundschaft“ hingestreckt und alle NATO-Mitglieder die Einigung Deutschlands begrüßt und seine Mitgliedschaft in der NATO gewünscht hatten. Gorbatschow hat aber auch das Engagement des Bundeskanzlers zur Kenntnis genommen, sich gemeinsam mit dem damaligen französischen Präsidenten François Mitterand auf dem EG-Gipfel in Dublin und dann beim Wirtschaftsgipfel in Houston/Texas für die wirtschaftliche und finanzielle Zusammenarbeit der westlichen Industriestaaten mit der UdSSR einzusetzen. Die sowjetische Führung konnte sich nach diesen Ergebnissen davon überzeugen, dass konstruktive Beziehungen zwischen den USA und Deutschland nicht zu ihrem Nachteil gereichen würden, dass Deutschlands Einheit in Freiheit der Sowjetunion einen europäischen Partner verschaffen würde, auf dessen Berechenbarkeit und Kooperationsbereitschaft Verlass war. Am 12. September wurde deshalb in Moskau der ZweiplusVier-Prozess abgeschlossen, und vierzehn Tage später vereinbarten Ostberlin und Moskau, dass mit Wirkung vom 3. Oktober1990 die Mitgliedschaft der DDR im Warschauer Pakt erlischt. Die fugenlose Synchronisation der innen- und außenpolitischen Aktivitäten, die ungeheure und fast unübersehbare Fülle des Regulierungsbedarfes, der von den Menschen in der DDR verursachte Zeitdruck haben den Entscheidungsträgern in Bonn und Ostberlin, den Politikern, Diplomaten und Beamten ihr Äußerstes an Konzentration, Improvisation und Imagination abverlangt. Das Ergebnis war Lohn
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genug. Der Traum der Deutschen, in Einheit und Freiheit zu leben, wurde am 3. Oktober 1990 erfüllt. Neben der politischen und diplomatischen Arbeit war die Bundesregierung 1989 mit einer breit angelegten Kommunikationskampagne beschäftigt. Denn die gewiss größte Herausforderung an die Überzeugungsarbeit der Bundesregierung im zu Ende gehenden Jahr 1989 war der Abbau der inländischen, vor allem aber der ausländischen Befürchtungen über negative Folgen des deutschen Einigungsprozesses für die Stabilität in Europa. Das wiedervereinigte Deutschland mit rund achtzig Millionen Bürgern, seiner Wirtschaftskraft, seinem gewachsenen politischen Gewicht, seiner historischen Hypothek, seiner wiedererlangten vollen Souveränität hat verständlicherweise Ängste über seinen zukünftigen Kurs ausgelöst. Im Zentrum der Kommunikationsarbeit der Bundesregierung stand deshalb das Vertrauen, das sich die Bonner Demokratie in den letzten vierzig Jahren als zuverlässiger und berechenbarer Partner erworben hatte. Der Bundeskanzler, der Bundesaußenminister und mit ihnen die gesamte Regierung und die sie tragenden politischen Kräfte durften und konnten nicht müde werden mit dem, Argument, dass die Überwindung der deutschen Teilung als Überwindung der Spaltung Europas zu verstehen sei, dass die deutsche Einigung und der europäische Integrationsprozess zwei Seiten der gleichen Medaille darstellten. IV. Weil die Europäer ein gutes Gedächtnis haben, galt es, in allen formellen und informellen Gesprächen die grundsätzlichen Unterschiede der deutschen Einigung von 1990 und der von 1871 zu verdeutlichen: Damals war die Einigung ein „von oben“ verordneter Vorgang, auch wenn sie von den Deutschen begrüßt wurde. Heute ist die Einheit das Ergebnis des bisher ersten erfolgreichen revolutionären Prozesses, der in Deutschland vom Volk selbst in Gang gesetzt wurde. 1871 kam es zur Reichsgründung nach Kriegen gegen Österreich (1866) und Frankreich (1870/71), heute ist die Einheit Folge der friedlichen Selbstbefreiung unserer Mitbürger in der ehemaligen DDR, deren mutige Massenmanifestationen die kommunistische Herrschaft zum Einsturz brachten. Vor mehr als einem Jahrhundert haben die europäischen Nachbarn Deutschlands die Einigung mit Skepsis bis Ablehnung verfolgt. Insbesondere der französische Verlust von Elsass-Lothringen hat die Rückgewinnung der verlorenen Gebiete zum Leitmotiv der französischen Außenpolitik und damit den deutschfranzösischen Gegensatz zu einer festen Größe gemacht, mit der alle europäischen Mächte rechnen konnten und mussten. Heute ist die deutsche Einheit mit Zustimmung und Unterstützung aller Europäer verwirklicht worden, und die deutsch-französische Freundschaft wird zu Recht als Motor der europäischen Integration verstanden. Die Annexion Elsass-Lothringens hat sich für die Außenpolitik des Deutschen Reiches als Fußfessel ausgewirkt. Die Verteidigung dieses Gebietes hat den Handlungsspielraum des Reiches stark eingeschränkt. Die Anerkennung aller seiner Grenzen einschließlich der Oder-Neiße-Grenze durch das vereinte Deutschland verschafft einen zusätzlichen Handlungsspielraum, der der europäischen Integration zugute gekommen ist.
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Die Reichsgründung von 1871 hat einen klassischen Nationalstaat in der Verfassung einer konstitutionellen Monarchie hervorgebracht, dem trotz aller Bekenntnisse von Selbstgenügsamkeit ein imperialer Anspruch unterstellt wurde. Denn das deutsche Kaiserreich umfasste mehr als die deutsche Nation. Das vereinte Deutschland des Jahres 1990 ist ein gemäßigt nationaler Staat in der Form einer bundesstaatlichen, parlamentarisch verfassten Republik. Sie ist bereit, einen wachsenden Teil ihrer nunmehr wieder vervollständigten Souveränität an die transnationalen Einrichtungen Europas abzugeben. 1871 hing die außenpolitische Zukunft des vereinten Deutschlands von der Fähigkeit und Bereitschaft seiner politischen Führung ab, Deutschland im Gleichgewicht der europäischen Großmächte Frankreich, England, Österreich-Ungarn und Russland zu halten. Die Ausbalancierung dieses Gleichgewichts führte immer wieder zu krisenhaften Entwicklungen und misslang dann bald endgültig, nachdem der Lotse Bismarck von Bord gegangen war. Heute ist das vereinte Deutschland fest verankert in der westlichen Werte-, Wirtschafts- und Verteidigungsgemeinschaft, die einen künftigen Sonderweg des Achtzig-Millionen-Volkes absolut unmöglich macht. Das heutige Deutschland sieht seine Bestimmung in Europa, dessen Integration zur deutschen Staatsraison wird. Nach 1871 kam es in ganz Europa angesichts der Machtverschiebung durch die Reichsgründung zu einer das gesamte öffentliche Leben prägenden Militarisierung. Die Überwindung des Ost-West-Konfliktes als Voraussetzung der deutschen Einheit wie der europäischen Einigung erlaubt heute eine Demilitarisierung, wie sie quantitativ und qualitativ in der Geschichte ohne Vorbild ist. Dass es der Bundesregierung und den Deutschen insgesamt gelungen ist, diese grundlegenden Unterschiede unseren ausländischen Partnern im Zwei-plus-VierProzess und allen Europäern überzeugend zu verdeutlichen, war nicht nur ein Erfolgsmaßstab der Kommunikationsarbeit, sondern auch eine entscheidende Voraussetzung für die Einigung. An Glaubwürdigkeit gewann diese Botschaft dann am 3. Oktober 1990, als ausländische Journalisten und Regierungen sich davon überzeugen konnten, dass die Deutschen keineswegs in einen nationalen Rausch verfielen, sondern ihre wieder gewonnene Einheit mit Freude feierten, um sich ausschließlich mit Nüchternheit den durch die vierzigjährige Spaltung bewirkten Problemen zu widmen und ihre politischen Leidenschaften im Wahlkampf zu entfalten.
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4. Friedlicher Aufstand und Revolution 1989/90 – Aspekte des Aufstandspotentials: Stimmungen und Arbeitsbedingungen in Volkseigenen Betrieben (1986) Wolfgang Eckelmann, Hans-Hermann Hertle und Rainer Weinert gaben 1990 die Studie „FDGB intern. Innenanschichten einer Massenorganisation der SED“ heraus. Eine Hauptquelle ihrer Darstellung sind sogenannte „Berichte über die Stimmung und Meinung der Mitglieder“. Das waren Berichte, die von der Abteilung Organisation des Bundesvorstandes des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) regelmäßig angefertigt wurden. Grundlage dafür war die Festlegung, dass monatlich 26 Kreisvorstände des FDGB, 7 Kreisvorstände der Industriegewerkschaften und Gewerkschaften und 85 betriebliche Gewerkschaftsleitungen „direktberichterstattungspflichtig“ waren. Der Abteilung Organisation lagen somit pro Monat etwa 100 schriftliche Informationen von diesen Berichterstattern vor. Die Informationen über Verlauf und Ergebnisse der gewerkschaftlichen Mitgliederversammlungen wurden monatlich im Sekretariat des Bundesvorstandes beraten. Alle diese Informationen erhielten auch die Abteilung Gewerkschaften und Sozialpolitik des ZK der SED sowie die Abteilung Parteiorgane. Neben den obligatorischen Monatsberichten hatte die Abteilung Organisation das Sekretariat laufend über die „Stimmung und Meinungen der Mitglieder zu aktuellen politischen Ereignissen“ und über „besondere Vorkommnisse“ zu informieren. Die Erfassung der „besonderen Vorkommnisse“ erfolgte nach dem Raster: Vorkommnisse in den Gewerkschaften, Brände, Vorkommnisse mit ausländischen Werktätigen, Havarien, staatsfeindliche Handlungen, Massenerkrankungen, Arbeitskonflikte und Arbeitsniederlegungen. Die Berichte sind beredter Ausdruck der Konflikte und Widersprüche in der Gesellschaft der DDR, die unter der Decke der offiziell behaupteten Interessenharmonie brodelten. Obwohl fast alle Arbeitnehmer in der DDR im FDGB organisiert waren (1989 9,6 Millionen Mitglieder), liegt die wirkliche politische Praxis dieser Organisation weitgehend im Dunkeln. Dies gilt zum einen in bezug auf die zentralen politischen Ereignisse im real existierenden Sozialismus nach 1945 und deren Rückwirkung auf die Gesellschaft der DDR: den Arbeiteraufstand im Juni 1953, den Volksaufstand in Ungarn 1956, den Mauerbau 1961, den Prager Frühling 1968 und die Entstehung der unabhängigen Gewerkschaft „Solidarität“ in Polen im August 1980. Dies gilt zum anderen aber auch für die aktuelle Rolle des FDGB im Umbruchprozess der DDR. Dass der FDGB nicht als reformerische Kraft auftrat, verlangt ebenso nach einer Erklärung wie die Geschwindigkeit seines Zerfalls.128 So wie die Deutsche Arbeitsfront ein Organ der NSDAP war, so war auch der FDGB ein Organ der SED. Ein Gewerkschaftssekretär brachte es 1950 auf den
128 Eckelmann, Wolfgang / Hertle, Hans-Hermann / Weinert, Rainer: FDGB intern. Innenansichten einer Massenorganisation der SED, Berlin 1990, S. 7 f.
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Punkt: „Wir haben überhaupt kein Recht mehr. Wir haben keine Tarifverträge mehr. Wir besitzen heute Verordnungen wie unter dem Faschismus“.129 „Die Stalinisierung des FDGB sollte dessen Politik in den nächsten Jahren nachhaltig prägen. Diese Entwicklung lief für die FDGB-Funktionäre schon sehr früh auf ein bitteres Datum hinaus: Im Frühsommer 1953, also nur drei Jahre später, zeigten die Massenproteste der Beschäftigten und ihre Eskalation in den Arbeiteraufständen am 17. Juni 1953 und in den Tagen danach, dass der FDGB als Kampfgefährte der SED und Propagandist staatlich verordneter Normerhöhungen keinerlei Rückhalt unter seinen Mitgliedern besaß. Die Proteste und die Wut der Demonstranten richteten sich auch gegen den FDGB selbst und seine Einrichtungen. Die Gewerkschaften, nach Stalin ‚der erste, der wichtigste Transmissionsriemen, der erste, wichtigste Übertragungsapparat, mit dessen Hilfe sich die Partei mit der Arbeiterklasse verbindet‘, übertrugen nicht mehr: Der FDGB war bankrott. Ohne die Hilfe russischer Panzer hätte er in seiner stalinistischen Ausprägung – wie das SED-Regime insgesamt – das Jahr 1953 nicht überlebt“.130 Die Verfasser der „Innenansichten“ ziehen Parallelen zwischen der Stimmung in den Volkseigenen Betrieben am Tag des Mauerbaus dem 13. August 1961 und in den Tagen danach und der Stimmung 1989. „Gerade aus heutiger Sicht (1990) fällt auf, dass die Kritik der Bürger der DDR nach dem Mauerbau die gleiche ist, mit der die SED-Führung im Sommer 1989 konfrontiert wurde und woran sie letztlich zugrunde gegangen ist. Die Kritiken aus den Betrieben des Jahres 1961 lesen sich wie Forderungskataloge, die die Menschen im Jahre 1989 erneut aufstellten und einforderten. Es ist die Erfahrung, in ihrer Freizügigkeit beschnitten worden zu sein, und das bedeutete damals, nicht mehr nach West-Berlin fahren und dort einkaufen zu können oder auch nur ins Kino zu gehen. Alles Dinge, die erst wieder seit dem 9. November 1989 nachgeholt werden können. Beurteilt man die Kritik im Gefolge des Mauerbaus am 13. August 1961 unter dem Gesichtspunkt des Zusammenbruchs der DDR 1989, so fällt auf, dass sowohl unter den Flüchtlingen des Sommers 1989 als auch in den Bürgerbewegungen der Anteil von jungen Menschen und der der Intelligenz sehr hoch war. Ganz offensichtlich gibt es hier über eine Generation hinweg eine Kontinuität in der ideologischen Unzuverlässigkeit dieser beiden sozialen Gruppen in der DDR, die wohl nie unter Kontrolle gebracht werden konnte“.131 Einige Vorschläge, Hinweise und Kritiken aus den gewerkschaftlichen Wahlversammlungen vom November 1986132
129 Ebd., S. 17. 130 Ebd., S. 17 ff.: „Der 17. Juni 1953: „Wir werden Euch schon noch lernen, wie man Gewerkschaftsarbeit durchführt!“ 131 Ebd., S. 57, 59. 132 Ebd., S. 217-221. Dokument 27, FDGB-Bundesvorstand, Abt. Organisation, einige Vorschläge, Hinweise und Kritiken aus den gewerkschaftlichen Wahlversammlungen, November 1986 (Auszug).
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Gewerkschaftsgruppe TKE VEB Berliner Vergaser- und Filterwerk: Die Hinweise und Kritiken der Kollegen zum Zustand des Hofes bei Regenwetter, der undichten Oberfenster in der Konstruktion und die schlechte Heizleistung werden schon über einen längern Zeitraum nicht beachtet. Gewerkschaftsgruppe des Kollektivs „XI. Parteitag der SED“ PE-Innenbeschichtung des Rohrwerkes II im VE Rohrkombinat Riesa: Die Duschen sind schon sehr lange reparaturbedürftig. Sie reichen auch nicht aus, mitunter stehen 10 Kollegen unter einer Dusche. Außerdem sind in der Halle noch nicht alle Fenster eingesetzt, und es gibt keine Hallenbeheizung. Das hat Auswirkungen auf die Gesundheit der Kollegen und die Qualität der Rohre. VEB Laborchemie Apolda, Produktionsabschnitt 4: Vorschläge und Kritiken zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen wurden schon über Jahre nicht realisiert. VEB Lederhandschuhe/Lederbekleidung und Holzverarbeitungswerk Klosterfelde: Die Mitglieder kritisierten, dass Schäden an Dächern von Werkhallen und anderen Betriebsgebäuden, die nicht unverzüglich repariert werden, nunmehr wesentliche Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen durch eindringendes Regen- und Schmutzwasser in die Arbeitsräume verursachen. VEB Dränrohrwerke Bad Freienwalde: Durch die Umstellung des Betriebes von Heizöl auf Kohle vor 4 bis 5 Jahren haben sich die Arbeitsbedingungen für einen Großteil der Kollegen durch Hitze und Asche spürbar verschlechtert. Trotz erheblicher Anstrengungen des Betriebes konnten durch technologische Maßnahmen (Polypanlage für das Einsprühen von Kohlenstaub in die Öfen) zur Sicherung der Produktion und der erreichten Arbeitsproduktivität die vorhandenen Arbeitsbedingungen nicht gesichert und bis heute nicht wiederhergestellt werden. Dazu kommt ein großer Anteil schwerer körperlicher Arbeit in den Schichten des Ofenaussatzes. Nur durch eine Automatisierung des Produktionsablaufes wäre eine grundlegende und durchgängige Verbesserung der materiellen Arbeitsbedingungen möglich. Vertrauensleutevollversammlung – VEB Eisengießerei „Hans Ammon“ Eberswalde: In der Eisengießerei bildet die ständige Verschiebung des Investitionsvorhabens „Neues Heizhaus“ Schwerpunkt der Kritik. Auf der Vertrauensleutevollversammlung legte der Betriebsleiter dar, dass das Ministerium sie alle „verschaukelt“ hat und bis 1990 keine Bilanzierung für das Heizhaus eingeplant sei. Dafür gibt es bei den Mitgliedern kein Verständnis. Vertrauensleutevollversammlung – VEB Rekord-Spannwerkzeuge Gera: Schon auf den Gewerkschaftswahlversammlungen 1982 und 1984 standen Probleme der Arbeits- und Lebensbedingungen der neuen Halle im FB II zur Diskussion; so der Bau von sanitären Anlagen, wenigstens einer Waschgelegenheit, die bessere Beleuchtung und die Verhinderung der Belästigung mit Abgasen durch die LKW bei der Einfahrt in die neue Halle. Gewerkschaftsgruppen von Verkaufsstellen des Bezirkes Gera: Seit mehreren Jahren werden von Mitgliedern, vor allem in Klein- und Kleinstverkaufsstellen ländlicher Gegenden, die arbeitshygienischen Bedingungen beanstandet. So haben
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32 Verkaufsstellen für die Waren des täglichen Bedarfs weder eine Toilette noch ein Handwaschbecken. Gewerkschaftsgruppe Meisterbereich Prechtel/Verpackung – VEB Kettenund Nagelwerk Weißenfels: Bei 4 °C werden im Winter die Verpackungen geheftet. Das hebt den Krankenstand und der Plan wird nicht gebracht. Die Kolleginnen befürchten, dass bis zum Winter keine Änderung erfolgt. Außerdem ist die Heizung im Frauenbad defekt. VEB Papierfabrik Lunzenau – Holzplatz (Bezirk Karl-Marx-Stadt): Seit 16 Jahren konnte die schwere körperliche Arbeit nicht abgebaut werden und auch für 1987 wurde diese Investmaßnahme vom Kombinat gestrichen. Die Kollegen verlangen Antwort vom staatlichen Leiter. VEB Hauswirtschaft Grimma: Es musste die Chemische Reinigung geschlossen werden, da der Heizungskessel von der Technischen Überwachung gesperrt wurde (wegen Gefährdung der Werktätigen und des Wohngebietes). Es muß ein neues Heizmedium gebaut werden. Die Möglichkeiten und Varianten werden gegenwärtig geprüft. Es erfolgte eine Umlagerung nach Leisnig. Das bedeutete für 7 Werktätige, täglich nach Leisnig zu fahren mit der Taxe, da kein Betriebsfahrzeug zur Verfügung steht. Die Fahrzeit wird als Arbeitszeit angerechnet. Zur Zeit kann keine verbindliche Aussage über die Veränderung dieses Zustandes getroffen werden. Wenn die Zustimmung durch die Energieversorgung zum Neubau einer Gasheizungsanlage nicht gegeben werden kann, ist eine Lösung wahrscheinlich nur mit dem vorgesehenen Wäschereineubau – nicht vor 1990 – möglich. VEB RAW Halberstadt Betriebsteil Rübeland (Holzverarbeitung): Es herrschen unzumutbare Arbeits- und Lebensbedingungen. 18 Untersuchungen verschiedener Kommissionen liegen vor, die bisher aber keine Veränderung bewirkt haben. Die Werktätigen (etwa 35, meistens Frauen) sind sehr ungehalten, zumal zu der schweren Arbeit ohne Hebezeuge, Aussetzung der Zugluft auch die Lohnbedingungen – LG 4 – schlecht sind. Eine Klärung der Probleme ist z. Z. nicht sichtbar. Gewerkschaftsgruppe „XX. Jahrestag“, Bereich TVR, VEB Magdeburger Armaturenwerk „Karl-Marx“: Hoher Krankenstand im Kollektiv ist u. a. darauf zurückzuführen, dass es seit Jahren Durchzug in den Produktionsräumen gibt und diese im Winter sehr kalt sind. Gewerkschaftsgruppe RFT-Werkstatt, VEB Hauswirtschaftliche Dienstleistungen – BT Pasewalk: Sie erklären auf ihrer Wahlversammlung, dass durch fehlende Werkzeuge bzw. Werkzeughilfsmittel die Arbeitsproduktivität und Arbeitssicherheit beeinträchtigt wird. Es fehlen Bohrfutterschlüssel, Steckschlüssel, Laubsägeblätter. Nach Aussage des staatlichen Leiters werden diese Werkzeuge z. T. im Einzelhandel ausreichend angeboten, die Betriebe jedoch werden über das zuständige Großhandelskontor überhaupt nicht bzw. nur mangelhaft beliefert. Eine Bestellung für Steckschlüssel läuft schon über mehrere Jahre. Die Bemühungen des Betriebes, die Werkzeuge über das Großhandelskontor Neustrelitz, wel-
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ches den Einzelhandel beliefert, oder aus anderen Bezirken zu bekommen, scheiterten bisher. Gewerkschaftsgruppe der Kaufhalle 2701 am Hochhaus in Ludwigsfelde: Viele der vom Kollektiv in den letzten Jahren unterbreiteten Vorschläge zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen wurden ungenügend berücksichtigt bzw. nicht beantwortet. Das bezieht sich z. B. auf defekte Kühlgeräte und Warenregale sowie die Rekonstruktion der Kaufhalle, die auch für 1987 nicht in den Plan aufgenommen wurde. Vertrauensleutevollversammlung – VEB Mikroelektronik „Bruno Baum“ Zehdenick: Das seit über 10 Jahren ungelöste Problem der Rekonstruktion der Werkhallendächer (Shedhallendächer) spielte während der Wahlversammlungen einen Schwerpunkt der Diskussion. Nachdem 1985 ein Projekt erstellt wurde und sich 1986 BMK Ost, Industriebau Potsdam, zur Übernahme der Arbeiten ab 1.11.1986 bereit erklärte, konnte dieser Termin nicht gehalten werden, da der VEB Holzwerke Bernsdorf die notwendigen Alu-PUR-Platten aufgrund von Planpräzisierungen nicht liefern kann. Gegenwärtig regnet es so stark durch, dass Wasser ungehindert in Produktions- und Lagerräume eindringen kann. Wertvolle Maschinen, Material, Werkzeuge usw., insbesondere des Metallbereiches und des Werkzeugbaus, die u. a. für die Produktion von Trägerstreifen und Trägerelementen für die Mikroelektronik verantwortlich sind, können so in hohem Maße beeinträchtigt werden. Übergeordnete Leitungen wurden zur Veränderung des Zustandes bereits um Unterstützung gebeten. Gewerkschaftsgruppe Binderproduktion, VE BMK Stralsund: Die Kollegen kritisierten die unzureichende Technik. Sie wirkt sich negativ auf die Arbeits- und Lebensbedingungen aus. Es existieren nur noch 3 von 7 Nagelpistolen. Dadurch müssen die Binder mit der Hand genagelt werden. Das ist nicht effektiv und mit körperlich schwerer Arbeit verbunden. Überschreitung der Grenzwerte für chemische Schadstoffe in der chemischen Industrie (21.3.1989)133 Ministerrat der DDR Kandidat des Politbüros Vorsitzender der Staatlichen Plankommission Genossen Schürer
Verteiler: Gen. Dr. Wyschofsky Gen. Dr. Wambutt Gen. Götz Gen. Weber
- MfC - ZK - SPK - ZV
Information Die gewerkschaftlichen Vorstände und Leitungen werden immer stärker mit den komplizierten Bedingungen in Altanlagen konfrontiert, wobei sich in einigen Anlagen die Situation zuspitzt. 133 Ebd., S. 240-242. (Schreiben des Zentralvorstandes der IG Chemie, Glas und Keramik der DDR vom 21. März 1989 an den Ministerrat über die Überschreitung der Grenzwerte für chemische Schadstoffe in der chemischen Industrie [Auszug]).
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Gegenwärtig arbeiten 7 262 Werktätige wegen großer Überschreitung arbeitshygienischer Grenzwerte für chemische Schadstoffe in der chemischen Industrie mit einer Ausnahmegenehmigung des Ministers für Gesundheitswesen. Für 24 Anlagen werden durch staatliche Kontrollorgane wegen des schlechten Bauzustandes dringende Sanierungsmaßnahmen gefordert. Im VEB Chemiekombinat Bitterfeld sind 335 Werktätige in den Aluminiumschmelzen durch die Überschreitung der Grenzwerte für chemische Schadstoffe, nichttoxische Stäube, Lärm, Vibration und schwere körperliche Arbeit akuten Gesundheitsgefährdungen ausgesetzt. Trotz einer gut funktionierenden Dispensairebetreuung mussten 230 Berufskrankheiten, überwiegend des Stützapparates und der Atmungsorgane, anerkannt werden. Bei mehrjähriger Exposition treten Knochenveränderungen, vor allem Verkalkungen der Bänder auf. Ungeachtet eines hohen betrieblichen Aufwands war es nicht möglich, einen totalen Verschleiß der Schmelze I zu verhindern. Im Juli 1988 mußte der Ministerrat der DDR deshalb den Beschluß fassen, die Produktion in der Aluminiumschmelze I des VEB Chemiekombinat Bitterfeld Ende 1989 einzustellen. In den Viskosefaser- und Viskoseseidenanlagen sind die Werktätigen einer starken Belastung durch Schwefelkohlenstoff ausgesetzt. Schwefelkohlenstoff ist ein Nervengift, das bei ständigem Kontakt zu Delirien, Krämpfen, Atemlähmung und Sehstörungen führt. Im Stammbetrieb des VEB Fotochemisches Kombinat Wolfen gibt es z. B. in der Viskosefaserproduktion für 400 Werktätige ein 10- bis 15fache Überschreitung des Grenzwertes von Schwefelkohlenstoff. 1988 mußten deshalb in diesen Anlagen 213 Werktätige zeitweise bzw. gänzlich wegen der Gefahr akuter Gesundheitsgefährdung mit einer anderen Arbeitsaufgabe betraut werden. Dazu kommt, dass viele Aggregate in diesen Anlagen verschlissen und Teile des Produktionsgebäudes in einem baufälligen Zustand sind. Das Sofortprogramm des Betriebes zur Senkung der Schadstoffemission umfasst für den Zeitraum bis 1990 einen Umfang von 92,7 Mio. M, darunter 34 Mio. M eigene Instandhaltungsleistungen. Da aber bereits für das Jahr 1989 entscheidende Bau- und Montagekapazitäten nicht gesichert sind, ist der Fortgang der Sanierungsarbeiten sehr in Frage gestellt. Im VEB Cosid-Kautasit Coswig sind weit 1980 zwanzig Werktätige wegen ihres Kontaktes mit Asbest an einer arbeitsbedingten Krebserkrankung verstorben, und es besteht die Gefahr, dass sich die Zahl der bisherigen 298 Berufserkrankungen und 40 Krebsfälle (seit 1980 erfaßt) in diesem Betrieb und dem VEB Asfil Kleinreinsdorf, einem anderen asbestverarbeitenden Betrieb im Kombinat Plastund Elastverarbeitung, weiter erhöht. Aufgrund der gesundheitsschädigenden Wirkung von Asbest wurde 1984 ein Ministerratsbeschluß gefasst, der eine weitgehende Substitution dieses Minerals zum Ziel hat. Dazu wurden in den asbestverarbeitenden Betrieben der chemischen Industrie umfangreiche Forschungsarbeiten durchgeführt. Bisher konnten aber die für die Produktion der Substitute und die Umstellung auf asbestfreie Erzeugnisse erforderlichen Investitionen nicht im notwendigen Umfang eingeordnet werden.
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Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse wurden durch den Ministerrat der DDR am 5.1.1989 neue Festlegungen getroffen. Nur wenn die darin konzipierten Maßnahmen bis 1995 abstrichslos realisiert werden und gleichzeitig der Gesundheitsschutz der Werktätigen spürbar verbessert wird, kann die Gefährdung der Belegschaften durch Asbest reduziert werden. Unter voller Ausschöpfung gesetzlicher Regelungen sind bis zur vollständigen Asbestsubstitution soziale Maßnahmen für die exponierten Werktätigen dringend erforderlich. Im Stammbetrieb des Kombinates VEB Chemische Werke Buna ist die Acetaldehydfabrik eine wichtige Zwischenstufe zur Veredelung des produzierten Kalziumkarbids. Die 180 Werktätigen in dieser Anlage sind durch den Anlagenzustand quecksilberexponiert. Durch eine intensive arbeitsmedizinische Betreuung konnten Berufserkrankungen zurückgedrängt und damit bleibende Gesundheitsschäden, die alle inneren Organe erfassen können, vermieden werden, sind aber bei weiterer ständiger Belastung nicht auszuschließen. So mussten 48 Werktätige 1988 zeitweilig bzw. gänzlich aus der Anlage umgesetzt werden, um bei ihnen gesundheitliche Schäden zu vermeiden. Deshalb wurde in einem Ministerratsbeschluß vom 21.11.1985 gefordert, bis Ende 1987 die Einhaltung der MAK-Werte zu garantieren. Dieses Ziel wurde nicht erreicht, weil die für die Realisierung des Ministerratsbeschlusses vorgesehenen Bau- und Montagekapazitäten z. T. für andere Vorhaben in Buna verwendet werden mussten. Diese wenigen Beispiele machen deutlich, dass der Schutz der Gesundheit und des Lebens der Werktätigen in den wichtigen Produktionsbereichen der chemische Industrie bei gleichzeitiger Sicherung der Leistungsentwicklung Aufwendungen erfordern, die die Kombinate nicht mit eigenen Kapazitäten realisieren können. Zur Einordnung solcher Vorhaben in die Investitionspläne ist es notwendig, dass neben ökonomischen Kriterien auch solche der Arbeits- und Produktionssicherheit und der Arbeits- und Lebensbedingungen angewendet werden müssen. Geschieht dies nicht, nimmt der Verschleiß der Anlagen zu, und immer mehr Werktätige sind nicht mehr bereit, an diesen Arbeitsplätzen zu arbeiten, weil die Gesundheitsgefährdung ansteigt. Der z. Z. in einigen Anlagen durchgeführte ständige Wechsel der Belegschaft ist keine Lösung, da damit die für eine sichere Produktion notwendige Stammbelegschaft nicht geschaffen werden kann. An allen o. g. Anlagen ist eine Unterbesetzung an Produktionspersonal vorhanden. Damit sind teilweise Produktionseinschränkungen verbunden bzw. wird das Fehl operativ durch Soldaten der Nationalen Volksarmee und durch abgezogene Arbeitskräfte aus anderen Betriebsbereichen ausgeglichen, was keine Dauerlösung darstellt. Industriegewerkschaft Chemie, Glas und Keramik Zentralvorstand Edith Weber, Vorsitzende
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Vertrauliche Information für den Vorsitzenden, Kollegen Harry Tisch, über Stimmung und Meinungen der Mitglieder vom 22.9.1989134 Die Ergebnisse im sozialistischen Wettbewerb und die Friedensschichten beweisen erneut, dass die Werktätigen mit Einsatzbereitschaft den XII. Parteitag der SED vorbereiten. Die Arbeitskollektive unternehmen große Anstrengungen, um vorhandene Reserven zu erschließen und konsequenter die eigene Verantwortung wahrzunehmen. Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass Kritiken und Forderungen zu Problemen, die nicht im eigenen Verantwortungsbereich lösbar sind, stärker und dringender werden. Das betrifft fehlende Investitionen, überalterte Technik, Mängel in der Bereitstellung von Materialien und Ersatzteilen sowie Lücken in der Versorgung der Bevölkerung. Verärgerung und Unverständnis gibt es vor allem auch deshalb, weil teilweise seit Jahren Versprechungen gemacht worden sind, die nicht eingehalten werden. In den gewerkschaftlichen Mitgliederversammlungen, der Plandiskussion zum Volkswirtschaftsplan 1990 und in persönlichen Gesprächen nehmen die kritischen Hinweise zur Versorgung der Bevölkerung zu. Wenngleich diese Fragen territorial unterschiedliche stehen, geht es dabei um folgende Schwerpunkte: - Ein generelles Problem sind Engpässe und Mangelerscheinungen an gefragten Konsumgütern (in Menge, Sortiment und Qualität). Dabei werden insbesondere fehlende modische Damen-, Herren- und Kinderoberbekleidung, Untertrikotagen, Schuhe, Posterwaren und Möbel, Wohnraumleuchten, Kosmetikartikel, Spielwaren, Kleinkrafträder, Fahrräder, Pkw, Baumaterialien sowie die „1 000 kleine Dinge“ genannt. In diesem Zusammenhang wird zunehmend die Frage aufgeworfen, ob wir nicht zu viele Konsumgüter exportieren. - Wachsende Kritiken gibt es zu der unzureichenden Versorgung mit Ersatzteilen für Kraftfahrzeuge aller Art, Fahrräder und elektrische Haushaltsgeräte. Ersatzteilschwerpunkte bei elektrischen Haushaltsgeräten sind Einbauschalter für Handstaubsauger, Sohlen und Griffe für Bügeleisen, Plastteile und Temperaturregler für Kaffee- und Tee-Automaten, Ersatzteile für Heißwasserspeicher. Immer wieder wird auf erhebliche Wartezeiten bei Dienstleistungen und Reparaturen verwiesen. Obwohl beispielsweise bei Dienstleistungen und Reparaturen eine Leistungsentwicklung von 9 % ausgewiesen wird, nehmen die Wartezeiten bei Schuhreparaturen zu. Das Normativ für die Wartezeit liegt bei 10 Tagen, in der Praxis jedoch im Durchschnitt bei 15-20 Tagen und beim Beziehen der Absätze für Damenpumps sogar bei 1-4 Monaten. Häufig werden Aufträge wegen fehlender Ersatzteile gar nicht erst angenommen. 134 Ebd., S. 234-239. FDGB-Bundesvorstand, Abt. Organisation, Vertrauliche Information für den Vorsitzenden, Kollegen Harry Tisch, vom 22. September 1989.
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Es gibt kein Verständnis mehr dafür, dass beispielsweise bei Anmeldefristen von durchschnittlich 16 Jahren auf einen Pkw „Wartburg“ und späteren Reparaturen dann wiederum aufgrund fehlender Ersatzteile lange Wartezeiten anfallen und zumeist nur doch durch „Beziehungen“ schnelle Hilfe möglich wird. Im Kfz-Instandsetzungsbetrieb Neuruppin werden beispielsweise die Kunden aufgefordert, die Ersatzteile selbst mitzubringen. Bei Waren des täglichen Bedarfs geht es vorwiegend um die Sicherung eines stabilen, breiten und frischen Angebots an Fleisch, Wurst, Obst, Gemüse, Backwaren, alkoholfreien und anderen Getränken während der gesamten Ladenöffnungszeit. So informiert die Betriebsgewerkschaftsleitung des VEB Waggonbau Dessau darüber, dass sich in der Stadt Dessau am Wochenende wahre „Bierschlachten“ abspielen. Die Kunden nehmen sich in den Kaufhallen das Bier wieder gegenseitig aus den Körben. Obwohl zahlreiche Betriebe Werktätige für die Brauerei abstellen müssen, um die Versorgung zu sichern, reicht das Angebot bei weitem nicht aus. Ähnliche Beispiele einer völlig ungenügenden Getränkeversorgung können auch aus anderen Territorien genannt werden. Auch hier werden als Ursachen neben Arbeitskräfteproblemen und Versäumnissen im Handel fehlende Investitionen insbesondere zur Erweiterung und Werterhaltung angeführt.
Durch die andauernde Hetze und Hysterie westlicher Massenmedien gegen die DDR und ihre Bürger sowie durch die Tatsache, dass sich viele Werktätige auch über diese Medien informieren, dominiert in den Gesprächen und Diskussionen weiterhin die Problematik der sogenannten „DDR-Flüchtlinge“. Nach wie vor verurteilen Mitglieder entschieden die massive Einmischung der BRD und der Ungarischen Volksrepublik in die inneren Angelegenheiten der DDR. Es gibt kein Verständnis dafür, dass gerade junge Menschen, die vor allem Vorteile unserer Sozialpolitik in Anspruch genommen haben, ihrem Staat den Rücken kehren. In nicht wenigen Versammlungen gab es die Befürchtung, dass dadurch die Arbeitskräftesituation und damit die wirtschaftliche Lage in der DDR verschärft wird. Neben dem Verurteilen der Hetzkampagne der BRD-Regierung und westlicher Medien sowie dem Unverständnis über die Haltung der ungarischen Regierung wird jedoch verstärkt die Frage aufgeworfen, welche Schlussfolgerungen wir aus der Situation ziehen. Typische Auffassungen dazu sind: „Wir sollten die Schuld für die Ausreisewelle nicht allein in den gezielten Aktionen des Westens sehen. Diesen Eindruck vermitteln nach wie vor unsere Medien. Sicher spielt das eine sehr große Rolle und vieles ist darauf zurückzuführen. Ursachen liegen aber auch im eigenen Land. Darüber sollten wir offen sprechen und vor allem Schritte zur Veränderung bestehender Missstände einleiten. Hauptprobleme sind Versorgungsfragen, Schlamperei bei der Erfassung leerste-
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henden Wohnraums und der Lösung anderer kommunaler Aufgaben sowie mangelndes Verantwortungsbewußtsein staatlicher Organe im Umgang mit den Anliegen der Bürger“. „Es reicht nicht aus, Grundnahrungsmittel stabil anzubieten. Das erwartet man nach 40 Jahren sowieso. Wichtig ist ein stabiles Warenangebot in allen Sortimenten und zu jeder Zeit in hoher Qualität“. „Wir haben kein Verständnis für die in nicht wenigen Fällen gewährte zügige Ausreise von Spezialisten oder Arbeitskräften aus ohnehin schon unterbesetzten Bereichen, z. B. in der Medizin. Die zuständigen Organe sollten in den Einrichtungen, aus denen die Antragsteller kommen, gewissenhafter prüfen, welche Lücke die Ausreise der Betreffenden im Arbeitsprozeß hinterlässt. Gerade bei der Ausreise von solchen hochqualifizierten Bürgern wäre zu entscheiden, dass sie ihre Ausbildung bezahlen“. „Jugendliche, die ihren Vorstellungen entsprechend gekleidet sein wollen, müssen entweder Westverwandtschaft oder gute Beziehungen haben“. „Welche Fehler haben wir in der Erziehung der jungen Generation zu klassenbewußten Staatsbürgern gemacht? Ganz offensichtlich ist es uns ungenügend gelungen, den Kapitalismus in der BRD und die eigenen Probleme im Unterricht und in der Öffentlichkeitsarbeit darzustellen“. „Genossen in höheren Funktionen verschaffen sich Privilegien und Vorteile. Sie nutzen ihre Funktionen, um den eigenen Lebensstandard schneller zu verbessern. Das kann ein Arbeiter in der Produktion nicht. Es täte not, hier Ordnung zu schaffen“. (Diese Behauptung tritt in letzter Zeit verstärkt auf.) Im Zusammenhang mit der Haltung der ungarischen Regierung werden Spekulationen angestellt, mit welchen Maßnahmen die DDR auf den Bruch des Völkerrechts durch Ungarn reagieren wird und ob die Ungarische Volksrepublik als Reiseland für die DDR-Bürger auch weiterhin erhalten bleibt. Aufgrund der gegenwärtig angespannten Situation verstärken die gewerkschaftlichen Vorstände und Leitungen die offensive politisch-ideologische Arbeit in den Grundorganisationen. Dabei wird auch die Diskussion mit Antragstellern auf ständige Ausreise in die BRD geführt. Der Zentralvorstand der IG Wismut und andere Vorstände schätzen dabei ein, dass vor allem folgende Beweggründe für die Ausreise angeführt werden: - „Obwohl in unseren Medien ständig die Übererfüllung der Pläne auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens gemeldet wird, spürt man als einzelner keinen Fortschritt. Im Gegenteil. Die Wartezeiten vor allem für Pkw werden immer länger. Damit verbunden ist nicht zu übersehen, dass das Wuchergeschäft mit gebrauchten Autos immer größere Ausmaße annimmt. Der neue Pkw „Wartburg“ wird auf dem Schwarzmarkt bereits mit mehr als 70 000.Mark gehandelt“ - „Ich will nicht nur in einigen wenigen Ländern meinen Urlaub verbringen, sondern auch einmal ins kapitalistische Ausland fahren. Zudem zeichnet sich ab, dass ein Urlaub im sozialistischen Ausland immer komplizierter wird und
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DDR-Bürger dort zu Touristen 2. oder 3. Klasse abgestempelt werden. Nur wenn man kapitalistische Währung hat, wird man akzeptiert“. - „Auch in unserem eigenen Land kann man seine Bedürfnisse nur dann uneingeschränkt befriedigen, wenn man Westgeld hat. Es wird ja von unserem Staat sogar noch gefördert mit den ganzen Maßnahmen, wie IntershopKaufhallen oder Anlegen von Konten mit kapitalistischer Währung”. - „An billige Mieten, Grundnahrungsmittel und Tarife haben wir uns gewöhnt. Es gibt jedoch mehr Bedürfnisse, beispielsweise nach hochwertigen Konsumgütern (Unterhaltungselektronik)”. - „Nur wenn man Beziehungen hat, wird man auch schnell bedient. Das trifft nicht nur auf handwerkliche Dinge zu, sondern reicht schon bis in den Dienstleistungssektor, die Reparaturleistungen und sogar bis zum Angebot von bestimmten Mangelwaren”. - „Die ehrliche Meinung des einzelnen ist nicht gefragt. In jeder Versammlung oder Beratung machen sich die Leute nur etwas vor, um nicht irgendwo anzuecken”. - „Viel zu viel, was wir produzieren und selbst gebrauchen können, wird in die kapitalistischen Länder exportiert”. Insgesamt muß festgestellt werden, dass die Meinungen zu dieser Problematik sehr differenziert sind. Jüngere Kollegen begründen ihre Antragstellung im Wesentlichen mit dem Drang nach Reisefreiheit, während ältere Kollegen angeben, dass sie ihre steigenden Bedürfnisse nicht befriedigen können. Bei einem Teil unserer Werktätigen hinterlässt die westliche Propaganda Wirkungen, die in Zweifeln an der Richtigkeit unserer Politik zum Ausdruck kommt. Immer häufiger werden Vorstände und Leitungen mit Eingaben und Auffassungen von Kollektiven konfrontiert, die von einem Vertrauensverlust gegenüber unserer Partei- und Staatführung im Zusammenhang mit der Informationspolitik sprechen, der nur durch eine ehrliche Analyse der Ursachen und das Eingehen auf die realen Probleme wieder gutgemacht werden könne. Ein Ausdruck dafür sind auch Parteiaustritte und Ausreisen von Gewerkschaftsfunktionären sowie Austritte von Mitgliedern aus dem FDGB. In den Diskussionen zur Erfüllung der Planaufgaben und zur Versorgung der Bevölkerung wird stärker als in der Vergangenheit darauf aufmerksam gemacht, dass einerseits viele Probleme ihre Ursache in fehlenden objektiven Voraussetzungen haben. Dabei wird insbesondere auf die Notwendigkeit verwiesen, der planmäßigen proportionalen Entwicklung der Volkswirtschaft mehr Beachtung zu schenken. Die Hauptkritiken betreffen das technische Niveau der Ausrüstungen, alte Technologien und schlechte materielle Arbeitsbedingungen. Die Probleme auf diesem Gebiet können nicht durch größeres Verantwortungsbewusstsein der Kollektive und ihrer Leiter gelöst werden. Dafür sind Investitionen erforderlich. Ganz offensichtlich ist, dass einige Bereiche in den vergangenen Jahren vernachlässigt worden sind. Das zeigen auch folgende Beispiele:
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In der Mehrzahl von Kombinaten und Betrieben der Nahrungsgüterwirtschaft werden seit Jahrzehnten die Maschinen und Anlagen „auf Verschleiß“ gefahren. Damit sinkt die Arbeitsproduktivität, die Sortimente werden eingeschränkt, es treten Qualitätsmängel auf, die Produktions- und Arbeitssicherheit ist gefährdet, es gibt eine hohe Fluktuation von durchschnittlich 18 %, und es treten Belastungen für die Umwelt auf (z. B. durch fehlende Möglichkeiten, den anfallenden Fettschlamm schadlos zu beseitigen). Von den insgesamt 76 Schlachtbetrieben arbeiten 46 mit Ausnahmegenehmigung und über 50 % der Betriebe sind in die Hygienekategorie III eingestuft. Die ab 1988 geplanten Investitionsmaßnahmen sollen erst 1992/93 vollständig realisiert sein. Hinzu kommen dringend notwendige, aber nicht zu Verfügung stehende Bilanzen für Rekonstruktions- und Rationalisierungsmaßnahmen. (Siehe auch Berichterstattung des Zentralvorstandes der Gew. Land, Nahrungsgüter und Forst im Präsidium des Bundesvorstandes am 22.9.1989.) Die Mehrzahl der älteren Wäschereien der örtlichen Versorgungswirtschaft weisen ebenfalls einen hohen Verschleißgrad auf. So in Döbeln 74 %, Erfurt 78%, Dessau 85 % und Jena 100 %. Die Folge sind niedrige Produktivität und hohe Belastungen für die Werktätigen.
Andererseits gibt es natürlich erhebliche Mängel und Reserven in der staatlichen Leitungstätigkeit. Das betrifft auch die oft fehlende gewerkschaftliche Hartnäckigkeit, die von Dir wiederholt gefordert wurde. So haben wir die Informationen von Vorständen über einen längeren Zeitraum analysiert. Immer wieder wird festgestellt, dass es in bestimmten Kreisen Mängel in der Versorgung gibt. Viel zu wenig wird jedoch deutlich gemacht, welchen Einfluß beispielsweise die Kreisvorstände nehmen, um im Sinne des Präsidiumsbeschlusses Veränderungen herbeizuführen. Das gilt gleichermaßen für die Arbeit der Zentralvorstände der IG/Gew. und die Bezirksvorstände des FDGB. Hier werden wir über die Beauftragten noch wirksamer Einfluß nehmen. Vertrauliche Information über Stimmung und Meinungen der Gewerkschaftsmitglieder zur gegenwärtigen Situation vom 9.10.1989 135 Die dem Bundesvorstand des FDGB vorliegenden aktuellen Informationen aus Betrieben, Einrichtungen sowie Kreisen und Bezirken verdeutlichen, dass unter den 9,6 Millionen Mitgliedern der Gewerkschaften folgende Hauptprobleme sachlich-kritisch diskutiert werden: (1) Im Mittelpunkt aller Diskussionen stehen sorgenvolle und erwartungsvolle Fragen zur weiteren Entwicklung des Sozialismus in der DDR.
135 Ebd., S. 248-250. (FDGB-Bundesvorstand, Abt. Organisation, Vertrauliche Information über Stimmung und Meinungen der Gewerkschaftsmitglieder zur gegenwärtigen Situation, vom 9. Oktober 1989 [Auszug]).
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Mit zunehmender Schärfe und Aggressivität wird die Forderung erhoben, dass sich Mitglieder der Partei- und Staatsführung und der Gewerkschaften endlich öffentlich diesen Fragen stellen. Auf ein offenes und vertrauensvolles Wort hoffen die Mitglieder schon seit Beginn der „Ausreisewelle“ von DDR-Bürgern. Nach Auffassung der Gewerkschafter hat auch die Festansprache von Genossen Erich Honecker zum 40. Jahrestag der DDR auf aktuelle Probleme keine Antwort gegeben. Dieses Schweigen wird als Vertrauenskrise und Vertrauensverlust zwischen Partei und Volk charakterisiert. Es wird erwartet, dass man zu den Problemen Stellung nimmt und Schlussfolgerungen aufzeigt, den Sozialismus in der DDR weiter zu festigen und ihn attraktiver zu machen. In diesem Zusammenhang gibt es Beängstigung darüber, dass es durch die Aktivitäten des Klassenfeindes und die seit langem anstehenden Unzulänglichkeiten im Lande zu einer konterrevolutionären Situation wie 1953 kommt. Besondere Vorkommnisse, ultimative Forderungen von Arbeitskollektiven und Feindtätigkeit in den Betrieben nehmen zu. (2) Die völlig unzureichende und wirklichkeitsfremde Medienpolitik wird nicht mehr verstanden. Es ist eine Fehleinschätzung und falsche Darstellung in unseren Medien, die Ausreise so vieler Menschen ausschließlich auf die Hetz- und Verleumdungskampagne durch die BRD zu reduzieren. Es sollte unverzüglich und realistisch auch über die Ursachen bei uns gesprochen und vor allem Schritte zur Veränderung bestehender Missstände eingeleitet werden. (Argumente: „Die ‚oben’ wissen nicht mehr was los ist”; „Wenn Partei und Regierung eine eigene Meinung hätten, bräuchte man nicht immer ADN-Korrespondenten und ausländische Medien zitieren; „Die einzige noch lesbare Zeitung ist die ‚Junge Welt’!“; „Man wird regelrecht gezwungen, sich über Westmedien zu informieren“; „Die selbstgefällige und unfehlbare Darstellung in den Medien versteht keiner mehr“.) Immer stärker wird die Forderung, dass sich der Bundesvorstand des FDGB in der Öffentlichkeit zu den aktuellen Problemen äußert und als Interessenvertreter Position bezieht. (eingeständige Rolle der Gewerkschaften) (3) Die Ergebnisse der Wirtschafts- und Sozialpolitik sind gründlich zu analysieren sowie erforderliche Veränderungen einzuleiten. Wachsende Kritik gibt es zu fehlenden Investitionen, überalterter Technik, Mängeln in der Bereitstellung von Materialien und Ersatzteilen sowie ständigen Lücken in der Versorgung der Bevölkerung. Die Verärgerung ist auch deshalb so groß, weil teilweise seit Jahren Versprechungen gemach worden sind, die nicht eingehalten werden. Die oftmals fehlende Einheit von Plan, Bilanz und Vertrag hemmt die Initiative der Werktätigen im Wettbewerb. Die Forderungen der Gewerkschaften fanden zumeinst keine ernsthafte Beachtung (Stellungnahme des Bundesvorstandes und der Zentralvorstände zu den Planentwürfen).
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(4) Die ungenügende Verwirklichung der sozialistischen Demokratie im Betrieb und Territorium ist ein weiterer Diskussionspunkt. Bürokratie und Formalismus in den örtlichen Staatsorganen haben zugenommen, und die lebensverbundene Arbeit mit den Menschen wird häufig nur propagiert. Vielfach gibt es kein Vertrauen mehr zu diesen Organen, und der bürgernahe Arbeitsstil fehlt. Immer wieder wird auch angesprochen, dass unsere Position zu Andersdenkenden überprüft werden sollte. Kritiken gibt es ebenfalls zum formalen Charakter der Plandiskussion, und gefordert wird, im breiten Dialog eine reale Einschätzung der Lage vorzunehmen und gemeinsam mit den Menschen die künftige Entwicklung der Republik öffentlich zu diskutieren. (5) Die Durchsetzung und Anwendung des Leistungsprinzips entspricht nicht mehr den Erfordernissen. Das betrifft Lohn und Prämie, aber auch die oft formale Wettbewerbsführung. Viele Mitglieder vertreten den Standpunkt, dass das Prinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten – jedem nach seiner Leistung“ nur auf dem Papier steht und die Gleichmacherei zunimmt. (Disproportionen zwischen Leistung und Lohn, trotz Einführung von Grundlöhnen; Überprüfung der unterschiedlichen Besteuerung zwischen Arbeitern und Angestellten usw.) (6) Verstärkt wird die Forderung erhoben, die Reisemöglichkeiten für DDRBürger zu erweitern und uneingeschränkte Freizügigkeit in jedes Land und für jeden Bürger zu gewähren. In diesem Zusammenhang diskutieren Gewerkschaftsmitglieder über solche Fragen, wie: „Warum gibt es nicht für jeden DDR-Bürger die Möglichkeit, nach einem offiziellen Umtauschsatz auch Valuta zu tauschen?“ „Nur wenn man kapitalistische Währung hat, wird man akzeptiert”. „Auch in unserem Land kann man seine Bedürfnisse nur dann uneingeschränkt befriedigen, wenn man Westgeld hat”. „Bei uns gibt es immer neue Klassen und Schichten, die der Westgeldbesitzer und der – besitzlosen, die Klasse derjenigen, die reisen dürfen, und die der ‚Nichtreisewürdigen’ sowie die Klasse der Privilegierten und Nichtprivilegierten”. Information über Stimmung und Meinungen der Mitglieder nach der 10. Tagung der Volkskammer der DDR vom 20.10. 1989 136 FDGB-Bundesvorstand Abt. Organisation
Berlin, 26.10.1989
Verteiler: Koll. H. Tisch, Koll. W. Eckelmann In den Arbeitskollektiven und Gewerkschaftsgruppen wird nach wie vor mit Interesse die Entwicklung in unserem Lande diskutiert.
136 Ebd., S. 251-253.
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Die Wahl des Generalsekretärs des ZK der SED, Genossen Egon Krenz, zum Vorsitzenden des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR wird unterschiedlich aufgenommen. Sie reicht von Zustimmung bis hin zu skeptischen Auffassungen und Ablehnung. Mitglieder äußern, dass damit zu viel Verantwortung in eine Hand gelegt wurde. Sie betrachten es als ungünstig, dass er alle drei Funktionen in Personalunion ausübt. Gerade die gegenwärtige Situation beweise doch, dass sich dieses Prinzip nicht bewährt hat. Vielfach wird seine Wahl als eine Übergangslösung bis zum XII. Parteitag der SED gesehen. Die in der Erklärung des neuen Staatsratsvorsitzenden angekündigten Vorhaben, wie die Politik der Wende in unserer Gesellschaftsordnung, die Forderung nach der Notwendigkeit eines neuen Arbeitsstils der Volkskammer bis hin zu den örtlichen Volksvertretungen und die Schaffung eines Reisegesetzes für die Bürger der DDR werden begrüßt, aber auch mit einer gewissen Abwartung betrachtet. Die Meinung von H. Siebert, AGL-Vorsitzender in der Holzverarbeitung des VEB Waggonbau Dessau, steht stellvertretend für viele: „Kollegen der AGL sind nicht damit einverstanden, dass die Macht auf Egon Krenz konzentriert wird. Sie wären dafür gewesen, dass ein anderer den Vorsitz des Staatsrates übernimmt. Zur Zeit steht die Frage, wer gibt uns die Garantie, dass diejenigen, die jahrelang nicht unseren Anforderungen gerecht geworden sind, uns nicht wieder enttäuschen”. Im Zusammenhang mit dem öffentlichen Auftreten leitender Funktionäre wird erklärt, dass sie noch vor kurzer Zeit ganz anders gesprochen hätten, ihre schnelle Wandlung unglaubwürdig sei und sie zu denen gehören, die die jetzige Lage mit verschuldeten. Mitglieder fragen, wie es sein kann, dass Politbüromitglieder die von ihnen in der Vergangenheit selbst mit aller Konsequenz vertretene Politik jetzt so heftig kritisieren und plötzlich sogar von Personenkult um Erich Honecker reden. Zunehmend kritische Bemerkungen gibt es zur Arbeitsweise gewerkschaftlicher Leitungen und Vorstände sowie zu mangelnder Interessenvertretung. Aus den vorliegenden aktuellen Informationen der Mehrheit der Bezirksvorstände des FDGB und den Gesprächen der Beauftragten des Bundesvorstandes in Vorständen und Leitungen sowie unmittelbar in Gewerkschaftsgruppen ist folgende Einschätzung zu treffen: Gegenwärtig besteht bei Mitgliedern und Funktionären ein angespanntes Verhältnis zu Harry Tisch. Das reicht bis zu Forderungen seines Rücktritts. Die Art und Weise seines Auftretens in der Elbewerft und bei BergmannBorsig wird abgelehnt. Man erwartet von ihm mehr konstruktive Schritte und weniger allgemeine Erklärungen. Die vorwiegend aus der Presse abgeleiteten Kritiken an Harry Tisch konzentrieren sich vor allem auf folgende drei Hauptfragen:
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Viele Gewerkschafter verwahren sich in bezug auf ihre eigene Arbeit entschieden gegen die Beschuldigung, an der Basis ungenügend um gewerkschaftliche Standpunkte gekämpft zu haben und unzureichend Interessenvertreter der Werktätigen zu sein. Obwohl er als Vorsitzender das Bisherige mitentschieden hat, mache er nunmehr die Funktionäre in den Betrieben dafür verantwortlich und fordert, dass diese Praktiken aufhören. Welche Orientierung aber der Bundesvorstand dazu gibt, bleibe bis heute offen. Die Worte, er habe sich schon jahrelang für eine ordentliche Plandiskussion eingesetzt, sind für viele unglaubwürdig. Auch der Termin für die Plandiskussion 1990 wurde weder im Betrieb noch im Kreis, sondern von der Zentrale – mit seiner Stimme – festgelegt. Nicht begriffen wird die angebliche „Ahnungslosigkeit“, das „kluge Reden“ über Probleme, die dem Bundesvorstand und seinem Vorsitzenden wahrlich bekannt sein müssten. Das betrifft das Leistungsprinzip, den Wettbewerb, die Subventionspolitik und anderes. Mitglieder betonen, dass er viel zu viel über die neue Verantwortung des FDGB redet, ohne dafür ein klares Konzept vorzulegen. Er verschiebe die Verantwortung von oben nach unten, positioniert sich selbst als Gewerkschafter ungenügend. Viele fragen, wo denn der so oft gepriesene eigenständige gewerkschaftliche Beitrag bleibt, und erklären: Wenn der Vorsitzende so weitermacht, kann er sich bei der nächsten Wahl seine Funktionäre selber suchen. Eine Reihe AGLund BGL-Mitglieder erwägen, ihre gewerkschaftliche Funktion abzulegen. Darüber hinaus muß eingeschätzt werden, dass die Anzahl der Austritte aus dem FDGB weiter ansteigt. Mitglieder bringen zum Ausdruck, dass sich der Vorsitzende endlich klar und unmissverständlich in der Öffentlichkeit äußern sollte und der Organisation eine Orientierung gibt. In der Diskussion wird immer stärker die Forderung zur Klärung solcher Fragen gestellt wie: Welche konkreten Maßnahmen will der FDGB einleiten? Wer sagt uns, wofür wir „unten kämpfen“ und was wir jetzt konkret in Angriff nehmen sollen? Wie hoch sind die Gesamteinnahmen des FDGB in jedem Monat, und wie und durch wen werden diese Gelder angelegt und verteilt? Welche Privilegien haben Gewerkschaftsfunktionäre in der Zentrale? Ein Teil der Mitglieder – insbesondere ehrenamtliche Funktionäre – bezweifeln, dass es gelingt, die Interessenvertretung wirksamer wahrzunehmen. Sie verweisen darauf, dass in der Vergangenheit ihre Standpunkte zwar angehört wurden, aber bei Entscheidungen kaum Berücksichtigung fanden. Nicht von allen wird verstanden, wie die Gewerkschaften ihren eigenständigen Beitrag zur Entwicklung des Sozialismus leisten wollen und damit zugleich die Ziele der Partei anerkennen und unterstützen. Es kommt zu Äußerungen, dass sie
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sich von der Partei lossagen und mehr Unabhängigkeit und Eigenständigkeit haben müssten. W. Eckelmann Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) zum Volkswirtschaftsplan 1990: „In allen Bereichen der Volkswirtschaft wird auf dringende Investitionen, Modernisierung, Rekonstruktion und Werterhaltung hingewiesen, die keinen Aufschub mehr dulden”.137
(1) Zu Hemmnissen der Leistungsentwicklung (zentrale Probleme) - Die Nichterfüllung wichtiger Staatsplanpositionen, Nichterreichung der geplanten Leistungsentwicklung, wie industrielle Warenproduktion, Nettogewinn und die Senkung der Kosten, wird u. a. mit einem ungenügenden wissenschaftlich-technischen Vorlauf und einer unplanmäßigen Realisierung wichtiger Investitionsvorhaben begründet. - Der Einsatz von Schlüsseltechnologien und CAD/CAM Arbeitsstationen erfolgt nicht in allen Fällen planmäßig. - Zum Beispiel wurden im VEB Braunkohlenkombinat Senftenberg von 172 vertraglich gebundenen CAD/CAM Arbeitsstationen bis zum 31.7. 1989 erst 27 ausgeliefert. - Eine Vielzahl von Produktionsgebäuden, Fabriken und Industrieanlagen befinden sich in einem solchen baulichen und technischen Zustand, die den künftigen Anforderungen der Produktionssteigerung nicht mehr gerecht wer137 FDGB, Zusammenstellung von Problemen aus der Plandiskussion und aus den Stellungnahmen von Gewerkschaftsleistungen und Vorständen zum Entwurf des Volkswirtschaftsplanes 1990 (mit einem Anschreiben von Horst Heintze an Harry Tisch vom 9.10.1989) (ArchGew./FDGB-BUVO 13268). In: Hertle, Hans-Hermann: Vor dem Bankrott der DDR, Berlin 1991, Dokumentation XLVIII ff.
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den, u. a. im Bereich der Kaliindustrie, Nahrungsgüterwirtschaft, Getränkeindustrie, Produktionsgebäude in allen Bereichen der Volkswirtschaft. In allen Bereichen der Volkswirtschaft wird auf dringende Investitionen, Modernisierung, Rekonstruktion und Werterhaltung hingewiesen, die keinen Aufschub mehr dulden. Das betrifft u. a. auch solche Gebäude, wo die baupolizeiliche Sperrung zur Gewährleistung der Sicherheit der Arbeiter in der Polstermöbelindustrie Oelsa-Rabenau, Möbelwerke Hainichen, Polstermöbel Güstrow/BT Wismar, VERO Olbernhau/ Pobenhau bevorsteht. U. a. scheitert seit 7 Jahren die Realisierung des Erweiterungsbaus im VEB Wäschekonfektion Lößnitz, Werk Kühnheide an den notwendigen Investitionen. Durch die Nichteinordnung eines Investitionsvorhabens im VEB Glaswerk Stralau wird der vorgesehene Leistungszuwachs von 7 Mio. Mark nicht gesichert. Im Bereich Transport- und Nachrichtenwesen ist der Neu- und Ausbau von Betreuungs- und Versorgungseinrichtungen dringend erforderlich. Versorgungseinrichtung bei der Handelspolitischen Abteilung der Botschaft der DDR, Dresden Betriebsgaststätte Berlin, Buchberger Straße Betriebsgaststätte Funkamt, Köpenick Der Bauzustand von Gebäuden in der Berufsausbildung hat sich in den vergangenen Jahren wesentlich verschlechtert. So weisen 2.210 Unterrichtsräume und 17.051 Lehrlingswohnheimplätze die Bauzustandsstufen 3 und 4 aus. Die bereitgestellten finanziellen Mittel in Höhe von 21 Mio. M für die Werterhaltung in der Berufsausbildung entsprechen nicht dem notwendigen Bedarf. In Klein- und Mittelbetrieben sind die zur Verfügung gestellten Mittel für Investitionen bzw. Reparaturen, die ohnehin nicht den Bedarf decken, im Territorium unbedingt zu bilanzieren. Dies ist aufgrund der „volkswirtschaftlichen Bedeutung“ der Kleinbetriebe z. Z. nicht gewährleistet. So sind per 30.6.1989 im Bereich der Kommunalen Einrichtungen der Berufsausbildung erst 35 % des Planes realisiert und beim Neubau des Nährmittelwerkes Erfurt wurde ein Rückstand von 1,5 Mio. M zugelassen. In einer Vielzahl von Kombinaten, Betrieben und Einrichtungen wird die bilanzmäßige Einordnung zur Reparatur von Dächern, Schornsteinen, Heizungsanlagen und sanitären Einrichtungen gefordert, die bereits schon über einen längeren Zeitraum beim zuständigen übergeordneten Organ angemeldet sind. Die notwendige, überdurchschnittliche Steigerung des Rationalisierungsmittelbaus zur Erneuerung der materiell-technischen Grundfonds wird in vielen Bereichen der Volkswirtschaft dadurch erschwert und gehemmt, da die vorhandenen Abteilungen des Rationalisierungsmittelbaus in den Kombinaten und Betrieben sich vorrangig mit der laufenden Instandsetzung und -haltung veralteter und verschlissener Maschinen und Anlagen sowie mit der Eigenfertigung nicht lieferbarer Ersatz- und Normteile beschäftigen müssen.
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In einer Vielzahl von Betrieben wird geäußert, dass die erforderlichen Bilanzen und Bereitstellung von Material für den eigenen Rationalisierungsmittelbau nicht in ausreichender Menge zur Verfügung stehen. - Unter anderem wurde kritisiert, dass der Rationalisierungsmittelbau von den übergeordneten Organen wie Ministerium und Fachabteilungen der Räte der Bezirke noch zu sporadisch koordiniert und geleitet wird, z. B. im Bereich Land-, Nahrungsgüter und Forst. - Die Anforderungen an die Rationalisierung zur Erhöhung der Effektivität und Qualität der Betreuungsprozesse im Gesundheitswesen finden über mehrere Jahre im Entwurf des Volkswirtschaftsplanes keine ausreichende Beachtung. - Hemmnisse der Leistungssteigerung werden vor allem durch fehlende Ausrüstungen in allen Bereichen der Volkswirtschaft verursacht. Verschlissene Maschinen, Anlagen und sonstige Ausrüstungen werden nur ungenügend durch neue Ausrüstungen ersetzt u. a. in folgenden Bereichen: Metall Bereitstellung von strukturbestimmenden Maschinen und Anlagen Bau-Holz Ausrüstungen für die Holz- und Kulturwarenindustrie Handel, Nahrung und Genuß Küchenausrüstungen für die Arbeiter-, Schüler- und Kinderspeisung, Ausrüstung für die Getränkeindustrie (200 Abfüllanlagen, d.h. jede zweite im Einsatz befindliche Anlage ist älter als 15 Jahre und ist aus der Ersatzteilversorgung durch das Kombinat NAGEMA ausgeschieden) Örtliche Versorgungswirtschaft Textilreinigung, haus- und stadtwirtschaftliche Dienstleistungen Land, Nahrungsgüter, Forst Fehlende Ausrüstungen in der gesamten Verarbeitungsindustrie insbesondere in der Fleisch-, Milch- und Zuckerindustrie Ein besonderer Schwerpunkt zeichnet sich in Klein- und Mittelbetrieben ab, wo 33 % aller Werktätigen beschäftigt sind und zum überwiegenden Teil mit alten technisch-moralisch verschlissenen Maschinen und Anlagen gearbeitet werden muß. Die arbeitshygienischen Bedingungen dieser Werktätigen liegen weit unter dem Durchschnitt der Republik. Schließungen des VEB Papiererzeugung Steina, des Zellstoffwerkes Heidenau, Sanierung der Kartonfabrik Niederschlema und solche oftmals unzumutbaren Arbeitsbedingungen wie im VEB Isolierstoffe Hermsdorf, VEB Gewürzmühle Gera, VEB Technische Wachse Gera, WtB Quedlinburg sind dafür Beispiele. Von den Werktätigen werden hierzu zentrale staatliche Entscheidungen erwartet, um eine spürbare Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Werktätigen zu erreichen. - Als eine wesentliche Störquelle für einen kontinuierlichen Produktionsablauf erweisen sich in allen Bereichen der Volkswirtschaft zunehmend die Transport- und Lagerprozesse. Ernsthafte Probleme bestehen in der Instandsetzung bzw. Neubeschaffung von Kraftfahrzeugen, Gabelstapler, Gabelhubwagen, Hänger, Spritzgußmaschinen, Holzflachpaletten.
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Die Produktion von Kleinmechanismen, Flurfördergeräten und Umschlagtechnik ist seit 1990 entscheidend zu steigern und eine volle Bedarfsdeckung anzustreben. 1988 waren 45 % der Gabelstapler älter als 10 Jahre und nur bedingt einsetzbar; Drehkrane mit höher verstellbarem Führerstand nur in geringen Stückzahlen vorhanden. Fehlende Ersatzteile und Zulieferungen zum Teil seit mehreren Jahren hemmen die Produktion z. B. im VEB Flanschwerk Bebitz, VEB Wasserversorgung und Abwasserbehandlung Karl-Marx-Stadt und Suhl, VEB Chemiefaserwerk „Friedrich Engels“ Premitz, VEB WEA Woltersdorf. Folgende Positionen werden als materiell-technische Probleme besonders hervorgehoben: Werkzeugmaschinen, Werkzeuge, Walzstahl, Profilstahl, Grauguß, Wickeldraht, Wälzlager, Hydraulik- und Pneumatikpumpen, Pumpenverdichter, Industriegetriebe, Elektromotore, Meß- und Prüfmittel, Klimatechnik, Batterien und Großkocheinrichtungen.
(2) Mängel in der Produktionsorganisation und Leitungstätigkeit - In vielen Kombinaten und Betrieben machte der Verlauf der Plandiskussion deutlich, dass Reserven in der Produktionsorganisation sowie der Leitungstätigkeit weiter erschlossen werden müssen. Dabei geht es vorrangig um den effektiveren Einsatz des betrieblichen Arbeitsvermögens, die rechtzeitige Qualifikation der Werktätigen zur Beherrschung neuer Technologien, die Beherrschung der kontinuierlichen Materialzuführung sowie die Einordnung der vorbeugenden Instandhaltung und Wartung der vorhandenen Technik. Kritiken zur Produktionsorganisation und Leitungstätigkeit wurden unter anderem im Kombinat DEKO, Kombinat Trikotagen, VEB Herrenbekleidung Fortschritt, im Oberbekleidungskombinat Berlin, VEB Schlacht- und Verarbeitungsbetrieb Leipzig, VEB Glaswerk Stralau, VEB Chemiefaserwerk „Friedrich Engels“ Premnitz, VEB BMK Industrie und Hafenbau Neubrandenburg, VEB Harzer Kalk- und Zementwerke Rübeland geäußert. (3) Zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen - Die Erfüllung des Planteils „Arbeits- und Lebensbedingungen“ wird in einigen Kombinaten, Betrieben und Einrichtungen unzureichend verwirklicht. Die in der Plandiskussion unterbreiteten Vorschläge, Hinweise und Kritiken werden nicht mit der erforderlichen Konsequenz beachtet. VEB Deutsches Hydrierwerk Rodleben. Von 22 Maßnahmen im Planteil 7 werden 2 realisiert, VEB Mansfeld-Kombinat, VEB Umformtechnik „Herbert Warnke“ Erfurt. Vorschläge, Hinweise und Kritiken zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen wiederholen sich seit Jahren. - Der Abbau von Arbeitserschwernissen, exponierter Arbeitsplätze, Überschreitung arbeitshygienischer Grenzwerte sowie die Gefahr einer steigenden Tendenz anerkannter Berufskrankheiten wird von Werktätigen kritisiert, u. a. im
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VEB Deutsches Hydrierwerk Rodleben, Kombinat Gasanlagen Frankfurt/O., Energiekombinat Frankfurt/O., Leipzig, Gera, Kombinat Braunkohlenkraftwerke, Braunkohlenkombinat Senftenberg, Gleisbau, Chemische Industrie, Wasserwirtschaft, Nahrungsgüterwirtschaft. Das Tempo beim Abbau von Arbeitserschwernissen muß entscheidend erhöht werden. Im 1. Halbjahr 1989 wurden im Bereich der Industrieministerien zwar für 28.900 Werktätige Arbeitserschwernisse abgebaut, jedoch für 19.600 Werktätige neue Erschwernisse geschaffen, davon 3.600 durch neu gestaltete Arbeitsplätze. Die Untersetzung der Planaufgabe 1990 – Abbau von Arbeitserschwernissen für 109.570 Werktätige – erfordert erhebliche Anstrengungen. So sind z. B. bei der Deutschen Reichsbahn erst 67 % der Zielsetzung untersetzt, vor allem wegen fehlender Bau- und Geräteinvestitionen. Unzumutbare Arbeitsbedingungen, fehlende Produktionssicherheit und Nichteinhaltung der ASAO 5 treten im VEB Braunkohlenveredlung Espenhain sowie Lauchhammer, Schwelerei des VEB Braunkohlenwerk „Erich Weinert“ Deuben, Pharmazeutisches Zentrum Dresden sowie im Groß- und Einzelhandel auf. Fehlende Bilanzen für Küchenausrüstungen erschweren die kontinuierliche und niveauvolle Versorgung der Werktätigen: VEB WAB Rostock, VEB Schmiedewerk „H. Matern“ Roßwein, VEB Wäschekonfektion Lößnitz. Zunehmende Probleme bereitet in vielen Betrieben aufgrund des Lohngefälles zum HO, Konsum bzw. Großbetrieb entsprechender Industriezweige, die Besetzung von Werkküchen mit Köchen und Küchenkräften, z. B. RAW Cottbus, Textilkombinat Cottbus (von 42 nur 25 besetzt). Durch den verstärkten Einsatz von CAD/CAM-Technik wächst die Anzahl der Bildschirmarbeitsplätze beträchtlich. Untersuchungen zeigen, dass nur 18 % der Arbeitsplätze als ergonomisch einwandfrei eingestuft werden können. Schwerpunkt ist dabei nach wie vor das fehlende Mobiliar. Um gesundheitliche Schädigungen zu verhindern, ist eine bedarfsgerechte Produktion 1990 zu realisieren. Gewerkschaftliche Leitungen machen darauf aufmerksam, dass zur weiteren Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen, zu allen Staatplanvorhaben und umfassenden Investitionsmaßnahmen in den Kombinaten und Betrieben gemeinsam durch die staatlichen Leitungen und Betriebsgewerkschaftsleitungen gleichrangige Sozialprojekte zu erarbeiten und zu realisieren sind.
(4) Zur Nutzung des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens Die effektivere Nutzung des vorhandenen gesellschaftlichen Arbeitsvermögens durch volle Auslastung der Arbeitszeit, die Verringerung der materielltechnisch bedingten Warte- und Stillstandszeiten sowie die Senkung des Krankenstandes muß in einigen Bereichen verstärkt gesichert und die Schwedter Initiative konsequenter durchgesetzt werden.
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Besonderer Arbeitskräftemangel zeichnet sich in folgenden Bereichen ab: Gesundheits- und Sozialwesen beim mittleren medizinischen Fachpersonal im stationären Bereich; Nahrungsgüterwirtschaft in der Fleisch- und Milchindustrie; Örtliche Versorgungswirtschaft im Reparatur- und Dienstleistungsbereich; Transport- und Nachrichtenwesen Kraftfahrer, KOM-, Straßenbahn, Stellwerkspersonal und Lokführer; Bau-Holz in der Holz- und Kulturwarenindustrie; Handel, Nahrung und Genuß bei Verkäuferinnen und Umschlagspersonal. VEB Vereinigte Lederwerke Zug, Kreis Freiberg, VEB Hartmetallwerk Immelborn (41 AK fehlen), VEB Baureparaturkombinat Erfurt (bei 90 Planstellen fehlen 16 AK), VEB Schlacht- und Verarbeitungsbetrieb Leipzig -
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In einigen Betrieben führt die Arbeitskräftesituation zu unverhältnismäßig hohem Anteil an Überstunden. Im VEB Getriebewerk Leipzig (Soll 968 und Ist 900 Arbeitskräfte im Jahresdurchschnitt). Die Betriebsgewerkschaftsleitung kritisiert, dass für 1990 bereits 41,1 Th Sonderleistungen (Sonderschichten, Überstunden) in den Plan eingeordnet sind. Die mit dem Minister für Verkehrswesen und dem Sekretariat der IG Transport- und Nachrichtenwesen vereinbarte Höchstgrenze von 400 Überstunden in den Kraft- und Nahverkehrsbetrieben und in Schwerpunktberufsgruppen der Eisenbahn im Jahre 1990 kann wiederum nicht eingehalten werden. In folgenden Betrieben und Bereichen besitzen die Werktätigen nicht die erforderliche Qualifikation: VEB Fleischkombinat Leipzig 72 % der Werktätigen, Allgemeiner Maschinen-, Landmaschinen- und Fahrzeugbau 26.977 Werktätige, Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbau 13.449 Werktätige, Elektrotechnik/Elektronik 48.464 Werktätige u. a. Nicht entsprechend ihrer Qualifikation sind im Bereich Allgemeiner Maschinen-, Landmaschinen- und Fahrzeugbau 9.781 Werktätige, Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbau 5.276 Werktätige und Elektrotechnik/Elektronik 17.739 Werktätige eingesetzt. Bergbau- und Hüttenkombinat Freiberg Hier erfolgte nicht die Zuführung des notwendigen Facharbeiternachwuchses in Verwirklichung des Beschlusses der vorrangigen Entwicklung der Mikroelektronik.
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(5) Zur wirksameren Durchsetzung des sozialistischen Leistungsprinzips (Lohn und Prämie) - Probleme nicht leistungs- und qualifikationsgerechter Differenzierung der Löhne von Meistern und HF-Kadern im Vergleich zu den Produktionsarbeitern treten verstärkt auf. Die Ursachen liegen einerseits in diskontinuierlicher Produktion mit Auswirkung auf die Löhne der Arbeiter und im Normenniveau, andererseits in der unterschiedlichen Besteuerung der Arbeiterlöhne (5 %) und der Monatslöhne (bis 20 %). Vorschlag: breitere Anwendung von Lohnbestandteilen, die auf Planübererfüllung bzw. höhere Produktivität gerichtet sind, differenziert für Produktionsarbeiter und Meister; Lösungen für eine Steuerveränderung langfristig vorbereiten; wirksamere Stimulierung wissenschaftlich-technischer Leistungen von HF-Kadern. -
Löhne in Einrichtungen der Dienstleistungen (außer Fernseh-, Uhrenreparatur u. a.) sind nicht mit den Anforderungen mitgewachsen (Löhne der Frauen in Wäschereien z. B.) Vorschlag: Mit schrittweiser Weiterführung der Produktivlöhne nach 1991 Lohnentwicklung verbessern.
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Konzentrierte Kritik wird am Stagnieren der Jahresendprämie seit 1982 trotz steigender Leistungen in der Mehrzahl der Betriebe geübt. Spielraum für die Differenzierung nach der Leistung ist stark eingeschränkt. Vorschlag: Schrittweise Anwendung von Kombinatsprämienfonds bei Kombinaten mit umfassender Eigenerwirtschaftung; ab 1991 wieder Wachstum der Prämienfonds im gleichen Verhältnis wie der Lohnfonds; neue Verordnung, die Eigenerwirtschaftsanforderungen entspricht, vorbereiten.
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Löhne der Beschäftigten im Handel, vor allem in kleineren Verkaufseinrichtungen, entsprechen nicht mehr Arbeitsleistungen und Dauer der Arbeitszeit. Vorschlag: Lösung mit Weiterführung der Produktivlöhne, möglichst Anfang der 90er Jahre.
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5. Bürgerrechtsbewegung, Zusammenbruch der DDR, Fluchtbewegung, Öffnen des Eisernen Vorhangs, Volksaufstände, Fall der Berliner Mauer und Öffnen der innerdeutschen Grenze 5.1. Bürgerrechtsbewegung Von Rainer Eppelmann und Gerd Poppe Während in Ost- und Ostmitteleuropa im Zusammenhang mit dem HelsinkiProzeß der 70er Jahre bereits eine ganze Reihe von Bürgerrechtsgruppen entstand, entwickelte sich eine öffentlich wahrnehmbare Bürgerrechtsbewegung in der DDR erst im Laufe der 80er Jahre. Als ihre Vorläufer sind einige Gruppen der unabhängigen Friedensbewegung138 anzusehen. In den Jahren 1983/84 – nach den Beschlüssen über die Stationierung von Mittelstreckenraketen – ist eine deutliche Akzentverschiebung hinsichtlich der thematischen Ausrichtung verschiedener Gruppen feststellbar. Einerseits wendeten sie sich den ökologischen Problemen zu, andererseits diskutierten sie innerhalb und außerhalb der Evangelischen Kirche verstärkt über Demokratisierung und die Durchsetzung elementarer Menschenund Bürgerrechte. Nachdem ein für den Herbst 1985 in Berlin vorbereitetes Menschenrechtsseminar auf Betrieben von SED und MfS, deren „Empfehlung“ sich das Konsistorium der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg angeschlossen hatte, verhindert worden war, beschloß der Vorbereitungskreis, die Arbeit fortzusetzen. So entstand mit der „Initiative Frieden und Menschenrechte“ Anfang 1986 die erste kontinuierlich arbeitende Bürgerrechtsgruppe in der DDR (Gründungsmitglieder waren u. a. Lotte und Wolfgang Templin, Ralf Hirsch, Peter Grimm, Bärbel Bohley, Werner Fischer, Martin Böttger, Ulrike und Gerd Poppe). Die Gruppe orientierte sich in Zielsetzung und Arbeitsweise am Vorbild der tschechoslowakischen Charta 77, ohne allerdings eine vergleichbare Wirkung zu erzielen, da sich – anders als in Polen, Ungarn und der ČSSR – prominente Intellektuelle, Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler von den oppositionellen Gruppen fernhielten. Die Initiative verstand sich als kirchenunabhängig, arbeitete jedoch mit einigen Pfarrern und Vertretern christlicher Friedenskreise eng zusammen (u. a. Hans-Jochen Tschiche, Rainer Eppelmann, Markus Meckel, Martin Gutzeit, Rudi Pahnke, Heiko Lietz, Edelbert Richter, Christoph Wonneberger, Martin König, Bernd Albani), punktuell auch mit eher linksgerichteten, auf sozialistische Reformen orientierten Gruppen innerhalb und außerhalb der Kirche, wie der Berliner Umweltbibliothek (u. a. Wolfgang Rüddenklau, Carlo Jordan), der „Kirche von unten“ und der
138 Poppe, Gerd: Friedensbewegung, in: Eppelmann, Rainer / Möller, Horst / Nooke, Günter / Wilms, Dorothee (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus. Das Staats- und Gesellschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik, Bd. 1: A-M, 2. Aufl., 1997, S. 288-291.
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Gruppe „Gegenstimmen“ (u. a. Reinhart Schult, Vera Wollenberger, Thomas Klein), die sich ebenfalls Demokratie- und Menschenrechtsthemen widmeten.139 Die Bürgerrechtsbewegung blieb nicht auf Berlin beschränkt. Beispielsweise entstanden im Leipziger Kreis um Pfarrer Wonneberger ab 1987 vergleichbare Gruppierungen, die später die bekannten Montagsdemonstrationen des Herbstes 1989 organisierten (Zusammenbruch der DDR). Zu den jährlich in verschiedenen Städten unter dem Titel „Frieden konkret“ stattfindenden Arbeitstreffen kamen Gruppen aus der ganzen DDR zusammen, die immer häufiger die Demokratisierung und die Durchsetzung elementarer Grundrechte forderten. Ein besonders wichtiges Anliegen war die DDR-weite Vernetzung der Gruppen, die lange Jahre angestrebt wurde, aber erst 1989 Gestalt annahm, wobei sie auch zu diesem Zeitpunkt nicht zu einer geschlossen agierenden demokratischen Opposition führte, sondern nur zu mehreren sich parallel zueinander entwickelnden Bürgerbewegungen und Parteien. Große Übereinstimmung bestand im Anspruch, öffentlich zu reden und zu handeln, was den Repressionsapparat von SED und MfS in besonderem Maße herausforderte. Seit 1986 entstanden – in Anlehnung an vergleichbare Publikationen in Polen, der ČSSR und Ungarn – mit technisch unzulänglichen Mitteln hergestellte – Samisdat-Schriften wie „Grenzfall“ (Redaktion: Peter Grimm, Reinhard Weißhuhn) und „Umweltblätter (Redaktion Wolfgang Rüddenklau). Sie wurden monatlich in Auflagen von etwa 1.000 Exemplaren hergestellt und in der ganzen DDR verteilt. Um die Vernetzung der Gruppen zu erreichen, war solche Öffentlichkeitsarbeit eine unverzichtbare Voraussetzung. Wichtiger noch als die Übernahme bestimmter Methoden und Techniken war für die sich in der DDR formierende Bürgerrechtsbewegung die Beeinflussung durch die von den ostmitteleuropäischen Dissidenten (z. B. Václav Havel, Adam Michnik, György Konrad) geführte Debatte, die sich durch eine zunehmende Abkehr von den „großen Utopien“, verbunden mit einem – eher pragmatischen – öffentlichen Eintreten für die Menschenrechte, dem „Versuch, in der Wahrheit zu leben“ (Havel), auszeichnete. Wie schon die frühen Versuche von Teilen der Friedensbewegung waren auch die Aktivitäten der entstehenden DDR-Bürgerrechtsbewegung von einem blockübergreifenden, grenzüberschreitenden Anspruch geprägt. Immer wieder gab es Solidaritätsbekundungen im Falle von Verhaftungen polnischer, tschechischer oder russischer Dissidenten oder für die Opfer des rumänischen Diktators Ceauşescu. Andererseits hätten die Bürgerrechtsgruppen wohl kaum Bestand gehabt, hätten sie nicht immer wieder Unterstützung erfahren – von ostmitteleuropäischen Oppositionellen ebenso wie von westeuropäischen und –deutschen Friedens- und Menschenrechtsaktivisten, Journalisten, Diplomaten, Politikern (z. B. Petra Kelly,
139 Hirsch, Ralf / Kopelew, Lew (Hrsg.): Grenzfall, Berlin (Nachdruck) 1989. Möglichkeiten und Formen abweichenden und widerständigen Handelns, in: Materialien der Enquete-Kommission, Bd. VII, 1 und 2. Bericht der Enquete-Kommission, Bd. I.
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Gert Weisskirchen, Stefan Schwarz) sowie von ausgebürgerten DDR-Oppositionellen (z. B. Roland Jahn, Jürgen Fuchs). Nach dem offiziellen Honecker-Besuch in Bonn im Herbst 1987, durch den sich das SED-Regime aufgewertet fühlte, unternahm es – ähnlich wie in den Jahren 1983/84 – noch einmal den Versuch, seine unbequemsten Gegner zu inhaftieren oder in den Westen abzuschieben. Am 25. November 1987 durchsuchten MfSAngehörige die Berliner Umweltbibliothek, beschlagnahmten Druckmaschinen und Publikationen und verhafteten mehrere Mitglieder der Gruppe. Nachdem am Rande der offiziellen Liebknecht-Luxemburg-Demonstration am 17. Januar 1988 eine größere Gruppe von Ausreisewilligen und einige Bürgerrechtler mit eigenen Transparenten demonstrierten, wurden mehr als 100 Personen verhaftet, schließlich am 25. Januar mehrere der aktivsten Mitglieder der „Initiative Frieden und Menschenrechte“, nach massiver „Bearbeitung“ durch das MfS zur (z. T. zeitweiligen) Ausreise in den Westen genötigt. Die Zunahme der Repression führte zu einer starken Solidarisierung innerhalb und außerhalb der DDR. Neue Protestformen wie Mahnwachen (November 1987) und Fürbittgottesdienste mit Tausenden von Teilnehmern in mehr als 25 Städten der DDR (Januar 1988) waren die Folge. Ähnliche Protestaktionen gab es auch nach zwei Verhaftungswellen in Leipzig (1988 und 1989). Neben den mehr oder weniger erfolgreichen Vernetzungsversuchen und überregionalen Zusammenschlüssen von Gruppen (z. B. Frieden konkret, Solidarische Kirche, Kirche von unten, Ökologisches Netzwerk Arche, Umweltbibliotheken, mobile Friedensseminare, Wehrdienstverweigerer), waren es vor allem die DDR-weiten Solidaritätskampagnen, welche die Voraussetzungen für die Neugründungen von Bürgerbewegungen und Parteien schufen, die im Herbst 1989 zum Kristallisationskeim der friedlichen Revolution wurden. Im März 1989 rief die „Initiative Frieden und Menschenrechte“ zur DDRweiten Vernetzung auf, doch ihrem Versuch war nur mäßiger Erfolg beschieden. In den darauffolgenden Monaten wurde der desolate Zustand, die völlige Reformunfähigkeit der DDR-Führung immer offenkundiger. Die durch Bürgerrechtsgruppen nachgewiesenen Wahlfälschungen durch das SED-Regime sorgten für zusätzliche Verbitterung. Das seitens der SED-Führung für das Massaker vom Pekinger Tiananmen-Platz geäußerte Verständnis ließ eine „chinesische Lösung“ auch in der DDR befürchten. Die Ausreisewelle nahm sprunghaft zu. Immer mehr Menschen kamen zu den montäglichen Leipziger Friedensgebeten und Demonstrationen, auch die monatlichen Protestaktionen auf dem Berliner Alexanderplatz erhielten immer mehr Zulauf. Die Unzufriedenheit der DDR-Bürger hatte ein solches Ausmaß erreicht, daß den monatelang vorbereiteten Neugründungen von Bürgerbewegungen und Parteien auf Anhieb größerer Erfolg beschert war als allen vorherigen Versuchen. Die seit ca. fünf Jahren angestrebte Formierung einer Bürgerrechtsbewegung wurde mit der Bildung von vier neuen Gruppierungen abgeschlossen: Das „Neue Forum“ (NF, u. a. Bärbel Bohley, Reinhard Schult, Hans-Jochen Tschiche, Heiko Lietz, Martin Böttger, Katja Havemann, Rolf Henrich) veröffentlichte nach seiner Gründungsversammlung am 9. September 1989 einen Aufruf,
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der zur Demokratisierung und zum innergesellschaftlichen Dialog aufrief und der innerhalb kürzester Zeit von etwa 200.000 Bürgerinnen und Bürgern unterschrieben wurde. Der Aufruf der „Bürgerbewegung Demokratie Jetzt“ (DJ) vom 12. September (u. a. Wolfgang Ullmann, Hans-Jürgen Fischbeck, Stephan Bickhardt, Konrad Weiß, Ludwig Mehlhorn, Ulrike Poppe, Martin König, Gerhard Weigt), die aus der Gruppe „Absage an Prinzip und Praxis der Abgrenzung“ hervorgegangen war, stellte das Ziel demokratischer Wahlen in den Vordergrund. Die „Initiativgruppe zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei“ (SPD) hatte ihre programmatischen Vorstellungen schon im August 1989 bekanntgemacht. Am 7. Oktober 1989, ausgerechnet am 40. Jahrestag der DDR, wurde die SPD in Schwante/Brandenburg gegründet (u. a. Markus Meckel, Martin Gutzeit, Angelika Barbe, Stephan Hilsberg, Manfred „Ibrahim“ Böhme). Der „Demokratische Aufbruch“ (DA) schließlich, der – nach dem vergeblichen Versuch des Zusammenschlusses der verschiedenen Bürgerbewegungen – ebenfalls das Ziel einer schnellen Parteigründung anstrebte, veröffentlichte seine ersten programmatischen Vorstellungen Mitte September 1989 und gründete sich am 1. Oktober 1989 (u. a. mit Rainer Eppelmann, Ehrhart Neubert, Günter Nooke, Rudi Pahnke, Edelbert Richter, Thomas Welz, Wolfgang Schnur). Währenddessen gingen in Leipzig Hunderttausende auf die Straße und brachten durch ihr furchtloses Verhalten das SED-Regime endgültig an das Ende seiner illegitimen Macht. Der Versuch, die größte Demonstration der DDR-Geschichte (mehr als eine halbe Million Menschen zog es am 4. November 1989 spontan zum Alexanderplatz) durch eine fragwürdige Zusammensetzung der Rednerliste zu manipulieren, blieb erfolglos. Die alten und neuen Verbrechen von SED und MfS waren hinreichend bekannt, nicht zuletzt durch die von der Bürgerrechtsbewegung zusammengetragenen Fakten (z. B. die von Marianne Birthler und Werner Fischer herausgegebene Dokumentation über die gewaltsamen Übergriffe vom 6./7. Oktober 1989). Das von der SED zum Verstummen gebrachte Volk hatte seine eigene Sprache wiedergefunden und legte keinen Wert mehr auf die Ansprachen von SED-Spitzenfunktionären und Stasi-Generälen. Die von manchen Autoren geäußerte Vermutung, die Bürgerrechtsbewegung der DDR hätte ausschließlich einen verbesserten Sozialismus, den sogenannten „Dritten Weg“ im Sinn gehabt, ist unzutreffend. Zwar kam der SozialismusBegriff in manchen Erklärungen der Bürgerbewegungen und neuen Parteien noch vor, entscheidend waren jedoch die immer wieder formulierten Forderungen nach Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Demokratie. Vorstellungen eines neuen, besseren Sozialismus wurden eher von Vertretern einiger später gegründeter Gruppierungen wiederbelebt (Vereinigte Linke, Unabhängiger Frauenverband, Teile der Grünen Partei). Die Formierung einer an demokratischen Werten orientierten Bürgerrechtsbewegung konnte auch nicht dadurch verhindert werden, daß es dem MfS gelang, eine Reihe von Inoffiziellen Mitarbeitern in allen neuen Gruppierungen zu etablieren, z. B. Manfred „Ibrahim“ Böhme und Wolfgang Schnur.
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Richtig ist allerdings, daß das Thema der deutschen Einheit von den Bürgerrechtsgruppen vernachlässigt und erst nach der Maueröffnung vom 9. November 1989 behandelt wurde. Daß sie die Dynamik der Entwicklung nicht hinreichend voraussehen konnten, unterscheidet sie nicht von der Mehrheit der Bevölkerung. Es gelang den neuen Gruppierungen trotz zahlreicher Versuche nur selten, u. a. mit der Formulierung eines „Wahlbündnisses ‚90“ (Wolfgang Ullmann) am 4. Oktober 1989, sich auf ein gemeinsames Vorgehen der Opposition zu einigen. Der nach der Reduzierung des äußeren Drucks verstärkte Differenzierungsprozeß war notwendig. Immerhin erreichten sie es aufgrund ihrer Vielfalt, mit neun Oppositionsgruppen am Runden Tisch zu sitzen und damit die politischen Entscheidungen jener Übergangszeit maßgeblich zu beeinflussen. Als es jedoch am 18. März 1990 um die Etablierung der parlamentarischen Demokratie ging, hatte die Bürgerrechtsbewegung aufgrund organisatorischer Schwächen und der unzureichenden Behandlung der Deutschen Frage den aus der Bundesrepublik massiv unterstützten Parteien nicht viel entgegenzusetzen und ihre Wahlergebnisse blieben weit hinter den Erwartungen zurück.140
140 In: Lexikon des DDR-Sozialismus, Bd. 1, S. 186-191.
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5.2. Zusammenbruch der DDR und deutsche Einheit Von Rainer Eppelmann und Manfred Speck Der Weg in den Zusammenbruch: Der finalen Krise der DDR, die mit der Öffnung des Eisernen Vorhangs an der ungarisch-österreichischen Grenze begann und in die Wiederherstellung der deutschen Einheit einmündete, ging eine Reihe von Entwicklungen voraus, deren krisenhaftes Potential zunächst unterschätzt wurde, teils weil das Ausmaß der Probleme nur wenigen erkennbar war, teils auch, weil chronische Schwierigkeiten zu dem gewohnten Bild gehörten und, aus der Sicht der SED Führung, auch in den 80er Jahren als beherrschbar galten. Ein Schlaglicht voraus warfen die Ereignisse in Polen. Die Wahl eines polnischen Papstes mit den entsprechenden Rückwirkungen in der polnischen Öffentlichkeit, die Gründung und schließliche Anerkennung einer unabhängigen Gewerkschaft deuteten die künftige Entwicklung an. Selbst die Verhängung des Kriegsrechtes erwies sich als zwiespältiges Signal, denn in der Folgezeit wurde deutlich, daß die oppositionelle Bewegung in Polen auch durch Gewaltmaßnahmen nicht mehr zu zerschlagen war. Zudem zeigte sich, daß die Sowjetunion ein unmittelbares Eingreifen in Polen, mit dem sie auch die Verantwortung für die innenpolitische und wirtschaftliche Stabilisierung des Landes übernommen hätte, zu vermeiden suchte. Daß die wirtschaftliche Situation nicht nur in den Bündnisstaaten, sondern auch in der Sowjetunion selbst die Handlungsmöglichkeiten einzuengen begann, deutete sich im Herbst 1981 an, als die Sowjetunion das Kontingent der Erdöllieferungen an die DDR zu dem durch den RGW-Preisbildungsmechanismus begünstigten Preis reduzierte (Außenwirtschaft).141 Diese Maßnahme verschärfte die bereits wirtschaftlich äußerst schwierige Situation der DDR. Sie belastete neben dem Energiehaushalt auch die angespannte Außenhandels- und Zahlungsbilanz der DDR. Die Westverschuldung war 1980 auf ca. 25 Mrd. VM (Valutamark, entsprechend DM) gestiegen und wuchs in den Folgejahren weiter an (Finanzierung des Systems).142 Das Ausmaß des wirtschaftlichen Niedergangs wurde von den zuständigen führenden SED-Funktionären systematisch verschleiert; über die wirtschaftliche Lage gab es in West und Ost zahlreiche Illusionen bis hinein in die SED-Führung. Erst die von Planungschef Gerhard Schürer am 31. Oktober 1989 dem Politbüro vorgelegte „Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlußfolgerungen“ machte intern die Situation deutlich. Die Notwendigkeit westlicher Valuta-Einkünfte beeinflußte in den 80er Jahren auch die Deutschlandpolitik der SED immer stärker und nötigte sie, abweichend
141 Haendcke-Hoppe-Arndt, Maria: Außenwirtschaft, in: Eppelmann, Rainer / Möller, Horst / Nooke, Günter / Wilms, Dorothee (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus, 2. Aufl., Bd. 1, 1997, S. 110-116. 142 Wentzel, Dirk: Finanzierung des Systems, S. 263-268.
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von ihrer Abgrenzungspolitik (SED und deutsche Frage,143 Deutschlandpolitik)144 bundesdeutschen Wünschen nach menschlichen Erleichterungen, insbesondere nach Verbesserung der Reisemöglichkeiten und Verdichtung der innerdeutschen Kontakte, entgegenzukommen, auch wenn daraus aus ihrer Sicht negative Rückwirkungen für die innere Stabilität der DDR resultieren konnten. Die entscheidende Voraussetzung für den Zusammenbruch war die Politik von Glasnost, Perestroika und Neuem Denken in der Außenpolitik, mit der Gorbatschow seit 1985 versuchte, die gesellschaftliche Stagnation und insbesondere die wirtschaftliche Krise des sozialistischen Systems in der Sowjetunion zu überwinden (Sowjetunion und SBZ / DDR).145 Aus Aussagen von Zeitzeugen (z. B. W. Daschitschew vor der Enquete-Kommission, 28. Oktober 1993) geht hervor, daß bei dieser Neueinschätzung der Kosten-Nutzen-Relation der sowjetischen Westpolitik die Überspannung der wirtschaftlichen Kräfte der Sowjetunion durch ihre Militärausgaben (Mittelstreckenrüstung, Afghanistan) eine wesentliche Rolle gespielt hat. Der 1985 begonnene Reformversuch in der Sowjetunion ermutigte auch in den verbündeten Staaten einschließlich der DDR Reformtendenzen innerhalb der kommunistischen Parteien und oppositionelle Kräfte und Bewegungen; gleichzeitig wuchs in der Öffentlichkeit der Erwartungsdruck in Richtung auf eine effektive Reformpolitik. Entscheidend war, daß die sowjetische Führung unter Gorbatschow seit Ende 1987 die Breschnew-Doktrin widerrief und ihren Verbündeten „Wahlfreiheit“ zubilligte. Bis 1989 blieb allerdings ungewiß, ob diese Freiheit der Wahl des eigenen Weges nur innerhalb des sozialistischen Systems galt oder auch die Möglichkeit einschloß, den Weg aus der sozialistischen Gesellschaft und dem Bündnis mit der Sowjetunion hinaus einzuschlagen, und insbesondere, ob diese weitestmögliche Auslegung gegebenenfalls auch für den sowjetisch kontrollierten Teil Deutschlands, die DDR, gelten würde. Immerhin ging die Sowjetunion so weit, daß sie auf der Wiener KSZE-Nachfolgekonferenz gegen den Widerstand der DDR und Rumäniens im Januar 1989 einem Schlußdokument zustimmte, das weitgehende östliche Zugeständnisse im Bereich der Menschenrechte und der menschlichen Kontakte enthielt und auch damit den Erwartungsdruck auf die DDR-Führung erhöhte. Diese auswärtigen Faktoren begünstigten zugleich die seit Ende der 70er Jahre neu herangewachsene innere Opposition (Widerstand),146 die in einer ständig zunehmenden Zahl von Gruppen Gestalt gewann. Hier wurden die konspirativen Strukturen der SED-Herrschaft (Verweigerung von Öffentlichkeit und öffentlicher Diskussion) aufgebrochen und politisch-moralisch delegitimiert. Die unabhängigen
143 Friedrich, Wolfgang-Uwe: SED und deutsche Frage, ebd., Bd. 2, S. 686-696. 144 Wilms, Dorothee: Deutschlandpolitik, Bd. 1, S. 213-224. 145 Wettig, Gerhard: Sowjetunion und SBZ/DDR, Bd. 2, S. 711-720. 146 Neubert, Ehrhard / Fricke, Karl Wilhelm: Widerstand, Opposition und Verweigerung, S. 937946.
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Gruppen, zunächst nur innerhalb und ab Mitte der 80er Jahre auch zunehmend außerhalb der Evangelischen Kirchen,147 wichtige Persönlichkeiten innerhalb des BEK in der DDR selbst, aber auch in der katholischen Kirche sowie zahlreiche Künstler schufen eine kritische Gegenöffentlichkeit, die auch durch die Staatssicherheit nicht mehr zurückgedrängt werden konnte und über die westlichen Massenmedien auch in die DDR hineinwirkte. Oppositionelle Aktivitäten verdichteten sich seit dem Jahresbeginn 1988, insbesondere die Luxemburg-Liebknecht-Demonstration am 12. Januar 1988. Die Gegenmaßnahmen des Staates zeigten die wachsende Unsicherheit der SED-Führung (Widerstand148; Bürgerrechtsbewegung).149 Das Verbot der sowjetischen Zeitschrift „Sputnik“ am 19. November 1988, die mit 180.000 Exemplaren in der DDR vertrieben wurde, und verschiedener sowjetischer Filme, die durch Glasnost und Perestroika geprägt waren, machte die Spannungen zwischen der SED und der sowjetischen Führungsmacht auch einer breiten Öffentlichkeit sichtbar. Im März 1989 wandte sich das PEN-Zentrum der DDR einstimmig gegen die Verfolgung des tschechischen Schriftstellers Václav Havel. Im April rief die Ökumenische Versammlung150 in Dresden zu einer Umgestaltung des Sozialismus auf. Die Wahlfälschungen bei den Kommunalwahlen im Mai und die Zustimmung der SED-Führung zu dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking im Juni 1989 lösten Proteste bis weit in die SED selbst aus. Die Phasen des Zusammenbruchs: Der Zusammenbruch der DDR vollzog sich in drei Abschnitten. Der erste reichte von der Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze bis zum Fall der Berliner Mauer, der zweite vom 9. November 1989 bis zur freien Volkskammerwahl am 18. März 1990, der dritte bis zum 3. Oktober 1990. Die zunächst am deutlichsten sichtbare Absage an den SED-Staat vollzogen die in den 80er Jahren wachsende Fluchtbewegung151 und Ausreise152. Der Druck nahm zu, seit Ungarn im Mai 1989 begonnen hatte, die Grenzsperranlagen abzubauen, auch wenn die Grenze vorläufig noch geschlossen blieb und militärisch bewacht wurde. Während der Sommerferien sammelten sich Tausende von Ausreisewilligen in Ungarn, in den bundesdeutschen Botschaften in Prag und in Warschau sowie in der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin. In Ungarn war bereits ein weitreichender systemändernder Reformprozeß im Gange: Das Land, mit 17 Mrd. Dollar im Westen verschuldet, war auf die Zusammenarbeit mit dem Westen angewiesen; die kommunistische Führung war seit Anfang 1989 dabei, die führende Rolle der
147 Maser, Peter: Kirchen und Kirchenpolitik, S. 446-455. 148 Neubert, Ehrhart / Fricke, Karl Wilhelm: Widerstand, Opposition und Verweigerung, S. 937946. 149 Eppelmann, Rainer / Poppe, Gerd: Bürgerrechtsbewegung, Bd. 1, S. 186-191. 150 Maser, Peter: Ökumenische Versammlung, Bd. 2, S. 601-602. 151 Eisenfeld, Bernd: Fluchtbewegung, Bd. 1, S. 268-271. 152 Fricke, Karl Wilhelm: Ausreise, S. 97-100.
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Kommunistischen Partei zurückzunehmen und mit der Einführung eines Mehrparteiensystems den Weg zur Demokratie einzuschlagen. Am 25. August 1989 fand in Bonn eine Unterredung von Ministerpräsident Nemeth und Außenminister Horn mit Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher statt. Am 26. August setzte die ungarische Führung das Reiseabkommen mit der DDR, das sie zur Zurückweisung ausreisewilliger DDR-Einwohner nötigte, außer Kraft; am 10. September 1989 öffnete sie die Grenze nach Österreich und ermöglichte damit die Flucht von Tausenden DDR-Einwohnern. Am 30. September konnten Außenminister Genscher und Kanzleramtsminister Seiters den Flüchtlingen auf dem Prager Botschaftsgelände der Bundesrepublik mitteilen, daß die DDR-Führung ihrer Ausreise zugestimmt hatte; an den Folgetagen rollten Sonderzüge von Prag und Warschau durch die DDR in die Bundesrepublik. Ihre Durchfahrt löste, besonders in Dresden, heftige Demonstrationen gegen das Regime und Auseinandersetzungen mit der Polizei aus. Gleichzeitig verstärkten sich die Aktionen der Oppositionsbewegung, obwohl es der Staatssicherheit gelungen war, die Gruppen bis in ihre Führungsebenen hinein zu durchsetzen. Seit dem 2. Oktober wurden die Mahnwachen in der Ost-Berliner Gethsemanekirche gehalten. In der ganzen DDR erhoben die Menschen in Friedensgebeten und bei Kirchenkonzerten die Forderung „Keine Gewalt!“ Von Mitte September bis Anfang Oktober 1989 wurden zahlreiche neue oppositionelle Gruppen offiziell begründet (Bürgerrechtsbewegung;153 SPD).154 In den bisherigen Blockparteien wurden Umgestaltungen von der Basis her eingeleitet. Die gespenstisch anmutenden Feiern zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober lösten eine Welle von Massendemonstrationen in der ganzen DDR aus („Wir sind das Volk!“). Am 9. Oktober mahnten Generalmusikdirektor Kurt Masur u. a. öffentlich in Leipzig zu Besonnenheit und friedlichem Dialog. 70.000 Menschen demonstrierten an diesem Tag in der Messestadt für demokratische Reformen, ohne daß die von den Sicherheitskräften vorbereitete gewaltsame Niederschlagung tatsächlich exekutiert wurde. Bei den Verantwortlichen dürfte die Erkenntnis mitgewirkt haben, daß für Gewaltmaßnahmen sowjetische Unterstützung nicht mehr zu erwarten war. An der Leipziger Montagsdemonstration am 16. Oktober beteiligten sich 120.000 Menschen. Am 23. Oktober waren es bereits 300.000, gleichzeitig gab es große Demonstrationen in Dresden, Halle, Magdeburg, Plauen, Ost-Berlin und vielen anderen Städten. Die größte Demonstration „für Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit“, zu der Berliner Künstler aufgerufen hatten, fand am 4. November mit fast einer Mio. Teilnehmern auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz statt. Die Demonstranten forderten: „Das Volk sind wir – gehen sollt ihr“, „Stasi in die Produktion“ und „Stalinismus – Nein danke“. Die SED und ihr nahestehende Intellektuelle versuchten, diese Demonstration als Manifestation für eine SED-geführte gebremste Reformpolitik zu gestalten, doch dieser Versuch fand bei den Demonstranten keine Zustimmung.
153 Eppelmann, Rainer / Poppe, Gerd: Bürgerrechtsbewegung, S. 186-191. 154 Sattler, Friederike: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), Bd. 2, S. 720-726.
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Unter dem Druck der anhaltenden Massendemonstrationen vollzog sich der Sturz der SED-Diktatur innerhalb weniger Wochen. Am 18. Oktober trat Honecker zurück und machte seinen Platz für Egon Krenz frei. Der am 6. November veröffentlichte Entwurf eines Reisegesetzes, das wegen seiner einschränkenden Unbestimmtheit als Ansatzpunkt für neue staatliche Willkür verstanden wurde, wirkte eher destabilisierend. Am 7. November trat der DDR-Ministerrat unter Willi Stoph geschlossen zurück. Einen Tag später folgte ihm das gesamte Politbüro des ZK der SED. Die ökonomische Bilanz, die der neue SED-Generalsekretär Ende Oktober von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Planungschef Schürer erstellen ließ, erbrachte die Erkenntnis einer nicht mehr beherrschbaren Westverschuldung und die Empfehlung führender Wirtschaftsfachleute, notfalls in Verhandlungen mit der Bundesrepublik das bestehende Grenzregime, einschließlich der Mauer, als Gegenleistung gegen hohe Kredite zur Disposition zu stellen. Eine Sondierung der neuen DDR-Führung, ob die Bundesregierung zur kurz- und mittelfristigen Gewährung von Krediten in Höhe mehrerer Mrd. DM bereit sei, wurde am 7. und 8. November mit der Forderung nach Preisgabe der führenden Rolle der Partei, Zulassung von Oppositionsgruppen und Anberaumung freier Wahlen beantwortet. Die DDR-Führung geriet damit in den Zangendruck zwischen Demonstranten und Bundesregierung, die deren Forderungen aufgriff und politisch umsetzte. Der Versuch der SED, die Reisen und ständigen Ausreisen aus der DDR durch eine neue Verordnung zu regeln, führte in einer Kombination aus Handlungswillen, Unaufmerksamkeit und Desorganisation zu der Presseerklärung von Politbüromitglied Schabowski am 9. November 1989, die von den Menschen in Ost-Berlin und in der DDR als sofortige Öffnung der Mauer verstanden und in diesem Sinne durchgesetzt wurde. Damit entfiel eine der entscheidenden Herrschaftsgrundlagen der SED. Die zweite Phase des Zusammenbruchs – von der Öffnung der innerdeutschen Grenze bis zur Volkskammerwahl am 18. März 1990 – war gekennzeichnet von einem rapiden und durchgreifenden Machtverfall der SED und der von ihr getragenen Regierungsorgane. Während Millionen von Besuchern die endlich eröffnete Möglichkeit nutzten, den Westteil Berlins und die Bundesrepublik selbst kennenzulernen, nahmen die Massendemonstrationen gegen das SED-Regime unvermindert ihren Fortgang, ebenso der Ausreise- und Flüchtlingsstrom, jetzt über die innerdeutschen und innerberliner Grenzen. Die entscheidende und immer dringlicher werdende Aufgabe war es, den Menschen eine positive, von ihnen selbst bejahte politische Perspektive zu eröffnen. Die am 13. November 1989 unter Hans Modrow gebildete neue DDR-Regierung war hierzu nicht in der Lage. Ihre Politik zielte darauf, den von der Bevölkerung ausgehenden Druck durch minimale Konzessionen und durch Ablenkung des revolutionären Impulses in folgenlose Diskussionen aufzufangen und so die SEDHerrschaft über die kritische Phase hinweg zu retten und zu restaurieren. Symptomatisch für diese Politik war der Versuch, das MfS in der abgewandelten Gestalt
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eines Amtes für Nationale Sicherheit am Leben zu erhalten. Es gehört zu den Verdiensten des Zentralen Runden Tisches155 in Berlin, diesen Versuch der Regierung Modrow abgewehrt zu haben. Die Bevölkerung erfuhr erst jetzt, in welchem Umfang die führende Partei die Gesellschaft mit Hilfe des MfS durchsetzt, gelenkt und kontrolliert hatte. Der SED, deren ZK und neues Politbüro Anfang Dezember zurücktraten, gelang es nicht mehr, durch eine in zwei Schritten (Dezember 1989 / Januar 1990) vollzogene Umbenennung die Wahl einer neuen Parteiführung, das Aufgreifen einiger Reformforderungen und durch die aufgefrischte Selbstpräsentation als „antifaschistische“ Kraft Vertrauen in der Bevölkerung zu gewinnen. Die entscheidende Wendung, die die Ereignisse in dieser zweiten Phase nahmen, bestand darin, daß bald nach der Maueröffnung die Forderung nach Wiedervereinigung Deutschlands laut wurde und in der Folgezeit mehr und mehr in den Mittelpunkt trat. Die Rufe „Wir sind ein Volk“ und „Deutschland einig Vaterland“ beherrschten mehr und mehr das Bild der Massendemonstrationen. Die Transformation der SED-Diktatur vollzog sich in dem keineswegs spannungsfreien Beziehungsgeflecht von Volkskammer, Regierung Modrow, dem Zentralen Runden Tisch, an dem alle relevanten politischen und gesellschaftlichen Gruppen beteiligt waren, und zahllosen Bürgerforen und Dialogveranstaltungen in der ganzen DDR. Grundsätzlich war die Frage zu lösen, ob man einen radikalen Bruch mit dem Sozialismus erreichen wollte oder eine Reform des SED-Sozialismus. Der „Aufruf für eine eigenständige DDR“ vom 26. November 1989, der neben altbewährten SED- und MfS-Kadern auch von zahlreichen Bürgerrechtlern, Künstlern und Kirchenvertretern unterzeichnet wurde, skizzierte noch die Perspektive, die DDR als „eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln“. Solche Konzeptionen eines „Dritten Weges“ basierten auf einem Bild von der Bundesrepublik, das unübersehbare Ähnlichkeiten mit dem der SED-Propagandisten hatte, und setzten die Perspektive eines „verbesserlichen Sozialismus“ fort, die auch bei jenen Rückhalt fand, die die Verhältnisse im SED-Staat ablehnten. Die Vorverlegung der Volkskammerwahlen auf den 18. März 1990 und die Wiederholung der Kommunalwahlen am 6. Mai 1990, denen der Runde Tisch und die Volkskammer Ende Januar 1990 zustimmten, beschleunigten die Entwicklung. Um angesichts des rapiden Ansehensverfalls des Kabinetts Modrow den inneren Reformprozeß bis zu den freien Volkskammerwahlen zu stabilisieren, traten am 5. Februar Vertreter von acht oppositionellen Gruppen (T. Böhm, Unabhängiger Frauenverband; R. Eppelmann, Demokratischer Aufbruch; S. Pflugbeil, Neues Forum; M. Platzek, Grüne Liga; G. Poppe, Initiative Frieden und Menschenrechte; W. Romberg, SPD; K. Schlüter, Grüne Partei; W. Ullmann, Demokratie Jetzt) einer „Regierung der nationalen Verantwortung“ als Minister ohne Geschäftsbereich bei. Anfang 1990 war eine Situation entstanden, in der der Runde Tisch und die Regierung noch für eine eigenständige „DDR-Identität“ eintraten, während sich die Mehrheit der Bevölkerung längst für ein möglichst rasches Ende der DDR entschieden hatte. 155 Thaysen, Uwe: Runder Tisch, S. 672-675.
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Die Bundesregierung griff die Forderung der Demonstranten auf und setzte die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands auf die internationale Agenda. Am 28. November 1989 legte der Bundeskanzler dem Bundestag seinen Zehn-PunktePlan vor, der in einem etappenweisen Vorgehen den Weg zu einer bundesstaatlichen Ordnung in Gesamtdeutschland, d. h. zur Wiedergewinnung der staatlichen Einheit, eingebunden in eine gesamteuropäische Architektur, skizzierte (Einigungsvertrag:156 Deutschlandpolitik).157 Der Plan war bewußt vorsichtig formuliert, vermied die frühzeitige Festlegung auf Einzelheiten und auf einen konkreten Zeitplan, gab aber die allgemeine Richtung und damit die notwendige und von den Menschen gewollte Perspektive vor. Mit diesem Plan übernahm die Bundesregierung die Initiative in den innerdeutschen und internationalen Verhandlungen. Die Begrüßung des Bundeskanzlers durch jubelnde Menschenmengen in Dresden bei seinem Treffen mit Ministerpräsident Modrow am 19. und 20. Dezember zeigte, daß dieses Programm den Wünschen der Menschen entsprach und daß der Weg zur Vereinigung schneller zurückzulegen sein würde als zunächst angenommen. Als Ministerpräsident Modrow bei seinem Besuch in Bonn am 14./15. Februar 1990 einen Solidarbeitrag von ca. 15 Mrd. DM zu erreichen versuchte, der im Effekt die alte, demokratisch nicht legitimierte Regierung nochmals gestützt hätte, wies die Bundesregierung dies zurück und schlug ihrerseits eine Maßnahme vor, die über die Bewältigung der aktuellen Schwierigkeiten hinaus eine politische Perspektive enthielt; eine gesamtdeutsche Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion,158 für die erste vorbereitende Gespräche im Februar 1990 begannen und die Verhandlungen nach der Volkskammerwahl zügig vorangebracht wurden. Die Perspektive der deutschen Einheit stieß in der internationalen Öffentlichkeit auf ein gemischtes Echo. Widerstand leistete zunächst die sowjetische Führung – Gorbatschow warnte in Briefen auch an die USA-Regierung vor der Vereinigung und setzte sich für die „Nachkriegsrealitäten“ und die Durchführung von VierMächte-Konferenzen ein –, aber auch die europäischen Verbündeten in EG und NATO, insbesondere Großbritannien und Frankreich, zeigten Vorbehalte. Entscheidend war, daß eine Stabilisierung der DDR nicht möglich war – auch der Flüchtlingsstrom hielt unvermindert an –, die Menschen in der DDR ihre Forderung unzweideutig zum Ausdruck brachten und die für Moskau wichtigsten politischen Verhandlungspartner Bonn und Washington diese Forderung nachdrücklich vertraten. Die USA unterstützten die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes der Deutschen uneingeschränkt, sofern die Bundesrepublik in die NATO und die Europäische Gemeinschaft integriert bleibe, die Einheit im Interesse der europäischen Stabilität friedlich und schrittweise entstehe und die bestehenden Außengrenzen bestätigt würden. Am 10./11. Februar 1990 erklärte Gorbatschow gegenüber Bundeskanzler Helmut Kohl sein Einverständnis damit, daß die Deutschen selbst über ihre staatliche Einheit, deren Zeitpunkt und den Weg dorthin entschieden; die Frage
156 Schäuble, Wolfgang: Einigungsvertrag, S. 231-240. 157 Wilms, Dorothee: Deutschlandpolitik, S. 213-224. 158 Grosser, Dieter: Währungs- Wirtschafts- und Sozialunion (WWS), S. 915-923.
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des internationalen Status Deutschlands blieb damit noch offen. Am 14. Februar 1990 vereinbarten die Außenminister der beiden deutschen Staaten und der Vier Mächte, daß sie auf „Zwei-plus-Vier“-Ebene die internationalen Aspekte der deutschen Einheit erörtern würden. Die Volkskammerwahl vom 18. März 1990 bekräftigte das Votum der DDR-Bevölkerung für die Einheit. Die Regierung der Großen Koalition (Allianz für Deutschland – also CDU, DSU, DA –, SPD und Freie Demokraten) trat an mit dem Ziel, die Einheit auf dem Wege des Art. 23 GG (a. F.), mittels entsprechender deutsch-deutscher Verträge zu vollziehen. Innere Spannungen in dieser Regierung verstärkten sich im Vorfeld der Bundestagswahlen und führten dazu, daß am 20. August die SPD die Große Koalition verließ. Wichtigste Etappen in dieser Phase waren auf innerdeutscher Ebene die Kommunalwahlen vom 6. Mai 1990 – sie bestätigten insgesamt das Ergebnis der Volkskammerwahlen –, die Herstellung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion,159 der Vertrag zur Durchführung gesamtdeutscher Wahlen, der Beschluß der Volkskammer zum Beitritt160 und der Einigungsvertrag.161 Die außenpolitische Absicherung der deutschen Einheit erfolgte in einem Geflecht von zwei- und mehrseitigen Verhandlungen und Gesprächen. Das Hauptgewicht der Beratungen lag weniger bei den Zwei-plus-Vier-Außenministertreffen (Bonn 5. Mai 1990, Berlin 22. Juli 1990, Paris 17. Juli 1990, Moskau 12. September 1990), sondern vor allem bei den bilateralen Verhandlungen und Gesprächen in dem Dreieck Washington-Bonn-Moskau. Die Sowjetunion, die zunächst vorgeschlagen hatte, für das zu vereinende Deutschland noch ein mehrjähriges VierMächte-Kontrollregime zu vereinbaren, und die dann Modelle einer Doppelmitgliedschaft Deutschlands in beiden Bündnissen in die Diskussion gebracht hatte, stimmte schließlich den westlichen Vorschlägen zu. Erleichtert wurde dies durch Gesprächsfortschritte hinsichtlich der strategischen Abrüstung (amerikanisch-sowjetische Gipfelbegegnung von Malta, 31. Mai bis 3. Juni 1990) und durch Erklärungen der NATO, die den Warschauer-Pakt-Staaten Freundschaft und Zusammenarbeit anboten und eine Änderung der Strategie, einschließlich der strategischen Rolle der Nuklearwaffen, in Aussicht stellten (8. Juni und 6. Juli 1990). Den endgültigen Durchbruch in den Verhandlungen brachte der Besuch von Bundeskanzler Kohl, Außenminister Genscher und Finanzminister Waigel in Moskau und im Kaukasus am 15. und 16. Juli 1990. Dabei wurden die wesentlichen Bedingungen der Wiederherstellung der deutschen Einheit vereinbart. Demnach sollte Deutschland nach der Wiedervereinigung die volle Souveränität erhalten, einschließlich des Rechtes, über seine Bündniszugehörigkeit zu entscheiden. Die VierMächte-Rechte sollten beendet und die Oder-Neiße-Grenze162 als endgültig anerkannt werden. Deutschland verzichtete weiterhin auf Massenvernichtungswaffen 159 Ebd. 160 Boehl, Henner, Jörg: Beitritt, S. 132 f. 161 Schäuble, Wolfgang: Einigungsvertrag, S. 231-240. 162 Blumenwitz, Dieter: Oder-Neiße-Grenze, S. 595-601.
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und kündigte die Reduzierung seiner Streitkräfte innerhalb von drei bis vier Jahren auf 370.000 Mann an; die Sowjetunion würde im gleichen Zeitraum ihre Streitkräfte aus Deutschland abziehen; für die Dauer dieser Übergangsphase sollten westalliierte Truppen auf deutschen Wunsch in Berlin stationiert bleiben. Gleichzeitig sollten in der Übergangsphase keine NATO-Einrichtungen auf das Territorium der früheren DDR ausgedehnt werden, das auch danach von ausländischen Truppen und Kernwaffen frei bleiben würde. Über den Abzug der sowjetischen Truppen wurden später, am 12. Oktober 1990, zusätzliche Vereinbarungen abgeschlossen, dabei sicherte die Bundesregierung zur Finanzierung des Truppenabzugs einen Betrag von 15 Mrd. DM zu, größtenteils für den Bau von Wohnungen in der Heimat der zurückkehrenden Soldaten. Am 12. September 1990 unterzeichneten die sechs Außenminister in Moskau den „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“. Am 24. September wurde mit der Unterzeichnung eines Protokolls durch den DDR-Abrüstungs- und Verteidigungsminister sowie den Oberkommandierenden der Warschauer-Pakt-Truppen der Austritt der DDR aus dem östlichen Bündnis vollzogen. Ein deutsch-sowjetischer „Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit“ folgte am 9. November 1990, ein deutsch-polnischer Vertrag, der die Oder-Neiße-Grenze abschließend bestätigte, am 14. November 1990. Der ZweiPlus-Vier-Vertrag wurde mit Hinterlegung der letzten – der sowjetischen – Ratifizierungsurkunde im März 1991 rechtskräftig. Bereits am 1. Oktober 1990 hatten die Vier Mächte ihre Sonderrechte in bezug auf Deutschland ausgesetzt. Damit hatte Deutschland zum Zeitpunkt seiner Wiedervereinigung auch seine volle Souveränität wiedererlangt. Ursachen des Zusammenbruchs der DDR: Diese lagen nicht in ihrer Schlußphase, sondern in ihren Wurzeln. Der SED-Staat trat an als Herrschaftsorganisation der kommunistischen Partei, die auch nach der Vereinigung mit der SPD zur SED in der Bevölkerung keine Mehrheit hinter sich hatte und überdies als Werkzeug eines fremden Besatzungsregimes verstanden wurde. Der Anspruch, Kernstaat und Modell Gesamtdeutschlands zu sein, war damit von vornherein illusionär. Der SED-Staat litt von seinen ideologischen und historischen Ursprüngen her an einem demokratischen und nationalen Legitimationsdefizit, das er nie zu überwinden vermochte und durch die Errichtung der Mauer 1961 öffentlich beglaubigte. Die Ineffizienz des zentralverwaltungs-wirtschaftlichen Systems führte zusätzlich zu einem wachsenden wirtschaftlichen Rückstand in der innerdeutschen Systemkonkurrenz gegenüber dem freiheitlich und sozial-marktwirtschaftlich verfaßten Westdeutschland. Der SED-Staat war an seinem Ende immer noch ein diktatorisch regierter Zwangsstaat, naturgemäß ohne eigene nationale Identität und stand zusätzlich vor dem Bankrott. Was ihn stabilisierte, war die sowjetische Existenzgarantie und die hierdurch gedeckte Abschottung gegenüber dem Westen mit Hilfe der Mauer. In dem Augenblick, wo die Existenzgarantie entzogen wurde, stand das Regime zur Disposition. Anders als bei den östlichen Nachbarstaaten wurde mit dem Regime auch die staatliche Existenz selbst in Frage gestellt. Die Teilung Deutschlands war begründet
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durch den Systemgegensatz der Besatzungsmächte; in den beiden deutschen Staaten wiederholte sich auf nationaler Ebene der weltweite Systemkonflikt. In dem Augenblick, wo er beendet oder durch Entkräftung der einen Seite entschieden wurde, stellte sich auch die Frage nach der Existenzberechtigung einer eigenständigen DDR. Diese Konsequenz ist in den 80er Jahren vom Ausland her, z. B. von polnischen und tschechischen Oppositionellen, mit größerer Klarheit gesehen worden als von vielen in Deutschland. Die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands war die natürliche Folge des Zusammenbruchs des SED-Regimes. Gleichwohl war es nicht selbstverständlich, daß sie erreicht wurde. Denn die deutsche Teilung wurde inzwischen von vielen als Element eines insgesamt stabilen Zustands in Europa angesehen, und sie hatte insbesondere aus der Sicht der ehemaligen europäischen Kriegsgegner Deutschlands den Aspekt einer Sicherungsfunktion gegenüber einer eigenständigen deutschen Großmachtpolitik und von ihr möglicherweise ausgehenden Bedrohungen nie ganz verloren. In der Situation von 1989/90 die natürliche Lösung auch möglich zu machen, hieß, Vorbehalte gegen die deutsche Einheit, wie berechtigt oder unberechtigt sie im einzelnen sein mochten, zu berücksichtigen und zu überwinden. Es hieß insbesondere, die Einheit dadurch auf Dauer zu stabilisieren, daß sie nicht im Widerspruch, sondern im Grundkonsens mit den Nachbarn erreicht wurde. Die Gemeinsamkeit des Interesses der Deutschen und ihrer Nachbarn an der sicheren Einbindung Deutschlands in das atlantische Bündnis und die Europäische Gemeinschaft bot hierfür eine stabile Grundlage. Daß es gelang, die Wiedervereinigung außenpolitisch durchzusetzen, war in der Hauptsache das Ergebnis dreier Faktoren. Grundlegend waren die Massendemonstrationen in der DDR. Angesichts des Nachdrucks, mit dem die Deutschen den Wunsch nach Wiederherstellung ihrer staatlichen Einheit vertraten, konnte am Ziel der deutschen Selbstbestimmung kein Zweifel bleiben. Notwendig war zweitens die Politik der Bundesregierung, die diese Forderung aufgriff und ebenso umsichtig wie entschlossen politisch umsetzte. Dritter und nicht weniger wichtiger Faktor war die Unterstützung durch die USA, durch die es möglich wurde, den Widerstand der Sowjetunion und vorhandene Vorbehalte bei anderen europäischen Staaten zu überwinden. Die äußere Vereinigung Deutschlands ist 1990 erfolgt. Die innere ist ein Prozeß, der längere Zeit in Anspruch nehmen wird. Dabei geht es nicht nur um die Angleichung der materiellen Lebensverhältnisse, die, angesichts der 1989 vorgefundenen Ausgangslage und der inzwischen gesamtwirtschaftlich verschlechterten Rahmenbedingungen, eine vorrangige Aufgabe bleibt. Nicht weniger wichtig aber ist das geistige und mentale Zusammenwachsen der Deutschen nach 45 Jahren der Trennung und sich verschieden ausgeprägten Erfahrungswelten in West und Ost. Die Aufarbeitung der SED-Diktatur und ihrer Folgen ist noch lange nicht abgeschlossen. Dabei kommt es, in den alten wie in den neuen Bundesländern, darauf an, die Vergangenheit des SED-Staates und deren deutschen Teilung mit Nüchternheit und unverzerrt zu sehen, aufgeschlossen zu sein für die Erfahrungen, unter denen man im je anderen Teil des Landes herangewachsen ist und gelebt hat, und die
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Gemeinsamkeiten im Blick zu behalten, durch die die Einheit der Nation auch in der Zeit der staatlichen Teilung erhalten geblieben ist.163 5.3. Fluchtbewegung164 Von Bernd Eisenfeld Solange das SED-Regime bestand, wurde es mit dem Exodus seiner Bürger in den Westen, hauptsächlich in die Bundesrepublik und nach West-Berlin, konfrontiert. Diese „Abstimmung mit den Füßen“ war ein Barometer sowohl der inneren Verfassung der DDR als auch der Anziehungskraft Westdeutschlands. Von der Gründung der DDR im Oktober 1949 bis zur Grenzöffnung im November 1989 verließen von den rund 17 Mio. Einwohnern rund 3,5 Mio. den ostdeutschen Staat, während von den rund 61 Mio. Westdeutschen lediglich rund 470.000 die DDR wählten. Die Ausdünnung der DDR erfolgte auf zwei Wegen: durch Flucht und Ausreise.165 In 40 Jahren DDR entflohen dem SED-Regime insgesamt rund 3 Mio. Bürger, darunter 2,7 Mio. bis zum Mauerbau.166 Die Höhepunkte des Flüchtlingsstromes waren vor dem 13. August 1961 zumeist mit Ereignissen verknüpft, welche die totalitären Züge des SED-Regimes besonders klar hervortreten ließen. So standen hinter dem absoluten Höhepunkt von über 331.000 Geflüchteten im Jahre 1953 vor allem zwei politische Einschnitte: die Beschlüsse der 2. Parteikonferenz der SED im Sommer 1952 zum „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“ und die Niederschlagung des Volksaufstandes am Siebzehnten Juni167 1953. Ein weiterer Höhepunkt folgte im Jahre 1961. Von Januar bis zum Bau der Berliner Mauer flohen rund 155.000, darunter allein im Juli rund 31.000 Menschen. Hier zeigten sich die Folgen der 1960 forcierten Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft (LPG)168, aber auch wachsende Ängste in der Bevölkerung vor einer endgültigen Grenzschließung durch das SED-Regime. 163 Eppelmann, Rainer / Speck, Manfred: Zusammenbruch der DDR und deutsche Einheit, S. 983995. 164 Bernd Eisenfeld (* 9. Januar 1941 in Falkenstein / Vogtland, † 12. Juni 2010 in Berlin), Pseudonym Fred Werner, war ein deutscher Historiker und DDR-Oppositioneller. In: Eppelmann, Rainer / Möller, Horst / Hooke, Günter / Wilms, Dorothee (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus. Das Staats- und Gesellschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik, 2. Aufl., 1997, S. 268-271. Literaturhinweise: Die Flucht- und Ausreisebewegung in verschiedenen Phasen der DDR-Geschichte. Protokoll der 69. Sitzung, in: Materialien der EnqueteKommission, Bd. VII, 1, S. 311-449. Eisenfeld, Bernd: Die Zentrale Koordinierungsgruppe – Bekämpfung von Flucht und Übersiedlung; Anatomie der Staatssicherheit – MfS-Handbuch, hrsg. Von Klaus-Dietmar Henke u. a., Teil III/17, Selbstverlag BStU, Berlin 1995. Wendt, Hartmuth: Die deutsch-deutschen Wanderungen – Bilanz einer 40jährigen Geschichte von Flucht und Ausreise, in: Deutschland Archiv 24 (1991), S, 386 ff. 165 Eisenfeld, Bernd: Ausreise, in: Eppelmann et al.: S. 97-100. 166 Holzweißig, Gunter: Mauerbau, S. 550-553. 167 Haupts, Leo: Siebzehnter Juni 1953, S. 697-701. 168 Kühne, Konrad: Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften, S. 506-508.
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Nach dem Mauerbau ging die Zahl der Geflüchteten rapide zurück. Entkamen der DDR nach dem 13. August bis Ende 1961 noch über 50.000 Personen, so sanken die Zahlen danach bis auf den Tiefpunkt von rund 1.100 im Jahre 1984. Erst ab 1986 stieg die Zahl der Geflüchteten wieder an und überschritt mit rund 7.300 im Jahr 1988 erstmals seit 1965 wieder die Grenze von 5.000. Der Anstieg in dieser Phase ging hauptsächlich auf sogenannte Verbleiber zurück, die im Rahmen des zunehmenden Ost-West-Reiseverkehrs ihre Chance zur Flucht nutzen. Zwischen 1961 und Anfang September 1989 flüchteten knapp 95.000 Menschen. 1989 kam es dann im Sommer zu einem regelrechten Dammbruch. Immer mehr Bürger der DDR begaben sich in die Obhut der diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik in Budapest und Prag. Im Zusammenhang mit einer im am 20. August ausgelösten Massenflucht von 500 Ostdeutschen über die ungarisch-österreichische Grenze und dem Ausfliegen von über 100 ostdeutschen Flüchtlingen über die bundesdeutsche Botschaft in Budapest nach Wien erfolgte ein Ansturm auf die Vertretungen in Budapest und Prag. Am 11. September öffnete Ungarn für die DDR-Flüchtlinge seine Westgrenze. Die Folge war ein Exodus von 25.000 bis zum Monatsende. Auch Versuche des SED-Regimes, durch Behinderung von Reisen nach Ungarn und die ČSSR den Fluchtstrom zu stoppen, mißlangen. Im Oktober 1989 sah sich die SED nicht nur gezwungen, mehr als 10.000 Botschaftsbesetzer ausreisen zu lassen; sie mußte mit über 26.000 Geflüchteten auch einen neuen Spitzenwert hinnehmen. Die Anfang Oktober von der SED-Führung als „dauerhafte Lösung“ gedachte und am 9. November 1989 realisierte deutsch-deutsch Grenzöffnung brachte ebenfalls keine Entlastung. Allein im November gingen über 130.000 Ostdeutsche in den Westen. Das markierte einen absoluten Höhepunkt in der Geschichte der DDR. Erst die im Zusammenhang mit der freien Volkskammerwahl im März 1990 zur Gewissheit gewordene baldige staatliche Vereinigung führte zu einer Beruhigung. Diese Entwicklung spiegelt jedoch nur einen Teil der Fluchtbewegung wider. Neben den gelungenen Fluchten gab es die gescheiterten Fluchtversuche, die die Situation nach 1960 charakterisieren. Viel Fluchtwillige gerieten bereits in der Phase der Vorbereitung oder des Versuchs in die Hände von Sicherheitskräften der DDR oder anderer Ostblockstaaten. Unterlagen des MfS belegen, für die Zeit zwischen 1976 und Ende 1988, daß von insgesamt rund 67.000 Fluchtversuchen etwa 28.000, das heißt über die Hälfte, scheiterten. Die Fluchtmotive waren äußerst vielseitig. Die Spitzenwerte in der Fluchtentwicklung bis zum Mauerbau 169 weisen darauf hin, daß die totalitären Strukturen des Systems und die rigorose Durchsetzung der darauf beruhenden Politik durch die SED einen bestimmenden Faktor bildeten. Der Mauerbau symbolisierte die Verschärfung dieses Zwangssystems. Er mußte einerseits die Gefühle von Ohnmacht und Entmündigung, andererseits aber auch die Sehnsucht nach Freiheit und selbstbestimmten Handeln verstärken. Die Dominanz politischer Beweggründe für die Fluchten aus der DDR war selbst noch unmittelbar nach der Grenzöffnung gegeben. Eine Befragung übergesiedelter im Dezember 1989/Januar 1990 förderte folgende 169 Holzweißig, Gunter: Mauerbau, S. 550-553.
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Motivverteilung zutage: politische Bedingungen (93 %), persönliche Unfreiheit (86 %), niedriger Lebensstandard und Umweltbedingungen (88 %), schlechte Arbeitsbedingungen (72 %) sowie Freunde und Verwandte (59 %). Die bisher gewonnenen Erkenntnisse gehen von 815 Personen aus, die bei Fluchtversuchen an der innerdeutschen Grenze ums Leben kamen; darunter 369, die durch gezielte Schüsse und 41, die durch Minen getötet wurden. Außerdem erlitten 757 Personen bei Fluchtversuchen zum Teil erhebliche Verletzungen. Gescheiterte Fluchtversuche endeten darüber hinaus in der Regel in den Gefängnissen der DDR. Seit Anfang der 60er bis Ende der 80er Jahre verbüßte im statistischen Durchschnitt etwa jeder zweite politische Häftling eine Strafe wegen „illegalen Grenzübertritts“.
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5.4. Ungarn öffnet den Eisernen Vorhang (Juni / September 1989): DDR-Bürger fliehen über Österreich in die Bundesrepublik Deutschland Deutsche Botschaft, Budapest Januar 1989 21.: Die Kommunisten verzichten auf ihre in der Verfassung verankerte Führungsrolle in der Volksrepublik Ungarn. 28.: Imre Pozsgay bezeichnet in einer Radiosendung den Aufstand von 1956 als Volksaufstand. Februar 1989 11./12.: Das Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP) beschließt im Grundsatz die Einführung eines politischen Mehrparteiensystems. 13.: Bei einem Treffen mit dem österreichischen Bundeskanzler Franz Vranitzky informiert Ministerpräsident Miklós Németh, dass der Eiserne Vorhang abgebaut und ein Mehrparteiensystem eingeführt werden soll. 28.:
MSZMP nimmt einen Vorschlag von Innenminister István Horváth an, den Eisernen Vorhang abzubauen.
März 1989 03.: Offizieller Besuch von Ministerpräsident Miklós Németh in Moskau, bei der in einem Gespräch mit Generalsekretär Michail Gorbatschow erstmals über den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn, den Abzug sowjetischer Nuklearsprengköpfe, die Einführung eines Mehrparteiensystems, Ungarns Absicht, der Genfer Flüchtlingskonvention beizutreten sowie den Abbau des Eisernen Vorhangs spricht (Aus der geplanten halben Stunde Gesprächsdauer werden 2 ½ Stunden.) 15.: Opposition verliest ihre 12 Punkte auf dem Freiheitsplatz. 17.: Ungarn tritt als 106. Land der Genfer Flüchtlingskonvention bei. 23.: Das ungarische Parlament beschließt eine Neuregelung des Streikrechts, Teilnehmer an zulässigen Arbeitsniederlegungen dürfen nicht mehr bestraft werden. Mai 1989 02.: Demontage des Grenzzauns nahe Nickelsdorf (Österreich) und Hegyeshalom (Ungarn) am 2. Mai 1989. Die ungarische Regierung kündigt den Abbau der Grenze nach Österreich an. 08.: Das Zentralkomitee setzt den ehemaligen Parteichef János Kádár als Ehrenpräsident ab; damit verliert er seine letzte Parteifunktion.
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10.: Ministerpräsident Németh bildet sein Kabinett um, Gyula Horn wird Außenminister. 13.: Die ungarische Regierung beschließt eine sofortige Einstellung der Bauarbeiten am Donaukraftwerk Nagymaros. 16.: Eine interne Analyse des ungarischen Außenministeriums berichtet von wachsendem Druck auf die DDR, ihre Bürger ausreisen zu lassen, die dortige Atmosphäre verschlechtere sich immer mehr. Eine wachsende Zahl von DDR-Bürgern reist nach Ungarn, im Januar und Februar 1989 besuchen 224.000 DDR-Bürger Ungarn, in gleichem Maße wächst die Zahl der illegalen Grenzübertritte. 18.: Die Regierung beschließt den Abbau des Eisernen Vorhangs und das Ende eines grenznahen Bereichs zum 31. Juli 1989. 29.: Um ihre Ausreise zu erzwingen, flüchtet eine 3-köpfige DDR-Familie in die bundesdeutsche Botschaft Budapest, in der sich bereits weitere DDR-Bürger (mindestens 12) aufhielten. Juni 1989 09.: Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher führt in Budapest Gespräche mit Außenminister Gyula Horn und wird auch von Ministerpräsident Miklós Németh empfangen. 12.: Ungarns offizieller Beitritt zur Genfer Flüchtlingskonvention. – StasiDelegation führt Gespräche mit dem ungarischen Geheimdienst. 13.: Vertreter von Regierung und Opposition nehmen Gespräche am runden Tisch auf. 20.: Bei einem Treffen in Debrecen spricht Ferenc Mészáros vom Ungarischen Demokratischen Forum ein Paneuropäisches-Picknick an, eine Idee von Mária Filep. „Picknick am Eisernen Vorhang“, es soll ein Gespräch werden, bei dem ein Teil der Gesprächspartner auf der ungarischen, ein anderer Teil auf der österreichischen Seite sitzen soll, um die Unterschiedlichkeit der an den Westgrenzen einzelner osteuropäischer Länder herrschenden Zustände zu demonstrieren. Das Gespräch soll unter der Schirmherrschaft von Imre Pozsgay und Otto von Habsburg stehen. 24.: Der Reformpolitiker Rezsö Nyers wird zum Vorsitzenden des neu geschaffenen Parteipräsidiums der MSZMP gewählt. 27.: Ein historischer Moment: Alois Mock, Österreichs Außenminister, und sein ungarischer Amtskollege Gyula Horn beim Durchtrennen des Eisernen Vorhanges am 27.6.1989. Der ungarische und der österreichische Außenminister, Gyula Horn und Alois Mock, schneiden demonstrativ – vor laufenden Kameras – ein Loch in den Grenzzaun.
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Der ungarische Außenminister Gyula Horn schildert den „historischen Moment“ in seinen Erinnerungen: „Im Juni 1989 reiste ich auf Einladung von Außenminister Alois Mock zu offiziellen Gesprächen nach Wien. In meinem Programm war auch ein Vortrag vor der Außenpolitischen Gesellschaft vorgesehen. Nach dem Vortrag brach ich, zusammen mit meinem Kollegen Mock, zur ungarisch-österreichischen Grenze auf. Dort schnitten wir den Stacheldrahtzaun durch, der – der technischen Grenzsperre vorgelagert – gewissermaßen den Eisernen Vorhang symbolisierte. Es war der 27. Juni 1989“.170 Juli 1989 06.: In Budapest verstirbt János Kádár. 16.: Es erscheinen Zeitungsberichte über 30 DDR-Bürger in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest, die ihre Ausreise erzwingen wollen. 22.: Durch eine Nachwahl kommt erstmals seit 1947 ein Oppositionspolitiker ins Parlament. 31.: Koordinierungstreffen des Ungarischen Demokratischen Forums (MDF) in Sopron für das Picknick am 19. August. Die Vereinigung Freier Demokraten (SZDSZ), der Bund der Jungen Demokraten (Fidesz) und die FKGP schließen sich der Initiative an und unterstützen es, dass László Magas von der MDF und Zsolt Szentkirályi (SZDSZ) Organisatoren des Picknicks werden. August 1989 01.: Der 2 km lange Grenzbereich wird aufgehoben – jedermann darf die Grenze ohne Einschränkungen überschreiten. 07.: Immer mehr DDR-Bürger kampieren in der bundesdeutschen Botschaft und im Konsulat im Budapester 12. Bezirk. 13.: Die bundesdeutsche Botschaft in Budapest muss auf Geheiß des Auswärtigen Amtes wegen Überfüllung geschlossen werden – es halten sich dort inzwischen ca. 180 DDR-Bürger auf. Demonstration in Budapest am Jahrestag des Mauerbaus, an der auch 50 DDR-Bürger teilnahmen, wie auch ein Bericht des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) kritisch vermerkt. Staatssekretär Jürgen Sudhoff reist in Begleitung seines Büroleiters und damaligen deutschen Botschafters in Budapest Matei I. Hoffmann nach
170 Horn, Gyula: Freiheit, die ich meine. Erinnerungen des ungarischen Außenministers, der den Eisernen Vorhang öffnete, Hamburg 1991, S. 294.
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Budapest. Er versucht, sich im Gespräch mit den Flüchtlingen ein Bild von der Stimmung und den Verhältnissen im Gebäude zu machen. 14.: Staatssekretär Sudhoff führt Gespräche mit Außenminister Horn und Staatssekretär Kovács. Da die ungarische Seite auf den Vorschlag, eine Lösung über den Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR) zu erwirken, nicht eingehen konnte (die DDR-Bürger waren im Sinne des UNHCR keine registrierten Flüchtlinge, sie hatten Asylrecht weder bekommen noch beantragt; Ungarn betrachtete sie deshalb als Feriengäste), einigte man sich, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) als Vermittler einzuschalten. 15.: Außenminister Genscher und Bundeskanzler Kohl werden über die Lage unterrichtet. 16.: Staatssekretär Sudhoff nimmt Kontakt zu IKRK Präsident Cornelio Sommaruga und zum österreichischen Präsidenten Thomas Klestil auf, Außenminister Horn bittet das IKRK ebenfalls um Unterstützung. Staatssekretär Sudhoff kehrt zurück nach Budapest, bespricht mit Außenminister Horn die geplante Evakuierung der Botschaft. Die beiden einigen sich, dass Ungarn zukünftig auf Stempel in den Reisedokumenten gefasster DDR-Bürger verzichten werde. 18.: IKRK-Vertreter führen Gespräche in Budapest, um die Ausfuhr der in die bundesdeutsche Botschaft geflüchteten DDR-Bürger nach Österreich zu organisieren. Österreichische Grenzbeamte öffnen ein Grenztor. Etwa 500 DDR-Bürger nutzten ein paneuropäisches Picknick an der ungarisch-österreichischen Grenze, bei dem ein Grenztor symbolisch geöffnet wurde, zur Flucht in den Westen. Paneuropäisches Picknick in Sopronpuszta. Die Schirmherren Imre Pozsgay und Otto von Habsburg sagen ihre persönliche Teilnahme ab. Die Dienstanweisung der ungarischen Grenzwache wird auf Anweisung des Ministerpräsidenten Miklós Németh für diesen Tag aufgehoben. Das Picknick wird von mehr als 600 DDR-Bürgern zur Flucht genutzt. 20.: In der Nähe von Szentgotthárd hinterlassen etwa 40-50 DDR-Bürger ihre Wagen. Sie öffnen für sich den Weg zwischen den Grenzwächtern und rennen in österreichisches Gebiet über. Die Kontrollen an der Westgrenze werden verstärkt. 21.: Der DDR-Bürger Kurt-Werner Schulz erleidet während der Flucht einen Todesunfall bei Köszeg. – Ministerpräsident Miklós Németh ruft Bundeskanzler Helmut Kohl während seines Urlaubs in Österreich an und teilt ihm mit, dass kein einziger Deutscher in die DDR zurückgeschickt wird. 22.:
Minister fassen eine prinzipielle Entscheidung über die Grenzöffnung. Teilnehmer der Besprechung: Ministerpräsident Miklós Németh, In-
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nenminister István Horváth, Außenminister Gyula Horn, Staatssekretär im Justizministerium Gyula Borics, zwei Mitarbeiter des Ministerpräsidenten, György Jenei und László Mohai. 23.: Im Raum von Sopronpuszta wollen etwa 150 DDR-Flüchtlinge die ungarisch-österreichische Grenze passieren, aber die ungarische Grenzwache hindert sie daran. 24.: Die 108 Flüchtlinge, die in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest geblieben sind, werden mit einem vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) gemieteten Flugzeug, in der Nacht, vom Flughafen Ferihegy ausgeflogen. Sie haben Reisedokumente des Roten Kreuzes erhalten, die Gruppe landet in Schwechat bei Wien. Die Ankömmlinge werden mit Bussen des Österreichischen Roten Kreuzes nach Deutschland gebracht. Die Flüchtlinge überqueren die westdeutsche Grenze bei Passau um 07.00 Uhr morgens. Nach einer Sitzung des Ministerrates gibt Außenminister Gyula Horn den ungarischen Standpunkt bezüglich der Evakuierung der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Budapest bekannt, er sagt, die humanitären Aspekte hätten in der Sitzung im Vordergrund gestanden. 25.: Ministerpräsident Miklós Németh, Außenminister Gyula Horn, István Horváth, ungarischer Botschafter in Bonn, die beiden Berater György Jenei und László Mohai, sowie eine Dolmetscherin treffen im Schloss Gymnich Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Hier gibt Ministerpräsident Németh den Gastgebern den Fakt der Grenzöffnung bekannt. Miklós Németh bittet Bundeskanzler Kohl, dass die Bundesrepublik Deutschland Ungarn bei der Annäherung des Landes zur Europäischen Gemeinschaft Hilfe leistet. Bundeskanzler Kohl ruft den Generalsekretär der SKP Michail Gorbatschow an, um ihn zu fragen, ob er damit, was von ungarischer Seite geplant wird, einverstanden ist. Gorbatschow antwortet nur so viel: „Der ungarische Ministerpräsident Miklós Németh ist ein guter Mensch“. Kohl ruft auch den österreichischen Kanzler Franz Vranitzky an, der erklärt: „Österreich ist bereit mit Ungarn, bei der Versorgung und Transport der DDR-Flüchtlinge in die Bundesrepublik zusammenzuarbeiten. 31.: Außenminister Gyula Horn reist nach Berlin, um dort ein letztes, erfolgloses Gespräch mit der DDR-Führung zu führen. September 1989 01.: Außenminister Gyula Horn weist den ungarischen Botschafter in Bonn, István Horváth, an, dass er dem Bundeskanzler oder dem Außenminister mitteilt, dass die Flüchtlingskrise in 10 Tagen gelöst wird.
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Der DDR-Botschafter in Ungarn, Gerd Vehres, besucht das Flüchtlingslager in Csillebérc, und aufgrund seiner dortigen Erfahrungen erstattet er Bericht nach Berlin, dass die Massenausreise zwischen dem 04.-06. September 1989 beginnen kann. 04.: Ministerpräsident Miklós Németh ruft den Mitarbeiter von Bundeskanzler Helmut Kohl, Horst Teltschik, an, dass ein neuer Termin vereinbart wird. Horst Teltschik bittet um Zeit, er ruft ihn zurück und schlägt den Termin vom 10. September vor. Németh akzeptiert diesen Termin. 07.: Außenminister Gyula Horn empfängt den Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Budapest, Alexander Arnot, und den Beauftragten von Außenminister Genscher, Michael Jansen, und er teilt ihnen mit, dass am 10. September bekannt gegeben wird, dass die Grenzöffnung an dem Tag, um 24.00 Uhr, beginnt. 10.: In der Sendung „Hét“ im Ungarischen Fernsehen gibt Außenminister Gyula Horn die Tatsache der Grenzöffnung bekannt. 11.: Die Grenze wird geöffnet. Um 00.01 in dieser Sonntagnacht passieren – nach Schätzungen – etwa 5000 DDR-Flüchtlinge die Grenze. Diese Zahl stieg bis Dienstag auf 15.000. Gyula Horn in seinen Erinnerungen: „Ich erinnere mich ganz genau an jenen Augustmorgen, als ich drei meiner engsten Mitarbeiter zu einer Besprechung zusammenrief. Sie berichteten von der wachsenden Zahl der Botschaftsflüchtlinge, die zum Teil im Kirchhof neben der Botschaft kampierten. Sie würden zwar von den Pfarrern versorgt, doch die Bewohner der Umgebung ertrügen den Rummel immer schwerer. „Und was sagt der DDR-Botschafter dazu?“ wollte ich wissen. „Er besteht darauf, daß wir die Sache genauso regeln wie letztes und vorletztes Jahr“, antwortete einer meiner Mitarbeiter. „Soll das heißen, wir sollen die Flüchtlinge abschieben? Das würde uns weder unsere eigene Bevölkerung noch die Weltöffentlichkeit verzeihen!“ Außerdem wollte mir nicht in den Kopf, wie sich unsere Vorgänger zu so etwas hatten hergeben können. Was wurde da nicht alles im Namen des Sozialismus angestellt! „Die DDR-Behörden sagen nur immer wieder, die Heimkehrer würden straffrei ausgehen. Doch ihre Stasi-Leute geben in inoffiziellen Gesprächen zu, daß sie eine Sonderliste führen“. Es sei sicher, meinte der nächste, daß diese Leute von Reisemöglichkeiten künftig ausgeschlossen blieben, an ihren Arbeitsplätzen behelligt würden, Druck ausgesetzt wären usw. „Bleiben sie bei uns, haben sie wenigstens die Hoffnung, eines Tages doch in die Bundesrepublik ausreisen zu können“. Am Sonntag, dem 10. September, ging ich am Nachmittag gegen sechs Uhr zu Fuß in das von meiner Wohnung nicht weit entfernte Gebäude des Fernsehens.
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Es war ausgemacht, daß ich die Nachricht von der Grenzöffnung in dem um sieben Uhr beginnenden politischen Fernsehmagazin ‚A HÉT‘ (Die Woche) bekanntgeben würde. Gleichzeitig damit sollte die Meldung auch von der ungarischen Nachrichtenagentur MIT in alle Welt übermittelt werden. Ich muß zugeben, ich legte den etwa viertelstündigen Fußweg recht beklommen zurück. In der Nähe des alten Börsenpalastes, in dem heute das Ungarische Fernsehen beheimatet ist, fingen mich zwei Kollegen aus dem Außenministerium ab und rieten mir, nicht den Haupteingang zu benutzen, da dort eine riesige Schar von Journalisten auf mich lauere. Da ich vorab nichts sagen wollte, ließ ich mich zu einem Hintereingang und von dort über verwinkelte Wege zwischen verstaubten Kulissen und anderem Gerümpel zum Sendestudio lotsen. Der Moderator erzählte mir nach der Begrüßung aufgeregt, unten gäbe es einen solchen Andrang, daß sie den ganzen Sendetrakt vor den Journalisten hatten sperren müssen. Auf den Fluren herrschte trotzdem ein heilloses Gewimmel. Doch schließlich gelangten wir ins Studio, und die rote Lampe leuchtete auf. Als ich zu sprechen begann, erfüllte mich eine eigenartige innere Ruhe. Ich verkündete unsere Entscheidung über die Grenzöffnung und erklärte in einigen Sätzen auch unsere Beweggründe für diesen Schritt. Ich mußte darauf achten, dabei die DDR-Führung nicht unnötig zu irritieren, den Flüchtlingen aber deutlich zu machen, daß es sich nicht um eine vorübergehende Maßnahme von ein oder zwei Tagen handelte, sondern daß die Grenze so lange offenbliebe, solange sich auch nur ein einziger ausreisewilliger DDR-Bürger in Ungarn aufhielt. Als ich nach der Sendung das Studio verlassen wollte, stieß ich mit dem Korrespondenten des österreichischen Fernsehens zusammen, der es irgendwie doch geschafft hatte, in das Gebäude zu gelangen. Nun konnte ich seinen Wunsch nach einem ersten Blitzinterview auch erfüllen. Erleichtert verließ ich das Fernsehgebäude. Der Würfel war gefallen. Nun gab es niemanden mehr, der unseren Schritt verhindern konnte. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich natürlich nicht einmal im Traum daran gedacht, daß wir damit den Weg zur deutschen Wiedervereinigung eröffnen würden und daß ein neues Kapitel in der Geschichte Europas begann. Soviel war mir jedoch klar, daß mit dieser Entscheidung im Verhältnis der Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes untereinander etwas noch nie Dagewesenes, eine neue und irreversible Entwicklung einsetzen mußte. Am nächsten Morgen fand ich mich zur gewohnten Zeit im Außenministerium ein. Kurz darauf meldete mir mein persönlicher Referent, vor dem Hauptportal hätte sich eine größere Gruppe von Jugendlichen aus der DDR zu einer Sympathiekundgebung versammelt, die mich unbedingt begrüßen und sprechen wolle. Da ich nicht alle empfangen konnte, wählten sie aus ihren Reihen eine Abordnung von etwa zehn Jungen und Mädchen, die in mein Büro vorgelassen wurden. Sie überreichten mir Blumensträuße und beteuerten mir, einander ins Wort fallend, fast euphorisch, dies sei der glücklichste Tag ihres Lebens, und sie wollten nicht in Richtung Österreich aufbrechen, ohne mir vorher die Hand zu drücken. Ich war ziemlich ergriffen und auch erfreut darüber, daß sie verstanden hatten, sie brauch-
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ten das Land nicht panikartig zu verlassen, und daß sie uns vertrauten. Es war ihnen offenbar klar, daß wir die Entscheidung nicht rückgängig machen würden. Die Öffnung der Grenze fand weltweit ein riesiges Echo. Neben der Würdigung des konkreten Schrittes wurde die Entscheidung von vielen Medien in einen breiteren Zusammenhang gestellt. So schrieb beispielsweise eine große westdeutsche Tageszeitung: „Die schier wagemutige Liberalisierung, die sich in den vergangenen zwei Jahren in fast allen Bereichen des Lebens, der Wirtschaft und der Politik vollzog, mußte zwangsläufig zur Beseitigung der widersinnigen Relikte aus der Zeit des Kalten Krieges und des Eisernen Vorhangs führen. Im Ministerium von Gyula Horn wird statt der Geheimpakte mit den Verbündeten nunmehr den Prinzipien der weltumspannenden Menschenrechtskonventionen Vorrang gegeben, wie das im Zusammenhang mit dem rumänischen Regime bereits bewiesen wurde. Mit diesem Schritt hat Ungarn den ‚real existierenden Sozialismus‘ hinter sich gelassen. Spätestens seit der Nacht des 11. September hat der Ostblock im ursprünglichen Sinne des Wortes aufgehört zu existieren. Die Presse der DDR spie Gift und Galle gegen uns. Hier ein typisches Zitat aus einer Ostberliner Tageszeitung: „Das Kapital hat zum Generalangriff gegen den Sozialismus geblasen, Silberlinge rollen in die Taschen der Reformer, die sich bei den Kapitalisten anbiedern. Eines ist jedoch unbestreitbar: In der DDR besteht nach wie vor der Sozialismus, das unterdrückerische System der Ausbeutung wurde ein für allemal beseitigt. Das ist es eben, was den Imperialismus nicht ruhen läßt und verbittert – insbesondere die Bonner Imperialisten, die mit der Gründung der DDR auf deutschem Boden eine historische Niederlage erlitten haben“. Die Wirklichkeit, das heißt die Reaktion der Menschen, sah freilich ganz anders aus. Als die Nachricht von der Grenzöffnung die Ostdeutschen erreichte, bemächtigte sich ihrer eine unbeschreibliche Freude. Die Insassen der Flüchtlingslager in Budapest, am Plattensee und in den westungarischen Grenzstädten veranstalteten auf den Zeltplätzen und in den Straßen einen regelrechten Septemberkarneval; auf der Landstraße und der Autobahn zwischen Budapest und der österreichischen Grenze begann eine ekstatische Marathon-Rallye aller denkbaren östlichen Autotypen. Die Fernsehteams aus aller Welt hatten so viel dankbaren Stoff, daß sie praktisch rund um die Uhr filmten. Die Regierung der DDR nahm uns in den darauffolgenden Wochen massiv unter Beschuß; sie protestierte in diplomatischen Noten, öffentlichen Verlautbarungen und Erklärungen gegen unsere Entscheidung und forderte ihre sofortige Aufhebung. Fischer (DDR) entsandte einen seiner Stellvertreter nach Budapest, der zunächst versuchte, uns durch unverhüllte Drohungen einzuschüchtern, dann jedoch kleinlaut und unverrichteter Dinge abziehen mußte. In der DDR beschleunigten sich die Ereignisse: Die Entmachtung Honeckers und der Fall der Berliner Mauer kamen einem gewaltigen Erdrutsch gleich. Nun war mir klar, daß die Entwicklung nicht mehr aufzuhalten war: Die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wurde aus einer Utopie immer mehr zur realen Perspektive, das vereinte Deutschland, auch wenn es vielen Kopfschmerzen bereitete, zur greifbaren Möglichkeit.
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Auch wenn es ein langer Weg war – und innerlich vielleicht noch sein wird! –, auch wenn allerlei Widerstände überwunden werden müssen, erscheint mir heute die in knapp einem Jahr vollzogene Vereinigung im Vergleich zu den mehr als vierzig Jahren der Teilung als ein flüchtiger Augenblick. Wie ich seitdem schon oft erklärt habe, ist es nach meiner Überzeugung ein bleibendes und unvergängliches Verdienst von Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher, daß sie das Gebot der Stunde erkannt und die historische Chance auch wahrgenommen haben“.171 DDR Bürger fliehen aus Ungarn über Österreich in die Bundesrepublik Deutschland
171 Horn, Gyula: Freiheit, die ich meine, S. 309, 327-330.
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25 Jahre Mauerfall: Wie sich in Nürnberg eine Hilfsmaschinerie in Bewegung setzte Mit einer rollenden Zeltstadt Richtung Osten Von Reinhard Kalb Die innerdeutsche Grenze, eine der verabscheuungswürdigsten Sperranlagen weltweit, fiel vor 25 Jahren. In einer Serie lässt die NZ die damaligen Ereignisse noch einmal aufleben – auch mit Sicht durch die „Nürnberger Brille“. Wer am 2. September 1989 auf der Autobahn von Passau nach Nürnberg fuhr, traute seinen Augen nicht. Auf der Gegenfahrbahn schob sich ein nicht enden wollender Konvoi mit Rotkreuzlastern voran. Die DDR-Bürger, die von Ungarn aus über Österreich nach Westdeutschland flüchteten, waren immer mehr geworden. Man verteilte die erwarteten 20.000 Übersiedler auf alle Bundesländer – allein in Bayern 4.000 – und stellte fürs Erste Schulen, Mehrzweckhallen, Kasernen und Zeltlager zur Verfügung. Allein das Bayerische Rote Kreuz (BRK) errichtete fünf Zeltstädte in Niederbayern nahe der Grenze zu Österreich, nämlich in Trostberg, Vilshofen, Freilassing, Hengersberg und Tiefenbach. Hinzu kamen im Laufe der folgenden Woche Notquartiere in Forchheim, Gunzenhausen, Wunsiedel, Coburg und Schwarzenbach. Nürnberg war für Bayern der strategische Dreh- und Angelpunkt der „größten Hilfswelle seit Kriegsende“, wie die NZ damals titelte. Am Morgen des 2. September trafen aus ganz Mittel- und Oberfranken Fahrzeuge der BRK-Kreisverbände in Nürnberg ein, insgesamt 26 Lastwagen, 16 Busse, zwei Feldküchen und ein Führungsfahrzeug sowie 140 ehrenamtliche Helfer. Ihre Ladung: 500 Zelte für 30 beziehungsweise 50 Mann, dazu Feldbetten, Decken, Notstromaggregate, Beleuchtungsanlagen und Bierbänke. Mit dabei war auch ein Bierlaster aus Bayreuth, den man flugs mit einem Roten Kreuz verziert hatte. Als alles komplett war, setzte sich vom Sammelpunkt Nürnberg aus der zwei Kilometer lange Hilfskonvoi auf der Autobahn A3 in Richtung Passau in Bewegung. Dass dies so schnell über die Bühne ging, ist der straff organisierten Struktur des BRK zu verdanken. Gerhard Grabner, Jahrgang 1940 und wohnhaft in Fürth, war damals als Landesarzt dabei: „Das BRK ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, und deshalb anders strukturiert als gewöhnliche Vereine. Damals herrschte der kalte Krieg, wir waren militärisch organisiert, das BRK galt mehr oder weniger als das Geheimreservoir des Bundeswehr-Sanitätskorps“. Gerhard Grabner ist Allrounder: Facharzt für Allgemeinmedizin, Betriebsmedizin, Umweltmedizin, Transfusionsmedizin und obendrein Chirurg und Anästhesist. Grabner war bei Katastropheneinsätzen in Afrika, beim Erdbeben in Armenien im Dezember 1988 und sogar in Tschernobyl dabei. Sein schlimmstes Erlebnis war 1978 die Versorgung der Brandopfer im spanischen Los Alfaques. Verglichen damit war der Aufbau einer Zeltstadt in Niederbayern eine leichte Angelegenheit. „Zunächst einmal hatten wir uns von den kommunalen Behörden diverse Standorte für die Zeltlager zeigen lassen, dann haben wir entschieden“, erinnert sich Grabner an die spannende Zeit. „Wir haben in jedem Flecken BRK-Delegierte, die über geeignete Standorte Bescheid wissen“. Nicht alle Standorte ent-
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sprachen den Erwartungen, darum charterte man einen Hubschrauber und machte sich aus der Luft auf die Suche. So baute man die Tiefenbacher Zeltstadt für 700 Menschen einfach beim Freibad auf, desgleichen in Freilassing. In Vilshofen requirierte das BRK den Parkplatz einer Baufirma mitten im Ort. „Die vordringlichen Aufgaben lauten: Zelte aufbauen, Latrinen aufbauen, Essen beschaffen“, erläutert Grabner. „Natürlich hatten wir sofort ein Notfallzelt mit Rettungssanitätern zur Verfügung, aber es gab erstaunlich wenige Akutfälle. Meistens handelte es sich dabei um Erschöpfungszustände und um Hyperventilation“. Das hat den Allgemeinmediziner nicht überrascht: „Die Menschen waren in Ungarn tagelang unter voller Anspannung gestanden, die ganze Zeit herrschte der pure Stress. Nun hatten sie es geschafft, konnten sich entspannen, aber der Druck war immer noch da. Der abrupte Wechsel von körperlich-seelischer Anspannung zur Entspannung bewirkte Atemnot und Krämpfe. Anderen Patienten schlug der Stress gewaltig auf den Magen“. Wie waren die Flüchtlinge beieinander? „Das Durchschnittsalter reichte von 25 bis 35 Jahren“, schätzt Grabner. „Die meisten Flüchtlinge kamen als Paare oder als junge Familien, Einzelpersonen waren eher die Ausnahme. Trotz der allgemeinen Erschöpfung herrschte eine Stimmung voller Freude und Optimismus. Ich habe selten so viele Menschen gesehen, die mit solchem Mut und Elan in die Zukunft geschaut haben. Wir Ärzte und Sanitäter hingegen haben uns gefragt, wie das weitergeht: Ob nun immer mehr Flüchtlingswellen anbranden oder ob der Ostblock einen Riegel vorschiebt. Angesichts der politischen Lage waren wir einerseits voller Neugier, andererseits hatten wir wenig Hoffnung. Man hat es einfach nicht glauben wollen. Wir hatten noch den Prager Frühling 1968 in Erinnerung und dachten, die Ostpolitik macht blad einen dicken Strich durch die Rechnung“. Die Zeltlager in Niederbayern waren nur für eine Woche gedacht, dann wären laut Plan die meisten Bewohner weitergereist, zu Verwandten, zu festen Unterkünften – und manche sogar zu ihrem ersten Arbeitsplatz. Unternehmer suchten nach Schlossern, Schweißern, Schreinern und Lackierern, und stellten sogar Unterkunft und Hilfe bei der Wohnungssuche in Aussicht. Doch Ironie der Geschichte: Noch bevor die ersten Flüchtlinge in Tiefenbach eintrafen, tauchte ein Bus mit Helfern des Ungarischen Roten Kreuzes auf. Die wollten sich informieren, wie in Deutschland Auffanglager organisiert werden – für die nächsten Flüchtlingswellen daheim. Die Erkenntnisse müssen beeindruckend gewesen sein: Bereits am Sonntag, dem 10. September, öffnete Ungarn die Grenze zu Österreich und ließ 15.000 weitere Übersiedler ziehen.172
172 Nürnberger Zeitung, Donnerstag, 28. August 2014.
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5.5. Manuela Beckmanns Flucht über die bundesdeutsche Botschaft in Prag nach Nürnberg im Herbst 1989 Von Hans-Peter Kastenhuber Die Botschaft der Freiheit lockte DDR-Bürger im Herbst 1989 in Massen an. Im Herbst 1989 standen in DDR-Bürger gegen den SED-Staat. Der erste Volksaufstand am 17. Juni 1953 war von den sowjetischen Besatzungstruppen niedergeschlagen worden. Der zweite friedliche Volksaufstand begann mit dem Ansturm von DDR-Bürgern auf die diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik in Budapest und Prag. Manuela Beckmann gehörte zu den 4000 DDR-Flüchtlingen, die im September 1989 das Gelände der bundesdeutschen Botschaft in Prag besetzt. Der Journalist Hans-Peter Kastenhuber recherchierte ihre Geschichte, die am 27. September 2014 in den „Nürnberger Nachrichten“ publiziert wurde: ECKENTAL – Sein Glück erzwingen – kann man das? Es gibt Geschichten, die lassen einen zumindest daran glauben. Weil sich die Septembersonne gerade durch die grauen Wolken gekämpft hat, empfängt Manuela Beckmann draußen auf der Terrasse. „Cappuccino, Espresso, Latte macchiato?“ Die Dame des Hauses verschwindet für einen kurzen Moment in die Küche zum Kaffeeautomaten, der alles kann. Das Anwesen am Siedlungsrand Eckentals sieht überhaupt aus wie das Reich der erfüllten Wünsche. Dunkles Cabrio in der Einfahrt, makelloser Rasen, modernes Einfamilienhaus in elegantem Grau. Vor 25 Jahren ist Manuela Beckmann, die damals noch Manuela Heinrich hieß, der Farbe Grau entflohen. Allerdings war es kein elegantes, sondern ein tristes Grau. Es war die Farbe der DDR. Dass andernorts die Welt bunter war, lernte Manuela Beckmann nicht nur, wenn sie mit ihrer Familie im kleinen Dorf Netzschkau im Vogtland verbotenerweise Westfernsehen guckte. Das Erfuhr sie vor allem aus den Erzählungen ihrer Großmutter, die als Rentnerin regelmäßig auch in den Westen reisen durfte. „Es war toll, wenn Oma hinterher erzählt hat“, erinnert sich Manuela Beckmann. „Schon mit 14 oder 15 Jahren wusste ich: Ich will mal weg“. Löchrige Grenzen: Doch die DDR hat bis zum Ende was dagegen gehabt, dass gerade ihre jungen Menschen weg wollen. Wer Ausreiseanträge stellte, muss mit Schikanen rechnen. Wer die Flucht versucht, geht ein hohes Risiko ein. „Steigt einer mit mir aus?“, fragt im Sommer 1989 die damals 18-Jährige Manuela ihre Freunde, als auf dem Rückweg aus dem Bulgarien-Urlaub der Zug in Ungarn hält. Über die löchrig gewordene ungarisch-österreichische Grenze finden zu dieser Zeit viele DDR-Bürger den Weg in den Westen – sofern sie zuvor ein Visum für Ungarn erhalten haben. „Aber von meinen Freunden hatte niemand den Mut auszusteigen“, erzählt Beckmann. Die Gruppe fährt geschlossen zurück in die DDR, in der sich die SED-Führungsriege um Erich Honecker trotzig gegen die von Gorbatschow in der Sowjetunion längst ausgerufene Erneuerung und Offenheit (Perestroika und Glasnost)
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stemmt. Aber zu Hause angekommen, beschließen Manuela und ihr Freund, endlich die Flucht zu versuchen. Wie das funktionieren kann, sehen sie wieder im Westfernsehen. Das sendet in dieser Zeit so gut wie täglich eindrucksvolle Bilder aus Prag. Auf dem Gelände der bundesdeutschen Botschaft, dem Palais Lobkowicz, kampieren zunächst einige Hundert, nach wenigen Wochen mehrere Tausend DDR-Bürger. In die Tschechoslowakei durften sie ohne Visum fahren. Und die Versuche der örtlichen Polizei, die Bürger aus dem sozialistischen Bruderstaat am Übersteigen des Botschaftszauns zu hindern, werden bald immer halbherziger. Ohne Abschied Getarnt als Wochenendausflügler fahren Manuela, ihr Freund, dessen Eltern und sein kleiner Bruder im Auto nach Prag. Die junge Frau hat sich zu Haus noch nicht einmal von ihren beiden jüngeren Geschwistern verabschiedet. „Aus Angst, dass sie sich in der Schule verplappern“. In Prag suchen die Vogtländer verzweifelt nach der deutschen Botschaft. „Wir trauten uns nicht, irgendjemanden zu Fragen“. Doch schließlich hat man eine gute Idee. Die „Ausflügler“ gehen auf den Aussichtsturm am Petřín-Hügel und sehen von dort oben tatsächlich die weiße Zeltstadt im Park des Palais Lobkowicz. Sie machen sich auf den Weg dorthin, und dann geht alles sehr schnell. Das Paar verabschiedet sich und klettert, unterstützt von Helfern, die seit Stunden nichts anderes tun, über den hohen Eisenzaun. Es ist der 29. September 1989. Auf dem Botschaftsgelände herrschen längst unzumutbare Bedingungen. Der vom Regen aufgeweichte Park ist eine einzige Schlammfläche. Rund um die Uhr stehen lange Schlangen an den zwei, drei Toiletten an, die sich mehr als 4000 Menschen teilen müssen. Übler Geruch liegt über dem Areal. Sämtliche Büros und Säle im Gebäude sind mit Stockbetten zugestellt, auf jeder Treppenstufe hat ein Flüchtling sein Quartier aufgeschlagen. Der Rest schläft draußen in einem der Zelte. Manuela und ihr Freund finden selbst dort keinen Platz mehr. Das Einzige, was sie auftreiben können, ist eine Europalette, auf der sie unter freiem Himmel die Nacht verbringen. Keimen Zweifel auf? „Mit 18 kennt man keine Zweifel. Wir waren froh, drin zu sein – ohne zu wissen, was daraus am Ende wird“. Am nächsten Tag, dem 30. September, geht gegen 18 Uhr plötzlich die Nachricht um, der bundesdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher werde erwartet. Eine Stunde später, die Dunkelheit ist bereits angebrochen, steht Genscher, von einer Bürolampe dürftig angeleuchtet, tatsächlich auf dem Balkon des Palais. „Freiheit“ Freiheit!“ ruft die Menge unter ihm. Dann Einzelne: „Pscht, ruhig“. Genscher beginnt zu sprechen. „Liebe Landsleute, wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise […]“ Ein Jubelschrei lässt den Rest des Satzes untergehen. Letzte Angstattacke: Manuela erlebt den historischen Moment unmittelbar unter dem Balkon, ihr Freund steht irgendwo anders. „ Aber es gab ja so viele, die man umarmen konnte“. Und wieder geht dann alles ganz schnell. Im dritten oder
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vierten Zug, der noch in der Nacht Prag verlässt, sitzt das junge Paar aus Netzschkau und träumt vom Leben in der Freiheit. Der letzte, der Unfreiheit geschuldete Angstanfall liegt da nur kurz zurück: „In der Prager Bahnhofshalle mussten wir in einer langen Schlange warten. Wir hatten Angst, wir würden am Ausgang gefilzt und möglicherweise aussortiert – vielleicht, weil wir zu viel Geld dabei hatten. Mein Freund hat deshalb noch schnell ein Bündel Scheine die Toilette runtergespült“. Aber es geht alles gut. Auch auf dem Stück der Fahrt, das durch DDR-Gebiet und ausgerechnet durch das kleine Netzschkau führt. Manuela sieht am Bahnsteig ihren mit einem Regenschirm winkenden Vater und dann das Elternhaus, wo die Mutter und die Geschwister zum Fenster herausschauen. „Ein heikler Moment“, gesteht die 43-Jährige, ein tränenreicher. „Ich hab ja nicht gewusst, wann ich die wiedersehe“. Es folgt am nächsten Morgen ein mehr als warmherziger Empfang in Hof, der ersten Station im Westen. „Da standen so viele Leute, die haben uns bejubelt, als wären wir Stars“, sagt Manuela Beckmann. „Ich hab mich ein bisschen geschämt. Was hatten wir denn schon geleistet?“ Verlockender Überfluss Nach ein paar Tagen Aufenthalt in Bayreuth fährt das Paar weiter nach Bremen, wo ein Verwandter von Manuelas Freund lebt. Er leistete den beiden Starthilfe. Bald haben sie eine kleine Wohnung, einen Job und drei Putz-Nebenjobs. Sie wollen sich schließlich alle Dinge kaufen können. „Das war für uns total spannend, was es alles gab. Wir wussten, wenn wir das wollten, mussten wir arbeiten“. Schon kurz danach fällt die Mauer. Früher als erhofft werden Besuche in Netzschkau möglich. Und immer, wenn das Paar zurück im fernen Bremen ist, merkt Manuelas Freund, wie er die vertrauten Menschen seiner Heimat vermisst. Um den Vogtland näher zu sein, ziehen die beiden nach Nürnberg, finden hier wieder gute Jobs und eine schöne Wohnung. Aber das Heimweh des jungen Mannes legt sich nicht. Er will zurück ins Vogtland. Manuela kann sich die Rückkehr nicht vorstellen. Zu grau erscheint ihr die alte Heimat, und zu wohl fühlt sie sich längst in der neuen. Das Paar trennt sich. „Obwohl die Beziehung ansonsten intakt war“. Manuela bleibt allein in Nürnberg. Sie ist dabei, eine sächsisch sprechende Fränkin zu werden. Aber weil das Schicksal manchmal einen schrägen Humor hat, verliebt sie sich ausgerechnet beim Wochenendbesuch im Vogtland wieder in einen Ostdeutschen. „In der Disco. Und als ich verraten habe, dass ich in Nürnberg lebe, meinte er: Und ich in Erlangen“. Seit 18 Jahren sind beide glücklich verheiratet, haben zwei Söhne und es mit viel Fleiß zu etwas gebracht. „Nie“, heißt die knappe Antwort Manuela Beckmanns auf die Frage, ob sie es je bereut habe, so überstürzt geflohen zu sein. Irgendjemand muss immer den Anfang machen“. Und am besten tun das Leute, die die Kraft haben, das Glück zu erzwingen.
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5.6. Wende von unten – Leipzig 9. Oktober 1989. Die gescheiterte Gegenoffensive der Sicherheitskräfte173 Von Walter Süß In Leipzig versammelten sich – im Anschluß an eine ältere Tradition – ab Anfang September von Montag zu Montag mehr Demonstranten nach einem Friedensgebet in der Nikolaikirche, um der drohenden Staatsmacht erst „Wir wollen raus!“ und seit Ende September ein trotziges „Wir bleiben hier“ entgegenzuhalten Die Versuche von Volkspolizei und Staatssicherheit dieser Entwicklung durch selektive Repression beizukommen, bewirkten nichts. Am 22. September traf dann ein Schreiben Honeckers ein mit der Rüge, mancherorts seien Maßnahmen gegen „feindliche Aktionen“ vernachlässigt worden. Die SED-Bezirksleitung Leipzig fühlte sich durch Honeckers Kritik offenbar angesprochen und entwarf einen Plan von „Maßnahmen zur Mobilisierung [...] zur offensiven Bekämpfung und Zurückdrängung antisozialistischer Aktivitäten in der Stadt Leipzig“.174 Bemerkenswert an diesem Vorhaben war vor allem, dass ihm die Annahme zugrunde lag, es sei möglich, „in kürzester Frist“ in der nun schon seit Monaten frustrierten Parteibasis „tiefes Vertrauen, Treue, Standhaftigkeit und hohe Einsatzbereitschaft auszuprägen“ und sie zu „hoher Aktivität“ zu mobilisieren. Von dieser Prämisse ausgehend wurde eine politische Offensive gegen die Bürgerbewegung mit Hilfe der Anhänger des Systems geplant. Es ist nicht notwendig, alle „Partner“ aufzuzählen, die man für dieses Vorhaben einzuspannen beabsichtigte: vom Stadtoberhaupt bis hin zu den Bezirksvorsitzenden der Blockparteien. Oberbürgermeister Bernd Seidel etwa wurde beauftragt, mit den beiden Leipziger Superintendenten zu sprechen und „sie aufzufordern, ihre Position zu ändern“. Der Formulierung war schon die Erwartung abzulesen, dass dies Friedrich Magirius und Johannes Richter wahrscheinlich nicht sonderlich beeindrucken würde.175 Selbstverständlich wurde auch den „Schutz173 Süß, Walter: Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern (Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes im Ch. Links Verlag Bd. 15), Berlin 1999, S. 301-314. In der Originalversion wurde die Darstellung mit 68 Fußnoten belegt; hier wird nur die wichtigste Literatur aufgeführt. 174 „Maßnahmen zur Mobilisierung der Mitglieder und Kandidaten der Bezirksparteiorganisation, aller in der Nationalen Front vereinten gesellschaftlichen Kräfte sowie der Staats- und Sicherheitsorgane zur offensiven Bekämpfung und Zurückdrängung antisozialistischer Aktivitäten in der Stadt Leipzig“ (künftig: Plan der SED-Bezirksleitung Leipzig) vom 27.9.19879. Nachdruck in: Sächsischer Landtag, Sonderausschuß, Drucksache 1/4773, Anlage Arnold, S. 572-578. 175 Das Gespräch fand tatsächlich am 5.10.1989 beim Vorsitzenden des Rates Bezirkes, Rolf Opitz, statt, wobei auf kirchlicher Seite Landesbischof Hempel der Wortführer war. Von staatlicher Seite wurde darauf gedrungen, „dass am nächsten Montag in Nikolai nur eine religiöse Veranstaltung stattfindet. Keine politische Versammlung“. (Opitz) Eine solche Zusage wurde nicht gegeben, denn, so Oberkirchenrat Auerbach: „Wir müssen heute biblische Botschaft und unsere Situation in Beziehung setzen“. Gesprächsprotokoll von Johannes Richter, in: Kaufmann, Mundus u. Nowak (Hrsg.): Sorget nicht, was ihr reden werdet (1993), S. 281-286. Der
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und Sicherheitsorganen” eine wesentliche Rolle zugewiesen. Sie wurden verpflichtet, „die Konzentration feindlich-negativer Kräfte an bekannten Handlungsorten“, damit war gewiß der Vorplatz der Nikolaikirche gemeint, „nicht zuzulassen und jegliche Anzeichen dieser Art im Keim zu ersticken“. Honeckers Anweisung, die „Organisatoren“ der Protestbewegung zu „isolieren“, wurde von der Leipziger SED-Leitung konkretisiert als die Vorgabe, dass „bekannte negative Kräfte in einer offensiven massenpolitischen Arbeit bloßgestellt, entlarvt und so diszipliniert werden, dass sie an weiteren Handlungen gegen den sozialistischen Arbeiter- und Bauern-Staat nicht mehr teilnehmen“. In den „Arbeitskollektiven und städtischen Wohngebieten“ sollten die Parteimitglieder eine „offensive, lebensnahe Aussprache“ initiieren, um „eine Verurteilung der Absichten konterrevolutionärer Elemente zu erreichen“. Man ahnt, welche Reaktionen sich diejenigen SED-Genossen, die das tatsächlich versucht haben, einhandelten. Diese Formulierungen erinnern gewiß nicht zufällig an die DDR der fünfziger Jahre und mehr noch an die Stalin-Zeit, wobei es sich damals jedoch um agitatorische Begleiterscheinungen von Verhaftungen und Schauprozessen gehandelt hätte. Die Zeiten aber waren nicht mehr so. Die Drohung mit terroristischer Gewalt, die solche Agitationskampagnen erst wirksam gemacht hatte, griff nicht mehr. Tatsächlich wurde hier zum letzten Mal der Versuch unternommen, den gesellschaftlichen Widerstand mit den politischen Ritualen des Stalinismus zu brechen, wobei es sich aber nur noch um eine Fassade ohne Substanz handelte. Ob den regionalen SEDFunktionären klar war, dass sie eine Farce organisierten, ist nicht so wichtig. Entscheidend ist, dass dieser Versuch unternommen wurde: Es zeigt, wie die Hardliner in der Partei an die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten gelangten, Grenzen, die politischer, nicht militärischer Art waren. Bei der Demonstration am 2. Oktober, an der nach Schätzung von Volkspolizei und Staatssicherheit 8.000, nach der von Beteiligten etwa 25.000 Menschen teilgenommen hatten, kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei und zu zwanzig Verhaftungen. Über den Ablauf dieses Tages berichteten die Leiter der verschiedenen Machtapparate nach Berlin. Generalmajor Gerhard Straßenburg, Chef der Bezirksverwaltung der Volkspolizei, schickte ein Fernschreiben an Innenminister Dickel. Nach seiner Schilderung hatte die „massenpolitische Arbeit“ der SED einen kontraproduktiven Effekt: „Die meiner Meinung nach zu späte politische Aktivität bzw. Konterpropaganda zur Aufklärung in Betrieben und Einrichtungen der Stadtleitung der SED erhöhte ungewollt die Anzahl der Interessenten und Schaulustigen“.176
nicht in diesem Grundkonflikt, aber sonst in der Nuancierung deutlich unterschiedliche Vermerk der staatlichen Seite zu diesem Gespräch ist nachgedruckt in: Dietrich u. Schwabe (Hrsg.): Freunde und Feinde, 1994, S. 447-450. 176 Schreiben des Chefs der BDVP Leipzig, Generalmajor Straßenburg, an den Minister des Innern vom 3.10.1989. Nachdruck in: Sächsischer Landtag, Sonderausschuß, Drucksache 1/4773, Anlage Arnold, S. 587-591.
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Aus den Reihen der Volkspolizei war schon im September berichtet worden, dass „die Angst vor der Durchführung der Montagseinsätze“ wächst.177 Würde man Straßenburg Glauben schenken, so muß die Lage am 2. Oktober geradezu furchterregend gewesen sein. Er berichtete, die Polizei sei ständig angegriffen worden: „z. B. bewegte sich ein Genosse aus der Sperrkette in Richtung eines Provokateurs mit dem Auftrag der Zuführung. Sofort stürzten sich ca. 10 Frauen und Männer auf den Genossen, warfen die Mütze weg, zerrten an den Haaren, Schulterstücken und Uniformteilen und schlugen auf ihn ein“. Überhaupt: „Sehr auffallend und provokativ frech sind dabei Bürgerinnen“. Tatsächlich hatten in der ersten Phase der Leipziger Bürgerrevolution, als es noch wirklich gefährlich war, auf die Straße zu gehen, couragierte Frauen eine besonders große Rolle gespielt. Später, als mit Demonstrationen kein Risiko mehr verbunden war, wurden sie von lautstarken Männern in den Hintergrund gedrängt.178 Am 2. Oktober aber zeigte ihr Engagement noch sichtbare Wirkung: „Die [Sicherheits-]Kräfte waren von der hohen Menschenkonzentration, den rowdyhaften Ausschreitungen und dem aktiven Widerstand sichtlich beeindruckt sowie äußerst erschrocken über das aggressive Handeln der weiblichen Demonstranten“. Der VP-Chef brachte seine „Reserve“ zum Einsatz, doch auch ihr gelang es nicht, die Demonstration aufzulösen. Erst als sie mit „Sonderausrüstung“ aufgerüstet worden war, das heißt mit Gummiknüppeln, Schilden, Hunden und Wasserwerfern, verließ die Menge „fluchtartig Straßen und Plätze“. Diese Schilderung war, außer im letzten Punkt, grotesk überzeichnet.179 Nachträglich wurde festgestellt, dass zwei Einsatzkräfte „leicht“ und acht andere „geringfügig verletzt“ worden waren180 – wobei anzunehmen ist, dass jeder Kratzer gemeldet worden ist. Wie viele Demonstranten verletzt worden sind, wurde nicht berichtet – es werden erheblich mehr gewesen sein. Der Sinn dieser Meldung kann – soweit es sich nicht um blanke Hysterie handelte – nur gewesen sein, dass Straßenburg für den folgenden Montag die Erlaubnis haben wollte, „Sonderausrüstung“ sofort einzusetzen. Er erhielt sie. Außerdem machte er zusätzlichen Personalbedarf
177 Auszug aus dem Bericht der SED-Grundorganisation in der 21. VP-Bereitschaft Dresden vom September 1989. Nachdruck in: Dietrich u. Schwabe (Hrsg.): Freunde und Feinde, 1994, S. 431 f. 178 Diese Aussage basiert auf den Berichten von Teilnehmerinnen gegenüber dem Verf. und der Fotodokumentation, in: Leipziger DeMonTagebuch (1990). – Das Leipziger Jugendinstitut hat ab Anfang Dezember 1989 eine empirische Untersuchung der Demonstrationen gemacht und festgestellt, dass der Frauenanteil bis zum März 1990 von einem Drittel auf ein Viertel der Demonstranten zurückgegangen ist. Förster u. Roski: DDR zwischen Wende und Wahl, 1990, S. 161. 179 Nüchterner war die Schilderung der Leipziger Staatssicherheit. Fernschreiben des Chefs der BVfS Leipzig, Generalleutnant Hummitzsch, an die stellvertretenden Minister Mittig und Neiber vom 2.10.1989. BStU, ZA, Neiber 617, Bl. 88-92. 180 „Analyse“ der Abteilung Operativ der BDVP Leipzig vom 12.10.1989 „zum ‚Friedensgebet‘ / Montagsgebet in der Nikolaikirche“. Nachdruck in: Sächsischer Landtag, Sonderausschuß, Drucksache 1/4773, Anlage Arnold, S. 683-696, hier S. 693.
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geltend, er nannte vor allem die Kampfgruppen, um sein Vorhaben für den 9. Oktober zu realisieren: „Ich strebe an, eine Konzentration dieser Kräfte“, gemeint waren die Demonstranten, „vor der Nikolaikirche gar nicht erst zuzulassen“. Der 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung Leipzig, Hackenberg, berichtete ebenfalls in einem Telegramm nach Berlin. Er war damals faktisch der Chef der Leipziger SED, weil der 1. Sekretär schon seit Monaten krank war. In seinem Bericht übernahm er wörtlich eine Formulierung aus der Vorlage der Leipziger Staatssicherheit: „Auf Grund der Aggressivität der Teilnehmer und der hohen Personenzahl konnten die vorbereiteten Varianten zur Räumung des Kirchenvorplatzes [an der Nikolaikirche] und zur Kanalisierung der Bewegungsrichtung nicht angewandt werden. „Die Sicherheitskräfte seien zeitweise zurückgewichen. Um am 9. Oktober Ähnliches zu vermeiden, machte Hackenberg Vorschläge: Verbot der MontagsGottesdienste als Ausgangspunkt der Demonstrationen, Mobilisierung der systemtreuen Bürger und Erhöhung der Gewaltbereitschaft. Angeblich wollten die Anhänger des Systems nicht mehr länger stillhalten: „Es gibt bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung keine Unterstützung dieser Provokationen, aber Sorge über diese Entwicklung, bei den Kommunisten die Bereitschaft und das Verlangen, entschlossener zu handeln und gegen die feindlichen Elemente vorzugehen“. „Zahlreiche [...] persönliche Bekenntnisse von Kämpfern, Unterführern und Kommandeuren [der Kampfgruppen] [...], die Heimat mit der Waffe gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen, waren Ausdruck dafür“.181
Dieses Telegramm landete in Berlin auf dem Schreibtisch von Egon Krenz, der daraus eine „Hausmitteilung“ für Honecker und die Mitglieder des Politbüros machte. Für die Einschätzung der – schwankenden – Position von Krenz ist sein Umgang mit diesem Schreiben aufschlußreich: Die Schilderung des Ablaufs der Ereignisse am 2. Oktober seitens des Leipziger Genossen übernahm er fast wörtlich, alle scharfmacherischen Schlußfolgerungen ließ er unter den Tisch fallen, fügte jedoch das Hackenberg-Telegramm als Anlage bei.182 In den folgenden Tagen bemühte sich die Leipziger SED erneut, ihre Anhängerschaft gegen die drohende Bürgerrevolution zu mobilisieren. Ein viel zitierter Höhepunkt wurde am 6. Oktober mit der Veröffentlichung des „Briefes“ eines Kampfgruppenkommandeurs in der „Leipziger Volkszeitung“ erreicht. „Die Angehörigen der Kampfgruppenhundertschaft ‚Hans Geiffert‘ verurteilen, was gewissenlose Elemente seit einiger Zeit in der Stadt Leipzig anstellen [...] Wir sind bereit und Willens, das von uns mit unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu schützen, um diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muß mit der Waffe in der Hand!“183
181 Fernschreiben des amtierenden 1. Sekretärs der Bezirksleitung der SED Leipzig, Hackenberg, an Honecker vom 3.10.1989; BA Berlin, DY 30 J IV 2/2.039/317, Bl. 1-8. 182 Egon Krenz: Hausmitteilung an Erich Honecker vom 3.10.1989; BA Berlin, DY 30, J IV 2/2.039/317, Bl. 1-8. 183 Nachdruck in: Neues Forum Leipzig: Jetzt oder nie (1989), S. 63.
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Scheinbar unter dem Eindruck der vorangegangenen Tage formuliert, war diese Tirade tatsächlich schon zwei Wochen zuvor, in dem „Maßnahmeplan“ der SEDLeitung, konzipiert worden. Sie war also nicht Ausdruck wachsender Militanz der Stützen des Regimes – tatsächlich wuchs auch in den Kampfgruppen die Empörung über dessen Verbohrtheit –, sondern politische Taktik regionaler SED-Funktionäre.184 Offenkundig sollte sie dazu dienen, die Gegenseite agitatorisch einzuschüchtern, war aber nicht wörtlich gemeint. Selbst in Hackenbergs Telegramm nach Berlin wurde – ganz im Sinne seines Mitkämpfers Straßenburg – nur die „Anwendung polizeilicher Hilfsmittel“ und „der Einsatz von Spezialkräften der DVP [Deutschen Volkspolizei]“ vorgeschlagen, nicht aber der Gebrauch von Schusswaffen. Der Einschüchterungseffekt war tatsächlich gering. Schon am Tag nach dieser Veröffentlichung gingen wieder etwa 4.000 Menschen auf der Straße und wurden neuerlich von Polizei und Staatssicherheit bedrängt; 210 Personen wurden festgenommen. In seinem alarmistischen Brief vom 8. Oktober an alle SED-Bezirksleitungen hatte Honecker explizit auch auf dieses Ereignis hingewiesen. Seine Vorgabe, „weitere Krawalle“ „von vornherein zu unterbinden“ und mehr noch Mielkes Befehl, „offensive Maßnahmen“ zur „Auflösung von Zusammenrottungen“ zu ergreifen, mußten die ohnehin angespannte Situation weiter verschärfen. Es war am 9. Oktober allen Akteuren bewußt, dass sich die Situation auf eine möglicherweise fatale Entscheidung zubewegte, deren Implikationen kaum überschaubar waren, denn „Leipzig“ war anders als der Rest der Republik: Dort hatten bisher schon die größten Demonstrationen stattgefunden, war die SED-Bezirksleitung besonders borniert und waren die Auseinandersetzungen seit Wochen so hart gewesen wie andernorts nur am 7. und 8. Oktober. Verschiedene Initiativen zur Deeskalation wurden ergriffen, die alle von der Prämisse ausgingen, dass eine Änderung der herrschenden Politik nicht mehr länger aufzuschieben war. Walter Friedrich, der Leiter des Leipziger Instituts für Jugendforschung und deshalb seit vielen Jahren schon im Kontakt mit Egon Krenz, nutzte seine Beziehungen und fuhr am frühen Morgen nach Berlin, um den ZK-Sekretär für Jugend (und für Sicherheit) zu beschwören, seinen Einfluß geltend zu machen: „Es darf in Leipzig nicht geschossen werden!“185 Krenz behauptet, er habe Mielke (Staatssicherheit), Dickel (Polizei) und Keßler (Armee) noch in diesen Stunden entsprechende Anweisungen gegeben.186 Ein Beweis dafür ist nicht bekannt. Allerdings
184 In dem Plan war angewiesen worden: „Aus den Kollektiven der Kampfgruppen sind Stellungnahmen und persönliche Standpunkte zu organisieren, in denen sich Kämpfer, Unterführer und Kommandeure öffentlich dazu bekennen, in diesen Tagen verstärkte Angriffe des Gegners gegen die DDR im Sinne des Gelöbnisses der Kampfgruppen der Arbeiterklasse abzuwehren, eine hohe Bereitschaft zu entwickeln, die Heimat mit der Waffe gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen“. Plan der SED-Bezirksleitung Leipzig vom 27.9.1989, S. 575. 185 Interview mit Walter Friedrich in: Kuhn: Der Tag der Entscheidung, 1992, S. 87. Das Zitat stammt aus dem schriftlichen Memorandum, das er bei dieser Gelegenheit überreichte, dokumentiert in: Ebenda, S. 91-111, hier S. 101. 186 Krenz: Mauern, 1990, S. 135 f.
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ist die relativ zurückhaltende Position, die Mielke wenige Stunden später zu den Deeskalationsbemühungen in Dresden bezogen hat, ein Indiz dafür, dass er zwischenzeitlich tatsächlich zu einer Kurskorrektur veranlaßt worden war In Leipzig selbst verteilten Mitglieder des Neuen Forums einen Aufruf, in dem dringend vor einer „Konfrontation mit BePo (Bereitschaftspolizei) und Kampfgruppen“ gewarnt und gefordert wurde, sich nicht provozieren zu lassen. 187 Ein weiterer, sinngemäß ähnlicher Appell wurde von der Arbeitsgruppe Menschenrechte, einer lokalen Bürgerrechtsorganisation, verteilt. Bischof Hempel traf sich noch einmal mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des Rats des Bezirkes für Innere Angelegenheiten, Hartmut Reitmann, um anzukündigen, dass er selbst abends in der Nikolaikirche sprechen werde, um zu „Besonnenheit und absolute[r] Gewaltlosigkeit“ aufzufordern und an die Anwesenden zu appellieren, „nach der Andacht ruhig nach Hause zu gehen“. Reitmann erklärte sich im Gegenzug bereit, am nächsten Tag – explizit nach Dresdner Vorbild – zwanzig Mitglieder von kirchlichen Basisgruppen zum Gespräch zu empfangen.188 Die wichtigste Initiative wurde an diesem Tag von Kurt Masur, dem Gewandhauskapellmeister, ergriffen, der dem Mitglied der SED-Bezirksleitung Leipzig Kurt Meyer den Vorschlag machte, sich mit einem gemeinsamen „Appell zur Besonnenheit“ an „alle Leipziger“, Demonstranten und Sicherheitskräfte zu wenden.189 Aus dieser Initiative ging der berühmte „Aufruf der Sechs“ hervor: drei angesehenen Leipziger Bürgern und drei SED-Funktionären. Die Leipziger SEDBezirksleitung war damit fast, aber nicht ganz gespalten: Hackenberg, ihr amtierender 1. Sekretär, hat diesen „Aufruf“ nicht unterstützt. Er hat aber auch keinen Versuch unternommen, die anderen Mitglieder der Bezirksleitung von ihrer Initiative, über die er von Anfang an informiert war, abzuhalten.190 Die Nikolaikirche war zur gleichen Zeit, am frühen Nachmittag, bereits überfüllt: von Gläubigen, von Bürgerrechtlern und von „gesellschaftlichen Kräften“ deren Funktion sein sollte, den „negativen Kräften“ den Platz wegzunehmen.191 Die „gesellschaftlichen Kräfte“ verhielten sich die ganze Zeit über erstaunlich ruhig. 187 Aufruf in Kuhn: Der Tag der Entscheidung, 1992, S. 82 f. 188 Zitiert nach dem staatlichen Gesprächsprotokoll in: Dietrich u. Schwabe (Hrsg.): Freunde und Feinde, 1994, S. 453-455. Tatsächlich fand das Gespräch zwischen Basisgruppen und Rat des Bezirks am 13.10. statt. 189 Interview mit Kurt Meyer in: Neues Forum Leipzig (Hrsg.): Jetzt oder nie, 1989, S. 282-287. 190 Interview mit Kurt Meyer in: ebenda, S. 285. Mitteilung der SED-Bezirksleitung Leipzig an das ZK der SED vom 10.10.1989, in: Dietrich u. Schwabe (Hrsg.): Freunde und Feinde, 1994, S. 458. – Die Interpretation von Zwahr, Hackenberg habe den Entschluß, einen Aufruf zur Gewaltlosigkeit zu verfassen, „nicht mitgetragen“, betont nur die eine Seite in der Rolle von Hackenberg. Zwahr: Ende einer Selbstzerstörung, 1991, S. 84. 191 Hackenberg hatte am 5.10.1989 nach Berlin berichtet, am 9.10. würden „5.000 Partei-, FDJund Gewerkschaftsmitglieder auf dem Vorplatz der Nikolaikirche“ platziert. Geplant sei, „dass mit Öffnung der Nikolaikirche zum ‚Gebet‘ sofort 2.000 Parteiaktivisten im Innenraum Platz nehmen und der Zugang negativer Kräfte weitgehend eingeschränkt wird“. Fernschreiben von Hackenberg an Krenz vom 5.10.1989, S. 606. Tatsächlich sollen nur 600 Parteikader gekommen sein. Dietrich u. Schwabe (Hrsg.): Freunde und Feinde, 1994, S. 458, Anm. 715.
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Christian Führer, Pfarrer an der Nikolaikirche, sagte danach, gewiß hätten etliche nicht mitgebetet: „Aber sonst, die Konzentration – wir würden mit unserem kirchlichen Fachausdruck sagen: die Andacht – war ganz hervorragend und konzentriert“.192 Der Grund war wohl nicht nur das ungewohnte Ambiente, sondern bei manchen auch das Gefühl, für ein schäbiges politisches Manöver mißbraucht zu werden, in eine „unangenehme und peinliche Situation“ geraten zu sein. Eine Dozentin von der Karl-Marx-Universität, die zu den Parteigenossen gehört hatte, berichtete später, mit welchen Empfindungen sie dorthin gegangen war: ”Im Rathaus fand 13.00 Uhr die zweite Anleitung durch einen Sekretär der SEDKreisleitung statt. Wir sollten in kleinen Gruppen zur Nikolaikirche gehen. [...] Ein Student sagte, er halte das Ganze für ein Husarenstück. Ihm wurde maßregelnd das Wort entzogen. Eine Genossin beschwerte sich daraufhin über diese Art und Weise und den Umgangston. Es gab ein Hin und Her, bis Professor Bernd Okun aufstand und erklärte, warum er eigentlich hier sei und auch in der Kirche etwas sagen wolle. Die ungeheuerliche Arroganz der Parteiführung und Ignoranz den Geschehnissen in diesem Lande gegenüber, sie sei schlimm. Er sprach zum erstenmal öffentlich aus, was viele von uns dachten. Es sei vielleicht schon zu spät, das einzige, was wir machen könnten, sei, Zeit zu gewinnen, um miteinander zu reden, dass nichts Schlimmes passiere. Plötzlich brüllte einer von der Tür, wie lange wir denn noch diskutieren wollten, die Kirche fülle sich schon. Gegen 14.00 Uhr betraten wir die Kirche. Dann haben wir diese Stunden dort gesessen“.193
Um 17.00 Uhr begann in vier überfüllten Leipziger Kirchen der Abend mit einem Friedensgebet. Die Geistlichen sprachen in unterschiedlichen Nuancen, aber alle mit gebändigtem Zorn über die Halsstarrigkeit der Mächtigen, die Bedrängnis der Gläubigen und die Notwendigkeit von Veränderungen.194 Die anschließende Demonstration erwähnte keiner explizit. Nur Pfarrer Hans-Jürgen Sievers, der in der Reformierten Kirche predigte, forderte zur Teilnahme auf, aber auch er sehr verhalten: „Wenn unser Gottesdienst beendet ist, werden einige schnell nach Hause gehen. Ich möchte all denen danken, dass sie ihre Angst überwunden haben und gekommen sind. [...] Allen anderen, die noch in der Stadt bleiben, möchte ich danken, wenn sie durch ihr Bleiben ihrer Sehnsucht nach Veränderung Ausdruck geben, der Sehnsucht danach, wie ein Mensch behandelt zu werden. Ich möchte noch einmal um strikte Gewaltlosigkeit bitten“.195
192 Zitiert nach Lutz Löscher u. Jürgen Vogel: Leipziger Herbst. Eine subjektive Dokumentation, Sender Leipzig 30.12.1989. Nachdruck in: Heym u. Heiduczek: Die sanfte Revolution, 1990, S. 127-145, hier S. 138. 193 Interview mit Helga Wagner, in: Neues Forum Leipzig (Hrsg.): Jetzt oder nie, 1989, S. 88 f. 194 Die Predigten sind abgedruckt in: Dona nobis pacem, 1996, S. 37-55. 195 Text in: Ebenda, S. 43-45. – Auch am folgenden Montag, dem 16.10. war die Reformierte Kirche die einzige der fünf Leipziger Kirchen, in der „faktisch zur Teilnahme an der Demonstration aufgerufen“ wurde. Fernschreiben des 2.Sekretärs der SED-BL Leipzig, Hackenberg, an Honecker vom 17.10.1989; Nachdruck in: Sächsischer Landtag, Sonderausschuß, Drucksache 1/4773, Anlage Arnold, S. 710-714, hier S. 714.
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Bischof Hempel eilte von Kirche zu Kirche, um die Menschen zu ermutigen und um sie „um einen kühlen Kopf, um Besonnenheit und unbedingte Gewaltlosigkeit“196 zu bitten. Dann erteilte er Ratschläge, wie man unter Umgehung der Sicherheitskräfte am besten nach Hause kommen würde.197 Das war nicht Ausdruck besonderer Ängstlichkeit oder fauler Kompromisse mit den Gewalthabern, vielmehr befanden sich gerade die engagierten Geistlichen in einem schier unlösbaren Dilemma: Darum wissend, dass gesellschaftlicher Druck notwendig war, um die überfälligen Veränderungen zu erzwingen, fürchteten sie zugleich gerade für diesen Abend das Schlimmste. Sie glaubten, die Verantwortung nicht übernehmen zu können, die Menschen, die ihnen vertrauten, in ein Abenteuer zu schicken.198 Das hielt jedoch kaum einen der Teilnehmer davon ab, sich anschließend in eigener Sache und Verantwortung der Demonstration anzuschließen. Die Besucher der Friedensgebete hatten noch während der Gottesdienste zusätzliche Ermutigung erfahren: Der „Aufruf der Sechs“, der eine Wende signalisierte, war bekanntgegeben worden, und zumindest in der Nikolaikirche war auch über den Beginn einer Verständigung in Dresden berichtet worden. Als sie die Kirche nach dem Friedensgebet verließen, einte für ihre Bürgerrechte Engagierte und Zaungäste dennoch die Angst davor, von den dicht gestaffelten Sicherheitskräften attackiert zu werden. Tatsächlich war eine wichtige Entscheidung aber bereits gefallen. Um 18.00 Uhr wurde über die allerorts installierten Lautsprecher des Stadtrundfunks jener „Aufruf“ verlesen: „Die Leipziger Bürger Professor Kurt Masur, Pfarrer Dr. Zimmermann, der Kabarettist Bernd-Lutz Lange und die Sekretäre der SED-Bezirksleitung Dr. Kurt Meyer, Jochen Pommert und Dr. Roland Wötzel wenden sich mit folgendem Aufruf an alle Leipziger: Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns heute zusammengeführt. Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung. Wir alle brauchen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die Genannten heute allen Bürgern, ihre ganze Kraft und Autorität dafür einzusetzen, dass dieser Dialog nicht nur im 196 Text der Ansprache von Bischof Hempel am 9. Oktober in St. Thomas, in: Dona nobis pacem, 1996, S. 47 f. 197 Löffler, Staatssekretär für Kirchenfragen, berichtete am nächsten Tag in einem Vermerk, Bischof Hempel habe in allen fünf Gottesdiensten so argumentiert. Vermerk von Löffler vom 10.10.1989; BA Berlin, DY 30 IV B 2/14/71, Bl. 14. Nachdruck in: Dietrich u. Schwabe (Hrsg.): Freunde und Feinde, 1994, S. 461 f. 198 Ebenfalls am 9. Oktober veröffentlichen in Berlin 18 Amtsträger der evangelischen Kirche, unter ihnen Bischof Forck, Generalsuperintendent Günter Krusche, Konsistorialpräsident Stolpe, Probst Furian und Stadtjugendpfarrer Hülsemann, unter dem Eindruck der Repression an den Tagen zuvor einen Appell mit „vier dringenden Bitten“. Die Bürger wurden gebeten, „ab sofort angstfrei Meinungsfreiheit auszuüben“, die Staatsführung „umgehend deutliche und glaubhafte Schritte einzuleiten [...] für eine demokratische, rechtsstaatliche sozialistische Perspektive“; die Ordnungs- und Sicherheitskräfte werden zu „größtmöglicher Zurückhaltung“ aufgefordert und die „beunruhigten Menschen“ schließlich wurden gebeten, „jetzt von allen nicht genehmigten Demonstrationen auf den Straßen abzusehen“. „Vier dringende Bitten“ 9.10.1989. BA Berlin, DY 30 IV B 2/14/44, Bl. 79.
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Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird. Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird. Es sprach Kurt Masur“.199
An diesem Aufruf waren mehrere Aspekte bemerkenswert: der Brückenschlag zwischen anerkannten Repräsentanten der Bürgerschaft und Vertretern der Macht; die Forderung nach einem „freien Meinungsaustausch“ nicht nur innerhalb der Stadt, in der aktuell angespannten Situation, sondern auch „mit unserer Regierung“ (im fernen Berlin); und schließlich das implizite Versprechen, dass „Besonnenheit“ einen „Dialog“ möglich machen würde. Die Ausstrahlung dieses Textes ließ zudem Schlüsse hinsichtlich der Situation in der SED-Bezirksleitung zu: Würde man dort zu diesem Zeitpunkt noch auf eine gewaltsame Zerschlagung der Demonstration gesetzt haben, dann wäre es unsinnig gewesen, die Verbreitung eines aus der Sicht von Hardlinern zweifellos defaitistischen „Aufrufs“ zuzulassen. Hackenberg hatte aber sogar Anweisung gegeben, Pfarrer Zimmermann durch den Polizeikordon in die Nikolaikirche zu lassen, um dort den Text bekanntzugeben.200 Ob ihm dabei bekannt war, dass der Bote als IM „Karl Erb“ der Staatssicherheit verpflichtet war,201 ist ungewiß. Es hat auf jeden Fall keine erkennbare Bedeutung gehabt.202 Mit der Bekanntgabe des „Aufrufs der Sechs war die Entscheidung, wie dieser Abend ausgehen würde, noch nicht endgültig gefallen. Es galt für die Sicherheitskräfte noch immer der Befehl, den Demonstrationszug vor dem Hauptbahnhof abzudrängen und aufzulösen. Das war der kritische Punkt.203 Um 18:35 Uhr war das Friedensgebet in der Nikolaikirche beendet, in den anderen Kirchen etwas früher.204 Die Demonstration von etwa 70.000 Menschen begann ihren Weg um den „Ring“ in Richtung Hauptbahnhof. In diesem Moment gab Hackenberg den Sicherheitskräften den Befehl, sich zurückzuziehen und zur „Eigensicherung“ überzugehen.205 Was war geschehen? Straßenburg, der VP-Chef, hat im nachhinein behauptet, er sei es gewesen, der der Vernunft zum Sieg verholfen hat. Doch dagegen
199 Fernschreiben des Leiters der BVfS Leipzig, Hummitzsch, an das MfS Berlin vom 9.10.1989, Anlage 1; BStU, ZA, Neiber 617, Bl. 105. Nachdruck in: Neues Forum Leipzig (Hrsg.): Jetzt oder nie, 1989, S. 82 f. 200 Interview mit K. Meyer in: Neues Forum Leipzig (Hrsg.): Jetzt oder nie, 1989, S. 285. 201 Zwahr: Ende einer Selbstzerstörung, 1991, S. 93; Dietrich u. Schwabe (Hrsg.): Freunde und Feinde, 1994, S. 566. 202 Teil I und der letzte Band von Teil II der IM-Akte, der einen entsprechenden Hinweis hätte enthalten können, wurde vernichtet; BStU, ASt Leipzig, AIM 8073/92. Schon aus zeitlichen Gründen war aber eine Absprache des IM mit seinem Führungsoffizier an diesem Nachmittag kaum möglich, was hätte er ihm auch sagen sollen? Eine Weisung des amtierenden SED-Chefs war durch keinen MfS-Offizier aufzuheben. 203 Wötzel in: Kuhn: Der Tag der Entscheidung, 1992, S. 130. 204 Lagefilm der BDVP Leipzig vom 9.10.1989, Nachdruck in: Sächsischer Landtag, Sonderausschuß, Drucksache 1/4773, Anlage Arnold, S. 625-639, hier S. 633 f. 205 „09.10.89, 18:35 Uhr: Vorsitzender der BEL [Hackenberg] und Chef [der BDVP, Straßenburg]: Nach Bestätigung wird befohlen, keine aktiven Handlungen gegenüber den Demonstranten zu unternehmen. Befehl Chef [der BDVP]: An alle Einsatzkräfte ist der Befehl zu erteilen, dass
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spricht die Befehlslage: Hackenberg war der Chef Zudem soll Straßenburg noch Wochen später, berichtete empört ein MfS-Mitarbeiter, geprotzt haben: „Er hätte am 9. Oktober, wenn er als letzter zu entscheiden gehabt hätte, seine Truppen zum Einsatz gebracht. – Äußerung von Anfang November!“206 Vielleicht aber hat Straßenburg bei dieser Gelegenheit nur den Mund erneut etwas voll genommen. Der 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung Hackenberg, um den sich in diesen Stunden alles drehte, war, wie sich im Umfeld des 2. Oktober gezeigt hatte, ein Hardliner Inzwischen waren ihm aber offenbar Zweifel gekommen. Mit der Entscheidung, den „Aufruf der Sechs“ nicht zu blockieren, hatte er eine Vorentscheidung getroffen, die jedoch noch hätte revidiert werden können. Der Befehl zur „Eigensicherung“ überzugehen, war, ex-post betrachtet, entscheidend. Doch Hackenberg wollte die Verantwortung offenbar nicht allein tragen und versuchte die Entscheidung auf Berlin abzuwälzen. Er telefonierte mit Krenz, der versprach zurückzurufen, doch dieser Anruf kam nicht. Um 19:00 Uhr erreichte der Demonstrationszug den Hauptbahnhof, Hackenberg seufzte: „Nu brauchen se auch nicht anzurufen, nu sind se ’rum!“207 Endlich, gegen 19:30 Uhr, rief Krenz dann doch noch an.208 Die Zeugen dieses Gesprächs berichten nicht, was Krenz gesagt hat. Aufschluß darüber gibt ein Vermerk des Staatssekretärs für Kirchenfragen, Kurt Löffler. Er telefonierte an diesem Abend mit dem Vorsitzenden des Rates des Bezirks Leipzig und notierte: „Im Anschluß an die Friedensgebete hat sich eine Demonstration formiert, die bis auf ca. 50.000 Teilnehmer angewachsen war und durch die Innenstadt von Leipzig marschiert. In Übereinstimmung mit Genossen Egon Krenz greifen die Ordnungskräfte nicht ein, solange keine gewaltsamen Aktionen aus der Demonstration heraus stattfinden“.209
Die Formulierung „in Übereinstimmung“ dürfte den Sachverhalt zutreffend wiedergeben: Krenz hatte keine eigene Entscheidung getroffen, aber er hatte der Leipziger SED-Führung den Spielraum zugebilligt, selbst zu entscheiden, und er hat nachträglich ihren Beschluß, keine Konfrontation zu provozieren, gebilligt. Neben der Parteischiene hatten die Sicherheitsapparate – Polizei und Staatssicherheit – ihren eigenen, direkten Draht nach Berlin. Der Leiter der Leipziger Be-
der Übergang zur Eigensicherung einzuleiten ist! Einsatz Kräfte nur bei Angriffen auf Sicherungskräfte, Objekte und Einrichtungen“. Übersicht der BDVP Leipzig zu „Aufgaben und Befehlsgebung“ 2.-9.10.1989. Ebenda, S. 679. 206 AKG der HA VII: „Information über die aktuelle Entwicklung der politisch-operativen Lage im Verantwortungsbereich der HA und Linie VII“ vom 17.11.1989. BStU, HA VII 1359, Bl. 65-67, S. 65. 207 Zitiert von Wötzel in: Kuhn: Der Tag der Entscheidung, 1992, S. 134. 208 Interview mit Wötzel in: Kuhn: Der Tag der Entscheidung, 1992, S. 134; Kurt Masur in: Neues Forum Leipzig (Hrsg.): Jetzt oder nie, 1989, S. 275. 209 Vermerk des Staatssekretärs für Kirchenfragen, Kurt Löffler, über eine telefonische Mitteilung des Vorsitzenden des Rates des Bezirks Leipzig, Rolf Opitz, am 9.10.1989, 20:30 Uhr. SAPMO-BA, ZPA, DY 30 IV 2/14/71, Bl. 14. Nachdruck in: Dietrich u. Schwabe (Hrsg.): Freunde und Feinde, 1994, S. 461 f.
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zirksverwaltung für Staatssicherheit, Generalleutnant Hummitzsch, erklärte nachträglich, er habe am 9. Oktober mehrfach mit Mielke und mit Mittig gesprochen und sei zu „außerordentlicher Zurückhaltung“ aufgefordert worden.210 Am Abend dieses Tages telegraphierte er nach Berlin: „Die vorbereiteten Maßnahmen zur Verhinderung und Auflösung einer Demonstration kamen aufgrund der Gesamtlage und entsprechend zentraler Entscheidung nicht zur Anwendung“.211 Straßenburg, der Chef der Volkspolizei, berichtete, er habe „die Gunst gehabt“, sich „ständig mit dem Minister Dickel zu konsultieren. Doch habe ihm Dickel letztlich die Entscheidung überlassen.212 Der Innenminister hat die Leipziger Demonstration in seinem Büro am Fernsehapparat verfolgt.213 Einige Tage später machte er in einer Dienstbesprechung deutlich, was ihn damals bewegte: ”Was sollen wir machen? Ich stelle mal diese rhetorische Frage. Sollen wir dazwischen gehen bei 20.000, 30.000, 40.000 Bürgern? Wissen Sie, was das bedeutet? Da können wir gleich SPW [Schützenpanzerwagen] oder Panzer einsetzen. Aber jeder wird verstehen, dass das in der gegenwärtigen Situation und bei der weiteren Entwicklung unmöglich ist.”
In seinem Schlußwort bekräftigte er: ”Natürlich ist das in dem Augenblick ein Zurückweichen, aber ich sage Euch noch einmal, bei Größenordnungen von 20, 30, 80 oder gar 100.000 ist gar nichts anderes möglich. Am Montag ist das gleiche wieder in Leipzig, das geht jetzt schon wochenlang, und wir schlagen uns hier die Nächte um die Ohren“.214
Die Situation in Leipzig unterschied sich in einem grundsätzlichen Aspekt von den vorangegangenen Tagen. Die Sicherheitskräfte standen einer Menge von etwa 70.000 entschlossenen Bürgern aus allen Teilen der DDR-Gesellschaft gegenüber. Gegen sie gewaltsam vorzugehen, hätte den offenen Bruch mit einem großen Teil der Bevölkerung und den Beginn einer Eskalation bedeutet, die niemand mehr unter Kontrolle gehabt hätte.215 Deshalb ist die SED-Führung zurückgewichen. Mit dem 210 Das könnte zutreffen, weil es mit Mielkes erwähntem Positionswandel am 8.10. übereinstimmen würde. Freilich fällt es schwer, Hummitzsch in diesem Punkt Glauben zu schenken, da er in dem Interview an anderer Stelle nachweislich gelogen hat. Interview von Hummitzsch mit dem Sender Leipzig am 1.12.1989. 211 BVfS Leipzig, Generalleutnant Hummitzsch, an MfS Berlin: „Information über eine nicht genehmigte Demonstration im Stadtzentrum von Leipzig am 9.10.1989“. BStU, ZA, Neiber 617, Bl. 100-106, hier S. 101. 212 Interview mit Straßenburg in: Kuhn: Der Tag der Entscheidung, 1992, S. 79. 213 Zum operativen Fernsehen im MdI und die Bildübertragungen aus Leipzig am 9. bzw. 16.10.1989 vgl. die Aussage von Generaloberst Wagner, Stabschef im MdI, vor der Berliner Untersuchungskommission, S. 195. Straßenburg hat behauptet, am 9.10. sei noch nicht nach Berlin übertragen worden. A.a.O., S. 79. 214 Rede des Ministers des Innern vor den Chefs der BDVP am 21.10.1989. BStU, ZA, ZAIG 8637, Bl. 1-81, S. 22 u. 49. 215 Man fragt sich, was geschehen wäre, wenn weniger Bürger den Mut gehabt hätten, zu demonstrieren. Wie weit ging die Eskalationsbereitschaft des Regimes? Ein Indiz sind die Geschehnisse am 9. Oktober in Halle, wo an jenem Abend nicht 70.000 wie in Leipzig, sondern nur 400
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9. Oktober war die Entscheidung gefallen. Das Alte Regime hatte seine erste große Niederlage hinnehmen müssen und hatte von nun an nicht mehr die Kraft, mit offener Gewalt um die Macht zu kämpfen. Eine wesentliche Ursache dieser Schwäche war die Stimmung unter den bisher treuen Anhängern des Systems, die freilich durch das Regime selbst produziert worden war.
Bürger demonstrierten (viele Hallenser waren nach Leipzig gefahren). Das Vorgehen der Sicherheitskräfte folgte dem Muster der Tage zuvor: Polizeiaufmarsch, Knüppeleinsatz, Festnahme von 40 Personen, das heißt etwa zehn Prozent der Demonstranten, die nach langem und demütigendem Warten, einschüchternden Verhören und der Abforderung einer „Erklärung“, dass sie sich künftig an solchen Aktionen nicht mehr beteiligen würden, mit wenigen Ausnahmen am nächsten Tag freigelassen wurden. Vgl. den Einsatzbefehl des Leiters der BVfS Halle, Generalmajor Schmidt, vom 8.10.1989 und den „Tagesbericht“ der Bezirksverwaltung vom Abend des folgenden Tages, dokumentiert in: „Keine Überraschung zulassen!“ 1991, S. 14-19. Löhn: „Unsere Nerven lagen allmählich blank“, 1996, S. 11-13.
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Appell In den letzten Wochen ist es mehrfach und in verschiedenen Städten der DDR zu Demonstrationen gekommen, die in Gewalt mündeten: Pflastersteinwürfe, zerschlagene Scheiben, ausgebrannte Autos, Gummiknüppel- und Wasserwerfereinsatz. Es gab eine unbekannte Zahl Verletzter, von Toten ist die Rede. Auch der letzte Montag in Leipzig endete mit Gewalt. Wir haben Angst. Angst um uns selbst, Angst um unsere Freunde, um den Menschen neben uns und Angst um den, der uns da in Uniform gegenübersteht. Wir haben Angst um die Zukunft unseres Landes. Gewalt schafft immer nur Gewalt. Gewalt löst keine Probleme. Gewalt ist unmenschlich. Gewalt kann nicht das Zeichen einer neuen, besseren Gesellschaft sein. Wir bitten alle: - Enthaltet Euch jeder Gewalt! - Durchbrecht keine Polizeiketten, haltet Abstand zu Absperrungen! - Greift keine Personen oder Fahrzeuge an! - Entwendet keine Kleidungs- und Ausrüstungsgegenstände der Einsatzkräfte! - Werft keine Gegenstände und enthaltet Euch gewalttätiger Parolen! - Seid solidarisch und unterbindet Provokationen! - Greift zu friedlichen und phantasievollen Formen des Protestes! An die Einsatzkräfte appellieren wir: - Enthaltet Euch der Gewalt! - Reagiert auf Friedfertigkeit nicht mit Gewalt! Wir sind ein Volk! Gewalt unter uns hinterläßt ewig blutende Wunden! Partei und Regierung müssen vor allem für die entstandene ernste Situation verantwortlich gemacht werden. Aber h e u t e ist es an uns, eine weitere Eskalation der Gewalt zu verhindern. Davon hängt unsere Zukunft ab! Leipzig, den 9. Oktober 1989 Arbeitskreis Gerechtigkeit Arbeitsgruppe Menschenrechte Innerkirchlich! LV: 10/ 89/ 3/ 3 Arbeitsgruppe Umweltschutz Das Flugblatt wurde am 8. und 9. Oktober von Christoph Wonneberger, Thomas Rudolph, Frank Richter und Kathrin Walther in einer Auflage von ca. 25.000 Stück gedruckt. Die Buchstaben des Satzes „W i r s i n d e i n V o l k !“ sowie im Wort „h e u t e“ sind in der Schreibmaschinenschrift auf dem Flugblatt durch eingefügte Leerzeichen gesperrt hervorgehoben. Das Flugblatt ist mit einer sogenannten „kirchlichen Drucknummer“ versehen, mithin als „Innerkirchlich!“ ausgewiesen. Dies mag heute angesichts des Inhaltes, der Intention wie der Verbreitung des Textes absurd anmuten. Da aber jede vom DDR-Staat nicht genehmigte Vervielfältigung und öffentliche Verbreitung von Texten strafrechtlich verfolgt werden konnte, verlieh dieser Hinweis dem Flugblatt zumindest bei Verteilung innerhalb der Kirchen einen Hauch Legalität. In den Kirchen im Stadtzentrum Leipzigs wurde der Text am 9. Oktober 1989 auch verlesen. Erstabdruck in den West-Medien: tageszeitung (taz) Berlin, Nr. 2931 vom 9. Oktober 1989, S. 3 (weitere West-Medien folgten, z. B. am 11. Oktober 1989 die Süddeutsche Zeitung).
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Einleitung zum „Appell vom 9. Oktober 1989“, der von Christoph Wonneberger und Kathrin Maler Walther am 9. Oktober 2014 von Frank Richter in der Nikolaikirche Leipzig verlesen wurde. „Mit Gewalt, sagte der Friseurgehilfe, das Rasiermesser an meiner Kehle, ist der Mensch nicht zu ändern. Mein Kopfnicken beweist ihm das Gegenteil“. Mit diesen Worten begann Christoph Wonneberger das Friedensgebet der Arbeitsgruppe Menschenrechte am 25. September 1989. Gewalt war bereits vor dem 9. Oktober 1989 ein Thema. Vor 25 Jahren habe ich hier einen Appell dreier Leipziger Bürger- und Menschenrechtsgruppen, der Arbeitsgruppe Menschenrechte, des Arbeitskreises Gerechtigkeit und der Arbeitsgruppe Umweltschutz verlesen, mit dem wir zu Gewaltfreiheit aufriefen. Dieser Appell wurde am 7. Oktober 1989 von Vertretern der unterzeichnenden Gruppen beschlossen. Der Text war nicht unumstritten. Einige hatten Bedenken, der Passus „Wir sind ein Volk“ könnte missverstanden werden, in dem Sinne, wir machten uns gemein mit den Unterdrückern. Aber wir wollten auch ein Stichwort für die Zukunft geben und das hat die Bedenken überwogen. Am späten Abend des 7. Oktober 1989 haben wir unsere Wachsmatrizen-Druckmaschine angeworfen und den Text in einer Auflage von ca. 25.000 Stück gedruckt, bis unser Papiervorrat in der Nacht zum Montag zu Ende ging. Den Appell verteilten wir am 9. Oktober ab dem frühen Nachmittag in der Innenstadt, erstaunlicherweise fast unbehelligt von den zahlreichen Sicherheitsorganen. Die Entwicklung hin zum 9. Oktober 1989 in Leipzig zur friedlichen Revolution, war k e i n Wunder und auch nicht einfach nur ein großer Zufall – und dann doch ein Glücksfall der Geschichte. Vier Punkte möchte ich hervorheben: (1) Der Aufbau eines Netzwerkes der Oppositionsgruppen in der „DDR“. Einmal im Monat trafen sich seit Sommer 1988 in Leipzig Vertreter von mehr als 40 Gruppen. Nicht der Einzelne, sondern der organisierte Zusammenschluss und dessen gemeinschaftliches Handeln gegen die Herrschenden, war das Politikum. (2) Der Aufbau eines Netzwerkes in den Ostblock, unter anderem nach Polen, in die damalige ČSSR, nach Ungarn, in das Baltikum, nach Rumänien. (3) Die Zusammenarbeit mit den Antragstellern auf ständige Ausreise. Sie in unsere politische Arbeit einzubeziehen, war für uns in Leipzig selbstverständlich. (4) Persönliche Kontakte zu bundesdeutschen und ausländischen Journalisten und Politikern. Über diese Kontakte erhielten wir nicht nur unsere technische Ausrüstung. Wir konnten so die Öffentlichkeit über Tagesschau, RIAS und Deutschlandfunk über Menschenrechtsverletzungen, Inhaftierungen und Aktionen in der „DDR“ informieren. Diesen Kontakten war es zu verdanken, dass der Appell bereits am Morgen des 09. Oktober 1989, also noch vor dem Verteilen in Leipzig, in der Tageszeitung (taz) erscheinen konnte. Weshalb also dieser Appell? Die SED, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands und die ihr unterstellten bewaffneten Organe drohten seit Monaten mit Gewalt. Und sie haben Gewalt auch angewendet, zuletzt am 7./8. Oktober 1989, in Leipzig, Magdeburg, Plauen, Berlin, Dresden. Wir mussten handeln. Informieren, Mut machen, Ängste verringern – und dann gewaltfrei auf die Straße gehen. Die Gewaltfreiheit war eine Freiheit, die wir uns genommen haben. Und die ist gelungen!
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5.7. 9. November 1989: Der Tag, an dem die Mauer in Berlin fiel Von Richard Schröder Die Maueröffnung am 9. November 1989 hat mich völlig überrascht und das mit erheblicher zeitlicher Verzögerung.216 Ich saß den Abend am Schreibtisch. Ich hatte damals als Dozent für Philosophie an den zwei Kirchlichen Hochschulen in Ostberlin („Sprachenkonvikt“) und Naumburg („Katechetisches Oberseminar“), die sich so nicht nennen durften, ein Studiensemester. Ich wollte in diesem Studiensemester der Geschichte eines zentralen Lehrstücks der marxistisch-leninistischen Philosophie kritisch auf den Leib rücken, nämlich der Lehre von der „Grundfrage der Philosophie“. Nach Mitternacht, ehe ich ins Bett ging, habe ich noch einmal den Fernseher angeschaltet – und was sehe ich da? Am Brandenburger Tor tanzen sie auf der Mauer. In endloser Schlange rollen Trabbis nach Westberlin. Unglaublich. Da wäre ich natürlich gern dabei gewesen. Aber alleine nun rüber? Telefon hatte ich damals nicht und nach Mitternacht bei Freunden an der Haustür klingeln macht man auch nicht gern. Entweder schlafen sie schon oder sind schon drüben. Also bin ich, benommen von dieser umwerfenden Neuigkeit, erst einmal schlafen gegangen. Am nächsten Tag wollten die DDR-Behörden wenigstens pro forma die Hoheit über ihr versehentlich verlorenes Grenzregime zurückgewinnen und erklärten, für den Grenzübertritt brauche man einen Stempel im Pass oder Personalausweis (das war neu; bisher gab es Ausreisevisa nur in Pässen und die wurden nur denjenigen ausgestellt, denen eine Reise in den Westen genehmigt worden war), der aber niemandem verweigert wurde. Die Meldestellen der „Volkspolizei“ hatten deshalb bis weit in die Nacht geöffnet. Nach Feierabend bildete sich eine Schlange von hunderten von Metern vor der örtlichen Meldestelle und ich holte mir mit meinem Freund den Stempel. Das ging ziemlich schnell. So. Nun hätten wir also die erste Westberlintour antreten können – dachten wir. Doch da machte uns seine Frau einen Strich durch die Rechnung. Kommt gar nicht in Frage, dass ihr jetzt Westberlin besichtigt. Heut Nacht machen sie die Mauer wieder zu, dann seid ihr drüben und ich allein hier mit Tochter. Dann komm doch mit Tochter mit! Seid ihr verrückt? Solchen Gefahren werde ich doch nicht unsere kleine Tochter aussetzen! Ich hielt damals diese Besorgnisse für weit übertrieben. Später haben wir erfahren, dass die Option für eine Schließung der Grenze sowohl von einigen sowjetischen Politikern als auch von Teilen der Nationalen Volksarmee mindestens bis zum Jahreswechsel 1989/90 offen gehalten wurde. Am Sonntag schließlich bin ich mit meinen beiden Töchtern in Potsdam über die berühmte Glienicker Brücke (auf der im „Kalten Krieg“ die „Agenten“ zwischen Ost und West ausgetauscht wurden) nach Westberlin eingerückt. Auf der 216 Holzweißig, Gunter: Mauerbau am 13. August 1961, in: Eppelmann, Rainer / Möller, Horst / Nooke, Günter, / Wilms, Dorothee (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus, Bd. 1, A-M, 2. Aufl. 1997, S. 550-553. Hertle, Hans-Hermann / Elsner, Kathrin (Hrsg.): Der Tag, an dem die Mauer fiel. Die wichtigsten Zeitzeugen berichten vom 9. November 1989, 2. Aufl. 2009.
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DDR-Seite standen Volkspolizisten mit diesen seltsamen Bauchläden, mit denen sie in den Interzonenzügen Westdeutschen Transitvisa stempelten. Aber sie waren auf verlorenem Posten. Die Massen strömten einfach an ihnen vorbei, mit oder ohne Stempel. Mit einem Gefühl des Triumphes zogen wir nach Westberlin und skandierten dabei halblaut: Die Mauer ist weg, die Mauer ist weg. Neben uns lief ein Westberliner Ehepaar, das uns ansprach und einlud. Sie waren wohl ungefähr mein Alter, also „Achtundsechziger“, was die Studienzeit betrifft. Wir kamen ein bisschen ins Gespräch und der Mann fragte mich, ob ich denn bereit wäre, nächstens einmal zu einem Gedankenaustausch in den Kreis seiner Freunde zu kommen. Das habe ich gern angenommen und das Treffen fand bald danach in einer Westberliner Gaststätte statt. Von diesem Abend ist mir zweierlei in Erinnerung geblieben. Das eine war die Herzlichkeit und Offenheit, mit der ich in diesem Kreis aufgenommen wurde, das Wohlwollen und die Hilfsbereitschaft: ob sie mir irgendwie helfen könnten, was ich denn unbedingt brauche. Bei diesem Thema sollten wir etwas verweilen. Die Wahrheit war: Überlebenshilfen brauchten wir Ostdeutschen gar nicht. Das Lebensnotwendige gab es ja in der DDR, die „Güter des täglichen Bedarfs“ sogar zu subventionierten Niedrigpreisen. Die Ostdeutschen litten nicht unter Armut, sondern unter einer Mangelwirtschaft, was ganz etwas anderes ist. Es gab in der DDR irgendwann und irgendwo fast alles zu kaufen, was man so brauchte, aber eben nicht immer und überall. Und das nervte. Es machte uns zu Jägern und Sammlern. Die technischen Produkte waren funktionsfähig, passabel solide, aber zehn bis fünfzehn Jahre hinter dem westdeutschen Stand zurück. Dieser technologische Rückstand, den man sich am Vergleich zwischen den Standard-PKW Trabant und Golf verdeutlichen konnte, war für die Bevölkerung ein Grund zur Unzufriedenheit, für die DDR-Wirtschaft aber war er verheerend, denn er verhinderte weithin weltmarktfähige Produkte und trieb die Produktionskosten hoch. Der Bevölkerung war aber das Ausmaß dieser wirtschaftlichen Probleme ebenso wenig wie das Ausmaß der Staatsverschuldung in Ostmark und in Devisen bewusst. Durch festgelegte Preise und Löhne, durch eine inkonvertible Binnenwährung sowie durch das ausufernde Subventionswesen blieb der Bevölkerung verborgen, dass die sozialistische Planwirtschaft und die Staatsfinanzen kurzfristig auf eine Katastrophe zusteuerten. Man hielt den Mangel oft bloß für ein Verteilungsproblem, was er auch war, aber in Wahrheit war er strukturell bedingt und unaufhebbar für eine zentrale Planwirtschaft. Und im Westen hielt man sich bis hin zur Regierung im Zuge der Entspannungspolitik für verpflichtet, die statistischen Angaben der DDR zu akzeptieren und damit auch die Selbsteinschätzung der DDR als neunte oder elfte Industrienation der Welt, obwohl der Bundesnachrichtendienst weiterhin treffendere Einschätzungen lieferte. Bis in die westliche DDR-Forschung hinein war das ein großes Versagen – aber vielleicht ein glückliches? Denn wenn der wahre Zustand der DDR-Wirtschaft und der DDR-Finanzen im Westen allgemein bekannt gewesen wäre, hätte das die Vorbehalte gegen eine schnelle Vereinigung enorm stärken und durch Unentschlossenheit unkalkulierbare Entwicklungen fördern können.
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Für die ostdeutsche Wahrnehmung des Einigungsprozesses sollte das alles später erhebliche abträgliche Folgen haben. Der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft, wie er nach der Währungsunion, also in der zweiten Hälfte des Jahres 1990, aber massiv erst im Jahre 1991 manifest wurde, haben sehr viele in Ost und West nicht der Wirtschaftspolitik der SED, nicht dem prinzipiellen Versagen der zentralistischen Planwirtschaft zugeschrieben, die ja in allen ehemals sozialistischen Ländern schwerste Erblasten hinterlassen hat, sondern der Treuhandanstalt und somit der Bundesregierung. Was die DDR-Bürger am Warenangebot der DDR vor allem vermissten, konnte man daran ablesen, was sie beim ersten Westbesuch vom „Begrüßungsgeld“ (100 DM) kauften: modische Kleidung, Unterhaltungselektronik und, wenn sich noch mehr Westgeld beschaffen ließ, Personalcomputer. Und dann kauften sie den gesamten Gebrauchtwagenmarkt Westeuropas leer. Dass der Import von Zeitungen und Zeitschriften bis zuletzt rigoros verboten war und der Import von Fachliteratur erheblich erschwert, hat die Masse der Bevölkerung nicht empört, zumal ja Westfernsehen und Westrundfunk unter Honecker nicht mehr verboten waren. Unter den „Grundbedürfnissen“ war in der DDR nur ein Gut bis zuletzt notorisch knapp, nämlich Wohnraum, namentlich für junge Familien. Honecker wollte ja das Wohnungsproblem bis 1990 lösen. Das ist ihm nicht gelungen. Aber die Abwanderung aus der DDR und die rasante Neubautätigkeit ab 1990 führten dazu, dass bald nach 1990 nicht mehr Wohnraummangel, sondern regionaler Leerstand zum Ostproblem wurde. Nun zurück in die Westberliner Gaststätte, in der ich mich mit den Freunden meiner Westberliner Zufallsbekanntschaft getroffen hatte. Auf die Frage, womit sie mir helfen könnten, wusste ich deshalb auch nur zu antworten: wenn jemand einen ausgedienten PC hat, das könnte mir helfen. Jemand hatte tatsächlich einen. Unvergessen ist mir ein anderes Thema dieser Diskussion, nämlich die deutsche Frage. Für mich war immer klar: die Teilung Deutschlands ist uns aufgezwungen und wir im Osten waren vor allem die Leidtragenden der Teilung. Wir waren es ja, denen mit dem Mauerbau Westreisen und die Flucht zunächst gänzlich untersagt wurde. Mit den deutsch-deutschen Verträgen wurden dann zwar in dringenden Familienangelegenheiten zunehmend Ausnahmen ermöglicht bis hin zur Übersiedlung (die im konkreten Fall aber schikanös erschwert wurde) und zum Gefangenenfreikauf – den gab es bereits seit 1963 – aber die Fluchtwellen des Spätsommers 1989, erst über Ungarn, dann über die Prager Botschaft, zeigten ja, wie stark im Osten das Gefühl, eingesperrt zu sein, namentlich jüngere Leute deprimierte. Dass die SED-Führung sich sogar in offiziellen Erklärungen von Gorbatschows Kurs distanziert hatte (Kurt Hager: man muss nicht die eigene Wohnung neu tapezieren, wenn der Nachbar die seine neu tapeziert), hatte die Stimmung: „nichts wie weg, hier bessert sich nichts“ ungemein befördert. Die Maueröffnung war ja versehentlich zustande gekommen im Zusammenhang mit einem Versuch der SED, durch ein neues Reisegesetz dieses Hauptärgernis zu beseitigen.
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Dass es zwei deutsche Staaten gab, hatte nach meiner Überzeugung seinen Grund allein im Gegensatz von „Kapitalismus“ und „Sozialismus“ oder: darin, dass die Sowjetunion nach Gründung der beiden deutschen Staaten 1950 den „Aufbau des Sozialismus“ in der DDR verfügte. Das sahen übrigens die Genossen von der SED ähnlich, wenn sie auch andere Schlussfolgerungen daraus zogen. Otto Reinhold, Rektor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, hatte im August 1989 erklärt, ohne den Systemgegensatz zwischen Kapitalismus und Sozialismus habe die DDR keine Existenzberechtigung. Er hat damit den Systemgegensatz und eine sozialistische DDR rechtfertigen wollen. Man konnte es aber auch anders herum lesen. Und mit Gorbatschows Perestroika (Umbau) wurde ja dieser „Systemgegensatz“ gerade relativiert. Also: wenn der Gegensatz zwischen „Kapitalismus“ und „Sozialismus“ verschwamm oder gar verschwand, gab es keinen Grund mehr für die Existenz zweier deutscher Staaten, das war eine in der DDR weit, bis in die SED hinein verbreitete Überzeugung. Der Blick „nach drüben“ war doch für die meisten DDR-Bürger konstitutiv, zum mindesten allabendlich am Fernseher. Die meisten DDR-Bürger kannten mehr westdeutsche Minister mit Namen als ostdeutsche. „Drüben“ war ein Sehnsuchtsort. Das sah nun zu meiner Verwunderung jener Westberliner Freundeskreis ganz anders. Nation und Einheit Deutschlands, das sei doch alles von vorgestern. Wir sind Weltbürger und Europa ist unsere Zukunft. Die Zeit der Nationen ist doch vorbei. Da waren sie sich wohl alle einig in diesem Freundeskreis. Das war meine erste Begegnung mit einem mentalen Gegensatz zwischen Ost und West in Sachen deutscher Einheit, der uns im Jahre 1990 weiter begleiten sollte. Dieser Gegensatz war allerdings nicht dergestalt, dass die Ostdeutschen für, die Westdeutschen gegen die Einheit waren. Als die Mauer fiel, in dieser Nacht und den Tagen danach, waren nahezu alle begeistert, in Ost und West. „Wahnsinn“ war das geflügelte Wort jener Tage. Und alle, die Verwandte oder Freunde im anderen Teil Deutschlands hatten, waren natürlich froh, dass man nun frei zu einander kommen konnte. Aber der Ruf nach der deutschen Einheit kam doch zuerst und anschwellend aus dem Osten, und zwar „von unten“, von Demonstranten nämlich, zuerst übrigens in Plauen/Vogtland, als dort die Züge mit den Flüchtlingen aus der Prager Botschaft durchfuhren und die nahe Grenze zur CSSR für DDR-Bürger gesperrt wurde. Dagegen gehörte die Einheit Deutschlands nicht zu den Forderungen der oppositionellen Bewegungen, die seit September 1989 in die Öffentlichkeit traten. Bärbel Bohley (Neues Forum) und Wolfgang Ullmann (Demokratie Jetzt) haben die Maueröffnung scharf kritisiert und damit die Kluft zur Bevölkerungsmehrheit in der DDR aufgerissen, die „Bündnis 90“ (Neues Forum, Demokratie jetzt, Initiative Frieden und Menschenrechte) schließlich bei den ersten freien Volkskammerwahlen das verheerende Wahlergebnis von 2,9 Prozent einbrachte.217 Tatsächlich 217 „Paris, 12. Nov. 89 (AFP) Überstürzte und unbedachte Entscheidungen hat die Mitbegründerin des ‚Neuen Forums‘, Bärbel Bohley, der neuen DDR-Führung vorgeworfen. In einem Interview der Pariser Sonntagszeitung ‚Le Journal du Dimanche‘ erklärte sie sich bestürzt über das dadurch entstandene Chaos. ‚Die Leute sind verrückt, und die Regierung hat den Verstand verloren‘ sagte sie. Der nach ihrer Ansicht wie zufällig bekannt gegebene Beschluss zur Öffnung
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wurde durch die Maueröffnung das Ziel vieler Oppositioneller in der DDR, hier eine neuartige Form von Demokratie zu entwickeln, durchkreuzt. Unter Ulbricht war der Ruf nach der deutschen Einheit („Deutsche an einen Tisch!“) – unter kommunistischer Dominanz, versteht sich – fester Bestandteil der SED-Propaganda. Die Spaltung Deutschlands wurde den Westmächten und Adenauer angelastet. Das änderte sich erst nach dem Mauerbau unter Honecker. Nun wurde fast alles, was an das deutsche Zusammengehören erinnerte, systematisch getilgt. Nur die Parteinamen, das „Zentralorgan“ der SED („Neues Deutschland“) und die „Deutsche Reichsbahn“ wurden von dieser Eliminierung der Wörter „deutsch‘“ und „Deutschland“ ausgenommen. Man erfand die bereits sprachlich absurde Theorie von zwei Nationen auf deutschem Boden und änderte entsprechend auch die (zweite) DDR-Verfassung. Aus dem „sozialistischen Staat deutscher Nation“ wurde unter Honecker der „sozialistische Staat der Arbeiter und Bauern“. Nun war die Erinnerung an das deutsche Zusammengehören verpönt und geächtet – und deshalb subversiv. Deshalb fand sie auch nicht zuerst in der Losung „Wir sind ein Volk“ ihren Ausdruck, sondern in einem Zitat aus der Hymne der DDR: „Deutschland einig Vaterland“. Man wird doch noch die Nationalhymne zitieren dürfen – die allerdings unter Honecker nicht mehr gesungen wurde und im Schulbuch meiner Kinder nur noch als Melodie ohne Text abgedruckt war. Im Westen dagegen galt der Gedanke an die deutsche Einheit vielen aus der Generation der Achtundsechziger als reaktionär, als Heuchelei und sehr vielen als der Mauer habe die Menschen überwältigt und aus der Fassung gebracht. Der Effekt sei der gleiche, als wenn nach 28 Jahren plötzlich die Gefängnistore geöffnet würden. Durch dieses Vorgehen habe die Regierung ihre Inkompetenz bewiesen und sich diskreditiert. Unter den jetzigen Umständen wären freie Wahlen eine Katastrophe, meinte Bärbel Bohley. Ihre Bewegung brauche mindestens ein Jahr, um sich zu organisieren und ihre Position zu stärken. Sie fürchte, dass die Regierung gerade deshalb die Dinge überstürze und zu sofortigen Wahlen aufrufen wolle“. (ADN-Meldung vom 12.11.1989.) – Bärbel Bohley anlässlich der Verleihung des Karl-Hofer-Preises: „‘Ich hoffe sehr, dass die Leute, die wieder über den Potsdamer Platz und die anderen Grenzübergänge zurückfahren, wissen, dass ihr Platz immer noch auf der Straße ist, da noch nicht sehr viel bei uns verändert worden ist.‘ Sie habe Angst darum, ‚dass jetzt wieder viel an Geld gedacht wird‘. Sie wünsche sich, […] dass die jetzige Entwicklung, ‚die nicht unbedingt in eine Wiedervereinigung aufgehen muss, nicht stirbt‘.“ (Berliner Morgenpost 15.11.1989). – Die Erklärung des Neuen Forums zum Mauerfall vom 12.11.1989, in: www.chronik-der-mauer.de/index.php/de/common/Docu-ment/.../ 58668. – „Wie traumatisierend die politische Entwicklung zunächst auf die Opposition wirkte, zeigten auch einige interne Vorgänge. Ullmann war derartig nervös geworden, dass er am 13. November um Mitternacht mit Matthias Artzt in der Wohnung von Neubert erschien, um zu erörtern, ob die Opposition nicht zur Grenzschließung aufrufen solle, da die DDR ansonsten wirtschaftlich schnell an ihr Ende kommen würde, eine Idee, die schließlich verworfen wurde, auch die von Ullmann angesprochenen Vertreter der SDP wiesen das Ansinnen zurück. Ein großer Teil von Oppositionellen hat ohnehin die Maueröffnung begrüßt“. Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Bonn 1997, S. 877. – Der von Wolfgang Ullmann angesprochene Vertreter der Sozialdemokratischen Partei in der DDR war ihr 1. Sprecher Stephan Hilsberg, von dem Ullmann die Telefonnummern von Willy Brandt und Hans-Jochen Vogel erbat, um sie von der Notwendigkeit einer Schließung der Grenze zu überzeugen (Information von Stephan Hilsberg).
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völlig irreal. Aber die Präambel des Grundgesetzes mit dem Wiedervereinigungsgebot und der Artikel 23, der allen deutschen Ländern den einseitig erklärten Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes einräumte, hatte man nicht geändert. Öfters habe ich dazu 1990 von gleichaltrigen Westdeutschen sagen gehört: das waren doch nur noch leere Formeln. Sie irrten, denn das Verfassungsgericht hatte sich ja anlässlich des Grundlagenvertrags zwischen beiden deutschen Staaten diesbezüglich sehr deutlich geäußert. Günter Grass hat Ende des Jahres 1989 erklärt, durch Auschwitz hätten die Deutschen das Recht verwirkt, in einem gemeinsamen Staat zu leben. Das war nun gewiss keine Mehrheitsmeinung im Westen. Aber am 12. Mai 1990 fand in Frankfurt am Main eine Demonstration mit immerhin 20.000 Teilnehmern statt unter der Losung „Nie wieder Deutschland“. In der ersten Reihe, das Plakat mit dieser Aufschrift haltend: Claudia Roth, Angelika Beer, Jutta Ditfurth, damals wichtige Mitglieder der Grünen. Am 3. November 1990 demonstrierten in Berlin immerhin noch 8.000 unter derselben Losung, da war die deutsche Einheit seit einem Monat völkerrechtlich längst vollzogen. Grüne Partei mit Spruchband: "Nie wieder Deutschland!"
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Die Maueröffnung hat mich, wie gesagt, völlig überrascht. Das muss ich insofern etwas relativieren, als wir seit Gorbatschows Machtantritt Überraschungen sozusagen schon gewohnt waren. Nur auf diese waren wir nicht gefasst. Sie war ja auch nicht geplant. Um das Klima in der DDR vor dem Mauerfall besser zu verstehen, müssen wir etwas ausholen, mindestens zurück bis ins Jahr 1987. Die deutsch-deutsche Vertragspolitik und namentlich die Anwesenheit westdeutscher Journalisten in der DDR, die via Westfernsehen aus der DDR in die DDR berichteten und so das Informationsmonopol der SED über die internen Zustände der DDR brachen, haben die Verhältnisse in der DDR spürbar gelockert. Ohne diese Informationsschleife wären den DDR-Bürgern Oppositionelle und ihre Aktivitäten gar nicht bekannt geworden. Da aber die SED auf den innerdeutschen Handel und auf Westkredite angewiesen war, konnte ihr nicht gleichgültig sein, wie die westdeutsche Öffentlichkeit über Vorgänge in der DDR urteilte. Es entstanden Abhängigkeiten, die das Diktatorische in der DDR erheblich abmilderten. Unter dieser Konstellation war es den evangelischen Kirchen möglich, ihre Spielräume etwas zu erweitern und ein Dach für oppositionelle Gruppen zu bieten. Da sich zudem zwischen beiden deutschen Staaten die Praxis des Gefangenenfreikaufs gegen Devisen eingespielt hatte, sank für politische Gefangene die „Höchststrafe“ faktisch auf ein Jahr, dann gings in den Westen. Die Vollzugsbeamten, die sich „Erzieher“ nannten und den Politischen die richtige Einstellung vermitteln sollten, wurden zunehmend demoralisiert, weil die Häftlinge einfach sagten: in einem Jahr bin ich drüben. In Berlin gründete sich unter dem Dach der Kirche die „Umweltbibliothek“, in deren Räumen auch oppositionelle Texte vervielfältigt wurden („Grenzfall“). 1987 beabsichtigte die Stasi, Mitarbeiter der Umweltbibliothek in flagranti zu ertappen, hatte sich aber getäuscht. Sie vervielfältigten gar nicht den „Grenzfall“. Der Vorgang ging durch die Medien in West und Ost. Die Verhafteten wurden wieder frei gelassen. Die Abhängigkeit der SED von der Öffentlichkeit wurde manifest. Aus Anlass der offiziellen Karl-Liebknecht- und Rosa-Luxemburg-Demonstration im Januar 1988, bei der sich einige Oppositionelle mit Ausreisewilligen zusammengetan hatten und ein seitdem berühmtes Zitat von Rosa Luxemburg zeigten („Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“), versuchte die SED, die Opposition in Berlin sozusagen zu enthaupten und nach dem Westen abzuschieben. Aber das Aufsehen war so groß und der Widerstand einiger gegen ihre Ausbürgerung so stark, dass einige ihre DDR-Ausweise behalten durften und nur für ein Jahr zu einem „Studienaufenthalt“ die DDR verließen. 1988 und 1989 fanden in der DDR drei „Ökumenische Versammlungen für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ statt, die auf eine Anregung Carl Friedrich von Weizsäckers zurückgingen und ein Weltkonzil der Christenheit zu den drei Themen Dritte Welt, Abrüstung, Umweltschutz zum Ziel hatte. In der DDR führten diese Versammlungen erstmals die oppositionellen Gruppen und die Vertreter der Kirchen in der DDR zusammen. Sie formulierten politische Forderungen, darunter auch ein Papier zum Thema „Mehr Gerechtigkeit in der DDR“. Weil diese Papiere vervielfältigt und in den Gemeinden diskutiert wurden, haben sie das
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Nachdenken über politische Grundsatzfragen enorm befördert. Es gibt in jeder Diktatur nicht wenige Menschen, die mit den Verhältnissen unzufrieden sind. Wenn sie überhaupt bereit sind, über Politisches zu reden – manchen ist das zu gefährlich – lässt sich Einigkeit darüber, wogegen man ist, relativ einfach gewinnen, nicht aber ebenso Einigkeit darüber, wofür man ist. Maßstäbe der Kritik sind rar. Hinter vorgehaltener Hand lassen sich keine Grundsatzfragen diskutieren. In den Ökumenischen Versammlungen ließen sie sich aber immerhin so weit ansprechen, dass das Abschlusspapier über „Mehr Gerechtigkeit in der DDR“ mit einem Katalog von Fragen abschließt, über die sich die Versammlung nicht verständigen konnte, darunter: was verstehen wir unter Sozialismus? Und: Was heißt es, Deutscher in der DDR zu sein? Im Oktober 1988 verbot die SED die sowjetische Zeitschrift „Sputnik“, wohl aufgrund der persönlichen Intervention von Erich Honecker, der Anstoß genommen hatte an einem Artikel, der Parallelen zwischen Hitlers und Stalins Herrschaft zog. Bis dahin waren die SED-Genossen gedrängt worden, diesen sowjetischen Readers Digest zu abonnieren. Nun, da er interessant wurde, weil er innersowjetische Diskussionen vortrug, die die DDR-Presse verschwieg, wurde er verboten. Auf den Anschlagbrettern der SED in den Betrieben erschienen Protestzettel, Genossen protestierten gegen eine Maßnahme der Partei, das war neu. Es waren ja nicht nur Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion, die die DDR-Bürger bewegten. In Polen hatte die Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc am „Runden Tisch“ (6.2.-5.4.1989) teilfreie Wahlen (4.6.1989) errungen und gewonnen. Am 24.8. wurde Mazowiecki als nichtkommunistischer Ministerpräsident gewählt. In Ungarn waren Oppositionsparteien zugelassen und Reisen in den Westen erlaubt worden. Und bei uns bewegte sich nichts. Das war die Stimmung, die zu den Ausreisewellen erst über Ungarn, dann über die westdeutschen Botschaften in Prag (und Warschau) führten. Aber die Bewegung „wir wollen raus“ löste zugleich eine Gegenbewegung aus: „wir bleiben hier“. Oppositionelle Gruppen verließen das schützende Dach der Kirchen und gründeten sich öffentlich. Um den vierzigsten Jahrestag der DDR (7. Oktober) kam es zu Demonstrationen. Als aber die Sicherheitskräfte die Montagsdemonstration vom 9. Oktober gewaltsam auflösen wollten, mussten sie wegen der unerwarteten Überzahl der Demonstranten kapitulieren. Das hatte den von Politbüromitgliedern (Egon Krenz, Günter Schabowski, Erich Mielke) erzwungenen Rücktritt Honeckers am 18. Oktober 1989 zur Folge. Die neue Führung unter Egon Krenz wollte mit einem neuen Reisegesetz ein neues Kapitel aufschlagen, zumal selbst die altkommunistische Regierung der CSSR von der DDR forderte, sie solle die Ausreiseprobleme mit ihren Bürgern nicht auf tschechoslowakischem Rücken austragen. Da die neue Führung nun auch Glasnost (Transparenz) praktizieren wollte, wurden Pressekonferenzen nach den Sitzungen des Politbüros eingeführt und da passierte Schabowski das erfreuliche Missgeschick, dass er bei der Vorstellung des Entwurfs eines neuen Reisegesetzes sich vertat, weil er nicht vollständig im Bilde war, worum es ging, und so ungewollt – und übrigens von ihm zunächst auch stundenlang unbemerkt – die Maueröffnung auslöste.
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Das etwa war der verschlungene Weg zum Fall der Mauer. Und was waren die Folgen? 1. Der Machtanspruch der SED verfiel zusehends. Von den bis dahin gehorsamen Blockparteien versuchten die Vorsitzenden der CDU, der neu gewählte Lothar de Maiziere, und der altgediente Vorsitzende der LDPD, Manfred Gerlach, Eigenständigkeit zu gewinnen. Am 1. Dezember 1989 strich die Alte Volkskammer aus Artikel 1 der Verfassung der DDR die „führende Rolle der SED“. Damit war die Einparteien-Herrschaft zu Ende. Hans Modrow (SED) bildete nun eine „Koalitionsregierung“ mit den Blockparteien. Aber bereits am 7. Dezember konstituierte sich auf Einladung der Kirchen der „Runde Tisch“ nach polnischem Vorbild, in dem sich Parteien und Organisationen der Alten Volkskammer und Vertreter der oppositionellen Gruppen gegenübersaßen. Schließlich nahm Modrow aus diesen Gruppen Minister ohne Geschäftsbereich in seine Regierung auf. Neuwahlen, die ersten und letzten freien, für die Volkskammer wurden schließlich auf den 18. März festgelegt. Damit begannen die sieben Monate einer wirklich demokratischen DDR. Ohne Mauerfall hätte das alles wohl erheblich langsamer und vielleicht auch anders verlaufen können. 2. Das Thema Deutsche Einheit drängte sich mit dem Mauerfall nach vorn. Das Denkverbot war gefallen, vor allem für die Ostdeutschen. Im Westen, und namentlich bei den Vertriebenenverbänden wurde mit der „Einheit Deutschlands“ doch oft die Frage nach den verlorenen deutschen Ostgebieten jenseits von Oder und Neiße verbunden oder assoziiert. Jetzt war klar, dass es ausschließlich um die Vereinigung der beiden deutschen Staaten ging. Die Entspannungspolitik der Bundesregierungen Brandt, Schmidt und Kohl hatten erwartet, dass im Zuge einer gesamteuropäischen Friedensordnung auch die deutsche Frage ihre Lösung finden werde, also europäische Einigung vor der deutschen. Jetzt zeichnet sich ab, dass die umgekehrte Reihenfolge praktikabel wird und die deutsche Einheit die europäische 174fördert. Am 28. November legte Helmut Kohl vor dem Bundestag sein Zehn-PunkteProgramm für einen prozesshaften Weg zur deutschen Einheit vor. Etwa einen Monat später, am 1. Februar 1990, legte der DDR-Ministerpräsident Hans Modrow einen Plan „Für Deutschland, einig Vaterland“ vor. Modrows Konzept wurde von der Entwicklung überrollt, Kohls nicht im Grundsatz, aber in dem stufenweisen Vorgehen und dem längerfristigen Zeitrahmen. Die Volkskammerwahlen vom 18.3.1990 gestalteten sich als ein Votum für den schnellen Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Artikel 23. In der DDR wurde viel Wert auf eine Schulung im Marxismus-Leninismus gelegt. Alle Studenten mussten über mehrere Semester entsprechende Kurse besuchen, für die offizielle Lehrbücher verbindlich waren. Ich habe mich oft gefragt, wie weit denn das Heer von Lehrern und Dozenten des Marxismus-Leninismus von dem, was sie da lehrten, überzeugt waren, und wie weit dieses Lehrgut denn verinnerlicht worden ist. Das Dezemberheft der Deutschen Zeitschrift für Philosophie war sehr dünn. Die meisten Beiträge waren nach dem Mauerfall von den Autoren zurückgezogen
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worden. Die Pflichtkurse in Marxismus-Leninismus wurden im Dezember 1989 abgeschafft. Oft wurde stattdessen an den Universitäten ein studium generale eingeführt. Die entsprechenden Verlage beorderten Schulungsliteratur aus den Buchhandlungen zurück. In der Nacht, da die Mauer fiel, war ich beschäftigt mit einer kritischen Geschichte der „Grundfrage der Philosophie“. Mir war nicht bewusst, dass dieses und andere Lehrstücke des offiziellen Marxismus-Leninismus seitdem kaum noch interessierten. 5.8. Das Öffnen des Eisernen Vorhangs an der innerdeutschen Grenze 5.8.1. BLICK NACH „DRÜBEN“. Malereien und Objekte formiert zur Installation Von Andrea Thema Direkt an der Zonengrenze in nur einem Kilometer Entfernung zum einstigen Grenzstreifen der innerdeutschen Teilung und in sechs Kilometern Luftlinie zur nahen Verwandtschaft im Osten wurde ich 1957 im Westen Deutschlands, im unterfränkischen Maroldsweisach geboren und habe dort meine Kindheit und Jugend verbracht. Mein Geburtsort liegt am Fuße des Zeilbergs, der die Haßberge mit dem Itz-Baunach-Hügelland verbindet und ist über die Bundesstraße B 279 auf der Strecke zwischen Bamberg und Fulda zu erreichen. Mein Geburts- und Elternhaus beherbergte damals neben mehreren Generationen mit unterschiedlicher Konfession auch Menschen unterschiedlicher Herkunft. Die Herkunftsfamilie meiner Mutter stammt aus Maroldsweisach und der näheren Umgebung, während mein Vater als Kind mit seiner Mutter und deren Familie aus der Heimat im Elbsandsteingebirge im Sudetenland vertrieben wurde. Zur Hausgemeinschaft gehörte neben einer aus Troppau vertriebenen Frau, einer „Flüchtlingsfrau“, die bis zu ihrem Tode, Anno 1967 neben meinen Eltern meine engste Bezugsperson war, auch ein Zöllner, der an der innerdeutschen Grenze täglich seinen Dienst tat. Bereits am Tage meiner Geburt hielt er mich freudestrahlend auf seinem Arm. Wir alle waren Teil einer großen Familie. Hineingeboren in ein geteiltes Deutschland, das von den Folgen des 2. Weltkrieges nachhaltig geprägt war, wuchs ich im Westen Deutschlands auf, in einem demokratischen Land, einem Rechtsstaat mit Normen und Werten einer Gesellschaft in einem christlich geprägten Kulturkreis. Wie sich der Osten mehr und mehr gegen den Westen abschottete, wie die deutsch-deutsche Grenze durch Zaun und Minenfelder bis hin zur Installation der Selbstschussanlagen gesichert wurde, erlebte ich Schritt für Schritt. Der Zerstörung der Natur folgten die Verletzungen und Tötungen von Mensch und Tier. Zwischen Eingrenzung und Ausgrenzung lagen die Mensch, Tier und Natur verachtenden Minenfelder, der Todesstreifen. Der Kalte Krieg zeigte hier sein erschreckendes Gesicht. Die daraus resultierenden Fluchtversuche in Richtung Westen und die damit verbundenen Grenzschicksale
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spielten sich in meiner unmittelbaren Heimat ab. Vom Repressionssystem der DDR erfuhr ich bereits in früher Kindheit von der nahen Verwandtschaft aus der „Ostzone“, die damals in der westlichen Bevölkerung zuweilen auch „Russenzone“ genannt wurde. Unsere nahe Verwandtschaft lebte im Sperrgebiet der DDR und hatte teilweise bereits das Rentenalter erreicht. Ihr waren ab 1964 durch die Besuchsregelung für Rentner die Besuche in unserer Familie, in unserem Haus erlaubt. So kam die Schwester meines Großvaters nahezu jährlich für mehrere Wochen über eine lange Anreise von Schweickershausen über Hildburghausen und Eisfeld nach Coburg. Hier wurde sie dann von meiner Familie mit dem Auto abgeholt. Sie gehörte in dieser Zeit so wie alle anderen im Hause Lebenden zu unserer Familie. Gemeinsam wurde besprochen, was der Verwandtschaft im Osten dienlich und problemlos per Post versendet werden könnte. Gerne schickten meine Eltern und Großeltern auch regelmäßig Pakete mit dort begehrten Raritäten wie Bohnenkaffee, Schokolade oder Nylonstrümpfen. Auf diese Weise erfuhr ich schon früh von den Unterschieden zwischen einer sozialen Marktwirtschaft und einer Planwirtschaft. Zollerklärungen mussten natürlich akribisch genau ausgefüllt und den Paketen beigelegt werden. Der Abschied von der alten Tante war jedes Mal für beide Seiten der Verwandtschaft sehr schmerzlich, denn man wusste ja nicht, ob man sich jemals wieder sehen würde. Auch am 9. November 1989 waren Verwandte aus dem Osten in meinem Elternhaus zu Gast und erlebten den Fall der Mauer bei uns im Westen. In meiner Kindheit führten mich in Begleitung meiner Eltern oftmals sonntägliche Spaziergänge an die nahe innerdeutsche Grenze, an den vom Osten aufgebauten so genannten „antifaschistischen Schutzwall“. Wenn dort auch „nur“ eine zerstörte Landschaft, der Schlagbaum, der Stacheldraht, das Minenfeld, das so genannte „Niemandsland“, die Überwachungsanlagen, uniformierte Grenzsoldaten mit Hunden und zuweilen mit Fahrzeugen, zu sehen waren, so war es doch jedes Mal aufs Neue eine besondere Stimmung, ein interessierter und wehmütiger BLICK NACH „DRÜBEN“. Der Zonengrenze begegneten wir mit Respekt, denn bereits 1950 wurde mein Großvater, der die Grenze hin und wieder passierte, um seiner im Osten, im Sperrgebiet lebenden Schwester Gebrauchsmaterialien wie beispielsweise Zwirn zu bringen und sich deshalb auf einem Acker mit ihr traf, dabei von bewaffneten Kräften der DDR beschossen. Er konnte sich als geübter einstiger Soldat, der lange Zeit in sibirischer Gefangenschaft verbrachte und erst 1949 heimkehrte über eine Rolle in einen Graben retten und in der Nacht in den Westen robben. Seine Schwester wurde für mehrere Wochen in der DDR in Hildburghausen inhaftiert. Von da an ging mein Großvater nicht mehr in den Osten. Meiner Familie war klar, wie gefährlich eine Grenzverletzung werden kann. Nicht jeder an der Grenze Lebende nahm diese mit entsprechendem Respekt wahr. Es gab in unserem Umfeld nicht nur einmal neugierige, gefährliche und folgenschwere Grenzüberschreitungen von West nach Ost und wieder zurück. Fluchtversuche aus der DDR gab es ebenfalls im näheren Umfeld meiner Heimat. Zutiefst berührten mich Fluchtversuche, bei denen Menschen getötet oder schwer verletzt wurden. So erinnere ich mich daran, wie ich als kleines Mädchen durch die Erzählung „unseres Zöllners“ davon erfuhr, dass ein junger
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Mann im Todesstreifen auf eine Mine getreten war und dabei ein Bein verlor. Auch Wildtiere passierten den Minengürtel, wurden aber auch zuweilen durch die Explosion der Tretminen in die Luft gesprengt. Solche Detonationen konnte man bei uns zuhause, die wir am Ortsrand in Richtung Zonengrenze wohnten, immer wieder einmal hören. Wir zeigten jedem Familienbesuch, der die Grenze nicht kannte, unser geteiltes Deutschland. Erklärend gingen wir auch mit unserer Verwandtschaft aus den USA und mit Freunden aus dem europäischen Ausland zu diesen Befestigungsanlagen. Wir stellten stets Betroffenheit und teilweise auch Verwunderung fest. Der Eiserne Vorhang war unausweichlicher Bestandteil seit Anbeginn meiner Erinnerung. Unmittelbar nach der Öffnung der Grenzanlagen in meiner Heimat besuchte ich erstmals die Verwandten im einstigen Sperrgebiet. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits eine eigene Familie in Nürnberg gegründet. Ein kleiner kränklicher schwarzer Kater hatte meinen damals 5-jährigen Sohn und mich spontan dazu bewegt, das Tierchen mit in den Westen zu nehmen und in unserer Familie in Nürnberg aufzunehmen. Ich schmuggelte am Grenzübergang zwischen Hellingen und Maroldsweisach unter meinem schwarzen Mantel versteckt, das schwarze Katerchen an der Grenzkontrolle vorbei über die Staatsgrenze. Dieser, unser Kater Mohrle war stetige Erinnerung an unsere Teilung, an unsere Geschichte. Er bescherte uns bis zu seinem Tod 2007 viele schöne Jahre. Neben meiner Liebe zur Natur, die ich stets von Kindheit an auch in Zeichnungen und in Malereien zum Ausdruck brachte, befasste ich mich schon bald mit dem Menschsein an sich, mit dem Leben, dem Tod und dem Leid. Die ganzheitliche Wahrnehmung des Menschen von Körper, Seele, Geist und dessen Einbindung in die Natur, in das Universum, haben mich immer beschäftigt. Dies brachte ich in meinen künstlerischen Umsetzungen sowohl im zweidimensionalen als auch im dreidimensionalen Bereich mittels der Malerei und der Skulptur zum Ausdruck. „[...] Dieses Wechselspiel zwischen Privatem und Politischem, zwischen persönlichem Blick und schützender Distanz spiegelt sich in ihren Werken wider [...]“. 218 Nach der Schulzeit absolvierte ich ein Fachstudium und besuchte danach das Staatsinstitut zur Ausbildung von Fachlehrern Abteilung III in Nürnberg. Im Anschluss arbeitete ich von 1979 bis 2004 als Fachlehrerin im Staatsdienst. Bereits 1986 begann ich in Nebentätigkeit freischaffend künstlerisch tätig zu werden. Von 1983 bis 1998 arbeitete ich auch für das Staatsinstitut zur Ausbildung von Fachlehrern Abteilung III in Nürnberg. Von 2013 bis Mitte 2014 übernahm ich die kommissarische Leitung der Paramenik Neuendettelsau. Seit Mitte 2014 bin ich wieder ausschließlich als freischaffende Künstlerin tätig. 2009 bekam ich ein Stipendium, um an einem Pleinair Symposium, an der 23. International Art Colony in der Klosteranlage Sveti Joakim Osogovski im Osogowo-Gebirge in der Provinz Kriva Palanka in Mazedonien, teilzunehmen. 218 Uher, Daniela: Kunstwissenschaftliche Einführung zur Ausstellung BLICK NACH „DRÜBEN“ von der Künstlerin Andrea Thema in der xaver-mayr-galerie des Bürgerverein Ebern 1897 e. V., gehalten zur Eröffnung am 03. Oktober 2015.
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Seit 2009 korrespondieren meine Werke stets mit den spezifischen Gegebenheiten der Orte, an denen sie gezeigt werden. Daneben entwickelte ich kinetische Objekte und Installationen für den öffentlichen Raum. In dieser Zeit bekam ich auch erstmals Einlass in den sakralen Raum, um temporär eine Altarwand zu gestalten. 2009, 20 Jahre nach dem Mauerfall, entstanden die ersten Malereien und Objekte der raumgreifenden Installation BLICK NACH „DRÜBEN“. Ich befand mich in der Malerei gerade in einer experimentellen Phase, als sich der Tag des Mauerfalls, der 9. November 1989 zum 20. Male jährte. Die in der experimentellen Malerei entstandenen Gitterstrukturen lösten in diesem Kontext die Erinnerung an den einstigen Zaun aus Stacheldraht, der die Menschen voneinander trennte, aus und ich entschloss mich, mit diesen Malereien eine Serie von stringent eingeteilten Wandobjekten zu arbeiten. „[...] Experimente mit der Haptik und Räumlichkeit führten schon Braque und Picasso zu den papier collé, die Künstler der art brut, wie Dubuffet zu einem eindringlich rohen Ausdruck, die Affichisten schließlich auf den Grund der Dinge [...]“. 219
Jedes einzelne Wandobjekt aus dieser Serie ist zusammengesetzt aus jeweils vier gleichformatigen, schmalen und langgestreckten Rechtecken, die horizontal und mit dem gleichen Abstand zueinander auf der Wand aufliegen. Dabei verwende ich neben den Malereien mit den Gitterstrukturen stets auch vorgefundenes und z. T. bemaltes Schleifpapier. In ihrer Farbigkeit unterscheiden sich die verschiedenen Wandobjekte in Nuancen, die vor allem über verschiedene Rot-Braun- und Grautöne bis ins Schwarze reichen. Diese spiegeln über das Gesehene hinaus auch das Gefühlte, die Wahrnehmung, die Stimmung wider. „[...] Die Auseinandersetzung mit den ausgestellten Arbeiten bewirkt eine eigenartige Verwandlung. So geht es zumindest mir. Wer anfänglich nur Betrachter war, wird nach und nach mit einbezogen, in die Botschaften der Tafeln [...]“.220 2010 entstand ein dreiteiliges kinetisches Objekt, eine „Universumscheibe“ namens Sophia, gehängt an einem Nylonfaden, mit einem Lichtraumprofil von 155 cm, dessen einzelne Segmente mit Metallgelenken verbunden und unabhängig voneinander in der Horizontalen frei im Raum um 360° drehbar sind. Das kinetische Objekt stilisiert das Universum und gehört zu einer Serie von „Universumscheiben“ aus den Jahren 2009 und 2010, die im Zuge einer experimentellen Phase in der Malerei entstanden sind. Es handelt sich dabei um beidseitig mit Bitumen, Harzlacken, Pigmenten, Sand, Granit- und Glassplittern mehrschichtig bemalte und bearbeitete MDF-Platten. Sophia, die Universumscheibe der Weisheit, 219 Uher, Daniela: Kunstwissenschaftliche Einführung zur Ausstellung BLICK NACH „DRÜBEN“ von der Künstlerin Andrea Thema in der xaver-mayr-galerie des Bürgerverein Ebern 1897 e. V., gehalten zur Eröffnung am 03. Oktober 2015. 220 Friedrich, Hanns: Laudatio zur Ausstellung BLICK NACH „DRÜBEN“ von der Künstlerin Andrea Thema im Museum für Grenzgänger, Bad Königshofen im Grabfeld, gehalten zur Eröffnung am 21. März 2010.
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das stilisierte Universum mit seiner Unendlichkeit verweist auf das Geschenk des Lebens als Teil der Schöpfung. Das kinetische Objekt Sophia ist in der Installation BLICK NACH „DRÜBEN“ ein Plädoyer für gegenseitige Achtung und Akzeptanz und die damit verbundene Würde jedes einzelnen Menschen. So beinhalten meine Arbeiten mit dem BLICK NACH „DRÜBEN“ auch einen Verweis auf unser Grundgesetz, welches die Unantastbarkeit der Menschenwürde regelt. „[...] Die Arbeiten der Künstlerin beschreiben, wie erlebter Schmerz, Wut, Trennung, Ängste und Gedanken von Ausweglosigkeit Eingang in ihren künstlerischen Schaffensprozess gefunden haben. Ihre Empfindungen und deren künstlerische Sublimierung sind Teil des kollektiven BLICKS NACH „DRÜBEN“ auf die innerdeutsche Teilung und deren Bedeutung für das alltägliche Leben der Menschen, die unweit der Grenzanlagen lebten. Im Laufe der Jahre überführte die Künstlerin ihre konkrete Erfahrung der deutschen Teilung in ihre abstrakten Arbeiten. Farben, Formen und Materialien entwickelte sie zu einer persönlichen Symbolik. Bei dem, der sich an Gestalt und Wirkung der innerdeutschen Teilung nach eigenem Erleben erinnert, wird die Installation ganz sicher Assoziationen hervorrufen. Und es sei an dieser Stelle die These gewagt, dass die einzelnen Positionen der Installation universales Potential in sich bergen auch bei denen, die auf der wiederum anderen Seite und hinter dem Eisernen Vorhang eingesperrt waren und bei den Jüngeren, die um die deutsche Teilung nur noch mittelbar wissen, Assoziationen und Gefühle von gewaltsamer Teilung hervorzubringen vermögen. Was bleibt mehr als zwanzig Jahre nach der Friedlichen Revolution von 1989 und dem Fall der Berliner Mauer? Die Berichte von Zeitzeugen, zumeist festgehalten in – mittlerweile digitalen – Bild- und Tonspuren, sind zu einem wichtigen Bestandteil der möglichen Erinnerung geworden. Für die jüngeren und nachfolgenden Generationen werden sie unabdingbar sein. Historiker diskutieren fortwährend Interpretationsmethoden, um der Geschichte und der Aneignung derselben auf möglichst reflektierte und adäquate Weise begegnen zu können. Doch das Misstrauen in die Berichte der Zeitzeugen als Quellen prägt nicht nur den wissenschaftlichen Diskurs. Filme, Reportagen und Bücher von Zeitzeugen oder die auf deren Berichten basieren, geben nicht nur den Wissenschaftlern, sondern auch Betrachtern und Lesern immer wieder zu denken: Ist es das, was erinnert werden kann? War es nicht anders? Welchen Stellenwert haben bei all dem subjektive Erfahrungen und deren Vermittlung, Wahrnehmungsmuster, Indoktrination, Manipulation und nicht zuletzt das Vergessen? In der Installation BLICK NACH „DRÜBEN“ von Andrea Thema spielt die Erinnerung eine wichtige Rolle. Mit Hilfe des von ihr gewählten Verfahrens der Abstraktion, das von einer – im Laufe eines jahrelangen künstlerischen Schaffensprozesses gewonnenen – eigenen Symbolik begleitet wird, hat sie ihre individuelle Erfahrung der innerdeutschen Teilung in eine Installation überführt, die wie eine Universalie zu wirken vermag. Somit birgt die von der Künstlerin
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durch die abstrakte bildende Kunst vermittelte Form des Erinnerns ganz eigene Möglichkeiten für jeden, der sich ihr öffnet“.221 Die Kunstausstellung mit der Installation BLICK NACH „DRÜBEN“ wurde bereits in mehreren Institutionen gezeigt. Nachdem diese Ausstellung im Jahr 2010 im Museum für Grenzgänger in Bad Königshofen im Grabfeld, in ca. 20 km Entfernung von meinem Geburtsort Maroldsweisach anlässlich 20 Jahre Wiedervereinigung erstmalig zu sehen war, konnte ich sie 2011 in Gedenken an die Besiegelung der Teilung Deutschlands, dem Anlass des 50. Jahrestages des Mauerbaus in Berlin unter dem gleichen Titel und in modifizierter Form in Berlin-Mitte, Nähe Checkpoint Charlie, im Bildungszentrum der Stasi-Unterlagen-Behörde (BStU), einem zeitgeschichtlichen Dokumentations- und Ausstellungszentrum, ein weiteres Mal installieren. „[...] Aufgabe der Abteilung Bildung und Forschung des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR ist es, über Repression innerhalb des SED-Systems zu informieren. Im Mittelpunkt stehen dabei, gesetzlich vorgegeben, Struktur, Methoden und Wirkungsweisen seines wichtigsten Unterdrückungsinstruments, des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), der Geheimpolizei, die Berge von Akten zusammengetragen hat, vornehmlich um die eigene Bevölkerung in Schach halten zu können. Zum Repressionssystem gehörte auch die gewaltsame Teilung Deutschlands und seiner Hauptstadt Berlin. Letztere ist hier, im Bildungszentrum des BStU zum Greifen nah, blickt man doch aus dem Fenster unmittelbar auf den Verlauf der ehemaligen Mauer. Die Staatssicherheit war in vielfältiger Weise mit der Sicherung dieses Eisernen Vorhangs durch das Land und die Stadt betraut, beispielsweise in der Form von als Grenzpolizisten maskierten Grenzkontrolleuren. Mit der Vergangenheit der gewaltsamen Teilung kann man sich auf verschiedene Weise auseinandersetzen. Der Historiker liest Akten, befragt Zeitzeugen, analysiert das erhobene Material und versucht die Daten so zu verknüpfen, dass ein schlüssiges Bild des Vergangenen entsteht. Das ist aber nur eine Möglichkeit des Umgangs mit der Vergangenheit – noch dazu eine, die nur den Intellekt anspricht. Die Kunst hat eine ganz andere Herangehensweise, die ihr weite, darüber hinausgehende Möglichkeiten eröffnet: Kunst kann Erlebtes verarbeiten und versucht die Welt oder einzelne ihrer Aspekte zu visualisieren. Ihr gelingt es, Emotionen anzusprechen, und doch bleibt sie dabei offen für individuelle Interpretationen des Kunstwerkes. Damit schafft der Künstler oftmals eindringlichere Konkretisierungen des Vergangenen als es das klassische Buch kann. Deshalb freuen wir uns au-
221 Schabow, Esther: Kunstwissenschaftliche Einführung zur Ausstellung BLICK NACH „DRÜBEN“ von der Künstlerin Andrea Thema im Bildungszentrum der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU), Berlin-Mitte, gehalten zur Eröffnung am 27. September 2011.
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ßerordentlich, heute wieder eine Kunstausstellung in unserem Bildungszentrum eröffnen zu können, die sich mit einem speziellen Aspekt unseres Themas auseinandersetzt. 2011 begehen wir den 50. Jahrestag des Mauerbaus, der zu vielen Tagungen Konferenzen und Gedenkveranstaltungen, aber auch zu einem breiten medialen Echo Anlass gab. Zur Teilung gehören aber auch die Blicke über die Grenze. Die Künstlerin Andrea Thema – durch eine Reihe anerkannter Ausstellungen hervorgetreten – kennt dieses Sujet aus eigener Anschauung: In Unterfranken hat sie unmittelbar in Grenznähe gelebt und damit ihre ganz eigenen Grenzerfahrungen gesammelt – seien sie nun physisch, dass es halt im Wald nicht mehr weiterging und die Eltern davor warnten, dem bedrohlichen Grenzzaun zu nahe zu kommen, seien es die persönlichen Erlebnisse, die es in einer durch die innerdeutsche Grenze zerrissenen Familie stets präsent waren. Diese Erfahrungen hat sie nun, nach zwanzig Jahren, künstlerisch verarbeitet – sehr eindringlich, wie ich finde. Es bedarf also auch in der Kunst mitunter des Abstands von den unmittelbaren Erfahrungen, nicht nur in der Geschichtsschreibung! Die Massivität ihrer Werke nimmt im übertragenen Sinn die Realität der Grenzsperren wieder auf, die einen brutalen Riegel durch Deutschland darstellten. Die Ausstellung lenkt im 50. Jahr des Mauerbaus in Berlin den Blick auf die Errichtung der innerdeutschen Grenzbefestigung, deren 60. Jahrestag wir 2012 gedenken müssen. Auch aus diesem Grund begrüßen wir diese Ausstellung, die dieses Ereignis hier in Erinnerung ruft [...]“.222 Zuletzt gezeigt wurde die Kunstausstellung mit der Installation BLICK NACH „DRÜBEN“ 2014 anlässlich von 25 Jahre Mauerfall in der Kreisgalerie Mellrichstadt und 2015 zum 25. Jahrestag der Wiedervereinigung in der xaver-mayrgalerie des Bürgerverein Ebern 1897 e. V., in Ebern. „[...] Mehr als 20 Jahre nach dem Fall der Mauer sind die äußeren Spuren der deutschen Teilung fast komplett beseitigt. Man muss heute oftmals ganz genau hinsehen, um beispielsweise Reste der Grenze als solche zu erkennen. Die Mauer war aber immer mehr als eine teils bunt bemalte, teils extrem stark bewachte Grenze in Berlin. Die Mauer war mit 1400 km eine lange deutsch-deutsche Narbe. Die inneren Spuren der deutschen Teilung sind vielfältig. Manche Wunden sind bis heute nicht verheilt und schmerzen noch immer. Vor allem da, wo das Leben und die Zukunft von Menschen nachhaltig zerstört wurden.
222 Heidemeyer, Helge: Eröffnungsrede zur Ausstellung BLICK NACH „DRÜBEN“ von der Künstlerin Andrea Thema im Bildungszentrum der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU), Berlin-Mitte, gehalten zur Eröffnung am 27. September 2011.
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Zwischenzeitlich gibt es eine komplette Generation, die die deutsche Teilung nur aus den Geschichtsbüchern kennt oder aber vom Hörensagen, wenn man in trauter Familienrunde zurückblickt und die Vergangenheit Revue passieren lässt [...]“.223 BLICK NACH „DRÜBEN“
Erstes Wandobjekt aus der Serie BLICK NACH „DRÜBEN“, Collage / bearbeitetes Schleifpapier / Mischtechnik auf MDF, Maße: 175 cm x 110 cm x 4 cm
223 Kastner, Susanne: Laudatio zur Ausstellung BLICK NACH „DRÜBEN“ von der Künstlerin Andrea Thema im Bildungszentrum der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU), Berlin-Mitte, gehalten zur Eröffnung am 27. September 2011.
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BLICK NACH „DRÜBEN“
Teilansicht der Installation im Bildungszentrum der Stasi-Unterlagen-Behörde (BStU), Berlin-Mitte, im Jahr 2011: Teilausschnitt von zwei Wandobjekten aus der Serie BLICK NACH „DRÜBEN“ und dreiteiliges kinetisches Objekt namens Sophia Fotos und Bildrechte: © Andrea Thema Weitere Informationen im Internet unter: www.andrea-thema.de
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5.8.2. Die innerdeutsche Grenze (1945-1989) Von G. Arnold Die deutsch-deutsche Grenze war rund 1.000 km lang.224 Der Grenzverlauf zwischen den Besatzungszonen wurde bereits vor Kriegsende festgelegt. Mit Gründung der beiden deutschen Staaten wurde dieser Grenzverlauf festgeschrieben. Fragen nach einer über Jahrhunderte hinweg gewachsenen Infrastruktur fanden keine Berücksichtigung. Durch Ortschaften und Gebäude verlief die Grenze. Als besonderes Problem erwies sich die Eisenbahnlinie Bremerhaven – Hannover – Göttingen nach Bebra. Auf diesem Abschnitt durchquerten die Züge der Amerikaner auf einer Länge von rund 3 km die sowjetische Besatzungszone. Störungen und Behinderungen durch die Sowjets waren an der Tagesordnung. Um weiteren Streitigkeiten mit den Sowjets aus dem Weg zu gehen, vereinbarten die beteiligten Seiten am 17.9.1945 einen Gebietsaustausch zur Grenzkorrektur. Der Vertrag wurde durch Brigadegeneral Sexton und Askalepov in Wanfried unterzeichnet. Im Volksmund wird dieses Abkommen auch als Wodka-Whisky-Vertrag bezeichnet. Fünf hessische und zwei Thüringische Dörfer wechselten daraufhin ihren Besitzer. Für die Besatzungsmächte war hiermit das Problem gelöst. Im Gegensatz dazu begannen für die Menschen in den ehemals hessischen Gemeinden Asbach, Sickenberg, Vatterode, Hennigerode und Weidenbach erst die Probleme. Im Grenzmuseum Schifflersgrund wird explizit über das Thema des Gebietsaustausches informiert, da das Museum auf ehemaligem hessischen Grund steht und die Gemeinden Asbach und Sickenberg sich in unmittelbarer Nähe befinden. Ausbau der Grenze. Die Verordnung des Ministerrates der DDR vom 26.5.1952 über „Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der DDR und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands“ war der Auslöser für den Ausbau der Grenze. Eine Sperrzone von 5 km wurde eingerichtet, einschließlich eines 500 m breiten Schutzstreifens. Nach einem einreihigen Stacheldrahtzaun folgte später ein zweiter. Besonders perfide ging man gegen sogenannte „feindliche Elemente“ vor. Unter dem Tarnnamen „Ungeziefer“ wurden von 1952 an etwa 10.000 Menschen umgesiedelt und in der gesamten DDR verteilt. Eine gesetzliche Grundlage existierte für diese Aktion nicht und zeigt schon die ersten Auswüchse einer stalinistischen Diktatur. 224 Kittlaus, Manfred: Grenzregime, in: Eppelmann, Rainer / Möller, Horst / Nooke, Günter / Wilms, Dorothee (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus, 2. Aufl., 1997, S. 352 f. Lebegern, Robert: Zur Geschichte der Sperranlagen an der innerdeutschen Grenze 1945-1990, Erfurt 2004. Schultke, Dietmar: „Keiner kommt durch“. Die Geschichte der innerdeutschen Grenze 1945-1990, Berlin 1999. Hertle, Hans-Hermann / Sälter, Gerhard: Die Todesopfer an Mauer und Grenze. Probleme einer Bilanz des DDR-Regimes, in: Deutschland Archiv 4, 2006, S. 667-676.
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Mit der Aktion „Kornblume“ 1961 erfolgte die zweite große Säuberungswelle im Grenzgebiet der DDR. Noch einmal verloren mehr als 2.000 Menschen ihre Heimat. Der Ausweisung entzogen sich über 3.000 Menschen durch vorherige Flucht in die BRD. Im Grenzmuseum Schifflersgrund wird dieser Thematik Rechnung getragen. Zahlreihe Zeitzeugenberichte und Informationen sind in der Ausstellung vorhanden. Bewegende Gespräche und Interviews mit Zwangsausgesiedelten, Fluchthelfern und Zeitzeugen gehören zu weiteren Aufgabenbereichen des Museums. Weiterer Ausbau der Grenze. Zwischen 1961 und 1985 erfolgte eine hermetische Abriegelung der Grenze. Neben Minenfeldern und Selbstschussanlagen wurde das Grenzmeldenetz weiter ausgebaut. Hundelaufanlagen, Kolonnenwege, Lichtsperren, Kontrollstreifen und Streckmetallzäune erhöhten die Undurchdringbarkeit der Grenze. Speziell der Aufwand an der Berliner Grenze war enorm. Von insgesamt 155 km verliefen 43 km innerstädtisch. Neben 20 Bunkern entstanden 302 Beobachtungstürme. Die Betonmauer des Sperrsystems war bis zu 3,60 m hoch mit einer Rohrauflage von 40 cm Durchmesser. Bei einem Gewicht von 2,75 t entstanden Kosten von rund 1.000 Mark der DDR je Element. Allein zwischen 1961 und 1964 betrugen die Kosten der Grenzsicherung 1,8 Milliarden Mark der DDR. Etwa 10.000 Mann der Grenztruppen der DDR waren im Einsatz. Jährliche Kosten wurden auf 500 Millionen Mark geschätzt. Das der Staatssicherheit unterstehende Pass- und Kontrollsystem wurde mit 38 Millionen pro Jahr veranschlagt. Die Opfer der Grenze. Mehr als 100.000 Bürger der DDR versuchten zwischen 1961 und 1989 über die innerdeutsche Grenze und der Berliner Mauer zu fliehen. Mehr als 700 namentlich bekannte Bürger verloren ihr Leben. Allein an der Berliner Mauer starben mindestens 136 Menschen. Über 40.000 gelang die Flucht. Darunter etwa 5.000 über die Berliner Mauer. Zehntausende Fluchtwillige wurden bereits bei der Planung oder auf dem Weg zur Grenze verhaftet. So geht man davon aus, dass von 200 Fluchtwilligen, die die 5 km-Zone erreichten, nur 12 bis in den 500 m Schutzstreifen kamen. Nur 5 von ihnen schafften dann tatsächlich die Überwindung des Grenzzauns. Den von den Grenztruppen Festgenommenen drohte eine Verurteilung zu Haftstrafen von 1-8 Jahren. Zu den 26 Getöteten an der hessisch-thüringischen Grenze gehört auch HeinzJosef Große. In unmittelbarer Nähe zum heutigen Grenzmuseum verlor er bei seiner versuchten Flucht sein Leben. Als ziviler Arbeiter war er über Jahre hinweg unmittelbar an der Grenze tätig. Mit einem Frontlader war er am 29.3.1982 mit Erdarbeiten im Grenzbereich beschäftigt. Da sich die ihn bewachenden Grenzsoldaten entfernt hatten, bot sich ihm die Gelegenheit zur Flucht. Gegen 15:50 Uhr fuhr Große an den Grenzzaun und legte den Ausleger seines Frontladers über den mit Selbstschussanlagen gesicherten Zaun. Nach seinem Sprung über den Zaun trennten ihn noch rund 50 m von der eigentlichen Grenze. Die zurückkehrende Streife eröffnete nach einem
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Warnschuss das gezielte Einzelfeuer auf Große. Wenige Minuten später verstarb Heinz-Josef Große nur 25 m vor der Grenzlinie. Nach der Wiedervereinigung mussten sich die Todesschützen vor Gericht für ihre Tat verantworten. Die beiden, zum Zeitpunkt der Tat 20 und 21 Jahre alten Männer, wurden wegen gemeinschaftlichen Totschlags zu Bewährungsstrafen von jeweils einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Im Grenzmuseum Schifflersgrund wird jedes Jahr am 29.3. mit einer Kranzniederlegung an die tragisch endende Flucht des Heinz-Josef Große gedacht.
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5.8.3. Der antifaschistische Schutzwall - Ursache des wirtschaftlichen Ruins der DDR? Von Hans-Gerd Adler Oft wurde ich bei Zeitzeugengesprächen gefragt: „Warum hat das bei euch alles nur so lange gedauert? Nach der Wiedervereinigung wurde doch der totale wirtschaftliche Ruin der DDR so erschreckend deutlich!“ Viele Zeitgenossen sind davon überzeugt, dass allein die desaströsen ökonomischen Verhältnisse den Zeitpunkt des Untergangs der DDR bestimmt hätten. Dieser Meinung kann ich mich nur bedingt anschließen. Gewiss, die wirtschaftlichen Verhältnisse und die wachsende allgemeine Unzufriedenheit der DDR-Bevölkerung waren ein bedeutender Grund, der zum Aufbruch im Herbst 1989 führte. Entscheidend war aber, dass der Wille dazu erst reifen musste. Dieser bekam durch die politische Großwetterlage seinen spürbaren Auftrieb. Der allseitigen ideologischen Herrschaft der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) war es über vier Jahrzehnte gelungen, ein Aufbegehren zu unterdrücken. Die vielen alltäglichen Einbindungen des Einzelnen in das kollektivistische System der sozialistischen Ordnung verhinderten ein Offenwerden der Realitäten. Staatsicherheit, Zwangskollektivierung, Zwangsaussiedlungen und vielerlei Repressalien hielten die Bevölkerung in Schach. Diejenigen, die dies nicht ertragen konnten oder wollten, kehrten der DDR den Rücken. Solange es möglich war, flohen sie über die Grenze. Ab den 1970er Jahren kaufte der Westen rebellierende DDR-Bürger frei. Im Übrigen, das DDR-Volk lebte seit Gründung der DDR (7. Oktober 1949) in einer Mangelwirtschaft und hatte sich daran gewöhnen müssen. Diese Erscheinung betraf die Bewohner des gesamten Ostblocks nach dem Ende des 2. Weltkriegs ebenfalls. Und jeder DDR-Bürger wusste, dass es ihm im Vergleich zu den Bewohnern der anderen Ostblockländer deutlich besser ging. So waren auch viele davon überzeugt, dass der miserable Zustand noch sehr lange andauern, ja, sich sogar noch verschlechtern würde, ohne dass die DDR aufhörte zu bestehen. Gottlob ist es nicht so gekommen. Aber die Auffassung, dass die Finanzierung der Grenze einen bedeutenden Anteil am wirtschaftlichen Ruin hatte, bekam nach der Sichtbarwerdung des Ausmaßes der gesamten Grenzanlage ihre volle Bestätigung. Dies soll zunächst durch die nachfolgenden Daten225 untermauert werden: Grenze und Grenzgebiet o Länge der Grenze 1.394 km davon Thüringen 763 km davon Eichsfeld 108 km o außerdem Westberlin 166 km o Sperrgebietsfläche (ohne Berlin) 6.970 km² davon Thüringen 3.815 km² davon Eichsfeld 540 km² mit 70 Dörfern 27 Dörfer lagen im 500-m–Schutzstreifen 225 Die Angaben basieren auf eigenen Recherchen im Grenzlandmuseum Eichsfeld und Grenzmu-
seum Schifflersgrund. Die Sperrgebietsfläche bezieht sich pauschal auf das 5-km-Sperrgebiet. Die Personalangaben entsprechendem Stand der 1980er Jahre.
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Personal 47.000 12.000 80.000 8.000
15.000 162.000 177.500 3.000 180.500 342.500
Grenzsoldaten (Grenztruppen der DDR) je km = 30 Mann Angehörige der Passkontrolleinheit (Ministerium für Staatssicherheit, Hauptabteilung VI) Polizisten (nur in Grenzkreisen) Transportpolizisten der Deutschen Reichsbahn. Sie kontrollierten die Personenzüge in Richtung Grenze. Reisende ohne Sondergenehmigung mussten die Züge auf der letzten Station vor dem Sperrgebiet verlassen. Betriebsschutz (nur Grenzkreise) Zahl der hauptberuflich Tätigen Polizeihelfer (Stand 1989) Freiwillige Helfer der Grenztruppen Zahl der angeworbenen Helfer Zahl des Gesamtpersonals – Grenze
Tote und Verletzte 226 o ca. 1.300 Tote (Stand 08.2008)227 davon 474 am thüringischen Grenzabschnitt davon 25 Kinder 26 Tote am thüringisch-hessischen Grenzabschnitt (Eichsfeld) o Verletzte: Gesamtzahl unbekannt 922 am thüringischen Grenzabschnitt davon 58 Kinder Diese Daten geben bezüglich des antifaschistischen Schutzwalls einen Überblick über die in der Zeit des Kalten Krieges vorhandene „Front“. Aber auch das „Hinterland“ musste ausreichend gesichert werden, um den Klassenfeind im eigenen Volk zu entdecken und unschädlich zu machen. Dazu agierte vor allem das 870.000 Mann starke Heer des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Dieses bestand aus 90.000 hauptamtlichen Mitarbeitern, 180.000 inoffiziellen Mitarbeitern (IM) und 600.00 Zuträgern.228. Insgesamt waren somit 1.212.500 Personen für die operative Sicherung der sozialistischen Errungenschaften verantwortlich. Auch Kampfgruppen, Polizei außerhalb der Grenzkreise, Zivilschutz und Feuerwehr sind Bereiche, die dem Ministerium des Inneren unterstellt waren und so für die Sicherheit der DDR zu berücksichtigen sind. Die Nationale Volksarmee (NVA) ist ein weiterer Faktor, der jedoch zur Verteidigung des Staates eine bedeutende Rolle spielte. Daraus schlussfolgernd waren schätzungsweise etwa 10 % der DDR-Bevölkerung für die Sicherung des SED-Staates eingesetzt.
226 Thüringer Allgemeine vom 04.02.2003. 227 Recherche im Grenzmuseum Schifflersgrund. 228 Gauck, Joachim: Winter im Sommer, Frühling im Herbst, München 2009, S. 284.
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Die Frage nach dem wirtschaftlichen Ruin der DDR durch den antifaschistischen Schutzwall soll im Folgenden untersucht werden: Abgesehen vom Exodus von über 3 Millionen DDR-Bürgern war die Abgrenzung der DDR von der BRD eine langjährige außerordentliche Belastung des staatlichen Haushalts. Besonders die Bürger der ehemaligen DDR-Grenzkreise würden eine solche Sichtweise spontan bestätigen, da sie die aufwendige „zuverlässige Sicherung“ der Grenze mehr oder weniger miterlebten. Nicht nur, dass in vielen Grenzdörfern eine Grenzkompanie angesiedelt war, sondern auch die unzähligen Materialtransporte, Truppenbewegungen und eine nahezu lückenlose, tief gestaffelte Grenzkontrolle unterstützen diese weit verbreitete Meinung. Immerhin war die Grenze einschließlich BerlinWest rund 1.560 Kilometer lang. 47.000 Mann der Grenztruppen der DDR sicherten die Grenze „zu jeder Stunde“. Personal der Grenzübergänge, u. a. Zoll und Passkontrolleinheit (PKE), sind hier nicht mit eingerechnet. Diese waren von den Grenztruppen unabhängige Einrichtungen und mit Aufgaben der Kontrolle von Personen und Sachgütern bei der Ein- und Ausreise betraut. Die PKE war zudem die Hauptabteilung VI der Staatssicherheit der DDR, die allerdings in Uniformen der DDR-Grenztruppen in Erscheinung trat. Mit der Schaffung von weiteren vier neuen Grenzübergängen Ende 1972 konnten Bundesbürger im Rahmen des „kleinen Grenzverkehrs“ an insgesamt neun Grenzübergangsstellen in die DDR ein- und ausreisen (ohne Berlin). Die Eisenbahnübergänge bleiben bei den weiteren Überlegungen unberücksichtigt. Es liegt nahe, dass die Grenzübergänge besonders kostenintensiv waren, da sie ein äußerst hohes Maß an Sicherheit bieten mussten. Der zuverlässige sichere Schutz der Staatsgrenze West wurde von der Partei- und Staatsführung der DDR als unverzichtbares Erfordernis für den Aufbau des Sozialismus und die Sicherung des Friedens in Europa und darüber hinaus propagiert. Die sichere Grenze war gleichsetzbar mit Stärke des Staates DDR. Für das Volk war dies jederzeit und überall sichtbar in Losungen wie „Je stärker der Sozialismus, umso sicherer der Frieden!“. Und diese Stärke musste und durfte auch etwas kosten, das verstand jeder DDR-Bürger, ganz gleich, ob er mit dem System Probleme hatte oder nicht. Außerdem sorgte der Begriff „antifaschistischer Schutzwall“ ebenfalls dafür, dass das Volk der DDR sogar den immer wieder erfahrbaren Mangel in der Versorgung als notwendigen Verzicht für Sicherheit und Geborgenheit in der sozialistischen Heimat verstehen sollte. Was hat sich die DDR die Grenze kosten lassen, was war sie ihr letztlich wert? Was musste sie bezahlen, um zu verhindern, dass ihre Bürger ohne ihr Einverständnis in die Freiheit gelangen konnten? Dies war der einzige Zweck der Grenze, denn heute weiß jeder, der einmal ein Grenzmuseum besucht hat, dass der Begriff „antifaschistischer Schutzwall“ eine der größten Lügen des Partei- und Staatsapparates war. Die Wirkung der Grenze war nicht gegen den Feind (die Faschisten und Imperialisten) im Westen, sondern gegen das eigene Volk ausgerichtet und wirksam. Das Volk der DDR war eingesperrt. Die exakten Investitions- und Unterhaltungskosten lassen sich nur schwer ermitteln. Dokumentationen, die in den Grenzmuseen Schifflersgrund und Teistungen vorhanden sind, boten mir die Grundlage für die Berechnung eines annähernd realistischen Investitionsaufwandes, der hier kurz dargestellt wird.
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In den Dokumenten der Museen wird der gesamte Investitionsaufwand mit rund 2 Mrd. Mark beziffert. Die Ermittlung der Investitionskosten in Tabelle 1 erfolgte über den Aufwand pro Stück und pro Kilometer (z. B. 1 km Metallgitterzaun kostete 115.000 Mark; auf 1.338,3 km war ein solcher Zaun installiert; die Kosten für eine Grenzübergangsstelle betrugen 10 Mio. Mark usw.). Der daraus errechnete Betrag stellt allerdings ein Minimum dar. Daher ist er auf 3 Mrd. Mark aufgerundet worden. Dies geschah aus dem Grunde, weil in den vorhandenen Preislisten nicht alle investiven Aufwendungen aufgeführt sind. So sind z. B. die Kosten für Stacheldraht, Grenzpfosten, Schlagbäume, verschiedene Modelle von Beobachtungstürmen nicht beziffert. Unter Berücksichtigung der pauschalen Erhöhung betragen die gesamten Investitionskosten somit 1.924.680 Mark pro Kilometer Grenze. Das ist ein Betrag, den DDR-Bürger in dieser Dimension sicher nicht erwartet hätten, der aber deutlich macht, dass die DDR, auch bezüglich der Grenze, über ihre Verhältnisse gelebt haben muss. Ein solcher Aspekt bestätigt umso mehr den vermeintlichen ökonomischen Ruin, wenn man die Unterhaltung des Schutzwalls mit zu berücksichtigen hat. In der Berechnung eines Ergebnisses laut Tabelle 3 werden rund 170 Mrd. Mark dafür angesetzt. Auch diese Zahl bietet noch mehr Sicherheit in der Frage, was die Grenze außer dem Leben von über 1.000 Menschen noch gekostet hat. Tabelle 1: Die Investitionskosten – innerdeutsche Grenze 229
229 Mengen und Preise nach Dokumentationen im Grenzlandmuseum Eichsfeld und Grenzmuseum
Schifflersgrund, Stand 1983, kursiv = eigene Schätzung, Werte in Tausend Mark der DDR.
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Es ist bekannt, dass die DDR auch einige Einnahmen u. a. durch den „kleinen Grenzverkehr“ zu verzeichnen hatte, wodurch sich die horrenden Ausgaben relativieren. Daher sind die Deviseneinnahmen der DDR durch den Grenzverkehr ein interessanter Aspekt. Der Grenzverkehr war in erster Linie propagandistisch als Erleichterung im Reiseverkehr zwischen der DDR und der BRD dargestellt worden. Auch andere Deviseneinnahmen waren nur möglich, weil es die Grenze gab. Von 1973-1989 passierten rund 6.000.000 Bundesbürger die Grenzübergangsstelle (GÜST) Duderstadt/Worbis. Der Mindestumtausch (Zwangsumtausch) brachte der DDR insgesamt ca. 8,5 Mrd. DM. Im Zeitraum von 1980-1989 erbrachte die Bundesregierung Leistungen für Straßenbau und Transitgebühren in Höhe von 8,6 Mrd. DM. Der Umsatz in den Intershops beläuft sich auf ca. 750 Mio. DM pro Jahr, Waren brachten die Bundesbürger jährlich im Wert von ca. 2 Mrd. DM mit (entspricht einem DDR-Warenfonds von 8 Mrd. M). Den über die Handelsfirmen LIMEX und GENEX bezogenen Warenwert von 10 Mrd. DM darf man sicher als realistisch annehmen. Für den Freikauf von politisch Gefangenen, Republikflüchtlingen sowie Familienzusammenführungen kassierte die DDR von 1963-1989 3,5 Mrd. DM. Alles in allem kommt man bei sehr vorsichtiger Berechnung auf einen reinen Devisenerwerb (also ohne den Warenfluss) durch den antifaschistischen Schutzwall von mindestens 21 Mrd. DM. Die folgende Tabelle 2 gibt dazu eine Übersicht. Tabelle 2: Devisenerträge 230
230 Quellen:
1) Zeitschrift der IGFM „DDR – heute“, 1988, Nr. 18, S. 14, 2) Der Morgen, 23./24. März 1991 (33.755 pol. Häftlinge), 3) Dokumentation Grenzlandmuseum Eichsfeld, 4) eigene Schätzung.
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Die Saldierung des Aufwands für den Schutz vor der Aggressivität der imperialistischen BRD mit dem Nutzen, den die DDR daraus zog, wird in der folgenden Tabelle 3 dargestellt. Durch die Berechnung nach DDR-Mark und D-Mark soll die unzweifelhafte Darstellung eines positiven finanziellen Ergebnisses aus dem „Grenzbetrieb“ der DDR verdeutlicht werden. Tabelle 3: Ermittlung eines Ergebnisses
Somit wird offenkundig, dass der antifaschistische Schutzwall nur für die zum Verhängnis wurde, die Leben, Gesundheit, Heimat und Besitz verloren. Dagegen bezahlte der verhasste Klassenfeind seine eigene Abgrenzung vom ruhmreichen Sozialismus mit klingender Münze in die sozialistische Kasse. Und das werktätige Volk der sozialistischen DDR? „Was des Volkes Hände schaffen, soll des Volkes Eigen sein!“, diese Losung bestätigt sich gegenüber dem übrigen Volksschaffen auch im Nachhinein noch, denn das Volk hat die Grenze nicht geschaffen. Es kam daher auch nicht in den Genuss der Auswirkungen einer fürwahr stolzen Devisenbilanz. Wo sind sie also geblieben, die Devisen, an denen das Volk nicht teilhatte? Das fragte es schon im Herbst des Jahres 1989. Bestimmt hätte es am Milliardensegen teilgehabt, wenn der Regressanspruch der Krenz-Regierung gegenüber der BRD vom Dezember 1989 in Höhe von 46,3 Mrd. DM die Wende für eine neue, noch schönere DDR mit einem demokratischen Sozialismus mit menschlicherem Antlitz ermöglicht hätte. Die Analyse gibt folgende Antwort auf die eingangs gestellte Frage: Auch wenn die Angaben in den Tabellen hier und da nicht 100%ig nachgewiesen sind, muss festgestellt werden, dass die DDR nicht an den Kosten für Ausbau und Unterhaltung des antifaschistischen Schutzwalls zugrunde ging. Vielmehr hat der reichliche Devisenfluss aus dem Westen die DDR, ähnlich wie der zinslose Kredit, den ihr Franz Josef Strauß für den Abbau der Splitterminen vom Typ SM70 verschaffte, länger am Leben erhalten. Auch deshalb hatte es so lange gedauert. Mit anderen Worten: Die Grenze war für die DDR lebensnotwendig! Mit dem Fall der Mauer war ihr Untergang besiegelt worden.
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5.8.4. Die Öffnung der in innerdeutschen Grenze am 9./11. November 1989 Von Hans-Gerd Adler Die Entstehung der innerdeutschen Grenze war ursächlich eine Folge des 2. Weltkrieges. Von der Demarkationslinie zwischen der amerikanischen/britischen und der sowjetischen Besatzungszone 1945 wurde sie 1949 zur Staatsgrenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Ab 1952 baute die DDR diese Grenze zum „antifaschistischen Schutzwall“ aus. Diese Nahtstelle zwischen dem freien Westen und dem von der SED-Diktatur beherrschten Osten wurde zur Tod bringenden Zone für viele, die der DDR entfliehen wollten. Sie war letztlich die in Europa sichtbare Trennungslinie zwischen den NATO-Ländern und denen des Warschauer Paktes. Die kurze Schilderung der Teilung Deutschlands trifft in gleicher Weise auf die Spaltung der ehemaligen Reichshauptstadt Berlin zu.
Aus Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hg.): Die innerdeutsche Grenze, Bonn 1987, S. 31.
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Eine umfassende Sicht auf die gesamte Grenze wäre Stoff für eine gesonderte Publikation. Daher beziehe ich mich auf meine persönlichen Eindrücke und Erfahrungen in der Region Eichsfeld, einem Gebiet im Dreiländereck Thüringen, Niedersachsen und Hessen. Das Eichsfeld, eine über Jahrhunderte zusammengehörende Region, hatte die Teilung Deutschlands besonders schmerzlich erfahren müssen. Diese ist etwa mit der Teilung Berlins vergleichbar, da bestehende enge verwandtschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Bindungen besonders zum Untereichsfeld, aber auch zu anderen im Westen gelegenen Gebieten durch die Grenzziehung unterbrochen wurden. Durch die entlang der Grenze geschaffene 5-km-Sperrzone wurden zudem die Bindungen in Richtung des DDR-Landesinneren ebenfalls stark beeinträchtigt und, wo „nötig“, unterbunden. Die militärische Präsenz der Grenztruppen der DDR und die der Staatssicherheit sorgten gleichzeitig für gestörte Beziehungen zu den im Sperrgebiet wohnenden Bürgern. Die Einreise in das Sperrgebiet war für DDRBürger nur mit Sondergenehmigung möglich. Westdeutschen Bürgern war der Aufenthalt im Sperrgebiet nicht gestattet. Die Zwangsevakuierungen aus dieser Zone (1952 Aktion Ungeziefer, 1961 Aktion Kornblume) haben bis zum Ende der DDR gewollt bleibende Ängste und bis heute tiefe Wunden hinterlassen. Tausende haben versucht, Grenzgebiet und Todesstreifen zu überwinden, um in den freien Westen zu gelangen. Hunderte haben dabei ihr Leben verloren oder schwere körperliche Schäden davongetragen, nur wenigen ist es nach 1961 geglückt, unversehrt in die Bundesrepublik zu gelangen. Der berüchtigte „Eiserne Vorhang“ zwischen Ost und West, zwischen Sozialismus und Kapitalismus war hier erfahrbare Realität. Grenzanlage bei Bornhagen/Rimbach - Werleshausen
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Der frische Wind der Freiheit, der im Sommer 1989 durch die Grenzöffnung Ungarns von vielen DDR-Bürgern eingesogen wurde, schaffte eine wesentliche Voraussetzung für einen stürmischen Herbst. Dadurch wurde die Entwicklung zur Friedlichen Revolution beflügelt und der Fall der Mauer in Berlin die Folge eines nicht mehr beherrschbaren Systems. Die am 9. November 1989 durch Günter Schabowski abgehaltene Pressekonferenz des SED-Politbüros endete mit der Botschaft, die so nicht vom Politbüro beschlossen worden war, nämlich, dass unverzüglich alle Grenzübergänge zur BRD für Reisen der DDR-Bürger in die BRD genutzt werden können. Diese Nachricht verbreitete sich wie ein Blitz. Diejenigen, die das Ereignis in Berlin nicht sofort erfuhren, weil sie z. B. gerade auf einer Demo waren, hatten zunächst Zweifel an dem Wahrheitsgehalt der Nachricht. Ein mir Bekannter aus Birkungen war am Abend des 9. November zur Demo nach Leinefelde gefahren. Er hatte über die Ereignisse des Aufbruchs Tagebuch geführt und übergab mir seine Aufzeichnungen von diesem Abend. Darin schreibt er: 9. November 1989 Am Abend Friedensgebet mit hl. Messe, anschließend DEMO zum Zentraler Platz. Viele sagten ihre Meinung, ein Hin und Her. Zu später Stunde fragte ein Jugendlicher: „Stimmt es, dass man jetzt nach dem Westen fahren kann?“ Antwort: „Ja!“. Kein Echo unter den Demonstranten. Weiter: „Wer darf fahren?“. Antwort: „Alle!“. Wieder kein Echo unter den Demonstranten. Keiner hat es geglaubt, dass die Grenzen auf sind! Nach der Heimkehr von Leinefelde sofort Nachrichten gehört und Fernseher angemacht. Es stimmt, die GRENZEN SIND AUF! Am 11. November wollten wir es wissen. Unsere ganze Familie (5 Personen) quetschte sich am frühen Morgen (6.00 Uhr) des 11. November 1989 in unseren Trabbi, und wir fuhren in Richtung Grenze – ohne Visum – nur mit Personalausweis. Wir kamen bis Dorfeingang Teistungen. Dort hatte sich schon ein großer Stau gebildet. Stück für Stück, bzw. Ruck für Ruck kamen wir der Grenze näher. Dann war es soweit – DIE GRENZE – nur Gesichtskontrolle – dann durchgewunken! Nur der Bundesdeutsche fragte uns, ob wir im Westen bleiben wollten. „NEIN!“, war unsere Antwort. Wir wollten nur sehen und zwar als Familie und dann wieder heim. Also wurden wir weitergewunken und waren ruckzuck in Gerblingerode. Dann Duderstadt. Natürlich brauchten wir auch Geld. Also fuhren wir Richtung Eichsfeldhalle. Menschen, Menschen, Menschen – Tausende –. Dieser Bericht beschreibt bereits die Abfolge des Geschehens der nächsten Tage. Die Überprüfung der Tatsache der Grenzöffnung glich den Vorgängen in Berlin. Seit Ende 1972 gab es die auf der Basis des Grundlagenvertrages an der B 247 errichtete Grenzübergangsstelle (GÜST) Worbis – Duderstadt bei Teistungen. Diese war, vergleichbar mit den GÜST in Berlin, für die Einreise von Bundesbürgern und die besuchsweise Ausreise von DDR-Bürgern bestimmt. Nun konzentrierte sich das Interesse der Bürger der Eichsfelder Grenzkreise Heiligenstadt
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und Worbis sowie das der Thüringer Nachbarkreise auf diesen einzigen in der Region passierbaren Übergang. Zig Kilometer lange Autokolonnen und freudetrunkene Menschen – das sind die Bilder, die all denen in Erinnerung geblieben sind, die damals dabei waren. Ganz anders, aber ebenso spannend, ist mein persönliches Erleben vom Fall der Mauer in Berlin und der Grenzöffnung unweit von Heiligenstadt. Wie üblich haben meine Frau und ich die Nachrichten im Westfernsehen verfolgt. Seit die Bilder von der ersten Demo in Leipzig auf dem Bildschirm zu sehen waren, taten wir das intensiver, d. h., wir schalteten nun auch regelmäßig die DDR-Nachrichten ein. Am 9. November konnten wir uns nicht vom Fernseher lösen. Immer wieder sahen wir die gleichen Bilder, verfolgten jedes gesprochene Wort mit allergrößter Aufmerksamkeit. Dabei wechseln wir zwischen den drei uns verfügbaren Fernsehsendern ARD, ZDF und Fernsehfunk der DDR. Wir konnten es nicht fassen. Die Freudentränen rannen unaufhaltsam. Als ob eine uns bisher schwer einengende Kette jäh zersprungen war, schöpften wir sofort Hoffnung auf den endgültigen Fall der Grenze und damit auf die Wiedervereinigung Deutschlands. Für mich schien nun doch etwas wahr zu werden, was ich seit meiner Jugend nur als Traum empfunden hatte. Auch nach meinen familiär begründeten Westreisen 1974, 1976 und 1985 verschwand dieser Traum nicht. Ich hielt nämlich eine Wiedervereinigung Deutschlands nur nach dem bismarckschen Prinzip „Einigung durch Blut und Eisen“ realisierbar. Allerdings wäre nach meiner Meinung dieser Weg wegen eines dann drohenden Atomkrieges höchst unwahrscheinlich geworden. Somit glaubte ich die Teilung Deutschlands in zwei Staaten als für alle Zeit besiegelt. Mit meinem Engagement als Vorsitzender der Demokratischen Initiative (DI), einer Bürgerbewegung, welche in unserer Region die Friedliche Revolution organisierte, änderte sich meine Einstellung. Auch ich sah nun die Möglichkeit, dass aus meinem Traum Realität werden könnte. Zehntausende Eichsfelder waren sich darin einig: Wenn es uns gelingt, die Macht der SED zu brechen, dann sind wir auch vom sozialistischen System befreit. Und wenn uns beides gelingt, dann hindert uns niemand daran, die Einheit Deutschlands zu erlangen. Dass die Menschen das ernst meinten, kam bereits bei der Demo am 6. November in Heiligenstad deutlich zum Ausdruck. So schwang ein junger Mann eine sehr große DDR-Fahne, die er an einer Teleskopstange befestigt hatte, über den Köpfen der Demonstranten. Das Besondere an dieser Fahne bestand darin, dass das DDR-Emblem herausgetrennt und nun eine schwarz-rot-goldene Fahne zu sehen war - für alle ein deutliches Zeichen für das Ziel unserer Revolution. Und drei Tage später, am 9. November, diese Nachricht!
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Grenzöffnung Hohengandern – Witzenhausen am 11. November 1989
Eine ungeahnte Euphorie erfasste uns alle. Wir waren in der Tat aus dem Häuschen. Es hielt keinen mehr zu Hause. Am übernächsten Tag, dem 11. November, waren im Eichsfeld bereits vier große Löcher in den verhassten Grenzzaun gerissen worden.230 Der Ruf von Zehntausenden bei den Demos „Die Mauer muss weg!“ hatte die Bevölkerung in den Grenzdörfern Hohengandern, Lindewerra, Großtöpfer und Katharinenberg beflügelt, ihrerseits den Druck über den Rat des Kreises auf die Bezirksverwaltung Erfurt zu erhöhen, um ebenfalls unverzüglich Grenzübergänge zu schaffen. Die staatlichen Behörden hatten keine Wahl und gaben schneller als gehofft dem Druck nach. Die Grenztruppen der DDR erhielten die Anweisung für die Öffnung des Grenzzaunes und die Schaffung sicherer Übergänge durch das mit Minen, Elektrozaun und Signalanlagen bestückte Grenzgebiet. Die Unterstützung durch örtliche Kräfte und vor allem den Bundesgrenzschutz war ein überzeugendes Indiz für weitere Grenzöffnungen. Bis zum 20. Januar 1990 waren an allen 23 ehemaligen Straßenverbindungen Grenzübergänge zwischen dem Eichsfeld und Hessen sowie Niedersachsen eingerichtet worden. Ab dem 17. März 1990 standen alle zu Straßen ausgebaute Übergänge für den Fahrzeugverkehr zur Verfügung. Die Nachricht von der Einrichtung von Grenzübergängen bei uns hier im ehemaligen Grenzkreis verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die durch den Fall der Mauer in Berlin entstandene Euphorie erfasste nun die gesamte Region. Alle waren 230 Adler, Hans-Gerd: Wir sprengen unsere Ketten, Leipzig 1990, S.67.
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aufgeregt. Jeder wollte sich, so schnell es ging, davon überzeugen, dass die Grenze ohne Gefahr für Leib und Leben überschritten werden konnte. Das Vorstandsgremium der DI war am 10. November planmäßig zusammengekommen, um die Demo für den 13. November vorzubereiten. Die aktuelle Situation bestimmte zunächst die Tagesordnung. Jemand hatte die Information, dass am kommenden Samstag, dem 11. November, die Grenze zwischen Hohengandern und Witzenhausen (Hessen) geöffnet werden soll. Eine unbeschreibliche Freude erfüllte uns alle. Unser lautes Lachen glich beinahe einem Siegeslachen, welches jedoch in der Vorbereitung auf die nächste Demo wieder verflog. Zu ernst war das uns vereinende Engagement zur Brechung der noch nicht überwundenen Diktatur. Wir trauten den Vertretern der herrschenden SED nicht über den Weg. Hatten wir doch deren Kampf gegen die Feinde des Sozialismus Jahrzehnte zu spüren bekommen. Ihre Kampfansage zur Unterbindung der durch das Neue Forum angezettelten Konterrevolution war noch nicht verhallt. Daher wollten wir solange demonstrieren, bis durch die geforderten freien Wahlen der Weg für eine freiheitliche Demokratie frei gemacht würde. Jedoch stand am Ende des Abends fest, dass wir uns am nächsten Tag ebenfalls von der Grenzöffnung überzeugen wollten. Da ich kein Auto besaß, bot mir ein Mitstreiter an, mich und meine Frau am nächsten Morgen in seinem Wartburg mit zum rund 16 km entfernten Grenzübergang zu nehmen. Wir konnten vor Aufregung kaum schlafen und warteten nach etwas hastigem Frühstück auf das Auto. Als es kam, war es bereits voll besetzt, denn die ganze Familie des Fahrers wollte bei dem großen Erlebnis dabei sein. Trotz vollem Verständnis, aber doch tief traurig, mussten wir uns erst einmal mit der Situation abfinden und zogen uns für eine lange Stunde in unsere Küche zurück. Wir fanden keinen Weg, denn wir hatten noch nicht einmal ein Fahrrad. Der Weg zu Fuß schien uns dann auch zu weit und außerdem wegen der einzuatmenden dichten Trabbi-Abgas-Wolke nicht gerade gesundheitsfreundlich. Wir entschlossen uns schließlich für die Arbeit im Garten, denn da war wegen meiner „revolutionären Tätigkeit“ einiges liegen geblieben. Unser Grundstück liegt an der Kreuzung zweier Straßen, so dass wir ein ziemlich weites Blickfeld haben. Niemanden, weder Fußgänger noch Fahrzeuge bekamen wir zu Gesicht – wir waren scheinbar die einzigen anwesenden Bewohner unseres Viertels. Mit einem kleinen Seelenschmerz stürzte ich mich dann wieder in mein Engagement für die Revolution. Darüber vergaß ich dann sogar mein Vorhaben zur baldigen Grenzüberschreitung. Am 30. November klingelte es an unserer Haustür. Als ich diese öffnete, standen meine Schwester und mein Schwager aus Frankfurt a. M. vor mir. Meine Frau und ich waren total überrascht, denn wir hatten für ihren Besuch bei uns vor Wochen einen Antrag auf Einreise in die DDR in Verbindung mit einer mehrtägigen Aufenthaltsgenehmigung gestellt und ihr Kommen für die Tage um den 2. Adventssonntag eingeplant. Meine Frau war völlig perplex, da sie das für die Bewirtung Notwendige ja überhaupt noch nicht zur Verfügung hatte. Irgendwie bekamen wir dann das Gefühl, dass der Besuch gar nicht vorhatte bei uns zu bleiben. Er zögerte nämlich, sein Reisegepäck aus dem Auto zu holen. Unsere Spannung stieg unaufhaltsam. Meine Frau und ich warfen uns die fragendsten Blicke zu. Plötzlich hielt
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sie es nicht mehr aus und stelle die Frage: „Ja, was ist denn nun? Schließlich muss ich ja noch etwas einkaufen!“ Mein Schwager: „Nein, brauchst du nicht, wir fahren gleich wieder weg.“ Nun machte sich eine tiefe Enttäuschung in uns breit, denn wir hatten uns so auf den Besuch gefreut – eben nur nicht so überraschend vorzeitig. Meine Schwester schaute uns überaus liebevoll an und sagte: „Ja, wir bleiben nicht. Wir wollen auch nichts bei euch essen und trinken. Wir wollen euch holen.“ Wir hatten diese Worte deutlich gehört, aber nicht verstanden, daher wiederholte meine Schwester: „Ja, wir sind extra gekommen, um euch zu uns nach Frankfurt zu holen.“ „Was? Jetzt? Heute? Uns zu euch?“ Keiner konnte in diesem Augenblick noch etwas sagen. Heiße Tränen rannen uns die Wangen runter. Wir lagen uns in den Armen und ließen ihnen freien Lauf. Wie in einem Traumzustand machten wir uns reisefertig und stiegen in das Auto ein. Meine Frau und ich konnten kaum ein Wort reden. Wir nahmen uns bei der Hand und hielten uns fest. Bis zum Grenzübergang in Hohengandern stieg unsere innere Anspannung derart, dass wir kaum erfassten, dass wir unsere Ausweise dem Grenzposten nur kurz zur Einsichtnahme gezeigt hatten und nun bereits über die Grenze rollten. Niemand sprach ein Wort. Frei! Wir waren wirklich frei, denn wir fuhren in den Westen – ohne irgendwelche Formalitäten! Wahnsinn! Unsere Tränendrüsen waren noch nie derart strapaziert worden wie an diesem Tage. Die Tod bringende Grenze, durch die wir Jahrzehnte eingesperrt waren, hatte ihre Bedeutung verloren. Gott sei Dank! Der Staatsratsvorsitzende der DDR, Erich Honecker, hatte mit seiner Aussage „Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe nicht beseitigt werden.“ fast eine Weissagung getroffen. Er hatte sich lediglich bei der Zeitangabe geirrt, da er nicht mit der Macht des Volkes gerechnet hatte. Grenzöffnung Bornhagen / Rimbach – Werleshausen am 20. Januar 1990
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Für DDR-Bürger war die innerdeutsche Grenze eine „Black Box“. DDR-Medien berichteten nur über Grenzverletzungen und Provokationen seitens der imperialistischen Feinde in der BRD. Über Tote an der Grenze erfuhren sie nur aus den westlichen Nachrichten. Erst nach dem Fall der Mauer in Berlin bekamen sie durch ihre eigenen Grenzüberschreitungen ein Bild vom Ausmaß der Grenzanlagen. Jedoch wuchs das allgemeine Interesse am Grenzsystem nur sehr langsam. Die Menschen, die in der Sperrzone und den angrenzenden Gebieten lebten, hatten das Bedürfnis, dass alles, was die Grenze augenscheinlich werden ließ, möglichst schnell verschwinden sollte. Sie wollten frei sein, einen freien Blick in Richtung Westen haben. Nichts sollte sie mehr an Trennung, Leid und Tod erinnern. Nach der Beseitigung der Personenminen konnte die völlige und schnelle Demontage der Grenzaufbauten erfolgen. Vor allem waren die Metallgitterzäune bei vielen Bewohnern des Grenzkreises begehrt. Sie fanden u. a. für Einzäunung von Grundstücken, Tiergehegen und Kompostanlagen gute Verwendung. Nur durch Initiative von Altbundesbürgern konnten u. a. auf schwierigem Gelände im Schifflersgrund bei Asbach-Sickenberg Teile der Grenzanlage gesichert und als Zeugnis für die Nachwelt erhalten werden. Hier wurde bereits 1991 ein Grenzmuseum errichtet, welches nur sehr langsam die Akzeptanz der ehemaligen DDR-Bevölkerung fand. Ab 1994 berichtete dann auch die Lokalpresse offen über das Thema Grenze. Beim Lesen der Berichte über die Todesfälle schmerzen die Wunden derer, denen sie seinerzeit zugefügt wurden besonders. Aber auch den Unbeteiligten gehen die Schilderungen unter die Haut, da sie bei vielen noch in Erinnerung sind und vor allem, weil sie während der propagierten „glücklichsten“ Zeit der Menschheit, der Zeit des Sozialismus, harte, grausame Wirklichkeit waren. Die Gerichtsprozesse, die sich mit den noch lebenden Grenzschützen zu befassen hatten, lösten sowohl Wut als auch Mitleid aus. Wut und Mitleid, weil das Prinzip „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen.“ sich wieder einmal mehr bestätigte. Ehemalige DDR-Bürger hatten diesbezüglich den Rechtsstaat BRD etwas anders eingeschätzt. Die Hoffnung auf Gerechtigkeit, die sich in der Bestrafung der Konstrukteure und Befehlsgeber, der fanatischen Politoffiziere und Parteisekretäre bestätigen sollte, wurde zu einer der größten Enttäuschungen bei der Wiedervereinigung. Sicher waren unter den Grenzschützen auch Fanatiker zu finden. Jedoch wird auch bei ihnen der erzeugte ideologische Druck die letzten Hemmungen bei der Ausrichtung des Gewehres auf einen Menschen beseitigt haben. Parallelen zur ehemaligen Rassenideologie drängen sich nahezu auf. Rassenwahn und Klassenwahn unterscheiden sich letztlich nur in der Quantität ihrer Ergebnisse, nicht aber in ihren analogen Zielen. Das, was die Grenze an Leid und Schmerz hervorbrachte, wird auch heute noch von ehemaligen Anhängern der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) als bedauerlich, aber notwendig erachtet. In den Augen der Genossen jedoch waren unsere eigenen Landsleute, die der schönen sozialistischen Heimat, dem wahren Hort des Friedens, den Rücken kehrten, nichts weiter als Klassenfeinde. Es galt, diese zu vernichten oder sie gegen harte Devisen an den Westen zu verkaufen. Vor diesem Hintergrund wird man angeregt, nach DDR-Jargon zu schlussfolgern: Die Aggressivität des westdeutschen Imperialismus war allein die Ursache
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für die Toten und Verletzten an der Staatsgrenze zur BRD. Unsere Friedenswacht hat ihre Pflicht zur Sicherung der Souveränität des sozialistischen Staates DDR zu jeder Zeit und zuverlässig erfüllt. Der antifaschistische Schutzwall war die Voraussetzung für eine schnelle und erfolgreiche wirtschaftliche, politische und kulturelle Entwicklung der DDR.231 Durchbruch
231 Kleines politisches Wörterbuch, Berlin (-Ost) 1967, S. 37.
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Straßenübergänge sowie Stadt- und Landkreise, die ab 1972 in den „Kleinen Grenzverkehr“ einbezogen wurden
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5.8.5. Ein großes Jahr. Die Hofer Region während der Friedlichen Revolution (1989/90) Von Arnd Kluge Das Grenztrauma Drei Kilometer bis Sachsen, sieben bis Thüringen und fünfzehn bis Böhmen – die Stadt Hof lag von 1945 bis 1990 im Norden und Osten unmittelbar hinter dem „Eisernen Vorhang“. In den ersten Jahren konnte man die „grüne Grenze“ zur SBZ/DDR mit ein wenig Mühe noch überschreiten, doch ab 1952 riegelte sich die DDR gegenüber der Bundesrepublik (außer Berlin) hermetisch ab. Grenzsperranlagen aus Schneisen im Wald, Beobachtungstürmen, geeggten Geländestreifen, Kolonnenwegen aus Betonplatten, Stacheldraht, Streckmetallzäunen, Signaldrähten, Minen und Selbstschussanlagen sollten die Bewohner der DDR an der „Republikflucht“ hindern. Grenznahe Ortschaften, die nicht geschleift worden waren, wurden in den 1960er Jahren mit Betonmauern wie in Berlin von der Berührung mit dem Klassenfeind abgeschirmt. In der Hofer Region wurde das Dorf Mödlareuth, das seit dem 19. Jahrhundert zwischen Reuß/Thüringen und Bayern geteilt ist, zu „Little Berlin“, einem Anziehungspunkt für Politiker und Touristen. Grenzen dieser Art hat es in der gesamten Weltgeschichte nur sehr selten gegeben. Die Hofer Bevölkerung lebte in einer extremen Ausnahmesituation.232 Nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 wurde Hof zur Drehscheibe des Bevölkerungstransfers. Allein das Lager im Stadtteil Moschendorf passierten mehr als 600.000 Vertriebene, DDR-Flüchtlinge und Kriegsgefangene.233 Die Bevölkerungszahl wuchs auf einen Höchststand von 61.000 im Jahr 1950. Seither ging sie zurück bis auf 51.000 Personen im Jahr 1989.234 Das traditionell auf die Grundstufen der Verarbeitung konzentrierte, seit Jahrhunderten die Wirtschaft der Region dominierende Textilgewerbe der Stadt wurde dank Neuansiedlungen von Vertriebenen nach 1945 zu einem textilen NahezuKomplettanbieter ausgebaut, eine Bekleidungsindustrie entstand. Die ehemalige Arbeitsteilung mit dem sächsischen Textilgebiet, das die Weiterverarbeitung der Hofer Webwaren übernommen hatte, konnte ersetzt werden. Seit zu Beginn der 1950er Jahre die „Zonenrandförderung“ griff, entwickelte sich die Textil- und Bekleidungsindustrie hervorragend, bis die Veränderungen des Weltmarktes in den 1970er Jahren zu Stagnation und Rückgang führten. Die Hofer Brauereien, die ihre Absatzmärkte in Thüringen und Sachsen verloren, erholten sich nach einer schwierigen Anfangsphase ebenfalls, erreichten aber nicht den Erfolg ihrer Kollegen im nahen Kulmbach. Bis 1990 überlebten Familienbetriebe, deren Eigentümerstruktur 232 Die Friedliche Revolution. Wende und Wiedervereinigung in der Region Hof 1989/90 – Materialien zum Geschichtsunterricht (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Hof, 8), Hof 2011, S. 56 f., 5. Kluge, Arnd: Die Friedliche Revolution 1989/90 in der Hofer Region, Hof 2014, S. 4, Hauptstaatsarchiv München, Staatskanzlei, 19398. 233 Greim, Jürgen: In einer neuen Heimat, Hof 1990, S. 181 f. 234 Ebert, Friedrich / Herrmann, Axel: Kleine Geschichte der Stadt Hof, 2. Auflage Hof 1988, S. 261. Verwaltungsbericht der Stadt Hof 1988 – 1989 – 1990, Hof 1992, S. 84.
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ihnen Stabilität verlieh, ihrer Ausdehnung jedoch hinderlich war. Andere Branchen wie das Bankwesen oder die Medien wurden von der Abschottung der DDR nur insofern betroffen, als sie an der Betätigung in diesem Raum gehindert wurden. Außerhalb der Textil- und Bekleidungssparte kam es zu keinen größeren Betriebsgründungen. Die Kriegsverlagerung von Siemens-Schuckert, auf die man große Hoffnungen gesetzt hatte, wanderte nach Regensburg und Traunreut ab. Lediglich ein paar Kleinbetriebe lockerten die Monostruktur der Wirtschaft auf.235 Obwohl die Lage an der Grenze sowohl negative als auch – dank der Neuansiedlungen – positive Effekte auf die Hofer Wirtschaft ausübte und die schlechteren Wirtschaftsdaten seit den 1970er Jahren dem Strukturwandel der vorherrschenden Branchen geschuldet waren, war der Schuldige der Misere rasch benannt: die Grenze. Der bis in die jüngste Vergangenheit hoch verehrte Stadthistoriker Ernst Dietlein, welcher Hof historische Größe (beim Aufstieg des Nationalsozialismus) zusprach, sah seine Heimat in seiner mehrbändigen Stadtchronik der 1930er Jahre als Grenzstadt. Er bezog sich auf die Grenze zur Tschechoslowakei und die dortigen Auseinandersetzungen zwischen dem Staatsvolk und der deutschen Minderheit. Als das nationalsozialistische Regime die Tschechoslowakei zerschlug und Großdeutschland errichtete, waren die Hoffnungen des Chronisten erfüllt, und Hof rückte von der Randlage in die Mitte des Staates.236 Damit war 1945 plötzlich und radikal Schluss. Die Grenze wurde unisono als negativ empfunden. Von der „Grenzlandnot“ war die Rede und dass man sich „nicht unterkriegen“ lasse.237 Ein Plakat, das der Hofer SPD-Bundestagsabgeordnete Arno Behrisch verbreitete, zeigte „Oberfranken im Würgegriff“ des sozialistischen Lagers.238 Die Angst vor dem „Ostblock“ war berechtigt, wenn auch die Öffentlichkeit damals nicht mehr als eine Ahnung von der Brisanz der militärischen Lage hatte. Heute weiß man, dass die Hofer Region im Kriegsfalle als eine Pforte des Warschauer Paktes in die Bundesrepublik gedient hätte und in den ersten Kriegstagen wahrscheinlich komplett zerstört worden wäre.239 Hof lag nicht nur militärisch, sondern auch propagandistisch im Schussfeld des sozialistischen Kontrahenten. Die DDR stellte Propagandatafeln an ihrer Grenze auf, um die Überlegenheit des sozialistischen Systems zu erweisen.240 Die „westliche“ Seite stand im Wettkampf der Systeme nicht 235 Kluge, Arnd: Zur Geschichte des Wirtschaftsstandortes Hof, Manuskript, Hof 2003. Kluge, Arnd: Siemens in Hof 1940 – 1952, in: Miscellanea curiensia V (53. Bericht des Nordoberfränkischen Vereins für Natur-, Geschichts- und Landeskunde), Hof 2005, S. 195-224. 236 Dietlein, Ernst: Allgemeine Stadtgeschichte bis zum Jahre 1603 (Chronik der Stadt Hof, I), Hof 1937, S. XII. Kluge, Arnd: Das Archiv als Diener der Ideologie. Dr. Ernst Dietlein und der Aufbau des Stadtarchivs Hof, in: Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archivtag 2005 in Stuttgart (Tagungsdokumentation zum Deutschen Archivtag, 10), Essen 2007, S. 393-398. 237 Frankenpost vom 14.12.1978. 238 Hofer Anzeiger vom 8.5.1985. 239 Wurdack, Jörg, Militärgeschichte der Stadt Hof (Chronik der Stadt Hof, X), Hof 2005, S. 426444. 240 Hofer Anzeiger vom 3.9.1960. Süddeutsche Zeitung vom 18.2.1961.
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zurück. Sehr genau beobachtete man, was sich an der Grenze tat. „Studienfahrten an die Demarkationslinie“ bewarb das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Straßen und Parkplätze mit Aussicht auf die Grenze und die dahinter befindliche „terra incognita“ wurden gebaut.241 Luftverschmutzung und Baumsterben, die in den 1980er Jahren zum Leitthema der Umweltpolitik wurden, waren in der Hofer Region ein besonders drängendes Problem.242 Die Entschwefelung der Braunkohlekraftwerke in der DDR und der Tschechoslowakei, deren Abgase der Wind in die Hofer Region trug, stand auf der politischen Tagesordnung.243 Die ausführliche Berichterstattung der Medien über Fluchtversuche aus der DDR hielt das Thema „Grenze“ stets im Bewusstsein. Eine abenteuerliche Flucht mit einem selbstgebastelten Ballon gelang zwei Familien aus Pößneck in Thüringen im Jahr 1979; sie landeten beim nahen Naila. Diese Flucht wurde sogar Gegenstand eines Hollywood-Spielfilms („Mit dem Wind nach Westen“, 1982). Der letzte Fluchtversuch in der Hofer Region fand am 6. Januar 1989 statt. Danach waren solche gefährlichen Aktionen nicht mehr erforderlich, weil ab Mai 1989 die Flucht über Ungarn und Botschaften der Bundesrepublik möglich wurde.244 Wild-West Im Jahr 1972 wurde ein Verkehrsabkommen zwischen Bundesrepublik und DDR ratifiziert, das den „Kleinen Grenzverkehr“ ins Leben rief. Reiseberechtigt war jeder Bürger der Bundesrepublik, der in den im Vertrag aufgeführten grenznahen Städten und Gemeinden wohnte. Besucht werden konnten die grenznahen Gebiete der DDR. Aus der Hofer Region durften die Nachbarlandkreise in Sachsen und Thüringen und die Stadt Plauen aufgesucht werden. Das Verfahren war zwar eine Erleichterung gegenüber den sonst üblichen Einreisebestimmungen der DDR, aber trotzdem umständlich und teuer. Schikanen an der Grenze schreckten ab, das Interesse am Nachbarn ließ nach.245 Diesem Trend wollte die Politik entgegen wirken, als sie in den 1980er Jahren begann, Partnerschaften zwischen Städten der DDR und der Bundesrepublik ins Leben zu rufen. Hof und Plauen vereinbarten 1987 einen Partnerschaftsvertrag. In Jahresplänen wurden Seminare, Ausstellungen, Konzerte, Sportwettkämpfe und Austauschprogramme festgelegt. „Plauen war durchaus bereit, auf kleinere Wün-
241 Stadtarchiv Hof, ZA 47-48. 242 Z. B. Hofer Anzeiger vom 18.7.1983, 20./21.11.1985. 243 Z. B. Hofer Anzeiger vom 10.2.1988, 27.9.1988. 244 Vollert, Joachim: Über die Zonengrenze in die Freiheit. Fluchtfälle und Dienst eines Bayeri-
schen Grenzpolizisten im Vogtland 1945 – 1990, Erlangen 2012. Die Friedliche Revolution, S. 82-88. Hofer Anzeiger vom 17.9.1979. Stadtarchiv Hof, XF 345, ZA 988. 245 http://de.wikipedia.org/wiki/Kleiner _Grenzverkehr (31.3.2014).
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sche von Hofer Seite einzugehen, doch beharrte man darauf, daß der in den Jahresplänen vorgegebene Rahmen nicht überschritten wurde“.246 Hofer Vereine, Kirchengemeinden und Einzelpersonen nahmen die Städtepartnerschaft zum Anlass, den „Kleinen Grenzverkehr“ zu nutzen und Kontakte zu Gleichgesinnten in Plauen zu knüpfen. „‚In einer Plauener Gaststätte installierten Plauener und Hofer Bürger spontan einen Partnerschafts-Stammtisch, der sich bei Insidern bald großer Beliebtheit erfreute‘. Busunternehmen boten Besuchsfahrten in Plauen an. Umgekehrt bemühten sich Plauener um Briefkontakte und Privatunterkünfte für Besuche in Hof. Die Stadtverwaltung und andere Stellen in Hof versuchten hier zu vermitteln, mußten aber im Spätsommer 1989 feststellen, daß die Bereitschaft der Hofer Bevölkerung zum Mitmachen begrenzt war“.247 Die für 1989 vereinbarten Begegnungen fanden trotz der veränderten politischen Situation statt, während es 1990 nicht mehr zu organisierten Maßnahmen der Städtepartnerschaft kam.248 Auf einmal trat die kleine Stadt im toten Winkel der Republik im Herbst 1989 in das Licht der Weltgeschichte. Die Anspannung von Jahrzehnten löste sich, eine kaum glaubliche Hilfsbereitschaft entstand, Euphorie machte sich breit, und fast alles schien möglich zu werden. Ende September 1989 befanden sich im Palais Lobkowitz, dem Sitz der Botschaft der Bundesrepublik in Prag, und seinem Park, rund 5.500 DDR-Flüchtlinge. Die Anlagen waren völlig überfüllt. Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher verkündete am 30. September 1989 vom Balkon des Palais in einer kurzen Ansprache, die im Jubel der Anwesenden unterging, dass die DDR ihrer Ausreise zugestimmt habe. Noch in derselben Nacht wurden sechs Sonderzüge bereitgestellt. Da die DDR darauf bestand, dass man aus ihrer Staatsbürgerschaft nur von ihrem Territorium aus entlassen werden könne, und nicht wusste, wen sie da eigentlich entlassen sollte, bis während der Zugfahrt die Personaldokumente eingesammelt worden waren, mussten die Züge einen Umweg über Dresden, Freiberg, Karl-MarxStadt (Chemnitz) und Plauen nehmen.249 Zwischen 6:14 Uhr und 17:06 Uhr am 1. Oktober 1989 erreichten sie den Hofer Hauptbahnhof. Von den 5.500 Personen reisten 4.842 in Aufnahmelager in Bayern und Hessen weiter, während 658 in Hof blieben. Seit Mitternacht und den ganzen Tag über hielten sich die internationale Presse und tausende Schaulustige am Hofer Hauptbahnhof auf.250 Der Hofer Anzeiger beschrieb die Einfahrt des ersten Zuges mit bewegenden Worten: „Was jetzt folgt, ist mit dem Wort Begeisterung nicht auszudrücken. Menschen weinen, drücken die mitgebrachten Blumen an sich oder
246 Kluge, Arnd: Hof – Plauen – Partner? Eine Ausstellung des Museums Bayerisches Vogtland, Hof, zum 10. Jahrestag der Städtepartnerschaft Hof - Plauen, Hof 1997, S. 30. 247 Ebenda, S. 31. 248 Verwaltungsbericht 1988 – 1989 – 1990, S. 26, 174. 249 Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009, S. 379. Schwanitz, Rolf: Zivilcourage. Die friedliche Revolution in Plauen anhand von StasiAkten sowie Rückblicke auf die Ereignisse im Herbst 1989, Plauen 1998, S. 48, 263 ff. 250 Stadtarchiv Hof, A 1/905, 964.
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sehen betroffen zur Seite. Als der Zug zum Stehen kommt und sich die Türen öffnen, hält der Bahnsteig für eine Sekunde den Atem an. Die Menge weicht zurück, als die ersten blassen und erschöpften Menschen mit unsicheren Blicken die ersten Schritte aus dem Zug tun. Dann wischt die Begeisterung diesen kurzen Augenblick weg. Aus den Waggons quellen Erwachsene, Kinder, Taschen, Koffer, Babywagen – nur weg. Unbeirrbar schieben sich die ersten 1.250 der Unterführung entgegen, die Flucht endet erst im Bahnhofsgebäude. Wenn die spontane Hilfewelle der Bevölkerung, die noch in dieser Nacht einsetzt, die neuen Bürger in der Bundesrepublik Deutschland verläßlich begleitet, dann braucht einem nicht bange darüber zu werden, daß diese Flucht ein glückliches Ziel findet“.251 Einen Tag nach der Ankunft der Züge in Hof war die Prager Botschaft erneut überfüllt mit Flüchtlingen. Daraufhin führte die DDR die Visapflicht ihrer Bürger für Reisen in die Tschechoslowakei wieder ein.252 Schon am 3. Oktober sollten abermals Sonderzüge von Prag nach Hof fahren, die Abfahrt verzögerte sich aber bis zur Nacht vom 4. zum 5. Oktober. Am 5. Oktober zwischen 5:48 Uhr und 10:06 Uhr253 kamen acht Züge in Hof an. Von 7.607 Fahrgästen reisten 5.436 in Sammeltransporten in Aufnahmelager, während 1.029 in Hof untergebracht werden mussten. Die anderen wurden privat abgeholt oder reisten auf eigene Faust weiter.254 Die Flüchtlinge, die in Hof blieben, wurden für einige Tage in der Jahnturnhalle, der Stadthalle (Freiheitshalle) und Studentenappartements der Beamten-Fachhochschule untergebracht.255 Eine dritte Flüchtlingswelle aus der Prager Botschaft schwappte Anfang November 1989 nach Hof. Am 1. November hatte die DDR ihre Grenze zur Tschechoslowakei wieder geöffnet. Sofort füllte sich die Prager Botschaft mit Flüchtlingen.256 Nachdem die DDR einer direkten Ausreise in die Bundesrepublik zugestimmt hatte, trafen vom 4. bis 7. November 1989 am Grenzübergang Schirnding 10.424 Flüchtlinge mit dem Zug ein, außerdem 8.888 Übersiedler mit PKW. Bis zum 13. November kamen rund 50.000 DDR-Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei nach Schirnding.257 In der Hofer Region wurde als einziges Aufnahmelager die
251 Hofer Anzeiger vom 2.10.1989. 252 Chronik der Ereignisse in der DDR, hrsg. von Ilse Spittmann und Gisela Helwig, Köln 1989, S. 7. 253 Nach anderer Quelle 10:48 Uhr. 254 Schwanitz, Zivilcourage, S. 57. Aufgebauer, G.: Die Flüchtlingszüge rollten auch durch unsere Heimatstadt, in: Küttler, Thomas / Röder, Jean Curt: Es war das Volk. Die Wende in Plauen. Eine Dokumentation, 5. Auflage, Plauen 1993, S. 115 f., hier S. 115. Staatsarchiv Bamberg, K 11n, 3490. Stadtarchiv Hof, A 1/905, 964. 255 Stadtarchiv Hof, A 1/905, 964. Verwaltungsbericht 1988 – 1989 – 1990, S. 23. 256 Rödder, Andreas: Geschichte der deutschen Wiedervereinigung, München 2011, S. 35. 257 Staatsarchiv Bamberg, K 11n, 3490 (ofd aktuell. Nachrichten der Oberfinanzdirektion Nürnberg, Sondernummer, erschienen am 20.2.1990, S. 8). Stadtarchiv Hof, A 1/905 (Bericht der Polizeidirektion Hof vom 7.11.1989, 8:24 Uhr). Dieser Aktion war die Ausreise von rund 150
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Freiheitshalle genutzt. Sie hatte eine Kapazität von 1.200 Personen, die teils in Betten und teils auf Turnmatten campierten.258 Seit dem 4. November 1989 konnte man aus der DDR über die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik reisen und von dort gegebenenfalls wieder zurück in die DDR. Von diesem langwierigen und riskanten, da nach wie vor illegalen Vorgehen scheinen aber nur einzelne Personen Gebrauch gemacht zu haben.259 In der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 wurde die Grenze zwischen DDR und Bundesrepublik offiziell geöffnet, zuerst in Berlin, später an anderen Stellen.260 In der Hofer Region waren bisher lediglich die Eisenbahnverbindung Hof-Gutenfürst sowie seit der Wiederherstellung der Autobahnbrücke im Jahr 1966 die Autobahn A 9 bei Rudolphstein-Hirschberg passierbar gewesen.261 Bis Anfang 1990 kamen acht Grenzübergänge hinzu. Die Grenzöffnung in Mödlareuth zog Politprominenz und Volk gleichermaßen an. Die bayerische Grenzpolizei berichtete über die Eröffnung am 9. Dezember 1989 per Fernschreiber an vorgesetzte Dienststellen: „fusz-gueg [Grenzübergang] moedlareuth um 8:00 Uhr mit vielen prominenten eroeffnet. Auf ddr-seite buergermeister von moedlareuth unger u. der vors. des rates des kreises lobenstein dieter anke. die ddr-grtr. [DDR-Grenztruppen] mit oberst truebenbach blieben hinter der mauer zurueck. auf bayer. seite bm [Bundesminister] warnke, landrat zuber, buergermeister von toepen friedrich pr [Polizeirat] dietz usw. bm warnke verlasz nach seiner rede einen brief vom praes. der verein. staaten von amerika bush. eine ddru. eine bayer. kapelle umrahmten die eroeffnung. an der mauer neben der maueroeffnung w. [wurde] von der ddr tafel mit folgendem text angebracht: ‚grenzuebergang moedlareuth, geoeffnet von 8.00 bis 20.00 Uhr.‘ an der eroeffnung nahmen ca. 900 personen teil. von 8.00 bis 12.00 uhr reisten ca. 1000 personen aus u. ca. 1000 personen ein. auf beiden seiten erfolgte keine pasz- und zollkontrolle“.262 Der Schriftsteller Theodor Schübel notierte: „Heute früh wurde in Mödlareuth die Grenze geöffnet. Um halb zwölf gehen wir an freundlich grüßenden Soldaten der Nationalen Volksarmee vorbei durch die in die Mauer geschlagene Bresche. Niemand will unseren Paß sehen. Seltsame, ungewohnte Erregung. Jeder spricht mit jedem, herzliches Händeschütteln, wildfremde Menschen umarmen sich. Wir werden eingeladen zu Bier und Thüringer Bratwürsten, die vor einer Wellblechgarage in langen Reihen auf zwei Rosten brutzeln. Die Begegnung ähnelt einem großen Familientreffen. […] Ein feister pausbäckiger Offizier, der seine Pelzmütze über DDR-Flüchtlingen aus der Prager Botschaft am 27. Oktober 1989 vorausgegangen. Diese waren in Bussen in die Bundesrepublik gebracht worden, nachdem man sie in der DDR-Botschaft in Prag aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen hatte. (Chronik der Ereignisse, S. 15.) 258 Stadtarchiv Hof, A 1/905. 259 Aufgebauer, G.: So erlebte ich den 9. November 1989, in: Küttler, Thomas / Röder, Jean Curt: Es war das Volk. Die Wende in Plauen. Eine Dokumentation, 5. Auflage, Plauen 1993, S. 125 ff, hier S. 125 f. 260 Rödder, Geschichte, S. 38. 261 Die Friedliche Revolution, S. 16. 262 Hauptstaatsarchiv München, Staatskanzlei, 19440.
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die Ohren gezogen und den Mantelkragen hochgeschlagen hat, sieht lächelnd dem lebhaften Treiben zu“.263 Bis zum 8. Januar 1990 reisten 10.731.511 Personen aus DDR (ab 10.11.1989) und Tschechoslowakei (ab 4.11.1989) nach Bayern ein, davon 97,9 % aus der DDR. Auf die Grenzpolizeidirektion Hof entfielen 6.093.484 Personen oder 56,8 % aller Einreisenden.264 In die Hofer Region ergoss sich wegen ihrer geografischen Lage zu Sachsen und Thüringen, aber auch zu Teilen Brandenburgs und Sachsen-Anhalts, die Hauptmasse des Besucherstromes, der Bayern erreichte. Den größten Andrang erlebte die Region am zweiten Wochenende nach der Grenzöffnung, als mehr als 200.000 DDR-Besucher pro Tag zu verzeichnen waren. Die Frequentierung war zunächst an den Wochenenden und nach dem 1. Dezember 1989 (als das Begrüßungsgeld an Wochenenden nur noch an zwei Hofer Postämtern ausgezahlt wurde und die Öffnungszeiten der Geschäfte wieder reduziert worden waren) an Freitagen am höchsten. Am 22. November 1989, dem Buß- und Bettag, an dem die Geschäfte geschlossen blieben, besuchten nur wenige DDR-Bürger die Region. Ab dem 1. Januar 1990 ging der Besuch aus der DDR zurück, weil kein Begrüßungsgeld mehr gezahlt wurde.265 Im Februar 1990 reisten täglich zwischen 15.000 und 40.000 DDR-Bürger nach Hof.266 Die Besuchszahlen erhöhten sich wieder, nachdem am 1.7.1990 die Wirtschafts- und Währungsunion in Kraft getreten war.267 Diese hatte die Sparguthaben der DDR-Bürger aufgewertet.268 In den Orten der Umgebung gab es ebenfalls starken Besucherverkehr und an Sonntagen geöffnete Geschäfte, aber weit weniger als in Hof, wo sich der Besucherstrom ballte. Rund 50-60 % der nach Bayern über die A 9 Einreisenden fuhren nach Hof und beinahe 100 % der über Ullitz (den Grenzübergang an der heutigen B 173) Einreisenden. Im südlich anschließenden Landkreis Wunsiedel (ausgenommen Marktredwitz) und in Bayreuth war es ruhiger.269 Schätzungen zufolge hatte Hof vom 10. November bis 31. Dezember 1989, in einem Zeitraum von sieben Wochen, rund 2,5 Millionen Besucher aus der DDR.270 Die Verkehrslage war ein Spiegelbild der Besucherzahlen. Auch das leistungsfähigste Verkehrssystem musste bei diesem Andrang kollabieren. In Zügen aus der DDR, die in Hof ankamen, reisten bis zu 4.500 Personen.271 Vom 10. November
263 Schübel, Theodor: Vom Ufer der Saale. Geschichten aus der Zwischenzeit. Ein Journal vom 10. November 1989 bis zum 3. Oktober 1990, Berlin 1992, S. 34 f. 264 Hauptstaatsarchiv München, Staatskanzlei, 19440. 265 Stadtarchiv Hof, A 1/907. Schübel, Ufer, S. 68. 266 Stadtarchiv Hof, A 1/906. 267 Schübel, Ufer, S. 187, 191, 196, 206. 268 Neubert, Ehrhart: Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90, München 2008, S. 386. 269 Stadtarchiv Hof, A 1/907. Verwaltungsbericht 1988 – 1989 – 1990, S. 81. 270 Stadtarchiv Hof, A 1/962. 271 Stadtarchiv Hof, A 1/906.
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bis 31. Dezember 1989 wurden 164 Sonderzüge eingesetzt, um den Besucherverkehr zu bewältigen.272 Mehr Züge konnten nicht fahren, weil die DDR sie nicht besaß und die Strecke zwischen Gutenfürst und Plauen eingleisig war.273 „Auf dem Hofer Hauptbahnhof täglich bis zu 40.000 Reisende“, vermerkte Theodor Schübel zum 21. Dezember 1989. „Unvorstellbares Gedränge auf den Bahnsteigen. Alle Züge, mit 19 Wagen und Zugmaschine etwa 500 Meter lang (und das ist die Höchstgrenze), sind überfüllt. Die Türen müssen mit Gewalt geschlossen werden. Vierzehn Personen quetschen sich in ein Abteil. Acht sitzen, vier stehen, und zwei liegen oder sitzen gebeugt in den Gepäckhaltern. In den Gängen kann sich kaum jemand rühren. Regelmäßig bleiben hunderte zurück und müssen auf die nächste Gelegenheit zur Heimfahrt warten, und wer bis zum späten Abend keinen Platz im Zug gefunden hat, der übernachtet in der Schalterhalle oder im Wartesaal“.274 Der Straßenverkehr brach regelmäßig zusammen. An sämtlichen Grenzübergängen für PKW waren bis zum Jahresende 1989 und erneut nach dem 1. Juli 1990 stundenlange Wartezeiten an der Tagesordnung.275 Die Fahrzeuge stauten sich morgens von Plauen und abends von Hof bis zum Grenzübergang und darüber hinaus, der Berufsverkehr in der Hofer Region kam zeitweise zum Erliegen.276 Als die DDR den visa- und zwangsumtauschfreien Besucherverkehr zugelassen hatte, ab dem 24. Dezember 1989, stauten sich die Autos eine Zeitlang morgens von Hof in Richtung Grenze und abends in Gegenrichtung.277 Die Hofer Stadtverwaltung richtete wenige Tage nach dem Beginn des Besucherandrangs Großparkplätze am Stadtrand ein, von wo die Besucher mit öffentlichen Verkehrsmitteln kostenlos in die Innenstadt gebracht wurden. Die Innenstadt wurde zeitweise für den Autoverkehr gesperrt.278 Als sich Mitte Dezember 1989 das Wetter verschlechterte, waren einige der Großparkplätze (landwirtschaftliche Flächen) nicht mehr benutzbar, und die Polizei lenkte die DDR-KFZ in Vororte, was prompt zu Anwohnerklagen führte. Die Beschwerden der Hofer über die Verkehrslage nahmen zu, weil Termine nicht mehr einzuhalten waren.279 Der Hofer Polizeichef Heinz Meringer äußerte, die Besucher aus der DDR führen sehr diszipliniert und verursachten nur wenige Unfälle. Aber sie parkten überall, wo sie eine Lücke entdeckten. Meringer: „‘Wir drücken in diesen Tagen sämtliche Augen zu. Es ist einfach nicht mehr möglich,
272 Staatsarchiv Bamberg, K 11n, 3490. 273 Stadtarchiv Hof, A 1/ 963. 274 Schübel, Ufer, S. 47. 275 Staatsarchiv Bamberg, K 11n, 3490. Stadtarchiv Hof, A 1/907. 276 Hauptstaatsarchiv München, Staatskanzlei, 19440 (Bericht der Polizeidirektion Hof vom 14.11.1989). Schübel, Ufer, S. 33. 277 Hauptstaatsarchiv München, Staatskanzlei, 19440. Stadtarchiv Hof, A 1/963. Schübel, Ufer, S. 53. 278 Stadtarchiv Hof, A 1/906, 907. Schübel, Ufer, S. 14. 279 Stadtarchiv Hof, A 1/907.
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die Parksünder zur Kasse zu bitten. Momentan werden keine Verwarnungen ausgeschrieben. Das gilt natürlich auch für westdeutsche Bürger‘.“280 Vom 10. bis 23. November 1989 wurden 89 Verkehrsunfälle mit Beteiligung von DDR-Kraftfahrzeugen gezählt, angesichts der bewegten Massen eine winzige Zahl, aber eine viel höhere als zuvor.281 Schon im November 1989 kam es zu Beschwerden von Anwohnern der Durchfahrtsstrecken über Lärm und Gestank. Ein Polizist meldete sich krank, weil er zu viel CO2 aus Abgasen eingeatmet hatte, andere Polizisten klagten über Schwindelanfälle und Kopfschmerzen.282 Hofer Ärzte forderten, den KFZ-Verkehr aus der DDR nach Hof zu unterbinden, weil die Abgase der Trabi-Zweitakter viel schädlicher seien als die westlicher Fahrzeuge. Besonders Asthmatiker, Bronchitiker, Säuglinge und Kleinkinder, Busfahrer und Polizisten seien gesundheitlich gefährdet.283 Nach dem 1. Juli 1990 sah man immer mehr westliche Wagen mit DDRKennzeichen: „Und mit welcher Geschwindigkeit die unterwegs sind! Die Fahrer denken offenbar: ‚Nun wollen wir auch einmal zeigen, wie schnell wir fahren können!‘ Die Zahl der tödlichen Unfälle ist um fast 70 Prozent gestiegen“.284 Der Tagesausflug der Gäste aus der DDR endete manchmal ungewollt mit einer Übernachtung, weil die katastrophale Verkehrslage eine rechtzeitige Heimkehr verhinderte. Ein Hotel konnten sich die wenigsten Gäste leisten. Die Freiheitshalle wurde vom 7. bis 26. November 1989 durch DDR-Besucher belegt. Später wurden Turnhallen, der Lernhof und das Therapeutisch-Pädagogische Zentrum (TPZ) zur Übernachtung genutzt, weil die Freiheitshalle wieder ihrer eigentlichen Bestimmung als Veranstaltungshaus dienen sollte. Ab dem 1. Dezember, seit die Auszahlung von Begrüßungsgeld eingeschränkt wurde, wurden die Übernachtungsplätze reduziert.285 Hauptattraktion eines Besuches im „Westen“ war das Begrüßungsgeld. „Das bringt das Faß zum Überlaufen! […] Wahnsinn. Diese Aussicht besitzt magische Anziehungskraft“, jubelte Margarete Koch aus Plauen in ihren Erinnerungen.286 Wie sie dachten viele andere. Das Begrüßungsgeld des Bundes wurde für die erste Einreise im Kalenderjahr gezahlt. Zweitbesucher erhielten vom Freistaat Bayern ein zusätzliches Begrüßungsgeld in Höhe von 40 DM. Ab der dritten Einreise im Kalenderjahr gab es kein Begrüßungsgeld mehr.287 Soweit die Theorie. In der Praxis sah es anders aus, weil niemand mit einem solchen Ansturm gerechnet hatte und keine organisatorischen Vorbereitungen getroffen worden waren. Bisher hatten
280 Hofer Anzeiger vom 18./19.11.1989. 281 Stadtarchiv Hof, A 1/907. 282 Ebenda. 283 Hofer Anzeiger vom 30.11.1989. 284 Schübel, Ufer, S. 206. 285 Verwaltungsbericht 1988 – 1989 – 1990, S. 23. Stadtarchiv Hof, A 1/906. 286 Koch, Margarete: Einmal Hof – und zurück. Mein Tagebuch zur Wende, Plauen 1993, S. 159. 287 Stadtarchiv Hof, A 1/906.
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Banken und Postämter das Begrüßungsgeld ausgezahlt. Deren Kapazitäten waren bei weitem zu klein, obwohl sie ihre Öffnungszeiten verlängerten. Am 10. November 1989 standen um die Mittagszeit zahlreiche DDR-Besucher vor den Türen der Büros im Hofer Sozialamt. Man stellte ihnen Anweisungen auf die Auszahlung von Begrüßungsgeld in der Sparkasse aus. Da die Sparkasse um 18 Uhr schloss, wurden die verbliebenen Wartenden schließlich aus dem Haus gedrängt; die Türen des Rathauses wurden mit Hilfe von Feuerwehr und Hausmeistern verrammelt. Am Folgetag um 4.00 Uhr wurde der Amtsleiter von der Polizei zu Hause angerufen, dass zahlreiche DDR-Besucher in Hof angekommen seien. Am Morgen des 11. November, einem Samstag, richtete er diverse Zahlstellen ein mit eilig herbei telefonierten städtischen Mitarbeitern. Weder die Regierung von Oberfranken noch das Ministerium waren am Wochenende erreichbar. Auch in der kommenden Woche gaben diese keine Auskunft, wie man sich korrekt verhalten sollte. Die Rechnungsprüfung kritisierte im Jahr darauf den lockeren Umgang mit der Auszahlung, der nicht den Vorschriften entsprochen habe. Obwohl die Gelder nicht gesichert waren und sogar in Plastikbeuteln unter Schulbänken lagen, kam es zu keinem Überfall.288 Bis zu 100 Beschäftigte der Stadtverwaltung und zahlreiche ehrenamtliche Kräfte beteiligten sich an der Zahlung des Begrüßungsgeldes an bis zu 25 Zahlstellen – zusätzlich zu denen der Banken und Postämter. Am Wochenende 18./19. November 1989 wurde an drei Zahlstellen rund um die Uhr gearbeitet. Trotzdem waren die Schlangen bis zu mehr als 100 Meter lang.289 Um die Belastungen zu mildern, wurde ab dem 1. Dezember 1989, nach drei Wochen, das Begrüßungsgeld in Hof an Wochenenden nur noch an zwei Postämtern gezahlt, während die anderen Zahlstellen ausschließlich montags bis freitags öffneten.290 Da der Landkreis Wunsiedel das Begrüßungsgeld weiterhin an Wochenenden auszahlte, verlagerten sich die Besucherströme teilweise dorthin.291 Daraufhin beschwerten sich Hofer Geschäftsleute, die ihr Weihnachtsgeschäft in Gefahr sahen.292 Der Hofer Oberbürgermeister hatte sogar dafür plädiert, das Begrüßungsgeld abzuschaffen oder seine Auszahlung in die DDR zu verlegen.293 Der Bayerische Städtetag unterstützte die Forderung der Bürgermeister und Landräte der grenznahen Gebiete, das Begrüßungsgeld ab Januar 1990 einzustellen.294 Als es schließlich dazu kam, atmete man in Hof und Umgebung auf, denn der Besuch aus der DDR ließ spürbar nach.295
288 Telefongespräch des Verfassers mit Leo Reichel, Hof, am 6.11.2013. 289 Stadtarchiv Hof, A 1/906. 290 Stadtarchiv Hof, A 1/906. 291 Stadtarchiv Hof, A 1/907. 292 Hofer Anzeiger vom 4.12.1989. 293 Stadtarchiv Hof, A 1/906 (Schreiben der Stadt Hof an den Bayerischen Ministerpräsidenten und andere Behörden vom 23.11.1989). 294 Stadtarchiv Hof, A 1/962 (Pressemitteilung des Bayerischen Städtetages vom 27.11.1989). 295 Hofer Anzeiger vom 3.1.1990.
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Die Auszahlung sollte durch einen Stempel im Reisepass oder Personalausweis dokumentiert werden. Die Auszahler waren angewiesen, nur bei „begründeten Zweifeln“ an abwesende Personen nicht auszuzahlen, sofern deren Personaldokumente vorgelegt wurden. Die lockere Auszahlungspraxis lud zum Missbrauch geradezu ein. Besucher legten abwechselnd Reisepass und Personalausweis vor oder hatten diese „vergessen“ und benutzten andere Ausweise, kassierten für ihre Kinder doppelt, da diese im Ausweis der Mutter und des Vaters eingetragen waren, rissen die abgestempelten Seiten aus den Ausweisen oder legten Dokumente von Personen vor, die nicht eingereist waren, mit dem Vorwand, sie seien zu erschöpft, um sich anzustellen. Babys wurden anderen Antragstellern ausgeliehen und noch die hinfälligsten Menschen aus den Altenheimen geholt.296 Die Hofer Stadtverwaltung streute daraufhin das Gerücht, dass ab sofort alle Auszahlungen, die von Hand auf einem Formblatt aufgezeichnet wurden, in den Computer eingegeben würden. Obwohl es ein Bluff war, kam es zu einer Welle von Rückzahlungen der „versehentlich“ doppelt kassierten Begrüßungsgelder. Die Aktion erbrachte mehr als 20.000 DM.297 Obwohl die „heiße Phase“ des Begrüßungsgeldes nur sieben Wochen währte, ist sie unvergessen. Ein DDR-Bürger aus Karl-Marx-Stadt schrieb am 22. April 1990 dem Rat seiner Stadt in einem Brief, dessen Kopie er dem Landratsamt Hof schickte, über die Stadt Hof: „was gerade diese stadt geleistet und ertragen hat, als das begrüßungsgeld ausgezahlt wurde, ist unbeschreiblich. leipzig wurde zur heldenstadt erklärt. hof verdient dieses prädikat ebenfalls“.298 Manche Besucher hielten das wertvolle Begrüßungsgeld zurück, um sich erst einmal einen Überblick des Warenangebotes zu verschaffen, während andere es mit vollen Händen ausgaben. Die DDR-Besucher waren erstaunt, was man alles kaufen konnte. Es waren Kinder dabei, die noch nie eine Mandarine gesehen hatten.299 Zunächst erwarben die Besucher vor allem Lebensmittel, insbesondere Südfrüchte, sowie Spielsachen und preiswerte Elektrogeräte.300 Branchen, die es in der DDR nicht gab, wie Sexshops, verbuchten Rekordumsätze.301 Aber auch Fernreisen und sogar Bibeln gingen gut.302 Ein Möbelhändler erweiterte sein Angebot um pornografische Schriften, was aber bei der Polizei nicht auf Gegenliebe stieß. 303 Um der Kundenwünsche Herr zu werden, musste man sich etwas einfallen lassen. Der 296 Stadtarchiv Hof, A 1/906. Schreiben von Gudrun Appel, Burgstein, an den Verfasser vom 1.11.2013. 297 Telefongespräch des Verfassers mit Leo Reichel, Hof, am 6.11.2013. Nach Theodor Schübel wurden bis Ende November 1989 sogar über 30.000 DM zurückgegeben. (Schübel, Ufer, S. 27.) 298 Staatsarchiv Bamberg, K 11n, 3489. 299 Schübel, Ufer, S. 6. Schönekerl, Henning: Aufgeschrieben im Vogtland. Gedichte und Geschichten, Triebel 2012, S. 30. 300 Hofer Anzeiger vom 13.11.1989. 301 Koch, Hof, S. 186. Kowalczuk, Endspiel, S. 463. 302 Schübel, Ufer, S. 15. 303 Stadtarchiv Hof, A 1/907.
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Hofer Kaufhof schloss am 18. November 1989 alle halben Stunden die Türen ab und bediente dann nur noch die anwesenden Kunden.304 Die Öffnungszeiten wurden ausgeweitet, das damals noch sehr strenge Ladenschlussgesetz wurde vorübergehend außer Kraft gesetzt. Unmittelbar nach der Grenzöffnung traten „fliegende Händler“ in Erscheinung. Als es kein Begrüßungsgeld mehr gab, verschwanden sie von selbst.305 Einige Geschäfte setzten die Preise für DDR-Bewohner herab, um deren geringen finanziellen Möglichkeiten entgegen zu kommen, verschenkten Waren oder erklärten sich bereit, Ostgeld anzunehmen. In Gastwirtschaften wurden DDR-Besucher kostenlos bewirtet. Andere erhöhten die Preise, um die plötzliche Kaufkraft abzuschöpfen, vor allem bei Südfrüchten.306 Am 12. November 1989 „verkaufte vor der Hofer Lorenzkirche ein Händler Bananen, Orangen und Mandarinen um den doppelten Preis; es störte ihn nicht, daß Passanten sich laut empörten“.307 Ein Hofer Delikatessenhändler verlangte für eine Banane eine Mark. „Tags darauf standen junge Leute am Ortseingang und hielten ein Schild hoch, mit dem sie die Gäste vor diesem Kaufmann warnten“.308 Nach einigen Wochen kauften die Besucher zielgerichteter ein. Die Polizei stellte fest, dass viele DDR-Besucher in den Tagen vor Weihnachten 1989 zu kurzen Einkaufsbummeln nach Hof kamen und schon mittags wieder heimreisten. Andere unternahmen mehrtägige Besuchsreisen in die Bundesrepublik.309 Während die Geschäfte profitierten, die das passende Sortiment hatten, litten Fachgeschäfte unter Umsatzrückgang, weil ihre Stammkunden ausblieben, die Mühe hatten, zu den Geschäften durchzukommen.310 Nach dem Start der Wirtschafts- und Währungsunion erwarben die DDR-Bürger tendenziell höherwertige Produkte, weil ihnen die erforderlichen finanziellen Mittel zur Verfügung standen. Ostprodukte hatten es schwer, selbst wenn sie billiger waren; Fernseher und Video-Geräte, Waschmaschinen und Kühlschränke aus dem Westen wurden bevorzugt.311 Billige Gebrauchtwagen wurden zum Renner.312 Theodor Schübel berichtete vom 11. November 1989: „An manchen Haustüren in Hof hängt ein Zettel: ‚Liebe Gäste aus der DDR! Läuten Sie bitte, wenn Sie bei uns Kaffee trinken wollen.‘ Auf den Straßen werden heißer Tee und Glühwein ausgeschenkt. Im Sigmundsgraben sah ich einen Mercedes, an dessen Steuer eine Frau 304 Stadtarchiv Hof, A 1/907. 305 Schübel, Ufer, S. 68. 306 Hofer Anzeiger vom 16.11.1989. Schübel, Ufer, S. 15. Schönekerl, Aufgeschrieben, S. 30. Koch, Hof, S. 186 ff. 307 Schübel, Ufer, S. 15. 308 Schübel, Ufer, S. 13. 309 Stadtarchiv Hof, A 1/907. 310 Hofer Anzeiger vom 1.12.1989. Stadtarchiv Hof, A 1/962 (Schreiben des Kaufhof Hof an die Stadt Hof vom 28.11.1989). 311 Neubert, Revolution, S. 388. Schübel, Ufer, S. 187, 191. 312 Hofer Anzeiger vom 13./14.1.1990.
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saß, die rief: ‚Wer will bei uns übernachten? Wir haben noch drei Betten frei‘!“313 Private Unterkunftsangebote, Beratungen und Arbeitsvermittlungen für wildfremde Menschen waren keine Seltenheit. Nach der Ankunft der Prager Züge wurde ein Spendenkonto zugunsten der Flüchtlinge eingerichtet, später flossen private Sachund Geldspenden in großem Umfang in die DDR.314 Die regionalen Medien stellten persönliche Kontakte zwischen Bürgern aus Ost und West her, sei es wegen Übernachtungsmöglichkeiten, Auftritten musikalischer Formationen oder anderen Themen.315 Vereine und Verbände, freie Gruppen, Gewerkschaften und Kirchen schlossen sich der allgemeinen Hilfsbereitschaft an.316 Die städtischen Mitarbeiter waren nicht allein mit dem Begrüßungsgeld beschäftigt. Bei der Stadtverwaltung gingen Briefe ein, in denen ein verschwundener Geliebter gesucht oder um die Vermittlung einer Ehefrau gebeten wurde.317 Unmittelbar nach der Ankunft der ersten Prager Züge erreichten Stellenanzeigen von Betrieben aus ganz Deutschland die Stadtverwaltung.318 Wo immer es möglich war, versuchte man zu helfen. Wenige Tage nach der Grenzöffnung wurde eine Broschüre herausgebracht, die Hinweise zu Übernachtungen, einen Stadtplan mit Angabe der Parkplätze, touristische Hinweise, die Bahnverbindungen nach Plauen, die Zahlstellen für Begrüßungsgeld und Anzeigen von Unternehmen enthielt.319 Etwas später stand aktuelles Informationsmaterial des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen zur Verfügung.320 Im Januar 1990 parkte ein Bus in der Hofer Innenstadt, in dem Studenten aus München DDR-Besuchern Rat erteilten.321 Vereine, Verbände, Kirchen, Behörden, Schulen und Krankenhäuser der Hofer Region standen ihren Kollegen in der DDR (und später in den neuen Bundesländern) mit Rat und Tat zur Seite.322 Die Stadt Hof hingegen konnte Aufbauhilfe durch die Entsendung von Personal oder größere Zuschüsse nicht leisten, zu groß waren die Belastungen in Hof selbst.323 Ab Heiligabend 1989 konnten sich die DDR-Bürger für die ihnen zugegangenen Wohltaten revanchieren. Nachdem Visapflicht und Zwangsumtausch entfallen waren, fuhren die Hofer in großer Zahl nach Sachsen und Thüringen. „Einen triumphalen Empfang bereiteten DDR-Bürger in den grenznahen Städten und Gemein-
313 Schübel, Ufer, S. 8. 314 Stadtarchiv Hof, A 1/964. Kluge, Hof – Plauen, S. 33. 315 Staatsarchiv Bamberg, K 11n, 3488 I. 316 Verwaltungsbericht 1988 – 1989 – 1990, S. 137 ff. Schübel, Ufer, S. 39. Neubert, Revolution, S. 315. 317 Stadtarchiv Hof, A 1/965. 318 Stadtarchiv Hof, A 1/965. 319 Stadtarchiv Hof, A 1/906. 320 Staatsarchiv Bamberg, K 11n, 3490. 321 Koch, Hof, S. 194. 322 Staatsarchiv Bamberg, K 11n, 3489. 323 Kluge, Hof – Plauen, S. 34.
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den des Sächsischen Vogtlandes den bundesdeutschen Ausflüglern […] Fahnenschwenkend und mit Willkommenstransparenten über der Straße empfingen die Bewohner ihre Gäste aus dem benachbarten Oberfranken“.324 Die Kriminalität stieg in allen Gebieten, in denen sich Besucher aus der DDR aufhielten, stark an, vor allem die Zahl der Ladendiebstähle nahm zu, dann auch die Zahl der Autodiebstähle, Raubüberfälle und Einbrüche. Obwohl nur sehr wenige DDR-Bürger straffällig wurden, war ihr Anteil an den Straftätern unverhältnismäßig hoch.325 Die Lage Hofs hinter dem „Eisernen Vorhang“ hatte die Kriminalität fern gehalten, die offenen Grenzen führten zu einer Normalisierung der Verhältnisse. Von Betrügereien beim Begrüßungsgeld war bereits die Rede, und auch beim Sozialbetrug machte die Gelegenheit Diebe: „Immer mehr DDR-Bürger melden sich in grenznahen bayerischen Städten als Übersiedler, beziehen Arbeitslosenunterstützung, doch in Wirklichkeit wohnen sie weiterhin bei ihrer Familie in Sachsen oder Thüringen, fahren nur zum Geldabholen in den Westen. ‚Na klar kommt das vor‘, lautet die Antwort. ‚Glauben Sie, bei uns gibt es keine findigen Köpfe‘?“326 Dauerstau und Luftverschmutzung, volle Geschäfte mit leeren Regalen, Kriminalität und Straßenverunreinigung führten bereits wenige Tage nach der Grenzöffnung zu Unmutsäußerungen der Einheimischen.327 Am 12. Dezember 1989 ging beim Hofer Kaufhof ein Bombenalarm ein, der von den Mitarbeitern nicht ernst genommen wurde und zum Glück folgenlos blieb. Am selben Tag versuchte jemand in Hof, einen Trabi mit Benzin anzuzünden.328 Die Politik reagierte rasch, indem sie die Ladenöffnungszeiten anpasste, die Auszahlung von Begrüßungsgeld einschränkte und den Verkehrsfluss lenkte, angesichts des Umfangs der Probleme verständlicherweise mit wenig Durchschlagskraft. Verkäuferinnen stöhnten wegen Überstunden und unfreundlichen Kunden.329 Nachdem man Jahrzehnte lang das provinzielle Leben im Zonenrandgebiet beklagt hatte, wurde jetzt gejammert, dass die ruhige Zeit von einst vorbei sei.330 Begrüßungsgeld und Rentenzahlungen an Übersiedler lösten Neid aus: „Mir schenkt auch niemand etwas!“331 Diese Beispiele des Unmutes ließen sich vermehren,332 dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, 324 Hofer Anzeiger vom 27.12.1989. 325 Kowalczuk, Endspiel, S. 463. Schübel, Ufer, S. 114. 326 Schübel, Ufer, S. 105. 327 Schübel, Ufer, S. 198. 328 Stadtarchiv Hof, A 1/907. 329 Schübel, Ufer, S. 41. 330 Schübel, Ufer, S. 95, 140. 331 Schübel, Ufer, S. 16 (Zitat), 43. Schreiben von Gudrun Appel, Burgstein, an den Verfasser vom 1.11.2013. 332 Vgl. Schübel, Ufer, S. 102, 149, 195 f., 201 f., 217, 227. Kluge, Hof – Plauen, S. 32. Hegner, Sabine / Neugebauer, Ina / Schubert, Jennifer / Singer, Katarina: Vergleichende Betrachtungen der Berichterstattungen hinsichtlich der politischen Ereignisse zur Zeit der Wende (Mai 1989 bis März 1990) in der „Freien Presse“ und im „Hofer Anzeiger“ unter Einbeziehung von Leserbriefen und Redakteurmeinungen, Seminararbeit am Gymnasium Dr. Konrad Duden, Schleiz 2004, S. 18.
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dass es sich angesichts der Dimensionen, welche die Herausforderungen für die Menschen der Hofer Region hatten, um Kleinigkeiten handelte. Im Vergleich mit der Hilfsbereitschaft, die fast überall zu spüren war, blieben Unmutsäußerungen selten. Auch im benachbarten Sachsen und Thüringen waren Klagen zu vernehmen, als die Westdeutschen ab Weihnachten 1989 in die DDR reisten und ihre überlegene Wirtschaftskraft ausspielten. Jetzt erfuhren die DDR-Bürger die Versorgungsprobleme, die zuvor die Hofer Region durchgemacht hatte. Theodor Schübel vernahm aus der DDR: „‘Da kommen diese wohlhabenden Bürger über die Grenze und kaufen unsere Läden leer, speisen spottbillig in unseren Gaststätten, wo Einheimische kaum mehr einen Platz finden, lassen sich fast umsonst mit Bier und Schnaps vollaufen, geben in den Diskotheken großmächtig an und füllen für ein paar Mark den Tank ihres Autos.‘ Es ist leider wahr. Eine Nachbarin, die alles andere als arm ist, erzählte offen, daß sie drüben hundert Semmeln auf einmal gekauft hat, um sie daheim in die Tiefkühltruhe zu legen“.333 Westdeutsche kauften die wenigen hochwertigen Waren, welche die DDR zu bieten hatte, zu günstigen Preisen auf. Die Menschen, die bei einigen Produkten, auch bei Grundnahrungsmitteln, einen größeren Mangel als zuvor verspürten, drohten, das würden sie sich nicht mehr gefallen lassen.334 Noch bevor sich die äußeren Verhältnisse normalisierten, verflog die Euphorie des Anfangs, die Begeisterung kühlte ab. Theodor Schübel bemerkte schon am 12. Dezember 1989: „Das Hochgefühl, das die Öffnung der Grenze freisetzte, ist verbraucht. Der Alltag kehrt mit Macht zurück“.335 Und wenn der Hofer Anzeiger am 20. September 1991 titelte: „‘Exotik‘ ist raus“, dann lag er mit seiner Einschätzung sicherlich richtig, war aber um einiges verspätet. Ein Termin, an dem die Stimmung gekippt wäre, ist nicht ersichtlich, es handelte sich um einen schleichenden Prozess, der schon kurz nach der Grenzöffnung einsetzte. Hoffnungen und Enttäuschungen Ab Anfang Dezember 1989 wurde in Leserbriefen an den Hofer Anzeiger diskutiert, was die Grenzöffnung kosten werde.336 Diese Diskussion, die überall in der Bundesrepublik geführt wurde und in der besonders Jüngere, Intellektuelle und Wohlhabende kritische Stimmen hören ließen, ging an der Hofer Region nicht vorbei und intensivierte sich, je näher der Termin der Wiedervereinigung rückte.337 Die Bayreuther Soziologen Winfried Gebhardt und Georg Kamphausen untersuchten 1992 die Mentalität der Bewohner der Partnergemeinden Regnitzlosau (bei Hof) und Werda im sächsischen Vogtland. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass in beiden Gemeinden „der Wille zur ‚Gemeinschaft‘ diejenige Grundhaltung ist, die sich wie 333 Schübel, Ufer, S. 96. 334 Schübel, Ufer, S. 117. 335 Schübel, Ufer, S. 41. 336 Hofer Anzeiger vom 4.12.1989. 337 Schübel, Ufer, S. 149, 158 f., 208, 212. Koch, Hof, S. 246.
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ein roter Faden durch alle einzelnen Lebensbereiche hindurchzieht und das Gesamtbild prägt. […] Im Osten ist man begierig auf die ‚Früchte der Gesellschaft‘ (individuelle Wahlfreiheit, materieller Wohlstand, etc.), im Westen will man darauf nicht verzichten. Gleichzeitig lehnt man die negativen Folgewirkungen von Gesellschaft wie Distanz, Formalisierung, Unübersichtlichkeit ab und beschwört die ‚Segnungen der Gemeinschaft‘, ihre Unmittelbarkeit und Wärme, ihre Direktheit und Verbindlichkeit. […] Der paradoxe Wunsch, Individualisierung und Gemeinschaftsbindung gleichzeitig genießen zu können, beschreibt das Idealbild menschlichen Zusammenlebens in Ost und West“.338 Die bestehenden Unterschiede zwischen Ost und West seien, so die Professoren, nicht qualitativer, sondern quantitativer Art. Die Entwicklung sei in Regnitzlosau weiter fortgeschritten als in Werda, das aber rasch nachhole.339 Betriebe der Hofer Region – vom Handwerker bis zum Großbetrieb – und die zuständigen Wirtschaftskammern standen gegenüber den Behörden nicht zurück, wenn es um Engagement jenseits der Grenze ging. Fachlicher Austausch, materielle Unterstützung mit Geld und Sachmitteln und der Aufbau wirtschaftlicher Beziehungen wurden geleistet.340 Einzelhandelsgeschäfte, Banken und Produktionsbetriebe der Hofer Region gründeten Filialen in Sachsen und Thüringen. Hofer Brauereien erweiterten ihre Geschäftsfelder in Regionen, aus denen sie nach 1945 verdrängt worden waren. Die Tageszeitung Frankenpost expandierte in die Nachbarschaft, die Hofer Textilindustrie erwarb dort einige Betriebe. Bis 1993 fanden rund 4.000 Menschen aus dem sächsischen Vogtland Arbeit in Hof.341 Die bayerischen Ministerien erstellten am 18. September 1991 einen Bericht für den Ministerpräsidenten, in dem sie eine Bilanz der Entwicklungen nach einem knappen Jahr Wiedervereinigung zogen und Forderungen an die Politik formulierten.342 Vergleicht man die Auflistung der Ministerien aus dem Jahr 1991 mit dem, was tatsächlich geschehen ist, stellt man Übereinstimmungen und Abweichungen, Positives und Negatives fest. Einige Hoffnungen erfüllten sich, andere nicht. Nachdem der Rausch verflogen war, traten langfristige Tendenzen in Wirtschaft und Gesellschaft – wie der Strukturwandel der Textilindustrie und der Bevölkerungsschwund – wieder in den Vordergrund und überdeckten den zwischenzeitlichen Aufschwung.
338 Gebhardt, Winfried/Kamphausen, Georg: Zwei Dörfer in Deutschland. Mentalitätsunterschiede nach der Wiedervereinigung, Opladen 1994, S. 163. 339 Ebenda, S. 164. 340 Staatsarchiv Bamberg, K 11n, 3489. Stadtarchiv Hof, A 1/963. Neubert, Revolution, S. 305 f. Kluge, Hof – Plauen, S. 33 f. Schübel, Ufer, S. 77, 121. 341 Die Friedliche Revolution, S. 119. Kluge, Hof – Plauen, S. 40. 342 Hauptstaatsarchiv München, Staatskanzlei, 19419.
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Die Trabis und Wartburgs kommen. Der provisorisch hergerichtete Grenzübergang Ullitz bei Hof 1989. Der Schotterbelag ist die ehemalige Grenzlinie der DDR. (Stadtarchiv Hof, FF 7420)
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5.8.6. Elektrische Wiedervereinigung. Entstehung, Trennung und Zusammenschluss des Stromnetzes in Deutschland Von Walter Schossig Die Entwicklung des Verbundbetriebes in Deutschland begann nach dem Ersten Weltkrieg. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte der Aufbau eines zonenübergreifenden Verbundnetzes. Die Trennung Deutschlands in Ost und West machte auch vor dem Verbundnetz nicht Halt. Lediglich ein Export von Ost nach West erfolgte in begrenztem Maße. Nach 40- bzw. 50-jähriger Trennung konnte im Jahre 1995 die elektrische Wiedervereinigung des 50-Hz-Verbund- und des 16 ⅔-HzBahnnetzes vollzogen werden. Der Beginn des Verbundnetzes Die Entwicklung von der ortsgebundenen Versorgung zur Überlandversorgung – sie fiel in die Zeit etwa von der Jahrhundertwende bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges - war durch die staatliche Zerrissenheit gehemmt. Nach der Errichtung der Mittelspannungsnetze machte sich nach dem Ersten Weltkrieg deren Verknüpfung durch Hochspannungsleitungen dringend notwendig. Dem diente das Reichsgesetz von 1919, welches das Reich ermächtigte, das Eigentum oder das Recht der Ausnutzung von Anlagen, welche zur Fortleitung mit 50 kV und mehr bzw. Erzeugung mit Leistungen von 5 MW und mehr zu übernehmen. Gemäß einem Vertrag von 1924 zwischen der Thüringer Elektrizitäts-Lieferungs-Gesellschaft AG (ThELG), Gotha und der Preußischen Elektrizitätswerk A.G. kam es 1925 zum Bau einer 60-kV-Kuppelleitung zwischen dem KW (Kraftwerk) Breitungen (Thüringen) und dem KW Borken (Hessen). Ein Jahr später erfolgt mit der Inbetriebnahme der 100-kV-Leitung Jena-Zeitz-Böhlen die Anbindung Thüringens an Sachsen. In Berlin wurden 1930 durch Oskar von Miller, dem Gründer des Bayernwerkes und des Deutschen Museums in München, in einem von der Reichsregierung in Auftrag gegebenen Gutachten erste Pläne für ein europäisches Verbundnetz vorgelegt. Am 17. April 1930 fahren nach dem Konzept „Verbundwirtschaft“ von Arthur Koepchen, RWE, die Steinkohlenkraftwerke im Ruhrgebiet, die Braunkohlenkraftwerke im Kölner Raum, darunter das Goldenbergwerk, 500 MW, und die Wasserkraftwerke im Schwarzwald am Hochrhein sowie in den Alpen, zusammen 230 MW, zum ersten Mal parallel. Über eine 800 km lange 220-kV-Leitung des RWE ist das rheinisch-westfälische Industriegebiet mit den Voralpen verbunden.343 Nachdem 1936 ein Übereinkommen der Bayernwerk A.-G. (BAG) mit der Thüringenwerk A.-G. über eine gegenseitige Stromlieferungshilfe getroffen wurde, ermöglichte bereits ein Jahr später die Inbetriebnahme der 110-kV-Leitung
343 Schnug, A. / Fleischer, L.: Bausteine für Stromeuropa. Eine Chronik des elektrischen Verbunds in Deutschland. 50 Jahre Deutsche Verbundgesellschaft. Deutsche Verbundgesellschaft e.V., Heidelberg 1999.
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Neuhaus-Kulmbach den Stromaustausch zwischen Thüringen und Bayern. Verhandlungen im Jahre 1939 zwischen der Elektrowerke A.-G. Berlin (EWAG) und der BAG über den künftigen Strombezug gingen davon aus, dass aus einer voraussichtlich im Oktober 1940 fertig gestellten 220-kV-Leitung Dieskau (bei Halle)-Ludersheim (bei Nürnberg)-Linz (Oberösterreich) Strom für die BAG bereitgestellt wird. Im Oktober 1939 schlugen die Elektrowerke A.-G. in einer Denkschrift vor, in Deutschland ein reichseigenes 220-kV-Hochspannungs-Freileitungsnetz aufzubauen. Planmäßig ging dann auch 1940 die 220-kV-Leitung Dieskau-Remptendorf-Ludersheim bei Nürnberg bis zur österreichischen Grenze nach St. Peter bei Braunau am Inn als 220-kV-Reichssammelschiene in Betrieb (Bild 1). Ab April 1941 bezog die BAG Braunkohlenstrom der Elektrowerke A.-G. über die 220-kV-Doppelleitung Remptendorf (Thüringen) - Ludersheim (Bayern). Im darauf folgenden Dezember ist durch diese 220-kV-Nord-Südleitung das mitteldeutsche Braunkohlengebiet mit den bayrischen und österreichischen Wasserkraftwerken verbunden. Bild 1: 220-kV-Reichssammelschiene, 1941
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1943 wird die Verbindung Mitteldeutschland im Raum Magdeburg gebaut. Bild 2 zeigt das 220/110-kV-Netz der Deutschen Verbundgesellschaft (DVG) im Jahre 1948.344 Bild 2: 220/110-kV-Netz Deutschland, 1948
344 Lehmhaus, F.: Von Miesbach-München 1882 zum Strom-Verbundnetz. Deutsches Museum Abhandlungen und Berichte 51, 1983, 3, München 1983.
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Trennung des Verbundnetzes in Ost und West Mit der Kapitulation des Deutschen Reiches und dem Wirksamwerden des Potsdamer Abkommens beginnt die unterschiedliche Entwicklung in den einzelnen Besatzungszonen.345 Dies führt im April 1946 im UW (Umspannwerk) Remptendorf (Thüringen) zur Demontage der Abgänge Haupt- und Regeltransformator 1 und der Leitung 298 nach Ludersheim im Rahmen der Reparationsleistungen. Am 5. März 1952 veranlasst die DDR-Regierung die Abtrennung Westberlins innerhalb von wenigen Stunden sowie die Unterbrechung der Elektroenergielieferung aus dem KW Breitungen zum Überlandwerk Rhön (ÜWR) ohne Vorankündigung. 1954 erfolgt die Trennung des DDR-Verbundnetzes vom BRD-Netz, indem die 110-kV-Leitung Hagenow-Boitzenburg-Bleckede vor der Elbkreuzung durchschnitten und die 110-kV-Leitung KW Harbke-UW Helmstedt sowie die 220-kVLeitung Magdeburg-Helmstedt jeweils vor der Grenze unterbrochen wurden. Außerdem wurde die „220-kV-Reichssammelschiene“ beim UW Remptendorf getrennt. Das BRD-Netz wurde 1951 Bestandteil der Union für die Koordinierung der Erzeugung und des Transportes elektrischer Energie (UCPTE) und das DDRNetz 1962 Teil des Vereinigten Energiesysteme (VES) „Frieden“ des Ostblockes. Das westeuropäische Verbundnetz besteht aus den Netzen von Belgien, BRD, Frankreich, Italien, Luxembourg, Niederlande, Österreich und Schweiz, später auch Spanien, Portugal, Griechenland und Jugoslawien. Im osteuropäischen Verbundnetz sind die Netze Bulgarien, DDR, Ungarn, Polen, Rumänien, Tschechoslowakei und Teile der ehemaligen UdSSR vereinigt. Die innerhalb der UCPTE praktizierte Primär- und Sekundärregelung aller Partner wird im VES nicht angewendet. Hier übernimmt zentral das russische Verbundnetz im Wesentlichen mit Laufwasserkraftwerken an der Wolga automatisch die Leistungs- und Frequenzregelung. Alle anderen in das osteuropäischen Verbundnetz integrierte Partner regeln ihre Übergabeleistung an den Kuppelstellen zu den Nachbarnetzen, Dieses Regelprinzip und die begrenzte Übertragungskapazität auf den Kuppelleitungen zwischen Rußland und der Ukraine kann zu hohen Frequenzschwankungen führen. Der Frequenzverlauf basiert auf vielen Kraftwerksausfällen in der Ukraine und der nicht ausreichenden Übertragungskapazität für Reservelieferungen zwischen Rußland und der Ukraine.346 Die Folgen der Winterauswirkungen führten am Neujahrstag 1979 um 15:04 Uhr zur „Schwarzschaltung“ Thüringens.347
345 Wessel, H. A. (Hrsg) et. al.: Demontage, Enteignung, Wiederaufbau. Teil 2, 2002, Band 17, Geschichte der Elektrotechnik, Berlin / Offenbach. 346 Berger, F. / Tillmann, H.-B. / Toscher, E.: Anschluß der neuen Bundesländer an das UCPTEVerbundsystem. etz 113, 1992, 24, S.1488-1492. 347 Neuhaus, S. / Rauchhaus, H. / Schossig, W.: Die Rolle Thüringens bei der elektrischen Vereinigung, Trennung und Wiedervereinigung Deutschlands. In: Strom ohne Grenzen, S. 123197, Berlin 2008.
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Stromlieferung von Ost nach West über die innerdeutsche Grenze Im Gegensatz zu dieser großen Linie wurde die Stromlieferung von Thüringen in die damalige BRD nie ganz unterbrochen.348 Auszug aus der „HNA“ 18.04.1984
Zurückzuführen ist dies auf einen Vertrag des Herrn von Scharfenberg aus dem Jahre 1913 über Lieferung von Strom von den Wasserkraftwerken Falken (Thüringen) und Wanfried (Hessen) zur ÜLZ Mühlhausen. Daraus wurde später ein Liefer- und Rückliefervertrag mit den „Werramühlen Wanfried“. Die Überlandzentrale (ÜLZ) Mühlhausen betrieb über die Landesgrenzen ThüringenHessen die 10-kV-Leitungen Döringsdorf-Spinnhütte-Wanfried sowie Großburschla-Altenburschla und das Elektrizitätswerk (EW) Wanfried die 10-kV-Leitung Wanfried-Falken-Mihla. Als 1952/53 die grenzüberschreitenden Stromversorgungsleitungen außer Betrieb genommen werden, blieben diese Leitungen für den „Energieexport“ bestehen. Mit steigender Leistung wurde zusätzlich vom UW Wolkramshausen (Thüringen) zum UW Neuhof (Niedersachsen) im Jahre 1985 eine 110-kV-Doppelleitung errichtet und beim LKH in Neuhof ein Frequenzumrichter, bestehend aus zwei Asynchronmotoren 5,2 MW, Typ 1TF6328 und Asynchrongeneratoren von je 5 MW, Typ 1TT6328, 10 kV und 1494 U/min, der Firma Siemens, aufgestellt, um die Frequenzschwankungen des osteuropäischen Netzes auszugleichen. Für den Endausbau waren insgesamt 5 Umformer geplant. 348 Rauchhaus, H. / Schossig, W.: Die Rolle Thüringens bei der elektrischen Vereinigung, Trennung und Wiedervereinigung Deutschlands. In: Strom ohne Grenzen, S. 123-197, Berlin / Offenbach, 2008.
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Darüber hinaus ist lediglich noch bekannt, dass eine aus der Vorkriegszeit stammende 15-(später 20-)kV-Leitung im Harz von Benneckenstein, Energiekombinat Magdeburg, nach Hohegeiß (LKH) in Niedersachsen speiste. Des Weiteren gab es noch einige 0,4-kV-Verbindungen, wie von Roteshütte (Thüringen) nach Hessen und von der Station Wustung bei Liebau (der Ort Liebau wurde 1975 im Rahmen der „Grenzsicherung“ liquidiert) nach Bayern sowie von Potsdam zu einer Pumpstation in Westberlin. Da Material in der DDR immer einen Engpass darstellte, wurde extra eine Störreserve für die Westversorgung vorgehalten. Die Entwicklung der Energielieferungen vom Energiekombinat Erfurt (EKE) in die Bundesrepublik Deutschland von 1951 bis 1989 betrug: Jahr Energielieferung ca. 38 GWh 1951 ca. 15 GWh 1952 ca.15 GWh 1955 ca. 20 GWh 1960 ca. 34 GWh 1970 ca. 70 GWh 1980 ca. 170 GWh 1986 ca. 175 GWh 1989 Die Elektrische Wiedervereinigung Im März 1988 kam es zu einem Vertrag zwischen der PreussenElektra AG, der BEWAG und der DDR-Außenhandelsgesellschaft INTRAC über den Bau einer 380-kV-Leitung Helmstedt-Wolmirstedt bei Magdeburg-Berlin(West) und der Einrichtung einer Gleichstromkurzkupplung in Wolmirstedt zur Kupplung mit dem 220-kV-Netz der DDR. Während die Gleichstromkurzkupplung (GKK) durch die Wende gegenstandslos und dessen Bau abgebrochen wurde, stellte die 380-kV-Leitung eine wichtige Verbindung für die Ankoppelung des DDR-Netzes und später auch des Netzes der CENTREL-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) an das UCPTE-Netz dar. In Deutschland liegen drei unabhängige Frequenzgebiete vor, die zu unterschiedlichen Verbundnetzen gehören.349 Die VEAG (Vereinigte Energiewerke AG) ist der überregionale Stromerzeuger und -verteiler in den neuen Bundesländern. Sie wurde im Dezember 1990 gegründet und ist der Rechtsnachfolger der beiden ehemaligen DDR-Kombinate Braunkohlenkraftwerke, Peitz, und Verbundnetze Energie, Berlin. Als erster Teilabschnitt des im März 1988 geschlossenen Vertrages geht am 3. Oktober 1989 die 380-kV-Leitung Helmstedt-Wolmirstedt zunächst mit 220 kV für einen Richtbetrieb aus der BRD in die DDR in Betrieb. Nach den 1989 und 349 Berger, F. et. al.: Anschluß der neuen Bundesländer an das UCPTE-Verbundsystem, etz 113, 1992, S. 1488-1492.
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1990 eingetretenen Veränderungen war elektrische Leistung im ostdeutschen Verbundnetz, der VEAG Vereinigte Energiewerke AG, frei und diese Leitung wurde unter Einbeziehung eines Systems der 380-kV-Leitung Ragow-Wolmirstedt für einen 220-kV-Richtbetrieb von Blöcken des KW Lübbenau in Richtung Helmstedt benutzt. Dabei wurden die beiden Systeme der Leitung Ragow-Wolmirstedt mit unterschiedlichen Frequenzen betrieben und es konnten Schwebungen auf dem 220-kV-System festgestellt werden. Im August 1990 wurde der Stromvertrag zwischen der DDR, der Treuhandanstalt, der PreussenElektra, der RWE und der BAG abgeschlossen. Bereits im Oktober/November 1990 erarbeitet die VEAG Ein „Arbeitsprogramm zur Vorbereitung und Aufnahme des Verbundbetriebs mit dem DVG/USPTE-Netz“ aus.350 1992 erfolgt die Inbetriebnahme des neuen Leistungs-Frequenz-Reglers SimaticS5-Konfiguration mit Bedien- und Anzeigesystem Coros und im Dezember 1993 sind die Voraussetzungen in den Kraftwerken der VEAG, so u.a. Regelfähigkeit nach UCPTE-Anforderungen und 520 MW Primär- und 380 MW Sekundärregelleistung, für die Parallelfahrweise mit dem UCPTE-Netz abgeschlossen. Das VES-Netz zerfällt 1993 durch ungenügenden und unkontrollierten Leistungsausgleich in drei Teile, dem Verbundsystem von Ungarn, Polen, Rumänien, Slowakei und Tschechien sowie der VEAG, dem Verbundsystem von Bulgarien, der Ukraine und einem Teil Russlands und das Vereinigte Verbundsystem von Russland mit einem Teil der Ukraine. Am 01.02.1995 erfolgt die Aufnahme des Dauerbetriebes des Projektes „Wartenkomplex HSL“ und „Meldebild“ bei der VEAG, Berlin.351 Auf den Tag genau 51 Jahren nach der ersten Leitung zwischen Bayern und Mitteldeutschland geht schließlich am 20.12.1991 die 380-kV-Verbindung Redwitz-Remptendorf (zunächst nur mit 220 kV) in Betrieb. Mit der Fertigstellung der drei 380-kV-Verbindungsleitungen Helmstedt (Niedersachsen)-Wolmirstedt (Sachsen-Anhalt) Mecklar (Hessen)-Vieselbach (Thüringen) und Redwitz (Bayern)-Remptendorf (Thüringen) und umfangreichen Regelversuchen sowie Nachrüstung von Frequenzsteuereinrichtungen in den Kraftwerken der Vereinigten Energiewerke AG (jetzt 50Hertz Transmission) waren die Voraussetzungen für die Parallelschaltung gegeben (Bild 3). Die Leitung Siems-Göries im Norden war für später geplant und ist inzwischen am 18.12.2012 als 380-kV-Nordleitung zwischen Schwerin und Hamburg in Betrieb gegangen.
350 Tillmann, H.-B.: Anschluß des VEAG-Netzes sowie des CENTREL-Netzes an das UCPTEVerbundnetz. VDI Berichte Nr. 1245, 1996, S. 317-329.VEAG verbindet: Elektrische Wiedervereinigung 1995. VEAG Vereinigte Energiewerke AG, Berlin, VEAG II/95. 351 Berndt, D. / Penner, W.: Neuer Leistungs-Frequenz-Regler beim ÜNB Vattenfall Europa Transmission. ew 104, 2005, 7, S. 20-25.
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Bild 3: Deutsches Verbundnetz, 50 Hz, Stand: 1.1.1996, ( Quelle DVG, mod.)
Am 01.12.1992 wurde in Berlin über 110-kV-Kabel vom UW Jägerstrasse zum UW Mitte eine Verbindung zwischen Ost- und Westberlin geschaffen. Damit wurde der 40 Jahre dauernde Inselbetrieb Westberlins aufgehoben und eine Kupplung mit dem osteuropäischen Netz geschaffen. Am 7.12.1994 wurde dann über die fertiggestellte 380-kV-Leitung UW Reuter-UW Teufelsbruch (BEWAG) -UW Wolmirstedt (VEAG) eine stabile Verbindung in Betrieb genommen. Damit war der über 40 Jahre dauernde Inselbetrieb von West-Berlin ohne Kupplung zum VEAG-Netz offiziell beendet. Der Bau der 380-kV-Leitung Mecklar-Vieselbach hatte sich auf hessischem Gebiet erheblich verzögert. Am 8.9.1995 konnte schließlich das unter Spannung setzen dieser Leitung mit Prüfung der Phasengleichheit erfolgen. Am Mittwoch, dem 13. September 1995, wird um 9:31 Uhr die Inselschaltung des VEAG-Netzes
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hergestellt. Um 9:34 Uhr wird die Parallelschaltung über die 380-kV-Leitung Helmstedt-Wolmirstedt im UW Helmstedt durch Einschaltung des 380-kVKuppelschalters mit dem UCPTE-Netz vorgenommen. (Am 1.7.1999 wurde das UCPTE-Netz in das UCTE-Netz umbenannt und ist heute Bestandteil des ENTSE-Netzes.) Danach erfolgte die Einschaltung der 380-kV-Verbindung MecklarVieselbach und der mit 220 kV betriebenen 380-kV-Leitung Redwitz-Remptendorf. Somit war die „Elektrische Wiedervereinigung Deutschlands“ vollzogen. Fünf Wochen später folgen die CENTREL-Staaten. Vorrausgegangen waren am 29./30.09.1993 Testversuche zum Parallelbetrieb und im Mai 1994 eine durchgängige Inbetriebnahme der Primärregelung in den Kraftwerken von CENTREL und VEAG. In der Sitzung der UCPTE Ad-hoc Gruppe Ost/WestVerbundbetrieb („Exekutivkreis“) zu Fragen des Anschlusses des CENTREL- an das UCPTE-Netz am 13.05.1994 wird als Ziel der Parallelschaltung noch das Jahr 1997 angestrebt. Vom 15.-29.09.1995 führen die CENTREL-Partner erfolgreich den mit der UCPTE vereinbarten Betriebsversuch „Inselbetrieb“ durch. Die Vollversammlung der UCPTE stimmt am 28.09.1995 dem Anschluss des CENTRELNetzes zu. Bereits am 18.10.1995 um 12:30 Uhr wird eine probeweise Parallelschaltung des CENTREL-Netzes mit dem UCPTE-Netz über die 380-kVLeitungen Röhrsdorf, VEAG - Hradec, CEZ (CZ) und Kiesdorf-Mikulowa (PL) sowie die 220-kV-Leitungen Vierraden-Krajnik (PL) und später Umgehungsschiene GKK Etzenricht mit Zuschaltung in Hradec (CZ) vorgenommen. Somit wird von Spanien bis Polen und nach der Resynchronisierung der UCTE-SüdostEuropa-Netzzone im Jahr 2004 ein synchrones 50-Hz-System, dem heutigen Verbundnetz Regional Group Continental Europe, RG CE, der ENTSO-E betrieben. Des Weiteren gehören dazu die Netze von Marokko, Algerien und Libyen (1997) und Türkei (2010) als weit über die Grenzen der ENTSO-E hinausgehender synchroner Frequenzbereich (Trans European Synchronously Interconnected System / TESIS). Als weitere Stütze dienen die HGÜ-Verbindungen zur skandinavischen RG Nordic „BALTIC CABLE“ (D-S), „KONTEK“ (D-DK), „SKAGERRAK“ (DK-N) und „SWEPOL“ (S-PL) sowie die Ärmelkanalverbindung (F-UK) zur RG UK. Die bisher dem Energieaustausch Ost-West dienenden GKK Etzenricht (DCZ), Dürnrohr (A-CZ) und Wien-Südost (A-H) gingen außer Betrieb. Die Parallelschaltung der 110-kV-16 ⅔ -Hz-Bahnnetze der ehemaligen Deutschen Bundesbahn (BRD), DB und der ehemaligen Deutschen Reichsbahn (DDR), DR, war schon am 14.3.1995 um 15:06 Uhr über die Leitung Lehrte (Niedersachsen) - Heeren (Sachsen-Anhalt) erfolgt. Der erste Synchronisierversuch war bereits um 13:28 Uhr gelungen.352 Damit waren erstmalig nach ebenfalls 50 Jahren der Trennung die 110-kVBahnenergienetze wieder verbunden. Die Inbetriebnahme der Bahnstromleitung von der thüringischen Landesgrenze bei Eisenach bis nach Bebra erfolgte am 29.2.1996 und am 23.6.2001 wurde mit der dritten Leitung Saalfeld-Weimar zwi352 Jergas, E. / Schaarschmidt,J.: Bahnenergie-Hochspannungsnetz der Deutschen Bahn. Elektrische Bahnen eb 9, 1995, 9/10,300-302. Nießen, M. / Schaarschmidt, J.: Elektrischer Betrieb bei der Deutschen Bahn im Jahre 1996. Elektrische Bahnen eb 95, 1997, 1/2,3-11.
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schen alten und neuen Bundesländern die Versorgungszuverlässigkeit im 110-kVBahnnetz weiter gesteigert. Bei der Trassenauswahl wurde dem Prinzip entsprochen, Energieversorgungsleitungen zu bündeln. Die 110-kV-Bahnstromleitungen verlaufen – soweit möglich – parallel zur 380-kV-Drehstromleitung und an der Landesgrenze Hessen-Thüringen sogar auf einem gemeinsamen Gestänge. Mit dem Verbund der Österreichischen Bundesbahnen stellt das 110-kV-Netz DB/ÖBB auf Grund der Stromkreislänge von 21.000 km und der flächenmäßigen Ausdehnung das größte, gelöscht betriebene Hochspannungsnetz der Welt dar. Ein sicherer und zuverlässiger Betrieb eines Verbundnetzes ist vom korrekten und konformen Zusammenspiel aller Übertragungsnetzbetreiber abhängig. Spezielle Vorkehrungen, Spielregeln und Schutzmechanismen dienen dazu, dass eine Kaskadierung von Grossstörungen vermieden wird. Der ENTSO-E-Verbund ermöglicht einen wirtschaftlichen Netzbetrieb und bildet somit das Rückgrat für eine zuverlässige Versorgung. Die Deutschen Übertragungsnetzbetreiber sind zusammen mit ihren europäischen Partner der Garant dafür.
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6. Die ersten freien Wahlen in der Geschichte der SBZ / DDR am 18. März 1990: Legitimation für die Wiedervereinigung 6.1. Der Geburtsmakel der DDR. Die Furcht der SED vor freien Wahlen Von Wilhelm Fricke Wenn in diesem Jahr (1994) in unserem Land aus guten Gründen besonders an den 9. November 1989 als dem Tag erinnert wird, an dem die Endzeit der DDR manifest wurde, so ist auch ihr Beginn mit Stichtag 7. Oktober 1949 einen Rückblick wert. Denn die Legenden sind wieder wohlfeil, die das historische Datum nostalgisch verklären. Der antifaschistische Mythos, mit dem heutzutage die Entstehungsgeschichte des „ersten Arbeiter-und-Bauern-Staates auf deutschem Boden“ umwoben wird, kann indes nicht vergessen machen, dass der zweite deutsche Staat von Anfang an mit einem demokratischen Legitimationsdefizit belastet war, in dem letztlich sein Scheitern wurzelte. Walter Ulbricht, 1949 längst die entscheidende Schlüsselfigur in der Führung der SED, hatte mit Duldung durch die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) beziehungsweise durch die Sowjetische Kontrollkommission (SKK) im Gründungsjahr der DDR bereits auf Verfassungsbruch, Wahlfälschung, Wahlmanipulation und auch auf Justizterror gesetzt, um die DDR ohne demokratisches Mandat aus der Taufe zu heben. Ihr Geburtsmakel ließ sich allerdings so lange nicht tilgen, wie die Herrschenden dem Volk das Recht auf demokratische Selbstbestimmung in freien Wahlen vorenthielten. Infolgedessen sah sich die SED schon in den Jahren 1949/50 mit dem Verlangen nach freien Wahlen in ihrem Staat konfrontiert – und dabei blieb es Zeit ihrer Diktatur. Die Erklärung dafür lag in der für die SED bestürzenden Erfahrung, dass sie bei den ersten Nachkriegswahlen in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) im Spätsommer 1946 trotz massiver Schützenhilfe der sowjetischen Besatzungsmacht nicht die Erfolge zu erringen vermochte, auf die sie in politischer Fehleinschätzung der damaligen Ausgangslage spekuliert hatte. Zwar hatte sie bei den ersten Gemeindewahlen, die 1946 in der SBZ am 1. September in Sachsen, am 8. September in Thüringen und der damals sogenannten Provinz Sachsen(-Anhalt) sowie am 15. September in der Provinz Brandenburg und in Mecklenburg-Vorpommern abgehalten wurden – Wahlmodus war das Verhältniswahlrecht –, dank manipulativer Irreführung und politischer Repression im Zonenmaßstab noch Mehrheiten erringen können. Bei Lichte besehen waren die Wahlergebnisse353 indes keineswegs so überzeugend, wie sie numerisch schienen, denn in einer Reihe von Städten der SBZ hatten die beiden bürgerlichen Parteien CDU und LDP zusammen absolute Mehr-
353 Die Wahlergebnisse, auf welche die vorliegende Darstellung abhebt, sind detailliert dokumentiert bei Günter Braun, Wahlen und Abstimmungen, in: Broszat, Martin / Weber, Hermann (Hrsg.): SBZ-Handbuch, München 1990, S. 381 ff.
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heit erzielt – so in Dresden, Erfurt, Halle, Jena, Leipzig, Plauen und Zwickau. Umgekehrt waren die Erfolge der SED in ländlichen Gemeinden nur auf den Umstand zurückzuführen, dass dort vielfach von den zuständigen Militärkommandanturen der sowjetischen Besatzungsmacht allein Kandidatenlisten der SED zugelassen, die Lizenzierungen der Kandidatenlisten der CDU und der LDP aber bewusst verzögert worden waren. Ein anderes Manöver bestand darin, dass neben den Kandidaten der drei zu diesem Zeitpunkt existierenden Parteien SED, CDU und LDP auch solche der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe, des Kulturbundes und der Demokratischen Frauenausschüsse zur Wahl zuzulassen. Da die Kandidaten dieser sogenannten Massenorganisationen im Regelfall eingeschriebene Mitglieder der SED waren, spiegelte die Zusammensetzung der Gemeindeparlamente schon eine politisch verfälschte Konstellation wider. Weitaus nachhaltiger noch sollte die SED von den Ergebnissen der ersten Landtagswahlen in der SBZ traumatisiert werden, denn die gingen am 20. Oktober 1946 für sie noch negativer aus als die Gemeindewahlen. Ihrem absoluten Verlust von 406.000 Stimmen im Vergleich zu dem Ergebnis der Gemeindewahlen stand ein absoluter Gewinn von CDU und LDP von zusammen über 1.286.000 Stimmen gegenüber. Von den insgesamt 520 Mandaten in den fünf Landtagen der SBZ entfielen 249 auf die SED und 16 auf die von ihr gesteuerten Massenorganisationen gegenüber 245 für CDU und LDP zusammen.354 Dabei hatten sich die Liberal-Demokraten in Sachsen-Anhalt sogar selber noch um ein Landtagsmandat gebracht. Für den Landtag in Halle (Saale) waren 110 Sitze vorgesehen. Da aber die LDP nicht damit gerechnet hatte, dass ihr über die Provinzliste eine bedeutende Anzahl von Mandaten zufallen würde, hatte sie nur vier Kandidaten registrieren lassen, aber über die Provinzliste fünf Mandate errungen. Den Versuch, nachträglich das fünfte Mandat mit einem LDP-Kandidaten aus den Wahlbezirken zu besetzen, wies die SMA zurück.355 Der Sowjetischen Militäradministration war die bürgerliche Mehrheit im Landtag ohnehin ein Ärgernis. Wie sollte sie da Entgegenkommen zeigen? Die Führung der SED schockierte das Ergebnis der Landtagswahlen umso nachhaltiger, weil die gleichzeitig in allen vier Sektoren Berlins durchgeführten Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung und zu den Bezirksverordnetenversammlungen der Partei eine schwere Niederlage eintrugen. Die politische Bedeutung der Berliner Wahlen vom 20. Oktober 1946 bestand darin, dass auf Grund des geltenden Vier-Mächte-Status nicht nur die SED in allen vier Sektoren zur Wahl zugelassen war, sondern umgekehrt die SPD auch im Ostsektor, wo sie trotz der Zwangsvereinigung neben der SED legal fortbestand, wenn auch unter extrem schwierigen Bedingungen. Im Ergebnis entfielen von 130 Mandaten der Berliner Stadtverordnetenversammlung nur 26 auf die SED. Sie war auf den dritten Platz verwiesen. Selbst im Ostsektor, wo sie die ungenierte Unterstützung durch die sowjetische Besatzungsmacht erfahren hatte, wurde die SED von der SPD überflügelt. Es waren diese Erfahrungen aus den ersten Nachkriegswahlen in der SBZ, die der Führung der SED als „bleibende Lehre“ die Überzeugung einbrannten, sich nie 354 Koch, Manfred: Landtage, in: Ebd., S. 330. 355 Ebd.
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mehr einer freien Wahl in ihrem Herrschaftsbereich zu stellen. Das Risiko schien zu hoch. Als 1949 die Gründung der DDR historische Realität werden sollte, hatten sich die politischen Rahmenbedingungen in der SBZ bereits entscheidend verändert. Zielbewusst ging die SED dazu über, den politischen Druck auf die CDU und LDP in der SBZ zu verstärken und deren Eigenständigkeit in den parlamentarischen Körperschaften durch stärkere Einbindung in den Antifa-Block zu paralysieren. Die politische Gleichschaltung der beiden bürgerlichen Parteien und deren personelle Säuberung von „reaktionären Elementen“ wurden 1948 zudem flankiert durch die von der SED manipulierte Gründung zweier neuer Blockparteien, der National-Demokratischen Partei Deutschlands (NDPD) und der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD), denen die Aufgabe zugedacht war, die Wählerschaft im bürgerlichen Lager zu spalten und dieses im Hinblick auf die 1948 fälligen Landtagswahlen zu zernieren. Einheitslistenwahl als politischer Testfall. Während einerseits die SED mit ihrer Politik der Machteroberung in der SBZ wesentlich zur Vertiefung der Spaltung Deutschlands beitrug, entfachte sie andererseits eine sogenannte Volksbewegung für Einheit und gerechten Frieden, eine Variante kommunistischer Volksfrontpolitik, die der Partei gleichsam als nationales Alibi diente. Nachdem am 6./7. Dezember 1947 und am 17./18. März 1948 bereits zwei „Volkskongresse für Einheit und gerechten Frieden“ in der Regie der SED in Ost-Berlin als gesamtdeutsche Propagandaforen inszeniert worden waren, wurde für den 29./30. Mai 1949 ein weiterer Volkskongress nach Ost-Berlin einberufen. Dieser 3. Deutsche Volkskongress erlangte für die Diktatur-Geschichte in der SBZ insofern besondere Bedeutung, als den Delegierten durch allgemeine Wahlen zu politischer Schein-Legitimation verholfen werden sollte, ohne dass die SED das Wagnis eines demokratischen Votums eingehen musste. Sie löste das Problem durch erstmals in der SBZ durchgeführte Einheitslistenwahlen. Diese Wahlen wurden an zwei Tagen abgehalten, am 15. Mai und 16. Mai 1949. Ihre von vornherein gegebene Fragwürdigkeit gründete darin, dass die Parteien und einige Massenorganisationen in der SBZ, nämlich der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB), die Freie Deutsche Jugend (FDJ) und der Demokratische Frauenbund Deutschlands(DFD), ihre Kandidaten auf einer Einheitsliste aufzustellen hatten. Die Wählerinnen und Wähler konnten folglich mit ihrer Stimme auf die Zusammensetzung des Volkskongresses keinen Einfluss nehmen, weil sie sich nur mit Ja oder Nein zur Einheitsliste aller Kandidaten entscheiden durften. Und deren Zusammensetzung war vorausbestimmt und nicht mehr zu verändern. Darüber hinaus war die Stimmabgabe mit einer Art Plebiszit verbunden. Jeder Stimmzettel enthielt außer der Kandidatenliste vorgedruckt das Bekenntnis: „Ich bin für die Einheit
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Deutschlands und einen gerechten Friedensvertrag. Ich stimme darum für die nachstehende Kandidatenliste zum Dritten Deutschen Volkskongress“.356 Das Wahlvolk sollte düpiert werden. Ein Boykott der Stimmabgabe schien mit einer Absage an die Einheit Deutschlands und den Frieden belastet.357 Trotz aller Manipulation und trotz vielfältiger Pressionen fiel das Ergebnis der Volkskongress-Wahlen für die SED enttäuschend aus. Bei einer Wahlbeteiligung von 95,2 Prozent lauteten 66,1 Prozent der gültigen Stimmen auf Ja, 33,9 Prozent entfielen auf Nein. In Ost-Berlin wurden sogar nur zu 47,1 Prozent Ja-Stimmen abgegeben. Als politischen Erfolg konnte die SED das Ergebnis der VolkskongressWahlen kaum verbuchen. Der Sachverhalt wog umso schwerer, als das Ergebnis erst nach massiver Wahlfälschung zustande gekommen war. Als sich am späten Abend des ersten Wahltages erwies, dass ein großer Teil der Wählerschaft am 15. Mai nicht mit Ja gestimmt, sondern ungültige Stimmzettel abgegeben hatte, griff die Deutsche Verwaltung des Inneren im Zusammenwirken mit den Innenministern der Länder in der SBZ in den Wahlverlauf ein. In gleichlautenden Fernschreiben an die Chefs der Landespolizeibehörden in Brandenburg, Mecklenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zur Weiterleitung an die Innenminister der Länder traf Kurt Fischer, damals der Chef der DVdI, eine folgenschwere, bezeichnende Anordnung: „Es gibt Mitteilungen, nach denen die Wahlausschüsse in Ortschaften sich an die Instruktionen des RIAS und anderer feindlicher Sender gehalten haben und eine Auszählung der Stimmen vornehmen, die eine unverhältnismäßig hohe Anzahl von ungültigen Stimmzetteln ergibt. Sie werden ersucht, die Wahlausschüsse besonders auf diesen Unfug aufmerksam zu machen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen“.358 Und so geschah es. Zum Beispiel veranlasste der Innenminister von SachsenAnhalt, Robert Siewert, am 16. Mai 1949 durch Fernschreiben an alle Wahlausschüsse, sämtliche Wahlergebnisse wegen einer „unverhältnismäßig hohen Anzahl angeblich ungültiger Stimmen“ zu überprüfen.359 Überprüfen hieß hier fälschen. Im Einzelnen ordnete Siewert an, Stimmzettel, die ohne Kennzeichnung in die Wahlurne geworfen wurden, als Ja-Stimmen zu werten. „Der Wähler gab mit der einfachen Abgabe des Stimmzettels ohne Kennzeichnung klar zu erkennen, dass er das groß gedruckte ‚Ja‘ des Stimmzettels als den Ausdruck seines Willens betrachtet“. Zum anderen hatten Stimmzettel, die außerhalb der Kreise angekreuzt waren, ebenfalls als Ja-Stimmen zu gelten. „Der Wähler gibt damit seine Zustimmung zur Kandidatenliste und zum ‚Ja‘ zu erkennen. Bei Ablehnung hätte er zweifelsohne das Zeichen der Verneinung in den ‚Nein-Kreis‘ eingezeichnet“. Drittens hätte der 356 Amos, Heike: Die Entstehung der Verfassung in der Sowjetischen Besatzungszone/DDR 19461949, Münster 2006, S. 298. 357 Fricke, Karl Wilhelm: Opposition und Widerstand in der DDR. Ein politischer Report, Köln 1984, S. 63. 358 Unrecht als System. Dokumente über planmäßige Rechtsverletzungen im sowjetischen Besatzungsgebiet, Hrsg.: Bundesinnenministerium für gesamtdeutsche Fragen, Bonn 1952, Dok. 200, S. 174. 359 Ebd., Dok. 202, S. 175. Das Folgende ebd.
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Wähler „das auf dem Stimmzettel aufgedruckte ‚Ja‘ als seine Willensäußerung bekräftigt, wenn er auf eine andere Art sein Zeichen auf den Stimmzettel angebracht“ habe, „ohne den ‚Nein-Kreis‘ ausdrücklich anzuzeichnen“. Schließlich sollten alle Stimmzettel mit handschriftlichen Bemerkungen, „z. B. ‚für die Heimat, für Einheit, für den gerechten Frieden, für Freiheit‘ usw.“, als „gültige Ja-Stimmen“ gewertet werden. Aufgrund dieser Anordnung waren die nach dem ersten Wahltag bereits ausgezählten Stimmen „auf derartige Fehler zu überprüfen und zu korrigieren“.360 Im Herrschaftsbereich der SED war die erste umfassende Wahlfälschung Ereignis geworden, denn entsprechende Anordnungen wie in Sachsen-Anhalt waren auch in den anderen Länder der SBZ zu befolgen. Eine Rede Ulbrichts wenige Wochen nach den Wahlen erlaubte Rückschlüsse darauf, wie die SED fortan mit der CDU und der LDP in der SBZ umzugehen gedachte. Auf einer Funktionärskonferenz am 7. Juli 1949 überschüttete er die beiden bürgerlichen Blockparteien mit Vorwürfen und Drohungen. „Wir haben die Tatsache, daß verantwortliche Funktionäre der bürgerlichen Parteien aktiv gegen die Wahlen zum Volkskongress aufgetreten sind“, schwadronierte er. „Man kann sagen, dass in den Orten, wo CDU und LDP die Mehrheit besitzen, die höchste Zahl von Nein-Stimmen zu verzeichnen ist, so in der Stadt Plauen 60,2 Prozent, in Plauen-Land 58,8 Prozent, im Landkreis Teltow 45,3 Prozent, im Stadtkreis Apolda 52,9 Prozent. Das sind nur einige Beispiele aus solchen Städten und Kreisen, wo eine CDU- und LDP-Mehrheit vorhanden ist und diese Parteien besonders starken Einfluss besitzen“.361 Als der 3. Volkskongress am 29./30. Mai 1949 in Ost-Berlin tagte, wählte er aus seiner Mitte den Deutschen Volksrat in neuer Zusammensetzung, bestehend aus 330 Abgeordneten, von denen 120 von der SED und weitere 60 von den von ihr gesteuerten Massenorganisationen gestellt wurden; die übrigen 150 verteilten sich auf die vier Blockparteien, und zwar je 45 auf die CDU und die LDP sowie je 30 auf NDPD und DBD, sodass eine „bürgerliche Mehrheit“ bereits grundsätzlich ausgeschlossen war. Die SED und ihre Satelliten-Organisationen konnten nicht mehr überstimmt werden. Das war insofern ein politisch wichtiges Moment, als sich der Deutsche Volksrat am 7. Oktober 1949 als Provisorische Volkskammer konstituierte, um unter der Ägide der SMAD die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik durch Verabschiedung und Inkraftsetzung ihres 1948/49 erarbeiteten Entwurfs zur DDR-Verfassung zu vollziehen. Die Einflussmöglichkeiten von CDU und LDP waren zur diesem Zeitpunkt bereits so weit verkümmert, dass sie nicht mehr die politische Kraft fanden, sich dieser Entwicklung erfolgreich entgegenzustemmen. Die SED aber sollte ihre bis dahin gesammelten Erfahrungen so nachhaltig verinnerlichen, dass sie Wahlen zur Volkskammer „in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl nach den
360 Ebd. 361 Ulbricht, Walter: Die Organisationsarbeit der SED, Berlin (-Ost) 1949, S. 8.
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Grundsätzen des Verhältniswahlrechtes“ gemäß Artikel 51 der Verfassung362 nie mehr tolerierte. Weder im Vorfeld der DDR-Gründung noch danach. Eine Zeitlang konnte die SED die beiden bürgerlichen Parteien zwar noch mit dem Versprechen späterer Wahlen nach dem Verhältniswahlrecht hinhalten, aber sie dachte nie daran, diese Zusage zu halten. Nachdem ursprünglich die bereits im Herbst 1948 fällig gewesenen Gemeindewahlen auf den Termin der im Herbst 1949 erwarteten Landtagswahlen verlegt worden waren, wurden die mitteldeutschen Landtage genötigt, ihre auslaufende Wahlperiode um ein Jahr zu verlängern, damit Neuwahlen gemeinsam mit den Wahlen zur Volkskammer und den Wahlen zu den Kreistagen und Gemeindevertretungen an dem durch die Volkskammer gesetzlich festzulegenden Wahltermin am 15. Oktober 1950 durchgeführt würden. In ihrem Horror vor einer freien Wählerentscheidung bedeutete Zeitaufschub für die SED unter den gegebenen Umständen bereits einen taktischen Gewinn. Noch schien es ihr nicht opportun, den beiden bürgerlichen Parteien offen einzugestehen, was längst beschlossene Sache war – dass nämlich Wahlen mit getrennten Kandidatenlisten für die SED überhaupt nicht in Frage kämen. CDU und LDP wurden damals bewusst getäuscht, wie Zeitzeugen bestätigt haben, unter ihnen der ehemalige Vizepräsident des Brandenburgischen Landtags, Germanus Theiß (CDU): „Als im Oktober 1949 die Landtage ihre Legislaturperiode verlängern sollten, waren meine Freunde und ich zunächst dagegen, weil dies verfassungswidrig war“, bekundete er nach seiner Flucht nach West-Berlin. Selbst von sowjetischen Offizieren wurde Druck ausgeübt, schließlich auch von Otto Nuschke, verbunden mit der Erklärung, „daß die Verlängerung der Legislaturperiode nur deshalb erfolge, um ein Jahr später, am 15. Oktober 1950, allgemeine, freie, demokratische Wahlen durchzuführen, bei denen die Parteien eigene Listen aufstellen können. Unter diesen Voraussetzungen haben wir zugestimmt“.363 Wer opponiert, wird ausgeschaltet. Neben Täuschungen, Lockungen und Versprechungen setzte die SED auch Justizterror ein, um ihr Wahlziel zu erreichen. Wie sie ihr Dilemma lösen wollte, wurde klar, als die Provisorische Volkskammer am 9. August 1950 ein Wahlgesetz zu beschließen hatte. Auf einer internen Besprechung in Ost-Berlin am Abend des 7. August machte Günter Stempel, seinerzeit Generalsekretär der LDP, kein Hehl aus seiner Entschlossenheit, den seiner Auffassung nach inakzeptablen Gesetzentwurf abzulehnen. Er wollte im Plenum offen dagegen plädieren. „Einer der Sitzungsteilnehmer informierte noch in der Nacht sowjetische Stellen. Am Morgen des 8. August 1950 wurde Stempel unmittelbar
362 Die zweite Verfassung der DDR v. 6.4.1968 enthielt eine vergleichbare Bestimmung nicht mehr. Gemäß Art. 54 sollten die Volkskammerabgeordneten „in freier, allgemeiner, gleicher und geheimer Wahl gewählt“ werden. 363 Aussage Germanus Theiß, in: Unrecht (Anm. 6), Dok. 209, S. 177.
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vor dem Haus der LDP in der Taubenstraße in seinem Dienstwagen von Mitarbeitern der Staatssicherheit und sowjetischen Offizieren festgenommen. […] Das Wahlgesetz wurde ohne Gegenstimmen angenommen“.364 Auch die Festnahme des Staatssekretärs im DDR-Justizministerium, Helmut Brandt, am 6. September 1950 durch Offiziere des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) stand nicht zufällig im zeitlichen Kontext zu den Wahlen. Zwar war sie hauptsächlich durch seine in das Kabinett Otto Grotewohl hineingetragene massive Kritik an der eklatanten Missachtung elementarer Rechtsgrundsätze in den „Waldheimer Prozessen“ zurückzuführen, aber unstrittig ist auch sein öffentliches Eintreten für die Durchführung von Wahlen nach getrennten Listen, das nicht losgelöst von seiner Inhaftierung zu sehen war.365 Es waren fatale Auspizien, unter denen am 15. Oktober 1950 republikweit die ersten Wahlen zur Volkskammer stattfanden, gemeinsam mit Wahlen zu den Landtagen, Kreistagen, Stadtverordnetenversammlungen und Gemeindevertretungen. Dem Wahlvolk wurde eine Kandidaten-Einheitsliste der Nationalen Front zu alternativloser Zustimmung präsentiert. Da die Verteilung der Mandate in den Volksvertretungen aller Ebenen auf die seit Gründung der DDR unter Führung der SED in der Nationalen Front zusammengeschlossenen Blockparteien und Massenorganisationen nach einem vor der Wahl festgelegten Schlüssel erfolgt war, besaßen die Wählerinnen und Wähler von Anfang an keinerlei Einfluss auf die politische Zusammensetzung der zu „wählenden“ Vertretungskörperschaften. Von vornherein hatte sich die SED zusammen mit den von ihr kontrollierten Massenorganisationen die absolute Mehrheit der Mandate gesichert. Die SED brauchte insoweit nie eine parlamentarische Opposition zu fürchten – weder in der Volkskammer noch in den Landtagen bzw. später, seit 1952, in den Bezirkstagen, noch in den Kreistagen und Gemeinderäten. Die SED hatte nicht nur real die Macht inne – sie besaß auch formal die Mehrheit in den Parlamenten und konnte ihre Politik „legal“ durchsetzen. Zu den Herrschaftsmechanismen, mit denen die „Volkswahlen“ – so die von der SED verordnete Sprachregelung – organisiert wurden, zählten die kollektive Teilnahme und die offene Stimmabgabe. Vielfach zogen am Tag der Wahl Hausgemeinschaften, Schulkollegien, Betriebsdelegationen und ähnliche Gruppierungen gemeinsam zum Wahllokal, oft mit Fahne und Musik. Die auf diese Weise ausgeübte gesellschaftliche Kontrolle sollte eine hohe Wahlbeteiligung bewirken. Wer nicht zur Wahl ging, war verdächtig. Wahlenthaltungen war gleichbedeutend mit staatsfeindlicher Haltung. Generell wurde den Wählerinnen und Wählern außerdem die offene Stimmabgabe abgenötigt. Wer im Wahllokal zwecks geheimer Stimmabgabe eine Wahlkabine aufsuchte, – manchmal war nicht einmal die vorhanden –, der riskierte ein politisches Spießrutenlaufen. „Beim Betreten des Wahllokales in Barleben, Gasthof zur Linde, erhielt man den Stimmschein ausgehändigt und der Name des Wählers wurde dabei 364 Tuchel, Johannes / Stempel, Günter, in: Fricke, Karl Wilhelm u. a. (Hrsg.): Opposition und Widerstand in der DDR. Politische Lebensbilder, München 2002, S. 63. 365 Wentker, Hermann: Ein deutsch-deutsches Schicksal. Der CDU-Politiker Helmut Brandt zwischen Anpassung und Widerstand, in: VfZ 49, 2001, S. 465 ff.
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laut gerufen. Die Wähler traten nach Erhalt des Stimmscheines im Wahllokal in Schlange an und steckten ihre Stimmzettel offen und nicht gefaltet in den Schlitz der Urne. Fragte nun doch einmal einer, ob er nicht eine Wahlkabine benutzen durfte, so wurde er auf eine im Lokal befindliche Kabine hingewiesen und es wurde ihm erklärt, er könne selbstverständlich diese Kabine benutzen, dürfe aber dann den Stimmzettel nicht ungebrochen, sondern nur zusammengefaltet abgeben. Vor der Kabine stand ein FDJ’ler im blauen Hemd, dessen Aufgabe darin bestand, sich die Namen der wenigen, die sich getrauten, die Kabine zu benutzen, genau zu merken“.366 Ein für die damalige Situation durchaus charakteristischer Zeitzeugenbericht. Das auf über 99 Prozent der Ja-Stimmen bezifferte amtliche Ergebnis der „Volkswahlen“ war nicht zuletzt aus dieser Vorgehensweise zu erklären. Widerstand gegen Einheitslistenwahlen. Vor diesem Hintergrund konnte nicht ausbleiben, dass sich in der DDR frühzeitig Protest und Widerstand gegen die Nötigung zur Einheitslistenwahl zu regen begannen. Namentlich im Vorfeld des 15. Oktober 1950 fand die Forderung nach freien Wahlen in „illegalen“ Aktionen ihren demonstrativen Ausdruck. In zahlreichen Städten und Gemeinden wurden nachts einschlägige Losungen auf Hauswände und Mauern gemalt oder Flugblätter, teils selbst gefertigt, teils aus West-Berlin beschafft, verteilt. Wen Staatssicherheitsdienst oder Volkspolizei dabei fassen konnten, der hatte harte Freiheitsstrafen zu gewärtigen. Exemplarisch dafür war das Handeln von sechs Oberschülern höherer Klassen der John-Brinckman-Schule in Güstrow, übrigens alle Mitglieder der LDP, die sich in den Wochen vor den Wahlen zu einer Widerstandsgruppe zusammengeschlossen und eine Flugblattaktion in ihrer Heimatstadt durchgeführt hatten. In der Nacht vom 15. zum 16. September 1950 wurden zwei von ihnen, der damals 17-jährige Enno Henke und der 19-jährige Peter Moeller, von einer VP-Doppelstreife festgenommen. Binnen Stunden fanden sich auch die übrigen Mitglieder hinter Gittern. Nur zwölf Tage später, am 27. September, wurde gegen sie ein Schauprozess vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Schwerin im Tanzsaal eines Güstrower Hotels inszeniert. Wegen Boykotthetze nach Artikel 6 der DDR-Verfassung und Kontrollratsdirektive Nr. 38 wurden verurteilt: Enno Henke zu 10 Jahren Jugendgefängnis, Peter Moeller zu 15 Jahren Zuchthaus. Sechs Mitangeklagte, darunter zwei Mitwisser, trugen Strafen zwischen fünf und 15 Jahren davon. Der letzte von ihnen kehrte am 5. April 1957 aus der Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden in die Freiheit zurück. „Als sich im Sommer 1950 eindeutig zeigte“, so Peter Moeller später zu ihrer Motivation, „dass die Wahlen am 15. Oktober 1950 nicht mehr wie zugesichert als Listenwahlen, sondern unter dem Mantel der Nationalen Front als Blockwahlen mit einer Einheitsliste durchgeführt werden würden, nahmen wir
366 Aussage Hermann Hieke, zit.: Unrecht (Anm. 6), Dok. 208, S. 178.
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Flugblätter von Westberlin mit nach Güstrow. ‚Freiheit durch freie Wahlen in Ost und West‘, so lautete der Text“.367 Ähnliche Strafprozesse wegen Widerstands gegen die Einheitslisten-Wahlen fanden 1950/51 vor den Landgerichten in Eberswalde, Potsdam, Schwerin und Zwickau statt. Die Protest- und Widerstandsaktionen waren immerhin so relevant, dass sie selbst in offiziellen DDR-Publikationen nicht ignoriert werden konnten. „Der Gegner“, so war in einer vom Staatsverlag editierten Chronik unter dem 15. Oktober 1950 vermerkt, „richtet seine ideologischen Angriffe vor allem gegen die gemeinsame Liste. Zugleich versucht er, durch Flugblätter und Hetzschriften bestimmte Bevölkerungsgruppen zu verwirren. Kandidaten wurden aufgefordert, ihre Kandidatur zurückzuziehen. In Schönebeck kleben Agenten Plakate mit Losungen des ‚SPD-Ostbüros‘ und verbreiten Handzettel antidemokratischen Inhalts. In einer Gemeinde im Kreis Westhavelland wird in der Nacht vom 5. September 1950 die Sichtwerbung [der Nationalen Front] zerstört, und in Bad Saarow, Handelsberg und Spreenhagen beschmieren reaktionäre Kräfte Aufklärungs- und Bekanntmachungstafeln. Der Gegner schreckt auch vor Sabotage- und Terrorakten nicht zurück. Er trachtet danach, die Wahlhandlung zu desorganisieren“.368 Aufsehen über die Grenzen der DDR hinaus erregte die Verurteilung des damals 18-jährigen Oberschüler Hermann Joseph Flade, der in erster Instanz mit dem Tode bestraft wurde.369 Flade hatte in seiner Heimatstadt Olbernhau/Erzgebirge in den Tagen vor der Wahl selbstverfasste Flugblätter verteilt. Zweimal, am 10. und am 14. Oktober 1950, waren sie an Haustüren, Laternenmasten und Mauern im Schutze der Dunkelheit angebracht worden. Es waren einfach, mit Hilfe eines Schüler-Druckkastens hergestellte Flugblätter, Proteste gegen den „Wahlbetrug“ am 15. Oktober. Während bei der ersten Aktion verborgen geblieben war, wer sie durchgeführt hatte, war Flade am späten Abend des 14. Oktober einer Doppelstreife der Volkspolizei in die Arme gelaufen. Als sie ihn stellen wollte, wehrte er sich, zückte ein Klappmesser und brachte dem Volkspolizisten in einem kurzen Handgemenge mehrere Stiche am linken Oberarm und im Rücken bei, allerdings ohne lebensgefährliche Verletzung oder gar Tötungsabsicht. Zwar konnte sich Flade der Festnahme vorerst noch entziehen, wurde aber am Nachmittag des 16. Oktober festgenommen. Das Regime war unklug genug, den jungen Widerständler in einem Schauprozess in Olbernhau anzuklagen. „Den Anstoß meiner Arbeit der Flugblätter bildete die Wahl selber“, erklärte er sein Handeln laut Verhandlungsprotokoll. „Ich sagte mir, bei einer Wahl müsste auch eine andere Stimme gehört werden. Da ich das nicht offen machen konnte, weil ich von der Schule fliegen würde, musste ich das 367 Moeller, Peter: „[...] sie waren noch Schüler“. Repressalien – Widerstand – Verfolgung an der John-Brinckman-Schule in Güstrow 1945-1955, 3. Aufl., Dannenberg 2004, S. 26. 368 Schöneburg, Karl Heinz: Vom Werden unseres Staates. Eine Chronik, Bd. 2, Berlin (-Ost) 1968, S. 149. 369 Flade, Hermann, Joseph (1932-1980). Karl Wilhelm Fricke: „Überzeugt von seiner gerechten Sache“, in: Sächsische Justizgeschichte, Hrsg.: Sächsisches Staatsministerium der Justiz, Bd. 8, Dresden 1998, S. 139 ff.
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nachts im Geheimen tun“.370 Die 22. Strafkammer des Landgerichts Dresden verurteilte ihn am 10. Januar 1951 wegen Boykotthetze in Tateinheit mit militaristischer Propaganda, versuchten Mordes und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte zum Tode. Als sich die Empörung über dieses Urteil mit ungeheuerer Vehemenz entlud, sah sich das Oberlandesgericht Dresden am 29. Januar 1951 gezwungen, das Todesurteil im Revisionsverfahren in 15 Jahre Zuchthaus umzuwandeln. Fast auf den Tag genau musste Flade zehn Jahre davon in sächsischen Zuchthäusern verbüßen. Statt abschreckend zu wirken, provozierte das Urteil neue Protest- und Widerstandsaktionen gegen die Wahlen wie in der sächsischen Kreisstadt Werdau. Auch hier fanden sich ähnlich wie in Güstrow im Spätsommer 1950 Oberschülerinnen und Oberschüler zu einer Widerstandsgruppe zusammen. Sie hatten sich die Flugblattaktion von Hans und Sophie Scholl zum Vorbild genommen. 19 von ihnen wurden verhaftet und am 4. Oktober 1951 von der 1. Großen Strafkammer des Landgerichts Zwickau zu Zuchthausstrafen bis zu 15 Jahren verurteilt. „Unsere Aktionen waren weder kriminell noch faschistisch oder terroristisch“, berichtete Achim Beyer, einer aus der Gruppe, 1997 in Bautzen; er selbst erhielt seinerzeit acht Jahre Zuchthaus zudiktiert. „Wir haben Flugblätter selbst entworfen, hergestellt, verteilt und geklebt, insbesondere gegen die so genannte Volkskammer-Wahl 1950, haben gegen das Todesurteil im Fall des Oberschülers Hermann Joseph Flade protestiert und zum Widerstand gegen das SED-Regime aufgerufen“.371 Im Original ist kein einziges der verteilten Flugblätter mehr erhalten, aber der authentische Text ist mehrfach dokumentiert – in polizeilichen Fundberichten, in Stasi-Vernehmungsprotokollen und nicht zuletzt in der schriftlichen Begründung des gegen die Schülerinnen und Schüler ergangenen Urteils. Der Wortlaut: „Wir alle sehnen uns nach Frieden, nach der Einheit Deutschlands in Freiheit – Weg mit den Volksverrätern, wählt mit NEIN!“372 Selbst freimütig, offen geäußerte Kritik an den „Volkswahlen“ konnte strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Ein auf zehn Jahre Zuchthaus lautendes Urteil des Landgerichts Eberswalde vom 23. Februar 1951 erging gegen den Bücherrevisor Hans Klette, weil er in einer Wahlversammlung die Auffassung vertreten hatte, „daß die Wahl schon fertig ist und der 15. Oktober nur noch eine Farce bedeutet“. Die Begründung des Gerichts: „Die Äußerungen des Angeklagten über die Wahl sind erfundene tendenziöse Gerüchte, da sie jeder Grundlage entbehren“.373 Als das Wahlergebnis vom 15. Oktober 1950 ausgewiesen wurde – 99,7 Stimmen für die Einheitsliste der Nationalen Front bei einer Wahlbeteiligung von 98,5 370 Ebd., S. 145. 371 Statement Achim Beyer, in: FES Büro Leipzig (Hrsg.): Zivilcourage und Demokratie. Vergangenheitsbewältigung ist Zukunftsgestaltung, Leipzig 1997, S. 51. 372 Achim Beyer, Urteil: 130 Jahre Zuchthaus. Jugendwiderstand in der DDR und der Prozess gegen die „Werdauer Oberschüler“ 1951, 3. Aufl., Leipzig 2008, S. 29. 373 Urteil des Landgerichts Eberswalde v. 23.2.1951: Fricke, Karl Wilhelm: Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945-1968, Köln 1979, S. 243.
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Prozent und 0,1 Prozent ungültigen Stimmen – konnte das niemanden überraschen. Es entbehrte allerdings jeglicher Glaubwürdigkeit. Die Macht war ohne Mandat, die aus dem Wahlergebnis hergeleitet wurde. Wenn es politisch überhaupt etwas auszusagen vermochte, ließ es allenfalls die Fähigkeit der SED zur Massenmobilisierung und -disziplinierung ermessen. Sonst nichts. Die Weigerung der Herrschenden, sich in der DDR Wahlen mit der Möglichkeit einer alternativen Entscheidung zu stellen, dauerte bekanntermaßen bis zur Endzeit der SED Diktatur. Es blieb bei der Einheitsliste. Die Wahlhandlung erschöpfte sich in der Abgabe eines gefalteten Stimmzettels. „Falten gehen“ hieß die Prozedur im Volksmund.374 Erst als im Zuge der friedlichen Revolution der Führungsanspruch der „marxistisch-leninistischen Partei“ durch Gesetz aus Artikel 1 der Verfassung entfernt worden war,375 hatte sich mit der Perspektive auf eine demokratische Wahl die Chance eröffnet, der DDR ihren politischen Geburtsmakel zu nehmen. Vor dem Sturz Erich Honeckers war er nicht zu heilen gewesen. Einem Treppenwitz der Politik glich es freilich, als Egon Krenz, Generalsekretär des ZK der SED für sieben Wochen, 1989 auf dem 10. Plenum des Zentralkomitees für „ein neues Wahlgesetz“ eintrat, „das eine freie, allgemeine, demokratische und geheime Wahl gewährleistet“.376 Die Skrupellosigkeit und die Brutalität, mit denen das Einfordern freier Wahlen 1949/50 wie in den folgenden Jahrzehnten von der SED unterdrückt wurde, sind unvergessen. Der Gründungsmythos der DDR wird bis heute davon überschattet.377
374 Kloth, Hans Michael: Vom „Zettelfalten“ zu freien Wahlen. Die Demokratisierung der DDR 1989/90 und die „Wahlfrage“, Berlin 2000. 375 Gesetz zur Änderung der Verfassung der DDR v. 1.12.1989, GBI. DDR I, S. 205. 376 Krenz, Egon: Referat auf der 10. Tagung des ZK der SED, 8.11.1989, in: ZK der SED (Hrsg.): Schritte zur Erneuerung, Berlin (-Ost) 1989, S. 34. 377 Fricke, Karl Wilhelm: Der Geburtsmakel der DDR, in: Deutschland Archiv, 42, Heft 3, 2009, S. 406-413. Bundesministerium der Justiz: Im Namen des Volkes? Über die Justiz im Staat der SED. Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung des Bundesministeriums der Justiz, Leipzig 1994.
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6.2. Die ersten freien Wahlen in der SBZ / DDR am 18. März 1990: Legitimation für die Wiedervereinigung Von Dieter Grosser Der Erfolg der „Allianz für Deutschland“ bei der Volkskammerwahl vom 18. März kam für viele Beobachter überraschend. Noch vier Wochen vor der Wahl wollten 48 % der DDR-Wähler SPD und 21 % Allianz wählen.378 Im Wahlkampf zog dann die Allianz an der SPD vorbei, die Kräfteverhältnisse kehrten sich um: Die Allianz erreichte 48 % der Stimmen, die SPD 21,9 %. Weniger überraschend war für aufmerksame Beobachter das schlechte Abschneiden der aus der Bürgerrechtsbewegung hervorgegangenen, jetzt überwiegend im Bündnis 90 zusammengeschlossenen Gruppen. Rückhalt in breiten Schichten der Bevölkerung hatten diese Gruppen nur gehabt, solange sie gegen die SED-Herrschaft ankämpften. Als der SED-Staat zerbrach, vermochten sie keine politische Perspektive zu zeigen, die mit dem westdeutschen Modell konkurrieren konnte. Außerdem verfügten sie über keine schlagkräftige Organisation und erhielten auch wenig westdeutsche Unterstützung. Leicht zu erklären war das relativ gute Abschneiden der PDS. Sie profilierte sich als Anwalt aller Gruppen, die im SED-Staat privilegiert gewesen waren, konnte die Spannungen zwischen sozialistischen Reformen und unbelehrbaren Anhängern des zerbrochenen System überdecken, verfügte nach wie vor über eine starke Organisation und über Geld. Ergebnis der Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 (in %)
Allianz für Deutschland davon: Christlich Demokratische Union (CDU) Deutsche Soziale Union (DSU) Demokratischer Aufbruch (DA) Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) Bund Freier Demokraten-Liberale (BFD) Bündnis 90 Demokratische Bauernpartei Deutschlands DBD) Grüne-Unabhängiger Frauenverband National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD) Demokratischer Frauenbund Deutschlands (DFD) Aktionsbündnis Vereinigte Linke, Die Nelken (AVL) Sonstige
48,0 40,8 6,3 0,9 21,9 16,4 5,3 2,9 2,2 2,0 0,4 0,3 0,2 0,4
Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistisches Jahrbuch 1990, Stuttgart 1990, S. 641.
378 Noelle-Neumann, Elisabeth: Ein demokratischer Wahlkampf gab den Ausschlag, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.3.1990, Deutschland ‚90, Bd. 39, S. 1381.
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Das Wahlergebnis zeigte, daß die DDR in zwei Lager gespalten war. Etwa drei Viertel der Wähler hatten ihre Stimme den Parteien gegeben, die grundsätzlich für die staatliche Einheit waren. Unterschiede gab es in diesem Lager allenfalls in der Frage, ob die Einheit schnell kommen sollte – wie die Mehrheit der Allianzwähler es wünschte – oder ob, wie zwei Drittel der SPD-Anhänger meinten, man sich dabei Zeit lassen sollte.379 In der Frage, ob die D-Mark bald eingeführt werden sollte, gab es in diesem Lager keine Differenzen: Über 90 % wünschten die unverzügliche Währungsunion. Alle Parteien, die dieses Lager repräsentierten, hatten bereits enge Verbindungen mit westdeutschen Partnern geknüpft. Dieser Dreiviertel-Mehrheit aus Allianz, Liberalen und SPD standen Parteien gegenüber, die die Vereinigung eher mit Skepsis oder sogar Furcht betrachteten und ein Höchstmaß an DDR-spezifischer Eigenständigkeit zu bewahren suchten. In diesem Lager war die PDS mit einem Stimmenanteil von 16,4 % die bei weitem stärkste Kraft. Dazu kamen, weit abgeschlagen, die im Bündnis 90 zusammengeschlossenen Bürgerrechtsbewegungen, die Grünen / Unabhängiger Frauenverband, die Demokratische Bauernpartei Deutschlands sowie einige bedeutungslose Splitterparteien. Aufschlußreich ist, daß auch die meisten Anhänger dieses Lagers die baldige Einführung der D-Mark befürworteten.380 Eine ausführliche Analyse des Wählerverhaltens bei der ersten demokratischen Wahl in der DDR ist hier nicht erforderlich. Notwendig ist aber eine Bewertung der ökonomischen Faktoren, die die Wahlentscheidung beeinflußten. Mancher vom Wahlergebnis enttäuschte Politiker machte es sich zu leicht. Oskar Lafontaine sagte am Abend des Wahltages: „Die Menschen haben den Eindruck gehabt, wenn sie Kohl wählen, dann fließt das Geld“.381 In noch gröberer Form kritisierte Otto Schily, einst prominenter Grüner, nun SPD-Bundestagsabgeordneter, die Wähler der Allianz: Er hob vor den Fernsehkameras eine Banane und erklärte, dies sei das Motiv für die Kohl-Wähler. Wählerbeschimpfungen dieser Art waren unfair gegenüber den Bürgern der DDR, deren Wunsch, in absehbarer Zeit so leben zu können wie Westdeutschen, nur zu verständlich war. Sie entsprachen auch nicht der komplexeren Wirklichkeit. Außer Zweifel steht, daß die Mehrheit der Bürger der DDR die D-Mark wollte, weil die D-Mark das Symbol für Wohlstand wie in Westdeutschland war, und sie jede Hoffnung verloren hatte, eine schnelle Verbesserung des Lebensstandards aus eigener Kraft erreichen zu können. Außer Zweifel steht auch, daß genau aus diesen Gründen das Angebot der Bundesregierung, in der DDR unverzüglich die D-Mark einzuführen und damit einen entscheidenden Schritt zur staatlichen Einheit zu tun, ein wesentlicher Grund für die Trendumkehr im Wahlkampf war: weg von der SPD, hin zur Allianz. Erleichtert wurde die Trendumkehr durch die Besonderheiten des unfertigen Parteiensystems der DDR. Stammwähler wie in etablierten Demokratien gab es 379 Angaben bei Jung, Matthias: Parteiensystem und Wahlen in der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 27/1990. 380 Jung: Ebd., S. 12. 381 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.3.1990, in: Deutschland ‚90, Bd. 39, S. 1514.
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noch nicht. Alles war im Fluß; auf einen sicheren Kern von Wählern konnte allenfalls nun, am Ende ihres Schrumpfungsprozesses, die PDS hoffen. Selbst die Mitglieder waren ihren Parteien in der Regel noch nicht fest verbunden. Der Bekanntheitsgrad der meisten neuen Politiker war gering; auch die neuen Parteien waren vielen Wählern kaum bekannt. Noch am Ende des Wahlkampfs hatten von der Allianz 20 % der Wähler nichts gehört oder konnten die Parteien nicht nennen, die sich in ihr zusammengeschlossen hatten.382 Hinzu kam, daß ein beträchtlicher Teil der Wähler den Medien der DDR immer noch nicht vertraute, dafür aber die Westmedien ernst nahm. Aus diesen Besonderheiten folgte eine extreme Instabilität der Parteipräferenzen und, mindestens bei allen, die an einer selbständigen DDR nicht mehr interessiert waren, eine Orientierung an westdeutschen Parteien und Politikern, sofern diese durch das Fernsehen bekannt waren. Gewiß trug die intensive Wahlkampfhilfe, die die Allianzparteien, die Liberalen und die SPD von ihren westdeutschen „großen Schwestern“ erhielten, dazu bei. Doch sie wäre, so oder so, unausweichlich eingetreten, weil die Wähler der DDR Orientierungen suchten und sie in ihrer Mehrheit eher im Westen als im Osten zu finden glaubten. In dieser Lage mußte der westdeutsche Kanzler zum entscheidenden Faktor im Wahlkampf werden. Er war für das Angebot der D-Mark verantwortlich. Er stand für eine Politik, die stets am Ziel der Wiedervereinigung festgehalten hatte – diese Meinung war auch in der DDR verbreitet.383 Sein Bekanntheitsgrad war höher als der fast aller DDR-Politiker. Ihm gelang es, die Hoffnung auf schnelle Verbesserung der Lebensbedingungen in Ostdeutschland zu personifizieren, ähnlich, wie vier Jahrzehnte zuvor Ludwig Erhard die Hoffnungen der Westdeutschen auf Überwindung der materiellen Not personifiziert hatte. Am Anfang des Wahlkampfs hatten 34 % von Kohl eine gute Meinung, am Ende 44 %, während sich der Anteil seiner Gegner von 56 % auf 40 % verminderte. Viele Wähler der Allianz identifizierten sich mit Kohl, wollten nicht unbedingt CDU-Ost, DSU oder DA wählen, sondern auf dem Umweg über die Allianz dem Bundeskanzler die Stimme geben. Kohls Kritiker warfen ihm vor, Popularität durch unhaltbare Versprechungen erkauft zu haben. Wie schon an seinen Bemerkungen zum Umtausch der Spargelder gezeigt, äußerte Kohl sich aber meist vorsichtiger, als die Kritiker behaupteten. Typisch war die berühmte Bemerkung über das „blühende Land“, das wieder entstehen würde. Zuerst sprach er vom „blühenden Land“ im Bundestag am 8. März: „Ich möchte unseren Landsleuten in der DDR ganz einfach zurufen: Wenn wir in der Bundesrepublik in der Lage waren, im letzten Jahr rund ein Drittel des gesamten Sozialprodukts für Sozialleistungen auszugeben – das sind rund 700 Milli-
382 Noelle-Neumann, Elisabeth: Ein demokratischer Wahlkampf gab den Ausschlag, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.3.1990, Deutschland ‚90, Bd. 39, S. 1381. 383 Noelle-Neumann, Elisabeth: Ebd.
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arden DM – dann wird dies nach einer Übergangszeit – wenn die DDR wieder ein blühendes Land geworden ist – auch dort wieder möglich sein“.384 In Wahlkampfreden formulierte er einfacher; stets aber wies er auf die großen Anstrengungen und Opfer hin, die für den Aufbau im Osten notwendig sein würden. Kohls Überzeugung, daß die gewaltige Aufgabe in gemeinsamer Anstrengung bewältigt werden konnte, kam an. Seine klare, optimistische Botschaft beeindruckte nicht zuletzt die Industriearbeiter, die, enttäuscht von der Realität des Sozialismus, nun in ihrer Mehrheit Allianz wählten.385 Welche Bedeutung der Personalisierung der Politik durch den Kanzler im Wahlkampf zukam, zeigt sich auch am schlechten Abschneiden der Liberalen. Die westdeutsche FDP vertrat das Ziel der Einheit ebenso eindeutig wie die CDU. In ihren Zusagen für den Umtausch der Geldbestände waren Haussmann und Lambsdorff sogar über die vorsichtigeren Formulierungen Kohls hinausgegangen. Von den westdeutschen Liberalen war in der DDR vor allem Genscher bekannt. Die ostdeutschen Liberalen litten unter einem geringen Bekanntheitsgrad ihres Führungspersonals und unter der Zersplitterung in drei Parteien, von denen zwei noch nicht vertraute Namen trugen. Ihre einzige Chance wäre gewesen, den Wahlkampf auf Genscher zu konzentrieren. Doch das wurde versäumt, wohl auch durch Fehler in der westdeutschen FDP-Führung; mindestens warf Genscher dies dem Parteivorsitzenden Lambsdorff vor.386 Ergebnis war, daß nur in Genschers Heimat, in Halle und Umgebung, der „Bund Freier Demokraten“ mit 14 % einen zufriedenstellenden Stimmenanteil erreichte. Nach den hohen Erwartungen zu Beginn des Wahlkampfes war in der ost- wie der westdeutschen SPD die Enttäuschung besonders groß. Nach allen Regeln der Wahlkampfstrategie war die Niederlage aber kein Wunder. In den entscheidenden Fragen waren die Sozialdemokraten in beiden Teilen Deutschlands zerstritten. Den Vorteil, daß Bundestagsabgeordnete der SPD als erste öffentlich die schnelle Währungsunion vorgeschlagen hatten, konnte die West-SPD nicht wirksam ausspielen, weil jeder wußte, daß der stellvertretende Parteivorsitzende und designierte Kanzlerkandidat genau dies abgelehnt hatte und nach wie vor für falsch hielt. Der Eindruck, Lafontaine vertrete eine starke Strömung, die die Einheit nicht wolle, weil sie den westdeutschen Wohlstand gefährde, ließ sich nicht mehr korrigieren. Damit fehlte den Sozialdemokraten aber auch eine überzeugende westdeutsche Führungspersönlichkeit, die eine ähnliche Funktion übernehmen konnte wie Kohl bei der Allianz. Ostdeutsche SPD-Politiker mit hohem Bekanntheitsgrad und hohem Ansehen, die diesen Mangel auch nur annähernd hätten ausgleichen können, gab es nicht. Zudem litt die Ost-SPD immer noch darunter, daß sich so mancher ihrer 384 Verhandlungen des Deutschen Bundestags, 11. Wahlperiode, Stenografischer Bericht der 200. Sitzung am 8.3.1990, S. 15422. 385 Insgesamt entschieden sich 55 % der Arbeiter für die Allianz. Damit wählten deutlich mehr Arbeiter die CDU (47 %) und die DSU (7 %), als die SPD (22 %) und die PDS (12 %) für sich gewinnen konnten. Berichte der Forschungsgruppe Wahlen e.V., Mannheim, Nr. 56, 6.4.1990. 386 Der SPIEGEL, 19.3.1990, in: Deutschland ‚90, Bd. 38, S. 1460.
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Mandatsträger nur schwer von sozialistisch-demokratischen Idealen lösen konnte. Also blieb den Sozialdemokraten nur der Versuch, im Wahlkampf die soziale Absicherung beim Übergang zur Marktwirtschaft zu betonen und der Bundesregierung unzureichende Hilfe für die DDR vorzuwerfen. Das war aber wenig glaubwürdig, wenn Teile der West-SPD vor der schnellen Währungsunion auch wegen der Kosten für Westdeutschland zurückzuschrecken schienen. Folge war, daß so mancher Wähler, der Angst um seinen Arbeitsplatz, seine Position oder sein Grundstück hatte, dann doch bei der PDS blieb. Doch selbst wenn die SPD-West einen überzeugenderen Kanzlerkandidaten, die SPD-Ost weithin bekannte Politiker gehabt hätte, selbst wenn beide Parteien in sich und miteinander einig gewesen wären – so, wie die Lage nun einmal war, hätte das wohl für ein besseres Wahlergebnis, nicht aber für den erhofften Wahlsieg gereicht. Historische Stürme sind stets die Stunde der Regierung; sie lassen der Opposition nur dann eine Chance, wenn die Regierung die Erwartungen der Bürger enttäuscht. Die Regierung Kohl aber bot den Ostdeutschen eine Perspektive, die den Träumen der meisten glich: Leben wie im Westen, nicht sofort, aber in absehbarer Zeit. Weshalb sollten sie die Partei wählen, die in Bonn in der Opposition war?387
387 Grosser, Dieter: Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln, Stuttgart 1998, S. 266-270.
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7. Die internationale Durchsetzung der deutschen Wiedervereinigung Von Eberhard Kuhrt 1. Der Sturz des Sozialismus in Europa – symbolhaft verdichtet im Fall der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze – beseitigte die Entstehungsursache der Teilung Deutschlands und setzte damit die deutsche Frage auf die Tagesordnung. Sie war verquickt mit dem Problem einer stabilen europäischen Friedensordnung, das 1945/49 ungelöst geblieben und im Ost-West-Konflikt eingefroren worden war. Die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts für alle europäischen Völker einschließlich des deutschen, verknüpft mit der Frage, in welcher Verfasstheit Deutschland in das europäische System einzufügen war, und die Stabilität des Friedens in Europa einschließlich der Stellung der Sowjetunion zur westlichen Welt nach ihrem Scheitern als osteuropäische Hegemonialmacht bildeten einen Problemkomplex, auf dessen aktuelle Brisanz kaum jemand gefasst war, am wenigsten die sowjetische Führung selbst, die mit ihrem vergeblichen Versuch systemimmanenter Reformen die latente Krise ihres Systems zu einer akuten gemacht hatte. Für die meisten westeuropäischen Regierungen galt seit den Ostverträgen und dem Teil- und Ersatzfrieden von Helsinki 1975 die deutsche Frage als abschließend – und für viele, darunter die britische und die französische, auch als befriedigend – beantwortet.388 Dies stand zwar durchaus im Gegensatz zu den verfassungsrechtlichen Grundsätzen und den – allerdings langfristig gedachten – deutschlandpolitischen Zielen der Bundesrepublik, aber die lagen in den 70er und frühen 80er Jahren außerhalb realer Reichweite und waren überdies in der veröffentlichten Meinung und einem Teil der politischen Klasse einer zunehmenden Erosion ausgesetzt. Die von Gorbatschows Reformversuch ausgelöste friedliche Revolution in der DDR, in der Massenflucht und Massendemonstrationen zum Sturz der SED-Herrschaft und zur Öffnung des Eisernen Vorhangs zusammenwirkten, änderte die Situation grundlegend. Die Frage nach der deutschen Einheit lag nun auf der Hand – oder richtiger: auf der Straße, aber zunächst wagte niemand, sie aufzugreifen. 2. Den entscheidenden Schritt zur Wiedervereinigungspolitik machte Bundeskanzler Kohl mit seinem Zehn-Punkte-Programm vom 28. November 1989. „Kohls Rede war der erste Bauplan für die Brücke, mit der die Kluft zwischen dem abstrakten Wunsch nach Wiedervereinigung und ihrer Verwirklichung überwunden werden konnte. […] Das Zehn-Punkte-Programm bot der sich wandeln-
388 „Als man die Schlussakte von Helsinki unterzeichnet habe, so Mitterand weiter, sei die innerdeutsche Grenze eine Grenze wie viele andere auch gewesen. Heute hingegen habe sie einen anderen Charakter und trenne nicht wie andere Grenzen zwei Nationen voneinander“. Zit. nach Weidenfeld, Werner: Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90, Stuttgart 1998 (Geschichte der deutschen Einheit in vier Bänden, Band 4), S. 169 (über das Gespräch von Präsident Mitterand und Bundeskanzler Kohl in Latché, 4. Januar 1990).
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den Stimmung in der DDR einen Kristallisationspunkt – und einen Anführer“, urteilen zwei an den folgenden Verhandlungen beteiligte amerikanische Zeitzeugen.389 Das Zehn-Punkte-Programm fand Zustimmung und Unterstützung bei den beiden Kräften, auf die es entscheidend ankam: bei der Bevölkerung in der DDR – das zeigte schon die Begrüßung des Kanzlers durch die Dresdner Bevölkerung am 19. Dezember 1989 – und bei der amerikanischen Regierung unter Präsident George Bush senior. Bei den meisten anderen Regierungen – Ausnahmen waren die spanische und die irische – war die Reaktion verhalten bis ablehnend. Premierministerin Thatcher erklärte, dass die deutsche Frage nicht auf der Tagesordnung stehe, und versuchte, den französischen Präsidenten für eine Initiative zur Verhinderung oder mindestens Verlangsamung des Vereinigungsprozesses zu gewinnen390 – aus Sorge um die sicherheitspolitische Stabilität, um das politische Überleben Gorbatschows und nicht weniger auch vor einer starken Stellung eines vereinten Deutschland in Europa. Mit ihrer dezidierten Ablehnung nahm sie allerdings auch in der britischen Regierung eine Sonderstellung ein – ganz abgesehen davon, dass Umfragen, ebenso wie in Frankreich, bei der Bevölkerung, anders als in den politischen Eliten, deutliche Mehrheitsvoten zugunsten der deutschen Einheit erbrachten. Auch Präsident Mitterand stand der Wiedervereinigung im Grunde ablehnend gegenüber; aus den Notizen seines Beraters Jacques Attali geht das deutlicher als aus seinen eigenen öffentlichen Aussagen hervor, in denen er sich zur deutschen Einheit, wenn das deutsche Volk sie wolle, positiv äußerte, sie aber an unklar formulierte weitreichende Bedingungen knüpfte.391 Offensichtlich hoffte er darauf, dass die Sowjetunion sie keinesfalls zulassen werde. Bei seinem Treffen mit Gorbatschow in Kiew am 6. Dezember 1989 sondierte er dessen Haltung, bot ihm an, seine bevorstehende DDR-Reise in Gorbatschows Begleitung zu unternehmen,392 und war enttäuscht über die Unentschlossenheit des sowjetischen Führers. Auf Mitterands Frage „Was sollen wir konkret tun?“ hatten beide keine Antwort. Gleichzeitig nahm Mitterrand aber, realpolitischer als seine britische Kollegin, eine für die Entwicklung offenere und im Ergebnis letztlich konstruktivere Haltung ein. Sein Ziel war es, Deutschland in eine gesamteuropäische Struktur einzu389 Zelikow, Philip und Rice, Condoleezza: Sternstunden der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas, dt. Ausgabe Berlin 1997 (amerikanische Originalausgabe: Germany Unified and Europe Transformed, Cambridge, Mass. 1995), S. 179 f. (künftig zitiert als Zelikow/Rice). 390 Zelikow / Rice, S. 201. 391 Zelikow / Rice, S. 19 f. Weidenfeld, Außenpolitik für die deutsche Einheit, 1998, S. 157. 392 In Ost-Berlin hatte er außer mit Ministerpräsident Modrow auch en Gespräch mit dem SEDPDS-Vorsitzenden Gysi, der ihm erklärte: „Wir wollen uns in das europäische Haus und in den europäischen Einigungsprozess einordnen und dabei von der Zweistaatlichkeit ausgehen. […] Eine Wiedervereinigung jetzt wäre ein Sieg der Rechten in Europa. Die Linke würde an den Rand gedrückt werden“. Möller, Horst u. a. (Hg.): Die Einheit, Das Auswärtige Amt, das DDR-Außenministerium und der Zwei-plus-Vier-Prozess (künftig zitiert als Möller, Einheit), Göttingen 2015, S. 197 f.
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binden, bis zu deren Errichtung die deutsche Einigung zurückgestellt werden müsse – „Für die EG verfolgte Mitterrand die ehrgeizigsten Ziele, die sich denken ließen“393 –; zeitweise verfolgte er die großrahmige Idee, mit einer europäischen Konföderation die deutsche Einigung quasi zu überholen.394 Vorrangiges Ziel war es, parallel zur Entwicklung der deutschen Frage die (west-) europäische Integration zu vertiefen, insbesondere durch eine europäische Währungsunion die Dominanz der D-Mark zu beseitigen. Der Grundsatzbeschluss zur Einführung der europäischen Währungsunion war bereits auf dem Madrider EG-Gipfel im Juni 1989 gefallen, also ehe die Frage der deutschen Wiedervereinigung aufs Tapet kam. Die Konkretisierung dieses Grundsatzbeschlusses durch Einberufung einer Regierungskonferenz, die die Angleichung der Finanz- und Währungspolitiken, die Errichtung eines europäischen Währungsinstituts und die Einführung der gemeinsamen Währung beschließen sollte, stand aber noch aus, und dabei waren unterschiedliche Auffassungen zwischen Bonn und Paris, auch über die Vertiefung der politischen Union, zu überwinden. In dieser Frage lenkte die Bundesregierung jetzt ein. Auf dem EG-Gipfel vom 8. Dezember, der, wie Kohl berichtet, in „eisiger Atmosphäre“ begonnen hatte, wurde ein Fahrplan für die Einführung der Währungsunion beschlossen; gleichzeitig wurde eine Resolution verabschiedet, in der die EG-Partner die Zielangabe aus dem Brief zur deutschen Einheit übernahmen. Die Zustimmung der US-Regierung basierte auf drei Faktoren. Zum einen auf der Überzeugung, der Präsident Bush bereits in mehreren Reden und Interviews im Frühjahr 1989 Ausdruck gegeben hatte: dass es jetzt möglich sei, „die Teilung Europas zu überwinden und eine Einheit zu schmieden, die auf den westlichen Werten beruht“; bei einer Rede in Mainz hatte er im Mai 1989 erklärt: „Wir streben die Selbstbestimmung für Deutschland und alle Länder Osteuropas an“.395 Zum zweiten basierte sie auf dem Vertrauen, das George Bush auch aus eigener Erfahrung als damaliger Vizepräsident der Bundesregierung und insbesondere Helmut Kohl entgegenbrachte, der wenige Jahre zuvor die westliche Antwort auf die sowjetische SS-20-Rüstung gegen eine starke öffentliche AntiNachrüstungsbewegung durchgesetzt und sich damit erneut als zuverlässiger Part-
393 Zelikow / Rice, S. 289. Galkin, Aleksandr / Tschernjajew, Anatolij (Hg.): Michail Gorbatschow und die deutsche Frage. Sowjetische Dokumente 1986-1991, München 2011 (russ. Originalausgabe Moskau 2006), Nr. 95, S. 423. 394 Bei seinem Treffen mit Gorbatschow in Kiew am 6. Dezember 1989 sagte er: „Es ist notwendig sicherzustellen, dass sich der gesamteuropäische Prozess schneller entwickelt als die deutsche Frage und dass er die deutsche Entwicklung überholt. Wir müssen gesamteuropäische Strukturen schaffen. Die deutsche Komponente darf nur eine sein und keineswegs das hauptsächliche oder herausragende Element der Politik in Europa“. Zitiert nach Adomeit, Hannes, Imperial Overstretch. Germany in Soviet Policy from Stalin to Gorbatchev, BadenBaden 1998, S. 460. 395 Zelikow / Rice, S. 62.
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ner erwiesen hatte.396 Und schließlich fußte sie auch auf der Erkenntnis, die er mit den meisten führenden Politikern Westeuropas teilte, dass für die europäische Sicherheitsarchitektur die NATO und damit die Präsenz amerikanischer Truppen in Europa und die deutsche Mitgliedschaft im Bündnis das unentbehrliche Fundament waren. Einen Tag nach Veröffentlichung des Zehn-Punkte-Programms verkündete Außenminister Baker die Unterstützung für dieses Programm in Verbindung mit „Vier Prinzipien“, die bereits vor dem 28. November entworfen worden waren: Die Selbstbestimmung müsse ausgeübt werden, ungeachtet des Ergebnisses, das nicht präjudiziert werden dürfe. Die Wiedervereinigung solle vom unveränderten Bekenntnis Deutschlands zur NATO und zur europäischen Integration ausgehen. Im Interesse der Stabilität sollte der Prozess zur Wiedervereinigung sich friedlich, allmählich und schrittweise vollziehen. Und schließlich müssten in der Frage der Grenzen die Prinzipien der Schlussakte vom Helsinki beachtet werden – womit die Unveränderbarkeit der deutsch-polnischen Grenze gemeint war. Präsident Bush bestätigte beim folgenden NATO-Gipfel diese Grundsätze. Es war das Maximalprogramm. Aber ebenso wie Helmut Kohl darauf vertraute, dass die große Mehrheit der Deutschen in der DDR die Wiedervereinigung fordern würde, sobald sie als reale Möglichkeit erkennbar wurde, so vertrauten Bush und Kohl darauf, dass die sowjetische Führung, die auf Zusammenarbeit mit dem Westen angewiesen war, wenn sie ihr Reformprogramm verwirklichen wollte, auch in der Frage der NATO-Mitgliedschaft letztlich einlenken würde. Die sowjetische Führung reagierte zunächst mit schroffer Ablehnung. Am 5. Dezember 1989 wurde Außenminister Genscher mit harten Vorwürfen Gorbatschows – „Ultimatum“, „Diktat“ – konfrontiert, und vier Tage später erklärte Gorbatschow vor dem Politbüro, dass die UdSSR ihren strategischen Verbündeten DDR nicht im Stich lassen werde. International reagierte er, indem er eine Konferenz aller KSZE-Staaten ins Gespräch brachte, und unmittelbar, indem die Sowjetunion ein Treffen der Vier Mächte auf Botschaftereben in Berlin vorschlug und damit in London und Paris auf bereitwillige Zustimmung stieß. Das Treffen kam am 11. Dezember 1989 zustande, blieb aber, auf amerikanisches Drängen, auf Berliner Themen beschränkt. Auch auf Druck der Bundesregierung – die Westmächte könnten entweder mit der Sowjetunion im Kontrollrat oder mit der Bundesrepublik in NATO und EG zusammenarbeiten, erklärte Genscher zwei Tage später seinen drei westlichen Kollegen – blieb es bei dem einmaligen anachronistischen Rückfall in das „Vier-plus-Null“-Format. Der sowjetische Führer vertraute zu dieser Zeit noch darauf, dass eine Restabilisierung der DDR durch die Regierung Modrow gelingen werde; ein Vorschlag des sowjetischen Botschafters in Bonn, Kwizinski, den deutschen Wiedervereinigungsbestrebungen rechtzeitig das Programm einer Konföderation entgegenzusetzen, war von der Zentrale abgelehnt worden.397 396 Küsters, Hanns Jürgen: Das Ringen um die deutsche Einheit. Die Regierung Helmut Kohl im Brennpunkt der Entscheidungen 1989/90, Freiburg/Breisgau 2009 (künftig zitiert als Küsters), S. 25. 397 Zelikow / Rice, S. 185.
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3. Die sowjetische Deutschlandpolitik vom Mauerfall bis zum Zwei-plusVier-Vertrag war von innerer Widersprüchlichkeit, dem Schwanken zwischen verschiedenen Optionen und einem ständigen Hinterherhasten hinter den Ereignissen gekennzeichnet. In der innersowjetischen Meinungsbildung standen sich zwei Grundrichtungen, mit jeweils weiteren Differenzierungen, gegenüber. Auf der einen Seite Gorbatschow und sein engerer Beraterkreis, für die das Nichteingreifen in die inneren Angelegenheiten der Bündnispartner – die sogenannte „Sinatra-Doktrin“ – und die Zusammenarbeit mit dem Westen notwendiger Teil ihres Reformprogramms waren; Gorbatschows außenpolitischer Berater Anatolij Tschernjajew befürwortete die Wiedervereinigung Deutschlands auch bei dessen NATO-Mitgliedschaft. Auf der anderen Seite standen die Hardliner im Politbüro um Ligatschow und die alten „Germanisten“ im Außenministerium und ZKApparat um Bondarenko und Falin, die an der DDR als strategischem Verbündeten festhielten. Sie empfahlen einen engeren Kontakt mit der SPD.398 Diese hatte sich erst bei ihrem Berliner Parteitag im Dezember 1989 nach längeren internen Auseinandersetzungen vom Dogma der deutschen Zweistaatlichkeit getrennt399 und befürwortete in ihrem Vorstandsbeschluss „Schritte zur deutschen Einheit“ Anfang März 1990 eine prozesshafte Ablösung der beiden Militärblöcke durch ein auf der KSZE beruhendes gesamteuropäisches Sicherheitssystem. Mit der schrittweisen Einfügung der beiden deutschen Staaten in dieses System und ihrer Vereinigung nach Art. 146 des Grundgesetzes sollten dann auch die Vier-MächteRechte abgelöst werden.400 Eine mittlere Position zwischen Tschernjajew und den Hardlinern nahm Außenminister Schewardnadse ein. Die Disparität der Auffassungen führte nicht nur in der Außenwahrnehmung zu Schwankungen und Unklarheiten, sondern auch zu einem „surrealistischen Wust von Ideen“401 in der internen Beschlussfassung. Die Sowjetunion, die immerhin eine beachtliche Besatzungstruppe von rund 370.000 Mann in Deutschland unterhielt und deren Rechte als Siegermacht nach wie vor bestanden, hätte sicherlich Handlungsmöglichkeiten gehabt, um den Wiedervereinigungsprozess in ihrem Interesse zu modifizieren oder zu verlangsamen, etwa mit dem frühzeitigen Angebot einer Wiedervereinigung bei bündnispolitischer Neutralität des vereinten Deutschland. Aber die Staatsführung hatte in den entscheidenden Monaten kein klares Konzept und war durch akute innersowjeti398 Küsters S. 140. Die inneren Auseinandersetzungen zwischen den Denkschulen beschreibt anschaulich der damalige Gesandte an der Deutschen Botschaft Moskau. Von Arnim, Joachim: Zeitnot. Moskau, Deutschland und der weltpolitische Umbruch, 2. Aufl. Bonn 2013. Falin lehnte die Vereinigung nach Artikel 23 GG als „eine Art casus belli“ ab. Karner, Stefan u. a. (Hg.): Der Kreml und die deutsche Wiedervereinigung 1990, Berlin 2015, Dokument 13, S 202. 399 Sturm, Daniel Friedrich: Uneinig in die Einheit, Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90, Bonn 2006, S. 238 ff. 400 Zelikow / Rice, S. 321. 401 So der sowjetische Botschafter in Bonn und spätere Stellvertretende Außenminister, Julij Kwizinski, im Mai 1990, zitiert nach Rödder, Andreas: Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009 (künftig zitiert als Rödder), S. 152 ff.
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sche Probleme – Nationalitätenkonflikte in der Sowjetunion, die Unabhängigkeitsbestrebungen in den baltischen Republiken und die wirtschaftlichen Probleme der Perestrojka – gebunden. Dazu kam eine anhaltende Fehleinschätzung der revolutionären Dynamik in der DDR. Gorbatschow setzte zunächst auf einen Erfolg der Regierung Modrow; als deren Scheitern sich abzeichnete, gab es offenbar noch einmal eine grundsätzliche Prüfung aller Handlungsoptionen,402 einschließlich gewaltsamer, die aber von den regierenden Reformsozialisten weiterhin abgelehnt wurden. Und als ebenso irrig erwies sich anschließend die Hoffnung auf einen Sieg der linken Parteien bei der Volkskammerwahl, der immerhin den Vereinigungsprozess hätte verlangsamen und stärkere Eingriffsmöglichkeiten in einem über mehrere Jahre gestreckten Verhandlungsprozess eröffnen können. Stattdessen stand die sowjetische Führung immer wieder vor der Alternative, entweder mit den bisherigen Grundlinien ihrer Politik zu brechen oder sich unerwarteten Entwicklungen anzupassen. In der entscheidenden Frage, der Bündniszugehörigkeit des vereinten Deutschland, oszillierten ihre Positionen zwischen einem harten Njet zur NATO-Mitgliedschaft, das insbesondere auf den ersten Zwei-plus-VierSitzungen unnachgiebig vorgetragen wurde, und tastendem Suchen nach Alternativlösungen in den bilateralen Gesprächen, insbesondere der Mitgliedschaft Deutschlands in beiden Bündnissen, solange diese noch bestehen würden. Eine besondere Rolle bei der Wandlung der sowjetischen Position spielte ihre wirtschaftliche Zwangslage. Im Januar 1990 sah sich Gorbatschow gezwungen, auf ein während seines Besuches in Bonn im zurückliegenden Juni gemachtes Unterstützungsangebot zurückzukommen und um Lebensmittelhilfe nachzufragen, um drohenden Versorgungsmängeln in der UdSSR vorzubeugen. Die Bundesregierung ergriff die Chance und veranlasste einen Verkauf von 140.000 Tonnen Fleisch- und Milchprodukten zu einem mit 220 Millionen DM aus Bundesmitteln subventionierten „Freundschaftspreis“.403 4. Den Motor auch des internationalen Verhandlungsprozesses bildete die revolutionäre Dynamik in der DDR: Im Januar 1990 verließen rd. 2.000 Menschen pro Tag den östlichen Landesteil; bis zur Volkskammerwahl waren es durchschnittlich 12.000 pro Woche. Die Massendemonstrationen hielten an, wobei die Forderung nach der Einheit jetzt zum Hauptthema wurde. Die Autorität der Regierung Modrow verfiel, nicht zuletzt bedingt durch ihren Versuch, die Staatssicherheit unter verändertem Firmenschild in ruhigere Zeiten hinüberzuretten.404 Die Bundesregierung unterstützte diese Dynamik; sie verließ seit Anfang Februar die bisherige Linie, die deutsche Einheit auf dem Weg über konföderative Struk402 Zelikow / Rice, S. 214. 403 Teltschik, Horst: 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Berlin 1991 (künftig zitiert als Teltschik), S. 100, 114. 404 Ein plastisches Bild dieses Zerfalls zeichnete Bundeskanzler Kohl in seinem Gespräch mit Gorbatschow am 10. Februar 1990, in dem er seinem Gastgeber die Unvermeidbarkeit der Wiedervereinigung deutlich zu machen versuchte. In: Deutsche Einheit, Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes, München 1998 (künftig zitiert als „Deutsche Einheit“), Dok. Nr. 174, S. 795 ff.
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turen zu erreichen, und ging zu einer Politik des direkten Ansteuerns der Einheit über.405 Am 7. Februar trat der Kabinettsausschuss Deutsche Einheit erstmals zusammen, und die Bundesregierung erklärte ihre Bereitschaft, mit der DDR über eine Wirtschafts- und Währungsunion zu verhandeln. Bis zum Februar 1990 war in den europäischen Hauptstädten die Einsicht gereift, dass es zur Wiederherstellung der deutschen Einheit keine realisierbare Alternative gab.406 Von seinem Moskau-Besuch am 10. und 11. Februar 1990 brachte Helmut Kohl die grundsätzliche Zustimmung Gorbatschows zur deutschen Einheit mit – es sei Sache der Deutschen selbst, Zeitpunkt und Weg zur Einheit zu bestimmen –, vorbehaltlich der außenpolitischen Regelungen, über die einstweilen ein Konsens noch nicht absehbar war. Bei der gemeinsamen Konferenz der NATO- und Warschauer-Pakt-Staaten in Ottawa im Februar 1990 einigten sich die Außenminister der Vier Mächte und der beiden deutschen Staaten darauf, die internationalen Aspekte der deutschen Einheit auf Konferenzen im Format „Zwei plus Vier“ zu erörtern. Von jetzt an ging es nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie und das Wie schnell der deutschen Einheit, allerdings betrafen die offenen Fragen den Kern des Problems, die sicherheitspolitische Einbindung Deutschlands nach dem Ende der Vier-Mächte-Rechte. 5. Mehr öffentliche Aufmerksamkeit als durch die tatsächliche Problemlage begründet zog die endgültige vertragliche Festlegung der deutsch-polnischen Grenze auf sich. Tatsächlich bestand, ungeachtet der rechtlichen Offenheit der Grenzfrage bis zu einer friedensvertraglichen Regelung, ein weitestgehender Konsens in der deutschen Politik und Öffentlichkeit darüber, dass die Oder-NeisseLinie die definitive Grenze zwischen Deutschland und Polen bildete und dass dies auch durch die Wiedervereinigung nicht in Frage gestellt werden solle. Den tatsächlich bestehenden Streitpunkt zwischen Bonn und Warschau stellte die Frage dar, wann die abschließende vertragliche Festschreibung dieses Tatbestandes erfolgen sollte. Die polnische Regierung verlangte, dass dies vor der staatlichen Vereinigung geschehen solle, darin nachdrücklich und öffentlich unterstützt von der französischen Regierung, die noch einmal die Gelegenheit nutzte, ihre Rechte 405 Kohl im Gespräch mit Präsident Bush am 24. Februar 1990, Zelikow / Rice, S. 299. 406 Dass diese Erkenntnis nicht ohne innere Reserve gewonnen wurde, zeigt das Gespräch von Präsident Mitterrand mit Gorbatschow noch am 25. Mai 1990. Mitterrand legt u. a. dar, dass eine Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO, die von den USA und Großbritannien befürwortet wird, kaum zu verhindern sein wird, obgleich er selbst eine andere, gesamteuropäische Lösung im Sinne seines Konföderationsvorschlages vorziehen würde. Bei einer Verlangsamung des Vereinigungsprozesses könnte es möglich sein, dass bei der nächsten Wahl „neue Leute“ in Deutschland an die Regierung kommen, mit denen sich andere Sicherheitsstrukturen konzipieren ließen. Derzeit „haben wir wenige Mittel, die Deutschen ‚geradeheraus‘ daran zu hindern, das zu tun, wonach sie streben. […] Wir haben beide unterschiedliche Verpflichtungen, aber wir haben gemeinsame Ziele. Wir müssen die europäische Sicherheit gewährleisten, nicht gegen jemanden, sondern gemeinsam mit allen. Selbstverständlich ist nicht davon die Rede, dass wir beide uns gegen die Deutschen vereinigen. Obgleich ich vielleicht unvorsichtig sage: Ich fühle mich mit Ihnen ruhiger als mit den Deutschen“. Galkin / Tschernjajew (Hg.): Michail Gorbatschow und die deutsche Frage, S. 422, 430.
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als Statusmacht für das geteilte Deutschland zur Geltung zu bringen, und damit die Partnerschaft mit der Bundesrepublik einer Belastungsprobe aussetzte.407 Bundeskanzler Kohl insistierte dagegen auf dem – rechtlich zutreffenden – Standpunkt, dass über die definitive Grenzziehung nur der gesamtdeutsche Souverän, also das gesamtdeutsche Parlament nach der Wiedervereinigung, entscheiden könne. Mitbegründet war diese Position durch die Rücksicht auf die Heimatvertriebenen, die überwiegend zur Klientel der Unionsparteien gehörten und denen deutlich zu machen war, dass diese endgültige Grenzregelung zu dem Preis gehörte, den Deutschlands für die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit zu leisten hatte. Der schließlich gefundene Kompromiss, den Präsident Bush zwischen der bundesdeutschen und der polnischen Regierung vermittelte,408 bestand in einer gleichlautenden Absichtserklärung beider deutscher Parlamente, in der ein kurz nach der Wiedervereinigung zu schließender Grenzvertrag angekündigt und der endgültige Verlauf der Grenze beschrieben wurde. Der Grenzvertrag wurde dann am 14. November 1990 unterzeichnet und am 16. Dezember 1991 vom Deutschen Bundestag ratifiziert, zusammen mit dem deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag vom 17. Juni 1991, in dem die Endgültigkeit der Grenzen ebenfalls bestätigt wurde und, unter anderem, auch die Rechte der deutschen Minderheit in Polen geregelt wurden. 6. Der Schlüssel zu den erfolgreichen internationalen Verhandlungen war der enge Schulterschluss zwischen Bonn und Washington. Am 24. und 25 Februar 1990 trafen Präsident Bush und Bundeskanzler Kohl, beide in Begleitung ihrer sicherheits- bzw. außenpolitischen Berater, auf dem Landsitz des Präsidenten in Camp David zusammen und legten die westliche Verhandlungsposition fest. Einigkeit bestand darin, dass es für eine schnelle, im Sinne beider Seiten gestaltete Vereinigung das beste war, die Entwicklung in Deutschland so weit wie möglich unbeeinflusst von äußeren Eingriffen ablaufen zu lassen, möglichst schnell möglichst viele vollendete Fakten auf innerdeutscher Ebene zu schaffen und die Einwirkungen der Vier Mächte auf das unvermeidliche Minimum zu reduzieren. Das bedeutete: Kein Friedensvertrag, keine KSZE-Konferenz, die über Deutschland zu beschließen hätte, Beschränkung des Mandats der Zwei-plus-Vier-Konferenzen auf die unmittelbar mit der Ablösung der Vier-Mächte-Rechte zusammenhängenden Fragen. Ziel sollte ein vereintes Deutschland sein, das Mitglied der NATO und voll in sie integriert ist – eine Mitgliedschaft à la française wurde verworfen – wobei die Zuständigkeit, also die Sicherheitsgarantie der NATO sich auch auf das Gebiet der ehemaligen DDR beziehen und ein Sonderstatus dieses Gebiets lediglich die Art der dort stationierten Truppen betreffen sollte. Das Vorgehen sollte arbeitsteilig im Dreieck Washington – Bonn – Moskau vor sich gehen: Während die USA auf Supermacht-Ebene die sicherheitspolitischen Aspekte dieser Lösung
407 Rödder S. 241. Telefonat Kohls mit Mitterrand am 14. März 1990, in: Deutsche Einheit, Nr. 218, S. 943-947. 408 Zelikow / Rice, S. 308 ff.
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mit Moskau erörtern sollte, sollte es Aufgabe der Bundesrepublik sein, mit der Sowjetunion die wirtschaftlichen und finanziellen Aspekte zu klären.409 Mit der westdeutsch-amerikanischen Einigung von Camp David war auch ein Streitpunkt innerhalb der Bundesregierung erledigt. Außenminister Genscher hatte bei mehreren Gelegenheiten öffentlich erklärt, dass die NATO-Mitgliedschaft Deutschlands nicht den beitretenden östlichen Landesteil betreffen würde; eine Ausdehnung des NATO-Territoriums werde nicht stattfinden. Diese Variante war nun vom Tisch.410 Genscher sprach sich allerdings zunächst weiterhin für die Perspektive aus, dass die vorläufig bestehenden und nötigen Militärbündnisse in Europa schrittweise durch gesamteuropäische Sicherheitsmechanismen überwölbt und schließlich abgelöst werden sollten – eine Sichtweise, die der vereinbarten gemeinsamen Linie widersprach und die dem Bundeskanzler Grund zu einem klarstellenden persönlichen Schreiben an den Außenminister gab.411 Der 18. März 1990 war auch für den internationalen Verhandlungsprozess ein Schlüsseldatum. Bei der freien Volkskammerwahl, die entgegen allen Prognosen die CDU und ihre in der „Allianz für Deutschland“ zusammengeschlossenen Bündnispartner für sich entschieden (48,1 %), erhielten die Parteien, die für die 409 Rödder, S. 201 ff., Zelikow / Rice, S. 293 ff., Deutsche Einheit, Nr. 192-194, S. 860-877. – Zwei Tage nach dem Gespräch von Camp David traf Egon Bahr zusammen mit Karsten Voigt in Moskau mit dem Gorbatschow-Berater Jakowlew und dem ZK-Abteilungsleiter Falin zusammen und entwickelte ihnen seine alte Idee eines neutralisierten Mitteleuropa. In einer Sicherheitszone aus Dänemark, den Benelux-Ländern, beiden deutschen Staaten, Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn sollten alle Streitkräfte einem gemeinsamen Sicherheitsrat, dem auch die USA und die UdSSR angehören sollten, unterstellt werden. „Die Sache bewegt sich in Richtung staatlicher Einheit, wobei das Tempo dieser Entwicklung von den Menschen in der DDR vorgegeben wird. […] Die kommende Regierung der DDR wird, was die Verzögerung dieses Prozesses betrifft, eine große Verantwortung tragen, und wir möchten, dass Sie dies bei Ihrem Treffen mit dem Vorsitzenden der SPD [der DDR] Böhme ansprechen. […] Die NATO als Organisation und ihre militärischen Strukturen dürfen sich auf keinen Fall auf Mitteleuropa ausweiten. […] An Ihrer Stelle würde ich die Aufmerksamkeit der sowjetischen Generalität darauf lenken, dass die NATO, die sich bereits von Norwegen bis zur Türkei erstreckt und Frankreich und England miteinschließt, sich unseren Vorstellungen nach nicht auf Deutschland ausweiten wird“. Auf die Gegenfrage, wie man nach seiner Meinung vorgehen sollte, falls andere Staaten wie Polen diesem System nicht beitreten wollten, erwiderte er, dass man mit einem solchen System auch in Deutschland allein beginnen könne. Zit. nach Karner, Stefan u. a. (Hg.): Der Kreml und die deutsche Wiedervereinigung 1990, Berlin 2015, Nr. 13, S. 195-203. In einem „Strategiegespräch“ am 18. Juni erläuterte Bahr seine Idee dem Berater im DDR-Außenministerium von Braunmühl. Er plädiere dafür „jetzt und sofort die kritischen Punkte bei den 2+4-Gesprächen aufzutischen, weil nur dann die Genscher-Taktik, in jeweiligen bilateralen Gesprächen zum Erfolg zu kommen, durchkreuzt werden kann“. Bis zur Errichtung eines europäischen Sicherheitssystems müssten die VierMächte-Rechte in Kraft bleiben. Dies sei „die einzige Möglichkeit, inhaltlich qualifiziert den politischen Kalender von Kohl und Genscher zu durchkreuzen“. Zitiert nach Möller, Einheit, Nr. 114, S. 566. 410 Schreiben des amerikanischen Außenministers Baker an seinen deutschen Kollegen, 28. Februar 1990, bei Zelikow / Rice, S. 304 411 Möller, Einheit, Nr. 76, S. 380/81. Teltschik, S.182 f.
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deutsche Einheit eintraten, über 75 % der Stimmen, die Parteien, die eindeutig den schnellsten Weg, den Beitritt nach Artikel 23 GG, propagierten, über 50 % der Stimmen; auch ein großer Teil der knapp 22 % SPD-Wähler wollte den schnellstmöglichen Weg zur Einheit.412 Der eigentliche Wahlsieger war Helmut Kohl. Für die internationalen Verhandlungspartner war dieses Ergebnis ein eindeutiges Signal, was das Ziel der Selbstbestimmung der Deutschen auch in der DDR war. Die britische und französische Regierung fanden sich veranlasst, Bedenken zurückzustellen und stärker auf die zwischen Washington und Bonn vereinbarten Verhandlungspositionen einzuschwenken.413 Bei dem EG-Sondergipfel in Dublin am 28. April 1990 begrüßten alle Staats- und Regierungschefs „in hohem Maße die Vereinigung Deutschlands“ als „positiven Faktor in der Entwicklung Europas im allgemeinen und der Gemeinschaft im besonderen“.414 Für die sowjetische Führung war das Wahlergebnis vom 18. März ein Schock,415 es erschwerte ihr Ziel, durch einen schrittweisen Prozess und langwierige internationale Verhandlungen das Momentum aus dem Vereinigungsprozess herauszunehmen und Zeit für die Durchsetzung eigener sicherheitspolitischer Vorstellungen zu gewinnen. Die entscheidenden internationalen Gespräche fanden in der Tat nicht auf den Zwei-plus-Vier-Außenministersitzungen statt – Bonn 5. Mai, Ost-Berlin 22. Juni, Paris 17. Juli und Moskau 12. September, jeweils vorbereitet durch Treffen der Politischen Direktoren der Außenministerien –, sondern in bilateralen Begegnungen, insbesondere in Washington Ende Mai und in Moskau und im Kaukasus im Juli 1990. Die Zwei-plus-Vier-Gespräche selbst hatten die Funktion eines Konsultationsforums, bei dem die Ergebnisse der bilateralen Gespräche im Dreieck Washington – Moskau – Bonn formalisiert wurden, alle beteiligten Seiten ihre Vorstellungen in den Verhandlungsprozess einbringen konnten und bei dem auch die unterschiedlichen Auffassungen innerhalb der sowjetischen Führung sich zur Geltung bringen konnten.416 Das war insbesondere bei den ersten beiden Treffen 412 In ihrem Grundsatzprogramm von Ende Februar 1990 legte sich auch die Ost-SPD, die früher als die westdeutsche Schwesterpartei eine vereinigungsfreundliche Position einnahm, auf einen schnellen Weg zur Einheit fest: „Wir wollen jetzt in der DDR und bald in einem geeinten Deutschland frei, sicher und gleichberechtigt zusammenleben“. Zitiert nach Sturm, Daniel Friedrich: Uneinig in die Einheit, S. 261. 413 Zelikow / Rice, S. 329 f. 414 Teltschik, S. 211. 415 Möller, Einheit, Dok. 75, S. 377. 416 Eine Nebenrolle bei den Verhandlungen spielte die DDR-Delegation. Außenminister Markus Meckel, als Bürgerrechtler und Initiator der SDP-Gründung in der DDR-Opposition und in der Friedlichen Revolution hervorgetreten, agierte als Diplomat unglücklich. Ohne die notwendige intensive Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt zu suchen, gelegentlich auch ohne vorherige Abstimmung mit seinem eigenen Regierungschef versuchte er eine eigenständige DDR-Außenpolitik zu betreiben, womit er am Ende in den Sechsergesprächen isoliert war (Rödder, S. 229). Zelikow / Rice urteilen recht pointiert: „Weder er selbst noch seine Berater bewiesen das rhetorische Geschick und die analytischen Fähigkeiten, die als Ausgleich für ihre schwache Machtbasis nötig gewesen wären. Sie wurden von keiner der an den Zweiplus-Vier-Verhandlungen beteiligten Regierungen jemals wirklich ernst genommen“. (Zeli-
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der Fall. Beim ersten legte Schewardnadse ein sowjetisches Maximalprogramm vor: Eine NATO-Mitgliedschaft Deutschlands wurde ausgeschlossen; die Stärkung des KSZE-Prozesses sollte u. a. ein in Deutschland lokalisiertes Zentrum einschließen, das die militärstrategische Lage in Deutschland beobachten sollte; einem Wiederaufleben des Nazismus sollte durch innenpolitische Beschränkungen vorgebeugt werden, und die Vier-Mächte-Rechte sollten auch nach der inneren Vereinigung in Geltung bleiben, bis ein neues europäisches Sicherheitssystem errichtet sei. Daher sollten auch die äußeren Aspekte der Einheit später geregelt und jetzt von den inneren abgekoppelt werden. Auch bei der zweiten Zwei-plusVier-Sitzung am 22. Juni 1990 blieb Schewardnadse noch einmal bei der intransigenten Position seiner Berater aus dem Apparat, indem er eine neue Variante der Neutralisierung Deutschlands nach vorläufiger Mitgliedschaft in beiden Bündnissen und nochmals die längerfristige Aufrechterhaltung der Vier-Mächte-Rechte vorschlug. 7. Bei den auf der bilateralen Schiene laufenden Gesprächen zeigte die sowjetische Führung eine flexiblere Haltung, die mehr den finanziellen Bedürfnissen des Landes und Gorbatschows Ziel einer künftigen engen Zusammenarbeit mit dem Westen, vor allem mit Deutschland, entsprach. Am Rande der ersten Zweiplus-Vier-Konferenz entwickelte Kohl in einem Gespräch mit Schewardnadse die Idee eines „Großen Vertrages“. Von sowjetischer Seite wurde eine Anfrage nach einem Kredit – 1,5 bis 2 Mrd. DM kurzfristig, um eine drohende Zahlungsunfähigkeit abzuwenden, weitere 10 bis 15 Mrd. DM über 15 bis 20 Jahre zu Vorzugsbedingungen – vorgebracht. Kohl ergriff die Chance und unterbreitete Gorbatschow am 22. Mai das Angebot eines von der Bundesregierung garantierten ungebundenen Kredits über 5 Mrd. DM sowie die Zusage, sich für einen weiteren Kreditrahmen international einzusetzen. Er vergaß nicht, die Erwartung auszudrücken, dass die sowjetische Regierung sich im gleichen Geist der Kooperation um eine Lösung der Zwei-plus-Vier-Fragen noch im laufenden Jahr bemühen werde.417 Unterdessen strebten die USA danach, die sowjetische Führung vom Nutzen auch in ihrem Sinne einer deutschen NATO-Mitgliedschaft zu überzeugen. Bei einem Besuch in Moskau vom 16. bis 19. Mai 1990 wies Außenminister Baker darauf hin, dass ein NATO-eingebundenes Deutschland die stabilste Lösung sei, sie werde auch auf Dauer verhindern, dass Deutschland nach einer eigenen Nuklearstreitmacht strebe. Auch der Bundeskanzler wiederholte in seinen Gesprächen mit der russischen Führung das Argument, dass der schwerwiegendste Fehler des Versailler Vertrages 1919 darin bestanden habe, Deutschland zu isolieren. Baker trug in Moskau ein mit der Bundesregierung abgestimmtes sicherheitspolitisches Neun-Punkte-Paket vor, in dem unter anderem der deutsche Verzicht auf Massenkow / Rice, S. 628) Beim Auseinanderbrechen der Großen Koalition verließ er am 20. August 1990 die DDR-Regierung. Den Zwei-plus-Vier-Vertrag unterzeichnete für die DDR Lothar de Maizière, der zusätzlich zu seiner Funktion als Ministerpräsident für sechs Wochen der letzte DDR-Außenminister war. 417 Rödder, S. 250 ff., Teltschik, S. 221, 226, 244.
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vernichtungswaffen, eine zweite Konferenz über konventionelle Streitkräfte in Europa einschließlich der Reduzierung der deutschen Streitkräfte, eine Überprüfung der NATO-Strategie, eine Weiterentwicklung der KSZE und eine für die Perestrojka-Politik günstige Regelung der deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen in Aussicht gestellt wurden.418 Einen ersten Durchbruch – ob es schon der entscheidende war, ist in der Literatur umstritten419 – gab es bei der Gipfelbegegnung Bushs mit Gorbatschow in Washington am 31. Mai 1990. Gorbatschow schlug zunächst noch einmal die Doppelmitgliedschaft Deutschlands in beiden Bündnissen vor. Als dann aber Bush darauf hinwies, dass laut Schlussakte alle KSZE-Teilnehmerstaaten das Recht hätten, ihre Bündniszugehörigkeit frei zu wählen; dies müsse auch für Deutschland gelten, stimmte Gorbatschow zum Schrecken seiner Delegationsmitglieder zu und wiederholte auf Nachfrage diese Antwort. Dieser Durchbruch kam plötzlich und unerwartet. Bei dem folgenden Zwei-plus-Vier-Treffen wurde er dann wieder durch die intransigente Haltung der sowjetischen Delegation zurückgenommen. Schewardnadse deutete allerdings an, dass weitere Verhandlungen – nach dem 28. KPdSU-Parteitag – möglich seien. Große Erwartungen setzte die sowjetische Führung erkennbar auf den unmittelbar vor dem Parteitag stattfindenden NATO-Gipfel. Von dieser Gipfelkonferenz in London am 6. Juli 1990 ging dann das von den USA vorbereitete Signal aus, die Erklärung „Die Nordatlantische Allianz im Wandel“, die Präsident Bush unmittelbar dem russischen Präsidenten zusandte: Die NATO erklärte, dass sie den Völkern Mittel- und Osteuropas die Hand zur Freundschaft reiche, verpflichtete sich, nie als erste Gewalt anzuwenden, schlug den Staaten des Warschauer Paktes eine Gewaltverzichtserklärung vor, kündigte Reduzierungen der konventionellen Streitkräfte einschließlich der deutschen und eine Änderung der NATO-Strategie an, in der die „flexible Erwiderung“ aufgegeben und die Nuklearkräfte zu „Waffen des letzten Rückzugs“ (last resort) werden sollten, und sprach sich für einen Ausbau der KSZE aus. Zweifellos hat diese Erklärung dazu beigetragen, dass Gorbatschow bei dem 28. KPdSU-Parteitag seine Stellung festigen konnte. Sie war die Voraussetzung dafür, dass er nun definitiv die Zustimmung für ein NATO-eingebundenes Gesamtdeutschland geben konnte. Dies geschah bei dem Besuch des Bundeskanzlers in Moskau und der gemeinsamen Weiterreise mit Präsident Gorbatschow in dessen Heimat im Kaukasus am 15. und 16. Juli 1990. Hier wurden die Bedingungen und die meisten Einzelfragen der internationalen und sicherheitspolitischen Regelung verhandelt und größtenteils geklärt: Deutschland verzichtet weiterhin auf den Erwerb von und die Verfügung über ABC-Waffen; es sagt zu, sich auf der KSE-Konferenz vertraglich 418 Zelikow / Rice, S. 365. 419 Bei der Sitzung der vier westlichen Politischen Direktoren der Außenministerien in London am 5. Juni 1990 erklärte der amerikanische Vertreter, man solle den Ansatz Gorbatschows [vom 31. Mai 1990], den Deutschen das Bündniswahlrecht zurückzugeben, nicht überbewerten; „er habe zu den eher erratischen Ausführungen Gorbatschows gehört“. Möller, Einheit, Dok. 107, S. 531.
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auf eine Obergrenze der deutschen Truppen von 370.000 Mann festzulegen. Beides zusammen sicherte seine strukturelle Nichtangriffsfähigkeit. Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung erlöschen die Vier-Mächte-Rechte und Deutschland erhält seine volle Souveränität wieder, einschließlich des Rechtes, sich einem Bündnis seiner Wahl, also der NATO, anzuschließen. Die sowjetischen Truppen ziehen innerhalb von drei bis vier Jahren ab, wobei in einem gesonderten Vertrag ihr befristeter Aufenthalt in Deutschland, dessen Finanzierung und finanzielle Hilfen bei der Rückführung – z. B. für Wohnungsbau und Umschulung – geregelt werden sollen. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR werden keine ausländischen Truppen und keine Nuklearwaffen stationiert; für die Zwischenzeit, in der sich dort noch sowjetische Truppen aufhielten, dürfen auch deutsche Truppen dort nur stationiert werden, die nicht der NATO unterstehen. Dessen ungeachtet erstreckt sich die Schutzgarantie der Allianz von vornherein auch auf den östlichen Teil Deutschlands. Für die Grundlegung einer neuen Qualität der bilateralen Beziehungen wird ein umfassender Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit geschlossen werden. Über die finanzielle Unterstützung des sowjetischen Truppenabzugs gab es Anfang September nochmals schwierige telefonische Verhandlungen zwischen Kohl und Gorbatschow; sie endeten damit, dass die Bundesregierung, die ursprünglich 6 Mrd. DM vorgesehen hatte, der sowjetischen Forderung nach 15 Mrd. DM durch eine Zahlung von 12 Mrd. und einen zinslosen Kredit von 3 Mrd. DM weitgehend entsprach. Für alle Leistungen, die die Bundesrepublik der Sowjetunion in unmittelbarem oder mittelbarem Zusammenhang mit der Wiedervereinigung erbrachte, lässt sich auf der Grundlage von Angaben des Bundesfinanzministeriums ein Volumen von etwa 55 Mrd. DM bzw., wenn man die Exportkreditgarantien aufgrund des Partnerschaftsvertrages mitrechnet, von rund 83 Mrd. DM errechnen.420 Am 12. September 1990 wurde der Zwei-plus-Vier-Vertrag in Moskau unterzeichnet. Die letzte der Ratifikationen erfolgte durch den Obersten Sowjet am 4. März 1991; schon vorher, zum 3. Oktober 1990, hatten die Vier Mächte ihre Rechte und Verantwortlichkeiten für Deutschland als Ganzes ausgesetzt. Am 9. November 1990 wurde der deutsch-sowjetische Partnerschaftsvertrag unterzeichnet. Am 19. November 1990 nahm ein KSZE-Sondergipfel in Paris den Zwei-plus-Vier-Vertrag zur Kenntnis und begrüßte ihn ausdrücklich als einen „Beitrag zu einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung“. Der Gipfel verabschiedete die „Charta für ein neues Europa“, in der die Prinzipien von Helsinki bestätigt – u .a. der Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines anderen Staates –, die Weiterentwicklung von Rüstungskontrolle und vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen und eine Verstärkung der KSZE-Mechanismen angekündigt werden. Knapp vier Jahre später, am 9. September 1994, verließ der letzte russische Besatzungssoldat Deutschland.
420 Rödder, S. 261 ff.
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8. Der Zusammenbruch des Herrschaftssozialismus war systembedingt und früher oder später unvermeidlich; unter welchen Umständen und in welchen personellen Konstellationen er sich vollzog, war historisch kontingent. Die Wiederzusammenfügung Deutschlands war, nachdem der Teilungsgrund entfallen war, eigentlich die natürliche und normale Lösung; die „Normalisierung“, von der in den 70er Jahren viel die Rede war, hat in Deutschland nicht 1972, sondern erst 1990 stattgefunden, und die intellektuellen Versuche, die Teilung als Normalzustand auszugeben, fielen in ihr Nichts zurück. Aber dass die natürliche Lösung tatsächlich erreicht wurde, war angesichts der Gegenkräfte alles andere als selbstverständlich. Zwar wurde seit der Maueröffnung zunehmend deutlich, dass ein Wiederaufbau des herabgewirtschafteten Ostteils Deutschlands ohne den prosperierenden westlichen Landesteil nicht zu leisten war. Das musste allerdings nicht zwingend zur staatlichen Wiedervereinigung führen; es lassen sich durchaus Umstände vorstellen – eine andere Bundesregierung in Bonn, eine andere US-Regierung in Washington –, unter denen die Gegenkräfte in Moskau, London und Paris sich stärker zur Geltung gebracht hätten und ein anderes Ergebnis herausgekommen – und wahrscheinlich immer noch als Erfolg gefeiert worden – wäre. Dass innerhalb von nur acht Monaten aus der offenen oder verdeckten Ablehnung der Wiedervereinigung bei drei der vier für den Status Gesamtdeutschlands verantwortlichen Mächte eine Zustimmung wurde, lässt sich aus vier Faktoren erklären. Grundlegend war die revolutionäre Bewegung in der DDR, die seit dem Mauerfall über die Bürgerrechtsbewegung hinweggegangen war und mit zunehmender Lautstärke die Wiedervereinigung forderte. Angesichts von Massenausreise, Zerfall der staatlichen Strukturen und Massendemonstrationen, schließlich auch der Volkskammerwahl bestand für niemanden im In- und Ausland ein Zweifel darüber, was die Menschen in der DDR wollten und wo sie die Lösung des Problems sahen. Die Bundesregierung nahm diese Forderungen auf, und sie nutzte, kanalisierte und verstärkte den von der Massenbewegung ausgehenden Zeitdruck, unter dem es auch Gegnern der Wiedervereinigung kaum möglich war, Gegenmodelle zu entwickeln und in die internationalen Verhandlungen wirksam einzubringen. Der zweite entscheidende Faktor war die Unterstützung durch die USA unter Voraussetzung der weiteren NATO-Mitgliedschaft Deutschlands. Die Regierung Bush senior erkannte und drängte darauf, angesichts des „decline of the Soviet empire“ den Ost-West-Konflikt in Europa durch eine Friedensordnung auf der Basis „westlicher“ oder „demokratischer“ Werte – um diese Terminologie ging eine Diskussion zwischen Bush und Gorbatschow bei ihrem ersten Treffen vor Malta am 3. Dezember 1989 –, also von Demokratie und Selbstbestimmung, zu beenden. Die Unterstützung der Wiedervereinigung durch die USA verurteilte offene oder verdeckte Behinderungs- oder Verzögerungsversuche zur Wirkungslosigkeit und half schließlich durch die in der „Londoner Erklärung“ verkündeten Maßnahmen auch dazu, die Zustimmung der sowjetischen Führung zu gewinnen. Als dritter Faktor ist die deutsche Europapolitik zu nennen. Dass die Bundesregierung an der Weiterführung der europäischen Integration nicht nur keinen Zweifel ließ, sondern sie durch die Schritte zur europäischen Währungsunion
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1990 noch forcierte, machte auch für die europäischen Partner, insbesondere Frankreich, die Wiedervereinigung akzeptabel. Die Westbindung der Bundesrepublik auf europäischer wie auf atlantischer Ebene hat sich somit, anders als ihre Kritiker von den 50er bis in die 80er Jahre meinten, nicht als Hindernis, sondern als Voraussetzung der deutschen Einheit erwiesen. Dafür, dass, viertens, die Sowjetunion unter Präsident Gorbatschow zustimmte, kann man mancherlei Gründe aufführen: innere Widersprüche in der Führung, vordringliche innere Probleme als Ergebnis des notwendigen Versuchs, die stalinistischen Strukturen in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft abzuwerfen, nicht zuletzt auch, teilweise selbsterzeugter, Zeitdruck. Letztlich ausschlaggebend war die Einsicht Gorbatschows, die auch aus der Rückschau richtig bleibt, dass für die unumgänglich notwendige wirtschaftliche Entwicklung seines Landes die Zusammenarbeit mit dem Westen, insbesondere mit Deutschland, unverzichtbar war – und weit wichtiger als die Aufrechterhaltung eines äußeren Imperiums, das mit der Zeit immer weniger Nutzen, aber immer mehr wirtschaftliche und politische Kosten verursachte. Die de facto friedensvertragliche Regelung des Zwei-plus-Vier-Vertrages löste grundsätzlich die für eine stabile europäische Friedensordnung konstitutive Doppelaufgabe der Einbindung Deutschlands und Russlands. Deutschland wurde – nun unter Verwirklichung seines Selbstbestimmungsrechts, also ohne Aufrechterhaltung einer oktroyierten Teilung und damit eines potentiellen Revisionsgrundes – in eine Struktur eingebunden, in der es, selbst geschützt, keine militärischpolitische Gefährdung für andere Staaten bedeutet. Gleichzeitig wurde das militärische Übergewicht der Sowjetunion, später Russlands, in Europa durch ein effektives Gegengewicht ausbalanciert. Der Schlüssel zum europäischen Frieden war und blieb die Atlantische Allianz als Schutzbündnis einer auf Demokratie und Selbstbestimmung basierenden Ordnung. Sie wurde ergänzt durch die KSZE / OSZE als gesamteuropäischer Handlungsrahmen für Krisenbewältigung, Krisenvorbeugung und Kooperation auf der Basis vereinbarter Verhaltensgrundsätze. Durch den „Integrationsfrieden“421 von 1990 ist Deutschland kein Krisenherd – auch kein latenter – in Europa mehr, wie nach dem gescheiterten Frieden von 1919 und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945, sondern ein Faktor der Stabilität.
421 Küsters, Hanns Jürgen: Der Integrationsfriede. Vier-Mächte-Verhandlungen über die Friedensregelung mit Deutschland 1945-1990. München 2000, insbes. S. 877-898.
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19. Dezember 1989, Bundeskanzler Kohl in Dresden. Die Friedliche Revolution mündet ein in die Politik zur deutschen Einheit
© Bundesregierung / Sieghard Liebe
24. Februar 1990, Camp David. Deutsch-amerikanische Abstimmungsgespräche. Ehepaar Bush begrüßt Ehepaar Kohl
©Bundesregierung / Engelbert Reineke
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15. Juli 1990, Archys / Kaukasus. Abendliche Runde beim entscheidenden deutsch-sowjetischen Gipfeltreffen
©Bundesregierung / Roberto Pfeil
12. September 1990, Moskau. Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrages
©Bundesregierung / Engelbert Reineke
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6. April 1994, Hillersleben / Sachsen-Anhalt. GUS-Truppen verlassen Deutschland
©Bundesregierung / Bernd Kühler
3. Oktober 1990, Berlin, vor dem Reichstagsgebäude
©Bundesregierung / Engelbert Reineke
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8. Der Staatsvertrag über die „Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion“ trat am 1. Juli 1990 in Kraft Von Dieter Grosser Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble hielt schon Mitte Dezember 1989 eine Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft mit der DDR für notwendig, um den Strom der Übersiedler einzudämmen. Ein so weitgehender, die Souveränität der DDR in zentralen erreichen aufhebender Schritt schien damals aber noch nicht möglich. Um sich auf die im „Zehn-Punkte-Plan“ Bundeskanzler Kohls vorgesehenen „konföderativen Strukturen“ vorzubereiten, entwarf das Bundesfinanzministerium (BMF) lediglich ein „Stufenprogramm“. Es sah eine Währungsunion als „Krönung“ eines jahrelangen Reform- und Transformationsprozesses in der DDR vor, zweckmäßig erst, wenn die Leistungsfähigkeit der DDR-Wirtschaft sich dem westdeutschen Niveau angenähert hatte. Das „Krönungsmodell“ entsprach der Lehrmeinung vieler Nationalökonomen. Mitte Januar 1990 waren „Zehn-Punkte-Plan“ und „Stufenprogramm“ von der Entwicklung bereits überholt. Staat und Wirtschaft der DDR lösten sich auf. Der Exodus hielt an, im Januar siedelten jede Woche über 15.000 Personen in die Bundesrepublik über. Zweifel an der Lebensfähigkeit der DDR gab es ab Mitte Januar auch in Moskau (Sowjetunion und SBZ / DDR).422 Zugleich verschärfte sich die ökonomische Krise in der Sowjetunion selbst; Gorbatschow brauchte westliche Wirtschaftshilfe, die in erster Linie von der Bundesrepublik erwartet werden konnte. Am 30. Januar wurde bekannt, daß Gorbatschow beim Besuch Modrows in Moskau auf dem Fortbestand der DDR nicht beharrt hatte. Bundeskanzler Kohl glaubte nun, die staatliche Einheit schneller erreichen zu können, als er bisher angenommen hatte. Die Idee, der DDR bald eine Währungsunion anzubieten, war inzwischen Thema der öffentlichen Auseinandersetzung. Am 19. Januar 1990 hatte die SPDBundestagsabgeordnete Ingrid Matthäus-Maier, noch im Gegensatz zur Mehrheit ihrer Fraktion, einen baldigen deutsch-deutschen Währungsverbund als „Signal zum Bleiben“ gefordert. Ähnlich äußerte sich Kurt Biedenkopf (CDU). Ab 21. Januar riefen Bürger der DDR auf Demonstrationen: „Kommt die DM, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr“. Aus dem Direktorium der Bundesbank und von führenden Ökonomen kamen Warnungen. Mit der Währungsunion werde sich ein einheitliches Preis- und Lohnniveau, aber erst viel später ein einheitliches Produktivitätsniveau herausbilden. Noch auf längere Zeit würden die meisten Unternehmen der DDR im Wettbewerb nicht bestehen können, hohe Arbeitslosigkeit werde die Folge sein. Im Februar allerdings nahm die Zahl der Ökonomen zu, die wegen der zur Einheit drängenden Entwicklung den „Krönungsweg“ zur Währungsunion nicht mehr für anwendbar hielten. 422 Wettig, Gerhard: Sowjetunion und SBZ / DDR, in: Eppelmann, Rainer / Möller, Horst / Nooke, Günter / Wilms, Dorothee (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus, 2. Aufl., Bd. 2: NZ, 1997, S. 711-720.
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Die richtungsweisende Entscheidung: Seit dem 29. Januar lag im BMF ein „Stichtagsmodell“ vor. Danach sollte die Währungsunion mit der umfassenden Einführung der Marktwirtschaft verbunden werden. Ähnlich wie die meisten Wirtschaftsforschungsinstitute schätzte das BMF die Arbeitsproduktivität in der DDR auf 40 % des Westniveaus. Da die Löhne bei einem Drittel des Westniveaus längen, sei nicht zu befürchten, daß bei einer Umstellung der Löhne 1:1 die DDRUnternehmen in den Konkurs getrieben würden. Voraussetzung sei, daß die Löhne nicht schneller als die Arbeitsproduktivität stiegen. Der überdimensionierte und veraltete Industriesektor würde allerdings schrumpfen müssen; erst allmählich würden in Dienstleistungszweigen und in der Bauwirtschaft genügend neue Arbeitsplätze entstehen. Die sozialen Probleme in der Übergangszeit würden durch westdeutsche Finanzhilfen gemildert werden müssen. Der Bundesregierung mußten nun die politischen Vorteile der schnellen Währungsunion überwältigend, ihre ökonomischen Risiken hingegen beherrschbar erscheinen. Sie würde den Bürgern der DDR Hoffnung auf rasche Verbesserung ihrer Lebensbedingungen geben, den Exodus eindämmen und im bereits einsetzenden Volkskammer-Wahlkampf den DDR-Parteien, die sich mit den Bonner Regierungsparteien verbündet hatten, Stimmen bringen. Vor allem aber würde sie ein entscheidender Schritt zur Einheit sein, der jetzt gewagt werden konnte. Am 6. Februar legten sich die Vorsitzenden von CDU, CSU und FDP fest. Am 7. Februar beschloß das Kabinett, der DDR Verhandlungen über eine Währungs- und Wirtschaftsunion anzubieten. Die Verhandlungen und ihre Ergebnisse: Bei seinem Besuch in Bonn am 13. Februar wurde Modrow ein „Angebotspapier“ überreicht. Zeitgleich mit der Einführung der DM in der DDR sollten die notwendigen Voraussetzungen für die Einführung der sozialen Marktwirtschaft durch Rechtsangleichung auf den zentralen Feldern der Wirtschaftsordnung geschaffen werden. Der Regierung der DDR gingen die Souveränitätseinschränkungen, die mit dem Bonner Modell verbunden waren, zu weit. Ablehnen konnte Modrow das Angebot aber nicht; die Mehrheit der Ostdeutschen forderte inzwischen die schnelle Währungsunion. Lediglich eine Minderheit, außer der ehemaligen Führungsschicht vor allem Teile der Bürgerbewegungen und auch der Ost-SPD, lehnte sie ab, sei es, weil sie die DDR und mit ihr die Chance für einen reformierten Sozialismus so lange wie möglich erhalten wollte, sei es, weil sie hohe Arbeitslosigkeit als Folge der Leistungsschwäche der DDR-Betriebe fürchtete. Eine „Gemeinsame Expertenkommission zur Vorbereitung einer Währungsunion und Wirtschaftsgemeinschaft“ wurde gebildet. Bemerkenswert war, daß diese Kommission, der auf der DDR-Seite überwiegend Führungskräfte des alten Systems angehörten, schon am 13. März Einvernehmen über die allgemeinen Grundsätze der Währungs- und Wirtschaftsunion erzielte: stabile Währung, durchgreifende marktwirtschaftliche Reformen, solide Staatsfinanzen, wirksame soziale Absicherung. Die Volkskammerwahlen am 18. März 1990 und die langwierigen Beratungen über die Regierungsbildung führten dazu, daß offizielle Verhandlungen der beiden Regierungen über den Staatsvertrag erst am 25. April beginnen konnten und unter Zeitdruck standen, wenn die Währungs-
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union, wie von beiden Seiten gewünscht, noch vor den Sommerferien in der DDR kommen sollte. In der Frage des Umtauschkurses hatte die Bundesbank seit Ende März eine Grundsätzliche Umstellung der Geldbestände 2:1 gefordert; lediglich für eine Kopfquote von 2.000 Mark sollte 1:1 gelten. Die laufenden Zahlungen wie Löhne oder Mieten sollten ebenfalls 2:1 umgestellt werden. Lohnzuschläge waren vorgesehen, um die reale Kaufkraft der Arbeitnehmer zu sichern, wenn es nach Wegfall der Subventionen zu Preiserhöhungen bei Gütern des Grundbedarfs kam. Auch BMF und Wirtschaftsministerium teilten diese Position. Maßgebend war die Sorge um Inflation als Folge übermäßiger Ausweitung der Geldmenge und Arbeitslosigkeit als Folge zu hoher Lohnkosten. Der Bundeskanzler und Bundesarbeitsminister Blüm wollten den DDR-Bürgern, die bei Geldbeständen auf hohe Kopfquoten, bei Löhnen auf 1:1 drängten, entgegenkommen. Die endgültige Regelung sah für Geldbestände grundsätzlich 2:1, aber nach dem Alter gestaffelte Kopfquoten 1:1 (für Personen unter 15 Jahren 2.000 DM, zwischen 15 und 59 Jahren 4.000 DM, über 60 Jahren 6.000 DM) vor; für laufende Zahlungen wurde 1:1 vereinbart. Für den 2:1 reduzierten Betrag der Geldbestände wurde den Sparern ein Anteilsrecht am volkseigenen Vermögen „nach seiner vorrangigen Nutzung für Strukturanpassung der Wirtschaft und für die Sanierung des Staatshaushalts“ in Aussicht gestellt. Alle Schulden, auch die der Betriebe und der Kommunen wurden 2:1 umgestellt. Die DDR konnte dabei ihren Standpunkt, die Schulden der Betriebe, Wohnungsbaugesellschaften und Kommunen zu streichen, nicht durchsetzen. Für die Streichung dieser Schulden sprach, daß sie Verrechnungen innerhalb des planwirtschaftlichen Systems darstellten und ihnen in vielen Fällen keine ausreichenden Vermögenswerte gegenüberstanden. Dagegen stand das Interesse von Bundesregierung und Bundesbank, den Bund nicht mit zusätzlichen Ausgleichsforderungen von weit über 100 Mrd. DM zu belasten; dies hätte das internationale Vertrauen in die DM erschüttert. Bei der Privatisierung der Betriebe in den folgenden Jahren sah sich die Treuhandanstalt allerdings gezwungen, die Altschulden der Betriebe in vielen Fällen teilweise oder ganz zu übernehmen, während die Altschulden der Kommunen jahrelang zu Auseinandersetzungen mit Bonn führten. In der Frage der sozialen Sicherung schlug die Bundesregierung anfangs eine „Ergänzung“ der Währungs- und Wirtschaftsunion durch eine „Sozialgemeinschaft“ vor. Sie fürchtete, die sofortige Übertragung der gesamten westdeutschen Sozialordnung auf die DDR würde die Umstrukturierung der Wirtschaft behindern und auch zu teuer werden. De Maizière beharrte auf einem Maximum an sozialen Sicherungen. Die Bundesregierung kam seiner Position schließlich weit entgegen. Die „Sozialunion“ trat im Titel des Vertrages gleichrangig neben die Währungs- und Wirtschaftsunion, Symbol dafür, daß die westdeutsche Sozialordnung auf Ostdeutschland übertragen werden sollte. Kurz vor der Unterzeichnung des Vertrages noch offene Punkte, so die Forderung der ostdeutschen Seite nach einem Zuschlag für die Bezieher niedriger Renten, wurden nach einem Gespräch zwischen Kohl und de Maizière im Sinne der DDR-Regierung geregelt. In der Eigentumsfrage gelangten die Delegationen zu keiner Einigung; sie mußte aus den Verhandlungen über den Staatsvertrag ausgeklammert und getrennt
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weiterberaten werden. Strittig war zunächst die Forderung der DDR-Seite, die nach sowjetischem Besatzungsrecht vollzogenen Enteignungen der Zeit von 1945 bis 1949 nicht rückgängig zu machen. Hier gab de Maizière nicht nach. Die Westseite akzeptierte schließlich seine Position, auch weil sie annahm, die Zustimmung der Sowjetunion zur Wiedervereinigung wäre sonst gefährdet. Die Verhandlungen über die Enteignungen423 nach 1949 wurden schwierig, weil die DDR-Seite natürlichen und juristischen Personen, die ihren Sitz nicht in der DDR hatten, für eine Übergangsfrist von zehn Jahren nur ein Erbpachtrecht mit Vorkaufsrecht einräumen wollte. Das hätte Investitionen westlicher Unternehmen erheblich behindert. Eine Einigung gelang erst kurz vor Vertragsabschluß mit der Formel, daß Investoren Grundstücke in Gewerbegebieten und an „speziellen Standorten“ in ausreichender Zahl zum Erwerb überlassen werden sollten (Anlage IX Staatsvertrag). Ob für die Enteignungen nach 1949 grundsätzlich „Rückgabe vor Entschädigung“ gelten sollte, wie es die Bundesregierung anstrebte, oder aber „Entschädigung vor Rückgabe“, wie es der vorherrschenden Meinung in der DDR und auch in der westdeutschen SPD entsprach, war bei Abschluß des Staatsvertrages noch nicht entschieden. Erst die „Gemeinsame Erklärung zur Regelung offener Vermögensfragen“ vom 15. Juli 1990 brachte Fortschritte. Die DDRRegierung akzeptierte für Enteignungen nach DDR-Recht das Prinzip der Rückgabe. Es wurden aber umfangreiche Ausnahmen vereinbart. So sollte das Entschädigungsprinzip gelten, wenn Grundstücke und Gebäude in „redlicher Weise“ erworben worden waren oder sie bei gewerblicher Nutzung nicht ohne erhebliche Beeinträchtigung der Unternehmen zurückgegeben werden konnten. Konsens bestand über die Notwendigkeit, den Unternehmen der DDR die Anpassung an die Marktwirtschaft zu erleichtern. Die ostdeutsche Seite neigte anfangs zu Importzöllen und Kontingenten für Westwaren; die westdeutsche Seite wollte eine innerdeutsche Handelsgrenze möglichst vermeiden. Um so energischer drängte die ostdeutsche Seite auf Finanzhilfen an Unternehmen. Es gelang nicht, detaillierte Strukturanpassungsmaßnahmen festzulegen; der Vertrag beschränkte sich daher auf Grundsätze. Konkret wurde ein Kreditrahmen von 25 Mrd. DM für die Treuhandanstalt bis Ende 1991 zur Förderung der Strukturanpassung der Unternehmen vereinbart. Um den Ost-Export zu stützen, wurden der DDR Hermes-Kredite und zusätzliche Finanzhilfen zugesichert. In der Frage des Umweltschutzes kam es rasch zu einer Einigung. Für Neuanlagen sollten die westdeutschen Umweltschutz- und Sicherheitsanforderungen gelten. Bei bestehenden Anlagen sollten so bald wie möglich entsprechende Anforderungen vorgeschrieben werden. Ein besonders schwieriges Problem bildete die Deckung der Defizite in den öffentlichen Haushalten der DDR (Staatshaushalt).424 Der Finanzbedarf der DDR ließ sich nicht ermitteln. So war es nur möglich, die Funktionsfähigkeit von Staat und Sozialversicherung durch zweckgebundene Finanzzuweisungen und einen Kreditrahmen vorläufig zu sichern und die Kontrolle Bonns über die Ausgaben 423 Wassermann, Rudolf: Enteignungen, in: Ebd., Bd. 1, S. 243-246. 424 Buck, Hannsjörg F.: Staatshaushalt, in: Ebd., Bd. 2, S. 795-805.
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der DDR zu gewährleisten. Die Einzelheiten der Einbindung Ostdeutschlands in den föderalistischen Finanzverbund waren nicht nur zwischen Ost-Berlin und Bonn, sondern auch zwischen Bund und Ländern umstritten; sie wurden im Rahmen der Verhandlungen über den Einigungsvertrag425 geregelt. Der Vertrag über Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion (Staatsvertrag) wurde am 18. Mai 1990 unterzeichnet. Am 21. Juni stimmten Bundestag und Volkskammer mit jeweils großer Mehrheit zu. Die Beratungen in der Volkskammer zeigten, daß in allen Fraktionen mit Ausnahme von PDS und Bündnis 90/Grüne die Überzeugung vorherrschte, der Regierung de Maizière sei es gelungen, die Interessen der Bürger Ostdeutschlands in den westlichen Fragen zu wahren. Folgen: Am 1. Juli 1990 trat die WWS in Kraft. Bürger, öffentliche Verwaltung und Unternehmen der DDR erhielten über 180 Mrd. DM, das entsprach einer Umtauschrate von 1,8 Mark für 1 DM. Der Inlandsabsatz der ostdeutschen Unternehmen ging drastisch zurück; die Verbraucher hielten Westprodukte für besser, was oft, aber nicht immer zutraf. Hinz kam, daß Westunternehmen in den ostdeutschen Markt drängten, während die ostdeutschen Hersteller oft Schwierigkeiten hatten, sich in Vertrieb und Lieferbedingungen rasch anzupassen. Mit dem Zerfall der Sowjetunion brach 1991 auch der Ost-Export zusammen. Das reale Inlandsprodukt Ostdeutschlands, schon seit Anfang 1990 rückläufig, schrumpfte 1991 auf weniger als zwei Drittel des Niveaus von 1989. Ende 1991 gab es in den neuen Bundesländern und Ost-Berlin 1 Mio. registrierte Arbeitslose; hinzu kam eine „verdeckte“ Arbeitslosigkeit (Kurzarbeit, Arbeitsbeschaffungs-, Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen oder Vorruhestand) von fast 2 Mio. 1992 setzte kräftiges Wachstum ein, aber erst 1994 war der Tiefpunkt der Beschäftigung erreicht. Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner, 1991 bei 30 % des Westniveaus, stieg bis zum 2. Halbjahr 1994 auf 50 %. Der Aufschwung zeichnete sich zuerst im Baugewerbe ab; Handwerk und Dienstleistungen folgten. Die Industrie erholte sich nur langsam. Ende 1994 war der schwierigste Teil der Aufbauphase bewältigt. Die Privatisierung der in der Treuhandanstalt (THA) zusammengefaßten Unternehmen war zum größten Teil abgeschlossen. Sie brachte der THA Einnahmen von etwa 70 Mrd. DM; ihnen standen Ausgaben für Sanierung, Stillegung, Entschuldung der Betriebe und für Sozialpläne von über 330 Mrd. gegenüber. Ende 1994 waren moderne Produktionsanlagen im Werte von 400 Mrd. DM entstanden, je etwa zur Hälfte als Folge öffentlicher Transferleistungen und privater Investitionen. Schneller als die Wertschöpfung stieg das Einkommen je Einwohner. Die durchschnittlichen Arbeitseinkommen und auch die Renten lagen im zweiten Halbjahr 1990 bei einem Drittel, vier Jahre später bei über 70 % des Westniveaus. Diese Abkopplung der Einkommensentwicklung vom wirtschaftlichen Wachstum wurde durch öffentliche Transferleistungen ermöglicht. Im Ganzen betrugen die öffentlichen Nettoleistungen an die neuen Bundesländer von 1991 bis 1994 489 Mrd. (Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Juli 1995). 425 Schäuble, Wolfgang: Einigungsvertrag, in: Ebd., Bd. 1, S. 231-240.
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Bewertung: Die Diskussion, ob beim Staatsvertrag und den anschließenden Regelungen Fehler gemacht wurden, hält bis heute an. Produktionseinbruch und hohe Arbeitslosigkeit waren nach der Währungsunion unvermeidbar. Vor allem in der Industrie entsprachen die Erzeugnisse nicht den Verbraucherwünschen, die Produktionsanlagen waren veraltet und oft auch verschlissen. Die Arbeitsproduktivität war so gering, daß die Lohnstückkosten, trotz der anfangs noch niedrigen Löhne, in vielen Fällen höher waren als bei westlichen Konkurrenten. Um wettbewerbsfähig zu werden, brauchten die ostdeutschen Unternehmen neue Produkte und neue Produktionsanlagen. Beides erforderte nicht nur viel Kapital, sondern auch Marktkenntnis, technisches Wissen und Zeit. An allem mangelte es. Aus eigener Kraft konnten die meisten Unternehmen daher nicht überleben. Auch die THA wäre nicht in der Lage gewesen, die Unternehmen zur Wettbewerbsfähigkeit zu führen. Sie hätte dafür viel zu wenig Personal gehabt; auch war sie als staatliche Behörde wenig geeignet, schwierigste unternehmerische Funktionen auszuüben. Der schnellste Weg, ein Unternehmen zu sanieren, war somit in der Regel die Übernahme durch ein Westunternehmen, das nicht nur über Kapital und Wissen, sondern auch über Absatzmärkte und eine Vertriebsorganisation verfügte. Zu den unvermeidbaren Hemmnissen des „Aufschwungs Ost“ gehörte, daß Industriezweige, die in Westdeutschland schrumpften oder stagnierten, wie Eisen und Stahl, Textil und Bekleidung, Schiffbau, Chemie, in Ostdeutschland besonders stark vertreten waren. Für diese „Schrumpfbranchen“ ließ sich privates Kapital nur bei extrem hohen Subventionen gewinnen, die aus politischen Gründen zwar nicht selten gewährt wurden, in jedem Fall aber die Überkapazitäten noch vergrößerten. Das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ gilt vielen als erhebliches Investitionshemmnis. Andererseits zeigte sich oft, daß weniger die Rechtslage an sich als die langsame Arbeit der Grundbuch- und Vermögensämter sowie die unzureichende Kapazität der Gerichte die Klärung der Vermögensverhältnisse erschwerte. Kritik wird auch an der zu schnellen Angleichung der Löhne an das Westniveau geübt. Die Lohnentwicklung ist dem Staatsvertrag allerdings nicht anzulasten. Eine Umstellung auch der Löhne 2:1 hätte nichts genutzt, weil die Bürger der neuen Länder und die Gewerkschaften um so energischer auf rasche Angleichung gedrängt hätten. Kritisch wird nach wie vor die Finanzierung überwiegend durch Kreditaufnahme und nicht durch Steuererhöhungen beurteilt. Da für die folgenden Jahre mit erheblichen Steuermehreinnahmen gerechnet wurde, erschienen der Koalition im Sommer 1990 Steuererhöhungen sachlich nicht unbedingt notwendig und wegen der in Westdeutschland verbreiteten Sorge vor den Kosten der Einheit politisch auch nicht ratsam. In der entscheidenden Frage gab es keine Alternative. Wer die deutsche Einheit wollte, mußte 1990 die WWS wagen. Weiteres Abwarten hätte die Teilung verlängert und den Beginn der Angleichung der Lebensverhältnisse hinausgeschoben. Vielleicht hätte Zögern die Wiedervereinigung sogar verhindert. In eige-
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nem Staat und aus eigener Kraft aber hätten die Bürger der DDR den Aufbau ihres ruinierten Landes in Jahrzehnten nicht bewältigen können.426 9. „Kommt die DM – bleiben wir. Kommt sie nicht, dann gehen wir zu ihr“: Währungsumstellung: Von der Binnenwährung DDR-Mark zur konvertiblen DM am 1. Juli 1990 9.1. Das Herauslösen der sozialistischen Banken aus dem „einheitlichen sozialistischen Finanzsystem der DDR“ Die Banken und Bankgeschäfte in einer Marktwirtschaft bilden das Referenzmodell zur Beurteilung der „sozialistischen Banken“ der SBZ / DDR. Karl Fr. Hagenmüller versteht unter einem Kreditinstitut „eine Unternehmung, die gewerbsmäßig (1) Kapital ansammelt, Geld und Kredit leiht, (2) Wertpapiere für andere emittiert, handelt und verwaltet, (3) die Abwicklung des Zahlungsverkehrs übernimmt. Um als Kreditinstitut zu gelten, ist es jedoch nicht erforderlich, daß das Institut in allen drei Geschäftszweigen tätig ist. Es genügt z. B., wenn eine Betriebswirtschaft nur Kapital ansammelt und Kredite gibt oder ausschließlich Wertpapiere verwahrt und verwaltet. Die Übernahme des Zahlungsverkehrs allein genügt jedoch nicht, um eine Unternehmung als Kreditinstitut zu qualifizieren; ebenfalls ist es nicht ausreichend, wenn eine Unternehmung z. B. nur Kapital sammelt oder nur Geld und Kredit leiht“.427 In der Betriebswirtschaftslehre ist die Bankbetriebslehre eine „spezielle Betriebswirtschaftslehre: Bemerkenswert ist, daß die Lehre vom Bankbetrieb in enger Verbindung mit der Volkswirtschaftslehre steht; denn die Beschäftigung mit Problemen wie „Geld und Kredit“, „Währung“ und „Zins“ ergibt zahlreiche Berührungspunkte“.428 Die Unternehmungen des Bankgewerbes sind Kreditinstitute, die Bankgeschäfte betreiben. Etwa die Hälfte der Aktienbanken in der Bundesrepublik waren um 1960 als sogenannte „Universalbanken“ tätig. „Den größten Umfang haben bei den Aktienbanken das kurz- und mittelfristige Kreditgeschäft und das Depositengeschäft. Im Kreditgeschäft überwiegen Kontokorrentkredite, während langfristige Kredite nur eine untergeordnete Rolle spie426 Grosser, Dieter: Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion (WWS), in: Ebd., Bd. 2, S. 915923. Lit.: Gros, Jürgen: Entscheidung ohne Alternative?, Mainz 1994. Korte, Karl-Rudolf: Die Chance genutzt? Die Politik zur Einheit Deutschlands, Frankfurt/M., New York 1994. Schäuble, Wolfgang: Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte, Stuttgart 1991. Waigel, Theo / Schell, Manfred: Tage, die Deutschland und die Welt veränderten, München 1994. 427 Hagenmüller, Karl Fr.: Bankbetrieb und Bankpolitik, Wiesbaden 1959, S. 12. Hagenmüller gebraucht die Begriffe „Bankbetrieb“, „Bankunternehmen“, „Bank“ und „Kreditinstitut“ synonym. 428 Ebd., S. 13.
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len. Außerdem pflegen insbesondere die Aktienbanken das Akzeptkreditgeschäft, jedoch ist dieser Art von Geschäften durch die Kreditrichtsätze betragsmäßig eine relativ enge Grenze gesetzt. Insgesamt gesehen stehen die Aktienbanken im kurzund mittelfristigen Kreditgeschäft an erster Stelle im deutschen Bankwesen; auf die Kreditbanken entfielen Ende 1954 51 % aller von Kreditinstituten außerhalb des Zentralbanksystems gewährten kurzfristigen Kredite. In Anbetracht ihrer Kapitalkraft sehen die Aktienbanken im Kreditgeschäft ihre Hauptaufgabe darin, die Wirtschaft – insbesondere die Industrie – mit Großkrediten zu versorgen“.429 Bei den Bankgeschäften unterscheidet man Aktiv- und Passivgeschäfte, die das Kerngeschäft der Banken darstellen. Die Passivgeschäfte dienen zur Kapitalbeschaffung, die Bank ist Kreditnehmer. Die Aktivgeschäfte führt das Kreditinstitut im wesentlichen mit den im Passivgeschäft aufgebrachten Mitteln durch.430 „Das Kreditgeschäft ist der Hauptgeschäftszweig der meisten Kreditinstitute. Unter Kredit wird eine Leistung verstanden, die im Vertrauen darauf erbracht wird, daß die Gegenleistung zu einem späteren Zeitpunkt ordnungsgemäß erfolgt“.431 Bei der Einteilung der Kredite kann nach der Kreditfrist in kurzfristige, mittelfristige und langfristige Kredite unterschieden werden. „Unter langfristigen Kreditgeschäften sind alle Bankgeschäfte zu verstehen, bei denen Darlehen mit einer Laufzeit von mehr als 4 Jahren gewährt werden“.432 „Da hier ausschließlich die Kreditinstitute in der Bundesrepublik – einer sozialen Marktwirtschaft mit Entscheidungsfreiheit der einzelnen Wirtschaftssubjekte bei gewissen Interventionsmöglichkeiten des Staates zur Erreichung bestimmter wirtschaftspolitischer Ziele – behandelt werden, kann grundsätzlich von der Annahme ausgegangen werden, daß das erwerbswirtschaftliche Prinzip oberste Leitmaxime der Kreditinstitute ist. […] Das Streben der Kreditinstitute ist mit gewissen Einschränkungen auf die langfristige Erzielung eines Gewinnes abgestellt. Da sich der Gewinn aus der Differenz zwischen Erträgen und Aufwendungen ergibt, muß das Streben auf die Vergrößerung dieser Differenz gerichtet sein“.433
429 Gebauer, Wolfgang: Geldtheorie und Geldpolitik. IX. Geldmarkt, in: HdWW, Bd. 3, 1988, S. 476: Geld- und Kapitalmarkt gelten als Teilmärkte eines übergeordneten Kreditmarkts. Tuchtfeld, Egon: Kapitalmarkt, in: HdWW, Bd. 4, 1988, S. 433: Als Markt für längerfristige Finanzierungsmittel wird der Kapitalmarkt dem Geldmarkt gegenübergestellt, auf dem kurzfristige Finanzierungsmittel umgesetzt werden. Geld- und Kapitalmarkt bilden zusammen die Finanz- oder Kreditmärkte. 430 Hagenmüller, S. 28. 431 Ebd. S. 99. 432 Ebd. S. 127. 433 Ebd., S. 227, 229.
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Die typischen Geschäfte der Kreditinstitute434 Die Arten der Bankgeschäfte I. Kreditgeschäfte A. Aktivgeschäfte: Die Bank ist Kreditgeber a) Kurzfristige 1. Kontokorrentkredite 2. Diskontkredite 3. Lombardkredite 4. Avalkredite 5. Akzeptkredite 6. Rembourskredite
Bank ist Kreditgeber →
Geld- und Kapitalmärkte
7. Konsortialkredite b) Langfristige 1. Hypothekenkredite 2. Kommunalkredite 3. Sonstige langfristige Darlehen B. Passivgeschäfte: Die Bank ist Kreditnehmer a) Kurzfristige 1. Depositeneinlagen 2. Aufgenommene Gelder Geld- und Kapitalmärkte →
Bank ist Kreditnehmer →
3. Banknotenausgabe (Nur bei Notenbanken) b) Langfristige 1. Emission von Pfandbriefen 2. Emission von Kommunalobligationen 3. Ausgabe von Kassenobligationen (Schweiz) 4. Emission sonstiger Bankanleihen Dienstleistungsgeschäfte der Banken II. Zahlungsverkehr: nationaler und internationaler III. Effektenverkehr IV. Sonstige Dienstleistungen
434 Sellien, R., Sellien, H. (Hrsg.): Dr. Gablers Wirtschaftslexikon, 4. Aufl., Wiesbaden 1961, S. 406.
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Die Dienstleistungsgeschäfte der Banken (II, III, IV) sind nicht konstitutiv für Bankengeschäfte. Nach dem sozialistischen „ökonomischen Lexikon“ ist Geldmarkt im weiteren Sinne ein kapitalistischer (= marktwirtschaftlicher) Markt für kurzfristige Kredite im Unterschied zum Kapitalmarkt als Markt für langfristige Kredite. 435 Der Kreditmarkt im Kapitalismus (= Marktwirtschaft) ist die Gesamtheit der Formen und Arten des Handels mit Leihkapital; u. a. alle Arten des Bank und kommerziellen Kredits, der Wertpapier- und Geldhandel an der Börse, die Pfandleihe, der private Geldhandel. Der Kreditmarkt wird untergliedert in Geldmarkt und Kapitalmarkt“.436 Der Kapitalmarkt ist die bürgerliche Bezeichnung für den Markt „von langfristigem Leihkapital im Unterschied zum Geldmarkt, der den Markt für kurzfristige Kredite bezeichnet. Gegenstände des Kapitalmarktes sind u. a.: Wertpapiere wie Aktien, Industrieobligationen, Staatsschuldscheine, Pfandbriefe, Kommunalobligationen usw., ferner Darlehen, Hypotheken, Schuldscheine mit längerer Lauffrist u. a.“.437 Die natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft in der SBZ/DDR war eine marktlose Wirtschaft in der es keine Geld-, Kapital- und Kreditmarktwirtschaft gab. Folglich kann es auch keine Banken wie in der Marktwirtschaft gegeben haben. Von der Schließung der Banken am 28.4.1945438 bis zur Gründung der Deutschen Kreditbank (DKB) am 19. März 1990 existierten in der SBZ/DDR nur sozialistische Banken, die für die Bürger der DDR keine Bankgeschäfte tätigten. Die Angestellten in den sozialistischen Banken verfügten folglich auch nicht über das Fachwissen wie die Bankangestellten in der Bundesrepublik. Bei der Transformation der sozialistischen zu marktwirtschaftlichen Banken mußten die sozialistischen Banken aus dem „einheitlichen sozialistischen Banksystem“ der DDR, ebenso wie die Finanzbeziehungen der Volkseigenen Betriebe, die Sozialversicherung und die territorialen Haushalte (Bezirke, Kreise und Gemeinden) herausgelöst werden. Das Personal der sozialistischen Banken mußte im Vorfeld der Währungsunion am 1. Juli 1990 intensiv geschult werden.
435 Kühne, H.-D., Geldmarkt, in: Ökonomisches Lexikon A-G, 3. Aufl., Wiesbaden 1961, S. 729 f. 436 Ökonomisches Lexikon H-P, 3. Aufl., Berlin (-Ost) 1979, S. 194. 437 Ebd. S. 194. 438 Deckers, Josef: Die Transformation des Banksystems in der Sowjetischen Besatzungszone, Berlin 1974, S. 26 f. Kaminsky, Horst: Die Entwicklung des sozialistischen Bankwesens in der DDR, Berlin (-Ost) 1979, S. 32. Zschaler, Frank: Die Entwicklung einer zentralen Finanzverwaltung in der SBZ / DDR 1945/49, S. 126. Joswig, Heinz: Die Banken. Die Aufgaben und die Struktur der Banken, in: Autorenkollektiv (Hrsg.): Das Finanzsystem der DDR, Berlin (-Ost) 1961, S. 539-544.
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9.2. Auf dem Weg zur Währungsunion439 (1989 bis zum 30. Juni 1990) Der DDR-Reisedevisenfonds: Nach Öffnung der deutsch-deutschen Grenze Anfang November 1989 durften Bewohner der DDR zum ersten Mal in großer Zahl in das Bundesgebiet reisen. Allerdings konnten sie anfangs ihre Reiseausgaben in den meisten Fällen nur mit den 15 DM, die sie einmal jährlich in der DDR eintauschen durften, und mit dem vom Bund und teilweise zusätzlich von den Kommunen gezahlten „Begrüßungsgeld“ finanzieren. Die vom Bund bereitgestellte Bargeldhilfe betrug 100 DM je Reisender für den jeweils ersten Besuch in der Bundesrepublik innerhalb eines Kalenderjahres; darüber hinaus haben die Kommunen in unterschiedlicher Höhe Zuwendungen geleistet. Anfang Dezember 1989 vereinbarte die Bundesregierung mit der Regierung der DDR, mit Wirkung vom 1. Januar 1990 einen gemeinsamen Reisedevisenfonds zur Finanzierung der Reiseausgaben von DDR-Bewohnern im Bundesgebiet zu errichten. Der Reisedevisenfonds trat an die Stelle des „Begrüßungsgeldes“. Gleichzeitig verzichtete die DDR ab Weihnachten 1990 auf den früher von westdeutschen Reisenden geforderten Mindestumtausch und führte zum 2. Januar 1990 einen Umtauschkurs für westdeutsche Reisende von 1 DM = 3 Mark anstelle der zuvor geltenden Relation von 1 DM = 1 Mark ein. Der Höchstbetrag des Reisedevisenfonds wurde auf 2,9 Mrd. DM festgelegt, wobei der Bund und die DDR jeweils 750 Mio. DM aufzubringen hatten und der Bund zusätzlich das für das Jahr 1990 eingesparte „Begrüßungsgeld“ in Höhe von 1,4 Mrd. DM. Zu Lasten des Fonds konnten DDR-Bewohner bei Geldinstituten in der DDR und im Bundesgebiet bis zu 200 DM (Kinder bis 14 Jahre 100 DM) erwerben, wobei für die ersten 100 DM (Kinder 50 DM) ein Kurs von 1 DM = 1 Mark und für die zweiten 100 DM (Kinder 50 DM) ein Kurs von 1 DM = 5 Mark galt. Daraus ergab sich für den eintauschbaren Gesamtbetrag von 200 DM (bzw. 100 DM) ein rechnerischer „Mischkurs“ von 1:3 im Verhältnis zur Mark in der DDR. Für die dem Fonds im Tausch gegen D-Mark zufließenden OstmarkBeträge sollten Infrastrukturmaßnahmen in der DDR finanziert werden, über die die beiden deutschen Regierungen gemeinsam zu entscheiden hatten. Mit der Einführung der Deutschen Mark in der DDR am 1. Juli 1990 wurde der Reisedevisenfonds gegenstandslos. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten DDRBewohner insgesamt 2,17 Mrd. DM zu Lasten des Fonds umgetauscht, wovon absprachegemäß der Bund 1,61 Mrd. DM und die DDR 560 Mio. DM aufzubringen hatten. Der Umtausch fand fast ausschließlich in den ersten beiden Monaten des Jahres statt. Als sich im März die Möglichkeit einer baldigen Währungsunion mit günstigeren Umstellungssätzen als 1:5 abzeichnete, wurden kaum mehr D-Mark zu Lasten des Reisedevisenfonds zu dem in der zweiten Tranche (von 101 bis 200 DM bzw. 51 bis 100 DM für Kinder) geltenden Kurs von 1 DM = 5 Mark erworben.
439 Monatsberichte der Deutschen Bundesbank, Juli 1990, S. 14-29.
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Aus dem Umtausch in D-Mark sind dem Fonds 5,03 Mrd. Mark zugeflossen. Die beiden deutschen Regierungen haben vereinbart, daß hiervon 4,2 Mrd. Mark für Infrastrukturmaßnahmen in der DDR verwendet werden (Verkehrsbereich, Umweltschutz, Tourismus, Städtebau und Modelldörfer, Post- und Fernmeldewesen, Kredite und Investitionszulagen für Kleinbetriebe). Bis zum Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion wurde dieser Betrag fast vollständig ausgegeben. Der verbleibende Rest aus dem Umtausch soll nach Umstellung in DMark der allgemeinen Deckungsmasse des DDR-Haushalts für das zweite Halbjahr 1990 zugeführt werden. Der Sortenmarkt für Mark der DDR: Die bis zum 30. Juni 1990 in der DDR umlaufende Mark der DDR war eine reine Binnenwährung. Sie konnte über die Grenzen der DDR hinweg weder transferiert noch gegen andere Währungen konvertiert werden. Insbesondere war es Reisenden nach den Gesetzen der DDR nicht erlaubt, Mark-Noten und -Münzen mit ins Land zu bringen oder das Land mit Mark der DDR zu verlassen. Gleichwohl bildete sich außerhalb der DDR, d. h. vor allem in Berlin (West) und im Bundesgebiet, schon frühzeitig ein Sortenhandel heraus. Dieser Markt war vorwiegend als Schaltergeschäft von Wechselstuben und Banken organisiert. Darüber hinaus entstanden nach Öffnung der Grenzen sog. „Straßenmärkte“. Für das Publikum war der Markt im Westen frei zugänglich und ermöglichte es somit Anbietern wie Nachfragern, Mark der DDR auch in größeren Beträgen zu verkaufen oder zu erwerben. Die Entwicklung des Sortenmarktes für DDR-Mark war stets durch die politischen Umstände bestimmt. Bis zur Öffnung der Grenzen im November 1989 ergab sich das Angebot aus Bargeldmitnahmen von DDR-Bewohnern (sofern diese ausreisen durften) oder von rückreisenden Bundesbürgern. In jedem Falle waren diese Bargeldmitnahmen aus Sicht der DDR illegal. Im Durchschnitt der vergangenen drei Jahre (1987 bis 1989) wurde diesen Anbietern ein Ankaufkurs von etwa 12,50 D-Mark für 100 DDR-Mark geboten. Den Gegenwert in DDR Mark verwendeten viele DDR-Bewohner, um im Westen oder auch in der DDR selbst (in speziell dafür zugelassenen Läden oder auf dem Schwarzen Markt) westliche Produkte zu kaufen. Bei den Nachfragern von Mark der DDR handelte es sich vor allem um westliche Besucher der DDR. Diese konnten sich über den damals vorgeschriebenen Zwangsumtausch hinaus (1989 25 DM pro Tag je erwerbstätiger Reisender bzw. 15 DM je Rentner) relativ billig mit Mark-Sorten eindecken (deren Mitnahme nach DDR-Bestimmungen ebenfalls strafbar war). Im Durchschnitt der Jahre 1987 bis 1989 belief sich der Verkaufskurs der Wechselstuben auf knapp 15 DM je 100 Mark Ost, während der von der DDR geforderte Zwangsumtausch auf der Basis 1:1 erfolgen mußte. Nach der Öffnung der Grenzen Anfang November 1989 hat sich der Handel mit DDR-Sorten stark belebt. Übersiedler, die teilweise in der DDR ihr Sparguthaben aufgelöst hatten, und DDR-Bewohner, die westliche Waren kaufen wollten, erhöhten zunächst drastisch das Sortenangebot. Bis Mitte November 1989 sank der Ankaufkurs dadurch vorübergehend auf 7 DM für 100 DDR-Mark. Im Verlauf der ersten Monate von 1990 nahm aber auch die Nachfrage immer mehr zu, so
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daß sich der Kurs der Mark der DDR kräftig erhöhte. In vielen Fällen wurde von westlichen Besuchern DDR-Mark erworben, um in der DDR bestimmte, teilweise hoch subventionierte Produkte günstig einzukaufen. Zunehmend wurden im Verlauf der Diskussion um eine Währungsunion aber auch spekulative Käufe getätigt. Zwar waren die Umtauschmodalitäten im Rahmen der geplanten Währungsunion im März und April noch unklar, viele Käufer erwarben aber gleichwohl DDRMark in der Erwartung, diese später zu einem günstigeren Kurs in D-Mark zurücktauschen zu können. (Die später im Hinblick auf die Währungsumstellung getroffenen Mißbrauchsregelungen betreffen u. a. solche durch „Spekulationsgeschäfte“ erworbenen Mark der DDR.) Kurse und Umsätze auf dem Sortenmarkt für Mark der DDR Wechselstubenkurse D-Mark je 100 Mark (Monatsdurchschnitte) Zeit
Ankauf
Verkauf
Mittelkurs 1)
Umsätze 2) Mio. DM
1985
Dezember
18.00
21.00
19.50
1986
Dezember
14.80
17.60
16.20
1987
Dezember
12.00
14.60
13.30
1988
Dezember
11.60
14.10
12.80
1989
Juni
10.50
13.00
11.70
Oktober
9.60
12.10
10.90
November
10.50
13.60
12.00
33
Dezember
12.30
15.70
14.00
26
Januar
12.80
15.70
14.20
31
Februar
15.90
18.90
17.40
70
März
18.00
21.80
19.90
80
April
23.00
27.10
25.00
82
Mai
25.90
30.10
28.00
78
Juni
32.60
37.40
35.00
1990
1) Mittel aus An- und Verkaufskursen. Quelle: Wechselstuben in Berlin. – 2) Jeweils Summe aus An- und Verkauf wichtiger Wechselstuben und einiger Kreditinstitute in Berlin (West) und im Bundesgebiet. BBk
Eine gewisse Obergrenze für den Sortenkurs war dadurch gegeben, daß es ab Januar in der DDR für westliche Besucher offiziell möglich war, zum Kurs von 1 DM = 3 Mark unbeschränkt DDR-Mark zu erwerben. Am 2. Mai 1990, dem Tag, an dem die im Staatsvertrag mit der DDR ausgehandelten Umtauschmodalitäten der Währungsunion bekannt gemacht wurden, wurde dieser Kurs auf 1 DM = 2 Mark heraufgesetzt. Im übrigen zogen sich die restlichen Banken im Mai weitgehend aus diesem Sortenhandel zurück, da die Risiken trotz der hohen Handelsspanne von etwa 15 % zu groß wurden. Für die Banken bestand die Gefahr,
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daß sie ihre Handelsbestände an Mark der DDR vor dem Inkrafttreten der Währungsunion nicht mehr rechtzeitig abstoßen konnten. Obwohl der Markt für Sorten der DDR im Westen frei zugänglich war und sich die Kurse dort nach Angebot und Nachfrage richteten, konnte die daraus resultierende Bewertung der DDR-Mark nicht als Basis für das Umstellungsverhältnis der DDR-Mark in D-Mark dienen. Dafür war dieser Markt nicht hinreichend repräsentativ. Letztlich war er nur ein Nebenmarkt, für den in keiner Weise die Vorstellungen eines wirklich freien Marktes erfüllt waren. Sortenmärkte sind in der Regel Komponente eines sehr viel umfangreicheren Devisenmarktes, auf dem Angebot und Nachfrage durch vielfältige Einflüsse, wie zum Beispiel Leistungsund Kapitaltransaktionen sowie Preis- und Zinsentwicklungen, bestimmt werden. Ein solcher Devisenmarkt hat für die Mark der DDR nie existiert. Der Außenhandel der DDR, auch mit westlichen Ländern, vollzog sich vorwiegend im Rahmen bilateraler Vereinbarungen und Verrechnungen; der Warentausch mit der Bundesrepublik erfolgte dabei auf der Basis von „Verrechnungseinheiten“. Aber auch innerhalb der DDR fehlte es an freien Waren- und Finanzmärkten, so daß es keine Basis für den Ausgleichsmechanismus der Wechselkurse gab. Die von der DDR als illegal behandelten Bargeld-Mitnahmen und die damit einhergehenden Risiken sowie die mangelnde Attraktivität des dortigen Waren- und Dienstleistungsangebotes mußten auf dem Sortenmarkt von vornherein zu hohen Abschlägen führen; im Verhältnis zu ihrer Binnenkaufkraft war die Mark der DDR auf diesem Teilmarkt über längere Zeit unterbewertet. Struktur des Bankensystems der DDR: Die Struktur des DDR-Bankensystems spiegelt auch gegenwärtig noch dessen frühere enge Einbindung in den volkswirtschaftlichen Planvollzug der ehemaligen „sozialistischen“ Kommandowirtschaft. Das Bankwesen bestand bis Ende März 1990 im wesentlichen aus der Staatsbank der DDR (jetzt Staatsbank Berlin) und ihren Zweigstellen sowie einer kleinen Zahl von Instituten mit Sonderaufgaben (Deutsche Außenhandelsbank, Deutsche Handelsbank, Bank für Landwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft (jetzt: Genossenschaftsbank Berlin)), die aber ebenfalls zentral gelenkt wurden. Hinzu kamen die Sparkassen und Genossenschaftskassen mit den Bäuerlichen Handelsgenossenschaften und Volksbanken. Diese waren zwar nicht formal in das Staatsbankensystem eingegliedert, wurden aber im Wege der Verwaltungsordnungen ebenfalls von der Staatsbank gesteuert. Der Staatsbank der DDR waren ehemals praktisch die gesamten Finanzbeziehungen zu der verstaatlichten Wirtschaft vorbehalten. Die Anfang April dieses Jahres neu gegründete Deutsche Kreditbank hat diesen Geschäftsbereich mittlerweile von der Staatsbank übernommen. Die entsprechenden Bilanzpositionen, d.h. im wesentlichen die Kredite an die DDR-Betriebe und das Wohnungswesen sowie die Einlagen der Betriebe und der Versicherungswirtschaft wurden aus der Bilanz der Staatsbank ausgegliedert. Auf der Aktivseite der Deutschen Kreditbank (DKB) konzentrieren sich dementsprechend die Forderungen an die ehemaligen Industrie-Kombinate und volkseigenen Betriebe sowie an den staatlichen Wohnungsbau. Dem steht auf der Passivseite neben dem nicht sehr umfangreichen Einlagenvo-
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lumen von Nichtbanken ein Block von Interbankverbindlichkeiten gegen die Staatsbank gegenüber. Diese Refinanzierung durch die Staatsbank ist notwendig, weil bei der Übernahme des Geschäfts mit der Wirtschaft die von der DKB übernommenen Kredite das ihr übertragen Volumen von Nichtbanken-Einlagen weit übertrafen. Die Aufgabe der Sparkassen bestand – ähnlich wie die der quantitativ weniger bedeutenden Genossenschaftskassen – im wesentlichen in der Hereinnahme von Spargeldern der Bevölkerung und deren Weiterleitung an die Staatsbank. Ein eigenständig geführtes Aktivgeschäft fehlte dem Sparkassensektor. Soweit diese Institute überhaupt Kredite an Private herauslegten, geschah dies nicht auf der Basis eigener bankgeschäftlicher Rentabilitäts- und Bonitätserwägungen, sondern aus dafür zugewiesenen Mitteln und nach fest vorgegebenen Kriterien. Auf diese Weise wurden zum Beispiel in geringem Umfang Kredite an junge Eheleute und private Baudarlehen für bestimmte Personenkreise herausgelegt. Eine zweite wichtige „Finanzierungsquelle“ der Staatsbank resultierte aus entsprechenden Anlageverpflichtungen der Spezialinstitute. Dazu rechnen die Institute, die mit der Abwicklung der Finanzbeziehungen der DDR zum westlichen Ausland und den RGW-Ländern betraut waren. Im einzelnen handelt es sich dabei um die Deutsche Außenhandelsbank (DABA) und die Deutsche Handelsbank (DHB) sowie die Außenhandelsbetriebe. Über sie wurde der gesamte Zahlungs- und Verrechnungsverkehr mit dem Ausland abgewickelt. Über diese Institute beschaffte sich die DDR im Bedarfsfall auch die nötigen Devisen. Ein weiteres Spezialinstitut war die Bank für Landwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft (BLN). Ihr war die Finanzierung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und der Nahrungsmittelindustrie vorbehalten. Gleichzeitig fungierte sie als eine Art „Zentralinstitut“ der Bäuerlichen Handelsgenossenschaften. Auch für die Bank für Landwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft bestand eine Anlageverpflichtung von Liquiditätsüberschüssen bei der Staatsbank. Vergleicht man die gegenwärtige Struktur des DDR-Bankwesens mit der oben skizzierten Situation unter der früheren Planwirtschaft, so sind die Fortschritte hin zu einem Bankensystem westlicher Prägung unverkennbar. Dies gilt insbesondere für die erreichte Zweistufigkeit, bei der die Deutsche Bundesbank die Rolle der Staatsbank der DDR als Notenbank, Bank der Banken und Hausbank des Staates uneingeschränkt übernommen hat, sowie die Aufgabenteilung zwischen Deutscher Kreditbank und der jetzigen Staatsbank Berlin (der ehemaligen Staatsbank der DDR). Die weitere Entwicklung zeichnet sich in der „flächendeckenden“ Tätigkeit der von Deutschen Kreditbank und westdeutschen Großbanken gemeinsam ins Leben gerufenen Joint Ventures bereits ab. Sie dürfte entscheidend beeinflußt werden von der ab 1. Juli 1990 möglichen Betätigung in der Bundesrepublik zugelassener Kreditinstitute auf dem Gebiet der DDR und der Bewährung der aus der ehemaligen Planwirtschaft überkommenen DDR-Institute im Wettbewerb mit den Banken aus der Bundesrepublik und dem westlichen Ausland. Umstellung der DDR-Bankbilanzen und bilanzielle Ausgeichsposten: Die Bilanzen der Kreditinstitute der DDR sind mit Wirkung vom 1. Juli 1990 entsprechend den im Staatsvertrag niedergelegten Modalitäten von Mark der DDR auf D-
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Mark umgestellt worden. Genaue statistische Angaben liegen darüber noch nicht vor. Um dennoch gewisse Vorstellungen von den quantitativen Implikationen der Währungsumstellung auf die konsolidierte Bilanz und den dabei entstehenden Ausgleichsbedarf auf der Aktivseite der Bilanz des Bankensystems zu gewinnen, wurde in der nachstehenden Tabelle ersatzweise die Umstellung auf der Basis der letzten verfügbaren Daten – der konsolidierten Bilanz des DDR-Kreditsystems per 31. Mai 19990 – vorgenommen. Dabei sind in der ersten Spalte auf der Aktiv- und Passivseite der konsolidierten Bilanz die jeweiligen Positionen in Mrd. Mark der DDR (M) aufgeführt. Die zweite Spalte nennt den jeweils anzuwendenden Umstellungssatz bzw. Hinweise auf die relevante Umstellungsregelung und gegebenenfalls den daraus rechnerisch resultierenden durchschnittlichen Umstellungssatz. Die letzte Spalte enthält die umgestellten DM-Beträge (in Mrd. DM). Umgestellt wurden alle Forderungen und Verbindlichkeiten, die auf Mark der DDR lauten (Positionen 1 und 4 auf der Aktivseite bzw. 1, 3 und 5 auf der Passivseite). Bei den ausgewiesenen Auslandsforderungen und -verbindlichkeiten (Position 2) handelt es sich im wesentlichen um Fremdwährungsbeziehungen, die nicht umzustellen, sondern angemessen in D-Mark zu bewerten sind. Soweit diese Forderungen bzw. Verbindlichkeiten bereits in D-Mark lauten, werden sie unverändert in die DM-Bilanz übernommen. Soweit sie auf Drittwährung lauten, sind sie zu Rechnungskursen in D-Mark umgerechnet. Darüber hinaus wurden bilanztechnische „Wertberichtigungen“, die sich aus unterschiedlichen Wertansätzen im Inlandsund im sog. Valutamarkkreislauf der DDR ergeben haben, soweit wie möglich aufgerechnet. Davon sind vor allem die Passivpositionen 2c sowie die in der Aktivposition 1 ausgewiesenen Kredite an den Staat aus der Neubewertung von Auslandsverbindlichkeiten betroffen. So entfallen nach der Umrechnung in D-Mark sog. Rückstellungen für Richtungskoeffizienten,440 soweit diese nicht vorher gegen die Neubewertungskredite 440 Die Rückstellungen für Richtungskoeffizienten ergaben sich im ehemaligen DDR-Kreditsystem aus der formalen Aufrechterhaltung einer 1:1 Beziehung zwischen D-Mark und Mark der DDR einerseits und dem bei Ein- und Ausfuhrzahlungen im Finanzverkehr der DDRBetriebe effektiv gezahlten Wechselkurs für 1 DM von 4,40 M andererseits. In der praktischen Abwicklung wurde der Betrag von 4,40 M in die Valutamark, die 1 DM entsprach, und den Richtungskoeffizienten von 3,40 M aufgespalten. Die Valutamarkbeziehungen wurden über die Deutsche Außenhandels-Bank (DABA) geleitet, der Richtungskoeffizient über die Staatsbank. Bei dieser entstand eine hohe Einlage aus Importzahlungen der Betriebe, weil die Ausfuhren in das westliche Ausland, für die aus dem Richtungskoeffizienten eine Prämie von 3,40 M je 1 M Exportwert gezahlt wurde, hinter den Einfuhren zurück blieben. Da die Mark der DDR im Zeitlauf gegenüber der D-Mark abgewertet wurde, mußte der Richtungskoeffizient erhöht, die Auslandsverschuldung im inneren Kreislauf der DDR in Mark der DDR also hochgeschrieben werden. Als Gegenposten wurde in der Staatsbankbilanz eine zinslose Forderung an den Staat eingestellt. Die um diesen „Neubewertungskredit“ an den Staat geminderten „Rückstellungen für Richtungskoeffizienten“ stellen für sich betrachtet einen „Aufwertungsgewinn“ aus der Umstellung der Mark dar. Dementsprechend ist dieser Betrag rechnerisch mit zum Ausgleich der konsolidierten Bilanz des DDR-Bankensystems herangezogen worden. Entsprechend der Regelung im Staatsvertrag (Artikel 8 § 4 Abs. 5 der Anlage I) ist der bei der Staatsbank entstehende Vermögensüberschuß aus dem Wegfall des Richtungskoeffizienten an den von der Deutschen Demokratischen Republik einzurichtenden Ausgleichs-
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an den Staat441 aufgerechnet wurden. Die Forderungen und Verbindlichkeiten an RGW-Länder (Aktiva- und Passivaposition 2a) wurden entsprechend der Anpassung des Transferrubel-Kurses nur zur Hälfte ihres Mark-Wertes in die DMBilanz übernommen. Ob damit den Zweifeln an der Werthaltigkeit dieser Forderungen genügend Rechnung getragen ist, bleibt abzuwarten. Bilanzielle Ausgleichsposten: Der als Ausgleichsforderung der Banken zu betrachtenden, in der Modellrechnung (für den Status Ende Mai 1990) ausgewiesene aktivische Ausgleichsposten des Bankensystems von 26 ½ Mrd.. DM ist als Rest errechnet. Darin kommt nicht zum Ausdruck, inwieweit die einzelnen Institute nach der Umstellung über das im Staatsvertrag geforderte Mindesteigenkapital in Höhe von 4 % ihrer Bilanzsumme verfügen (Artikel 8 § 4 Abs. 2 der Anlage I zum Staatsvertrag). Wo dies nicht der Fall ist, sieht der Staatsvertrag nämlich zusätzliche Ausgleichsforderungen vor, um auf diese Weise die erforderliche Eigenkapitalausstattung zu gewährleisten; daraus könnte noch ein zusätzlicher Bedarf resultieren. Andererseits wird sich der aktivische Ausgleichsposten aufgrund der Wechselkursentwicklung, insbesondere des Kursanstiegs der D-Mark gegenüber dem US-Dollar, möglicherweise vermindern, da Dollaranforderungen und verbindlichkeiten bisher zu einem Verrechnungskurs bilanziert sind, der deutlich höher ist als der aktuelle Marktkurs. (In der zunächst erstellten „vorläufigen Umstellungsrechnung“ (Anlage I, Art. 7 § 1 des Staatsvertrags) können Korrekturen aufgrund der unter Umständen notwendigen Neubewertung von Aktiva und Passiva nicht vorgenommen werden. Diese sind der endgültigen DM-Eröffnungsbilanz vorbehalten, die vielleicht weitere Bilanzierungshilfen erforderlich macht.) Zur Durchführung der Währungsumstellung hat die DDR einen Ausgleichsfonds errichtet. Er ist Schuldner und Gläubiger der aus der Währungsumstellung resultierenden (aktivischen und passivischen) Ausgleichsposten der Banken und der Außenhandelsbetriebe. Aufgrund der spezifischen Struktur des DDR-Bankensystems ist der bilanzielle Ausgleichsbedarf der einzelnen Institutsgruppen sehr unterschiedlich. So ist vor allem bei den Sparkassen und im Genossenschaftssektor mit überdurchschnittlich hohen Forderungen an den Ausgleichsfonds zu rechnen, weil sich hier der Großteil der asymmetrischen Umstellungen (Aktiva 2:1, Passiva bei bestimmten Pro-Kopf-Beträgen 1:1, ansonsten 2:1) niederschlägt. Auch bei den Instituten, die mit der Abwicklung der Finanz- und Handelsbeziehungen mit dem Ausland befaßt waren, treten Forderungen gegenüber dem Ausgleichsfonds auf, da deren Auslandsverbindlichkeiten – im Gegensatz zu den entsprechenden Inlandsforderungen – nicht umgestellt wurden.
fonds abzuführen, aus dem die Ausgleichsforderungen der Banken bedient werden. Damit vermindern sich entsprechend die Finanzleistungen, die vom Staatshaushalt der DDR direkt zur Alimentierung des Ausgleichsfonds erbracht werden müssen. 441 Einschließlich der Forderungen der Staatsbank an den Staat aus der Erstausstattung mit Noten und Münzen im Zusammenhang mit der Währungsreform von 1948.
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Zur Umstellung von Mark der DDR auf D-Mark gemäß Staatsvertrag Basis: Konsolidierte Bilanz des Kreditsystems der DDR per 31. Mai 1990 Aktiva
Mrd. M
Umstellungssatz
Mrd. DM
1. Kredite an inländische Kreditnehmer –
180,7
60,6
a) 2:1
12,3
Kredite aus Neubewertung der Auslandsverbindlichkeiten
31,2
-
-
Forderungen an den Staat aus der Erstausstattung mit Noten und Münzen 1948
4,9
-
-
Betriebe
231,7
2:1
115,8
Wohnungswesen
102,6
2:1
1,3
2,5
2:1
1,3
davon entfallen auf Staat
Umstellungssatz
Mrd. DM
249,9
-
156,6
Staat
10,8
2:1
5,4
Betriebe
57,0
c) 2,05:1
27,8
182,1
-
123,4
1. Einlagen von inländschen Nichtbanken 397,4
insgesamt
Mrd. M
Passiva
insgesamt davon entfallen auf:
darunter:
Privatpersonen (ohne Wohnungsbaukredite)
Privatpersonen davon: Giro- und Sparguthaben der Privaten … Deviseninländer
2. Auslandsforderungen
45,0
-
36,3
a) RGW-Länder
17,4
-
8,7
b) Westliche Industrie- und Entwicklungsländer
3. Beteiligungen
27,6
1,1
b)
1:1
27,6
1,1
165,6
d) 1,44:1
115,2
… Devisenausländer
2,3
e) 2,05:1
1,1
Lebensversicherung
14,2
2:1
7,1
152,5
-
55,6
1,1
-
0,6
b) Westliche Industrieund Entwicklungsländer
55,0
b)
55,0
a) Rückstellung für Richtungskoeffizienten 1)
96,4
f)
-
3. Bargeldumlauf (ohne Kassenbestände der Banken)
13,6
2:1
6,8
23,4
1:1
23,4
7,2
2:1
3,6
446,6
-
246,0
2. Auslandsverbindlichkeiten a) RGW-Länder
4. Akkumulierter Gewinn/ Reservefonds/Haftungsmittel 4. Sonstige Aktiva Zusammen Aktivischer Ausgleichsposten Insgesamt
5. Sonstige Passiva 3,1
2:1
1,5
446,6
-
219,6
-
-
26,4
446,6
1,81:1
246,0
Zusammen Passivischer Ausgleichsposten Insgesamt
-
-
-
446,6
1,81:1
246,0
284
Dagegen gelten für die Deutsche Kreditbank, die praktisch das gesamte inländische Firmengeschäft auf sich vereint, auf der Aktiv- und Passivseite im wesentlichen die gleichen Umstellungssätze. Daß hier dennoch ein gewisser Ausgleichsbedarf entsteht, resultiert vor allem aus dem relativ hohen Eigenkapital der Kreditbank, das in der Modellrechnung grundsätzlich nicht umgestellt wurde. Hierfür war maßgeblich, daß es sich beim Eigenkapital nicht um eine Geldforderung oder -verbindlichkeit handelt. Darüber hinaus besteht bei den meisten Instituten ohnehin ein zusätzlicher Bedarf an Ausgleichsforderungen, um den Mindesteigenkapitalanforderungen gerecht werden zu können. Das Gegenstück zu allen anderen Banken hinsichtlich des bilanziellen Ausgleichsbedarfs bildet die Staatsbank. Hier tritt ein hoher passivischer Ausgleichsposten auf, also eine Verbindlichkeit gegenüber dem Ausgleichsfonds. Ursache dafür ist im wesentlichen, daß die bei der Staatsbank bilanzierten Rückstellungen für den sog. Richtungskoeffizienten im Zuge der Umstellung nach gewissen Saldierungen „gestrichen“ werden. Wirtschaftlich bedeutet dies, daß der „Aufwertungsgewinn“, der sich aus der Währungsumstellung ergibt, nicht bei der Staatsbank verbleibt, sondern – unter Zwischenschaltung des Ausgleichsfonds – zum Ausgleich der übrigen Bankbilanzen herangezogen wird. Anhand der Modellrechnung ergibt sich ein Gesamtbedarf von fast 57 Mrd. DM an Ausgleichsforderung der Banken (ausschl. Staatsbank) an den Ausgleichsfonds, die allein aus der „asymmetrischen“ Umstellung der Bankaktiva und passiva resultieren. Dieser Bedarf wird über die Auflösung des Richtungskoeffizienten und eine Ausgleichsforderung des Ausgleichsfonds an den DDRStaatshaushalt gedeckt. Da es sich bei den Forderungen der Banken an den Ausgleichsfonds um marktmäßig verzinsliche, bundesbankfähige Aktiva der Banken handelt, können diese Ausgleichsforderungen nach ihrer Anerkennung durch den Fonds von einzelnen Banken in Geldmarktgeschäften und als Unterlegung für die Refinanzierung bei der Bundesbank verwendet werden. Die Zahlungsbilanz der Bundesrepublik gegenüber der DDR im Jahre 1989: Für das Jahr 1989 werden zum letztenmal die gesamten Transaktionen im Leistungs- und Kapitalverkehr der Bundesrepublik mit der DDR in einer Gesamtbilanz erfaßt. Mit dem Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit der DDR am 1. Juli 1990 verlieren solche innerdeutschen Betrachtungen ihren Sinn. Außerdem fehlen die statistischen Grundlagen für eine Fortführung der bisherigen Arbeiten. Die gesamten erfaßten Transaktionen im Leistungs- und Kapitalverkehr der Bundesrepublik mit der DDR schlossen 1989 mit einem Defizit der Bundesrepublik von 1,2 Mrd. DM ab. Der Passivsaldo war damit genau so hoch wie im Jahr zuvor. Ungeachtet der politischen Umgestaltungen in der DDR und der eingeleiteten ökonomischen Reformbewegungen, die in der Öffnung der Grenzen am 9. November 1989 ihren sichtbaren Ausdruck fanden, hat sich damit am Gesamtsaldo des Zahlungsverkehrs mit der DDR im vergangenen Jahr nichts geändert. Allerdings haben die Entwicklungen in den zwei letzten Monaten von 1989 in der Struktur der Zahlungsbilanz deutliche Spuren hinterlassen.
285
Im Gegensatz zu den Vorjahren ergab sich im Warenhandel und Dienstleistungsverkehr mit der DDR 1989 ein deutlicher Überschuß zugunsten der Bundesrepublik, und zwar in Höhe von 2,0 Mrd. DM, verglichen mit einem Passivsaldo von 0,4 Mrd. DM im Jahre 1988. Dieser relativ große Umschwung ist vor allem auf den Diensleistungsverkehr mit der DDR zurückzuführen, und hier insbesondere auf die Transaktionen im Reiseverkehrsbereich. Nach Öffnung der innerdeutschen Grenzen ergoß sich ein Strom von Besuchern aus der DDR in die Bundesrepublik, was zu einem entsprechenden Anstieg der Reiseverkehrseinnahmen führte, da die DDR-Besucher das von der Bundesregierung und sonstigen öffentlichen Stellen gezahlte „Begrüßungsgeld“ zumeist für Käufe in der Bundesrepublik verwendeten. Die entsprechende Gegenbuchung für diese Einnahmen findet sich bei den Übertragungen an die DDR. Insgesamt führten die Besuchergeldzahlungen und die daraus resultierenden Reiseverkehrseinnahmen zu einer Ausweitung der Transaktionen, ohne jedoch den Gesamtsaldo nennenswert zu beeinflussen. Auch die „Währungsstruktur“ der Zahlungen hat sich 1989 praktisch nicht verändert. Der Zahlungsverkehr in Verrechnungseinheiten (der „gebundene“ Zahlungsverkehr im Rahmen des Berliner Abkommens) war im vergangenen Jahr – wie schon in den Jahren zuvor – annähernd ausgeglichen. Demgegenüber flossen der DDR in sogenannter „freier Währung“ aus dem Zahlungsverkehr mit der Bundesrepublik per Saldo 1,3 Mrd. DM zu, wobei es sich neben den NettoZahlungen an Besucher aus der DDR vor allem um öffentliche Transferzahlungen der Bundesrepublik an die DDR handelte (u. a. Transitpauschale und sonstige Straßenbenutzungsgebühren).
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Zahlungsbilanz der Bundesrepublik gegenüber der DDR Mrd. DM/VE 1989
Position I. Leistungsbilanz 1. Warenhandel und Dienstleistungen a) Warenhandel einschl. Ergänzungen Lieferungen an die DDR Bezüge aus der DDR Saldo b) Dienstleistungen Einnahmen Ausgaben Saldo darunter: Transportleistungen Einnahmen Ausgaben Reiseverkehr 1) Einnahmen Ausgaben Postpauschale Ausgaben Saldo des Warenhandels und der Dienstleistungen 2. Übertragungen (unentgeltliche Leistungen) a) im Privaten Bereich Leistungen der DDR Leistungen an die DDR Saldo b) im öffentlichen Bereich Leistungen der DDR Leistungen an die DDR Saldo Darunter: Transitpauschale Zahlungen an Besucher der DDR *) Übertragungen insgesamt Leistungen der DDR Leistungen an die DDR Saldo der Leistungsbilanz (Defizit der Bundesrepublik: -) II. Saldo der Kapitalbilanz (Kapitalausfuhr: -) darunter: Swing-Kredit der Deutschen Bundesbank III. Saldo der Leistungs- und Kapitalbilanz (Mittelabflüsse in die DDR: -) *) Teilweise geschätzt Differenzen in den Summen durch Runden der Zahlen
1988
Insgesamt
Davon: gebundener Zahlungsverkehr
freie Währung
6,5 6,4 0,2
7,3 6,7 0,6
6,4 6,7 - 0,3
1,0 0,0 1,0
1,9 2,5 - 0,6
4,2 2,9 1,3
1,3 1,1 0,2
2,9 1,8 1,1
0,6 0,2
0,7 0,2
0,7 0,2
-
0,5 1,2
2,7 1,4
-
2,7 1,4
0,2 - 0,4
0,2 2,0
0,2 - 0,1
2,1
0,1 0,3 - 0,2
0,1 0,4 - 0,2
0,0 - 0,0
0,1 0,4 - 0,2
1,2 - 1,2
3,0 - 3,0
0,1 - 0,1
3,0 - 3,0
0,5 0,4
0,5 2,4
-
0,5 2,4
0,1 - 1,3
0,1 - 3,3
- 0,1
3,3 - 3,2
- 1,8
- 1,3
- 0,1
- 3,2
0,6
0,1
0,2
- 0,1
0,4
- 0,0
- 0,0
-
- 1,2
- 1,2
0,1
-1,3 BBk
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Innerdeutscher Handel: Der innerdeutsche Handel hat sich 1989 wieder deutlich belebt, nachdem er in den vorangegangenen drei Jahren rückläufig gewesen war. Die Lieferungen der Bundesrepublik erhöhten sich im Jahre 1989 gegenüber dem Vorjahr um 12 %, die Bezüge nahmen um etwa 6 % zu. Infolge der stärkeren Expansion auf der Lieferseite erhöhte sich der Überschuß der Bundesrepublik im innerdeutschen Handel von 0,2 Mrd. DM/VM (1988) auf 0,6 Mrd. DM/VM im vergangenen Jahr. Der Anstieg der westdeutschen Lieferungen in die DDR war im Gesamtjahr 1989 noch nicht von den Veränderungen seit dem Herbst vorigen Jahres geprägt, vielmehr bestimmten noch die „traditionellen“ Handelsstrukturen die Entwicklung. Im ersten Quartal 1990 waren die Lieferungen in die DDR – nach Ausschaltung der Saisonschwankungen – zunächst sogar leicht rückläufig. Erst im April und Mai 1990 ergab sich ein sprunghafter Anstieg, und zwar gegenüber dem vorangegangenen Zweimonatszeitraum Februar/März um gut 60 %. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß westdeutsche Firmen seit Anfang 1990 zunehmend auch außerhalb des Berliner Abkommens Waren in die DDR geliefert haben, so daß sich die Intensivierung der Geschäftsbeziehungen zwischen beiden deutschen Staaten – insbesondere in den Zonenrandgebieten und im Großraum Berlin – seit Öffnung der Grenzen nur zum Teil in der Statistik des innerdeutschen Handels niederschlägt. Anders als im Außenhandel der Bundesrepublik haben die Grundstoffe und Produktionsgüter bei den Gesamtlieferungen in die DDR ein relativ hohes Gewicht (38 %). Insbesondere bezog die DDR im vergangenen Jahr mehr NEMetalle (+38 %), Eisen und Stahl (+10 %) sowie chemische Erzeugnisse (+7 %) aus der Bundesrepublik. Im Investitionsgüterbereich stiegen vor allem die Lieferungen von Elektrotechnischen Erzeugnissen (+22 %) und Maschinenbauerzeugnissen (+13 %). Angesichts des drängenden Bedarfs an Investitionsgütern in der DDR ist deren Anteil am gesamten westdeutschen Lieferumfang mit 38 % vergleichsweise niedrig. Nach wie vor waren für die zentralgeleitete Außenhandelspolitik der DDR die Bezüge aus der Bundesrepublik in erster Linie dazu da, um in Engpaßbereichen auftretende Mängel zu beseitigen. Die Konsumwünsche der DDR-Bevölkerung wurden in den Planungen wenig berücksichtigt; im vergangenen Jahr sanken die Verbrauchsgüterlieferungen um 3½ % und erreichten damit nicht einmal mehr 10 % der Gesamtlieferungen. Wie stark diese Entwicklung die potentiell vorhandene Nachfrage in der DDR ignorierte, zeigte sich, als die Verbrauchsgüterlieferungen in die DDR in den ersten Monaten von 1990 sprunghaft expandierten, nachdem sie nun stärker von der dortigen Nachfrageentwicklung bestimmt wurden. Seit Jahresanfang 1990 hat sich die Warenstruktur der westdeutschen Lieferungen spürbar zugunsten des Verbrauchsgüterbereichs verändert. Der Absatz von Erzeugnissen des Nahrungs- und Genußmittelgewerbes war im April/Mai dieses Jahres viermal und der Ansatz von Verbrauchsgütern zweieinhalbmal so hoch wie im Vorjahr. Investitionsgüter wurden dagegen nur um 24 % mehr in die DDR geliefert. Angesichts des hohen Investitionsbedarfs in der DDR dürften längerfristig die Investitionsgüterlieferungen jedoch beträchtlich expandieren.
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Auch bei den Bezügen aus der DDR, die mit etwa 6 % halb so stark zunahmen wie die westdeutschen Lieferungen, zeigte sich das aus den vorangegangenen Jahren bekannte Bild; die unausgewogene Warenstruktur hat sich 1989 sogar noch weiter verzerrt. So erhöhten sich die Bezüge der Bundesrepublik von Erzeugnissen des Grundstoff- und Produktionsgütergewerbes um 10½ %, womit der Anteil dieser Warengruppe an den Gesamtbezügen aus der DDR auf fast 50 % anstieg. Zwar wurden auch mehr Investitionsgüter (vornehmlich elektrotechnische Produkte) aus der DDR bezogen (+13 %), doch machten diese Erzeugnisse insgesamt nur knapp 16 % der westdeutschen Bezüge aus der DDR aus. Die erheblichen strukturellen Angebotsschwächen der DDR und die in qualitativer wie preislicher Hinsicht geringe internationale Wettbewerbsfähigkeit der dortigen Industrie haben es verhindert, daß die DDR an der günstigen konjunkturellen Entwicklung in der Bundesrepublik stärker partizipieren konnte. Erzeugnisse des Verbrauchsgüter produzierenden Gewerbes wurden 1989 sogar etwas weniger abgesetzt als im Jahr zuvor (-1 %). Außerhalb des eigentlichen innerdeutschen Handels ergaben sich im vergangenen Jahr stark steigende Umsätze zwischen beiden deutschen Staaten im Transithandel, wobei in diesem Bereich in „freier Währung“ gezahlt wird. Die Bundesrepublik leistete hier 1989 Zahlungen in Höhe von 1,0 Mrd. DM an die DDR, und zwar für Waren, die von bundesdeutschen Handelshäusern an das Ausland weiterverkauft wurden. Hierbei handelte es sich zumeist um Stahlerzeugnisse sowie Nahrungsmittel aus der DDR. Andererseits empfing die Bundesrepublik aus der DDR Zahlungen für 1,1 Mrd. DM als Entgelt für die Lieferung von Waren, die westdeutsche Transithändler aus dem Ausland beschafft hatten. Im Vordergrund standen dabei Getreidelieferungen, sowie Lieferungen von chemischen Erzeugnissen, NE-Metallen und Maschinen. Per Saldo flossen damit der Bundesrepublik 0,1 Mrd. DM aus der DDR zu. Dienstleistungs- und Übertragungsbilanz: Der Saldo der Dienstleistungen zeigte 1989 – wie schon eingangs erwähnt – einen deutlichen Umschwung. Nach einem Defizit von 0,6 Mrd. DM im Jahre 1988 ergab sich in der Dienstleistungsbilanz mit der DDR im vergangenen Jahr ein Überschuß zugunsten der Bundesrepublik von 1,3 Mrd. DM. Bei dem Teil der Dienstleistungstransaktionen, der im gebundenen Zahlungsverkehr abgewickelt wird, hat sich der geringe Überschuß mit 0,2 Mrd. DM/VM gegenüber 1988 (0,3 Mrd. DM/VM) kaum verändert. Die Nettoeinnahmen der Bundesrepublik aus Transportleistungen und Zinszahlungen sowie die Einnahmen aus Lohnveredelungen waren weiterhin etwas höher als die Nettoausgaben für Provisionen und Messekosten sowie die Zahlungen der Bundespost für den Kostenausgleich mit der DDR-Post und die Zahlungen im Zusammenhang mit West-Berlin (Abfall- und Abwässerbeseitigung, U-Bahne- und S-Bahnvereinbarungen). Den Ausschlag für den gestiegenen Überschuß der Bundesrepublik im bilateralen Dienstleistungsverkehr gaben jedoch die Zahlungen in „freier Währung“, und zwar die Einnahmen der Bundesrepublik aus dem Reiseverkehr. Diese erhöhten sich von 0,5 Mrd. DM im Jahr 1988 auf 2,7 Mrd. DM im
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vergangenen Jahr, wobei allein 2,4 Mrd. DM auf das vierte Quartal 1989 entfielen. Der Gegenposten zu diesen kräftig erhöhten Reiseverkehrseinnahmen, die ökonomisch vor allem Käufe von Konsumgütern durch Besucher aus der DDR darstellen und insofern eigentlich dem Warenverkehr zuzuordnen wären, findet sich in der Bilanz der Übertragungen an die DDR. Die Zahlungen an Besucher aus der DDR durch die Bundesregierung und die Kommunen erhöhten sich von rund 0,4 Mrd. DM (1988) auf schätzungsweise 2,4 Mrd. DM. Außerdem flossen der DDR in „freier Währung“ im vergangenen Jahr unter anderem 525 Mio. DM für die Transitpauschale, weitere 50 Mio. DM pauschal für Straßenbenutzungsgebühren und 45 Mio. DM für Visagebühren zu. Weitere rund 250 Mio. DM erhielt die DDR durch Käufe von Waren über den Genex-Geschenkdienst. Auf der anderen Seite konnten Personen mit Wohnsitz in der Bundesrepublik von ihren Konten in der DDR 74 Mio. DM im Rahmen der Sperrguthabenvereinbarung in die Bundesrepublik transferieren. Insgesamt wies die Übertragungsbilanz im Jahre 1989 ein Passivsalso zu Lasten der Bundesrepublik von 3,3 Mrd. DM auf, verglichen mit 1,3 Mrd. DM im Jahr zuvor. (Diese – zum großen Teil pauschalierten – Sonderzahlungen an die DDR aufgrund besonderer Vereinbarungen laufen mit dem Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion aus. Dies gilt beispielsweise für die Transitpauschale – die für 1990 noch auf 860 Mio. DM erhöht wurde – sowie für die Sperrguthabenvereinbarung.) Der Kapitalverkehr mit der DDR: Der statistisch erfaßte Kapitalverkehr mit der DDR war 1989 weitgehend ausgeglichen (nach einem Zufluß von 0,6 Mrd. DM im Jahre 1988). Der Swingkredit der Bundesbank wurde zum Jahresende 1989 geringfügig von der Bundesrepublik in Anspruch genommen (97 Mio. DM). Im Verlauf des ersten Halbjahres von 1990 kam es hier jedoch zu einem gravierenden Umschwung. Ende Juni 1990 griff die DDR in Höhe von rund 500 Mio. DM auf den Swingkredit zurück. Den Vereinbarungen des Staatsvertrags entsprechend wurde jedoch mit Einstellung des Verrechnungsverkehrs der Abschlußsaldo von der DDR ausgeglichen. 9.3. Die Währungsunion mit der Deutschen Demokratischen Republik am 1. Juli 1990 Mit dem Inkrafttreten des Staatsvertrags über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik am 1. Juli 1990 wurden in der DDR die wichtigsten Voraussetzungen für eine funktionsfähige Soziale Marktwirtschaft geschaffen. In der DDR gilt seitdem die D-Mark als alleiniges gesetzliches Zahlungsmittel, und die Zuständigkeit für die Geld- und Währungspolitik ist auf die Deutsche Bundesbank übergegangen. Die DDR verfügt mit der Trennung zwischen der zentralen Notenbank (d. h. der Bundesbank) und den Geschäftsbanken über ein zweistufiges, marktwirtschaftlich organisiertes und international offenes Bankensystem; die Kreditinstitute unterliegen den Regelungen des Kreditwesen-
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gesetzes der Bundesrepublik und damit auch der Aufsicht durch das Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen. Des weiteren hat die DDR alle wichtigen Wirtschaftsgesetze der Bundesrepublik übernommen oder ihre eigenen entsprechend angepaßt. Sie hat ihre Güter-, Arbeits- und Finanzmärkte liberalisiert, gleicht ihr Steuersystem an das der Bundesrepublik an und führt eine Sozialordnung nach westdeutschem Muster ein. Mit diesem Regimewechsel wurde die Wirtschaft der DDR von den lähmenden Mechanismen des Planungsapparates befreit und dem bisher nach Westen abgeschotteten Teil Deutschlands der ungehinderte Zugang zu den Weltmärkten eröffnet. Für die Bevölkerung der DDR haben sich damit zugleich hoffnungsreiche Zukunftsperspektiven aufgetan, die nach dem Willen der Vertragsparteien politisch darin münden sollen, in Freiheit die Einheit Deutschlands in einer europäischen Friedensordnung alsbald zu vollenden. Im Vergleich zu der politischen und ökonomischen Ausgangslage nach der Öffnung der Mauer am 9. November 1989 hat sich mit dem Inkrafttreten des Staatsvertrags die Lage in der DDR innerhalb nur weniger Monate grundlegend gewandelt. Vorherrschende Grundströmung war damals das breite Mißtrauen der dortigen Bevölkerung in die politische und wirtschaftliche Überlebensfähigkeit des sog. sozialistischen Systems. Allein in den vier Monaten von Oktober 1989 bis Januar 1990 hatten über 300.000 Menschen die DDR verlassen und waren in die Bundesrepublik übergesiedelt. Hätte sich die Wanderbewegung unvermindert fortgesetzt, wären die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen für beide deutschen Staaten unabsehbar gewesen. Angesichts der sich zuspitzenden Lage im Januar 1990 erwies sich eine „Politik der kleinen Schritte“ über Konföderationsoder Stufenpläne und Einzelmitnahmen,442 die das Los der Bevölkerung verbessern sollten, als wirkungslos. In dieser Situation schlug der deutsche Bundeskanzler der Regierung der DDR am 6. Februar 1990 vor, mit der Bundesrepublik in Verhandlungen über die baldige Schaffung einer „Währungsunion und Wirtschaftsgemeinschaft“ einzutreten; erste Gespräche hierüber wurden bereits mit der letzten noch nicht demokratisch legitimierten Regierung der DDR aufgenommen. Mit der aus den demokratischen Wahlen vom 18. März 1990 hervorgegangenen neuen Regierung konnten Verhandlungen zügig eingeleitet und vorangetrieben werden, so daß der Vertrag über die Errichtung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion bereits am 18. Mai 1990 unterzeichnet werden konnte. Die Deutsche Bundesbank war an den Gesprächen und Vertragsverhandlungen – auf Expertenebene, in der Verhandlungskommission und auf Minister- und Kabinettsebene – von Anfang an beteiligt. Der folgende Beitrag geht insbesondere auf die Einzelheiten der deutsch-deutschen Währungsunion ein, die von der Deutschen Bundesbank wesentlich mitgestaltet wurde.
442 Zu einer Reihe von Maßnahmen nach Öffnung der Mauer gehörte zum Beispiel die Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik und der DDR über die Einrichtung eines Reisedevisenfonds vom 5. Dezember 1989, der für Reisende aus der DDR den Umtausch von Reisezahlungsmitteln ermöglichen sollte.
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Die Festlegung der Umstellungssätze: Angesichts fehlender oder mangelhafter Daten über den realwirtschaftlichen und monetären Status der DDR, einer Vielzahl unterschiedlicher offizieller Umtauschkurse und eines stark schwankenden freien Sortenmarktes gab es bei der Vorbereitung der Währungsunion mit der DDR kaum verläßliche Orientierungspunkte für die „richtigen“ Umstellungssätze von Mark der DDR auf D-Mark. Diese Sätze mußten aber für die Überleitung in ein einheitliches Währungsgebiet gefunden werden. In den Vertragsvorbereitungen kam es letztlich darauf an, den schmalen Grat zwischen wichtigen ökonomischen, sozialen und politischen Entscheidungskriterien auszutarieren. Dabei handelte es sich gleichermaßen darum, die Inflationsrisiken der Währungsumstellung möglichst gering zu halten, die Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Unternehmen weitgehend zu sichern, die Haushaltsbelastungen zu begrenzen und die soziale Akzeptanz in der Bevölkerung der DDR wie der Bundesrepublik zu ermöglichen. Um diesen – zum Teil miteinander konkurrierenden – Maßstäben gerecht werden zu können, bedurfte es von vornherein einer differenzierten Betrachtung von Strom- und Bestandsgrößen. Bei der Umstellung der Stromgrößen, insbesondere der laufenden Lohn- und Gehaltszahlungen, ging es letztlich um die Festlegung eines tragbaren „Einstiegs“ für die Nominaleinkommen in der DDR mit Beginn der Währungsunion. Vor allem sollte sichergestellt werden, daß die erstmals in der D-Mark auszuzahlenden Löhne in einer angemessenen Beziehung zur gesamtwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der DDR stehen, um nicht von vornherein die Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Betriebe zu gefährden. Die Arbeitsproduktivität in der Wirtschaft der DDR wurde – bei allen Problemen der Vergleichbarkeit der ökonomischen Daten aus unterschiedlichen Wirtschaftssystemen – auf etwa 40 % des westdeutschen Niveaus geschätzt. Diesem Leistungsgefälle entsprach annähernd der relativ niedrige Brutto-Durchschnittslohn in Mark der DDR, obgleich diese Löhne wegen des unterschiedlichen Preissystems und der abweichenden Abgabenlast mit jenen der Bundesrepublik schwer vergleichbar waren. Angesichts der im Vergleich zur Bundesrepublik stark verzerrten Preis- und Kostenstruktur in der DDR gab es im Prinzip zwei Wege, unmittelbar nach der Währungsumstellung ein angemessenes Lohngefälle zu erhalten. Die eine Option bestand darin, die gröbsten Preisverzerrungen, insbesondere die massiven staatlichen Subventionen für wichtige Konsumgüter, bereits vor der Währungsumstellung zu beseitigen. Dies hätte einen Preisschub vor allem bei Nahrungsmitteln nach sich gezogen, wofür nach allgemeiner Auffassung beträchtliche OstmarkAusgleichszahlungen bei Löhnen, Gehältern und Renten zu leisten gewesen wären. Hinzu gekommen wäre bei der Umstellung unter Umständen noch ein zusätzlicher Bedarf an Lohnzuschlägen aufgrund höherer Sozialversicherungsabgaben. Das sich hieraus ergebende höhere Brutto-Lohnniveau hätte aber nicht 1:1 umgestellt werden können, weil damit die ohnehin geringe Wettbewerbsfähig der DDR-Betriebe weiter erheblich geschwächt worden wäre. In einer von der Bundesregierung erbetenen Stellungnahme empfahl die Bundesbank daher, nach einer Preisentzerrung und kompensatorischen Anhebung der Einkommen, die beide vor der Währungsumstellung vorzunehmen gewesen wären, die Stromgrößen im Verhältnis 2:1 umzustellen. Von diesem, weitgehend produktivitätsgerechten
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Anfangsniveau aus hätten dann nach der Umstellung weitere marktmäßige Anpassungen der Löhne und Gehälter und eine Entzerrung der zu stark nivellierten Lohnstruktur erfolgen können. Im Zuge der deutsch-deutschen Vertragsverhandlungen wurde jedoch als zweite Option die Umstellung der Löhne und Gehälter im Verhältnis 1:1 nach Maßgabe „der am 1. Mai geltenden Tarifverträge“ gewählt, nicht zuletzt da die Aussicht schwand, noch vor der Währungsumstellung eine umfassende Preisreform durchzuführen. (Die Renten in der DDR wurden im Zuge einer generellen Neuberechnung gegenüber ihrem alten MarkNiveau im allgemeinen deutlich angehoben; mindestens wird aber eine DM-Rente gezahlt, deren Höhe der früheren Mark-Rente entspricht. Niedrige Renten werden durch einen Sozialzuschlag aus dem DDR-Staatshaushalt auf 495 DM monatlich aufgestockt.) Dabei waren sich die Vertragsparteien darüber einig, daß die ursprünglich von DDR-Seite in Aussicht genommenen Kompensationszahlungen aus dem staatlichen Haushalt für den Wegfall der Preissubventionierungen nicht erfolgen sollten. Ebenso sollte mit Rücksicht auf die Lage der DDR-Betriebe auf allgemeine Lohnzuschläge wegen Preiserhöhung und steigender Abgaben in der DDR verzichtet werden; dies wäre im Ergebnis nicht weit von der seitens der Bundesbank anvisierten Umstellungsregelung abgewichen. Es hat sich jedoch gezeigt, daß es trotz des gewählten Umstellungssatzes von 1:1 schwierig ist, drastischen Anpassungsforderungen der Lohn- und Gehaltsempfänger in der DDR entgegenzutreten. Im Vordergrund steht dabei die Forderung, daß ein Ausgleich für die mit Wegfall der Subventionen für Güter des täglichen Bedarfs eintretenden Teuerungen zu gewähren sei. Dabei wird offenbar zu wenig berücksichtigt, daß die Kaufkraft der D-Mark in der DDR bis auf weiteres höher ist als in der Bundesrepublik, schon weil die preisgebundenen Mieten sowie die Preise für eine Reihe öffentlicher Versorgungsleistungen und verschiedene nicht handelbare Güter weit unter dem Stand der Bundesrepublik liegen. Außerdem haben Preiseinbrüche bei vielen Konsumgütern aus ostdeutscher Produktion und die Verfügbarkeit von Industrieerzeugnissen hoher Qualität aus dem Westen die reale Kaufkraft der Verbraucher in der DDR wesentlich gestärkt. Auch für die Umstellung der Bestandsgrößen, d. h. der bilanziellen Forderungen und Verbindlichkeiten des Geld- und Kreditsystems der DDR, standen anfangs verschieden Varianten zur Diskussion. Vornehmlich aus Vorstellungen der DDR-Bevölkerung genährte Vorschläge sahen eine allgemeine Umstellung der Sparguthaben im Verhältnis 1:1 vor. Dies hätte allerdings einen massiven Kaufkraftgewinn für die DDR-Sparer bedeutet, der zu einer inflationären Kaufwelle hätte führen können. Außerdem wurde hierbei nicht berücksichtigt, daß die Spareinlagen von vornherein in einem inneren Verbund zu den Aktiva der Bankbilanzen stehen; in der DDR sind dies vorwiegend Bankschulden der Betriebe und des Wohnungswesens. Angesichts der schwierigen Lage zahlreicher DDR-Firmen war von Anfang an klar, daß deren – von staatlichen Planvorgaben beeinflußte – Schulden drastisch reduziert werden mußten, um ihre Wettbewerbskraft nicht durch einen übermäßigen Schuldendienst zu schwächen. Eine Umstellung der privaten Bankguthaben im Verhältnis 1:1 bei gleichzeitiger Reduzierung der Unternehmensschulden hätte jedoch bei den Kreditinstituten verzinsliche Aus-
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gleichsforderungen gegenüber dem Staat bis hin zu einer dreistelligen Milliardenhöhe verursacht, um die bei einem solch „asymmetrischen“ Vorgehen entstehende Bilanzlücke zu schließen. Zur Umstellung von Mark der DDR auf D-Mark gemäß Staatsvertrag Basis: Konsolidierte Bilanz des Kreditsystems der DDR per 31. Mai 1990 Aktiva 1. Kredite an inländische Kreditnehmer insgesamt darunter: Betriebe Wohnungswesen 2. Auslandsforderungen
3. Beteiligungen
4. Sonstige Aktiva
Mrd. M 397,4 231,7 102,6 45,0
1,1
3,1
Zusammen Aktivischer Ausgleichsposten
446,6
Insgesamt
446,6
–
Mrd. DM
Mrd. M
Mrd. DM
249,9
156,6
57,0 182,1
27,8 123,4
152,5
55,6
96,4
–
1,1 3. Bargeldumlauf (ohne Kassenbestände der Banken)
13,6
6,8
4. Akkumulierter Gewinn/ Reservefonds/Haftungsmittel
23,4
23,4
Passiva
1. Einlagen von inländischen 180,7 Nichtbanken insgesamt darunter: 115,8 Betriebe 51,3 Privatpersonen 36,3 2. Auslandsverbindlichkeiten darunter: Rückstellungen für Richtungskoeffizienten*)
7,2
3,6
219,6 Zusammen Passivischer 26,4 Ausgleichsposten
1,5 5. Sonstige Passiva
444,6
246,0
–
–
246,0 Insgesamt
444,6
246,0
*) Eigentlich handelt es sich dabei um eine Verbindlichkeit des Bankensektors gegenüber dem Staat, die man auch unter der Passiv-Position 1 ausweisen könnte. Hier erfolgt der Ausweis im Zusammenhang mit den Auslandsverbindlichkeiten der DDR, weil die Position auch als eine Art „Wertberichtigung“ der sonst in M zu niedrig angesetzten Auslandspassiva angesehen werden kann. BBk
Die im Staatsvertrag gefundene Lösung stellt einen Kompromiß dar, bei dem grundsätzlich eine Umstellung aller Bestandsgrößen zu einem Satz von 2:1 vorgesehen ist; bei den Spareinlagen wurde aber eine soziale Komponente berücksichtigt. Je nach dem Alter der umstellungsberechtigten DDR-Bürger wurden 2.000 M, 4.000 M oder 6.000 M pro Kopf im Verhältnis 1:1 umgestellt. Die Verschuldung der Betriebe, des Wohnungswesens, des Staates und der Privaten wurde nominal grundsätzlich halbiert. Bei den Betrieben, die nun Unternehmen mit eigener Rechtspersönlichkeit werden, ist offen, in welchem Ausmaß sie nach Aufstellung der im Staatsvertrag vorgesehenen DM-Eröffnungsbilanz auf „Bilanzhilfen“ angewiesen sein werden. Im Durchschnitt beläuft sich der Konversionssatz,
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bezogen auf alle bilanziell erfaßten Forderungen und Verbindlichkeiten des Geldund Kreditsystems der DDR, voraussichtlich auf etwa 1,8:1. Dies entspricht weitgehend den in die Staatsvertragsverhandlungen eingebrachten Vorschlägen der Bundesbank.443 Die Umstellung der Bestände ist damit vergleichsweise günstig ausgefallen, wenn sie mit anderen von der DDR zuvor gegenüber der D-Mark angewandten Wechselkursen verglichen wird. Beispielsweise wurde im staatlich geregelten Handel mit der Bundesrepublik generell ein Umtauschsatz von 4,40 M für 1 DM angewandt. Seit dem 1. Januar 1990 galt für Private ein offizieller Umtauschkurs von D-Mark in Mark der DDR von 1:3, ab Anfang Mai von 1:2. Der hohe Umstellungssatz für Spareinlagen und Bargeld erscheint demgegenüber vor allem deshalb vertretbar, weil der inflationäre „Geldüberhang“ in der DDR – im Gegensatz zu anderen mittel- und osteuropäischen Ländern offenbar relativ gering war. Aus dem gleichen Grunde erschien es auch vertretbar, den Bürgern der DDR die D-Mark als eine voll konvertible Währung – das heißt ohne jede, auch nur teilweise Blockierung – zur Verfügung zu stellen. Neue geldpolitische Herausforderungen: Zweistufiges DDR-Bankensystem: Seit dem Inkrafttreten der Währungsunion am 1. Juli 1990 regelt die Bundesbank „durch Einsatz ihrer Instrumente in eigener Verantwortung, gemäß § 12 Bundesbankgesetz unabhängig von Weisungen der Regierungen der Vertragsparteien, den Geldumlauf und die Kreditversorgung im gesamten Währungsgebiet mit dem Ziel, die Währung zu sichern“ (Artikel 10 Abs. 3 Staatsvertrag). Um dem im Staatsvertrag vorgesehenen Auftrag, die geldpolitische Kontrolle des Geld- und Kreditschöpfungsprozesses auch auf dem Gebiet der DDR auszuüben, wirksam nachkommen zu können, müssen in diesem Teil des erweiterten Währungsgebiets spezifische ordnungspolitische Grundvoraussetzungen erfüllt sein, damit die herkömmlichen zins- und liquiditätspolitischen Maßnahmen der Bundesbank dort ebenfalls „greifen“ können. Hierzu gehört vor allem die Errichtung eines selbstständigen, nach marktwirtschaftlichen Prinzipien organisierten Geschäftsbankensystems in der DDR. In der Vergangenheit war den Kreditinstituten in der DDR für eigenverantwortliche bankgeschäftliche Tätigkeiten, wie sie in marktwirtschaftlichen Systemen üblich sind, kein Raum gelassen worden. Sie waren vielmehr Teil eines zentralisierten Zuweisungs-, Plafondierungs- und Verrechnungssystems im Dienst der zentralen Wirtschaftsplanung mit institutsspezifischen Aufgabenteilungen. So konzentrierten sich nahezu die gesamten Geldanlagen der Privaten – dies sind vor allem ihre Spar- und Spargiro guthaben – auf den Sparkassensektor und die Genossenschaftskassen, die diese Mittel ihrerseits zur Staatsbank der DDR weiterleiten mußten. Das inländische Firmengeschäft lag dagegen im wesentlichen bei der Staatsbank. Mit der „Ausgründung“ der Deutschen Kreditbank (DKB) Anfang April dieses Jahres ist dieser Geschäftsbereich von der Staatsbank auf das neue Institut übergegangen, wobei der DKB ein umfangreicher 443 Zu den Einzelheiten der Umstellung vgl. Monatsberichte der Deutschen Bundesbank, 42. Jg., Nr. 6, Juni 1990, S. 42 ff.
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Refinanzierungskredit der Staatsbank eingeräumt wurde. Die Staatsbank selbst ist damit nach der Währungsumstellung beinahe eine reine „Geldmarktbank“ geworden: Sie stellt ein Verbindungsglied dar zwischen Sparkassen und Genossenschaftskassen, die bei ihr Einlagen unterhalten, während ihnen bisher ein eigenes Kreditgeschäft weitgehend fehlte, und der DKB, die kaum ein originäres Einlagengeschäft mit Privaten hatte und die Mittel für ihr Kreditgeschäft (seit 1. April 1990) der Staatsbank schuldet. Das vorerst rudimentäre Bankensystem der DDR muß voll zu einem wettbewerblich organisierten Finanzsektor entwickelt werden, damit die geldpolitischen Steuerungssignale der Bundesbank im Kreditsystem der DDR die in der Bundesrepublik gewohnte Wirksamkeit entfalten können. Dieser Prozeß ist bereits in Gang gekommen, nicht zuletzt mit Unterstützung der in der DDR tätig gewordenen Kreditinstitute aus der Bundesrepublik und ihrer Verbände. Jedoch muß vorerst davon ausgegangen werden, daß die Geld-, Kredit- und Kapitalmärkte in der DDR noch nicht in jeder Hinsicht den Gegebenheiten in der Bundesrepublik und in anderen hochentwickelten westeuropäischen Volkswirtschaften entsprechen. Refinanzierungspolitik in der DDR: Die spezielle Struktur des überkommenen, planwirtschaftlichen Kreditsystems war auch bei der Entwicklung eines praktikablen Refinanzierungskonzepts durch die Bundesbank zu berücksichtigen. So verfügten die Kreditinstitute in der DDR beim Übergang in die Währungsunion weder über entsprechende Bestände an bundesbankfähigen Handelswechseln noch über marktgängige Wertpapiere, die als Grundlage für Wertpapierpensionsgeschäfte und Lombardkredit dienen könnten. Ab 1. Juli 1990 hat ihnen die Deutsche Bundesbank deshalb sog. Refinanzierungskontingente eingeräumt, die im Unterschied zum traditionellen Rediskontkredit vorübergehend nicht nur mit entsprechenden Handelswechseln, sondern auch mit Bank-Solawechseln in Anspruch genommen werden können. Diese Refinanzierungskredite, für die durch eine entsprechende Änderung des Bundesbankgesetzes im Rahmen des Gesetzes zum Staatsvertrag eine besondere gesetzliche Grundlage geschaffen werden mußte, werden zum Diskontsatz der Bundesbank abgerechnet. Über die zugeteilten Refinanzierungskontingente hinaus haben die Kreditinstitute in der DDR wie die in der Bundesrepublik Zugang zum Lombardkredit zum Lombardsatz. Als Sicherheit können die Banken der DDR vorübergehend ebenfalls Bank-Solawechsel hinterlegen. Daneben wird die Deutsche Bundesbank die Forderungen der Banken gegen den Ausgleichsfonds der DDR für lombardfähig erklären, sobald diese für eine Verpfändung ausreichend konkretisiert sind.444 Das Volumen der zugeteilten Refinanzierungskontingente ist mit insgesamt 25 Mrd. DM, verglichen mit den Rediskontkontingenten der Banken in der Bundesrepublik (ca. 59 Mrd. DM), relativ hoch bemessen. Doch ist zu berücksichtigen, daß die 444 Hierbei handelt es sich um staatlich gesicherte und zu Geldmarktkonditionen zu verzinsende Forderungstitel, die den Banken im Rahmen der Währungsumstellung zum Zwecke des Bilanzausgleichs zugeteilt werden. Zur näheren Erläuterung der Entstehung und Verteilung dieser Ausgleichsposten auf das DDR-Bankensystem.
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Kreditinstitute in der DDR mangels geeigneter Wertpapierbestände vorerst noch nicht in der Lage sein werden, sich an den von der Bundesbank regelmäßig angebotenen Pensionsgeschäften zu beteiligen, bei denen in der Bundesrepublik mittlerweile das Schwergewicht der Zentralbankgeldbereitstellung liegt. Sobald die Voraussetzungen dafür gegeben sind, werden die Refinanzierungskontingente entsprechend gekürzt und in „normale“ Rediskontkontingente umgewandelt, die dann auch nur noch mit erstklassigen Handelswechseln belegt werden können. Bei der Bemessung der Refinanzierungskontingente war auch in Rechnung zu stellen, daß neben einer erstmal im August zu unterhaltenden Mindestreserve die gesamte „Erstausstattung“ der DDR-Wirtschaft und der Bevölkerung mit Bargeld über die Kreditinstitute in der DDR bereitgestellt und von diesen bei der Bundesbank refinanziert werden mußte. Nach dem im Staatsvertrag vorgesehenen Umstellungskonzept wurden nur Konten von Mark der DDR auf D-Mark umgestellt; ein direkter Tausch von auf Mark der DDR lautenden Noten in DM-Banknoten war dagegen nicht möglich; allein schon die unterschiedlichen Umstellungssätze hätten dies nicht erlaubt. Wie hoch der Refinanzierungsbedarf der Kreditinstitute aus der „Erstausstattung“ mit Bargeld sein würde, war im voraus schwer abzuschätzen, da er letztlich durch das noch unbekannte Bargeldnachfrageverhalten der Bevölkerung bestimmt wird. Im Ergebnis hat sich gezeigt, daß sich die anfänglichen Barabzüge der Bevölkerung in engeren Grenzen hielten, als man im Hinblick auf die eingezahlten Bargeldbeträge in Mark der DDR erwarten konnte. Jedoch hat der zu refinanzierende Bargeldumlauf (einschl. Kassenbestände der Banken) in den ersten Juli-Wochen erwartungsgemäß ständig zugenommen, am 13. Juli dieses Jahres waren dies knapp 15 Mrd. DM. Gleichzeitig sammelten die Kreditinstitute freiwillig erhebliche Guthaben bei der Bundesbank an, so daß ihre Kontingente verhältnismäßig stark ausgelastet waren. Bei der Zuteilung der Refinanzierungskontingente auf die einzelnen Institute mußte die Bundesbank den Besonderheiten des Bankensystems der DDR Rechnung tragen. Die dabei in der Bundesrepublik verwendeten Kriterien (wie z. B. die Eigenmittel der Banken, die relative Bedeutung des kurzfristigen Kreditgeschäfts des jeweiligen Bankinstituts und der Wechselbestand) ließen sich praktisch nicht anwenden oder hätten zu einem einseitigen Ergebnis geführt. Deshalb wurden die individuellen Refinanzierungskontingente pauschal nach der Bilanzsumme des jeweiligen Instituts bemessen; auch diese Regelung muß als vorläufig angesehen werden. Sobald sich die Bilanzstrukturen der Kreditinstitute der DDR an die der bundesdeutschen angenähert haben, wird die Bundesbank die erwähnten Bemessungskriterien der Bundesrepublik anwenden. Insgesamt wurden, was die zweistufig angelegten Beziehungen zwischen Notenbank und Geschäftsbank anbelangt, in der DDR Regelungen gefunden, die die Kreditinstitute der DDR von der „Stunde null“ an unmittelbar an den „Liquiditätszügel“ der Bundesbank und deren Refinanzierungskonditionen binden. Die hierin liegende organisatorische Aufgabe hat die Bundesbank durch eine spezifische Übergangsregelung gelöst. Den Vereinbarungen im Staatsvertrag entsprechend hat sie in Berlin eine dem Direktorium der Deutschen Bundesbank unterstehende „Vorläufige Verwaltungsstelle“ mit fünfzehn Filialen in der DDR einschließlich Berlin (-Ost) eingerichtet,
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die für die Geschäfte mit den dortigen Kreditinstituten sowie mit der Deutschen Demokratischen Republik und deren öffentlichen Verwaltungen zuständig ist. Geldpolitik im gemeinsamen Währungsraum: Für den praktischen Vollzug der Geldpolitik bringt die Erweiterung des DM-Währungsgebiets auf allen Ebenen des monetären Steuerungsprozesses wichtige Veränderungen und neue Problemstellungen mit sich. Besonders augenfällig ist der statistische „Niveausprung“, der bei allen monetären Aggregaten eintritt.445 Darüber hinaus berührt die Ausweitung des Währungsgebiets auch die für die Zielableitung und laufende monetäre Steuerung relevanten Zusammenhänge zwischen Geldmenge und gesamtwirtschaftlichen Ausgaben, die – jedenfalls für den Anfang – nicht genau abzuschätzen sind. Andererseits dürfen die Veränderungen nicht so weit gehen, daß damit das nunmehr in über 15jähriger Praxis bewährte Steuerungskonzept, das sich der Geldmengenvorgaben als „Zwischenziele“ der Geldpolitik bedient, infrage gestellt würde. Allein die Größenverhältnisse zwischen der Bundesrepublik und der DDR (von etwa 10:1 gemessen am Sozialprodukt) lassen erwarten, daß die bekannten Strukturbeziehungen in der Bundesrepublik trotz der Einbeziehung der DDR in das Währungsgebiet der D-Mark sich längerfristig wieder einstellen werden. Auf der Basis einer vorläufigen konsolidierten Bilanz des DDR-Bankensystems per Ende Mai 1990 – den gegenwärtig jüngsten Daten, die die Staatsbank zur Verfügung stellen konnte – läßt sich der Zuwachs der Geldmenge M3 für den Zeitpunkt der Währungsumstellung auf knapp 160 Mrd. DM veranschlagen; die Umstellungsrechnung per Ende Juni/Anfang Juli wird hiervon noch etwas abweichende Zahlen liefern. Zum Zeitpunkt der Umstellung hatten – formal betrachtet – alle Nichtbanken-Einlagen „Geld-Charakter“, weil den Sparern und Einlegern in der DDR bis Ende Juni dieses Jahres – abgesehen von Ansprüchen an die Lebensversicherung – lediglich täglich abrufbare Bankeinlagen als finanzielle Anlageform zur Verfügung standen. Allerdings dürfte sich ein erheblicher Teil der statistisch zunächst als Geldbeständen auszuweisenden Mittel im Laufe der Zeit von selbst zurückbilden. Teilbeträge der niedrig verzinslichen Sparguthaben werden in längerfristige Geldanlagen, die nicht zur Geldmenge M3 rechnen, umgeschichtet werde. Die nach der Währungsunion den Geldbeständen der Bundesrepublik wirtschaftlich hinzuzurechnende Geldmenge M3 der DDR dürfte nach einiger Zeit vermutlich zu einer Ausweitung der Geldmenge M3 in einem Betrag von eher 120 Mrd. DM führen; es wird also kaum bei dem statistisch gemessenen „Geldmengensprung“ am 1. Juli dieses Jahres bleiben. Insoweit dürfte die Aus445 Die Kreditinstitute in der DDR unterliegen mit dem Inkrafttreten der Währungsunion grundsätzlich der gleichen Berichtspflicht gegenüber der Bundesbank wie die Banken in der Bundesrepublik. Um den Übergang zu erleichtern, beschränkt die Bundesbank ihre Anforderungen aber zunächst auf die wichtigsten Statistiken. Von Anfang an müssen die Kreditinstitute in der DDR zur Monatlichen Bilanzstatistik melden. Trotzdem wird es erst auf längere Sicht möglich sein, empirisch gesicherte Aussagen über Entwicklung und Bestimmungsgründe der Kredit- und Geldmengenexpansion in der DDR zu machen, weil die Finanzmärkte sich zunächst an die Gegebenheiten eines liberalen Wirtschafts- und Kreditsystems anpassen müssen und verläßliche historische Daten vor Juli 1990 völlig fehlen.
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weitung der Geldbestände ungefähr den zusätzlichen Produktionsmöglichkeiten entsprechen, die die DDR in das gesamtdeutsche Produktionspotential einbringt; auch diese Größenordnung ist gegenwärtig nur grob abzugreifen, da das Ausmaß der möglichen Betriebsstillegungen offen ist. Trotz der angedeuteten statistischen und analytischen Unzulänglichkeiten muß die Bundesbank der Entwicklung der Geldmenge im nun erweiterten Währungsgebiet große Aufmerksamkeit widmen, um die geldpolitischen Risiken der Währungsunion zu begrenzen. Nach dem Übergang zur Währungsunion mit der DDR sieht sich die Bundesbank auch bei der geldpolitischen Beeinflussung der Finanzmärkte vor neuartige Probleme gestellt. Bei dem vergleichsweise großen Kreditbedarf der DDRWirtschaft und des Staates kommt dem Kreditangebotsverhalten der Banken besondere Bedeutung zu. Hier gilt es, den in der Marktwirtschaft üblichen Rentabilitäts- und Sicherheitskriterien auch in der DDR rasch Geltung zu verschaffen. Kreditgebühren der Treuhandanstalt und des Staates für Liquiditätskredite an DDR-Betriebe sind deshalb nur als Start- und Überbrückungshilfe für die Wirtschaft vertretbar. Sie dürfen nicht zur Dauereinrichtung werden, da sie sonst die disziplinierten Marktmechanismen und damit auch zugleich die Selektionsfunktion des Zinses ausschalten oder schwächen würden. Naturgemäß muß sich auch die Steuerung der Bankenliquidität erst einspielen. Die zu Beginn eher reichliche Liquiditätsausstattung der DDR-Institute wird mit der obligatorischen Mindestreservehaltung ab Anfang August gebunden werden. Zeitweise Verknappungen am Geldmarkt infolge der reichhaltigen Haltung von Bundesbankguthaben durch die Kreditinstitute der DDR wurden bisher durch Maßnahmen der Geldmarktfeinsteuerung behoben. Mehr als sonst muß die Bundesbank, wenn nötig, den inländischen Geldmarkt kurzfristig beeinflussen, bis sich ein besser überblickbares Liquiditätsverhalten der Kreditinstitute in der DDR herausgebildet hat. Geldpolitik und öffentliche Finanzen im erweiterten Währungsraum: Im nun erweiterten Währungsraum der D-Mark gelten die gleichen engen Beziehungen zwischen Geldpolitik und Finanzpolitik wie bisher in der Bundesrepublik. Der Staatsvertrag mit der DDR versucht sicherzustellen, daß von dem Finanzgebaren des DDR-Staatshaushalts keine eigenständigen monetären Störungen ausgehen, welche die Geldpolitik der Bundesbank ernsthaft behindern könnten. So wurde insbesondere die im vorherigen Regime bestehende Möglichkeit, Staatsdefizite durch unmittelbaren Zugriff auf den Kredit der Staatsbank, die zugleich Notenbank war, zu decken, mit Inkrafttreten der Währungsunion unterbunden. Die Deutsche Bundesbank darf der Deutschen Demokratischen Republik (gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 BbankG) lediglich Kassenkredit in Höhe von 800 Mio. DM gewähren; im übrigen darf sie mit ihr sowie deren öffentlichen Verwaltungen die gleichen bankmäßigen Geschäfte wie mit öffentlichen Stellen in der Bundesrepublik betreiben (dazu gehört z. B. die Entgegennahme von Giroeinlagen und die Ausführung von Zahlungsaufträgen). Zugleich gilt für die Gebietskörperschaften in der DDR die Verpflichtung zur Einlegung flüssiger Mittel bei der Bundesbank
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(gemäß § 17 BbankG) sowie das Gebot, Staatspapiere in erster Linie durch die Deutsche Bundesbank, andernfalls im Benehmen mit ihr zu begeben. Darüber hinaus erscheint wichtig, daß für die Gebietskörperschaften der DDR im Staatsvertrag von vornherein die Kreditermächtigungen für das zweite Halbjahr 1990 auf 10 Mrd. DM und für 1991 auf 14 Mrd. DM begrenzt wurden. Die Kreditobergrenzen dürfen nur im Falle grundlegend veränderter Bedingungen und mit Zustimmung des Bundesministers der Finanzen der Bundesrepublik überschritten werden. Zu dieser Beschränkung der haushaltspolitischen Autonomie gab Anlaß, daß auch der Kreditbedarf der staatlichen Körperschaften der DDR wohl großenteils am Kapitalmarkt der Bundesrepublik gedeckt werden muß und die Nachfrageeffekte des Defizits teilweise auch in der Bundesrepublik spürbar werden. Fonds „Deutsche Einheit“ Mrd. DM 1992
1993
1994
22
35
28
20
10
115
Kreditaufnahme des Fonds
20
31
24
15
5
95
Zuweisungen des Bundes
2
4
4
5
5
20
Leistungen zur Abdeckung der Schuldendienstverpflichtungen
–
2,0
5,1
7,5
9,0
23,6*)
vom Bund
–
1,0
2,6
3,8
4,5
11,8
von den Ländern
–
0,6
1,5
2,3
2,7
7,1
von den Gemeinden
–
0,4
1,0
1,5
1,8
4,7
Ausgaben für Hilfen an die DDR
1990
Summe 1990-1994
1991
Position
finanziert durch:
davon zu tragen:
*) Schuldendienstleistungen werden darüber hinaus noch für weitere 15 bis 25 Jahre – abhängig von der Zinsentwicklung – zu erbringen sein. BBk
Der gesamte Nettokreditbedarf der Gebietskörperschaften in der Bundesrepublik (einschließlich des Fonds „Deutsche Einheit“ und des ERP-Sondervermögens) und in der DDR wird nach dem heutigen Stand des Wissens auf gut 80 Mrd. DM im Jahre 1990 und rund 100 Mrd. DM im Jahre 1991 geschätzt; im kommenden Jahre entspräche etwa 3½ % des gemeinsamen nominalen Sozialprodukts. Gegenüber den letzten Jahren bedeutet dies eine erhebliche Steigerung, die hauptsächlich auf die zunächst geringe Steuerkraft der DDR, die „Anschubfinanzierung“ für die Renten- und Arbeitslosenversicherung und Strukturanpassungsmaßnahmen in der DDR zurückgeführt werden kann. Dabei setzt die Hochkonjunktur in der Bundesrepublik, die bereits zu einer starken Beanspruchung der hiesigen gesamtwirtschaftlichen Ressourcen geführt hat, der Ausweitung der Nachfrage durch die öffentlichen Hände Grenzen, wenn nachteilige Folgen für das
300
Preisniveau und die Zinsentwicklung vermieden werden sollen. Der Zentralbankrat hat Ende Mai diese Jahres den Gebietskörperschaften in der Bundesrepublik wie der DDR empfohlen, alle Anstrengungen zu unternehmen, durch äußerste Ausgabendisziplin sowie Einsparungen und Umschichtungen in den Haushalten den öffentlichen Kreditbedarf zu begrenzen. Aus der Finanzierungskonstruktion des Fonds „Deutsche Einheit“, mit der die Kreditaufnahme für umfangreiche Finanzhilfen an die DDR auf ein neues Sondervermögen des Bundes verlagert wird und die von Bund und Ländern zu übernehmenden Schuldendienstlasten auf einen langen Zeitraum verteilt werden, sollte nicht die Folgerung gezogen werden, daß auf diese Wiese den notwendigen Haushaltseinsparungen ausgewichen werden kann. Auch die Länder einschließlich der Gemeinden, die gemessen an ihrem Haushaltsvolumen nicht so stark zu den gesamten finanziellen Hilfen an die DDR beitragen wie der Bund, stehen hier stabilitätspolitisch in der Verantwortung. Für eine strikte Sparpolitik in den öffentlichen Haushalten und eine Begrenzung der staatlichen Kreditaufnahme spricht schließlich auch, daß die mit Krediten zu finanzierenden Ausgaben des DDR-Staatshaushalts, so wie es sich jetzt darstellt, ganz überwiegend konsumtiven Zwecken dienen. Der Grundgedanke des Haushaltsrechts, die Aufnahme von Krediten im Normalfall nur in Höhe der Investitionsausgaben zuzulassen, wird weder auf das Defizit des Fonds „Deutsche Einheit“ noch zunächst auf den DDRStaatshaushalt angewendet werden können. Die Finanzhilfen an die DDR dienen der wirtschaftlichen Zukunft eines vereinigten Deutschlands; es bleibt gleichwohl anzustreben, sie so weit wie möglich aus laufenden Einnahmen des Staates aufzubringen und den kreditfinanzierten Teil nicht allzu stark auszuweiten. Auch die Geldpolitik würde hierdurch unterstützt. Anpassungserfordernisse der DDR-Wirtschaft: Die geldpolitischen Aufgaben der Bundesbank im gemeinsamen Währungsgebiet werden sich umso reibungsloser lösen lassen, je rascher es der DDR-Wirtschaft gelingt, sich an die in der Bundesrepublik und im westlichen Ausland bestehenden marktwirtschaftlichen Verhältnisse anzupassen. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die rasche Herstellung echter Wettbewerbsverhältnisse durch ein Aufbrechen der bisherigen monopolistischen Strukturen insbesondere auch im Handel und – als zentrales Teilelement – auch eine möglichst weitgehende Liberalisierung der Preisbildung. Sie sollte gewährleisten, daß die Preisrelationen mehr und mehr den Knappheitsverhältnissen entsprechen und damit das Spiel der Marktkräfte freigesetzt wird. Ein wichtiger Schritt auf diesem Wege ist die mit dem Übergang zur Währungsunion verbundene und bis auf Ausnahmen bereits vollzogene Abschaffung der Preissubventionen für Güter des täglichen Bedarfs und der sog. produktbezogenen Abgaben, insbesondere für langlebige Konsumgüter (vorerst gilt dies dagegen nicht für Wohnungsmieten, Tarife für öffentliche Verkehrs- und Versorgungseinrichtungen u. ä. m.). Eine weitere wichtige Maßnahme stellt die Öffnung der DDR-Wirtschaft gegenüber den Märkten der Bundesrepublik und des westlichen Auslands dar. Zusammen mit der Einführung der D-Mark hatte dies zur Folge, daß sich die Versorgungssituation der DDR-Bevölkerung durch den Zugang zu
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Gütern aus westlicher Produktion bereits grundlegend verbessert hat. Allerdings treten damit auch Effizienzprobleme der DDR-Wirtschaft deutlich zutage, die sich nunmehr weit stärker als früher dem Anpassungsdruck der internationalen Konkurrenz ausgesetzt sieht. Eine Schlüsselrolle für die Wettbewerbsposition der DDR-Wirtschaft und damit auch für die Beschäftigungsentwicklung wird die Lohnhöhe spielen. Für die Lohnpolitik im anderen Teil Deutschlands ist es in dem bevorstehenden Anpassungsprozeß von entscheidender Bedeutung, daß die in den Umstellungsmodalitäten des Staatsvertrags angestrebte Relation zwischen Durchschnittslöhnen und Arbeitsproduktivität in der DDR nicht nur bewahrt, sondern über Produktivitätsfortschritte verbessert wird. Gleichzeitig muß eine stärkere Lohndifferenzierung erreicht werden, die unter anderem größere Leistungsanreize schafft. Die bisher bekannt gewordenen Lohntarifvereinbarungen in der DDR lassen es fraglich erscheinen, ob diesen Erfordernissen Rechnung getragen wird. Durch die Einführung des westdeutschen Steuer- und Sozialabgabensystems in der DDR verbleibt zwar bei 1:1 umgestellten Brutto-Einkommen netto weniger als zuvor. Dem werden aber niedrigere Verbraucherpreise gegenüberstehen, die sich teilweise herausbilden könnten, nachdem die produktbezogenen Abgaben auf Industriewaren abgeschafft sind. Die Kompensation von Preissteigerungen bei den Produkten, die bisher subventioniert waren, durch Preissenkungen bei gewerblichen Erzeugnissen (die schon vor dem 1. Juli in Gang kamen), wird umso weniger zu Buche schlagen können, je mehr diesem Prozeß durch starke Lohnerhöhungen bereits im jetzigen Stadium entgegengewirkt wird. Lohnerhöhungen, die nicht von der Produktivitätsseite her abgedeckt werden können, würden die innere und äußere Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen und Arbeitsplätze gefährden. Die Folgen überzogener Lohnanpassungen können auch nicht durch vorübergehende beschäftigungssichernde Maßnahmen vermieden werden. So stellt z. B. ein aus öffentlichen Mitteln finanziertes und durch tarifvertraglich vereinbarte Zuschüsse der Unternehmen aufgestocktes Kurzarbeitergeld, das Umschulung und Qualifizierung ermöglichen soll, für die Arbeitnehmer keine Dauerlösung dar.
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9.4. Währungsumstellung am 1. Juli 1990: Ein Erfahrungsbericht Von Arvid Mainz Übernahme der geldpolitischen Verantwortung und Währungsumstellung erfordern eigenen Unterbau der Bundesbank in der DDR: Um mit dem Beginn der Währungsunion in vollem Umfang handlungsfähig zu sein, mußte die Bundesbank innerhalb von knapp zwei Monaten einen eigenen organisatorischen Unterbau in der DDR schaffen. Überlegungen, Teilaufgaben eines Zentralbankensystems der Staatsbank der DDR zu belassen, wurden rasch verworfen. Die Bundesbank wollte – nicht zuletzt im Interesse der erforderlichen Vertrauensbildung – vom Tage X an für jeden sichtbar in der DDR präsent sein und mit ihrem vollen Dienstleistungsangebot zur Verfügung stehen. Der knappe Zeitplan ließ es nicht zu, abzuwarten, bis alle rechtlichen Fragen – auch die der Wiedervereinigung – geklärt waren. Dies bot aber auch die Chance, die Notenbankstruktur in der DDR ohne politische Vorgaben allein an der Sache orientiert zu organisieren. Dabei wurden Modelle unterschiedlichster Art diskutiert, so zum Beispiel die Errichtung von zwei Hauptverwaltungen in der DDR, eine in Berlin mit Zuständigkeit für den nördlichen, eine in Dresden, zuständig für den südlichen Bereich. Als Übergangslösung, die alle denkbaren Optionen offenließ, fiel dann die Entscheidung für die Errichtung einer „Vorläufigen Verwaltungsstelle“ in Berlin mit bis zu 15 Zweiganstalten in den jeweiligen Bezirkshauptstädten. Dieses Modell fand seinen Niederschlag in Artikel 10 Nr. 7 des Staatsvertrages sowie in der Anlage 1 zum Staatsvertrag Art. 12. Die wesentlichen Festlegungen zur organisatorischen Vorbereitung der künftigen Bundesbanktätigkeit in der DDR traf ein Sonderarbeitsstab des Zentralbankrats für Verwaltung und Organisation am 26. April 1990, sanktioniert vom Zentralbankrat in seiner Sitzung am 3. Mai 1990. Der Landeszentralbank in Bayern fiel danach die Aufgabe zu, in Form einer „Patenschaft“446 Filialen in Dresden und Chemnitz zu errichten und zu betreuen. Zu diesem Zweck wurde der Verfasser dieses Berichts am 3. Mai 1990 zum kommissarischen Ersten Direktor der Filiale Dresden bestellt. Nun ging es Schlag auf Schlag. Bereits am 7. und 8. Mai besuchte erstmals eine Delegation der Landeszentralbank in Bayern die Bezirksfilialen der Staatsbank in Chemnitz und Dresden. Die sowohl in Chemnitz als auch in Dresden freundliche Aufnahme zu den Gesprächen verwunderte etwas angesichts der – uns bekannten – ungewissen Zukunft der leitenden Staatsbankangehörigen. Noch mehr überraschte uns die Formulierung der Staatsbankvertreter: „Wir werden dann in der Landeszentralbank in Sachsen […]“ dieses und jenes tun. Offenbar waren sie von ihrer Zentrale in OstBerlin nicht darüber unterrichtet worden, daß es keine automatische Übernahme von Staatsbankangehörigen durch die Bundesbank geben würde. Schon gar nicht war ihnen bewußt, daß sie als leitende Staatsbankangehörige kaum mit einer An446 Die Patenschaftsidee, nach der westdeutsche Landeszentralbanken die Filialen in der DDR betreuten, wurde vor allem von Dr. Kurt Nemitz, Präsident der Landeszentralbank Bremen, und von Lothar Müller, Präsident der Landeszentralbank Bayern, in die Debatte gebracht.
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stellung bei der Bundesbank rechnen konnten. Diese Diskrepanz im Informationsstand rief bei unseren Gesprächspartnern erhebliche Irritationen hervor, hatten sie sich doch seit Wochen, entsprechend früherer Anweisungen ihrer Zentrale, damit beschäftigt, ihre künftigen Notenbankaufgaben zu definieren und darauf ausgerichtete Arbeits-, Organisations- und Personalpläne zu schaffen. Dies trug nicht gerade dazu bei, unsere Arbeit zu erleichtern. Schaffung des technisch-organisatorischen Rahmens: Wie im Staatsvertrag vereinbart, stellte die DDR der Bundesbank Betriebsstellen der Staatsbank zur Nutzung zur Verfügung. Entsprechend dieser Regelung hatte die Staatsbank in Dresden für die Bundesbank das Gebäude der Bezirkszentralbank am Dr.-KülzRing vorgesehen. Das Gebäude, eine ehemalige Niederlassung der Deutschen Bank aus dem Jahre 1905, war total heruntergewirtschaftet und so kaum nutzbar. Die schon von der Staatsbank in Angriff genommene „Rekonstruktion“ der früher einmal sehr prächtigen Kassenhalle wäre bei optimistischer Schätzung frühestens wohl erst im Herbst zu vollenden gewesen. Auch ein Teil der Büroräume wurde gerade erst renoviert. Das Hauptproblem stellt jedoch der Tresor dar, dessen Zugänge, Aufzüge, technische Einrichtungen etc. den bei Bundesbankfilialen üblichen Großverkehr in Sachen Geld bis Anfang Juni des Jahres nicht zugelassen hätten. Auf der Suche nach einer Alternativlösung stellte sich heraus, daß die Kreisfiliale der Staatsbank im ehemaligen Reichsbankgebäude in der Leningrader Straße, ganz in der Nähe des Albertinums, untergebracht war. Wie zu erwarten, entsprachen die Tresoranlagen in diesem Gebäude aus den dreißiger Jahren eher den Anforderungen einer Zentralbank. Allerdings war der Mitteltrakt des Gebäudes im Krieg zerstört und noch nicht wieder aufgebaut worden. Der verbliebene Rest – ein Nordtrakt und ein „Südturm“ – war einschließlich des Tresors von der Deutschen Kreditbank AG (später Dresdner Bank-Kreditbank AG) belegt. Was ließ sich in der Kürze der Zeit bis zur vorgegebenen Geschäftsaufnahme am 1. Juli tun? Die baulichen Voraussetzungen waren in Dresden denkbar schlecht. Nachdem auch ein „Container-Banking“ verworfen wurde, blieb nur, für eine mehr oder weniger lange Übergangszeit einen gespaltenen Geschäftsbetrieb aufzunehmen, mit Kassen-, Tresor- und Geldbearbeitungsdienst im Reichsbank„Rudiment“ und allen anderen Geschäftssparten einschließlich der Direktion am Dr.-Külz-Ring. Was dies unter Sicherheitsaspekten sowie für die Dienstaufsicht und praktische Geschäftsabwicklung – bei den vorhandenen völlig unzureichenden Telekommunikationsmöglichkeiten – bedeutete, vermögen nur Insider zu beurteilen. Nur soviel: Die Prüfung der von Banken vorgelegten Schecks zur Auszahlung von Bargeld (formelle Ordnungsmäßigkeit, Unterschrift, Kontodeckung) konnte nur über Telefax-Verbindung erfolgen, was ein stets funktionsfähiges Telefonnetz voraussetzt. Tatsächlich brach das Leitungssystem jedoch sehr häufig zusammen, so daß die Schecks durch Bundesbankmitarbeiter von einem Gebäude zum anderen gebracht werden mußten. Angesichts des von Woche zu Woche zunehmenden Kfz-Verkehrs stellte sich dabei das Fahrrad, gleichsam als Vorgriff auf moderne Kurierdienste in Großstädten, als effektivstes Beförderungsmittel heraus.
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Die „gespaltene Lösung“ machte darüber hinaus schwierige Verhandlungen mit der Deutschen Kreditbank über die gemeinsame Nutzung der Tresore (mit gemeinsamem Tresorverschluß) und der Räume für die Geldbearbeitung bis hin zur Einstellung praktisch aller Mitarbeiter des Geldbearbeitungsdienstes erforderlich. Wenig Zeit blieb für die dringend notwendigen Umbauten im Kassenbereich und die „sicherheitstechnische Aufrüstung“ der sensiblen Bereiche (hauptsächliche Defizite: veraltete Tresortüren und -verschlüsse, aus Mauerwerk bestehende Tresorwände, völlig unzureichende Alarmanlagen, keine Ladehallen für Bargeldtransporte, im Kassen- und Geldbearbeitungsbereich weder Beschuß- noch Durchwurfhemmung an Außenfenstern). Daneben galt es, die in zum Teil katastrophalem Zustand befindlichen Büroräume sowie die unzumutbaren Sanitäreinrichtungen zu renovieren bzw. zu erneuern. Der Versuch, hierbei in größerem Umfang auch Ost-Handwerker einzusetzen, scheiterte zu unserer Überraschung in vielen Fällen, sei es an den von uns gesetzten Fertigungsterminen und vorgegebenen Arbeitszeiten (auch abends oder an Wochenenden), sei es an der unzureichenden Qualität der Ausführung. So blieb uns vielfach nichts anderes übrig, als auf bayerische Handwerker, insbesondere aus dem nahen Grenzbereich, zurückzugreifen, die trotz voller Auftragsbücher Arbeiten in Überstunden – auch an Wochenenden – zu erledigen bereit waren. Auch die vorhandene Ausstattung der Büroräume mit Arbeitsmitteln war völlig unzureichend. Es galt daher, angefangen von Büromaterial über Vordrucke, Büromaschinen, Schreibtische, Stühle und Schränke bis zum kompletten DVSystem alles in kürzester Zeit zu beschaffen und an Ort und Stelle zu bringen. Im Auftrag der Landeszentralbank Bayern fuhren bis zum 1. Juli 15 Lastkraftwagen zu den Filialen Dresden und Chemnitz. Nicht darin enthalten sind die zahlreichen Materialtransporte, die die „Westmitarbeiter“ mit Kleinbus und Kombiwagen an den Wochenende selbst ausführten. Katastrophal waren die Verhältnisse bei den Kommunikationseinrichtungen, die wir in den Gebäuden vorfanden. Die völlig desolaten Telefonanlagen stellten noch nicht einmal stabile Innenverbindungen sicher. Westverbindungen aus der DDR oder in die DDR kamen in der Hauptgeschäftszeit wegen der Überlastung des offiziellen DDR-Netzes praktisch nicht zustande. Erst die Einrichtung einer Nebenstellenanlage durch die vorläufige Verwaltungsstelle der Bundesbank in Ost-Berlin mit Anschluß an das öffentliche Netz der Bundesrepublik und festgeschaltete Leitungen zu den einzelnen Filialen sorgten für Abhilfe. Damit war ein einigermaßen leistungsfähiger Telefon- und Telefax-Verkehr zwischen den Filialen und Teilnehmern des öffentlichen West-Fernsprechnetzes möglich. Rückblickend waren die Filialen wegen der unzureichenden Kommunikationsverbindungen mehr auf sich allein gestellt – ein Zustand, der notwendigerweise zu selbständigen Entscheidungen zwang und insofern mehr Freiraum bot. Mitarbeiter der neuen Filialen: Schon frühzeitig bestand Klarheit darüber, daß die Bundesbank nicht davon ausgehen konnte, in der DDR von vornherein voll einsetzbare Bankmitarbeiter vorzufinden. Zu sehr wichen die Funktionen der Staatsbank und der übrigen Geldinstitute in der DDR von den Aufgaben der Ban-
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ken in einem marktwirtschaftlichen System ab. Deshalb konnte der Aufbau der Bundesbankfilialen in der DDR nicht ohne ausreichend große Kernmannschaften aus westdeutschen Mitarbeitern vonstatten gehen. Ein Weiteres kam hinzu. Im Zuge der Schaffung eines zweistufigen Bankensystems war die Staatsbank zum 1. April 1990 in die Bezirkszentralbanken (vergleichbar den Landeszentralbanken) und die Deutsche Kreditbank AG aufgeteilt worden. Die bankgeschäftlichen Tätigkeiten in der vormaligen Staatsbank wurden dabei im wesentlichen auf die Deutsche Kreditbank AG übertragen. Die Zentralbankaufgaben mit den zentralen Clearing-Funktionen im unbaren Zahlungsverkehr verblieben bei den Bezirkszentralbanken. Diese Arbeitsteilung schlug sich in der Personalstruktur nieder. Der Großteil der Mitarbeiter der Bezirkszentralbanken gehörte dem Bereich mit Stabsaufgaben für Grundsatzangelegenheiten, insbesondere Überwachung des Planvollzugs, und dem sehr ausgedehnten Verwaltungs- und Organisationsbereich der ehemaligen Bezirksdirektionen an. Entsprechend hoch war der Anteil von Mitarbeitern mit Universitätsdiplomen, während die Zahl der Mitarbeiter für die Abwicklung der bankbetrieblichen Aufgaben der künftigen Filialen der Bundesbank im unbaren und baren Zahlungsverkehr offenbar nicht ausreichte. Damit stand fest, daß für die Aufgaben bei Bundesbankfilialen nur ein begrenzter Teil der mit höherwertigen Aufgaben betrauten Staatsbankmitarbeiter eingestellt werden konnte. Die Mitarbeiter aus dem Westen mußten demnach nicht nur die Leitungsfunktion übernehmen, sondern auch in den Fachabteilungen in ausreichender Zahl zur Ausbildung und Anleitung, notfalls auch zur Mitarbeit zur Verfügung stehen. Ausgehend von einem geschätzten Bedarf an Mitarbeitern für Dresden und Chemnitz von je etwa 100 Kräften, sollte die „Kernmannschaft“ je Filiale gut 15 Bundesbankangehörige umfassen. Wie in anderen LZB-Bereichen auch wurden die Angehörigen der Landeszentralbank Bayern Ende April 1990 gebeten, sich für eine zeitlich befristete Tätigkeit – je nach Aufgabe zwischen drei und sechs Monaten – für verschiedene Funktionsbereiche zur Verfügung zu stellen. Die Resonanz der Mitarbeiter – insbesondere im höheren Dienst – war unerwartet positiv. Der Versuch, auch Ruheständler aus dem gehobenen Dienst für eine Tätigkeit in der DDR zu gewinnen, schlug dagegen fehl. Um den Geschäftsbetrieb rechtzeitig aufnehmen zu können, mußte die Kernmannschaft so rasch wie möglich um zusätzliche DDR-Ortskräfte ergänzt werden. Ab Mitte Juni nahmen die Filialdirektoren in Dresden im Anschluß an eine „Personalversammlung“ Bewerbungen von Mitarbeitern der Bezirkszentralbank der Staatsbank entgegen und leiteten sie nach Sichtung der Unterlagen und einem Personalgespräch an die Personalabteilung München weiter. Wenig aufschlußreich war die Einsicht in die Personalakten, da sie gemäß einer Verordnung der Regierung Modrow vom März 1990 um „nicht Personalakten zugehörige“ Vorgänge auf Wunsch des Mitarbeiters bereinigt werden konnten. Da in der Regel Beurteilungen eingehende Aussagen über das „gesellschaftliche Verhalten“ enthielten, zog es eine große Zahl der Mitarbeiter vor, diese möglicherweise für ein künftige Tätigkeit schädlichen Aussagen zu entfernen. Zusammen mit der Bewerbung hatten die Kandidaten eine schriftliche Erklärung abzugeben, ob sie in der
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Vergangenheit mit dem Ministerium für Staatssicherheit zusammengearbeitet und inwieweit sie höhere Parteiämter bekleidet hatten. Vor allem im Zusammenhang mit dieser Erklärung ergaben sich in den Einzelgesprächen zum Teil erschütternde Szenen. Einige Bewerber begrüßten ausdrücklich, daß sich der neue Arbeitgeber Bundesbank über die politischen und gesellschaftlichen Hintergründe der Einzustellenden informiere. Dabei öffneten sie sich und schilderten ihr nicht immer leichtes Schicksal oder das von Familienangehörigen. Neben Staatsbankangehörigen bewarben sich auch einige Mitarbeiter der Deutschen Kreditbank AG sowie von Sparkassen und Industrieunternehmen (so z. B. DV-Fachkräfte von Robotron). Geeignet erscheinende Bewerber erhielten so rasch wie möglich Einstellungszusagen. Ihre Arbeitsverträge waren zunächst auf 15 Monate befristet, doch wurde, entsprechende Eignung vorausgesetzt, eine unbefristete Beschäftigung in Aussicht gestellt. Etwas schwierig war zunächst die Einstufung der Mitarbeiter in die speziell für DDR-Ortskräfte entwickelte „vorläufige Gehaltstabelle“. Das darin einer bestimmten Tätigkeit zugeordnete Gehalt konnte nur solchen Mitarbeitern gewährt werden, die die genannten Aufgaben aufgrund ihrer Vorbildung relativ schnell und ohne längere Einarbeitung wahrnehmen konnten (überwiegend Mitarbeiter in den Bereichen unbarer Zahlungsverkehr und Geldbearbeitung). In anderen Fällen erfolgte zunächst eine niedrigere Einstufung, wodurch es bei herausgehobenen Tätigkeiten vereinzelt vorkommen konnte, daß das bei der Staatsbank gezahlte Bruttogehalt nicht ganz erreicht wurde. Insgesamt gesehen waren die DDR-Ortskräfte mit ihren neuen Gehältern aber einverstanden. Eine Besonderheit stellte die Einstellung von Ost-Mitarbeitern für den Geldbearbeitungsdienst in Dresden dar. Im Zusammenhang mit der erforderlichen Nutzung des Reichsbank-Tresors und der Räumlichkeiten für die Geldbearbeitung übernahm die Bundesbank praktisch alle Geldbearbeitungskräfte der Deutschen Kreditbank (knapp 40) und stellte einige davon der Deutschen Kreditbank im Wege der „Personalleihe“ für deren restliche Geldbearbeitungsaufgaben (u.a. Nachttresorbearbeitung) wieder zur Verfügung. Daß es sich bei den Kräften im Geldbearbeitungsdienst anders als in Westdeutschland fast nur um weibliche Mitarbeiter handelte, sei nur am Rande vermerkt. Etwas abgeschwächt galt dieses Bild auch für die Staatsbank und die gesamte Kreditwirtschaft der DDR, in der – da dem Dienstleistungsbereich zuzurechnen – nur wenig männliches Personal beschäftigt worden war. Der außerordentlich hohe Anteil weiblicher Mitarbeiter erleichterte leider nicht gerade den Personaleinsatz. Abgesehen von dem ohnehin hohen Urlaubsanspruch standen ihnen sogenannte Hausarbeitstage zu. Zudem hatten sie die Neigung, den Arbeitstag früh zu beginnen und – nicht zuletzt wegen der Kinder, die aus Tagesstätten abzuholen waren – äußerst pünktlich zu beenden. Daß die Einkäufe zunächst während der Arbeitszeit erledigt wurden, entsprach ebenfalls guter DDR-Tradition – verständlich, wenn Ware knapp und nur zu bestimmten Zeiten erhältlich war. Dies sollte sich jedoch mit der – schon vor Einführung der D-Mark – rasch gestiegenen Warenflut ändern.
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Zur Vorbereitung der DDR-Ortskräfte auf ihre künftigen Aufgaben bei der Notenbank hatte die Bundesbank ein spezielles Aus- und Fortbildungskonzept entwickelt. Danach sollten neben Praxisaufenthalten bei den Paten-Landeszentralbanken zunächst auch Kurse zur theoretischen Unterweisung in den Ausbildungsstätten der Bundesbank stattfinden. Der große Zeitdruck, aber auch wohl Probleme bei der Auswahl der Kursteilnehmer, die noch bei der Staatsbank lag, führten letztlich dazu, daß die erste Ausbildung einschließlich der theoretischen Unterweisung der neuen Mitarbeiter vollständig den Betreuungs-Landeszentralbanken übertragen wurde. Ab Mitte Mai 1990 kamen die ersten Staatbankangehörigen aus Dresden und Chemnitz zur Landeszentralbank Bayern, wo sie schwerpunktmäßig bei der Zweiganstalt Bayreuth („Übungszweiganstalt“), aber auch durch Praxisaufenthalte bei anderen bayerischen Zweiganstalten auf ihre neuen Aufgaben vorbereitet wurden. Bei der Teilnehmerauswahl bewiesen die zuständigen Staatsbank-Direktoren der Bezirkszentralbanken nicht immer eine glückliche Hand. Sie ordneten zum Teil Mitarbeiter ab, die bei der Staatsbank herausgehobene Positionen bekleideten und deshalb verständlicherweise mit dem ihnen künftig zugedachten Arbeitsbereich nicht zufrieden waren. Auch spielte bei Entsendungen in dieser Phase häufiger der politische Hintergrund eine Rolle, so daß einige dieser Mitarbeiter, da „belastet“, später nicht übernommen wurden. In einem Fall hat die Einstellung einer im Westen ausgebildeten, fachlich besonders versierten Kraft immer wieder zu kritischen Äußerungen und leichter Unruhe unter den übrigen Mitarbeitern geführt, da sie – was wir von ihr wußten – ein höheres Parteiamt innegehabt hatte. Die weitere Ausbildung sollte in den Filialen vor Ort erfolgen. Sie war allerdings dadurch erschwert, daß die anfangs noch wenigen (später auf bis zu 25 Personen aufgestockten) West-Kräfte trotz ständiger Überstunden kaum Zeit für eine eingehende Einarbeitung der neuen Kollegen hatten. Hinzu kam, daß über längere Zeiten hinweg sowohl der Bezirkszentralbank (u. a. zur Entsorgung der Mark der DDR) als auch der Deutschen Kreditbank Mitarbeiter „geliehen“ werden mußten, so daß auch hier eine Einarbeitung zunächst unterbleiben mußte. Zur Währungsumstellung selbst: Bereitstellung und Lagerung der D-Mark: Zur Vorbereitung der DM-Einführung in der DDR waren die größten Bargeldtransporte seit der Währungsreform von 1948 erforderlich. Insgesamt mußten für die Erstausstattung Ostdeutschlands rund 25 Mrd. DM transportiert werden, davon nahezu ein Zehntel in den Bezirk Dresden. Dabei war die Erstausstattung mit Münzen von Beginn an dadurch erschwert, daß die erforderlichen Mengen an Bundesmünzen nicht sofort in vollem Umfang vorhanden waren, obwohl bereits im Frühjahr 1990 die Prägeaufträge an die Münzprägeanstalten deutlich erhöht worden waren.447 Daher mußten die DDR-Münzen zu 1, 5, 10, 20 und 50 Pfennig (im Volksmund „Alu-Chips“) zunächst weiter gesetzliches Zahlungsmittel bleiben. Die Versorgung der Bundesbankfilialen in der DDR mit Banknoten oblag den jeweiligen Betreuungs-Landeszentralbanken. Insgesamt waren über 22.000 447 Deutsche Bundesbank: Monatsberichte, Oktober 1990, S. 28.
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Packbeutel mit jeweils 20 Paketen zu 1.000 Banknoten mit einem Gesamtgewicht von rund 460 Tonnen zu transportieren.448 Da hierfür die eigenen Transportkapazitäten der Bundesbank nicht ausreichten, mußten sowohl für Münz- als auch für Papiergeldtransporte zusätzlich private Unternehmer beauftragt werden. Die Transporte selbst verliefen reibungslos und ohne Zwischenfälle. Der betriebene große Sicherheitsaufwand zahlte sich aus. Von der Grenze zur DDR an wurden die Geldtransporter – außer von bankeigenen Begleitfahrzeugen – durch mehrere Fahrzeuge der Volkspolizei abgeschirmt und zusätzlich von einem Polizeihubschrauber überwacht. Das Umfeld der Bank wurde während der Entladevorgänge von Angehörigen der Antiterrorgruppe der Volkspolizei abgesichert, was naturgemäß großes Interesse der Bevölkerung auslöste. Zur Ausstattung der Filiale Dresden mit D-Mark waren in der Zeit vom 5. Juni bis 1. Juli 1990 elf Geldtransporte aus Bayern durchgeführt worden. Die ersten Geldlieferungen trafen ausgerechnet zu einem Zeitpunkt ein, als gerade die Umbau- und Sicherungsmaßnahmen im Kassen- und Tresorbereich eingeleitet worden waren. Die Lagerung des Geldes auf einer „Baustelle“ – anders konnte der Tresor kaum bezeichnet werden – erforderte dementsprechend umfangreiche Sicherungsvorkehrungen. Als sehr entgegenkommend und kooperativ erwies sich dabei die Volkspolizei, die „rund um die Uhr“ Sicherungskräfte abstellte. Die letzten Geldlieferungen fielen zeitlich mit den ersten Auszahlungen an die Banken zusammen. Dies war um so mißlicher, als die Handwerker ihre Arbeiten noch nicht abgeschlossen hatten. Mit der Anlieferung des Gesamtbetrages von fast 2,5 Mrd. DM waren die Tesorkapazitäten praktisch erschöpft, zumal ein Tagestresor noch von der Deutschen Kreditbank genutzt wurde und ein weiterer Tresorraum mit Mark-Hartgeld, den „Alu-Chips“, in unterschiedlichsten Behältnissen und farbenfrohen Beuteln (hergestellt aus Kleiderstoffen) gefüllt war. Das tägliche Aufnehmen, d. h. Zählen der Tresorbestände durch die Schlüsselführer, war unter diesen Umständen verständlicherweise sehr erschwert und erforderte viel Zeit. Eröffnung von Konten für Banken und öffentliche Kassen: Voraussetzung für die Geschäftsaufnahme: Wie in Westdeutschland so setzte auch in der DDR die Inanspruchnahme der Finanzdienstleistungen der Bundesbank die Eröffnung von Girokonten bei den Bundesbankfilialen voraus. Das galt auch für die erste Auszahlung von D-Mark an die ostdeutschen Kreditinstitute, für die Teilnahme am bargeldlosen Zahlungsverkehr und an den Refinanzierungsgeschäften sowie für die Unterhaltung von Mindestreserven. Für den Geschäftsbezirk Dresden bedeutete das die Eröffnung von rund 70 Konten für Kreditinstitute und 40 Konten für öffentliche Verwaltungen. Die Bankvorstände waren zu fest vorgegebenen Zeiten im 20-Minutentakt in die Bank gebeten worden. Dieser Zeitplan, der bis tief in die Abendstunden „gestreckt“ werden mußte, verkannte völlig das außerordentliche Informationsbedürfnis der Bankenvertreter. Die Gespräche anläßlich der Konteneröffnung mutierten zu wahren Ausbildungsveranstaltungen, in denen freilich nur 448 Ebd.
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gröbste Wissenslücken geschlossen werden konnten. Vielen Bankmanagern waren selbst die elementarsten Zusammenhänge marktwirtschaftlicher Banktätigkeit nicht bekannt. Instrumente und Begriffe, wie z. B. Wertpapiere, Wechsel, Kontodisposition und Mindestreservehaltung, Lombard- und Diskontkredit sowie Wertpapierpensionsgeschäfte, waren ihnen nicht vertraut bzw. mußten eingehend erläutert werden. Einzelne Bankenvertreter zeigten sich sichtlich verwundert, daß sie das erste Bargeld nicht „gratis“ erhielten, sondern sich zuvor Guthaben auf ihrem Konto – etwa durch einen mit Zinskosten verbundenen Refinanzierungskredit – beschaffen mußten. Sie wandten ein, daß sie für das Bargeld doch auch keine Zinsen erhielten. Mit Erstaunen nahmen mehrere Gesprächsteilnehmer – auch bei anderen Filialen – zur Kenntnis, daß sich der Sola-Wechsel, den die Banken im Rahmen des Rediskontkredits bei der Bundesbank einreichen konnten, ohne den Buchstaben „r“ schreibt. Sie hatten ihn von „Solar“ ableiten wollen, sich die Beziehung zwischen Bundesbank und Sonne aber auch nicht erklären können. All dies machte nur allzu deutlich, daß noch erhebliche Ausbildungs- und Aufklärungsarbeit im gesamten Bankenbereich Ostdeutschlands zu leisten sein würde, selbstverständlich vor dem Hintergrund, daß ein Bankgeschäft im westlichen Sinne dort bislang nicht praktiziert worden war. Die Bundesbankfilialen führten deshalb zahlreiche Informationsveranstaltungen für die Kreditinstitute durch – Themen waren u. a.: Kredit- und Wertpapiergeschäft, Bankenaufsicht, unbarer Zahlungsverkehr –, die auf reges Interesse stießen. Keine D-Mark ohne Refinanzierung bei der Bundesbank: Das Bestreben der Bundesbank, möglichst mit ihrem gesamten Dienstleistungsangebot zur Verfügung zu stehen, bereitete im Kreditgeschäft besondere Probleme. Denn die Kreditinstitute in der DDR verfügten nicht über notenbankfähige Aktiva, wie Handelswechsel oder marktgängige Wertpapiere, die zur Unterlegung der Refinanzierung bei der Bundesbank hätten dienen können. Ab 1. Juli 1990 hat die Bundesbank ihnen deshalb sogenannte Refinanzierungskontingente eingeräumt, die im Unterschied zum traditionellen Rediskontkredit vorübergehend auch mit BankSolawechseln genutzt werden konnten. 449 Neben diesen zum Diskontsatz abgerechneten Refinanzierungskrediten konnten die Kreditinstitute – wie im Westen – auch Lombardkredite beanspruchen, die ebenfalls durch Bank-Solawechsel zu besichern waren. Für diese als Übergangsregelung betrachteten Refinanzierungsbedingungen hatte der Gesetzgeber im Bundesbankgesetz eine entsprechende gesetzliche Grundlage geschaffen. Die Refinanzierungskontingente in Höhe von rd. 25 Mrd. DM für alle ostdeutschen Institute wurden mit der Geschäftsaufnahme der Bundesbankfilialen am 1. Juli 1990 sofort in nahezu voller Höhe (um 95 %) ausgeschöpft. Dies ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund zu sehen, daß die gesamte „Erstausstattung“ der DDR-Wirtschaft und Bevölkerung mit Bargeld über die Kreditinstitute in der DDR bereitgestellt und von diesen bei der Bundesbank refi-
449 Deutsche Bundesbank: Monatsberichte, Juli 1990, S. 19.
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nanziert werden mußte.450 Mit diesem Vorgehen hatte die Bundesbank von der „Stunde Null“ an die DDR-Institute unmittelbar an ihren „Liquiditätszügel“ und ihre Refinanzierungskonditionen gebunden. Wie nicht anders zu erwarten, lief das Rediskontgeschäft in der Praxis recht mühsam an. Ein Großteil der Wechsel war falsch ausgestellt, die Zinsberechnung zu korrigieren. Um sich nicht allzu lange zu binden, stellten die Kreditinstitute zudem häufig nur kurzlaufende Wechsel aus, mußten aber dann feststellen, daß die damals noch erhobene Wechselsteuer unabhängig von der Wechsellaufzeit für jeden Abschnitt berechnet wurde. Der Lernprozeß schritt aber schnell voran, wie die folgenden Wochen zeigten. Auch das zweite „Refinanzierungsfenster“, den Lombardkredit, nahmen die Institute rasch in Anspruch, wobei das Ausmaß allerdings von Filiale zu Filiale stark schwankte. Auch hier galt es für die DDR-Banken, zunächst einmal Erfahrungen zu sammeln, wann und in welcher Höhe der teuerste Notenbankkredit in Anspruch genommen werden sollte. Zentrale Aufgabenstellung war dabei die optimale Kontodisposition, die angesichts der zunächst schwer überschaubaren Zahlungsverkehrsströme nicht leicht war. Davon zeugten in den folgenden Monaten verschiedentlich auch deutlich überhöhte Mindestreserveüberschüsse, in Einzelfällen aber auch Mindestreserve-Verfehlungen.451 Auszahlung der D-Mark an die Banken und der Tag X: Am 25. Juli 1990 mußten die Bundesbanker in Dresden und Chemnitz, an lange Tage gewöhnt, besonders früh aufstehen. Dies war der erste Tag, an dem die D-Mark aus den Tresoren der Bundesbank an die Kreditinstitute ausgezahlt wurde. Juristisch und wirtschaftlich betrachtet, fand damit ein Akt der Geldentstehung statt. Bundesbanknoten erlangen erst in der Hand Dritter Geldcharakter. Vom 25. bis 27. Juni zahlten beide Filialen Banknoten im Betrag von jeweils etwa 1 Mrd. DM in unterschiedlichen – bevorzugt kleinen – Stückelungen an die Banken aus. Um diesen „Kraftakt“ mit der „sensiblen Ware“ Geld zu bewältigen, mußten der Dienstbeginn bereits auf 6.00 Uhr festgesetzt und das Dienstende offengelassen werden. Trotz akribischer Planung des zeitlichen Ablaufs und der einzelnen Auszahlungsvorgänge kam es immer wieder zu Verzögerungen. Hauptgrund war, daß es häufiger an der nötigen Deckung auf den Konten der Banken mangelte, weil z. B. Sola-Wechsel fehlerhaft ausgestellt oder wegen des langen Postlaufs noch nicht eingetroffen waren. Zudem wichen Institute mehrfach von der vorbestellten Betragshöhe und Stückelung ab, was erheblichen Mehraufwand verursachte. Die Auszahlungen spielten sich sowohl in Dresden als auch in Chemnitz quasi zwischen „Tür und Angel“ ab; von gesicherten Kassenboxen war noch nichts zu sehen. Für den Transport des Geldes von der Notenbank zu den Kreditinstituten war in der DDR – anders als im Westen – grundsätzlich die Staatsbank zuständig. Da deren Transportkapazität bei der Erstauszahlung der D-Mark nicht ausreichte, hat450 Ebd. 451 Zur Unterhaltung von Mindestreserven waren die ostdeutschen Kreditinstitute erst ab August 1990 verpflichtet.
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te die Landeszentralbank Bayern zur Unterstützung der Staatsbank für die Filialen Dresden und Chemnitz insgesamt 11 gepanzerte Fahrzeuge bayerischer Werttransportunternehmen mit je zwei Mann Besatzung beschafft. Hierfür waren umfangreiche Verhandlungen mit den beteiligten Stellen zu führen. Für ausreichenden Polizeischutz sorgten die Kreditinstitute, bei denen mit der Übernahme des Geldes von den Bundesbankfilialen das Verlustrisiko lag, von sich aus. Die Transporte verliefen ohne größere Probleme. Lediglich in Dresden kam es zu einem Vorfall, der das Interesse der Öffentlichkeit fand. In der Zeitung „Die Welt“ war unter der Überschrift „Bundesbank verlor Geldsack“ folgendes zu lesen: „Ein Konvoi der Deutschen Bundesbank hat beim Transport von ‚harter Währung‘ in die DDR in der Innenstadt von Dresden einen Geldsack verloren. Die DDR-Nachrichtenagentur ADN meldete gestern, die Tür eines der Panzerwagen sei aufgesprungen und ein Sack auf die Straße gefallen. Sofort hätten Begleittrupps von Volkspolizei und Bankangestellten die Wagenkolonne gestoppt. Drei mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten hätten das verlorene Stück schnell wieder aufgehoben und in den Panzerwagen zurückgetragen. Die Kriminalpolizei Dresden habe das Mißgeschick damit zu erklären versucht, daß der schwere Beutel durch ‚rütteln und schütteln‘ verrutscht sei und die Verriegelung von innen gelöst haben könnte.“ Es handelte sich dabei freilich nicht um einen „Konvoi der Deutschen Bundesbank“, sondern um einen unter Verantwortung der Staatsbank stehenden Transport mit Fahrzeugen einer Werttransportfirma. Mit der Auszahlung der DM-Erstausstattung an die Kreditinstitute hatte die Bundesbank ihre erste Feuertaufe im Osten bestanden. Nun lag es an den Banken und Postämtern, die landesweit mehr als 10 000 Auszahlungsstellen mit den neuen Noten zu versorgen. Der Tag X – der Tag, an dem die D-Mark in der DDR eingeführt wurde – konnte also kommen. Der Umtausch der Mark der DDR in D-Mark war ausschließlich über Konten bei Geldinstituten möglich. Ein direkter Bargeldumtausch fand nicht statt. Aus diesem Grunde mußten sämtliche Bürger der DDR (auch Kinder) Konten bei Kreditinstituten eröffnen, soweit sie noch keine besaßen. Auf diese Weise mußten sie ihr Mark-Bargeld spätestens bis zum 6. Juli – möglichst aber vor dem 1. Juli – einzahlen. Die Guthaben waren für Bürger der DDR bis zum 6. Juli, für Personen mit Sitz oder Wohnsitz außerhalb der DDR bis zum 13. Juli mit einem besonderen Umstellungsantrag anzumelden. 452 Die Umstellung selbst erfolgte mit Wirkung vom 1. Juli. Der allgemeine Umstellungssatz betrug 1 DM für 2 Mark der DDR. Ein bevorzugter Umstellungssatz von 1:1 galt für Guthaben natürlicher Personen (Kinder 14 Jahren bis zu 2.000 Mark, Erwachsene bis zu 60 Jahre 4.000 Mark, Erwachsene ab 60 Jahre 6.000 Mark der DDR). Damit die Bürger sofort zu Beginn der Währungsunion über das für den täglichen Bedarf notwendige Bargeld verfügen konnten, war eine besondere Regelung getroffen worden. Danach konnten sich natürliche Personen von ihrem kontoführenden Institut D-Mark Auszahlungsquittungen im Rahmen eines vorhandenen 452 Deutsche Bundesbank: Monatsberichte, Oktober 1990, S. 29.
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Kontoguthabens, das im Verhältnis 1:1 umgestellt wird, ausstellen lassen. Der Höchstbetrag betrug 2 000 DM je Person. Gegen Vorlage dieser Auszahlungsquittungen konnten die Bürger am Sontag, dem 1. Juli, und Montag, dem 2. Juli, bei Geldinstituten und anderen Auszahlungsstellen (Ämtern, Polizeidienststellen, Schulen etc.) DM-Bargeld erhalten.453 Am Tag X begann dann der Ansturm auf die Auszahlungsstellen. Die Bundesbankfilialen standen bereit, auftretende Fragen zu klären und – soweit erforderlich – weitere Geldabforderungen der Kreditinstitute zu erfüllen. Auch die Hauptverwaltung München war auf Unvorhersehbares vorbereitet und rund um die Uhr mit einem Bereitschaftsdienst ansprechbar. Für den Fall, daß es in den Bezirken Dresden und Chemnitz zu Engpässen bei der Geldversorgung kommen sollte, wartete ein Geldtransportfahrzeug mit Mannschaft auf Abruf. Tatsächlich war die Hauptbelastung für die Bundesbankfilialen aus der Erstauszahlung der DMark am Vorabend des 1. Juli vorbei. Zusätzliche Bargeldabforderungen der Banken hielten sich am Tag X in annehmbaren Grenzen. Offenbar verfügten die DDR-Bürger doch schon in größerem Umfang über DM-Noten, so daß an den ersten beiden Julitagen nicht das gesamte Volumen der Auszahlungsquittungen als Bargeld von den Banken abgehoben werden mußte. Auch schienen sie zunächst weniger ausgabefreudig zu sein, als erwartet worden war. Für die Bundesbankfilialen bedeutete der Tag X die förmliche Geschäftsaufnahme in der DDR. Mit Wirkung vom 1. Juli wurden sämtliche Konten eröffnet, Refinanzierungskredite gewährt und Barabhebungen verbucht. Es gibt wohl kaum eine „Tagesbilanz“ der Filialen, die derart hohe Umsätze ausweist, von den Zinserträgen aus dem Diskontgeschäft ganz zu schweigen. Mit Wirkung vom 1. Juli wurden auch die Konten der Geldinstitute in der DDR auf D-Mark umgestellt. Die Umstellung erfolgte dv-seitig am 7./8. Juli für 24,7 Mio. Konten. Für ca. 3 Mio. Konten war zunächst kein Antrag gestellt worden. Bei unverschuldeter Fristversäumung konnten natürliche Personen bis zu bestimmten Fristen nachträglich die Umstellung beantragen, im Rahmen einer Härteregelung auch juristische Personen und sonstige Stellen. 454 In der Zeit vom 2. bis 8. Juli 1990 ruhte gemäß einer mit den Spitzenverbänden des Kreditgewerbes abgestimmten Verfahrensweise der unbare Zahlungsverkehr in D-Mark in der DDR. Dieser Zeitraum war notwendig, um alle noch unterwegs befindlichen Aufträge (bis zum 6. Juli) noch in Mark der DDR buchen und nach Umstellung mit dem automatisierten System des Zahlungs- und Verrechnungsverkehrs der DDR ab 9. Juli in D-Mark realisieren zu können.455 Diese Umstellung verlief weitgehend problemlos.
453 In der Zeit vom 3. Juli bis 6. Juli 1990 konnten Auszahlungsquittungen grundsätzlich nur noch bei den ausstellenden Geldinstituten zur Auszahlung vorgelegt werden. Deutsche Bundesbank: Monatsberichte, Juni 1990, S. 44. 454 Deutsche Bundesbank: Monatsberichte, Oktober 1990, S. 30. 455 Ebd., S. 29 f.
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Geglückte Währungsumstellung – nur der erste Schritt: Die Währungsumstellung war mit der Erstausstattung der Bevölkerung und der Wirtschaft der DDR mit D-Mark und der Kontoumstellung praktisch abgeschlossen. Unter technischorganisatorischem Blickwinkel konnte sie als geglückt gelten. Dazu hatten nicht zuletzt das große Engagement und die hohe Motivation aller an dieser Aufgabe Beteiligten in Ost und West beigetragen. Für eine Reihe von Aufgabengebieten der Notenbank und des Kreditgewerbes begann mit dem Stichtag 1. Juli jedoch ein neues Zeitalter. Die Anpassung der Systeme und der Übergang auf neue Verfahren bereiteten zum Teil erhebliche Probleme, die sich vor allem in der zweiten Hälfte 1990 häuften. Das galt insbesondere für den unbaren Zahlungsverkehr, bei dem der Übergang vom zentralen Zahlungssystem der DDR auf die westdeutschen unbaren Zahlungssysteme mit großen Schwierigkeiten verbunden war und zu deutlich längeren Laufzeiten führte.456 Auch die Einführung der Mindestreserven zum 1. August, die Aufnahme von Kredit- und Wertpapiergeschäften mit ihrer Kundschaft sowie die Unterwerfung unter die bankaufsichtlichen Regelungen des Kreditwesengesetzes stellten hohe Anforderungen an das ostdeutsche Kreditgewerbe. Im Zusammenhang damit kehrte auch bei den Bundesbankfilialen über längere Zeit hinweg noch keine Normalität ein.457 9.5. Mit einer Million Mark im Trabbi unterwegs Von Tim Kanning Der Fall der Mauer war für die Frankfurter Banken der Startschuss für einen neuen Markt. Für die Commerzbank hat der heutige Aufsichtsratschef Klaus-Peter Müller damals den Osten erobert – mit Container-Filialen, Handantennen und Koffern voll Geld.458 Dass der Außenminister kommt, um eine Bankfiliale zu eröffnen, ist eher selten geworden. Doch Hans-Dietrich Genscher war es verständlicherweise ein besonderes Anliegen, die Bänder durchzuschneiden, als wenige Tage vor der deutsch-deutschen Währungsunion am 1. Juli 1990 zuerst die Dresdner Bank und dann die Commerzbank offiziell ihre ersten Filialen in der DDR, zumal in seiner Geburtsstadt Halle, eröffneten. Klaus-Peter Müller hatte zu dem Zeitpunkt schon abenteuerliche Monate hinter sich. Denn der spätere Vorstandsvorsitzende und heutige Aufsichtsratschef der Commerzbank war für den Vorstoß des Hauses in die neuen Bundesländer verantwortlich. Innerhalb weniger Monate musste er gemeinsam mit einem Team
456
Deutsche Bundesbank: Monatsberichte, Oktober 1990, S. 31.
457
Grosser, Dieter: Das Wagnis der Währungs-Wirtschafts- und Sozialunion. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln, Stuttgart 1998, S. 437-448.
458 FAZ, 06.11.2014, Wirtschaft (Rhein-Main-Zeitung), S. 39. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom „Frankfurter Allgemeinen Archiv“.
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von anfangs sieben Mitarbeitern zuerst Verbindungsbüros und dann Filialen in allen größeren Städten der DDR aufbauen und 1.000 Mitarbeiter dafür finden. Die Deutsche Bank und die Dresdner Bank hatten die frühere Staatsbank der DDR unter sich aufgeteilt. So hatten sie in vielen Städten Filialen und Mitarbeiter mit teils sehr guten Kontakten in die Volkseigenen Betriebe, wie Müller heute erzählt. Die Commerzbank aber hat bei null angefangen und unter widrigen Umständen im damals völlig abgewirtschafteten Ostdeutschland, in dem sich die Bankgeschäfte der Bewohner in der Regel auf das Führen eines Kontos und den Kredit zur Eheschließung beschränkt hatten. Vor allem die schlechte Infrastruktur erschwerte das Großprojekt. Oft schlief Müller in diesen Tagen im Auto, weil das gebuchte Hotelzimmer schon an andere Gäste vergeben worden war, wenn er spätabends ankam. „Wenn wir in Halle telefonieren wollten, mussten wir auf das Dach des Interhotels gehen, mit einer tragbaren Handantenne und einem Telefon so groß wie ein Aktenkoffer“, erinnert sich Müller. „Statt nette Gespräche mit den Kollegen in Frankfurt zu führen, habe ich nur so schnell wie möglich die Bestellungen ins Telefon gebrüllt, solange der Empfang einigermaßen gut war“. Wenn es ganz schlecht wurde, fuhr er an die Grenze zur Bundesrepublik. Damit er das nicht allzu oft machen musste, erhielten er und seine Mitarbeiter bald weitreichende Befugnisse, allein über den Kauf von Grundstücken und die Vergabe großer Kredite zu entscheiden. Die Eigentumsverhältnisse von potentiellen Filialstandorten zu klären war kompliziert. In vielen Städten hat die Bank daher zunächst einmal Baucontainer als Geschäftsstellen aufgestellt, die immerhin – anders als viele westdeutsche Filialen zu der Zeit – alle mit Geldautomaten ausgestattet waren. Viele mittelgroße Ortschaften fuhr die Bank nur tageweise mit Bussen an. Nach Greifswald etwa kam das Bankmobil in dieser Zeit immer freitags auf den Platz der Freundschaft. Zu tun gab es reichlich. Schließlich wollten viele DDR-Bürger sich rasch eine neue Existenz aufbauen, mit einem Fernsehgeschäft oder einer Autowerkstatt, und brauchten dafür Kredite. Sicherheiten konnten die wenigsten vorweisen, eine Schufa gab es nicht, das gegenseitige Vertrauen wurde wieder ein wichtiger Faktor im Bankgeschäft.
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Quelle: Stadtarchiv Erfurt
In vielerlei Hinsicht. Als Müller einmal frisches Geld von der Bundesbank brauchte, fuhr er in einem Trabant zu deren ebenfalls gerade neu eröffneter Zweigstelle in Gotha. Gegen Vorlage seines Personalausweises und einer Visitenkarte zum Abgleich erhielt er eine Million Mark, die er dann im Auto zur Filiale brachte. „Ich habe mich in dem Trabbi sicherer gefühlt als in jedem Mercedes, weil ja niemand darauf gekommen wäre, dass wir in so einem Auto eine Million Mark dabeihaben.“ Nach und nach baute die Bank eigene einfache Pavillons in den Städten auf, mit gelben Markisen, wie Müller betont. An wenigstens eine Katastrophe kann sich der Banker noch gut erinnern. Als er zum Aufbau des zweiten Standorts in Leipzig fuhr, fand er dort statt einer Filiale nur eine große Betonfläche und einen fest darauf installierten mannshohen Tresor vor. Der Tresor war zu früh geliefert worden, und der Lastwagen mit den Bauteilen für den Pavillon lag irgendwo zwischen Eisenach und Erfurt im Straßengraben.
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Im Osten geht die Sonne auf: Zur offiziellen Eröffnung der ersten Filiale in Halle kurz vor dem 1. Juli 1990 kamen neben vielen Bürgern auch Hans-Dietrich Genscher (vorne) und der damalige Vorstandschef der Commerzbank, Walter Seipp (Zweiter von links). Foto: Commerzbank.
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Man merkt Müller bis heute an, wie viel Freude ihm der Aufbau in diesen Pionierzeiten bei allen Widrigkeiten bereitet hat. Die Möglichkeit, an diesem geschichtsträchtigen Aufbruch mitzuwirken, habe damals viele zu Höchstleistungen getrieben. Er erzählt von einem Commerzbanker aus London, der unbedingt die erste Filiale in Leipzig leiten wollte und der, da sie noch nicht eröffnet war, noch zwei Wochen in Halle am Schalter mitgearbeitet habe. Interviews mit Bewerbern wurden damals im Akkord geführt, nicht selten auf den Fluren der Frankfurter Bürotürme. Schließlich haben zwar in den ersten Monaten Commerzbanker aus dem Westen die Filialen aufgebaut, Ziel war aber stets, möglichst viele ostdeutsche Mitarbeiter dort zu beschäftigen. Manche, die aus der Bundesrepublik in die neuen Länder gegangen waren, blieben allerdings auch dort. So etwa ein Filialmitarbeiter in Görlitz, dessen Geschichte Müller noch gut in Erinnerung ist. Eigentlich habe der Mann zurück nach Wuppertal zu seiner Familie gewollt, weil ihm das ständige Pendeln zunehmend schwerer fiel. Mit den Finanzbehörden habe die Bank dann ausgehandelt, dass Wochenendheimfahrten in solchen Fällen nicht nur von Görlitz nach Wuppertal gelten sollten, sondern der Besuch der Familie im Osten gleichbehandelt wurde. Den Angestellten aus Wuppertal hat das umgestimmt. „Seine Mitarbeiter haben seine Familie so herzlich empfangen, sie nach Hause eingeladen und Kuchen gebacken, dass Frau und Kinder kurz darauf nach Görlitz nachgezogen sind.“ 1993 löste Müller die „Zentrale Abteilung zur Vorbereitung des DDR-Geschäfts“ offiziell auf. Zum Dank gab er – inzwischen Mitglied des Vorstands – allen alten und neuen Mitarbeitern, die am Aufbau der heute noch 120 Filialen in Ostdeutschland beteiligt waren, eine Friedensmedaille.
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9.6. Aktivitäten der privaten Banken in den neuen Bundesländern Zu Präsenz, Aktivitäten und Engagement der privaten Banken in den neuen Bundesländern legte der Bundesverband deutscher Banken Mitte 1992 eine Bestandsaufnahme mit umfangreichem Datenmaterial vor.459 Eine leistungsfähige Wirtschaft setzt ein funktionierendes Bankwesen voraus, in dem Kreditinstitute das Sparkapital der Volkswirtschaft bündeln und in jene Verwendungszwecke lenken, die höchstmögliche Erträge versprechen. Zugleich muß ein reibungsloser Ablauf von Zahlungsvorgängen sichergestellt werden. Die privaten Banken haben bereits vor der Wirtschafts- und Währungsunion mit dem Aufbau eines funktionierenden Bankwesens in der DDR begonnen; das unter dem Regime der Staatswirtschaft operierende monopolistische Finanzsystem mußte umgewandelt und auf eine völlig neue, marktwirtschaftliche Grundlage gestellt werden. Banken waren die Investoren der „ersten Stunde“. Dahinter stand selbstverständlich auch die Absicht, eine den Verhältnissen in Westdeutschland entsprechende Marktposition aufzubauen und Gewinne zu erwirtschaften. In den zurückliegenden zwei Jahren, das zeigt eine Erhebung des Bundesverbandes deutscher Banken bei Mitgliedsinstituten, sind erheblich Fortschritte erzielt worden. Die Institute haben ein relativ dichtes Filialnetz aufgebaut und trotz erheblicher Probleme einen reibungslosen Zahlungsverkehr sichergestellt. Privaten Haushalten und Unternehmen werden dieselben umfassenden Dienstleistungen angeboten wie in Westdeutschland. In ihrer Geschäftspolitik lassen sich die Banken von dem Grundsatz leiten, daß der Strukturwandel hin zur Marktwirtschaft am besten gefördert wird, wenn bei der Finanzierung von Investitionen grundsätzlich dieselben ökonomischen Maßstäbe wie in den alten Bundesländern angelegt werden: Kredite auf eigenes Risiko können nur dorthin vergeben werden, wo der Schuldendienst gesichert erscheint. Die Banken können nicht darauf verzichten, Kredite an Unternehmen mit ungewissen Perspektiven an Garantien der Treuhandanstalt zu knüpfen. Bei Vorliegen eines überzeugenden Konzepts werden Darlehen selbstverständlich unverbürgt vergeben. So ist der Anteil der Kredite, die auf eigenes Risiko vergeben werden, von 26 Prozent Ende 1990 auf 43 Prozent Ende März 1992 gestiegen. Die Ergebnisse der Umfrage des Bundesverbandes deutscher Banken machen deutlich, daß die Banken in der zurückliegenden ersten Phase der Umstrukturierung einen erheblichen Beitrag zum wirtschaftlichen Aufbau der neuen Länder geleistet haben. Sie werden ihre Aktivitäten in den neuen Bundesländern weiter verstärken und den Wiederaufbau unverändert tatkräftig unterstützen. Aufbau eines flächendeckenden Filialnetzes schreitet voran.460 Anders als die beiden anderen großen Gruppen der Kreditwirtschaft, die noch an bestehenden 459 Die Bank 6, 1992, S. 357-361. 460 Die nachstehenden Zahlen zu den Geschäftsstellen umfassen alle in den neuen Bundesländern tätigen privaten Banken. Die anderen Angaben beziehen sich auf die Konzerndaten folgender
319
Strukturen anknüpfen konnten, mußten sich die privaten Banken eine „terra incognita“ erschließen. Insgesamt sind bisher 47 private Banken mit rund 750 Geschäftsstellen in den neuen Bundesländern tätig (Tabelle 1). Außerdem unterhalten weitere 10 private Institute 25 Repräsentanzen. Diese Leistung ist auch daran zu messen, daß sich der Aufbau des Filialnetzes unter äußerst schwierigen Bedingungen vollzogen hat. Tabelle 1: Anzahl der Geschäftsstellen in den neuen Bundesländern März 1992
Plan Ende 1993
Insgesamt (47 Institute)
750
1.050
davon: befragte Institute
658
940
Die privaten Banken planen einen weiteren Ausbau ihres Bankstellennetzes. So soll sich die Zahl dieser Stellen bis Ende 1993 um über 250 auf insgesamt mehr als 1.000 erhöhen. Trotz dieser starken Expansion wird die Bankstellendichte der privaten Institute in Ostdeutschland (16.000 Einwohner je Filiale) auch Ende des nächsten Jahres noch unter der in Westdeutschland (10.000 Einwohner je Filiale) liegen. Das Filialnetz wird auch nach 1993 ausgebaut werden; das bedeutet weitere erhebliche Personal- und Sachinvestitionen. Tabelle 2: Gründe für Geschäftsbehinderungen Anzahl der Nennungen (maximal 9)
unwichtig
fehlende Gebäude/Grundstücke
weder wichtig noch unwichtig
wichtig
sehr wichtig
1
3
5
2
7
ungeklärte Eigentumsverhältnisse unzureichende Verkehrsinfrastruktur
3
5
1
Mangel an qualifizierten Arbeitskräften
1
5
3
4
3
1
3
Benachteiligung der privaten Banken durch öffentliche Stellen mangelnde Verwaltungseffizienz
2
5
Wie rasch sich die Ausbaupläne der privaten Banken realisieren lassen, hängt nicht zuletzt davon ab, ob die immer noch bestehenden Investitionshemmnisse überwunden werden können. Ungeklärte Eigentumsverhältnisse, fehlende Gebäude sowie mangelnde Verwaltungseffizienz behindern den Ausbau des Bankstellennetzes. Nahezu einhellig stufen die befragten Institute diese Faktoren als gravierende Hemmnisse ein, ebenso wie auch das Fehlen von Bankfachkräften sowie Mängel in der Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur (Tabelle 2).
Kreditinstitute: Bayerische Hypotheken- und Wechsel-Bank AG, Bayerische Vereinsbank AG, Berliner Bank AG, BHF-Bank, Commerzbank AG, Deutsche Bank AG, Dresdner Bank AG, Schmidt Bank und Vereins- und Westbank AG.
320
Milliardeninvestitionen in Sachanlagen [...] Die privaten Banken haben bis Ende 1991 mehr als 2,7 Mrd. DM in Gebäude, Einrichtungen und technische Ausstattungen investiert. Bis Ende 1993 sind weitere 2,3 Mrd. DM vorgesehen (Tabelle 3), so daß sich das Gesamtvolumen dann auf mehr als 5 Mrd. DM beläuft – für einen Wirtschaftsbereich, der besonders personalintensiv ist, ein sehr hoher Betrag. Eine Folge dieser beträchtlichen Investitionen ist, daß die Geschäftsstellen heute auf einem technischen Niveau arbeiten, das in der Regel über dem der westdeutschen Bankstellen liegt. Tabelle 3: Sachinvestitionen in den neuen Bundesländern bis Ende 1991 Beträge in Mill. DM insgesamt (einschl. Immobilien)
Plan 1992/93 Beträge in Mill. DM
2.731
2.295
[…] und in Humankapital: Die Probleme der Umstrukturierung der ostdeutschen Wirtschaft spiegeln sich besonders deutlich in der schwierigen Situation auf dem Arbeitsmarkt wieder. Als eine von wenigen Brachen hat die Kreditwirtschaft seit dem Beginn der Wirtschafts- und Währungsunion zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen. Die privaten Banken beschäftigen dort zur Zeit gut 14.000 Mitarbeiter aus den neuen Ländern. Hinzu kommen über 4.600 Angestellte aus Westdeutschland. ist Ende 1993 ist eine weitere Aufstockung der Belegschaft um etwa ein Zehntel geplant (Tabelle 4). Wenn eine ähnliche Personalstruktur aufgebaut werden soll wie in den alten Bundesländern, müßte die Zahl der Mitarbeiter mittelfristig noch um etwa die Hälfte steigen. Tabelle 4: Mitarbeiter in den neuen und alten Bundesländern März 1992 Anzahl in der Bundesrepublik Deutschland davon: – Auszubildende – Trainees in den neuen Bundesländern
Plan Ende 1993
Anteil in %
Anzahl
Anteil in %
170.197
100
171.519
100
14.488
9
14.980
9
1.439
1
1.714
1
18.683
11
2. 243
12
(= 100 %) 14.050
(= 75)
(= 100 %) 15.295
(= 76)
– aus den alten Bundesländern
4.633
(= 25)
4.948
(= 24)
davon: – Auszubildende
2.349
(= 13)
2.579
(= 13)
317
(= 2)
511
(= 3)
151.514
89
151.276
88
(= 100 %) 12.139
(= 8)
(= 100 %) 12.401
(= 8)
1.122
(= 1)
1.203
(= 1)
davon: – aus den neuen Bundesländern
– Trainees in den alten Bundesländern davon: – Auszubildende – Trainees
321
Umfangreiche Aus- und Fortbildungsaktivitäten: Eine Ausbildung zum Bankkaufmann war in der ehemaligen DDR unbekannt. Deshalb ist es die vordringliche personalpolitische Aufgabe der Kreditinstitute, die neuen Mitarbeiter mit dem für das moderne Bankgeschäft unverzichtbaren Wissen zu versehen. Im Rahmen des täglichen Geschäfts werden sie von den Arbeitnehmern aus den alten Bundesländern angeleitet, die einen großen Teil ihrer Arbeitszeit als „trainer on the job“ aufwenden. Darüber hinaus führen die Institute umfangreiche Aus- und Weiterbildungsprogramme durch, in denen die neuen Mitarbeiter geschult werden (Tabelle 5). Tabelle 5: Weiterbildungsprogramme für Mitarbeiter – Juli 1990 bis März 1992 –
in der Bundesrepublik Deutschland
Teilnehmer Zahl
Teilnehmer Tage*
175.570
571.568
davon: in den neuen Bundesländern
32.873
118.088
in den alten Bundesländern
142.697
453.480
* Teilnehmer - Tage = Anzahl der Teilnehmer x Tagungstage
Langfristig läßt sich der Mangel an ausgebildeten Bankkaufleuten nur beheben, wenn die Kreditinstitute in erheblichem Umfang Berufsnachwuchs ausbilden. Dieser Aufgabe haben sich die Banken von Anfang an mit großem Engagement zugewendet. Von den rund 19.000 Mitarbeitern in den neuen Ländern sind 2.350 Auszubildende. Die Ausbildungsquote von 13 Prozent liegt deutlich über der Quote Westdeutschlands von 8 Prozent. Damit geben die privaten Banken vielen jungen Menschen berufliche Perspektiven für einen sicheren und attraktiven Arbeitsplatz. Das gilt auch für die zahlreichen Trainees, die auf die Übernahme künftiger Führungspositionen vorbereitet werden. Um die Ausbildung der Lehrlinge sicherzustellen, haben die Banken Initiativen zur Weiterbildung von Berufsschullehrern ergriffen. Ab Oktober 1990 haben sie Lehrer in Fortbildungsseminaren theoretisch und praktisch mit allen wichtigen bankwirtschaftlichen Fragen vertraut gemacht und versorgen sie laufend mit Unterrichtsmaterialien. Höhere Risikoneigung bei der Kreditvergabe: Das Kreditgeschäft in den neuen Bundesländern lief nur mühsam an. Anfangs bestanden die ausstehenden Kredite der privaten Banken überwiegend aus von der Treuhandanstalt verbürgten Liquiditätskriterien. Aufgrund des Nachfrageeinbruchs und der großen Unsicherheiten investierten die Unternehmen nur in geringem Maße. Erst mit dem Einsetzen der Existenzgründungswelle und der sich beschleunigenden Privatisierung expandierte auch die Darlehensvergabe. Das Volumen der in den neuen Bundesländern herausgelegten Kredite hat sich von Ende 1990 bis März 1992 mehr als verdoppelt. Der Einlagenüberschuß, der sich anfangs gebildet
322
hatte, wurde abgebaut und in einen Kreditüberschuß in Höhe von 4,2 Mrd. DM verwandelt (Tabellen 6 und 10). Tabelle 6: Kredite an Privat- und Geschäftskunden in den neuen Bundesländern Ende 1990
Insgesamt davon: 1. Kredite an Privatkunden davon: – zugesagte Wohnungsbaukredite davon: – ausgezahlte Kredite 2. Kredite an Geschäftskunden
Ende 1991
Ende März 1992
Beträge in Mill. DM
Anteil in %
Beträge in Mill. DM
Anteil in %
22.964
100
49.415
100
50.478
100
1.778
8
7.243
15
8.459
17
240
1
1.741
4
2.057
4
(= 100%) 204
(= 100%)
Beträge in Mill. DM
Anteil in %
(= 100%)
(= 85)
1.447
(= 83)
1.717
(= 83)
21.186
92
42.172
85
42.019
83
18.306
80
34.952
71
35.798
71
13.557
59
20.618
42
19.730
39
davon: 2.1. ausgezahlte Kredite davon: 2.1.1. Treuhandunternehmen davon: – staatsverbürgt – nicht-staatsverbürgt 2.1.2. NichtTreuhandunternehmen davon: – staatsverbürgt
(= 100%)
(= 100%)
(= 100%)
12.771
(= 94)
1.993
(= 92)
18.209
(= 92)
786
(= 6)
1.625
(= 8)
1.521
(= 8)
14.334
29
16.068
32
4.749
21
(= 100%)
(= 100%)
(= 100%)
691
(= 15)
2.117
(= 15)
2.310
(= 14)
– nicht-staatsverbürgt
4.058
(= 85)
12.217
(= 85)
13.758
(= 86)
2.2. ausgezahlte Mittelstandskredite (Kredite bis zu 5 Mill. DM)
4.598
20
8.786
18
9.963
20
Kredite in den neuen Bundesländern können häufig nicht nach den üblichen bankkaufmännischen Kriterien vergeben werden. Insbesondere fehlt es an ausreichenden Sicherheiten. Die Kreditinstitute setzen deshalb vorrangig auf die Ertragsaussichten der Kreditnehmer. Sie gehen damit zwangsläufig höhere Risiken ein. In der Umfrage des Bundesverbandes betonen die Institute übereinstimmend, daß ihre Risikobereitschaft höher ist als in Westdeutschland (Tabelle 7).
323
Tabelle 7: Risikobereitschaft bei der Kreditvergabe in den neuen Bundesländern im Vergleich zu der in den alten Bundesländern
Anzahl der Nennungen (maximal 9)
höher
gleich
Privatkunden
8
1
Geschäftskunden
9
niedriger
Starker Anstieg der nicht vom Staat verbürgten Kredite: Die Risikobereitschaft der Banken wird insbesondere auch durch den starken Anstieg der nichtstaatsverbürgten Kredite belegt: Diese haben sich von Ende 1990 bis Ende März 1992 von 4,8 auf 15,3 Mrd. DM erhöht, das heißt um mehr als das Dreifache. Der Anteil der nicht-staatsverbürgten Darlehen am Gesamtvolumen der Kredite an Unternehmen ist in diesem Zeitraum von 26 auf 43 Prozent gestiegen (Tabelle 6). Bemerkenswert ist, daß dabei der Anteil der unverbürgten Kredite, die NichtTreuhandunternehmen gewährt wurden, 86 Prozent beträgt. Die Banken unterstützen damit die Entwicklung privatwirtschaftlicher Strukturen in den neuen Bundesländern. Demgegenüber liegt der Anteil der nicht-staatsverbürgten Kredite an Treuhandunternehmen bei lediglich 8 Prozent. Daran wird deutlich, daß sich diese Unternehmen in einer ungleich schwierigeren Lage befinden. Engagement für den Mittelstand: Die privaten Banken messen dem raschen Aufbau eines leistungsstarken Mittelstandes bei der Umstrukturierung der ostdeutschen Wirtschaft große Bedeutung zu. Deshalb haben sie z. B. auch wesentlich an der schnellen Gründung der fünf Bürgschaftsbanken in den neuen Bundesländern mitgewirkt und entsprechendes Kapital bereitgestellt. Mit ihren Kreditbürgschaften, Bürgschaften für Leasing-Finanzierungen und Beteiligungsgarantien erleichtern diese Banken erheblich die Versorgung der Unternehmen mit Krediten und Risikokapital. Die Mittelstandskredite der privaten Banken (Kredite bis 5 Mill. DM) haben inzwischen eine Höhe von rund 10 Mrd. DM erreicht, das sind rund 20 Prozent der insgesamt ausgezahlten Mittel (Tabelle 6). Ein beachtlicher Teil entfällt dabei auf die Finanzierung von Existenzgründern. Die Mittelstandsfinanzierung ist in den neuen Ländern erheblich beratungsintensiver als in Westdeutschland; gleichwohl schlägt sich das nicht in den Konditionen nieder. Die Banken wirken auch in erheblichem Umfang bei öffentlichen Förderprogrammen mit, wie zum Beispiel beim ERP-Existenzgründungs- und dem Eigenkapitalhilfe-Programm. Allein bei den beiden genannten Programmen haben sie Fördermittel in der Größenordnung von inzwischen 3 Mrd. DM durchgeleitet. Damit sind die privaten Banken in diesem Bereich der Mittelstandsförderung die aktivste Institutsgruppe. Hemmnisse beim Wohnungsbau: Trotz hoher Zuwachsraten in den letzten beiden Jahren ist der Anteil der Kredite für die Wohnungsbaufinanzierung mit nur 4 Prozent noch relativ gering (Tabelle 6). Es bestehen nach wie vor große Schwierigkeiten beim Erwerb von Wohneigentum (Stichworte: Probleme bei der „Priva-
324
tisierung“ von ehemals volkseigenen Wohnungen, Eigentumsproblematik). Auch dürften viele Haushalte aus finanziellen Gründen und wegen der unsicheren Arbeitsmarktsituation derzeit noch kein Immobilieneigentum erwerben und noch keine an sich notwendigen Instandsetzungen vornehmen. Starker Einlagenzuwachs: Das Volumen der Einlagen erreichte Ende März d. J. 46,3 Mrd. DM; das entspricht einem Anstieg von rund 50 Prozent seit Ende 1990. Besonders stark zugenommen haben dabei die Einlagen von Privatkunden. Dennoch sind die Geschäftskunden, anders als in Westdeutschland, die bedeutendste Einlegergruppe (Tabelle 10). Dies dürfte darauf zurückzuführen sein, daß das private Geldvermögen noch deutlich niedriger liegt als in den alten Bundesländern, die privaten Banken aber von vielen Unternehmern und freiberuflich Tätigen als besonders kompetente Geschäftspartner angesehen werden. Tabelle 10: Einlagen in den neuen Bundesländern Ende 1990 Beträge in Mill. DM Insgesamt davon: – Privatkunden davon: Spareinlagen – Geschäftskunden
Ende 1991
Anteil in %
Beträge in Mill. DM
Ende März 1992
Anteil in %
Beträge in Mill. DM
Anteil in %
30.873
100
46.743
100
46.324
100
10.819 5.089 20.054
35 16 65
17.826 7.868 28.917
38 17 62
19.307 8.796 27.017
42 19 58
Verdreifachung der Wertpapierdepots: Die Bemühungen der privaten Banken, ihre Kunden in den neuen Ländern auch zu anderen, für sie attraktiveren Anlageformen hinzuführen, zeigen sich in der Verdreifachung der Anzahl der Wertpapierdepots im letzten Jahr. Dieser hohe Zuwachs hält an: Allein im ersten Quartal 1992 erhöhte sich die Anzahl der Depots um fast 50 000. Zugleich hat das durchschnittliche Depotvolumen um gut ein Drittel auf fast 19 000 DM zugenommen (Tabelle 11). Tabelle 11: Wertpapierdepots in den neuen Bundesländern Ende 1990
Ende 1991
Anteil in % Anzahl der Depots Volumen (in Mill. DM) davon: – börsengängige Dividendenpapiere – Schuldverschreibungen – andere Anlagen durchschnittl. Depotvolumen (in DM)
156.590
Ende März 1992
Anteil in % 480.036
Anteil in % 528.728
2.135
100
8.535
100
9.872
100
275
13
1.250
15
1.321
13
1.588
74
5.463
64
6.063
61
272
13
1.822
21
2.488
25
13.634
17.780
18.671
325
Die privaten Banken betreuen heute mehr als 2,6 Millionen Geschäfts- und Privatkunden in den neuen Ländern. Damit konnte innerhalb von zwei Jahren jeder sechste neue Bundesbürger als Kunde gewonnen werden (Tabelle 8). Tabelle 8: Anzahl der Privat- und Geschäftskunden Ende 1990 Anzahl in Tsd.
Ende 1991
Anteil in %
Anzahl in Tsd.
Ende März 1992
Anteil in %
Anzahl in Tsd.
Anteil in %
In der Bundesrepublik Deutschland
19.277
100
20.517
100
20.958
100
davon: – Privatkunden
18.265
95
19.444
95
19.860
95
1.012
5
1.073
5
1.098
5
1.264
7
2.444
12
2.635
13
– Geschäftskunden in den neuen Bundesländern davon:
(= 100%)
– Privatkunden
davon:
(= 94)
2.303
(= 94)
2.478
(= 94)
79
(= 6)
141
(= 6)
157
(= 6)
18.013
93
18.073
88
18.323
87
(= 100%)
– Privatkunden
(= 100%)
1.185
– Geschäftskunden in den alten Bundesländern
(= 100%)
(= 100%)
(= 100%)
17.080
(= 95)
17.141
(= 95)
17.382
(= 95)
933
(= 5)
932
(= 5)
941
(= 5)
– Geschäftskunden
Wie sehr sich die Institute um neue Kunden bemühen, zeigt sich in den zum Teil immer noch vergleichsweise günstigen Konditionen, wobei der Beratungsaufwand weitaus höher ist als in Westdeutschland (Tabelle 9). Tabelle 9: Konditionen in den neuen Bundesländern im Vergleich zu denen in den alten Bundesländern Anzahl der Nennungen (maximal 9)
gleich
niedriger
Kontoführungsgebühren
5
4
Soll-Zinsen
6
3
Halben-Zinsen Depotgebühren
höher
3
6 8
1
Die privaten Banken haben sich in ihren Aktivitäten nicht auf das klassische Bankgeschäft beschränkt. Sie sind weit darüber hinausgegangen und unterstützen unternehmerische Initiativen in vielfältiger Form. Ein besonderer Aspekt sind dabei Beteiligungen: Bis Ende März 1992 haben die Banken 606 Beteiligungsvorhaben geprüft, von denen bisher 77 realisiert wurden. Deren Buchwert liegt immerhin bei 271 Mill. DM. Einzelne Häuser ha-
326
ben spezielle Beteiligungsfonds gegründet, um die Privatisierung zu unterstützen (Tabelle 12). Tabelle 12: Beteiligungen in den neuen Bundesländern
Ende 1991
Ende März 1992
Anteil in % Zahl der geprüften Beteiligungsvorhaben
Anteil in %
501
100
606
100
63
13
77
13
davon: – Zahl der eingegangenen Beteiligungen Gesamtbetrag der eingegangenen Beteiligungen (Buchwerte in Mill. DM)
229
271
Zu erwähnen sind auch die Aktivitäten der Banken, die mit Repräsentanzen in den neuen Ländern vertreten sind. Sie stellen die umfangreiche Beratung über das Kredit- und Anlagegeschäft unter Einschluß auch derivativer Finanzprodukte in den Vordergrund. Die Bemühungen sollen in selektiven Geschäftsfeldern, etwa bei der Immobilienentwicklung von Großprojekten, noch verstärkt werden. Die Banken nutzen intensiv ihre weltweiten Kontakte, um in- und ausländischen Investoren für die neuen Bundesländer zu gewinnen. Über ihren eigenen Bereich hinaus führen sie zahlreiche Schulungs- und Qualifizierungsmaßnahmen für Führungskräfte in den neuen Ländern sowie für gewerbliche und freiberufliche Existenzgründer durch. In vielen Fällen werden Kommunen beim Aufbau leistungsstarker Verwaltungen durch Bereitstellung von Personal und durch Ausbildungsmaßnahmen unterstützt. Die Zusammenarbeit mit der Treuhandanstalt ist vielfältig. Sie reicht von der Abordnung von Mitarbeitern für die Anstalt und die Treuhandunternehmen, die Wahrnehmung von Aufsichtsratsmandaten bis hin zur konzeptionellen Hilfe bei der Entwicklung angemessener Finanzierungsformen. Die privaten Banken sind sich ihrer Verantwortung für die neuen Bundesländer bewußt. Im Einklang mit Parlament und Bundesregierung werden sie im Rahmen ihrer unternehmerischen Möglichkeiten auch künftig ihren wirtschaftsund gesellschaftspolitischen Beitrag zum Wiederaufbau der neuen Länder leisten.
327
10. Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. August 1990461 Von Wolfgang Schäuble Rahmenbedingungen: Der Einigungsvertrag war das politische und rechtliche Instrument zur Herstellung der Einheit Deutschlands in Freiheit. Er ist nicht denkbar ohne die vorangegangenen und gleichzeitigen grundstürzenden Veränderungen im Ost-West-Verhältnis, in Europa und in Deutschland in den Jahren 1989/90. Die außenpolitischen Rahmenbedingungen der Deutschlandpolitik hatten sich seit dem Amtsantritt Michail Gorbatschows als Staats- und Parteichef der UdSSR im Jahre 1985, seiner Politik der Perestroika, dem Rückzug der sowjetischen Armee aus Afghanistan und der damit verbundenen Aufgabe der Breschnew-Doktrin entscheidend gewandelt. Diese Veränderungen realisierten sich in der Reaktion der ostmitteleuropäischen Staaten auf die Fluchtbewegung462 von Deutschen aus der DDR im Spätsommer 1989 und in der kühlen Reaktion des Staatsoberhaupts der Sowjetunion auf die inneren Probleme der SED-Führung beim Staatsbesuch zur 40-Jahr-Feier der DDR-Gründung. („Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“) Die entscheidende außenpolitische Veränderung stellte die Einigung der Außenminister Deutschlands und der Vier Mächte463 am Rande der Konferenz von Ottawa (13. Febr. 1990) dar, dass allein die „äußeren Aspekte“ der deutschen Einheit in sogenannten Zwei-plus-Vier-Gesprächen behandelt werden sollten und dass über die „inneren Aspekte“ einer Vereinigung die beiden deutschen Staaten selbst zu entscheiden hätten. Damit war der Weg frei für Verhandlungen über die Herstellung der Einheit Deutschlands und den Einigungsvertrag.
461 Mit kleineren Aktualisierungen aus: Eppelmann, Rainer / Möller, Horst / Nooke, Günter / Wilms, Dorothee (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus. Das Staats- und Gesellschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik, Bd. 1, 2. Aufl., Paderborn 1997, S. 231-240. Literaturhinweise: Denkschrift der Bundesregierung zum Einigungsvertrag, Bundestagsdrucksache 11/7760. Schäuble, Wolfgang: Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte, Stuttgart 1991. Schäuble, Wolfgang: Der Einigungsvertrag. Vollendung der Einheit Deutschlands in Freiheit, in: Zeitschrift für Gesetzgebung 5 (1990), S. 289-307. Schnapauff, Klaus-Dieter: Der Einigungsvertrag. Überleitungsgesetzgebung in Vertragsform, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1990, S. 1249-1256. Stern, Klaus: Der verfassungsändernde Charakter des Einigungsvertrages, in: Deutsch-Deutsche Rechts-Zeitschrift (1990), S. 289-294. Weis, Hubert: Verfassungsrechtliche Fragen im Zusammenhang mit der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, in: Archiv des Öffentlichen Rechts 116 (1991), S. 2-31. 462 Eisenfeld, Bernd: Fluchtbewegung, in: Eppelmann, Rainer et al.: Lexikon des DDR-Sozialismus, S. 268-271. 463 Klein, Eckart: Vier Mächte, ebd., S. 899-903.
328
Zu den Voraussetzungen, ohne die der Einigungsvertrag nicht denkbar wäre, zählt zum anderen der grundlegende Wandel der Verhältnisse in der DDR selber. Unter dem Schutz der Kirchen hatte sich eine Oppositionsbewegung gebildet, die sich 1989 im Protest gegen die Manipulation der Kommunalwahlen artikulierte. Demonstrationen am 4./5. Okt. 1989 in Dresden und am 7. Okt. 1989 in OstBerlin waren von der Volkspolizei und der Staatssicherheit gewaltsam aufgelöst und die Teilnehmer verhaftet worden. Am 9. Okt. 1989 konnten in Leipzig erstmals 70.000 Menschen für Reformen demonstrieren, ohne dass die Staatsmacht einschritt. Am 18. Okt. 1989 wurde Erich Honecker als Generalsekretär der SED, Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates und des Staatsrats der DDR vom ZK der SED abgesetzt. Auch unter seinem Nachfolger Egon Krenz konnte sich das Regime aber nicht mehr stabilisieren: Am 4. Nov. 1989 demonstrierten in OstBerlin fast 1 Mio. Menschen; in Leipzig wurde auf der mit 500.000 Teilnehmern größten Montagsdemonstration „Deutschland einig Vaterland“ skandiert. Den vorläufigen Höhepunkt der Veränderungen stellte die Öffnung der innerdeutschen Grenze am 9. Nov. 1989 dar. Es war das Besondere der Revolution464 in der DDR, dass sie eine „friedliche Revolution“ und in gewissem Sinne eine „unvollendete Revolution“ blieb. Das stillschweigende Einverständnis zwischen bisherigen Machthabern und Opposition, die „Wende“ in geordneten Bahnen zu vollziehen, führte u. a. zum Eintritt des neuen CDU-Vorsitzenden Lothar de Maizière in das Kabinett Modrow am 17./18. Dez. 1989, zur Streichung des Führungsanspruchs465 der SED aus der Verfassung466 am 1. Dez. 1989 und zu den Gesprächen von SED und Opposition am Runden Tisch.467 Die eigentliche Phase der Herstellung der staatlichen Einheit, deren Ergebnis schließlich der Einigungsvertrag war, konnte nach der ersten freien und demokratischen Wahl zur Volkskammer468 der DDR am 18. März 1990 beginnen. Von da an war die DDR nicht mehr der „Staat der SED“. Zugleich wurde deutlich, dass ihre Existenz als zweiter deutscher Staat mit dem Sozialismus verkoppelt gewesen war; mit der Freiheit war eine unaufhaltsame Bewegung zur Einheit angestoßen worden. Die Parteien der Einheit errangen eine ¾-Mehrheit; die Allianz für Deutschland aus CDU, DSU und Demokratischem Aufbruch, die sich im Wahlkampf wie Bundeskanzler Helmut Kohl für eine Wiedervereinigung auf dem Weg über Artikel 23 des Grundgesetzes ausgesprochen hatte, erreichte fast 50 % der Stimmen und verfügte zusammen mit den Liberalen über eine klare Mehrheit in der Volkskammer.
464 Friedrich, Wolfgang-Uwe: Revolution, ebd., S. 669-672. 465 Brunner, Georg: Führungsanspruch der SED, ebd., S. 293-299. 466 Brunner, Georg: Verfassung, ebd., S. 883-889. 467 Thaysen, Uwe: Runder Tisch, ebd., S. 672-675. 468 Schenk, Fritz: Volkskammer, ebd., S. 905-906.
329
Grundentscheidungen: Die wichtigste Entscheidung des weiteren Einigungsprozesses war mit dem eindeutigen Votum der Menschen in der DDR für die deutsche Einheit und für den Weg zur Einheit über den Beitritt469 nach Artikel 23 GG gefallen. Das bedeutete, dass die Einheit nicht auf dem Weg des Artikels 146 GG über die Einberufung einer verfassunggebenden Nationalversammlung und die Ausarbeitung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung hergestellt werden musste. Bereits im Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion470 wurden mit Wirkung vom 1. Juli 1990 wesentliche Elemente der freiheitlichen Rechts- und Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik auf die DDR übertragen und so die Wirtschafts- und Sozialsysteme beider deutscher Staaten noch vor der Herstellung der staatlichen Einheit verkoppelt. Dies geschah in Hinblick auf den von beiden Seiten gewünschten Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, wie es auch in der Präambel zum Staatsvertrag vertraglich fixiert wurde. Es war der Wunsch der ersten frei gewählten Regierung der DDR und Ministerpräsident de Maizières, vor dem Beitritt die wesentlichen Bedingungen der Einheit in Verhandlungen zwischen den Regierungen der beiden deutschen Staaten festzulegen. Hierzu diente der Einigungsvertrag. Damit wurde die Form des sognannten paktierten Beitritts, einer Kombination und Verzahnung von Beitritt und Einigungsvertrag, gewählt. Durch die vertragliche Festlegung der Einzelheiten der Einheit vorab erhielt der beitretende Teil Deutschlands die Möglichkeit, über die Bedingungen der künftigen Einheit aus einer paritätischen Verhandlungssituation heraus mitzubestimmen. Das Modell des paktierten Beitritts sollte zudem den von beiden Seiten gewünschten „Beitritt in Würde“ ermöglichen; zugleich war damit der polemischen Parole der Einigungsgegner vom „Anschluss“ der DDR der Boden entzogen. Grundlinie für die Verhandlungen zum Einigungsvertrag war es, einerseits soweit wie möglich alle, andererseits aber auch nur die durch die deutsche Einigung unabweisbar aufgeworfenen Fragen und Probleme in einem Vertrag zu regeln. Dadurch wurden einerseits für jedermann im In- und Ausland die rechtlichen Bedingungen im vereinten Deutschland von Anfang an offengelegt, was nicht zuletzt in Bezug auf die erhofften schnellen Investitionen im Beitrittsgebiet und damit den Beginn des Aufbaus im Osten von Bedeutung war. Diese Grundentscheidung bedingte zugleich, dass angesichts der im Zuge der Wiedervereinigung notwendig werdenden Verfassungsänderungen für die Ratifikation des Vertragswerks ⅔-Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat und damit die Einigung mit der Opposition nötig war. Durch die strikte Selbstbeschränkung auf das unmittelbar einigungsbedingt Notwendige konnte andererseits eine Belastung der Verhandlungen durch sogenannte Paketlösungen und ein „Draufsatteln“ mit sonstigen, lediglich anlässlich der Vereinigung vorgebrachten, Regelungswünschen vermieden werden.
469 Boehl, Henner Jörg: Beitritt, ebd., S. 132-133. 470 Grosser, Dieter: Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion (WWS), ebd., S. 915-923.
330
Das Regelungsmodell des Einigungsvertrages: Der Einigungsvertrag (EV) stellt einen „normativen Vertrag“ dar, mit dem für beide Seiten verbindliches Recht geschaffen wird. Dazu war in der Bundesrepublik entsprechend Artikel 59 Abs. 2 GG die Zustimmung von Bundestag und Bundesrat in der Form eines Bundesgesetzes notwendig und zwar, weil der Vertrag auch die einigungsbedingten Verfassungsänderungen enthielt, nach Artikel 79 GG in der Form eines verfassungsändernden Gesetzes mit ⅔-Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Verfahren in seiner Entscheidung vom 18. Sept. 1990 gebilligt. Die Befugnis ist danach aus der Vereinigungskompetenz aus Artikel 23 Satz 2 GG (a.F.) und dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes abzuleiten. Es handelte sich nicht um eine Ausübung der auswärtigen Gewalt nach Artikel 59 GG, da die DDR nach der Entscheidung zum Grundlagenvertrag471 für die Bundesrepublik nicht Ausland war. Dementsprechend war auch auf Seiten der Bundesregierung der Bundesinnenminister für die Einigungsvertragsverhandlungen zuständig. Nach Verabschiedung des Vertragsgesetzes am 23. Sept. 1990 sowie der Ratifikation durch den Bundespräsidenten, der Verkündung im Bundesgesetzblatt und der gegenseitigen Mitteilung der beiden Regierungen über das Vorliegen der Inkrafttretensvoraussetzungen ist der Einigungsvertrag am 29. Sept. 1990 in Kraft getreten. Seine Regelungen gelten überwiegend erst ab dem „Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Beitritts“, also seit dem 3. Okt. 1990, 0.00 Uhr. In der DDR wurde die Transformation in innerstaatliches Recht durch Verfassungsgesetz vom 20. Sept. 1990 vorgenommen. Nach Artikel 9 des von der letzten Volkskammer anstelle einer neuen Verfassung zur Überbrückung des Zeitraums bis zur Vereinigung erlassenen Verfassungsgrundsätzegesetzes vom 17. Juni 1990 war für Staatsverträge der DDR, die Verfassungsgegenstände berühren, ebenfalls eine ⅔-Mehrheit erforderlich. Allerdings ist mit dem Wirksamwerden des Beitritts am 3. Okt. 1990 die DDR als Staat und Völkerrechtssubjekt untergegangen. Artikel 45 Abs. 2 des Einigungsvertrages stellt darum fest, dass der Vertrag nach dem Wirksamwerden des Beitritts als Bundesrecht geltendes Recht bleibt. Das bedeutet zugleich, dass das durch den Einigungsvertrag geschaffene Recht im normalen Gesetzgebungsverfahren geändert werden kann. Nur ausnahmsweise wurden im Vertrag sogenannte Reservatrechte begründet, die nach Artikel 44 EV nach dem Untergang der DDR von den auf ihrem ehemaligen Gebiet entstandenen Ländern geltend gemacht werden können. Das Vertragswerk des Einigungsvertrages umfasst den eigentlichen Einigungsvertrag vom 31. Aug. 1990 mit seinen 45 Artikeln, drei – z. T. sehr umfangreiche – Anlagen zum Vertrag, das anlässlich der Vertragsunterzeichnung vereinbarte Protokoll zum Vertrag, eine Protokollerklärung zum Vertrag, die Vereinbarung zur Durchführung und Auslegung des Vertrags vom 18. Sept. 1990 und das Einigungsvertragsgesetz vom 23. Sept. 1990. 471 Blumenwitz, Dieter: Grundlagenvertrag, ebd., S. 353-358.
331
Die staatliche Einheit Deutschlands wurde unmittelbar durch den Beitritt der DDR bewirkt; damit war nicht über das im Beitrittsgebiet geltende Recht entschieden. Artikel 23 Satz 2 GG (a. F.) legte fest, dass das Grundgesetz „in anderen Teilen Deutschlands […] nach deren Beitritt in Kraft zu setzen“ sei, und ging damit davon aus, dass es für Rechtsnormen jeweils eines besonderen Überleitungsaktes bedurfte. Die Überleitung des Bundesrechts, die Entscheidung über die Fortgeltung von DDR-Recht und die Herstellung der Rechtseinheit war die Aufgabe des Einigungsvertrages. Herzstück des Einigungsvertrages sind darum die Artikel 3 und 8, die mit dem Wirksamwerden des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik das Grundgesetz und grundsätzlich das gesamte Bundesrecht im Beitrittsgebiet in Kraft setzen. Damit ist das zunächst favorisierte Prinzip, nur ausgewählte Bestimmungen des bundesdeutschen Rechts überzuleiten (sogenannte Positivliste) und ansonsten vorerst das DDR-Recht im Beitrittsgebiet fortgelten zu lassen, nicht realisiert worden. Als der Beitrittslösung und den Wünschen der Menschen in der DDR angemessener erschien beiden Seiten im Lauf der Verhandlungen das Prinzip, grundsätzlich die Rechtseinheit durch Inkraftsetzung des Bundesrechts sofort herbeizuführen und nötige Ausnahmen ausdrücklich festzulegen (sogenannte Negativliste). Ausnahmen vom Grundsatz der Überleitung des Bundesrechts sind in der – überaus umfangreichen und für die tatsächliche Rechtslage im Beitrittsgebiet zentralen – Anlage I zusammengestellt. In 19 Kapiteln, die sich nach der Aufteilung der Geschäftsbereiche der Ressorts der Bundesregierung richten, werden – untergliedert nach Sachgebieten – jeweils diejenigen Bestimmungen aufgeführt, die nicht (jeweils Abschnitt I), mit Änderungen (jeweils Abschnitt II) oder nur mit besonderen Maßgaben für das Beitrittsgebiet (jeweils Abschnitt III) übergeleitet werden. Dafür wurde das gesamte geltende Bundesrecht gesichtet, mit dem entsprechenden DDR-Recht verglichen und gemeinsam mit der DDR-Seite in jedem einzelnen Fall entschieden, ob und inwieweit eine Überleitung sinnvoll oder eine Ausnahme notwendig war. Die danach in Anlage I angeordneten Modifikationen stellen sogenanntes partielles Bundesrecht dar: Es handelt sich um Bundesrecht – und nicht etwa um Landesrecht –, dessen Geltung aber auf einen Teil des Bundesgebiets beschränkt ist. Das Gegenstück zu der grundsätzlichen Überleitung des Bundesrechts in Artikel 8 EV stellt Artikel 9 EV dar: DDR-Recht bleibt danach grundsätzlich nur dann in Kraft, wenn und soweit es in der Anlage II ausdrücklich angeordnet ist (Abs. 2) oder wenn es nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes Landesrecht wäre (Abs. 1) und nicht dem Grundgesetz, dem einfachen Bundesrecht oder dem geltenden EG-Recht widerspricht. Durch den Beitritt der DDR bezog sich die Mitgliedschaft der Bundesrepublik in der Europäischen Gemeinschaft nach dem völkerrechtlichen Prinzip der flexiblen Vertragsgrenzen automatisch auch auf das Beitrittsgebiet – als einziger Teil des vormaligen Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) gehörten die neuen Länder damit bereits seit dem 3. Okt. 1990 zur Europäischen Gemeinschaft.
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Artikel 10 EV stellt klar, dass das gesamte EG-Recht mit dem Wirksamwerden des Beitritts am 3. Oktober auch im beigetretenen Teil Deutschlands gilt, soweit nicht von der EG-Kommission Übergangsregelungen vorgesehen werden. Einzelfragen: 1. Artikel 1 EV bestimmt, dass mit dem Wirksamwerden des Beitritts die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, SachsenAnhalt und Thüringen Länder der Bundesrepublik Deutschland werden und alle 23 Bezirke von Berlin das Land Berlin bilden. Er regelt damit die territorialen und föderalen Konsequenzen aus dem Beitritt der DDR. Die DDR war als zentralistischer Staat organisiert gewesen; die Länder waren bereits 1952 beseitigt worden (Verwaltungsgliederung).472 Die nach der Wende begonnene Länderneubildung in der DDR konnte vor dem Beitritt nicht mehr abgeschlossen werden. Damit zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung im Beitrittsgebiet kompatible föderale Strukturen bestanden, wurde mit dem Einigungsvertrag (Anlage II Kapitel II Sachgebiet A Abschnitt II) das Ländereinführungsgesetz der DDR vom 22. Juli 1990 in das Bundesrecht übergeleitet und die Länderneubildung auf den 3. Okt. 1990 vorgezogen. Als Kurzformel lässt sich damit sagen: Die DDR ist beigetreten; fünf neue Länder (und die Ostbezirke des – alten – Landes Berlin) sind Teil der Bundesrepublik Deutschland geworden. 2. Im Einigungsvertrag sind in Art. 4 auch Grundgesetzänderungen vereinbart worden. Dieses nicht ganz selbstverständliche Verfahren war gerechtfertigt, da es sich ausschließlich um solche Verfassungsänderungen handelte, die unmittelbar durch den Beitritt und die Herstellung der Einheit Deutschlands bedingt waren. Mit der Einheit wurden insbesondere die deutschlandrechtlichen Aussagen des Grundgesetzes obsolet. Das Wiedervereinigungsgebot war erfüllt, Artikel 23 und 146 gegenstandslos; hätten sie weitergegolten, so hätte dies geradezu Anlass zu Missverständnissen über die Absichten Deutschlands geben können. Mit den genannten Verfassungsänderungen sollte demgegenüber nach innen und außen unmissverständlich dokumentiert werden, dass mit dem Beitritt der DDR die Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung vollendet ist und damit das Grundgesetz als Verfassung für das gesamte deutsche Volk gilt. Unmittelbar durch den Beitritt der DDR sind auch die übrigen in den Einigungsvertrag aufgenommenen Grundgesetzänderungen bedingt: Auf Anregung des Bundesrates wurde eine Neuverteilung der Stimmen in diesem Verfassungsorgan festgelegt, um die Ausgewogenheit der Stimmverhältnisse nicht durch das Hinzutreten von fünf kleineren Ländern zu Lasten der größeren Länder zu verschieben. Der Anwendungsbereich des für die Bewältigung des Staatsbankrotts des Deutschen Reiches geschaffenen Artikels 135 a GG wurde auf die DDR erstreckt. Mit einem neuen Artikel 143 GG wurde in Bezug auf das Beitrittsgebiet für einen eng begrenzten Übergangszeitraum die Möglichkeit der Abweichung von Bestimmungen des Grundgesetzes geschaffen, um den notwendigen gesetzgeberischen Spielraum zur schrittweisen Überleitung grundgesetzkonformen 472 Schenk, Fritz: Verwaltungsgliederung, ebd., S. 895-898.
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Rechts auf das ehemalige Gebiet der DDR zu erhalten, der vor der Streichung aus Artikel 23 Satz 2 GG (a. F.) folgte. Im Übrigen wurden sowohl die in den „Eckpunkten der Länder für den Föderalismus im vereinten Deutschland“ vom 5. Juli 1990 als auch die sonstigen in der Diskussion befindlichen Verfassungsänderungsvorschläge aus dem Einigungsvertrag ausgeklammert und in Artikel 5 EV der Befassung durch die gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands anempfohlen. In der Gemeinsamen Verfassungskommission des Deutschen Bundestages und des Bundesrates in der 12. Legislaturperiode wurden sie beraten und vom verfassungsändernden Gesetzgeber im Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 27. Okt. 1994 teilweise in das Grundgesetz aufgenommen. 3. Ein brisantes Problem der Wiedervereinigung war die Regelung der „offenen Vermögensfragen“, also die Frage, wie der gemeinsame deutsche Rechtsstaat sich zu den Resultaten der unter nicht-rechtsstaatlichen Verhältnissen erfolgten Enteignungen473 und der sozialistischen Eigentumsordnung der DDR verhalten sollte (Eigentum).474 Der Einigungsvertrag macht in Artikel 41 Abs. 1 die als Anlage III angefügte Gemeinsame Erklärung der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR zur Regelung offener Vermögensfragen vom 15. Juni 1990 zum Vertragsbestandteil und enthält in Artikel 41 Abs. 3 eine Verpflichtung für die Bundesrepublik Deutschland, keine der Gemeinsamen Erklärung widersprechende Rechtsvorschriften zu erlassen. Diese hatte einerseits für enteigneten Grund und Boden den Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“ festgeschrieben. Zugleich wurde aber mit dem Investitionsgesetz, das im Einigungsvertrag als Recht der DDR normiert und unmittelbar in Bundesrecht übergeleitet wurde, entsprechend Artikel 41 Abs. 2 EV ein Vorrang von Investitionsvorhaben vor Rückgabeansprüchen festgeschrieben. Auf gleichem Wege wurde das Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen mit der DDR zur Geltung als künftiges Bundesrecht vereinbart, das Verfahren und Ansprüche zur Rückübertragung von Vermögenswerten regelt. In Bezug auf die in den Jahren 1945-1949 von der Sowjetunion und deutschen Stellen in der sowjetischen Besatzungszone vorgenommenen Enteignungen „auf besatzungsrechtlicher bzw. besatzungshoheitlicher Grundlage“, worunter auch die Enteignungen von Landbesitz über 100 ha im Zuge der Bodenreform475 fielen, wurde in den Verhandlungen mit der DDR-Regierung klar, dass wir die damals bestehenden Eigentumsverhältnisse fixieren mussten, wenn wir eine vertraglich geregelte Wiedervereinigung mit der Zustimmung der DDR wollten. Dies hat sich dann auch in der Gemeinsamen Erklärung widergespiegelt. In Artikel 4 Nr. 5 EV wurde darüber hinaus eine Ergänzung des Grundgesetzes um einen neuen Artikel 143 Abs. 3 vereinbart, der diese Regelung verfassungsrechtlich absichert. Das 473 Wassermann, Rudolf: Enteignungen, ebd., S. 243-246. 474 Brunner, Georg: Eigentum, ebd., S. 226-230. 475 Agethen, Manfred: Bodenreform, ebd., S. 174-176.
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Bundesverfassungsgericht hat diese Regelung in seiner Entscheidung vom 23. April 1991 für verfassungskonform erachtet. Die Problematik der offenen Vermögensfragen hat in Folge auch den gesamtdeutschen Gesetzgeber während der gesamten 12. Legislaturperiode beschäftigt und erst mit dem Sachenrechtsbereinigungsgesetz vom 27. Sept. 1994 und dem Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz vom 30. Sept. 1994 einen Abschluss gefunden. 4. Unter die Ausnahmeregelung des durch den Einigungsvertrag neu geschaffenen Artikels 143 GG fiel auch die im Beitrittsgebiet zunächst aus dem DDR-Recht fortgeltende Fristenregelung zur Abtreibung. Die Regelung widersprach offensichtlich dem Grundrechtsschutz des Grundgesetzes für das ungeborene Leben und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hierzu. Dennoch war in den Einigungsvertragsverhandlungen bis zur letzten Minute eine einvernehmliche Lösung nicht möglich, und das Problem musste in Artikel 31 Abs. 4 EV dem künftigen gesamtdeutschen Gesetzgeber übertragen werden. Die nach langen Verhandlungen und Einigungsversuchen im 12. Deutschen Bundestag zustande gekommene Lösung auf der Grundlage eines fraktionsübergreifenden Kompromissantrages, der gegen die Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion zustande kam, wurde vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 28. Mai 1993 wegen Verstoßes gegen Artikel 1 Abs. 1 und Artikel 2 Abs. 2 GG aufgehoben. Seitdem galt im Beitrittsgebiet eine vom Bundesverfassungsgericht vorgegebene Übergangsregelung, weil auch nach der vom Einigungsvertrag geschaffenen Ausnahmeregelung des Artikels 143 GG Abweichungen von Grundrechten im Beitrittsgebiet höchstens bis zum 31. Dez. 1992 zulässig waren. Einen Kompromiss der Fraktionen der CDU/CSU, der FDP und der SPD für ein einheitliches Abtreibungsrecht hat erst der 13. Deutsche Bundestag im Juli 1995 zustande gebracht. 5. Zu den für die Aufarbeitung der Geschichte des SED-Staates besonders sensiblen Themen gehörte die Frage des Umgangs mit den Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Die letzte Volkskammer der DDR hatte diesbezüglich mit dem „Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit“ vom 24. Aug. 1990 eine Regelung getroffen. Die angesichts der sonstigen Praxis naheliegende Lösung, die Akten nach der Vereinigung unter die Aufsicht des Bundesarchivs zu stellen, traf auf den Widerstand der Volkskammer, wohl weil man dachte, dass damit auch eine physische Verbringung der Akten nach Koblenz verbunden·wäre. Mit dem damaligen Beauftragten der Volkskammer für die Stasi-Akten,476 Joachim Gauck, ist dann im Einigungsvertrag (Anlage I Kapitel II Sachgebiet B Abschnitt II Nr. 2) eine Regelung gefunden worden, wonach ein noch auf Vorschlag des Ministerrats der DDR und mit Zustimmung der Volkskammer von der Bundesregierung berufener Sonderbeauftragter die Akten bis zu einer gesetzlichen Regelung durch den gesamtdeutschen Gesetzgeber in 476 Gauck, Joachim: Staatssicherheit, Ministerium für (MfS), ebd., S. 806-830.
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Verwahrung nehmen sollte. Auf Wunsch der Volkskammer wurden noch nach Unterzeichnung des Einigungsvertrages in der Vereinbarung zur Durchführung und Auslegung vom 18. Sept. 1990 Erwartungen der beiden Vertragsparteien an die künftige gesetzliche Regelung formuliert, zu denen u. a. die regionale Archivierung der Akten gehörte. Vom gesamtdeutschen Gesetzgeber wurde der Bereich im Stasi-Unterlagen-Gesetz vom 20. Dez. 1991 geregelt. Die Akten werden seitdem in der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR und in deren Außenstellen gesichtet, rekonstruiert, ausgewertet und den Betroffenen zugänglich gemacht. Bedeutung und Bewährung: Der Einigungsvertrag stellt gewissermaßen das „Grundbuch“ der deutschen Einheit dar. Er sollte für den beigetretenen Teil des vereinten Deutschlands einen schonenden Übergang in die neue Rechtsordnung ermöglichen, ohne die Rechtseinheit aufzuschieben. Die Grundkonzeption und die wesentlichen Regelungen des Einigungsvertrages haben sich trotz der unvorstellbaren Eile, in der er zustande gebracht werden musste, als tragfähig erwiesen. Die weitere Ausgestaltung der Rechtseinheit wurde zur Aufgabe des gesamtdeutschen Gesetzgebers; die innere Einheit zu erreichen wurde Aufgabe aller Deutschen. Beides ist gut gelungen. 11. Der Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 Von Henner Jörg Boehl Mit dem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland endete die DDR. Auf gemeinsamen Antrag der Fraktionen der CDU, der DSU, der FDP und der SPD beschloß die Volkskammer477 am 23. August 1990 mit 294 gegen 62 Stimmen bei 7 Enthaltungen den Beitritt der DDR „zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes mit Wirkung vom 3. Oktober 1990”. Die in der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 demokratisch legitimierten Repräsentanten der Deutschen in der DDR entschieden sich damit gegen die Fortexistenz der DDR als zweiter deutscher Staat und für die Einheit und Freiheit Deutschlands.
477 Schenk, Fritz: Volkskammer, in: Eppelmann, Rainer / Möller, Horst / Hooke, Günter / Wilms,
Dorothee (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus, 2. Aufl., Bd. 2, S. 906: Die Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 waren die ersten und zugleich die letzten freien Wahlen in der SBZ / DDR. Bei ihr gewannen u. a. die CDU 163 Mandate (40,59 %), die DSU 25 Mandate (6,27 %), der Zusammenschluß aus Freien Demokraten und Liberalen 12 Mandate (5,28 %), die SPD 88 Mandate (21,76 %), die unter Ministerpräsident Lothar de Maizière auch die erste frei gewählte Koalitionsregierung der DDR bildeten, am 1. Juli 1990 die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit der Bundesrepublik Deutschland gründeten und am 3. Oktober 1990 die deutsche Einheit wiederherstellten. Die in PDS umbenannte SED erhielt 66 Mandate (16,32 %).
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Durch Art. 23 Satz 2 GG war „anderen Teilen Deutschlands” das Recht eingeräumt worden, durch einseitige Erklärung der Bundesrepublik beizutreten. Einer irgendwie gearteten Annahme des Beitritts durch diejenigen Deutschen, die von Anfang an in der Ordnung des Grundgesetzes leben konnten, bedurfte es danach also nicht. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben von Anfang an die Tür zum Staat des Grundgesetzes bewußt offengehalten. Die Möglichkeit des Beitritts nach Art. 23 GG (a. F.) stellte einen Weg zur Wiedervereinigung unter Beibehaltung des Grundgesetzes dar. Daneben stellte das Grundgesetz mit Art. 146 einen zweiten Weg zur Einheit über die Ausarbeitung einer neuen Verfassung zur Verfügung. Für den Fall, daß eine Wiedervereinigung unter dem Grundgesetz nicht zu erreichen war, stellte sich das Grundgesetz um des Ziels der deutschen Einheit willen damit selber zur Disposition. Die Deutschen in der DDR haben sich am 18. März 1990 aber für den Beitritt und gegen eine Neukonstituierung entschieden, indem sie mehrheitlich die Parteien wählten, die sich für den Weg über Art. 23 GG ausgesprochen hatten. Damit wurde nachträglich der Anspruch des Grundgesetzes bestätigt, daß der an der Verfassungsgebung von 1949 beteiligte Teil des deutschen Volkes in Ausübung der verfassungsgebenden Gewalt „auch für jene Deutschen gehandelt [hat], denen mitzuwirken versagt war” (Präambel zum GG, a. F.). Weder das Grundgesetz noch das sonstige Bundesrecht galt nach einem Beitritt im Beitrittsgebiet automatisch. Art. 23 Satz 2 GG bestimmte, daß das Grundgesetz „in anderen Teilen Deutschlands [...] nach deren Beitritt in Kraft zu setzen” sei. Beim Beitritt des Saarlandes im Jahre 1956 erfolgte dies durch Überleitungsgesetz des Bundes. Beim Beitritt der DDR wurden demgegenüber die Modalitäten der Überleitung des Bundesrechts vorab zwischen den Regierungen der beiden deutschen Staaten ausgehandelt. Die Beitrittserklärung der DDR erfolgte dann am 23. August 1990 in Kenntnis der wesentlichen Ergebnisse der Verhandlungen über den Einigungsvertrag; erst am 3. Oktober 1990, also nach dem Inkrafttreten des Einigungsvertrags (29. September 1990), ist der Beitritt wirksam geworden. Mit der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands sind die deutschlandrechtlichen Aussagen des Grundgesetzes obsolet geworden. Im Einigungsvertrag wurde Art. 23 GG darum gestrichen und die Präambel sowie Art. 146 neu gefaßt. Damit sollte nach innen und außen dokumentiert werden, daß die Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung mit dem Beitritt der DDR vollendet ist und das Grundgesetz als Verfassung für das gesamte deutsche Volk gilt.478
478 Boehl, Henner Jörg: Beitritt, in: Ebd., Bd. 1, S. 132 f. Scholz, Rupert: Kommentierung zu Art. 23 GG (a. F.), in: Maunz, Theodor / Düring, Günter: Kommentar zum Grundgesetz, Band II, Lieferung 29, September 1991). Isensee, Josef: Verfassungsrechtliche Wege zur Einheit, Zeitschrift für Parlamentsfragen 21, 1990, S. 309-332.
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12. Die Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages zur DDR-Aufarbeitung (1992-1998) und eine Bestandsaufnahme der DDR-Wirklichkeit in den 1980er Jahren 12.1. Die Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages zur DDR-Aufarbeitung (1992-1998) Von Rainer Eppelmann Nach dem Sturz der SED-Diktatur durch die friedliche Revolution 1989/90 und der dadurch möglich gewordenen, in schwierigen internationalen Verhandlungen durchgesetzten Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands trat der Prozess der inneren Wiedervereinigung in das Zentrum der deutschen Politik. Die Folgen der SED-Diktatur waren überall im östlichen Landesteil sichtbar. Marode Wirtschaft, verfallende Bauten und Infrastruktur, drastische Umweltschäden waren nur die äußere Seite der Schadensbilanz. Nicht weniger gewichtig waren die Folgen im Bewusstsein der Menschen. Die „führende Partei“, in ihrem Anspruch, Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und letztlich das Leben jedes Einzelnen zu lenken und zu kontrollieren, hatte mit ihrem „Schild und Schwert“, dem Ministerium für Staatssicherheit, und ihren gesellschaftlichen „Transmissionsriemen“ Menschen überwacht und eingesperrt, Lebenschancen nach Willkür gewährt oder verweigert und, seit dem 13. August 1961, ein halbes Volk zu sozialistischer Lagerhaft verurteilt. Die Menschen hatten sich in diesem Zwangsregime, das die große Mehrheit innerlich ablehnte, einrichten und einen Weg finden müssen, ihr Leben, so gut es eben ging, zu gestalten. Es war klar, dass der Umgang mit diesen Erfahrungen zu den zentralen gesellschaftlichen Anliegen im wiedervereinten Land gehörte. Die Frage, wie man mit dieser Vergangenheit umgehen, Verantwortungen deutlich machen, Verantwortliche zur Rechenschaft ziehen könne, war in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung ein in der Öffentlichkeit heiß diskutiertes Thema. Denn es wurde auch sichtbar, dass das Rechtssystem eines demokratischen Rechtsstaates bei der Bewältigung staatlichen Unrechts einer Ein-Parteien-Diktatur an Grenzen stößt: Der Nachweis individueller Schuld im Einzelfall ist schwierig, wenn sich die Verantwortung für staatliches Unrecht auf viele Stufen eines bürokratischen Lenkungs- und Repressionssystems verteilt. Und das Rückwirkungsverbot, nach dem grundsätzlich nur mit Strafe belegt werden kann, was zum Zeitpunkt und am Ort der Tat bereits mit Strafe bedroht war, erschwert die Verfolgung staatlichen Unrechts in einem System, in dem die Justiz erklärtermaßen als Instrument zur Sicherung der Herrschaft der „Partei der Arbeiterklasse“, also konkret der SEDFührung, eingesetzt wurde. Manche forderten damals, ein „Tribunal“ über den SED-Staat und seine Verantwortungsträger durchzuführen. Aber eine solche Einrichtung wäre – wenn man das Wort ernst nahm, also als (Sonder-)Gerichtshof verstand – rechtsstaatlich nicht möglich gewesen. Auch die Warnung, hier könnte eine Art „Inquisitionsinstanz“ errichtet werden, war ernst zu nehmen. Andererseits war bei vielen, die unter der
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SED-Herrschaft gelitten hatten, das Empfinden verbreitet, es geschehe nicht genug, um das von der SED-Diktatur begangene Unrecht ins öffentliche Bewusstsein zu heben und den Geschädigten Genugtuung zu verschaffen. In dieser Situation beschloss der Deutsche Bundestag die Errichtung einer Enquete-Kommission. Solche Kommissionen gehören in der Bundesrepublik Deutschland seit 1969 zum parlamentarischen Instrumentarium. Anders als Untersuchungsausschüsse, die der parlamentarischen Kontrollfunktion insbesondere gegenüber der Regierung dienen und in vielen Einzelheiten gerichtsförmig vorgehen, ist eine Enquete-Kommission laut Geschäftsordnung „zur Vorbereitung von Entscheidungen über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe“ bestimmt. In ihr wirken Parlamentarier und wissenschaftliche Sachverständige gleichberechtigt zusammen und erarbeiten einen Bericht an den Bundestag, der i. a. auch konkrete Handlungsempfehlungen enthält. In der 12. Wahlperiode und – da die Aufgabe an deren Ende noch nicht als abgeschlossen anzusehen war – anschließend in der 13. setzte der Deutsche Bundestag die Enquete-Kommissionen „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (1992-1994) und, an diese anknüpfend, „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“ (1995-1998) ein. In dem Auftrag an die erste Enquete-Kommission heißt es: „Der Deutsche Bundestag ist sich der Grenzen bewusst, die einer politisch-rechtsstaatlichen Aufarbeitung gezogen sind. Umso wichtiger ist das Bemühen, verletztem Rechtsempfinden durch Offenlegung des Unrechts und Benennung von Verantwortlichkeiten Genüge zu tun. Zugleich gilt es, einen Beitrag zur Versöhnung in der Gesellschaft zu leisten. Die Enquete-Kommission soll die notwendige historische Forschung weder vorwegnehmen noch ersetzen. […] Die Kommission hat dabei die Aufgabe, Beiträge zur politisch-historischen Analyse und zur politisch-moralischen Bewertung zu erarbeiten“.479 Dieser Auftrag wurde für die zweite Enquete-Kommission erneuert, bei der neben dem Rückblick auf die DDR auch der Blick auf die ersten Jahre seit 1990 und damit auf aktuelle Probleme des inneren Einigungsprozesses den zweiten Schwerpunkt bildete. Beide Kommissionen bekamen ausdrücklich auch den Auftrag, mögliche praktische Konsequenzen für die gesetzgeberische Tätigkeit des Deutschen Bundestages aufzuzeigen.480 Vor Beginn der ersten Kommission erklärte ich in der Bundestagssitzung am 12. März 1992: „Wir werden uns alle gemeinsam und gesamtdeutsch fragen müssen, was wir mit unserer Geschichte machen. Mit einer hoffentlich ganz allgemeinen und ganz unterschiedlichen Auseinandersetzung in vielen Bereichen unserer Gesellschaft sorgen wir dafür, dass die leidvollen Erfahrungen dieser letzten 45 479 Zitiert nach: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, hg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden und Frankfurt/M. 1995, Band 1, S. 154. 480 A.a.O., sowie: Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“, hg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden und Frankfurt/M. 1999, Band 1, S. 153 f.
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Jahre für uns sogar noch zu etwas Helfendem und Heilendem werden könnten. […] Viele Menschen werden erwartungsvoll, gespannt und hoffentlich voller Vertrauen auf uns schauen. Erweisen wir uns dieses Vertrauens würdig“.481 Die Kommissionen – übrigens die ersten in der Geschichte des Deutschen Bundestages, die sich mit einem zeitgeschichtlichen Themenkomplex zu befassen hatten – haben sich einen sehr breit gefächerten Themenkanon vorgenommen. Die erste bearbeitete sechs Themenkomplexe: Machtstrukturen im SED-Staat und die Frage der Verantwortung; Ideologie, integrative Faktoren und disziplinierende Praktiken; Recht, Justiz und Polizei; Deutschlandpolitik und internationale Rahmenbedingungen; Rolle der Kirchen; Widerstand, Opposition, die friedliche Revolution und die Wiedervereinigung. Dazu kamen Sonderarbeitsgruppen zu den Themen Archive, Staatssicherheit, Seilschaften und Wirtschaft (dieses Thema wurde in der Kommission vorwiegend unter dem Aspekt der Machtstrukturen im Rahmen des ersten Themenfeldes behandelt). Die zweite Kommission richtete den Fokus auf neun Themenfelder: Bildung, Wissenschaft, Kultur; Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik; das geteilte Deutschland im geteilten Europa; Alltagsleben in der DDR; rechtsstaatliche Aufarbeitung und die Situation der Opfer; Archive; Gedenkstätten; Internationale Zusammenarbeit; Weiterführung des Aufarbeitungsprozesses. Das Spezifikum von Enquete-Kommissionen ist das Zusammenwirken von Parlamentariern und Wissenschaftlern. Dies spiegelte sich zum einen in der Zusammensetzung: Der ersten Enquete-Kommission gehörten 16 Abgeordnete an, der zweiten elf, jeweils mit einem Stellvertreter, beide Male zahlenmäßig abgestuft entsprechend der Größe der Bundestagsfraktionen bzw. -gruppen (im 13. Bundestag war die PDS nur mit 30 Abgeordneten, also unter Fraktionsstärke, vertreten). Dazu kamen in beiden Kommissionen jeweils elf von den Fraktionen vorgeschlagene Sachverständige. Die Kommissionsmitglieder arbeiteten in Berichterstattergruppen zu den einzelnen Themenfeldern sowie in Arbeitsgruppen zu Spezialthemen zusammen, werteten die eingeholten Ausarbeitungen und die Beiträge bei den Anhörungen aus und entwarfen – wo möglich einvernehmlich, wo nicht möglich unter Einfügung von Sondervoten – die ihr jeweiliges Thema betreffenden Kapitel der Kommissionsberichte. Noch breiter kam der wissenschaftliche Sachverstand bei den von den Kommissionen eingeholten schriftlichen Ausarbeitungen, also vor allem Expertisen von auswärtigen Sachverständigen, zum Tragen. Bei der Vergabe der Aufträge haben die Kommissionen sich bemüht, auch der Breite des Auffassungenspektrums Rechnung zu tragen. Daneben gab es auch Berichte, die von Kommissionsmitgliedern, vom Sekretariat der Kommission, in einigen Fällen auch von Bundesbehörden erstellt worden waren, und auch einige Forschungsaufträge. Insgesamt waren es 309 schriftliche Ausarbeitungen. Ein nicht weniger wichtiges Arbeitsinstrument waren die öffentlichen Anhörungen – insgesamt 64 – die teilweise am damaligen Bundestagssitz Bonn, daneben in Berlin und in vielen weiteren Städten (unter anderen Leipzig, Halle Rostock, 481 Materialien „Aufarbeitung“, Band 1, S. 31.
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Erfurt, Dresden, Jena) durchgeführt wurden. Sie sollten eine große Öffentlichkeit ansprechen und haben sie auch erreicht. Bei diesen Veranstaltungen trugen Experten aus Wissenschaft und Praxis zu bestimmten Einzelthemen vor und diskutierten mit den Kommissionsmitgliedern. Daneben kamen immer wieder Zeitzeugen zu Wort, die aus ihrem jeweiligen Blickwinkel und zum Teil auch aus sehr schweren Erfahrungen über das Leben im SED-Staat berichteten und Fragen der Kommissionsmitglieder beantworteten. In besonderen Einzelfällen, bei Anhörungen über die Erfahrungen von Opfern der Diktatur, wurde es ausnahmsweise auch zugelassen, dass Zuhörer aus dem Auditorium, die nicht als Vortragende eingeladen waren, aber Schweres erlebt hatten, dennoch zu Wort kommen konnten. Für den Auftrag der Kommissionen, „im Dialog mit der Öffentlichkeit zur Festigung des demokratischen Selbstbewusstseins und zur Weiterentwicklung einer gemeinsamen politischen Kultur in Deutschland beizutragen“,482 waren diese öffentlichen Anhörungen von besonderer Bedeutung. Man kann die Frage stellen, ob es zweckmäßig ist, eine gesellschaftliche Diskussion über jüngste zeitgeschichtliche Erfahrungen zu einem so frühen Zeitpunkt zu führen: Die Archive sind gerade erst geöffnet, jahrelang verschlossene Akten werden gerade erst zugänglich, viele erlittene Schäden und Demütigungen werden noch frisch empfunden und viele Diskussionen noch mit Leidenschaft geführt. Natürlich ist es richtig, dass wir heute, nach 25 Jahren sehr intensiver Forschung, sehr viel mehr und vieles sehr viel genauer über die SED-Diktatur in ihrem nationalen und internationalen Umfeld wissen als Anfang und Mitte der 90er Jahre. Dennoch stellen die Expertisen, Berichte und Vorträge, die die Kommissionen in Auftrag gegeben haben, eine quantitativ und qualitativ sehr beeindruckende Sammlung dar. Man kann durchaus sagen, dass diese „Materialien“, die in insgesamt 32 Büchern (9 Bände in 18 Teilbänden und 8 Bände in 14 Teilbänden) veröffentlicht sind, in den Sachgebieten, die die Kommissionen intensiv bearbeitet haben, eine sehr gute Gesamtschau des damaligen Kenntnisstandes bieten. Vor allem aber würde man mit dieser Frage die Ziele der Enquete-Kommissionen verkennen. Es ging nicht in erster Linie um eine wissenschaftlich erarbeitete Gesamtdarstellung; das wäre nicht möglich und dafür wäre eine Enquete-Kommission auch nicht der richtige Platz gewesen. Im ersten Auftrag wird, wie bereits zitiert, festgestellt, dass die Kommission die notwendige Forschung nicht vorwegnehmen oder ersetzen könne. Vielmehr ging es darum, Erfahrungen zu artikulieren, Verantwortlichkeiten zu reflektieren und Beurteilungskriterien zu entwickeln. Eine ehemals politisch Inhaftierte sagte am Ende ihres Berichtes: „Jetzt sitze ich da mit meiner Rehabilitation, habe vielleicht eine Entschädigung zu erwarten; mir ging es aber um die inhaltliche Aufarbeitung, und die ist damit nicht erfolgt. Das ist mein Schicksal“.483 Liest man die zahlreichen Zeitzeugenberichte in den Materialien nach oder in den Berichten die Analysen beispielsweise über die Machtstrukturen im SED-Staat, die Abwägungen über Verantwortlichkeiten oder die Ausführungen über die Opfer der Diktatur, so kann man durchaus dem Urteil zustimmen, das die 482 Materialien „Aufarbeitung“, Band 1, S. 154. 483 Materialien „Aufarbeitung“, Band 2, S. 159, Öffentliche Anhörung am 30. November 1992.
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zweite Enquete-Kommission über die erste formuliert hat und das für beide berechtigt ist: „Sie hat sich große Verdienste um die gesellschaftliche Aufarbeitung von vier Jahrzehnten DDR-Vergangenheit erworben und wird ein wichtiges Zeugnis dafür bleiben, wie sich der Deutsche Bundestag und die politische Öffentlichkeit in den ersten Jahren nach der Vereinigung dieser Herausforderung gestellt haben“.484 Der Satz, dass die Kommission die Forschung nicht ersetzen könne, gilt grundsätzlich und auch noch in einem weiteren Sinne. Eine Enquete-Kommission ist keine Forschungseinrichtung, sondern ein politisches Gremium. Sie zielt auf praktische Konsequenzen; und in ihr kommen auch unterschiedliche politische Bewertungen und Gewichtungen zum Ausdruck. Wenn man die Berichte der beiden Kommissionen, einschließlich der enthaltenen Sondervoten und Gegenstellungnahmen liest, sieht man durchaus, dass es hier nicht darum ging „sine ira et studio“ zu forschen. Vielmehr waren auch kontroverse Deutungen und Beurteilungen zu diskutieren – zumal die Berichte im Vorfeld von Wahlkämpfen formuliert wurden. Bewertungen sind standortgebunden. Umso mehr fällt ins Gewicht, dass viele grundlegende Beurteilungen im Konsens getroffen werden konnten. Die praktischen Konsequenzen dieser Arbeit haben sich in vielen Gesetzgebungsvorhaben des Deutschen Bundestages niedergeschlagen. Am wichtigsten war die Errichtung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, sie ging auf eine Initiative der zweiten Enquete-Kommission zurück, die sie in einem Zwischenbericht formulierte.485 Die Stiftung arbeitet seit August 1998; ihre Aufgaben umfassen eine breite Fördertätigkeit (in den ersten 15 Jahren rund 32 Mio. Euro für über 2.200 Projektförderungen) eigene Veranstaltungen und Publikationen, Unterstützung von Opferverbänden, von Gedenkstätten und Museen, Erarbeitung von Materialien und didaktischen Hinweisen für den Schulunterricht und die Erwachsenenbildung und vieles andere mehr; eine ausführliche Darstellung würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Ihre Fördermaßnahmen haben die kontinuierliche gesellschaftliche Aufarbeitung seit den 90er Jahren überhaupt erst möglich gemacht.486 Darüber hinaus haben die Enquete-Kommissionen durch ihre Hinweise auf offene Probleme und gesetzgeberische Notwendigkeiten bei der Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer wesentliche Impulse für die Verbesserung der Unrechtsbereinigungsgesetze gegeben.487 Ihre Empfehlungen für die Förderung von Diktatur-Gedenkstätten in Deutschland488 wurden zur Grundlage einer systematischen
484 Materialien „Überwindung“, Band 1, S. 152. 485 Materialien „Überwindung“, Band 1, S. 60 ff. 486 Näheres kann der Internet-Präsentation der Stiftung (www.bundesstiftung-aufarbeitung.de) und ihren Tätigkeitsberichten entnommen werden. 487 Materialien „Aufarbeitung“, Band 1, S. 645 ff., Materialien „Überwindung“, Band 1, S. 181 ff. 488 Materialien „Überwindung“, Band 1, S. 585 ff.
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Überarbeitung der Gedenkstättenkonzeption der Bundesregierung.489 Eine Anregung der ersten Enquete-Kommission, deren Arbeitsgruppe Archive im Juli 1993 Gespräche mit Archivdirektoren, Wissenschaftlern und Parlamentariern in Moskau führte, gab den Anstoß dazu, dass die Bundesregierung mit der russischen Regierung eine „Gemeinsame Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen“ errichtete. Sie hat seit 1998 zahlreiche deutsch-russische Dokumentations- und Forschungsprojekte realisiert und gemeinsame Colloquien durchgeführt.490 Insgesamt gesehen, hat die Doppel-Enquete-Kommission, indem sie aktuelle gesellschaftliche Bedürfnisse aufgriff, einen gewichtigen Beitrag zur inneren Integration und zur gesellschaftlichen Befriedung geleistet und zugleich fortwirkende Impulse für den Prozess der Aufarbeitung der Diktatur und der Überwindung ihrer Folgen gegeben. 17 Jahre später kann man feststellen, dass sich jedenfalls in der grundsätzlichen Einschätzung ein gesellschaftlicher Konsens über die zweite Diktatur in Deutschland herauszubilden beginnt.491 Das heißt nicht, dass die Aufarbeitung der SED-Diktatur abgeschlossen wäre, weder in der Wissenschaft – dort ohnehin nicht – noch in der Gesellschaft. Studien über die Kenntnisse von Schülern und Jugendlichen,492 aber auch die anhaltend hohen Zahlen von Anträgen auf Einsicht in die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR zeigen, dass diese Aufarbeitung noch auf lange Sicht einem gesellschaftlichen Erfordernis entspricht. Aber es ist deutlich, dass mit der intensiven und frühzeitig begonnenen Aufarbeitung, für die die Enquete-Kommissionen richtungweisend waren, ein richtiger und erfolgversprechender Weg zur gesellschaftlichen Integration im wiedervereinten Deutschland eingeschlagen worden ist. Bei der Entgegennahme des Berichtes der ersten Enquete-Kommission hat der Deutsche Bundestag am 17. Juni 1994 nahezu einstimmig, mit Gegenstimmen und Enthaltungen aus der PDS-Fraktion, eine Entschließung verabschiedet, die auch von der Enquete-Kommission vorbereitet worden war. Ihre Kernsätze verdienen es, im Gedächtnis zu bleiben: „Der SED-Staat war eine Diktatur. Er war dies nicht durch Fehlentwicklung oder individuellen Machtmissbrauch – der kam im Einzelnen hinzu –, sondern von seinen historischen und ideologischen Grundlagen her. Die Herrschaftsformen wandelten sich in den 45 Jahren des Systems […] In der Substanz aber blieb der SED-Staat das, als was er angelegt war: ein totalitäres System, in dem der Machtanspruch der führenden Partei bzw. ihrer Führungsgruppe auf alle Bereiche des 489 Bericht der Bundesregierung zum Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur, herausgegeben vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, 2012, hier Kap. 10, S. 78 ff. 490 Näheres kann der Internet-Präsentation der Kommission (www.deutsch-russische-geschichtskommission.de) entnommen werden. 491 Thomas Petersen (Institut für Demoskopie Allensbach): Das Ende der „Mauer in den Köpfen“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. November 2014. 492 Klaus Schroeder, Monika Deutz-Schroeder: Soziales Paradies oder Stasi-Staat? Das DDR-Bild von Schülern, ein Ost-West-Vergleich. Stamsried 2008; dieselben u.a.: Später Sieg der Diktatur? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen, Frankfurt/M. 2012.
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politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens erstreckt und durch staatliche Lenkungsinstrumente […] durchgesetzt wurde. Die Hauptverantwortung für das Unrecht, das von diesem System begangen wurde, trägt die SED. Sie hat ihre „führende Rolle“ in Staat, Justiz, Wirtschaft, Gesellschaft, Bildung, Kultur und Wissenschaft und damit ihre Vormundschaft gegenüber den Einwohnern ihres Staates mit allen Mitteln durchgesetzt; die tiefreichenden Schäden in der ehemaligen DDR, das menschliche Leid, das aus Unterdrückung, Verweigerung von Menschenrechten und erzwungenem Verzicht auf persönliche Entfaltung erwuchs, sind in der Hauptsache der SED als Partei anzulasten, in erster Linie der SED-Führung, ihrem Politbüro und den darin maßgeblichen Personen. Mitverantwortung tragen auch die übrigen Blockparteien und Massenorganisationen. […] Die politisch-moralische Verurteilung der SED-Diktatur bedeutet keine Verurteilung der ihr unterworfenen Menschen, im Gegenteil. Die Deutschen in der SBZ/DDR haben den schwereren Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte zu tragen gehabt. Sie mussten einen Neuanfang leisten unter den Bedingungen eines politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems, das sie einengte und unterdrückte und um die Früchte ihrer Leistungen brachte. […] Einvernehmen sollte über eine grundlegende Konsequenz aus der Erfahrung mit der SED-Diktatur bestehen: Zu den geistigen Grundlagen einer innerlich gefestigten Demokratie gehört ein von der Gesellschaft getragener antitotalitärer Konsens. […] Das Credo demokratischer Politik nach 1945 „Nie wieder Krieg von deutschem Boden, nie wieder Diktatur auf deutschem Boden!“ bleibt bestehen. Dies bedeutet die Absage an jedwede Form totalitärer Ideologien, Programme, Parteien und Bewegungen“.493 12.2. Bestandsaufnahme der DDR-Wirklichkeit in den 1980er Jahren Ein sehr beachtlicher Aufarbeitungsbeitrag, ebenfalls, wie die Enquete-Kommissionen, aus politischer Initiative hervorgegangen, entstand direkt nach dem Untergang der DDR in den 1990er Jahren beim Bundesministerium des Innern. Das Bundeskanzleramt gab den Anstoß. Ziel war eine realistische Analyse der Politik und der Wirtschaftsverhältnisse des SED-Staates auf der Grundlage der Auswertung bis dahin unzugänglicher Dokumente in den Archiven der DDR und der SED. Damit sollte eine beschönigungsfreie Schlussbilanz des SED-Staates gezogen werden. Das Ergebnis war eine fünfbändige wissenschaftliche Veröffentlichung, die von 1996 bis 2001 auf dem Buchmarkt erschien..494 493 Materialien „Aufarbeitung“, Band 1, S. 781 ff. 494 Am Ende des realen Sozialismus. Beiträge zu einer Bestandsaufnahme der DDR-Wirklichkeit in den 80er Jahren. Herausgegeben von Eberhard Kuhrt in Verbindung mit Hannsjörg F. Buck und Gunter Holzweißig im Auftrag des Bundesministeriums des Innern. Opladen (Leske und Budrich). Band 1: Der SED-Staat und sein Zusammenbruch, 1996. Band 2: Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den 80er Jahren, 1996.
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Die besondere Leistung dieses Aufarbeitungswerkes ergab sich aus drei Charakteristika: der engen Verbindung von politischer und wirtschaftlicher Analyse, der spezifischen Darstellungsweise unter detaillierter Absicherung durch die Funde aus DDR-Archiven und nicht zuletzt der Zusammensetzung des Autorenteams.495 Der Kern des Teams bestand aus Sachverständigen, die im Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen und seinem Geschäftsbereich leitend tätig gewesen waren. Dieses Ministerium wurde 1991 aufgelöst, nachdem seine Aufgabenstellung erfüllt war. Zu seinem Geschäfts- und Förderbereich gehörten das Gesamtdeutsche Institut/Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben und die Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen, deren Mitarbeiter besonders für die beiden wirtschafts- und sozialpolitischen Bände der Reihe verantwortlich waren. Diese Forschungsstelle war 1975 aus dem 1952 gegründeten „Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands“ hervorgegangen. Unter der Leitung zunächst von Karl Thalheim, dann von Gernot Gutmann und der Geschäftsführung von Maria Haendcke-Hoppe-Arndt zeichnete sie sich in den folgenden anderthalb Jahrzehnten dadurch aus, dass sie die Leistung und Stabilität der Wirtschaft der DDR, die durch die SED-Propaganda ständig massiv geschönt wurden, deutlich kritischer beurteilte als dies von Teilen der westdeutschen DDR-Forschung geschah. Ihre skeptischen Analysen wurden nach 1990 durch die nun zugänglichen internen Akten vollauf bestätigt. Daneben wirkten an dem Projekt externe Autoren mit. Zu ihnen gehörten ehemalige Mitarbeiter des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit der ehemaligen DDR, der Zentralen Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter, Autoren aus der inzwischen errichteten Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Sachverständige aus den Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages und weitere hochrangige wissenschaftliche Autoren. Der dritte Band – über Opposition und Widerstand in der DDR – wurde fast ausschließlich von führenden Akteuren der früheren DDR-Bürgerrechtsbewegung verfasst. Die Darstellung bestand in einer Verbindung von Analyse und Dokumentation; dabei wurde das Ziel verfolgt, gleichzeitig ein fachliches und ein allgemeines Publikum anzusprechen. Die analytischen Darstellungen wurden also ergänzt und abgesichert durch den Abdruck zahlreicher erstmals zugänglich gewordener Akten aus DDR-Archiven. Hinzu kamen Zeitzeugenberichte, auch von führenden Funktionären des SED-Regimes. Illustriert wurden die Texte durch eindrucksvolles Bildmaterial. Band 3: Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft, 1999. Band 4: Die Endzeit der DDR-Wirtschaft. Analysen zur Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik, 1999. Band 5: Johannes Raschka, Zwischen Überwachung und Repression – Politische Verfolgung in der DDR 1971 bis 1989, 2001. 495 Die Aussagen über das Projekt, soweit sie sich nicht aus dem Werk unmittelbar ergeben, beruhen auf Auskünften der Herausgeber.
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In der Verbindung von politischer Analyse – u. a. über die „führende Rolle“ der SED, die politisch gelenkten Medien, das Recht als SED-Führungsinstrument, den Unterdrückungsapparat und das MfS, das Grenzregime, das „entgleiste Bündnis“ mit der Sowjetunion und die Zuspitzung der Krise bis zur Friedlichen Revolution – und der Erforschung der wesentlichen wirtschaftlichen Sachverhalte – Funktionsweise und Systemmängel der Zentralverwaltungswirtschaft, Außenwirtschaft, innerdeutscher Handel und Devisenverschuldung, Probleme der industriellen Entwicklung, Energiepolitik, Verkehrswesen, Beschäftigungspolitik, Versorgungslage, Wohnungsbau, Landwirtschaft, Umweltpolitik und Sozialpolitik –, bezogen auf die Schlussphase der DDR, gelang es dem Werk, schlüssig nachzuweisen, weshalb der SED-Staat durch die Friedliche Revolution 1989/90 zum Einsturz gebracht wurde. Sein Untergang war angelegt in den grundlegenden Systemmängeln des diktatorisch-zentralverwaltungswirtschaftlich organisierten Systems. Er wurde aktuell, als durch den Niedergang der sowjetischen Macht die Friedliche Revolution möglich wurde, die, dank kluger und zielsicherer Politik, in die Lösung der deutschen Frage einmündete. 13. Die Wiedervereinigung der deutschen Sprache Von Wolfgang Bergsdorf George Orwells Roman „1984“ kreist um die Rolle der Sprache in der Politik. Der Autor will verdeutlichen, daß eine geschlossene Ideologie eine für Veränderungen verschlossene Sprache voraussetzt. Als gemeinsames Merkmal totalitärer Sprachmanipulation arbeitet er die intendierte Desinformation heraus, die den Sinn und die Bedeutung von Wörtern in ihr Gegenteil verkehrt oder nur einen Teil des jeweiligen Bedeutungsspektrums gelten lassen will. Die Sprachpolitik der deutschen Kommunisten konnte auf den Ansätzen der nationalsozialistischen Sprachzerstörung aufbauen. Allerdings wies die kommunistische Sprachpolitik im Vergleich zur nationalsozialistischen Manipulation zwei Unterschiede auf. Sie hatte erstens mehr als vier Jahrzehnte Zeit, die politische Begrifflichkeit nach ihren politischen Zwecken zu formen. Zweitens basierte die kommunistische Sprachlenkung auf der marxistischen Ideologie und auf ihren Schlußfolgerungen für die Sprache, wie sie Karl Marx in seiner Schrift „Die deutsche Ideologie“ festgehalten hat. Hingegen hatte die nationalsozialistische Sprachlenkung sozusagen intuitiv stattgefunden, d. h., sie war nicht in theoretische Überlegungen über die Funktion und Bedeutung der Sprache eingebettet. Es ist sicherlich kein Zufall, daß Stalin auf der Höhe seiner Macht sich in mehreren Aufsätzen mit der Rolle der Sprache beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft befaßt hat. Der sowjetische Diktator hat den politisch nur scheinbar harmlosen Gegenstand der Sprache benutzt, um den für den Marxismus völlig neuen Begriff der „Revolution von oben“ auch durch sprachliche Mittel einzuführen. Er wollte mit diesen Aufsätzen klarmachen, daß die faktische Herrschaft der Sowjets nun auch sprachlich zementiert werden müsse. Die Hoffnungen auf eine sozialisti-
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sche Utopie hat Stalin in diesen Aufsätzen in die Zwangsjacke der kommunistischen Ideologie gesteckt. Er folgerte daraus, daß „die Sprache ein Werkzeug des Kampfes und der Entwicklung der Gesellschaft“ sei. Insofern war es nur konsequent, daß Stalin das Wörterbuch als die allerwichtigste Waffe in seinem Arsenal bezeichnete. Daß die Führung eines kommunistischen Staates, die alle Machtmittel in ihrer Hand bündelt, auf die Sprache Einfluß zu nehmen und sie zu lenken versucht, ergibt sich aus ihrer Ideologie. Sie verlangt, alle Maßnahmen zu ergreifen, um den Sozialismus zu verwirklichen. Georg Klaus, führender Philosoph und Kybernetiker in der DDR der 60er Jahre, definierte als Aufgabe der Sprache der Politik, sie habe die Verhaltensweise von Menschen zu beeinflussen: „Es soll mit ihrer Hilfe das Verhalten der Menschen in der Produktion, im öffentlichen Leben, ihr moralisches Verhalten so geändert werden, daß damit den Zielen des Aufbaus des Sozialismus maximal gedient wird“. Das wichtigste Instrument der Sprachlenkung in der DDR waren den Tagesbefehlen des Propagandaministeriums im Dritten Reich vergleichbar – die strikt zu befolgenden sogenannten Empfehlungen der SED-Agitationsbürokratie an die Chefredaktionen der Massenmedien496 (Meinungsmonopol).497 Sie galten nicht nur für kommentierende Stellungnahmen, sondern auch für Begriffe und ihre Bedeutungen. Die politische Sprache der SED war emotional aufgeladen, pflegte superlativistische Wendungen, hatte eine ausgeprägte Vorliebe für Begriffe aus dem militärischen Bereich, sie war stark schematisiert und arbeitete häufig mit extremen Bewertungen. „Man findet Formeln und feste Wendungen häufiger und stereotyper, den Satzbau substantivischer und abstrakter als in vergleichbaren westdeutschen Texten; vor allem fällt, vom Inhaltlichen her gesehen, ein hohes Maß an massivem Eigenlob für den eigenen Bereich und massiver Polemik für den politischen Gegner, ein relativ hoher Anteil an sprachlich rhetorischen Elementen des Appellierens und Beeinflussens auf. Dieses gleichzeitige Hervortreten von Elementen der Verwaltungssprache in der DDR, das in der Literatur und in der Umgangssprache in der DDR oft kritisiert oder ironisiert wird, ist nicht auf Veränderungen in der Sprache, sondern in erster Linie auf die besondere Funktion der Massenmedien als Distributoren des Meinungs- und Formulierungsmonopols von Partei- und Staatsapparat zurückzuführen“. (Manfred Hellmann) Auffällig war vor allem der polarisierende Charakter der politischen Sprache in der DDR, zu dem vor allem die „Frontwörter der Politik“ beitrugen. Darunter waren als Gegensatz benutzte Begriffspaare zu verstehen wie Kapitalismus – Sozialismus, Bürgertum – Arbeiterklasse, Bourgeoisie – Proletariat, Idealismus – Materialismus, Metaphysik – Dialektik, Formalismus – Realismus. Mit diesen oft benutzten Begriffspaaren machte man gegen den politischen Gegner Front und hob gleichzeitig die eigene Position hervor. Häufig wurden diese Begriffspaare mit Adjektiv-Paaren 496 Holzweißig, Gunter: Massenmedien, in: Eppelmann, Rainer / Möller, Horst / Nooke, Günter / Wilms, Dorothee (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus, 2. Auflage, Bd. 1, 1997, S. 543-546. 497 Holzweißig, Gunter: Meinungsmonopol, ebd., S. 553-559.
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verknüpft, die überhaupt keinen Zweifel mehr an der Frontstellung ließen, wie etwa: faschistisch – antifaschistisch, antihumanistisch – humanistisch, chauvinistisch – national, antidemokratisch – demokratisch, militaristisch – friedliebend, reaktionär – demokratisch. Die politische Sprache der DDR war eine Sprache, die Parteinahme verlangte, sie war auf Entweder-Oder schematisiert, andere Positionen als Pro und Kontra sollten möglichst ausgeschlossen werden. Was in dieses Schema nicht paßte, wurde vergröbert, verzerrt, zurechtgerückt, um darin eingeordnet werden zu können. Die SED vertrat die radikale Position, daß es „in Wirklichkeit keinen Mittelweg, keinen ‚dritten‘ Weg zischen Bourgeoisie und Proletariat, zwischen Reaktion und Demokratie“ gab. Unter dem alles beherrschenden Grundsatz der Parteilichkeit498 und den Geboten und Verboten der Sprachlenkung hat sich die Sprache der Politik in der DDR zu einer von Klischees befrachteten, von rasterhaften Wendungen und gebetsmühlenartiger Formelhaftigkeit gekennzeichneten Sprache entwickelt, deren Monotonie Leblosigkeit anzeigte. Die politische Sprache in der DDR war ideologisch fest angebunden, sie wurde unter den Gesichtspunkten ideologischer Opportunität gelenkt, in ihrem Ausdrucksreichtum eingeengt und erschwerte Kommunikation. Ihre Aufgabe war weniger Kommunikation als Aktion. Dennoch muß vor der Gleichsetzung, Sprachlenkung sei Menschenlenkung, gewarnt werden. Die oft beschworene Macht des Wortes besteht nicht darin, daß es Ideen und Intentionen transportiert, die vom Empfänger als Befehle unmittelbar in das Denken oder gar die Tat umgesetzt werden. Außerdem bieten die durch Erziehung selbstverständlich gemachten sprachlichen Traditionen sicherlich einen gewissen Immunschutz gegen politisch motivierte Umdeutungen und Verkürzungen. Die Wirkung einer politischen Propagandasprache sollte deshalb in erster Linie nicht in den rein sprachlichen Elementen der Propaganda gesucht werden, sondern in außersprachlichen Faktoren. Wenn die politische Sprache der SED so lange Zeit Wirkungen auf das Bewußtsein der Menschen in der DDR hatte, dann war dies weniger eine Wirkung der Sprache selbst, sondern eher eine Folge ihrer öffentlichen Monopolisierung durch die SED. Die Parteilichkeit, Einheitlichkeit und monolithische Geschlossenheit der politischen Sprache in der DDR haben einen konkurrierenden und den möglichen Einfluß der SED-Sprache korrigierenden Sprachgebrauch in der Öffentlichkeit nicht zugelassen. Außerhalb der Öffentlichkeit war dies vollständig anders. Privat wurde so gesprochen, daß man sich exakt verständigen konnte, daß auch die lexikalischen Bedeutungen der Wörter in vollem Umfang genutzt wurden. Wer privat von Freiheit sprach, der bezog sich auf die Person als Träger und Nutznießer von Freiheit. Wer den Begriff in der Öffentlichkeit benutzte, der mußte als Referenzrahmen des Begriffes Freiheit das Volk, die Gesellschaft oder das Kollektiv verwenden. Zwischen dem Sprechen in der Öffentlichkeit und dem privaten Sprechen gab es eine Zwischenebene, in der sich die beiden Sphären der Kommunikation miteinander vermischten. 498 Templin, Wolfgang / Gauger, Jörg-Dieter: Parteilichkeit, S. 622-624.
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Das halböffentliche oder das halbprivate Sprechen über Politik erforderte eine hohe sprachliche Sensibilität der Sprecher wie der Zuhörer. Es waren nur winzige Nuancen, die z. B. in einem politischen Gespräch am Arbeitsplatz den wirklichen Standort eines Sprechers enthüllten. So konnte die Sprache der Politik in der DDR auch zu einem Medium der Nichtanpassung werden. Hinzu kam, daß die Programme des westdeutschen Fernsehens und Hörfunks, die mehr als 80 % der DDRBürger einschalteten, den freiheitlichen Umgang mit dem Wort präsentierten. Die Bürger der DDR waren Meister nicht nur der Verschlüsselung ihrer persönlichen Überzeugung, sondern ebenso auch Meister der Entschlüsselung. Niemand konnte zwischen den Sätzen besser hören und zwischen den Zeilen das Verschwiegene oder das Neue besser entschlüsseln als sie. In der Schlußphase der DDR behauptete die SED-Führung, die Intentionen der sowjetischen Begriffe wie Glasnost und Perestroika längst verwirklicht zu haben. Die Parole „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“ war längst zu den Akten gelegt worden. Die begreifbare Skepsis der SED gegenüber der Gorbatschow-Politik steigerte sich bis zur offenen Ablehnung und Sabotage. Insofern war es alles andere als zufällig, daß eine einzige Formulierung von Gorbatschow bei einer Straßenbegegnung anläßlich des 40. Jahrestages der DDR in Ost-Berlin die Opposition ermutigte und die Demonstrationen zum Sturz des Regimes der SED initiierte: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“. Wenn eine Parole als Initialzündung für die Umwälzung in der DDR wirkte, dann war es diese. Die Menschen in der DDR verstanden sehr bald, daß der oberste Gralshüter der kommunistischen Ideologie mit den zu spät Kommenden Honecker und die SED meinte. Es ist nicht ohne Konsequenz und auch nicht ohne Ironie, daß die Menschen in der DDR – an Bertold Brecht anknüpfend – die von der DDR totgeschlagene Vokabel „Volk“ benutzten, um diesem Wort in dem wirkungsmächtigen Schlachtruf „Wir sind das Volk“ einen erneuerten und selbstbewußten Inhalt zu verleihen. In der Terminologie der kommunistischen Ideologie hätten die großen Manifestationen des Herbstes 1989 als „Konterrevolution“ gebrandmarkt werden müssen. Daß diese Kennzeichnung ausblieb, daß die offiziellen Medien in der DDR die Opposition als „Volksbewegung“ kennzeichneten, das war ein schon unüberhörbarer Hinweis auf die Schwäche des Systems. Im Herbst 1989 wurden neue Begriffe in Umlauf gesetzt. Es waren die Begriffe „Volksbewegung“ und „Wende“ und auch der Verzicht auf die Brandmarkung „Konterrevolution“, die der SED den Schlüsselbegriff des ideologischen Sanktuariums aus der Hand wanden, nämlich das Wort „Revolution“. Mit dieser semantischen Operation kam dem Kommunismus als Ideologie der Kern seiner Begrifflichkeit abhanden. Gleichwohl, ein Restbestandteil seines ideologischen Gebäudes, nämlich der Begriff Sozialismus,499 hatte damals noch eine gewisse Chance. Zwar wurde der real existierende Sozialismus der SED bekämpft. Dennoch plädierten viele Intellektuelle und Kirchenvertreter, die bei den Massendemonstrationen als Redner her-
499 Goerner, Martin Georg / Wille, Manfred: Ebd., S. 726-736.
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vortraten, im Herbst 1989 noch für eine sozialistische Zukunft. Die ersten Programme der Oppositionsgruppen hielten den Sozialismus noch für eine unabdingbare Voraussetzung für eine bessere DDR. Aber diese Hoffnung auf eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik war eine vorübergehende; sie war die Hoffnung von intellektuellen Wortführern der Manifestationen. Das Volk, die Masse der Demonstranten, dachte keineswegs an einen „Dritten Weg“, an eine mildere Form des Sozialismus, es war schon gar nicht bereit, ihn zu gehen. Das Volk schmiedete sehr bald die Losung „Wir sind das Volk“ um in „Wir sind ein Volk“. Komplettiert wurde dieser Kampfruf durch einen Vers der ersten Strophe der DDR-Nationalhymne von Johannes R. Becher, die jahrelang wegen ihres gesamtdeutschen Charakters nicht gesungen werden durfte: „Deutschland, einig Vaterland“. Spätestens seit Dezember 1989 waren es diese beiden Losungen, die alle Demonstrationen beherrschten. Damals wurde klar, daß die Menschen nicht bereit waren, sich mit einer wie auch immer begründeten Eigenstaatlichkeit der DDR anzufreunden. Im Wahlkampf zur Volkskammer gewannen dann jene Begriffe und Formeln an Anziehungskraft, die aus bundesdeutschen Wahlkämpfen bekannt sind: Einheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Nicht erstaunlich ist, daß der alte Slogan von Ludwig Erhard „Wohlstand für alle“ eine ungeheure Verbreitung gewann. Er wurde nur noch übertroffen durch den Begriff Soziale Marktwirtschaft, der geradezu zur Zauberformel wurde. Gleichzeitig gewannen Begriffe Resonanz wie Pluralismus, Konsens, Dialog, die man bisher überhaupt nicht oder nur mit eingeschränkter Bedeutung benutzt hatte. Diese Begriffe wurden nach den semantischen Benutzungsregeln der Bundesrepublik verwendet. Nun waren der Niedergang und das völlige Aus für die Begriffe Sozialismus, Kommunismus und alle ihre Satellitenvokabeln gekommen. Der Antritt der Regierung Lothar de Maizières in Ost-Berlin antizipierte sprachlich die Wiedervereinigung. Seine Regierungserklärung benutzte die zentralen Begriffe der Politik in der Denotation und Konnotation, wie sie in der liberalen Demokratie üblich sind.500
500 Bergsdorf, Wolfgang: Sprache und Politik, S. 781-787.
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II. Wirtschaftsordnungspolitische Maßnahmen aus einem Guß: Transformation bei laufendem Betrieb 1. Die Interdependenz von Staatsform und Wirtschaftsordnung. Die Grundprobleme des Wirtschaftens in Demokratien mit Marktwirtschaft und in totalitären Diktaturen mit politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaften. Interdependenzen. „Aus dem Charakter der Wirtschaftsordnung als einer Teilordnung folgt die Notwendigkeit, den Zusammenhängen mit der politischen Verfassung und anderen Teilordnungen Rechnung zu tragen. Die Wechselwirkungen zwischen diesen Ordnungen werden durch die von Walter Eucken begründete Theorie der Interdependenz der Ordnungen erfaßbar. Die Stelle der Theorie der Interdependenz nimmt bei Karl Marx und seinen Nachfolgern die These von der notwendigen Dependenz des Staates und des Rechts von der herrschenden Klasse ein“.1 Zu den Grundproblemen des Wirtschaftens gehören (1) das Lenkungs- bzw. das Allokationsproblem, (2) das Leistungsproblem, (3) das Verteilungs- und (4) das Interessen- und Machtausgleichsproblem. Die Grundprobleme des Wirtschaftens in Demokratien mit Marktwirtschaft. (1) Das Lenkungs- bzw. Allokationsproblem.2 „Aufgrund der Knappheit von Konsum- und Investitionsgütern und infolge der Arbeitsteilung ist es aus ökonomischen Vernunftgründen erforderlich, dass eine möglichst sachlich optimale Allokation, d. h. eine zeitlich und regional optimale Verteilung der Güter bzw. der volkswirtschaftlichen Produktionsfaktoren innerhalb eines Wirtschaftsraumes erreicht wird. Dies ist notwendig, um den Menschen in diesem Wirtschaftsraum in der betrachteten Periode eine relativ hohe materielle Versorgung zu garantieren. Angestrebt wird eine optimale Lösung des Lenkungs- bzw. des Allokationsproblems“.3 „Die Planung des Umfanges der Staatswirtschaft bestimmt im Zusammenspiel mit den Aktionen und Reaktionen der Privaten die Abgrenzung von öffentlichem und privatem Wirtschaftssektor. Da im privaten Bereich der Markt- und Preismechanismus als Koordinationsinstrument dient, wird mit der globalen Aufteilung der Ressourcen auf die beiden Subsysteme auch über das Gewicht der Koordinationsinstrumente entschieden. Aus der Knappheit der verfügbaren Ressourcen folgt zwangsläufig, daß sich der Umfang des öffentlichen Sektors nur auf Kosten des privaten ausdehnen läßt. Da jede Ressourceneinheit, die in den öffentlichen Sektor 1
Eucken, Walter: Grundsätze der Wirtschaftspolitik. Hrsg. von Edith Eucken und K. Paul Hensel, 6. durchgesehene Auflage mit einem Vorwort zur Neuausgabe 1990 von Ernst-Joachim Mestmäcker, Tübingen 1990, S. XIV.
2
Krause-Junk, Gerold: Steuern, IV: Verteilungslehren, in: HdWW, Bd. 7, 1988, S. 346 f.
3
Paraskewopoulos, Spiridon: Volkswirtschaftslehre. Grundriß für Studierende, Herne, Berlin 2004, S. 28.
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fließt, der Verfügungsgewalt privater Wirtschaftssubjekte entzogen ist, spiegeln die alternativen Verwendungsmöglichkeiten der entsprechenden Ressourcen im privaten Sektor die Opportunitätskosten der öffentlichen Aktivität wider (und vice versa). Die optimale gesamtwirtschaftliche Ressourcenallokation ist somit erreicht, wenn der Nutzen aus einer Vergrößerung des öffentlichen (oder privaten) Wirtschaftssektors gerade Opportunitätskosten dieser Ressourcenverlagerung entspricht“.4 Das gesamtwirtschaftliche Allokationssystem
(2) Das Leistungsproblem.5 „Die materielle Versorgung von privaten und öffentlichen Haushalten innerhalb eines Gemeinwesens wird von der Quantität und Qualität der vorhandenen Rohstoffe, der sachlichen Kapitalgüter, des Humankapitals, vom Grad der realisierten Arbeitsteilung und von der Lösung des Allokationsproblems bestimmt (vgl. Gutmann 1993). Von der Mobilisierung dieser Faktoren hängt die Lösung des Leistungsproblems ab, die sich als eine optimale Leistungserstellung innerhalb einer Gemeinschaft, die für die Gewährung eines hohen Wohlstandes der Mitglieder der Gesellschaft erforderlich ist, darstellt. Die optimalen Leistungen und damit die optimale Lösung des Leistungsproblems werden dann
4
Wille, Eberhard: Öffentlicher Haushalt. IV: Finanz- und Aufgabenplanung, in: HdWW, Bd. 5, 1988, S. 593.
5
Möller, Hans: Volkswirtschaftslehre, in: HdWW, 9. Bd., 1988, S. 873 f.: Die vier Hauptprobleme.
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erreicht, wenn es gelingt, solche Organisationsformen des arbeitsteiligen Wirtschaftslebens einzusetzen, die für die handelnden Wirtschaftssubjekte in der Volkswirtschaft optimale Leistungsanreize und Leistungskontrollen hervorbringen“.6 Gernot Gutmann analysiert die Motivation in einer Marktwirtschaft. „Die Anpassung der Wirtschaftssubjekte an die sich ständig verändernde, ihnen unmittelbar erkennbare Umwelt, an die Güterpreise und die dadurch signalisierten Verschiebungen in den Entscheidungsdaten der übrigen Wirtschaftssubjekte geschieht in der Absicht, bestimmte Erfolgsgrößen zu verwirklichen; Anpassungsreaktionen sind erfolgsmotiviert. Das gilt sowohl für Haushalte, als auch für Unternehmungen. Vom Ausmaß des Unternehmenserfolgs hängt der Versorgungsgrad ab, den sich die Erfolgsinteressenten als Verbraucher durch Kauf von Gütern auf anderen Märkten verschaffen können. Die Erfolgsgrößen, an denen sich die Erfolgsinteressenten orientieren, sind verschiedener Art. Die Interessen der Eigentümer von Produktionsmitteln und die der Betriebsleitungen können darauf gerichtet sein, den technisch modernsten Betrieb der Branche zu haben, das umsatzstärkste Unternehmen auf dem Markt zu sein, einen möglichst hohen Gewinn zu erzielen, den Beschäftigten eine vorbildliche soziale Sicherung zu bieten, oder es kann eine Kombination mehrerer solcher Ziele angestrebt werden. Deshalb kann man Gewinne und Einkommen als wesentliche Erfolgsgrößen von Eigentümern und Unternehmensleitern betrachten. Das Streben nach Gewinn und Einkommen veranlaßt die Entscheidungsorgane des Unternehmens zu Handlungen, die geeignet sind, diese Erfolgsgrößen in der gewünschten Weise zu beeinflussen. So sind alle jene betrieblichen Aktivitäten geeignet, die Erfolgsgröße Gewinn positiv zu beeinflussen, die zur Vergrößerung des Umsatzes und zur Senkung der Kosten beitragen. Einige dieser Handlungsweisen, die geeignet sind, die einzelwirtschaftlichen Erfolgsgrößen Gewinn und Einkommen günstig zu beeinflussen, wirken gleichzeitig volkswirtschaftlich positiv, andere jedoch nicht. Das Gewinn- und Einkommensinteresse, das so häufig in kurzsichtiger Weise abgewertet und zur Ursache aller möglichen sozialen und ökonomischen Schäden erklärt wird, erweist sich als Motor für das wirtschaftliche Verhalten der produzierenden Einheiten“.7 (3) Das Verteilungsproblem. „Einkommen entsteht funktional als Entgelt für die Produktionsfaktoren (Faktoreinkommen für Faktorleistungen). In jeder Wirtschaft ergeben sich dabei zweierlei Probleme: Zum einen ist zu klären, wie hoch die Produktionsleistungen der einzelnen Leistungsträger bewertet werden sollen und zum anderen, wie diejenigen Personen in der Gesellschaft, die aus biologischen (Alter, Krankheit), gesellschaftspolitischen (unverschuldete Arbeitslosigkeit) oder sonstigen Gründen keine Produktionsleistungen erbringen können, am Verteilungs-
6
Paraskewopoulos, Spiridon: Volkswirtschaftslehre. S. 29.
7
Gutmann, Gernot: Marktwirtschaft. Motivation, in: HdWW, Bd. 5, 1988, S. 146 f.
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prozess beteiligt werden sollen. Es entsteht in jeder Volkswirtschaft ein Verteilungsproblem. Bei der Lösung dieses Problems wird die Art der Verteilung der erstellten Leistungen unter den Mitgliedern der Gesellschaft gesucht, welche die Lösung des Lenkungs- und Leistungsproblems innerhalb der Gemeinschaft möglichst nicht beeinträchtigt“.8 Einkommensumverteilung als politisches Ziel. „Ein wichtiges Instrument zur Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit ist in den Industriestaaten der westlichen Welt die progressive Einkommensteuer. Die durch die Einkommensteuer bewirkte Veränderung der Einkommensverteilung ist allerdings auf Wirtschaftssubjekte mit Einkünften oberhalb der Grundfreibeträge beschränkt. Die staatliche Aufgabe, Verteilungsgerechtigkeit zu realisieren, erstreckt sich aber auch auf diejenigen Wirtschaftssubjekte, deren Einkommen unter dieser Grenze liegt. In die Einkommensumverteilung müssen demnach auch solche Wirtschaftssubjekte einbezogen werden, die über ein geringes oder gar kein Einkommen verfügen. Diese beiden Gruppen werden aber durch die Umverteilung im Rahmen der Einkommensteuer nicht erfaßt. Aus diesem Grunde wurde in allen Ländern ein die Einkommensteuer ergänzendes System sozialer Transfers geschaffen“.9 (4) Das Interessen- und Machtausgleichsproblem. „Dort, wo Menschen arbeitsteilig handeln, entstehen vielfältige Interessenkonflikte. Aus der Bewältigung dieser Interessenkonflikte resultiert die Gefahr der Entstehung und Etablierung wirtschaftlicher und möglicherweise auch politischer Macht, die dem Machthaber gestattet, [...] ‚die eigenen Interessen zu Lasten derjenigen der anderen Partner des arbeitsteiligen Wirtschaftens durchzusetzen. So gesehen sind einzelwirtschaftliche Interessen Quelle einer sozialen Gefahr‘ (Gutmann 1993). Es entsteht ein Interessen- und Machtausgleichsproblem. Wirtschaftspolitisches Ziel einer demokratisch organisierten Gesellschaft muss die Vermeidung einer gesellschaftlich unkontrollierten wirtschaftlichen und politischen Macht sein. Es wird nach einem Interessenausgleich zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft gesucht. Im wirtschaftlichen Bereich geht es um das Vermeiden des Monopols, im politischen Bereich um die Verhinderung politischer Diktatur. Für die Lösung der angeführten Probleme werden die geeigneten Ordnungsund Organisationsformen des Wirtschafts- und gesellschaftlichen Lebens gesucht, weil davon ausgegangen wird, dass das Wirtschaften der Menschen und die Gestaltung des wirtschaftlichen Gemeinlebens weithin ordnungsbedingt sind. Die Probleme arbeitsteiligen Wirtschaftens sind innerhalb und zugleich durch die Wirtschaftsordnung zu lösen (Hensel 1978). Die geeignete Wirtschafts- und Sozialordnung sowie eine mit der realisierten Wirtschaftsordnung konforme Prozesspolitik sollte daher den Mitgliedern einer Gemeinschaft bei der Erstellung und Verteilung
8
Paraskewopoulos, Spiridon: Volkswirtschaftslehre. S. 29.
9
Metze, Ingolf: Negative Einkommensteuer, in: HdWW, Bd. 9, 1988, S. 788 f.
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von Leistungen – sowohl zwischen Regionen als auch zwischen Menschen – ein interessenausgleichendes und damit friedliches Gemeinleben ermöglichen“.10 Die Grundprobleme des Wirtschaftens in totalitären Diktaturen mit politisch natural gesteuerter sozialistischer Zentralplanwirtschaften. (1) Das Lenkungs- bzw. das Allokationsproblem. Das Problem einer rationalen Allokation der Ressourcen ist das zentrale Problem der sozialistischen Wirtschaften. Nur in einer Marktwirtschaft mit Wettbewerb ist eine rationale Allokation der knappen Faktoren möglich. „In a socialist economy there can be, of course, grave mistakes and misdirection of investments and production. [...] The real danger of socialism is that of a bureaucratization of economic life“.11 „Der Wirtschaftslenkung fehlt jegliches Kriterium für die Übereinstimmung von Bedarf und Produktion. [...] Die Ausschaltung der marktwirtschaftlichen Ordnung schafft so unweigerlich eine Situation, in der die Produktion die eigentliche Richtung des Bedarfs gar nicht mehr kennt. Die Wirtschaftslenkung ist daher mit einer Freiheit des Konsumenten nicht zu vereinbaren. [...] Die Logik der Wirtschaftslenkung geht auf eine ungeheure Konsumkompression zugunsten des Staates“.12 (2) Das Leistungsproblem. Das Streben nach Gewinn des Unternehmers und das Streben nach einem höheren Einkommen sind die Triebkräfte in der Marktwirtschaft. Die politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft erforderte jedoch einen Menschen, der lieber für den Sozialismus als für sich arbeitete. Dies war der Neue Mensch, eine Utopie, denn die Kanaille Mensch blieb ein individueller Nutzenmaximierer. (3) Das Verteilungsproblem. Die Nomenklatura besaß in allen sozialistischen Ländern Privilegien. Die Löhne der Beherrschten, der Arbeiter und der Bauern, waren willkürlich. Der Warenmangel wirkte demotivierend und ließ bei den Beherrschten Gegenstrategien entstehen. (4) Das Interessen- und Machtausgleichproblem. Die KPdSU- und die SED Nomenklatura besaßen ein Machtmonopol, das ohne Gegengewichte war und erst mit den friedlichen Volksaufständen 1989/91 zusammenbrach.13 In seiner Bilanz der Wirtschaftslenkung behandelt Alfred Müller-Armack (1946) die Interdependenz von Staat und Wirtschaftsordnung: „Die Frage der Wirtschaftsordnung steht in unlösbarem Zusammenhange mit der der politischen und
10 Paraskewopoulos, Spiridon: Volkswirtschaftslehre. S. 29 f. 11 Lange, Oskar: On the Economic Theory of Socialism, S. 106, 109. 12 Müller-Armack, Alfred: Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, 2. Aufl., Hamburg 1948, S. 20 f. 13 Wensierski, Peter: Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution. Wie eine Gruppe junger Leipziger die Rebellion in der DDR wagte, München 2017.
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Gesamtlebensordnung, die wir erstreben. Es gilt heute Klarheit darüber zu gewinnen, wie wenig es möglich ist, die Ideale menschlicher Freiheit und persönlicher Würde zu verwirklichen, sofern die wirtschaftliche Ordnung, die wir wählten, dem widerspricht. Es ist kein Zufall gewesen, wenn in der Vergangenheit alle politischen Systeme, die die Menschenwürde verachteten und die geistige Freiheit mit Füßen traten, auch wirtschaftlich den Hang zu stärksten Eingriffen verrieten. Wer die Geschichte der Wirtschaftslenkung in den letzten Jahrzehnten verfolgt, sieht, wie unaufhaltsam sich nicht nur das Netz wirtschaftlichen Zwanges zusammenzog, sondern man auch dahin gelangte, politische Grundrechte aufzuheben und der individuellen Freiheit den Garaus zu machen. Wer darin nur eine zufällige Erscheinung sieht, verkennt die innere Logik des Lenkungssystems, dem es unmöglich ist, in der einmal erreichten Form ruhig zu verharren, das vielmehr auf der Flucht vor seinen eigenen Unmöglichkeiten zu immer stärkeren Zwangsmitteln greifen muß. Geistige und politische Freiheit haben in der Geschichte nie auf die Dauer existieren können, wo ein geschlossener politischer oder wirtschaftlicher Machtapparat vorhanden war. Wir haben allen Anlaß, Montesquieu ernst zu nehmen mit seinem Nachweis, daß Freiheit nur gedeihen kann, wo die Machtmittel aufgeteilt sind. Das gilt auch für die wirtschaftlichen Gewalten, seitdem wir wissen, wie sehr die politische Freiheit an die auch ökonomisch zu sichernde Unabhängigkeit gebunden ist“.14 In den Schlußbemerkungen betont Müller-Armack den universellen Charakter der Marktwirtschaft als Organisationsprinzip. „Die Marktwirtschaft ist keine bereits im Liberalismus endgültig festgelegte Form, sondern ein Organisationsprinzip, welches vielfältiger Abwandlung zugänglich ist. Schon ihre Gestalt im neunzehnten Jahrhundert war eine bewußte Abwandlung von urwüchsigen Formen einer früheren Zeit. Sie selbst bedarf einer sehr bewußten Neufassung, um gegenwärtigen Aufgaben gewachsen zu sein. Daher ist es ein bei gutem Willen vermeidbarer Irrtum, wenn der Forderung nach einer Marktwirtschaft die Absicht unterstellt wird, überwundene Zustände des liberalen Kapitalismus bedenkenlos wieder aufleben zu lassen. Gegen solchen Einwand sollte an sich schon die Feststellung schützen, daß diese Forderung heute an der vordersten Front unserer ökonomischen Theorie laut wird. Sie ist nicht das Ergebnis eines nach rückwärts gerichteten Fühlens, sondern das Ergebnis der fortgeschrittensten Analyse. Wir begreifen gegenwärtig die Marktwirtschaft als ein überzeitliches Organisationsmittel, das uns weder auf eine vergangene Form verpflichtet, noch uns zwingt, unser wirtschaftliches Schicksal untätig hinzunehmen. Es dürfte aus allem hier Gesagten wohl zur Genüge hervorgehen, zu welch überzeugender Einheit sich das Organisationsprinzip mit echter wirtschaftspolitischer Aktivität zu verbinden vermag“.15
14 Auf diesen Zusammenhang von Wirtschaftsordnung und politischer Ordnung hat in der internationalen Diskussion neuestens F. A. Hayek aufmerksam gemacht in seiner Schrift: Der Weg in die Knechtschaft. Zürich 1945, Müller-Armack, S. 63. 15 Müller-Armack, Alfred: Wirtschaftslenkung, 1948, S. 141.
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2. Sondergutachten des Sachverständigenrats vom 20. Januar 1990. Wirtschaftsordnungspolitische Maßnahmen aus einem Guß bei der Modernisierung der fünf neuen Bundesländer: Privatisierung und Neu-Aufbau der Wirtschaft bei laufendem Betrieb Der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ legte am 20. Januar 1990 ein Sondergutachten mit dem Titel „Zur Unterstützung der Wirtschaftsreform in der DDR: Voraussetzungen und Möglichkeiten“ vor. Dem Sachverständigenrat gehörten zu diesem Zeitpunkt die Professoren Herbert Hax, Otmar Issing, Rüdiger Pohl, Dieter Pohmer und Hans K. Schneider an. Das Sondergutachten umfaßt fünf Abschnitte, die hier verkürzt wiedergegeben werden. (I) Ablösung der Planwirtschaft durch Marktwirtschaft: Voraussetzung für den Erfolg. Die Aufgabe dieses Sondergutachtens ist es zu klären, welchen Reformkurs die DDR einschlagen muß, damit Unterstützung aus der Bundesrepublik – und aus anderen westlichen Ländern – mobilisiert und wirksam gemacht werden kann; Ansätze für eine solche Unterstützung werden erörtert. Dabei ist von der Grundüberlegung auszugehen, daß der wirtschaftliche Gesundungsprozeß in der DDR selbst in Gang gesetzt und vorangetrieben werden muß. Das gebieten ökonomische Vernunft und Erfahrung, das gebietet auch das Selbstwertgefühl der Bürger des anderen deutschen Staates. Denn die Leistungsschwäche der DDR-Wirtschaft geht auf systembedingte Mängel zurück, die sich nur durch politische Entscheidungen in der DDR selbst ausräumen lassen. Überdies zählte der Erfolg eines Reformwerks im Urteil der Bürger dort nur halb, wenn sie ihn überwiegend der Hilfe von außen anrechnen müßten. Wenn auch die Entscheidung über die Art und das Ausmaß der wirtschaftlichen Reformen – und insoweit über das Tempo der konstitutionellen Besserung der DDR-Wirtschaft – in der DDR getroffen wird, kann gleichwohl das wirtschaftliche Engagement der Bundesrepublik hierzu einen bedeutenden Beitrag leisten. Das ist dann der Fall, wenn die dort bestehenden Barrieren für eine intensive unternehmerische und wirtschaftspolitische Kooperation mit der Bundesrepublik und den anderen westlichen Ländern beseitigt werden. Dadurch eröffnet sich der DDR die Chance, knappe Schlüsselfaktoren für ihre wirtschaftliche Erneuerung zu nutzen und dadurch deren Tempo beträchtlich zu beschleunigen. Zu diesen Schlüsselfaktoren gehören insbesondere Kapital, moderne Technologie, Managementmethoden und Marktkenntnisse, aber auch wirtschaftspolitisches Erfahrungswissen. Je weiter die DDR ihre Wirtschaft nach außen öffnet, um so schneller wird ihre Reform vorankommen. Das gilt auch für ausländische Kapitalbeteiligungen in der DDR. Die – auch in der Bundesrepublik – geäußerte Befürchtung, die Beteiligung von Gebietsfremden führe zu einem „Ausverkauf“, ist unhaltbar. Für den Kauf von Grundstücken, Gebäuden und bestehenden Betrieben muß der Erwerber einen vom
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bisherigen Eigentümer akzeptierten Preis entrichten; diese Mittel verbleiben in der DDR und können dort wieder zur Finanzierung von Investitionen verwandt werden, und außerdem bringen sie die für den Import von Investitionsgütern dringend benötigten Devisen; die Vermögensposition der DDR bleibt also ungeschmälert, ihre Devisenposition und ihre Investitionskraft werden verbessert. Die Befürchtung eines „Ausverkaufs“ wäre nur dann begründet, wenn der Verkäufer in der DDR bei dieser Transaktion übervorteilt würde. Beim Verkauf von Anteilen an Unternehmen oder von Immobilien zu vergleichsweise niedrigen Preisen stünde der niedrige Marktwert nicht für einen „Ausverkauf“. Er spiegelte lediglich die Erwartung ihres zunächst, in der Anfangsphase der Reform, nur geringen Ertragswertes und der hoch einzuschätzenden Risiken wider. Den „Ausverkauf“ der DDR verhindern: Das ist ein Schlagwort, mit dem sich für die Bevölkerung der DDR die unliebsame Erfahrung des Kaufs hochsubventionierter Konsumgüter durch Ausländer verbindet. Dieses Schlagworts bedienen sich die Gegner grundlegender Reformen, um Befürchtungen zu wecken, die wirtschaftliche Öffnung werde die DDR der Ausbeutung und Verarmung ausliefern. Das genaue Gegenteil ist richtig. Die DDR kommt bei der Erneuerung ihrer Wirtschaft dann am schnellsten voran, wenn sie möglichst viele ausländische Käufer findet, für ihre Exportgüter, als Touristen, aber auch für Beteiligungen, Finanzpapiere und andere Vermögenswerte. Es ist entscheidend wichtig, daß in der DDR bestehende Unklarheiten über die Funktionsweise und die Funktionsbedingungen eines marktwirtschaftlichen Systems schnell abgebaut werden. Dieses schiere Unwissen ist die Folge der von der Staatsmacht jahrzehntelang betriebenen Monopolisierung einer die Wirtschaftsordnung dominierenden Ideologie, die eine offene Auseinandersetzung über Wirtschaftssysteme nicht zuließ, auch nicht an den Hochschulen. Das Verstehen der Marktwirtschaft und ihrer Funktionsbedingungen ist auch die Voraussetzung für eine erfolgreiche interne Überwindung der im alten System etablierten Widerstände gegen eine marktwirtschaftliche Ordnung. Die Übergangsphase wird eher schwierig sein. Es gibt nirgendwo in der Welt abschließende Erfahrungen mit einem Wechsel von der sozialistischen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft mit Privateigentum an Produktionsmitteln, und es ist auch nicht möglich, alle sich hiermit verbindenden Probleme im voraus zu benennen und für die Lösungen vorzudenken. Mit auftretenden Schwierigkeiten muß daher gerechnet werden. Wenn die Ausrichtung von Reformmaßnahmen Erfolg verheißt und es bei ihrer Umsetzung zu Friktionen kommt, die in der DDR aus eigener Kraft nicht schnell behoben werden können, darf die Bundesrepublik ihre flankierende Unterstützung nicht versagen. Die Wirtschaftsreform steht vor der Aufgabe, den beträchtlichen Rückstand der DDR-Wirtschaft hinsichtlich Produktivität und Einkommen, Reichhaltigkeit und Qualität der Güterversorgung schnell zu verringern und dann den Gleichschritt mit der wirtschaftlichen Entwicklung der fortgeschrittenen Industrieländer zu halten. Der Rückstand besteht im Vergleich zur Bundesrepublik, nicht zu den anderen RGW-Ländern; gemessen an diesen, geht es den Menschen in der DDR gut, doch
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ist das nicht der im Urteil der DDR-Bürger relevante Vergleich. Die Lebensbedingungen in der Bundesrepublik sind für sie – spätestens nach dem Fortfall der Beschränkungen der Übersiedlung – zum Maßstab geworden; für die im Erwerbsalter stehenden Menschen bei der Wahl ihres Arbeitsorts und meistens zugleich auch Wohnorts, und für die Rentenempfänger bei ihrer Entscheidung, ob sie in der DDR wohnen bleiben wollen. Den Rückstand aufholen: Das kann nur gelingen, wenn die DDR ihre Wirtschaftsreform nach dem Erfolgsrezept der westlichen Industrieländer angeht. Das erfordert die Schaffung der Voraussetzungen, unter denen eine offene marktwirtschaftliche Ordnung entstehen kann. Mit der Öffnung nach innen wird den Menschen die Möglichkeit geboten, sich ihren Neigungen und Befähigungen entsprechend wirtschaftlich zu betätigen; das erweitert den persönlichen Freiheitsraum und erschließt dadurch die Quellen des wirtschaftlichen Wohlstands. Mit der Öffnung nach außen, zu den internationalen Märkten hin, gliedert sich die DDR in die produktivitäts- und wohlfahrtssteigernde internationale Arbeitsteilung ein. Mit dem Übergang auf die Selbststeuerung der Märkte wird bewirkt, daß die Engpässe und anderen Koordinationsmängel der Planwirtschaft verschwinden: dafür sorgen die Reaktionen von Nachfragern und Anbietern auf die Preissignale, die auf jedem einzelnen Markt und für die Gesamtheit der Märkte Marktstörungen überwinden. Dreh- und Angelpunkt der marktwirtschaftlichen Ordnung ist der Wettbewerb. Er ist die Triebfeder der wirtschaftlichen Leistung, er ist zugleich die wirksamste Kontrolle wirtschaftlicher Macht. Eine Marktwirtschaft bringt größeren Wohlstand hervor als die Planwirtschaft, sie verfügt über die größeren Möglichkeiten für den Ausgleich und den Schutz vor wirtschaftlicher Not. Ein umfassendes Reformprogramm zeichnet sich noch nicht ab. Über den Reformweg besteht in der DDR noch weiterhin Unklarheit und teilweise auch Uneinsichtigkeit. Die in der DDR gebrauchte Leitbildvorstellung „Sozialistische Marktwirtschaft“ und die Ablehnung einer nicht staatlicher Lenkung überantworteten Wirtschaft als „Rückfall in die frühe Phase des Kapitalismus“ lassen vermuten, daß in den sich politisch artikulierenden Kreisen eher ein durch Marktelemente ergänzter Staatsdirigismus angestrebt wird als die konsequente Ablösung der Kommandowirtschaft durch marktwirtschaftliche Steuerungsmechanismen. Wenn es zu einer lediglich partiellen Korrektur der Planwirtschaft durch einzelne marktwirtschaftliche Elemente kommen sollte, müßte das in der Bundesrepublik hingenommen werden; die schlimme Folge wäre aber, daß das private Kapital aus der Bundesrepublik und anderen Industrieländern ausbliebe. Es wäre dann auch verfehlt, wenn die Bundesrepublik versuchen würde, den mit Gewißheit zu prognostizierenden Mißerfolg einer solchen halbherzigen Reform durch vermehrte öffentliche Finanzhilfen auszugleichen und dadurch zu bemänteln. Das ginge zu Lasten des Reformwillens in der DDR und stellte eine nicht zu rechtfertigende Belastung des Steuerzahlers in der Bundesrepublik dar. Würde man die Verbindlichkeit der zentralen Planung für die Einzelplanungen aufheben und ihr lediglich eine Orientierungsfunktion zuweisen, so entstünden zwangsläufig Märkte, und die Zentralplanung würde wirkungslos; behielte man die
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verbindliche Planung bei, so könnte die marktwirtschaftliche Organisation allenfalls ein Randdasein führen, sie könnte aber weder ihre überlegene Koordinationsleistung entfalten noch starke Leistungsanreize auslösen. (II) Zur wirtschaftlichen Lage in der DDR. Die politische und wirtschaftliche Lage in der DDR bietet den dort lebenden Menschen derzeit keine den Bürgern in der Bundesrepublik gleichwertigen Lebensbedingungen und – bliebe alles beim Alten – keine attraktiven Zukunftsaussichten. Eine Analyse der wirtschaftlichen Ursachen des Rückstandes stößt an Grenzen, weil die hierfür erforderlichen Daten nicht oder nicht in der gebotenen Zuverlässigkeit verfügbar sind. Das in den offiziellen Statistiken der DDR bisher gezeigte Bild von der wirtschaftlichen Entwicklung der vergangenen Jahre ist sehr positiv. Wie skeptisch statistischen Angaben zu begegnen ist, zeigt beispielsweise das Eingeständnis des früheren Finanzministers vor der Volkskammer im November 1989, daß die Staatsverschuldung tatsächlich auf 130 Mrd. Mark aufgelaufen sei. Zwar kann die DDR zurecht darauf verweisen, daß die Versorgungslage der Bevölkerung weitaus besser ist als in anderen Ostblockstaaten. Aber gegenüber der Bundesrepublik und anderen westlichen Industrienationen ist ein erheblicher Rückstand im materiellen Lebensstandard zu verzeichnen, der nun, da die Grenzen offen sind, für die Menschen deutlich nachvollziehbar wird. Das Wohlstandsgefälle, das sich in den letzten vier Jahrzehnten zwischen beiden deutschen Staaten herausgebildet hat, ist nicht allein an dem Volumen der Güterproduktion zu messen, das für die Konsumtion zur Verfügung steht. Läßt man solche Güter außer Betracht, die gegen konvertierbare Devisen importiert werden müssen, ist die mengenmäßige Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln und Genußmitteln im ganzen nicht wesentlich geringer als in der Bundesrepublik Deutschland. Dagegen ist die Ausstattung der privaten Haushalte mit langlebigen Konsumgütern erheblich schlechter als in der Bundesrepublik. Das amtliche statistische Material erlaubt einen Vergleich der Ausstattungsgrade in der DDR und in der Bundesrepublik nur für eine eng begrenzte Zahl von Gütergruppen. Dieser Vergleich zeigt, daß in der DDR vor allem bei Personenkraftwagen, Telefonapparaten und Farbfernsehgeräten der Ausstattungsgrad niedriger ist als in der Bundesrepublik. In der Statistik der DDR fehlen jedoch vor allem nähere Angaben zur Versorgung mit Produkten der modernen Unterhaltungselektronik. Gerade in diesen Bereichen scheinen erhebliche Versorgungsmängel zu bestehen, wie der Kaufansturm der DDR-Bevölkerung nach der Öffnung der Grenzen zeigt. Wichtiger noch ist es, daß die Verbraucher an der Produktvielfalt und an der Qualität des Güterangebots zum Teil erhebliche Abstriche hinnehmen müssen. Bei so wichtigen Gütern wie Wohnungen oder Personenkraftwagen blieb die DDR um Jahre, wenn nicht um Jahrzehnte, hinter den Qualitätsstandards westlicher Industrienationen zurück. Einige Zahlen für die Versorgung mit Wohnraum können das exemplarisch belegen. Nach Untersuchungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung stammten 1981 mehr als 40 v.H. aller Wohnungen noch aus der
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Zeit vor dem ersten Weltkrieg, rund zwei Drittel waren älter als 50 Jahre. Der Altbaubestand ist in erheblichem Maße vom Verfall bedroht. Im Jahre 1988 waren fast 30 v.H. aller Wohnungen nicht mit einer Innentoilette ausgestattet, rund 20 v.H. besaßen kein Bad. Die schlechte Qualität des Wohnungsbestandes ist vor allen darauf zurückzuführen, daß die Bautätigkeit zugunsten von Ausrüstungsinvestitionen, die unmittelbar zur Erhöhung der Produktion führen, lange Zeit vernachlässigt wurde. Bei privatem Wohneigentum reichen die Mieteinnahmen nicht einmal für die laufende Instandhaltung aus. Der Anteil der Bauinvestitionen an den gesamten Investitionen liegt seit Jahrzehnten deutlich (um 15 bis 20 Prozentpunkte) unter dem entsprechenden Wert in der Bundesrepublik. In weiten Teilen der DDR ist die Lebensqualität durch Umweltbelastungen außerordentlich stark beeinträchtigt. Obwohl es eine umfangreiche Gesetzgebung und seit 1972 auch ein Verfassungsgebot für den Umweltschutz gibt, sind umweltpolitische Belange in der zentralen Wirtschaftsplanung faktisch nur völlig unzureichend zur Geltung gekommen. Luft, Wasser und Boden sind in erheblichem Maße durch Schadstoffe belastet. Ein besonders gravierendes Problem ist die Luftverschmutzung durch Schwefeldioxyd. Der Ausstoß durfte pro Kopf der Bevölkerung mehr als fünfmal so hoch sein wie in der Bundesrepublik. Rund 50 v.H. des SO2-Ausstoßes entstehen in den Ballungsgebieten um Halle / Leipzig und Dresden, weitere 25 v.H. im Braunkohlerevier um Cottbus. In diesen Regionen ist die Luftverschmutzung so schlimm, daß sie für die Menschen eine akute Gesundheitsgefährdung darstellt. Über hohe Schornsteine werden die Schadstoffemissionen aber auch in andere Teile der DDR und in die Anrainerstaaten transportiert. Zur extrem hohen Belastung der Luft mit Schadstoffen tragen sowohl Energieerzeugung als auch Energieverwendung bei. Die Energiegewinnung der DDR beruht zum weitaus größten Teil auf stark schwefelhaltiger Braunkohle, und die Kraftwerke, die sie verheizen, haben einen geringen Wirkungsgrad, einen hohen Eigenverbrauch und unzureichende Filteranlagen. Im Anwendungsbereich schlagen sich stromintensive und veraltete Industrieanlagen, ein unzureichend wärmeisolierter Wohnungsbestand und fehlende Energiesparanreize durch stark subventionierte Stromtarife in hohen spezifischen Verbrauchszahlen nieder. Zu den hohen SO2-Konzentrationen in der Luft kommen zahlreiche weitere Umweltbelastungen hinzu. Die Verteuerung von Braunkohle und veraltete industrielle Produktionsmethoden führen auch zu einer hohen Luftbelastung durch Stäube. Überholte Produktionstechnologien, insbesondere in der Chemischen Industrie, und die Folgen einer intensiven Landwirtschaft verursachen zudem hohe direkte Schadstoffeinleitungen in die Gewässer. Die Situation wird durch eine unzureichende Versorgung mit Kläranlagen verschärft; nur 58 v.H. der Bevölkerung leben in Wohnungen, die an eine Kläranlage angeschlossen sind. Ein Großteil der DDR-Gewässer wird als ökologisch tot eingestuft. Das Produktionsergebnis ist im Verhältnis zum gesamtwirtschaftlichen Ressourceneinsatz vergleichsweise niedrig. Nach einschlägigen Untersuchungen lag die Arbeitsproduktivität in der Industrie – dem Kernbereich der DDR-Wirtschaft, dem in der Wirtschaftsplanung stets eine bevorzugte Stellung eingeräumt wurde –
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noch vor wenigen Jahren mindestens um die Hälfte unter dem Niveau in der Bundesrepublik. Daran dürfte sich bis heute wenig geändert haben. Auch im Verhältnis zum Einsatz der Produktionsfaktoren Kapital und Energie ist das Produktionsvolumen in der DDR wesentlich geringer als in der Bundesrepublik. Das niedrige Produktivitätsniveau engt die Produktionsmöglichkeiten und den Verteilungsspielraum der Volkswirtschaft ein. Der wirtschaftliche Rückstand der DDR gegenüber westlichen Industrieländern hat seine Ursache letztlich in der systemimmanenten Unfähigkeit der zentralen Planwirtschaft, komplexe und verwobene Wirtschaftsaktivitäten aufeinander abzustimmen und ökonomische Anreizmechanismen zur Geltung kommen zu lassen: -
Es mangelt an einem effizienten Koordinierungsmechanismus für individuelle Wirtschaftsaktivitäten. Güterpreise und Gütermengen werden durch die staatliche Planung vorgegeben und Abweichungen der Preise von den Produktionskosten durch Subventionen auf der einen sowie produktgebundene Abgaben auf der anderen Seite hervorgerufen. Wieviel von welchen Produkten produziert wird, richtet sich also nicht nach den Präferenzen der Verbraucher und nach den Produktionskosten. Darüber hinaus stehen Angebot und Nachfrage auch bei den gegebenen Preisen oft nicht miteinander in Einklang, für manche Produkte bilden sich Warteschlangen der Nachfrager, bei anderen gibt es überschüssige Produktionsmengen. Besonders hohe Subventionen werden für Grundnahrungsmittel und das Wohnen geleistet. Dagegen liegen vor allem bei den Gütern des gehobenen Bedarfs die Endverbrauchspreise weit über den Produktionskosten.
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Die Koordinationsmängel der zentralen Planung zeigen sich auch darin, daß die Industrieproduktion immer wieder durch Engpässe in der Versorgung mit Energie, Rohstoffen und anderen Vorprodukten behindert wurde. Um solche Lieferengpässe zu vermeiden, haben die Kombinate teilweise selbst die Herstellung von Vorprodukten aufgenommen; auch Investitionsgüter werden in größerem Umfang von den Nutzern selbst hergestellt. Das Bestreben der Kombinate, einen hohen Selbstversorgungsgrad zu erreichen, hat einer Realisierung von Kosteneinsparungsmöglichkeiten und Produktivitätsreserven entgegengestanden. Produktivitätsvorteile einer stärkeren Spezialisierung der Unternehmen und Unternehmensteile sind daher teilweise ungenutzt geblieben.
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Da die Betriebe in der DDR weder untereinander noch gegenüber ausländischen Anbietern im Wettbewerb stehen, sind sie nicht gezwungen, mit den gegebenen Ressourcen möglichst effizient zu wirtschaften. Fehlender Wettbewerb ist wohl auch die Hauptursache dafür, daß die Innovationstätigkeit, die für hochindustrialisierte Volkswirtschaften in einer zunehmend arbeits-teiligen Weltwirtschaft immer wichtiger wird, zurückgeblieben ist.
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Das Wirtschaftssystem der DDR behindert die Entfaltung von wirtschaftlicher Eigeninitiative, und es schwächt die Bereitschaft zur Übernahme von Risiken, auf die es gerade bei Verfahrensinnovationen und Produktinnovationen ankommt. Erfolgreiche Unternehmen können nur in sehr beschränktem Umfang
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über die Verwendung ihrer Erträge entscheiden; es kann sogar ein negativer Anreiz zur Erzielung guter Betriebsergebnisse vorliegen, wenn ihretwegen erhöhte Produktionsanforderungen zu erwarten sind. Auch für die Arbeitnehmer gibt es nur unzureichende Anreize, mehr zu leisten, als es festgelegten Vorgaben entspricht. Da die Produktionsmittel größtenteils in staatlicher Hand sind, besteht kein unmittelbares Eigeninteresse an ihrer optimalen Verwendung. Die Tatsache, daß das staatlich geplante Güterangebot den Konsumpräferenzen der Bevölkerung nur unvollkommen entspricht, mindert einen wichtigen Anreiz für zusätzlichen Einkommenserwerb. Schließlich besteht aufgrund einer geringen Lohnspreizung zwischen einfachen und gehobenen Tätigkeiten kein hinreichend großer Spielraum, das individuelle Einkommen durch den beruflichen Aufstieg zu verbessern und dafür besondere Anstrengungen auf sich zu nehmen. Die Ursachen für die geringe Wachstumsdynamik und den Produktivitätsrückstand der DDR-Wirtschaft zeigen sich auch in Umfang und Struktur des Kapitalstocks. Die Investitionsentscheidungen sind in der DDR in staatlicher Hand. In den sechziger und siebziger Jahren hat die staatliche Investitionspolitik – amtlichen Angaben zufolge – durchaus hohe Investitionssteigerungen bewirken können. Im Verhältnis dazu blieb der Produktionszuwachs allerdings gering, die Produktivität der Investitionen war wesentlich niedriger als in der Bundesrepublik. Die erste Hälfte der achtziger Jahre war durch eine schwache, teilweise auch rückläufige Investitionstätigkeit geprägt. Ziel der restriktiven Investitionspolitik dieser Jahre war es, den Export zu forcieren und damit die Devisenprobleme zu mildern, die sich aus der internationalen Verschuldungskrise und dem Ölpreisschock auch für die DDR ergaben. Die staatliche Investitionspolitik hat stets den industriellen Teil der Wirtschaft bevorzugt. Während die Bereiche Dienstleistungen und Staat nicht einmal ein Viertel aller Investitionen umfassen dürften, liegt der Anteil des Warenproduzierenden Gewerbes bei schätzungsweise 60 v.H. und ist damit wesentlich höher als in der Bundesrepublik. Schätzungen zufolge wird je Arbeitsplatz im Produzierenden Bereich nicht wesentlich weniger Kapital eingesetzt als in der Bundesrepublik. Wenn die durchschnittliche Produktivität eines Arbeitsplatzes dennoch auch in der Industrie so gering blieb, so liegt dies – von den bereits erwähnten Aspekten abgesehen – zum einen daran, daß der Kapitalstock veraltet ist und somit weniger moderne Technologien und weniger effiziente Produktionsverfahren zum Einsatz kommen. Zum anderen ist der Strukturwandel, der sich in den letzten Jahrzehnten in Industrieländern mit dezentralen und autonomen Investitionsentscheidungen der Unternehmen vollzogen hat, in der DDR weitgehend ausgeblieben: Die staatliche Investitionspolitik der DDR hat vielfach gerade solche Wirtschaftsbereiche gefördert, die in westlichen Industrieländern aufgrund des weltwirtschaftlichen Strukturwandels zurückgedrängt wurden. So entfällt innerhalb des Warenproduzierenden Gewerbes der DDR auf die Grundstoffproduktion ein sehr viel höherer Anteil aller Investitionen als in der Bundesrepublik, während in den Investitionsgüterindustrien und in den verbrauchsnahen Bereichen wesentlich weniger investiert wird. Das Be-
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streben der staatlichen Investitionspolitik, auch unter Inkaufnahme von volkswirtschaftlichen Kosten einen hohen Selbstversorgungsgrad der Wirtschaft zu erreichen, zeigt sich besonders deutlich an dem Beispiel der Metallerzeugung und -bearbeitung. Während die Bruttoanlageinvestitionen in diesem Wirtschaftsbereich in der Bundesrepublik von 1972 bis 1983 real um rund 60 v.H. gesunken sind, haben sie sich in der DDR um das Vierfache erhöht. Der Anteil dieses Wirtschaftsbereichs an allen Investitionen im Warenproduzierenden Gewerbe lag 1983 in der Bundesrepublik bei 3,0 v.H., in der DDR bei 11,7 v.H. Die politischen Prioritäten der DDR haben sich in ihren Außenhandelsbeziehungen deutlich niedergeschlagen. Um nicht von Importen aus westlichen Industrieländern abhängig zu werden, wurden auch solche Produktionen aufrechterhalten, die bei einer vollen Integration in die Weltmärkte nicht konkurrenzfähig gewesen wären. Dazu gehören große Teile der Grundstoffindustrie, aber auch des Fahrzeugund Maschinenbaus. Indem die zentrale Wirtschaftsplanung Preissignale von den Weltmärkten nicht oder nur unzureichend auf die Binnenpreise durchwirken ließ, wurden Arbeitskräfte und Ausrüstungsgüter in weniger produktiven Wirtschaftsbereichen gebunden. Das ging zu Lasten der Entwicklung neuer, technologieintensiver Produkte und Produktionsverfahren. Der Handel mit den RGW-Staaten hat eine dominierende Bedeutung für die Außenhandelsbeziehungen der DDR; auf ihn entfallen zwei Drittel des gesamten Außenhandels. Die Außenwirtschaftspolitik hat der Sicherung der Rohstoffversorgung stets eine hohe Priorität eingeräumt, ein Drittel der Importe entfallen auf Brennstoffe, mineralische Grundstoffe und Metalle. Langfristige Investitions- und Handelsabkommen – insbesondere mit der UdSSR – dienen diesem Ziel. Im Gegenzug liefert die DDR neben veredelten Grundstoffen vor allem Produkte des Maschinen- und Fahrzeugbaus, auf deren Produktion sich die DDR im Rahmen der Spezialisierung innerhalb der RGW-Staaten konzentriert hat. Problematisch an dieser außenwirtschaftlichen Verflechtung ist nicht allein das Übergewicht des RGWHandels an sich, sondern auch die Tatsache, daß die Spezialisierung nicht im Wettbewerb erprobt, sondern politisch festgelegt wurde. (III) Notwendige Reformen in der DDR. Das wirtschaftliche Entwicklungspotential der DDR kann nur zur Entfaltung kommen, wenn die dafür geeigneten Rahmenbedingungen geschaffen werden; dies setzt eine konsequente ordnungspolitische Neuorientierung zur Marktwirtschaft voraus. Es bedarf zum einen klarer Vorstellungen über das für die Umgestaltung maßgebliche ordnungspolitische Leitbild; zum anderen müssen konkrete Schritte bedacht werden, die das bestehende planwirtschaftliche System in die neue Ordnung überleiten. Vordringlich sind Reformen der Preisbildung, der Rahmenbedingungen für unternehmerische Tätigkeit, des Geld- und Währungssystems sowie der öffentlichen Finanzen. Es muß Klarheit darüber geschaffen werden, wie die Rahmenbedingungen in diesen Bereichen letztendlich aussehen sollen; dies ist unerläßliche Voraussetzung einer glaubwürdigen Reformpolitik, durch die allein bei der Bevölkerung der DDR, aber auch in der Bundesrepublik und im Ausland, Vertrauen auf
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eine nachhaltige Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse geschaffen werden kann. 1. Reform der Preisbildung Bei marktwirtschaftlicher Steuerung orientieren sich die Investitions-und Produktionsentscheidungen selbständiger Unternehmen an Preisen, die im Wettbewerb auf Märkten zustande kommen. Die Preise dienen der Koordination der dezentralen Entscheidungen in den Unternehmen; dies setzt voraus, daß sich in ihnen die Knappheitsverhältnisse und die bei effizienter Produktion entstehenden Kosten widerspiegeln. Die Preisbildung im Wettbewerb schafft zugleich den Anreiz zum sparsamen Einsatz der vorhandenen Ressourcen und bestraft die Anbieter, die sich darum zu wenig bemühen. Grobe Verzerrungen der Preisstruktur, die zu gravierenden Fehllenkungen führen, entstehen durch die Subventionierung der Preise von Gütern des Grundbedarfs. Nur durch Abbau dieser Subventionen kann erreicht werden, daß der Anreiz zur Verschwendung entfällt; es ist zugleich ein notwendiger Schritt dahin, daß die Güter zu den für sie geltenden Preisen auch tatsächlich von jedermann in gewünschtem Umfang erworben werden können. Es entfällt das Problem des unerwünschten Erwerbs subventionierter Güter durch Gebietsfremde. 2. Rahmenbedingungen für unternehmerische Tätigkeit Die Verlagerung der Entscheidungskompetenzen von der zentralen Planung auf die Unternehmen hat weitreichende Konsequenzen. Die an die Unternehmensleitungen zu stellenden Anforderungen ändern sich von Grund auf. Über Produktionsprogramme, Produktionsverfahren, Beschaffungs-, Absatz- und Preispolitik und die Investitionen muß in eigener Verantwortung entschieden werden. Wenn Wettbewerb hergestellt ist, müssen die Unternehmen sich auf den Märkten gegen konkurrierende Anbieter behaupten. Dadurch kommt dem Gewinn für die Unternehmenspolitik eine neue Bedeutung zu. Für autonome Unternehmen unter Wettbewerbsbedingungen ist die Gewinnerzielung von zentraler Bedeutung für die Sicherung ihres Bestandes. Zur Gewährleistung des Wettbewerbs ist es unerläßlich, daß der Marktzugang für private Unternehmensgründungen geöffnet wird und jederzeit offen bleibt. Private Investoren sind aber nur bereit, Kapital für Unternehmensgründungen einzusetzen, wenn ihnen dafür Eigentumsrechte eingeräumt werden. Die Privatisierung der staatlichen Betriebe gehört zu den Rahmenbedingungen. Die vielfach geäußerte Vorstellung, die DDR sei der Bundesrepublik zwar wirtschaftlich unterlegen, nicht jedoch hinsichtlich der sozialen Leistungen, ist für weite Bereiche der Sozialpolitik, insbesondere für Alters- und Krankenversorgung, unzutreffend. Richtig ist, daß in der DDR die Sicherheit des Arbeitsplatzes (allerdings nicht eines bestimmten) gewährleistet ist; dies ist im marktwirtschaftlichen System nicht möglich. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß in der Bundesrepublik Arbeitslosigkeit nicht ein Absinken in Armut und Elend bedeutet. Ein ausgebautes
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System der sozialen Sicherung kann auch in der DDR verhindern, daß das Risiko des Arbeitsplatzverlustes zum existentiellen Risiko wird. 3. Reform des Geld- und Kreditwesens Ohne die Herstellung eines funktionsfähigen Geld- und Kreditwesens sind alle Reformbemühungen zum Scheitern verurteilt. Wie in den anderen sozialistischen Volkswirtschaften mit zentraler Planung ist auch das bisherige monetäre System der DDR durch folgende Charakteristika geprägt: -
Das Geld- und Kreditwesen ist integraler Bestandteil der zentralen Wirtschaftsplanung; wird diese beseitigt, müssen die monetäre Steuerung und das Kreditsystem auf eine völlig neue Grundlage gestellt werden.
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Im Laufe der Jahre hat sich ein Geldüberhang aufgebaut.
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Die Währung der DDR ist eine reine Binnenwährung; über differenzierte Verrechnungskurse besteht eine kaum überschaubare Vielzahl von Wechselkursen.
Die grundlegenden Ziele der Reform des Geld- und Kreditwesens lassen sich kurz wie folgt umreißen: -
Herstellung stabiler Währungsverhältnisse durch eine unabhängige Notenbank;
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Aufbau eines zweistufigen Bankensystems und monetärer Märkte zur Allokation des Kapitals;
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Konvertibilität der Währung bei einheitlichem Wechselkurs. 4. Reform der Finanzverfassung
Mit dem Übergang zu einem marktwirtschaftlichen System stellt sich für die DDR die Aufgabe, eine dieser Wirtschaftsform angemessene Finanzverfassung zu entwickeln. (IV) Anforderungen an den Reformprozeß: grundlegend, rasch, gleichzeitig. Ein Erfolg des wirtschaftlichen Reformprozesses in der DDR ist nur zu erwarten, wenn das Wirtschaftssystem grundlegend umgestaltet wird, wenn die notwendige Reform rasch eingeleitet und zügig durchgeführt wird und wenn die erforderlichen Reformschritte gleichzeitig realisiert werden. Die grundlegende Reform ist notwendig, weil die bisherige Wirtschaftsordnung an ihren fundamentalen Konstruktionsmängeln gescheitert ist. Nicht eine graduelle Modifikation einzelner Prinzipien des Wirtschaftens hilft weiter, die Wirtschaftsordnung muß auf ein neues Fundament gestellt werden. Das Prinzip des Wettbewerbs, eine von staatlichen Eingriffen weitgehend befreite unternehmerische Aktivität und die Freizügigkeit des Wirtschaftsverkehrs im Inland wie mit dem Ausland bilden den Kern einer erfolgversprechenden neuen Wirtschaftsordnung in der DDR. Für die Akzeptanz des Reformprozesses in der DDR ist das Tempo, mit dem sich die Transformation der sozialistischen Planwirtschaft in eine marktwirtschaftlich organisierte Wirtschaft vollzieht, wichtig. Die Mängel im Güterangebot, der
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Rückstand in der Arbeitsproduktivität und in der Wettbewerbsfähigkeit, die Unzulänglichkeiten in der Infrastruktur und deren Verfall sind eindeutig der alten Wirtschaftsordnung anzulasten. Läuft der Reformprozeß zu langsam ab und stellen sich Reformerfolge daraufhin zu langsam ein, werden die dann verbleibenden Mängel sowie unvermeidbare Härten des Übergangsprozesses in der Sicht der Bevölkerung mehr und mehr der neu entstehenden Wirtschaftsordnung zugerechnet werden. Die neue Ordnung verliert ihre Strahlkraft, der Reformprozeß gerät in Mißkredit. Solche Entwicklungen, die zu einer um sich greifenden Enttäuschung über die wirtschaftliche Neuorientierung in der DDR und dann zu verstärkten Abwanderungsbewegungen führen können, lassen sich nur vermeiden, wenn die Reform zügig vollzogen wird. Wenn auch Umstellungsprobleme bei der Neuordnung nicht zu vermeiden sind, müssen durch den raschen Vollzug der Reform doch Perspektiven für die baldige Überwindung der Schwierigkeiten geschaffen werden. Mit Nachdruck ist darauf hinzuweisen, daß die Elemente einer neuen Wirtschaftsordnung nicht isoliert voneinander gesehen werden dürfen. Nur im Verbund miteinander versprechen sie Erfolg. Erstens muß vordringlich der rechtlich-institutionelle Rahmen geschaffen werden, der die neue Wirtschaftsordnung prägen soll und innerhalb dessen sich die notwendigen Reformschritte vollziehen müssen. Hierzu zählen insbesondere die Eigentumsreform, die Gewährleistung der Gewerbefreiheit, die Schaffung eines Unternehmensrechtes einschließlich eines Insolvenzrechtes und eines Wettbewerbsrechtes, die Notenbankreform, die Schaffung eines adäquaten Steuersystems und die Entwicklung eines Systems der sozialen Sicherung. Zweitens muß die Reform in den verschiedenen Teilbereichen (Unternehmensreform, Preisreform, Reform des Außenhandels, des Geldwesens einschließlich des Kapitalmarktes, der Finanzverfassung, der sozialen Sicherung) gleichzeitig begonnen und parallel weitergeführt werden. Ein Reformfahrplan, der die einzelnen Teilbereiche zeitlich hintereinanderreiht, würde kaum zum Ziel führen, weil er Zusammenhängendes auseinanderreißt. Drittens muß innerhalb der einzelnen Teilbereiche der Reform mit denjenigen Schritten begonnen werden, die vergleichsweise leicht zu realisieren sind. Schwerer zu realisierende Schritte müssen trotzdem eingeleitet werden, auch wenn ihre Umsetzung erst zu einem späteren Zeitpunkt möglich sein wird. Bei der Unternehmensreform lassen sich die Zulassung von privaten Unternehmensgründungen und die auch mehrheitliche Unternehmensbeteiligung von Gebietsfremden schnell verwirklichen. Ebenso notwendig, wenn auch nicht unmittelbar realisierbar sind die Entmonopolisierung der Wirtschaft durch Entflechtung der Kombinate und der Rückzug des Staates aus der unternehmerischen Aktivität. Bei der Preisreform sind schnell zu verwirklichen: erste Schritte zur Entzerrung der Preise durch Abbau der Subventionen und die Ausrichtung der Preise international handelbarer Güter an Preisrelationen am Weltmarkt. Eine schnelle Preisfreigabe in den Monopolbereichen ist hingegen nicht angezeigt. Hier werden Querbeziehungen sichtbar. Je schneller in den Monopolbereichen – durch Entmonopolisierung oder durch Öffnung für den internationalen Wettbewerb – Wettbewerbsbedingungen geschaffen werden, desto eher kann auch hier die Preisbildung freigegeben werden.
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Viertens: Wenn auch die einzelnen Reformelemente ineinandergreifen, gibt es doch unterschiedliche Grade der Verflechtung. Die Elemente, die auf andere Reformbereiche in besonderem Maße ausstrahlen, müssen vorrangig verwirklicht werden. Hierzu zählen wir insbesondere die Verlagerung der Entscheidungskompetenz vom Staat auf die Unternehmen und die Schaffung eines leistungsfähigen Kapitalmarktes. Eine der größten Herausforderungen für die wirtschaftliche Reform in der DDR stellt die Abwanderung von Bürgern dar. Das Wohlstandsgefälle zwischen der Bundesrepublik und der DDR wird auch nach der Einleitung einer beherzten Reform zunächst groß bleiben. Die daraus entstehenden Wanderungsbewegungen bedrohen den Reformprozeß selbst; denn Abwanderungen bedeuten einen empfindlichen Verlust des Produktionsfaktors Arbeit. Zwar mag sich globaler Arbeitskräftemangel vorübergehend noch in dem Maße mildern lassen, wie im Zuge der Wirtschaftsreform die Arbeitsproduktivität in der DDR gesteigert werden kann; und dies ist ja ein vordringliches Ziel der Reform. Doch treten bereits heute strukturelle Probleme am Arbeitsmarkt auf, weil sich Abwanderungen auf bestimmte Regionen und auf bestimmte Qualifikationen konzentrieren. Darüber hinaus hat sich der Altersaufbau der Bevölkerung, der für das Funktionieren der Sozialversicherungssysteme besonders wichtig ist, bereits jetzt drastisch verschlechtert. Trotzdem darf die Reisefreiheit für die Menschen nicht in Frage gestellt werden, auch dann nicht, wenn sich Abwanderungstendenzen fortsetzen. Wir teilen nicht die Auffassung, daß die Abwanderungen erst dann zu einem Ende kommen werden, wenn die wirtschaftlichen Lebensverhältnisse der DDR mit denen in der Bundesrepublik vergleichbar geworden sind. Abwanderungen wird am wirksamsten dadurch entgegengewirkt, daß die Reisefreiheit und die Freiheit zur Übersiedlung dauerhaft gesichert bleiben und daß zugleich ein konsequenter wirtschaftlicher Reformprozeß vollzogen wird, der die Erwartung einer Besserung der wirtschaftlichen Lage in der DDR rechtfertigt. (V) Der Beitrag der Bundesrepublik zur Wirtschaftsreform in der DDR. Mobilisierung privaten Kapitals: Die Unterstützung des wirtschaftlichen Reformprozesses muß vorrangig durch Engagement der privaten Investoren und der Unternehmen aus der Bundesrepublik wie aus anderen westlichen Ländern erfolgen. Bleibt privates Kapital aus, wäre dies als Beleg dafür zu werten, daß sich die Investoren unter den von der DDR geschaffenen Bedingungen keine Ertragschancen ausrechnen oder die Risiken ihres Engagements, gemessen an den erwarteten Renditen, als zu hoch einschätzen. Es wäre in dieser Situation der falsche Weg, an die Stelle des ausbleibenden privaten Kapitals nun um so mehr öffentliche Mittel zu setzen; die für die Zurückhaltung des privaten Engagements verantwortlichen Mängel würden es zugleich verhindern, daß Kapital aus öffentlichen Kassen in der DDR effizient verwendet werden kann. Um es noch einmal zu betonen: Die Attraktivität für privates Kapital kann die DDR nur selbst durch eine adäquate Ausgestaltung ihrer Wirtschaftsordnung schaffen
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Humanitäre und soziale Hilfen: Die Nachfrage der DDR-Bevölkerung nach Devisen – um damit Reisen in den Westen zu finanzieren und westliche Waren zu kaufen – kann von der DDR wegen ihrer eng begrenzten Devisenreserven nur in geringem Umfange befriedigt werden. Solange eine volle Konvertibilität der Mark der DDR nicht möglich ist, läßt es sich als eine Maßnahme der humanitären und sozialen Hilfe rechtfertigen, wenn die Bundesrepublik finanziell dazu beiträgt, daß die DDR-Bürger ihre nach Jahrzehnten wiedergewonnene Reisefreiheit nutzen können. Der neu geschaffene Devisenfonds teilt einen geeigneten Rahmen für diese soziale Flankierung des Reformprozesses dar. Die Ausstattung mit rund 3 Mrd DM entspricht einem Betrag von 200 DM, den jeder DDR-Bürger im Tausch gegen Mark zum Kurs von 1:1 und 1:5 für jeweils 100 DM erhalten kann. Die Finanzierung übernimmt zu drei Vierteln die Bundesrepublik, zu einem Viertel die DDR. Finanzhilfen: Die Bundesrepublik hat sich bereit erklärt, die Reformen in der DDR mit staatlichen Finanzhilfen zu unterstützen. Sie sind komplementär zum privaten Kapitaltransfer, auf den es vor allem ankommt. Richtig eingesetzt können sie den Reformprozeß beschleunigen und so die Gesundung der DDR-Wirtschaft vorantreiben. Da die staatlichen Hilfen begrenzt bleiben müssen, sind konkrete Vorstellungen über den Umfang, die Verwendung sowie die Vergabe der öffentlichen Mittel zu entwickeln. (VI) Die Wirtschaftsreform in der DDR als Element einer gesamteuropäischen Ordnung. Die Mitwirkung der Bundesrepublik an der Wirtschaftsreform in der DDR darf nicht als eine bilaterale Aufgabe aufgefaßt werden. Die Bundesrepublik ist Mitglied der Europäischen Gemeinschaften und hat von daher bestimmte Verpflichtungen zu erfüllen. Die DDR gehört ebenso wie die osteuropäischen Länder, die vor einer Reform ihrer wirtschaftlichen und politischen Ordnung stehen, zum RGW. Die umfassende Aufgabe, zu der die Bundesrepublik das ihre beizutragen hat, ist der Brükkenschlag zwischen West und Ost durch die Schaffung einer neuen wirtschaftlichen Ordnung in Gesamteuropa, in der sich eine intensive wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen allen Staaten entwickeln wird. Das Vorhaben „Binnenmarkt 92“ muß durch die Vision „Gesamteuropa“ ergänzt werden: Bis dahin müssen die in der DDR und den osteuropäischen Ländern jetzt anlaufenden Wirtschaftsreformen ihre erste, kritische Phase durchlaufen haben, und ihr Erfolg muß sich abzeichnen. Das Engagement der Bundesrepublik darf nicht zu Lasten ihres Einsatzes für das Gelingen der westeuropäischen Wirtschaftsintegration gehen. Auch nachdem die osteuropäischen Staaten wirtschaftliche Reformprozesse eingeleitet haben, bleibt der europäische Binnenmarkt eine entscheidende Voraussetzung für die in-
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tensivere Arbeitsteilung in Europa und damit für die weitere Verbesserung der wirtschaftlichen Lebensbedingungen. Eine erfolgreiche westeuropäische Wirtschaftsintegration liegt auch im Interesse der DDR und der osteuropäischen Länder. Eine prosperierende westeuropäische Wirtschaft bietet für sie gewaltige Absatzmöglichkeiten. Eine wirtschaftlich starke Gemeinschaft ist am ehesten in der Lage und bereit, den Reformprozeß in diesen Ländern wirksam zu unterstützen und dadurch voranzubringen. Und umgekehrt nutzt das Gelingen der Wirtschaftsreformen in der DDR und den osteuropäischen Ländern auf lange Sicht auch den Ländern der Europäischen Gemeinschaft. Wenn das Zusammenwachsen der europäischen Volkswirtschaften gelingen soll, müssen die Märkte in Ost und West offen sein. Die Bundesrepublik sollte ihren Einfluß in den Entscheidungsgremien der Europäischen Gemeinschaften dafür einsetzen, daß protektionistische Bestrebungen nicht Raum gewinnen, damit der Weg zu einer künftigen gesamteuropäischen Wirtschaftsordnung nicht verbaut wird. Aus heutiger Sicht läßt sich schwer abschätzen, welche Beschränkungen sich aus der Einbindung der DDR in den RGW ergeben werden. Man sollte hier nicht pessimistisch sein. Auch im RGW ist ein Umbruch im Gange; eine Reihe von Mitgliedsländern strebt eine intensivere Zusammenarbeit mit dem Westen an. Eine solche Öffnung liegt letztlich auch im Interesse der Sowjetunion als der dominanten Macht im RGW. (VII) Wirtschaftsreformen und politische Einheit Das Gutachten geht vom gegenwärtigen politischen Status aus. So lange die politische Autonomie der beiden deutschen Staaten besteht, das Ziel der deutschen Einheit aber gewollt ist, sollten alle Möglichkeiten der politischen Kooperation mit Blick auf dieses Ziel intensiv genutzt werden. Wichtig ist es vor allem, in geeigneten Institutionen den Übergang zur Einheit von Staats- und Wirtschaftsraum vorzubereiten. In einem wiedervereinigten Deutschland erhielte die Aufgabe, den wirtschaftlichen Rückstand im Gebiet der heutigen DDR abzubauen, einen völlig anderen Charakter: Sie wird zu einer Aufgabe der wirtschaftlichen Integration der beiden Staaten zu einem Gesamtstaat. Ihre Lösung wird entscheidend erleichtert, weil für beide Gebietsteile dann dieselbe Wirtschaftsverfassung gültig ist. Die heute aus der Verschiedenartigkeit der beiden Wirtschaftsverfassungen sich ergebenden Beschränkungen des Zustromes von Kapital, technologischem Wissen und anderen Schlüsselfaktoren fallen fort.16 Die fünf Mitglieder des Sachverständigenrats (Wirtschaftsweise) waren Herbert Hax (Betriebswirt mit dem Schwerpunkt betriebliche Sozialpolitik), Otmar Issing (Währung, Notenbanken), Dieter Pohmer (Betriebs- und Volkswirt, Finanzwissenschaft), Rüdiger Pohl (Volkswirtschaft, Geld und Währung) und Hans
16 Treuhandanstalt: Dokumentation 1990-1994, Bd. 1, Berlin 1994, S. 852-864, Bd.2, S. 17-56.
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Karl Schneider (Energie, Beschäftigungs- und Konjunkturpolitik). Hax und Schneider gaben 1993 mit dem Wirtschaftshistoriker Wolfram Fischer das Standardwerk zur Treuhand heraus.17 Die Wirtschaftsweisen waren Vertreter der Freiburger Schule (W. Eucken, F. A. von Hayek, F. Böhm, W. Röpke, L. Miksch), die von A. Müller-Armack zur Sozialen Marktwirtschaft erweitert wurde und die die Leitidee der deutschen Wirtschaftspolitik nach der Währungsreform 1948 wurde. Das Erfolgsrezept der Bundesrepublik und der anderen westlichen Industrieländer waren Demokratie, Marktwirtschaft und Privateigentum. Motor der Sozialen Marktwirtschaft ist der ungehinderte Wettbewerb, der letztlich zu ökonomischen, technischen und sozialen Fortschritten führt. Der rapide Verfall der Wettbewerbsfähigkeit aller DDR-Kombinate 1985-1988 war den Sachverständigen anscheinend nicht bekannt. So erlöste Robotron 1985 für 1 Ost-Mark 0,28 DM und 1988 nur noch 0,17 DM. Der Sachverständigenrat forderte in seinem Gutachten vom 20. Januar 1990 die konsequente Ablösung der sozialistischen Kommandowirtschaft aufgrund deren systembedingter Mängel. Die politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft soll durch einen marktwirtschaftlichen Steuerungsmechanismus abgelöst werden. Die sozialistische Wirtschaftsordnung sollte radikal, rasch und konsistent auf ein neues Fundament gestellt werden. Wenn die Transformation nicht schnell und radikal erfolgt, werden die bei der Transformation auftretenden Mängel der neuen Wirtschaftsordnung angelastet. Im VII. Teil des Sondergutachtens werden die Wirtschaftsreformen und die politische Einheit angesprochen. Die Vision der Wirtschaftsweisen ist die politische Einheit und wettbewerbsfähige Wirtschaft in einem gesamtdeutschen Staat. Am 17. Oktober 1989 war Erich Honecker „von der Funktion als Generalsekretär und als Mitglied des Politbüros des ZK der SED aus Gesundheitsgründen“ zum Rücktritt gezwungen worden. Sein Nachfolger wurde der alte „Apparatschik“ Egon Krenz. „Selbst zu diesem Zeitpunkt konnte sich die SED Führungsspitze nicht zu einem Wechsel entschließen“.18 Sie träumte von der Vergangenheit und war blind für die Zukunft. Der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission (SPK) Gerhard Schürer, Alexander Schalck-Golodkowski, der Leiter des Bereichs Kommerzielle Koordinierung (Koko) und der Minister für Außenwirtschaft Gerhard Beil hatten federführend am 27. Oktober 1989 eine „Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlußfolgerungen“ angefertigt, die jedoch erst Ende April 1990 publik wurde: „Bekanntwerden des sogenannten ‚Schürer-Gutachtens‘ vom 27. Oktober 1989, in dem der SED-Wirtschaftsfunktionär Gerhard Schürer dem SED-Zentralkomitee und seinem Generalsekretär Egon Krenz bescheinigt und dokumentiert, dass die
17 Fischer, Wolfram, Hax, Herbert, Schneider, Hans Karl (Hrsg.): Treuhandanstalt. Das Unmögliche wagen, Berlin 1992. 18 Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Geschichte und Struktur der DDR, München 1989, S. 301.
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DDR wirtschaftlich und finanziell am Ende ist, d. h. wirtschaftlich nicht mehr aus eigener Kraft handeln kann“.19 Das Sondergutachten spiegelt wider, was die Gremien, die sich mit der Thematik befaßten, damals wußten. Das Wissen über den katastrophalen wirtschaftlichen Zustand zu diesem Zeitpunkt faßt der Sachverständige Rüdiger Pohl so zusammen: - Die desolate wirtschaftliche Lage der DDR war in den Grundzügen bekannt: Rückstand an Produktivität, Einkommen, mangelnde Reichhaltigkeit und Qualität der Güterversorgung, Versorgungsmängel, Verfall von Wohnungen, Umweltschädigungen, Produktivitätsrückstand und Ineffizienz, Kapitalstock veraltet, Infrastruktur mangelhaft. - Die exakte statistische Bezifferung der Mängel war aber schon wegen der geschönten DDR-Statistik zu diesem Zeitpunkt kaum möglich. Auch die Expertenbefragungen hinterließen eher einen diffusen Eindruck: die westlichen DDR-Experten wussten – gelinde gesagt – wenig. Die Experten aus der DDR überraschten manchmal mit Illusionen. Ein Beispiel: der Vertreter eines DDRComputerbetriebs erzählte mir, dass die Probleme der geringen Produktivität in seinem Betrieb im wesentlichen auf mangelnde Versorgung mit Vorleistungen, z. B. Schrauben, zurückzuführen sei; nun nach der Grenzöffnung könnten Schrauben einfach im Westen gekauft werden, so dass die Produktion fortan störungsfrei ablaufen könne. […] Den Betrieb gibt es heute trotzdem nicht mehr. Die statistische Erfassung der Leistungsschwäche der DDR-Wirtschaft war ja nur das eine Problem. Viel wichtiger war die Frage, ob die Ursache der Leistungsschwäche leicht zu beheben war oder nicht. - Das führte zum zentralen Punkt: für uns im Sachverständigenrat und natürlich auch für viele andere lag die Ursache für die Leistungsschwäche in den grundlegenden Mängeln des DDR-Wirtschaftssystems, war also systemimmanent. Wer das damals anders sah, mochte – wie Modrow und andere – für einen reformierten Sozialismus plädieren. Wir hingegen sahen Entwicklungschancen für die DDR nur im Rahmen einer offenen marktwirtschaftlichen Ordnung. Ich betone diesen Punkt so sehr, weil das „volle Ausmaß der Systemkrise der DDR“ eben nicht nur an quantitativen Kennziffern wie Produktivitätsrückstand abgelesen werden kann, sondern vor allem auch durch qualitative Faktoren, die grundlegenden und systemimmanenten Funktionsmängel der DDR-Wirtschaft, erfasst werden muss.
19 Ludwig, Johannes: Unternehmen Wiedervereinigung. Von Planern, Machern, Visionären, Hamburg 2015, S. 267.
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3. Die Transformation des „einheitlichen Staatshaushalts der DDR“ und die Gründung der Deutschen Kreditbank AG 3.1. Die Transformation des „einheitlichen Staatshaushalts der DDR“ „Im zentralgelenkten Einheitsstaat der DDR bestand im Gegensatz zur Bundesrepublik mit ihrem Nebeneinander der Haushalte der einzelnen selbständigen Gebietskörperschaften und einer bundesstaatlichen Verteilung der Steuerertragshoheit seit 1951 nur ein zentral geführter einheitlicher Staatshaushalt“.20 „Aufbau: Über Grundfragen entschied ausschließlich die Zentralstaatsregierung (Organisation der Haushaltswirtschaft, Mittelbeschaffung des Staates und Ausgabenpolitik). Das unter ihrem Oberbefehl verwaltete Budget gliederte sich in die Haushalte 1. der obersten Staatsorgane (Zentralstaats- oder Republikhaushalt), 2. der 15 Bezirke (einschließlich Ost-Berlin) und der 227 Kreise, 3. der Gemeinden und Gemeindeverbände (2. und 3. = örtliche Haushalte) und 4. der Sozialversicherung für Arbeiter und Angestellte und Mitglieder der Produktionsgenossenschaften. Der Staatshaushalt umfaßte somit auf der Einnahmenseite sämtliche Geldeinnahmen (Abgaben, Steuern, Erwerbseinkünfte, Gebühren) der zentralen und örtlichen Haushalte und die Beitragseinnahmen der Sozialversicherung. Auf der Verwendungsseite des Etats wurden alle Geldbeträge ausgewiesen, die von den Haushaltsinstanzen aufgewendet wurden, um die innen- und außenpolitischen Ziele der SED zu verwirklichen und die Produktion von öffentlichen Gütern für die Gesellschaft zu finanzieren. Eine Besonderheit bestand darin, daß die vereinigte Haushaltsbilanz durch die Einbeziehung eines Teils der Betriebsfinanzen verlängert wurde; d. h., es wurden rein rechnerisch auch die geplanten oder erzielten Gewinne der Staatsbetriebe (VEB) und Betriebsvereinigungen (Kombinate) hinzugefügt. Obwohl die aus den Gewinnen der staatlichen Produktionsorganisationen gebildeten betrieblichen Finanzfonds nicht vom Staat über den Haushalt umverteilt wurden, da diese zu den dezentralen Finanzfonds gehörten, welche die VEB und Kombinate in bestimmtem Umfang nach ihren betrieblichen Zielen verwenden durften, wurden diese dennoch seit 1965 als Einnahmen und Ausgaben des Staates geführt. Damit unterstrich der sozialistische Staat ausdrücklich sein primäres Verfügungsrecht über den gesamten in den Staatsunternehmen erwirtschafteten Mehrwert (Reineinkommen)“.21 Die Banken in der SBZ wurden nach der Schließung am 28.4.1945 zu Kassenund Abrechnungsapparaten im einheitlichen sozialistischen Finanzsystem nach sowjetischem Modell transformiert. Die Transformation ist von Walter Hahn und Alexander Schick analysiert worden. 20 Zweiter Teil: Buck, Hannsjörg F.:XV. Der Staatshaushalt der DDR: Zwei Drittel aller Ausgaben für Staatswirtschaft in den 1980er Jahren hatten stagnativen Subventionscharakter. 21 Buck, Hannsjörg F.: Staatshaushalt, in: Eppelmann, Rainer / Möller, Horst / Nooke, Günter / Wilms, Dorothee (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus, 2. Aufl., 1997, S. 795 f.
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Walter Hahn: „Notwendigerweise ergab sich aus den dargelegten Sozialisierungsmaßnahmen ein Absterben des Privatkredits, und die materielle Zentralisation des Kredits, oder besser seines kommunistischen Ersatzes, in den Händen des Staates führte notwendig zu einer Unifizierung des Banksystems und zu seiner Umgestaltung zu einem zentralen Kassen- und Abrechnungsapparat (Hervorhebung Jürgen Schneider). Durch die Verstaatlichung der Produktionsmittel wurde der Arbeitsteilung innerhalb des Banksystems die elementarste Grundlage entzogen. […] Das Bankwesen ging im staatlichen Kassensystem auf. Der Inhalt der Kreditpolitik floß also mit den materiellen Problemen der Leitung der Produktion zusammen“.22 Alexander Schick: „In den seit 1919, das heißt seit der Zeit, als das Banksystem unter den Sowjets wieder zum Leben gerufen wurde, verflossenen zehn Jahren hat das Bankwesen im Sowjetstaate eine gewaltige Evolution durchgemacht. Aus den rudimentären Kommerzbanken sind mächtige Finanzinstitute mit Millionen-Bilanzen geworden, die zur Zeit ein ihnen vom Sowjetstaat auferlegtes Verrechnungs-, Kassen- und Finanzkontrollgeschäft ausüben“.23 Geld- und Kapitalmärkte existierten nicht in der SBZ / DDR und daher konnte es auch keine Banken wie im Westen geben. Kassen- und Abrechnungsapparate (= Banken in der DDR) mußten daher im ersten Halbjahr 1990 zu Banken wie in der Bundesrepublik Deutschland transformiert werden.24 3.2. Gründung der Deutschen Kreditbank AG (DKB) am 19. März 1990 Von Horst Hartte Noch vor der Währungsunion hat die DDR-Regierung eine Ausrichtung des Bankwesens auf marktwirtschaftliche Maßstäbe eingeleitet. Auf der Grundlage des Ministerratsbeschlusses vom 8. März 1990 wurde durch die Staatsbank und einige volkseigene Betriebe und Verbände am 19. März 1990 nach dem Aktiengesetz 1937 die Deutsche Kreditbank AG (DKB) errichtet.25 Das Gründungskapital betrug 1.180.000.000 Mark der DDR und wurde außer der Staatsbank von vier weiteren Gründungsaktionären übernommen, da nach dem AktG 1937 mindestens fünf Gründungsaktionäre beteiligt sein müssen.
22 Hahn, Walter: Die Verstaatlichung des Kredits in Rußland, in: Weltwirtschaftliches Archiv 26, S. 345 ff. Klibanski, Hermann: Die Gesetzgebung der Bolschewiki, Leipzig, Berlin 1920, S. 31. 23 Schick, Alexander: Das Sowjetbankwesen und die Rolle der Banken in der Sowjetwirtschaft. Diss. Berlin 1932, Einleitung. 24 Stein, Jürgen: Banken-System der DDR vor dem Umbruch, in: Die Bank, 2/1990, S. 76-83. Deutsche Bank: „Wirtschafts- und Währungsunion“, Gutachten vom 18. Juni 1990, Abschnitt Bankenwesen, S. 10-11. Deutsche Bundesbank Monatsbericht Juli 1990. Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage in Drucksache 13/5064 vom 26. Juni 1996, S. 7-22. 25 Die folgenden Darstellungen basieren auf der Pressekonferenz der DKB vom 3.2.1994 lt. Abdruck in: Treuhandanstalt Dokumentation 1990-1994, Band 6, S. 709-754.
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Das Aktienkapital wurde wie folgt übernommen:
Staatsbank übrige Aktionäre Synthesewerk Schwarzheide Interhotel-Gruppe Verband der Konsumgenossenschaften Centrum Warenhäuser Insgesamt Grundkapital
Anzahl Aktien zu 1.000 Mark 1.140.000
Anteil am Grundkapital Mark 1.140.000.000
40.000 1.180.000
40.000.000 1.180.000.000
Mit Einbringungsvertrag zwischen der Staatsbank und der DKB vom 21. Juni 1990 wurden die mit den bankgeschäftlichen Aktivitäten der Staatsbank verknüpften Besitz- und Schuldposten mit Wirkung zum 1. April 1990 auf die DKB übertragen. Damit wurde bei der Staatsbank deren bisherige Geschäftsbankfunktion ausgegliedert, so dass nur noch die Notenbankfunktion verblieb. Im Gründungszeitpunkt übernahm die DKB:
Kredite von gewerblichen Unternehmen Kredite von kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsbau sowie gesellschaftlichen Einrichtungen
Anzahl 7.000 1.200
Weiterhin wurden ca. 600.000 Guthabenkonten von natürlichen Personen geführt (davon ca. 315.000 außerhalb der DDR). In der Zentrale Berlin und den 175 Filialen hatte die DKB ca. 12.000 Mitarbeiter, das waren 82 % des Personals der Staatsbank. Ihre Beteiligung an der DKB übertrug die Staatsbank mit Vertrag vom 21. Juni 1990 auf die Treuhandanstalt. Seit Anfang 1993 hielt die Treuhandanstalt nach dem Erwerb der übrigen Aktien das gesamte Grundkapital der DKB. Die Bilanz auf den Gründungszeitpunkt 1. April 1990 wies ein Bilanzvolumen von 286,5 Mrd. Mark der DDR aus. In einer Erläuterung wird zur Aktivseite dieser Bilanz ausgeführt:
Kredite an ehemalige Kombinate und VEB Kredite an den Wohnungsbau einschl. gesellschaftliche Einrichtungen (Kindergärten, Polikliniken, u.a.) Ohne Erläuterung Bilanzvolumen / Aktiva
Mrd. Mark DDR 188,0 71,5 259,5 27,0 286,5
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Zur Passivseite fehlen Erläuterungen, es wird lediglich eine Refinanzierung durch die Staatsbank in Höhe von 225,1 Mrd. Mark erwähnt. Hinsichtlich der DKB enthält ein Beschluss des Ministerrates der DDR vom 13. Juni 1990 eine weitere wichtige Aussage. Es heißt wörtlich: „Der Deutschen Kreditbank AG wird die Auflage erteilt, ihre auf DM umgestellten Kredite und Guthaben weiterhin ordnungsgemäß zu bewirtschaften und die Durchführung des Zahlungsverkehrs zu gewährleisten“. Unter Einbeziehung von Angaben bei Tuttlies26 lässt sich auf der Passivseite rekonstruieren (die Gründungsbilanz ist nicht verfügbar):
Grundkapital Kapitalrücklage der Staatsbank (lt. Tuttlies) Refinanzierung durch die Staatsbank Einlagen der Staatlichen Versicherung und von Firmen (lt. Tuttlies)
rd. Mrd. Mark DDR 1,2 9,8 11,0 225,1 22,0 258,1
Dieser Betrag entspricht den von der DKB auf der Aktivseite aufgeführten Krediten. Der möglichst zügigen Umstellung der Tätigkeit der DKB auf marktwirtschaftliche Strukturen diente die Errichtung der folgenden zwei Joint-Venture-Banken: „Deutsche Bank-Kreditbank AG“ und „Dresdner Bank-Kreditbank AG“ mit Verträgen vom 1. Juni 1990 bzw. 25. Juni 1990. Das Grundkapital verteilte sich wie folgt:
Deutsche Bank Dresdner Bank DKB Ostdeutsche Gründungsaktionäre
Deutsche Bank Kreditbank AG % Mio. DM 49 73,5
Dresdner Bank Kreditbank AG % Mio. DM
47
70,5
39 47
36,8 35,2
4
6,0
4
3,0
51 100
76,5 150,0
51 100
38,2 75,0
26 Tuttlies, Friedrich (Mitarbeiter der Staatsbank, später Vorstandsmitglied der DKB): Zwischen Plan- und Marktwirtschaft, Berlin 2013, S. 182
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Von den Joint-Venture-Banken wurden übernommen:
Deutsche Bank-Kreditbank AG Dresdner Bank-Kreditbank AG
Filialen Anzahl 112 52 164
Mitarbeiter ca. 8.500 3.500 12.000
Verwaltung Altkredit 89 36 125
Mit beiden Joint-Venture-Banken hat die DKB am 28. bzw. 29. Juni 1990 mit Wirkung zum 1. Juli 1990 Geschäftsbesorgungsverträge abgeschlossen. Die JointVenture-Banken übernahmen auf Rechnung und Gefahr der DKB die Verwaltung von Altkrediten und die Durchführung sonstiger Bankleistungen, insbesondere die Abwicklung des Zahlungsverkehrs. Wesentliche Entscheidungen konnten nur auf ausdrückliche Weisung der DKB getroffen werden. Die verwalteten Altkredite hatten die Joint-Venture-Banken getrennt von ihren eigenen Krediten zu führen. Sie verpflichteten sich, etwa 12.000 Mitarbeiter der DKB zu übernehmen und in ihre Ausbildungs- und Fortbildungsmaßnahmen einzubeziehen. Mit Vertrag vom 13.12.1990 hatten die DKB und die anderen Gründungsaktionäre ihre Anteile an der Deutschen Bank – Kreditbank an die Deutsche Bank veräußert. Die Anteile der DKB an der Dresdner Bank – Kreditbank wurden am 5.3.1991 an die Dresdner Bank verkauft. Die in den Geschäftsbesorgungsverträgen für die DKB durchzuführenden Aufgaben wurden nach Auflösung der Joint-Venture-Banken von der Deutschen Bank und der Dresdner Bank unmittelbar wahrgenommen. Nach Einführung eines auf die veränderten Anforderungen ausgerichteten EDV-Systems wurden die Geschäftsbesorgungsverträge im November 1991 inhaltlich und zeitlich gestaffelt mit dem Ziel gekündigt, die bisher übertragenen Aufgaben bis zum 31.3.1993 selbst zu übernehmen.
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Die DM-Eröffnungsbilanz der DKB auf den 1. Juli 1990 zeigt folgende Übersicht:
AKTIVA Forderungen an Kunden Forderungen an Banken Ausgleichsforderungen (fast ausschließlich Kreditabwertungen) Beteiligungen Sonstige Aktiva Liquiditätsreserve Flüssige Mittel Täglich fällige Forderungen an Kreditinstitute
PASSIVA Verbindlichkeiten gegenüber Kreditinstituten kurz- und mittelfristig Langfristig Verbindlichkeiten aus Bankgeschäft gegenüber anderen Gläubigern Kurzfristig Solawechsel im Umlauf Andere Rückstellungen Sonstige Verbindlichkeiten Gezeichnetes Kapital Rücklagen
rd. Mio. DM 108.224 381
rd. % 77 1
17.646
13
217 62 3.066
2
10.060
7
139.656
100
103.921 29
7
27.093 3.000 10 17 134.070 5.000 586 5.586 139.656
19 2
96
4 100
Nach den Anmerkungen zu den Jahresbeschlüssen hat die DKB bis Ende 1992 kein Neugeschäft betrieben.
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Als Forderungen an Kunden werden in der DM-Eröffnungsbilanz ausgewiesen:
An Unternehmen der THA An Nicht THA-Unternehmen An Kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsbau Für den Bau gesellschaftlicher Einrichtungen Abwertungen Bilanzausweis
Mrd. DM 85,7 3,3 30,0 5,0 124,0 -15,8 108,2
Für die THA-Unternehmen hat die Treuhandanstalt gegenüber der DKB zur Entschuldung von Betrieben insgesamt 50,2 Mrd. DM übernommen. In dem Zeitraum von 1990 bis 1992 wurden von der DKB nachstehende Ergebnisse erwirtschaftet:
Zinsüberschuss Provisionsüberschuss (Kontoführungsgebühren) Verwaltungsaufwand Betriebsergebnis Außerordentliches Ergebnis2) Ertragssteuern Jahresüberschuss
Rumpfgeschäftsjahr 1990 TDM 800.263 2.397 802.660 - 308.7391) 493.921 167.285 661.206 -308.577 352.629
1991 TDM 1.220.222
1992 TDM 774.782
8.264
2.222
1.228.486 - 240.803 987.683 61.386 1.049.069 -461.444 587.625
777.004 - 115.594 661.410 485 661.895 -219.158 442.737
1)
Einschließlich 20.319 TDM Wertberichtigungen auf Kreditüberzeichnungen um den 1.7.1990.
2)
Fast ausschließlich Buchgewinn aus Veräußerung der Beteiligungen an den Joint-Venture-Banken.
Lt. Beschluss vom 3.1.1994 wurde an den Aktionär Treuhandanstalt für 19901992 eine Nettodividende von 1.125,4 Mio. DM ausgeschüttet. Nach Beendigung ihrer Tätigkeit Ende 1994 wurde die DKB-Beteiligung von der Treuhandanstalt auf das Bundesministerium der Finanzen übertragen und anschließend an die Bayerische Landesbank veräußert.
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Die Berliner Stadtbank AG, die ebenfalls einen Teil der Geschäftsbankaktivitäten von der Staatsbank übernommen hat, wurde an die Berliner Bank AG verkauft.27 Zur Übernahme der bei der Staatsbank der DDR verbliebenen Notenbankfunktionen wurde die Staatsbank Berlin als Rechtsnachfolgerin errichtet und im Oktober 1994 mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) fusioniert. Als Rechtsnachfolgerin der Bank für Landwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft (BLN) fungierte die Genossenschaftsbank Berlin (GBB). Mit Wirkung vom 1. Juli 1990 wurde deren Bankgeschäft in die Deutsche Genossenschaftsbank (DG Bank) für eine Gegenleistung eingebracht. Die Anteile an der Deutschen Handelsbank AG (DHB) hat die Bank für Gemeinwirtschaft (BfG) erworben. Die Anteile an der Deutschen Außenhandelsbank AG (DABA) wurden an die Westdeutsche Landesbank (WestLB) veräußert, der in einem 1991 abgeschlossenen Geschäftsbesorgungsvertrag ein Vorkaufsrecht eingeräumt worden war. Die Sparkassen in der Bundesrepublik Deutschland sind überwiegend kommunale Anstalten des öffentlichen Rechts. Sie sind Städten, Kreisen oder Gemeinden angeschlossen. Sie betreiben nahezu alle Bankgeschäfte. Die DDR-Genossenschaftsbanken wurden e. G. Banken wie in der Bundesrepublik.28 Beschäftigungsentwicklung im Bankgewerbe in den neuen Bundesländern nach Bankarten
Sektor / Jahr (per 31.12.) Privates Bankgewerbe Private Bausparkassen Sparkassen Sonst. öffentl. rechtl. Institute Genossensch. Kreditgewerbe Gesamtes Kreditgewerbe Bundesbank
1990 14.300 50 27.000 1.650 9.000 52.000 1.250
1991 15.300 150 34.700 1.000 11.400 62.750 1.850
1992 16.450 200 38.200 1.600 13.000 69.450 1.800
1993 16.000 250 38.500 1.700 13.000 69.450 1.850
1994 15.200 250 38.850 1.850 15.000 71.150 1.900
Quelle: Arbeitgeberverband des privaten Bankgewerbes e. V., entnommen aus: Struck 1997, S. 92.
27 Quelle auch zu den folgenden Darstellungen: Deutscher Bundestag, 13 Wahlperiode, Antwort der Bundesregierung vom 26.6.1996 auf eine Große Anfrage, Drucksache 13/5064, S. 12-14, 16 und 21. 28 Struck-Möbbeck, Olaf: Banken, Sparkassen und Versicherungen: Ein eigener Weg der betrieblichen Transformation, in: Hüming, Hasko / Nickel, Hildegard Maria (Hrsg.): Großbetriebliche Dienstleistungen in den neuen Bundesländern, Finanzdienstleistungen, Einzelhandel, Krankenpflege, Opladen 1997.
380
4. Die Schlußbilanzen der Volkseigenen Betriebe der DDR zum 30.6.1990 bestätigen empirisch die These von Ludwig von Mises, dass eine Wirtschaftsrechnung in den Betrieben der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft der DDR unmöglich war Von Horst Hartte 4.1. Die Ludwig von Mises-These von der Unmöglichkeit einer Wirtschaftsrechnung in der politisch natural gesteuerten sozialistischen Zentralplanwirtschaft „Die Geldrechnung in der Marktwirtschaft ist Wirtschaftsrechnung, das bedeutet, sie ist Produktionsrechnung. Man rechnet, um die vorteilhaften (rentablen) Wege der Produktion (im weitesten Sinne des Wortes) von den nicht vorteilhaften (unrentablen) zu unterscheiden. Jeder einzelne Schritt in dem von der Geldrechnung erfassten Handeln wird durch die Geldrechnung geprüft. Das Vorbedenken des Handelns wird zur kaufmännischen Kalkulation, das Nachbedenken des vollzogenen Handelns zur Erfolgsrechnung und Bilanzaufstellung durch die Buchführung“.29 „Nur durch Geldrechnung kann eine zureichende Wirtschaftsführung ermöglicht werden. Freie Konsumwahl bedeutet nämlich nicht nur, daß ein bereits vorhandenes Güterangebot auf die Meistbietenden verteilt wird, sondern auch, daß sich die Erzeugung der Güter auf die Nachfrage ausrichtet. Die Intensität der Nachfrage wird in der Geldwirtschaft nach der Bereitwilligkeit zu Geldaufwendungen gemessen. Um die Produktion der Nachfragegestaltung anzupassen, genügt nicht schon eine Preisbildung der Konsumgüter. Entscheidend ist nicht die absolute Höhe der Konsumgüterpreise, sondern der Vergleich dieser Preise mit den aufzuwendenden Produktionskosten, das heißt den in Geldeinheiten bewerteten Produktionsmittelpreisen. Auf dem Vergleich von Geldgrößen beruht die Gewinnrechnung der Unternehmer, die sogenannte Wirtschaftsrechnung, die nur als eine Geldrechnung gedacht werden kann. Der Geldgebrauch ist insbesondere Voraussetzung für die Herausbildung des Kreditmarktes. Natürlich ist auch in einer naturalen Tauschwirtschaft eine Güterleihe vorstellbar, doch würden sich, entsprechend den schon erwähnten unzähligen Wertbeziehungen in der Naturalwirtschaft, so viele verschiedene Leihmärkte herausbilden, als es verschiedene Gattungen vertretbarer Waren und Leistungen gibt, die in der Gegenwart gegen irgendwelche Versprechungen künftiger naturaler Gegenleistungen hingegeben werden. Der Tausch von gegenwärtigen gegen zukünftige Güter, der eine ganz eigenartige wirtschaftliche Erscheinung ist, ganz unabhängig davon, um welche konkreten Güter es sich im Einzelfall handelt, kann nur als zeitlich auseinanderfallende Hin- und Rückgabe von Geld in reiner Form 29 Mises, Ludwig von: Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens, Genf 1940, S. 218.
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in Erscheinung treten. Dann kann sich auch erst ein einheitlicher Preis für diese völlig einheitliche Leistung herausbilden: denn angeboten und nachgefragt wird jetzt nicht mehr die zeitweilige Verfügung über irgendein spezielles Gut, sondern die zeitweilige Verfügung über das allgemeine Tauschmittel und damit über alle Güter. Im Gelde also finden die Kredite ihren reinen Ausdruck, und erst in der Geldwirtschaft kann der für Kredite zu zahlende Preis in Form des Zinses einheitlich ausgedrückt werden: indem der Zins in Prozenten einer Geldsumme für eine bestimmte Frist festgesetzt wird, abstrahiert er von konkreten Summen und Fristen.
Ludwig von Mises geb. 29.9.1881 in Lemberg (Lvov), Galizien, gest. 10.10.1973 in New York, USA Abdruck des Fotos mit freundlicher Genehmigung von Ulrich Staudinger vom Philosophia Verlag München
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Es kann also festgestellt werden: Die Geldverwendung hat nicht nur dadurch die Ausbildung der Tauschwirtschaft ermöglicht, daß sie den gesellschaftlichen Wirtschaftsprozeß von den Hemmnissen des naturalen Tausches befreite und die Arbeitsteilung sich entwickeln ließ; sie hat vor allem auch gleichzeitig in Form einer allgemeinen Geldpreisbildung die Grundlage für eine zureichende Wirtschaftsrechnung und Wirtschaftsführung geschaffen, durch die allein eine nichtkommunistische gesellschaftliche Wirtschaft geordnet werden kann“.30 „Als ihm die Macht zugefallen war, ging der russische Kommunismus unter Führung Lenins daran, das Wirtschaftsleben auf eine völlig neue Grundlage zu stellen. Lenin hat es noch in der 1920 erschienenen Schrift über die russische Agrarfrage für völlig falsch erklärt, etwa in der Frage des Grundeigentums das wichtigste Problem des Sozialismus zu sehen und es als lächerlich bezeichnet von Sozialismus zu reden, solange der Warenmarkt besteht. Lenin wollte ganze Arbeit machen. Der Krebsschaden der bestehenden Gesellschaft, die Produktion um des Gewinns, des Profites willen, sollte mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden. ‚Man wollte die Bourgeoisie aus ihren letzten ökonomischen Stützpunkten vertreiben und auch die Ansätze zu einem Wiederaufleben des kapitalistischen Systems im Keim vernichten. Zu diesem Zweck führte man einen erbitterten Kampf gegen den Markt‘.31 Die Maßnahmen, die ergriffen wurden, ließen an Radikalismus nichts zu wünschen übrig. Dies ist der Sinn der Wirtschaftsrechnung: daß den Produktpreisen die Produktionskosten gegenübergestellt werden, so daß ohne weiteres festgestellt werden kann, ob in den einzelnen Produktionen Gewinne oder Verluste erzielt werden, ob also die Produktionen ausgedehnt oder eingeschränkt werden sollten. Übrigens muß jetzt gesagt werden, daß die eben angenommene innere Verbundenheit zwischen der Preisbildung der Konsumgüter und der Preisbildung der Arbeit (die Rodbertus gegenüber gefordert werden mußte) in der sozialistischen Wirtschaft gar nicht bestehen kann: die Vergemeinschaftung der sachlichen Produktionsmittel (des Kapitals) zerstört auch diesen tauschwirtschaftlichen Teil des Kollektivismus, der eben von Anfang an den Prinzipien des zentralistischen Sozialismus widersprach. Der Preisbildungsprozeß ist ein Netz unendlicher Wechselbeziehungen, aus dem nicht willkürlich einzelne Teile (Zinspreisbildung) herausgerissen werden können, ohne daß die anderen Teile notwendig Schaden leiden. Werden die Fäden dieser Beziehungen zerschnitten, indem eine tauschwirtschaftliche Preisbildung aller sachlichen Produktionsmittel unmöglich gemacht wird, so fehlt es auch den verbleibenden Teilen des Preisbildungsprozesses an jener ty-
30 Halm, Georg: Geld – Kredit – Banken, München, Leipzig 1935, S. 4. 31 Pollock, Friedrich: Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion 1917-1927, Leipzig 1929, S. 69.
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pisch straffen Verbundenheit, auf deren Vorhandensein die Ordnung und Wirtschaftlichkeit einer Verkehrswirtschaft beruht“.32 Seit der Basisinnovation Geld 550 v. Chr. hatte der Gewinn oder der Verlust die Orientierung beim wirtschaftlichen Handeln gegeben. Mit der Liquidierung von Geld und Markt im Gefolge der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution von 1917 wurde die politisch natural gesteuerte sozialistische Zentralplanwirtschaft orientierungslos und tappte nach Mises im Dunkeln. Diese These von Mises konnte bei den Schlußbilanzen in der DDR-Mark zum 30.6.1990 und den Eröffnungsbilanzen zum 1.7.1990 empirisch überprüft werden. 4.2. Schlußbilanzen der Volkseigenen Betriebe der DDR zum 30.6.1990: Ohne jegliche ökonomische Aussagekraft. Die Notwendigkeit von DM-Eröffnungsbilanzen zum 1.7.1990 „Schlußbilanzen sind Bilanzen am Ende einer Rechnungsperiode, die aus dem Abschluß der bis dahin geführten Sach- und Personenkonten meist unter gleichzeitiger Inventur aufgestellt wird: a) am Ende eines Geschäftsjahres, b) nach erfolgter Abwicklung einer Unternehmung. Die Schlußbilanz wird aus der Summenbilanz und Saldenbilanz entwickelt und weist den Geschäftserfolg sowie die Vermögens- und Kapitalverhältnisse der bilanzierenden Unternehmung aus“.33 Die Inventur ist eine körperliche „Bestandsaufnahme des Vermögens und der Schulden eines Unternehmens zu einem gegebenen Zeitpunkt durch Messen, Wiegen, Zählen. Die Bestandsaufnahme findet ihren Niederschlag im Inventar, einem genauen Verzeichnis aller aufgenommenen Vermögensteile und Schulden. – Die ermittelten Mengen müssen bei (oder nach) der Inventur bewertet werden“.34 Die Bewertung zeigt den realen Wert der Volkseigenen Betriebe zum Zeitpunkt des drohenden Staatsbankrotts und des Zusammenbruchs der DDR 1989/90. Die unter den Bedingungen der sozialistischen Zentralplanwirtschaft der DDR aufgestellten Bilanzen der Volkseigenen Betriebe und Kombinate konnten wegen der systemimmanenten Mängel keine mit marktwirtschaftlichen Maßstäben vergleichbaren Wertverhältnisse abbilden. Das erforderte eine völlige Neuausrichtung der Rechnungslegung, deren Grundlagen in dem D-Mark-Bilanzgesetz von 1990 festgelegt wurden. Die Bilanzierung stand unter der Zielsetzung einer „richtigen“ Darstellung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage. Das bilanzielle Ergebnis (Gewinn/Verlust)
32 Pohle, Ludwig: Kapitalismus und Sozialismus – Vierte völlig neugestaltete und wesentlich erweiterte Auflage. Aus dem Nachlaß herausgegeben, bearbeitet und ergänzt von Dr. Georg Halm, Berlin 1931, S. 243-244. 33 Sellien, R. / Sellien, H. (Hrsg.): Dr. Gablers Wirtschafts-Lexikon, 4. Aufl., 2. Bd., L-Z, Wiesbaden 1961, Sp. 880. 34 Ebd., Sp. 1777.
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wirkte als Zielvorgabe in den Plänen und in der Plankontrolle einschließlich Beurteilung und Wertung der realisierten Ergebnisse. Die größten Probleme ergaben sich daraus, daß die bisherigen Anschaffungsund Herstellungskosten nicht fortgeführt werden konnten. Die „Preise“ für Güter, Waren und Dienstleistungen wurden von staatlichen Stellen in der DDR unter Ausrichtung auf die politisch motivierten Ziele der zentralistischen Planung und nicht über freie Märkte als ökonomische Wertgrößen festgesetzt. Sämtliche fortgeschriebenen und die für neue Produkte hieraus abgeleiteten Preise basieren auf den aus der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft übernommenen Stoppreisen vom Ende Dezember 1944. Die Mark der DDR als Wertmaßstab für die Güter und Dienstleistungen konnte als reine Binnenwährung und bei fehlenden Märkten keine Entscheidungsgrundlage zur ökonomischen Lösung der Knappheit darstellen. Eine zusätzliche Absicherung über das Niederstwertprinzip konnte es nicht geben. Das Anlagevermögen wurde mehrmals nach dem Vorbild einer Wiederbeschaffungsbewertung mit staatlich vorgegebenen Indizes bei gleichzeitiger Verlängerung der Nutzungs- und Abschreibungsdauer aufgewertet und führte auf der Aktivseite der Bilanz zu einer manipulierten Überbewertung. Auf der Passivseite muß dagegen von einer Unterbewertung ausgegangen werden, da Rückstellungen nur in beschränkten Ausnahmefällen zulässig und die sogenannten Drohverlustrückstellungen oder Rückstellungen für Altlastensanierung u. a. nicht bekannt waren. Für die Bilanzansätze und für den Betrieb als Ganzes gab es keine Kontrollen über den Markt. Die Einführung der Deutschen Mark in der DDR zum 1. Juli 1990 machte es notwendig, das Rechnungswesen der Volkseigenen Betriebe mit Sitz in der früheren DDR völlig neu zu ordnen und deren Vermögen neu zu bewerten. Die im Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion35 vereinbarten Umrechnungskurse waren nur auf Forderungen und Verbindlichkeiten anzuwenden.36 Die bloße Umrechnung der in Mark der DDR ausgedrückten anderen Vermögenswerte und Schulden war wegen der sich grundsätzlich ändernden Preis- und Lohnverhältnisse nicht möglich; sie würde zu einer unrichtigen Darstellung der Vermögens- und Finanzlage führen. Im Fall der DDR kam noch hinzu, daß sie sich von den in westlichen Industrieländern üblichen Bilanzierungsgrundsätzen völlig gelöst hatte. Karlheinz Küting und Claus-Peter Weber bemerken in diesem Zusammenhang: „Die Wertansätze der Vermögensgegenstände und Schulden in den bisherigen Jahresabschlüssen von DDR-Unternehmen sind deshalb mit denen in den Jahresabschlüssen von Unternehmen mit Sitz in westlichen Industrieländern nicht vergleichbar und nach Verwirklichung der Währungsunion wegen der im Grundsatz wesentlichen Über-
35 Vertrag über die Schaffung einer Währungs- Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik – Staatsvertrag vom 18. Mai 1990, in: BGBl. II S. 537 f. 36 Ebd., Artikel 10, Abs. 5.
385
bewertung der Vermögensgegenstände (Aktivseite) und der generellen Unterbewertung der Schulden (Passivseite) auch nicht mehr verwendbar“.37 Die Rechnungslegung von Unternehmen der güterwirtschaftlich gelenkten sozialistischen Zentralplanwirtschaft war nach der dargelegten Zielsetzung und inhaltlichen Ausgestaltung auf der Grundlage der bisherigen Bilanzierung nicht in eine marktwirtschaftliche Bilanzierung überzuleiten. Es bestand ein Zwang zu einem totalen Neubeginn. 4.3. Vergleich mit den Goldmarkbilanzen von 1924 und Vergleich mit den DM-Eröffnungsbilanzen von 1948/49 Es stellt sich die Frage, ob Erfahrungen aus vergleichbaren Währungsumstellungen der Vergangenheit nach Beendigung der Inflation durch Einführung der Goldmarkbilanz (Verordnung über Goldbilanzen vom 28. Dezember 1923, RGBl. I, S. 1253) 38 durch die Währungsreform und Einführung der Deutschen Mark am 21. Juni 1948 (Gesetz über die Eröffnungsbilanz in Deutscher Mark) und die Kapitalneufestsetzung (DM-Bilanzgesetz) vom 21. August 1949 (WiGBl. S. 279) auf die deutsche Wiedervereinigung übertragen werden können. Vor Erlaß der Goldmarkbilanz-Verordnung hatte die Geldentwertung durch die Hyperinflation astronomische Ausmaße erreicht. Der Dollarkurs stellte sich im November 1923 auf 4,2 Billionen Mark.39 Ein Wertmaßstab des Geldes war nicht mehr vorhanden. Auch jeglicher Unternehmensrechnung war die Basis entzogen. Die Darstellungen von Vermögen, Aufwand und Ertrag besaßen keinen realen Inhalt. Es wurden Scheingewinne ausgewiesen, deren Ausschüttung und Besteuerung einen Substanzverzehr der Unternehmen bewirkte. Parallel zur Mark hatte sich eine fiktive Goldmark-Währung entwickelt, wobei der Wertmaßstab einer Goldmark dem Dollarwert von 1/2790 kg Feingold entsprach.40 Die Bezeichnung Goldmark bildete das Gegenstück zu der im Umlauf befindlichen „Papiermark“. Bei der Goldmark handelte es sich nicht um eine
37 Küting, Karlheinz / Weber, Claus-Peter: Der Übergang auf die DM-Bilanzierung. Eine praktische Hilfe zur Umstellung der DDR-Bilanzen, Stuttgart 1990, S. 5. 38 Goldmark, während der Inflation nach dem Weltkrieg (1914-18) aus dem Streben nach einem festen, wertbeständigen Maßstab für alle im Wirtschaftsleben, die entweder nach dem Goldgewicht der Mark (1 kg Feingold = 2790 Goldmark) oder nach dem Wert des (damals stabilen) Dollars der Vereinigten Staaten von Amerika (1 Goldmark = 10/42 $) bemessen wurde; bei der Stabilisierung 1924 durch die Reichsmark abgelöst. 39 Tresnak, P.: Zeitgemäße Rückschau auf die Goldbilanzverordnung von 1923, in: Der Wirtschaftsprüfer 1949, S. 6-9 (7). 40 Opel, Kim Holger: Die Goldmarkeröffnungsbilanz 1924 der Franz Haniel & Cie. GmbH im Lichte zeitgenössischer Bilanztheorien, unv. Diplomarbeit, Köln 2005, S. 43.
386
umlaufende Geldeinheit, sondern um eine Wertgröße als buchhalterische Recheneinheit.41 Nach der Verordnung über die Goldmarkbilanzen vom 28. Dezember 192342 mußten buchführende Kaufleute ab dem 1. Januar 1924 ihre Bilanzen in Goldmark aufstellen. Als Goldmark gilt der Gegenwert von 10/42 des amerikanischen Dollars (§ 1 Abs. 2 der Verordnung). Besondere Geldumtauschaktionen waren nicht erforderlich, da eine gewisse Zeit nach der Währungsumstellung ein Nebeneinanderlaufen der Papiermark und der Rentenmarkscheine gegeben war, dabei galt ein Papiermarkschein über eine Billion Mark gleich einem Schein von einer Rentenmark.43 Im Jahre 1924 war die deutsche Wirtschaft durch Besetzung des Ruhrgebiets (1923)44 geschwächt, „[...] aber alles in allem genommen war sie intakt; es waren auch ausreichende Warenvorräte vorhanden“.45 Für die Aufstellung auf Goldmark lautender Bilanzen ab 1924 mußten daher keine spezifischen Vorschriften über eine Neubewertung von Vermögensposten u. ä. erlassen werden. In § 3 der Verordnung wird bestimmt, daß für die Aufstellung der Bilanzen „[...] die allgemein nach dem Gesetz oder der Satzung geltenden Vorschriften Anwendung“ finden. Da bei vielen Unternehmen die Befürchtung über die Einführung einer Vermögensabgabe bestand, wurden die Möglichkeiten für eine Unterbewertung und Legung von stillen Reserven genutzt. Diese Gegebenheiten lassen sich nicht auf die deutsche Wiedervereinigung 1990 übertragen. Vergleich mit DM-Eröffnungsbilanzen von 1948. Auch bei der Währungsreform und Einführung der Deutschen Mark am 21. Juni 1948 waren andere Verhältnisse gegeben. Die wesentlichen Unterschiede für die Unternehmensrechnung stellten die Umstellung der Währungs- und Schuldverhältnisse, die Aufhebung der
41 Ebd., S. 43. 42 RGBl I, S. 1253, Reichsanzeiger vom 29. Dezember 1923. 43 Opel, Kim Holger: Die Goldmarkeröffnungsbilanz 1924 der Franz Haniel & Cie. GmbH im Lichte zeitgenössischer Bilanztheorien, S. 14. 44 Die Weimarer Republik war durch den Versailler Vertrag von 1919 verpflichtet, Reparationen an die Siegermächte des Ersten Weltkriegs zu leisten. Zwischen dem 11. und dem 16. Januar 1923 besetzten französische und belgische Truppen in einer Stärke von anfangs 60.000, später 100.000 Mann das gesamte Ruhrgebiet, um die dortige Kohle- und Koksproduktion als „produktives Pfand“ zur Erfüllung der deutschen Reparationsverpflichtungen zu sichern. Während des „passiven Widerstandes“ wurden die Löhne von etwa zwei Millionen Arbeitern des Ruhrgebiets vom Staat übernommen, zu diesem Zweck wurde mehr Geld gedruckt. Dieses Vorgehen konnte nicht längere Zeit durchgehalten werden, da sich die Wirtschaftskrise verstärkte und Inflation und Produktions- und Steuerausfälle den reichsdeutschen Haushalt belasteten. Krüger, Gerd: „Aktiver“ und passiver Widerstand im Ruhrkampf 1923, in: Besatzung. Funktion und Gestalt militärischer Fremdherrschaft von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, hrsg. von Günther Kronenbitter, Markus Pöhlmann und Dierk Walter, Paderborn, München, Wien, Zürich 2006 (Krieg in der Geschichte, 28), S. 119-130. 45 Tresnak, P.: Zeitgemäße Rückschau auf die Goldbilanzverordnung von 1923, S. 9.
387
„bürokratischen Zwangswirtschaft“, der zu erwartende Wiederanschluß an den Weltmarkt und die notwendige Bereinigung der Kriegs- und Kriegsfolgeschäden dar.46 Für die Unternehmensrechnung begann mit der Aufstellung der DMEröffnungsbilanz ein totaler Neubeginn. Da sich die Preise auf den Märkten erst herausbilden mußten, wurden verlängerte Fristen eingeräumt mit der Möglichkeit einer Rückbeziehung der Preise. Grundsätzlich waren Neubewertungen auf den Umstellungsstichtag durchzuführen, wobei für die Grundstücke Vereinfachungen durch Ansatz der steuerlichen Einheitswerte eingeräumt wurden. Auch diese Erfahrungen ließen sich wegen der nicht vergleichbaren Ausgangslage nicht auf die Eröffnungsbilanzen der DDR-Wirtschaft übertragen. Bei der westdeutschen Währungsreform existierten Unternehmen in Privateigentum. Trotz der aus der NS-Zeit fortgeführten Lenkungsmaßnahmen waren die Unternehmen in Märkte eingebunden und keine untergeordneten strikten Befehlsempfänger. Aus diesen Gründen war ein „Gespür“ für eine Marktwirtschaft und unternehmerisches Handeln mit eigenen Chancen und Risiken vorhanden. Diese Voraussetzung fehlte als wesentliches Kriterium in der DDR-Wirtschaft. Die Rahmenbedingungen der güterwirtschaftlich gelenkten sozialistischen Zentralplanwirtschaft haben zu völlig abweichenden Bilanzinhalten geführt. Daher konnten die Eröffnungsbilanzen auch nicht über eine sog. „Brückentheorie“ aus den DDR-Bilanzen abgeleitet werden. Eine derartige Überleitung zwischen den jeweiligen Bilanzposten der DDR-Bilanzen auf die Gliederung in den DMEröffnungsbilanzen wurde vom Statistischen Amt der DDR entwickelt und ein Formblatt für diese „Bilanzbrücke“ veröffentlicht. 4.4 Vergleichende Betrachtung zwischen der Schlußbilanz in Mark der DDR zum 30.6.1990 und der DM-Eröffnungsbilanz zum 1.7.1990 In diesem Kapitel soll eine empirische Belegung durch Gegenüberstellung von DDR-Schlußbilanzen mit den entsprechenden Eröffnungsbilanzen erfolgen. Der Jahresabschluß (Bilanz und Erfolgsrechnung) stellt in beiden Wirtschaftssystemen eine Bestandsaufnahme der Betriebe zum jeweiligen Abschlußzeitpunkt dar. Zur Einordnung in die Wirtschaftsrechnung führt Ludwig von Mises aus: „Wie jedes Handeln auf die Zukunft gerichtet und mit all der Ungewißheit behaftet ist, die die Zukunft dem menschlichen Geist birgt, so ist auch die Wirtschaftsrechnung ein Rechnen mit Künftigem und Ungewissem, ein Tasten im Dunkeln 25und Unerforschten. In der kaufmännischen Kalkulation geplanter Unternehmungen liegt dieses spekulative Element offen zutage. Doch auch mit der Überprüfung des Erfolges des vollzogenen Handelns, mit dem Abschluß der Bücher und der Aufstellung von Bilanzen und von Gewinn- und Verlustrechnungen steht es nicht anders. Alle Bilanzen sind Zwischenbilanzen, denn sie erfassen nur den
46 Merkle, Franz: DM-Eröffnungsbilanzen, in: Seischab, Hans / Schwantag, Karl (Hrsg.): Handwörterbuch der Betriebswirtschaftslehre, 3. Aufl., Bd. I, Sp. 1443-1453, Stuttgart 1956.
388
Stand an einem willkürlich herausgegriffenen Zeitpunkt, während Leben und Handeln weitergehen. Alle Bilanzwerte sind auf die Zukunft gerichtete Bewertungen“.47 Nach der „Anordnung über den Abschluß der Buchführung in Mark der DDR zum 30.6.1990 vom 27.6.1990“ hatten die DDR-Betriebe eine Schlußbilanz in Mark der DDR auf den 30. Juni 1990 aufzustellen. Der Stichtag für die DMEröffnungsbilanz der DDR-Betriebe war der 1. Juli 1990 und knüpfte daher unmittelbar an die vorausgehende Schlußbilanz an. Damit erfolgte eine Bestandsaufnahme der Betriebe faktisch auf den gleichen Zeitpunkt nach den Grundsätzen der güterwirtschaftlich gelenkten sozialistischen Zentralplanwirtschaft und nach den Kriterien der freien Marktwirtschaft. Aus einem Vergleich dieser „Bestandsaufnahmen“ – unter Berücksichtigung einer Umwertung entsprechend der Währungsumstellung – kann eine Aussage über die ökonomische Qualität dieses Informationsinstruments für die Wirtschaftsrechnung getroffen werden. Bei dem Übergang auf das marktwirtschaftliche System mit der Erstellung einer Eröffnungsbilanz müßten bei einer realen ökonomischen Bilanzierung die Vermögensposten bei gleichartiger Umwertung unverändert die grundsätzlich im Verhältnis 2:1 umgewerteten Schulden decken. Unter dieser Prämisse werden im Folgenden empirische Fälle dargestellt. Die jeweilige DDR-Schlußbilanz wird bei allen Vermögens- und Schuldposten zunächst im Verhältnis der Schuldenumrechnung umgewertet. Diese Ergebnisse werden anschließend mit den realen Ergebnissen der marktwirtschaftlichen DM-Eröffnungsbilanz verglichen. Da der Grund und Boden als Volkseigentum in den DDR-Bilanzen nicht enthalten war, wurde aus Vergleichsgründen beim Ansatz in der DM-Eröffnungsbilanz eine Eliminierung vorgenommen. Zu den für die DM-Eröffnungsbilanz geltenden Bilanzierungsgrundsätzen sollen als wesentliche Faktoren der Ansatz von Wiederbeschaffungswerten und die grundsätzliche Ausrichtung auf eine Unternehmensfortführung angeführt werden. Durch den Ansatz von Wiederbeschaffungswerten ist eine mögliche Begrenzung durch die Bindung an historische Anschaffungskosten entfallen. Bei bilanzmäßigen Unterdeckungen wurden Bilanzierungshilfen gewährt.48 Es ergeben sich nachstehende Vergleiche:
47 Mises, Ludwig von: Nationalökonomie, Genf 1940, S. 201. 48 Elkart, Wolfgang / Pfitzer, Norbert: Grundlinien der D-Mark-Eröffnungsbilanz – Einführung und Bilanzierungskonzeption, in: Betriebs-Berater 1990, Supplement Deutsche Einigung, Rechtsentwicklungen, Folge 15, S. 10-27. Küting, Karlheinz / Weber, Claus-Peter: Der Übergang auf die DM-Bilanzierung. Eine praktische Hilfe zur Umstellung der DDR-Bilanzen; Strobel, Wilhelm: DM-Eröffnungsbilanz. Leitfaden für Unternehmer und Berater, Herne/Berlin 1990.
389
a) „Neutral“ – GmbH DDRSchlußbilanz
Nettowert Sachanlagen Ausgliederung Grund und Boden Anlagen im Bau Sachanlagen Vorräte Lieferforderungen Forderungen Kombinat/Staat Sonstige Forderungen Flüssige Mittel Gesamtvermögen Abzügl. Fremdmittel: Sozial-, Prämien-, Leistungsfonds Rückstellungen (Fonds) Passive Abgrenzungen Bankverbindlichkeiten Lieferverbindlichkeiten Verbindlichkeiten Kombinat/Staat Sonstige Verbindlichkeiten Eigenmittel
TM 7.758
DMEröffnungsbilanz
TDM 3.879
TDM 1.896
115 3.994 297 50
./.130 ____ 1.766 227 157
214
107
-
0 774 1.681 9.669
387 841 4.835
387 771 2.537
230 7.988 593 100
%
bei Umwertung
83
17 100
28
14
-
-
355
53 828 406
27 414 203
414 203
152
76
76
9
4
8
./. 738 +4.097
./. 1.056 +1.481
1.476 8.193
15 85
%
Abweichung gegenüber Umwertung TDM
70
./. 2.228
30 100
./. 70 ./. 2.298
./ .42 58
./ 318 ./. 2.616
Gegenüber den Wertansätzen lt. Umwertung liegen die effektiven eigenen Mittel lt. DM-Eröffnungsbilanz um 64 %, d. h. zwei Drittel, niedriger. Diese Abweichung betrifft überwiegend die Überbewertung der Grundmittel (Sachanlagen), die den wesentlichen Anteil an der Bilanzsumme darstellen.
390
b) I.S.T.C. (Tiefbaukombinat Cottbus) DDR-Schlußbilanz
TM Nettowert Sachanlagen Ausgliederung Grund und Boden Bodennutzungsgebühr Anlagen im Bau Finanzanlagen
Vorräte Lieferforderungen Forderungen unterstellte Betriebe, Staatshaushalt u. a. Sonstige Forderungen Aktive Abgrenzungen Flüssige Mittel Gesamtvermögen
%
104.722
bei Umwertung
DMEröffnungsbilanz
TDM
TDM
52.361
9.926
%
Abweichung gegenüber Umwertung TDM
45
./. 28.219
55 100
./.31.347 ./.59.566
./. 2.761
538
269
3.287 108.547
1.644 54.274
865 18.025* 26.055
71.336 16.910
35.668 8.455
2 8.112
10.364
5.182
14.069
17.492
8.746
4.900
324 9.511 125.937 234.484
162 4.755 62.968 117.242
96 4.442 31.621 57.676
46
54 100
-
* Dieser Posten resultiert aus der Umstrukturierung durch die rechtliche Verselbständigung von Betriebsbereichen.
391
Übertrag Gesamtvermögen abzüglich Fremdmittel: Rückstellungen (Fonds) Passive Abgrenzungen Bankkredite Lieferverbindlichkeiten Verbindlichkeiten gegenüber unterstellten Betrieben, Staatshaushalt u. a. übrige Verbindlichkeiten Eigenmittel
TM
%
TDM
TDM
%
TDM
234.484
100
117.242
57.676
100
./. 59.566
3.150
9.078
131 53.059
65 26.530
34.042
7.879
3.940
970
8.553
4.276
4.084
7.153 ./. 45.114 72.128
1.473 ./. 49.647 8.029
./.86 14
./.4.533 ./ 64.099
6.300*
14.306 ./. 90.228 144.256
./.38 62
.
* Fonds mit Verpflichtungscharakter.
Gegenüber der normalen Umwertung zeigen die Sachanlagen (Grundmittel) unter Einbeziehung der Finanzanlagen aus der Umstrukturierung eine Minderung um ca. 50 %. Der nahezu vollständige Wegfall der Vorräte ist auf die Übertragung der operativen Betriebsbereiche auf rechtlich selbstständige Einheiten und Einbringung in diese Beteiligungen (Finanzanlagen) zurückzuführen. Da in den Finanzanlagen hierfür ein Wertanteil enthalten ist, ergibt sich bei dessen Ausgliederung (dieser Anteil läßt sich wegen der Verknüpfung mit anderen ebenfalls übertragenen Posten, wie z. B. Forderungen und Verbindlichkeiten, nicht exakt quantifizieren) eine höhere Abwertungsquote bei den Sachanlagen (Grundmitteln). Unter den Schuldposten liegen die Rückstellungen um rund 6 Mio. DM über dem laut Umwertung ermittelten Wert. Dies bedeutet, daß in der Vergangenheit „Kosten“ in dieser Größenordnung nicht verrechnet wurden mit der Folge eines überhöhten Gewinnausweises.
392
c) Herstellung Metallwaren DDRSchlußbilanz
TM Nettowert Sachanlagen
%
2.504
Ausgliederung Grund und Boden Anlagen im Bau
bei Umwertung
TDM
TDM
1.252
600
64 2.568 1.212 422
59
32 1.284 606 211
571 212 269
34
-
Gesamtvermögen
59 1.760 4.328
29 880 2.164
30 511 1.082
abzüglich Fremdmittel: Rückstellungen (Fonds)
20
10
90
Passive Abgrenzungen
29
14
-
Bankverbindlichkeiten
988
494
494
Lieferverbindlichkeiten
120
60
60
69
35
-
Eigenmittel
41 100
34 .
53
./. 713
47 100
./. 369 ./. 1.082
./. 65 35
./. 68 ./ 1.150
-
67
Verbindlichkeiten gegenüber unterstellten Betrieben, Staatshaushalt u. a. sonstige Verbindlichkeiten
%
Abweichung gegenüber Umwertung TDM
./. 29
-
Vorräte Lieferforderungen Forderungen unterstellte Betriebe, Staatshaushalt u. a. Sonstige Forderungen Flüssige Mittel
DMEröffnungsbilanz
17 .
./ 1.260 ./ 29 3.068 71
.
./ 630 1.534
54 .
./ 698 384
.
393
Die wesentlichen Abweichungen im Vergleich zur Umwertung liegen hier bei den überbewerteten Sachanlagen (Grundmitteln) und Vorräten. d) Bauunternehmen DDRSchlußbilanz TM Nettowert Sachanlagen
%
2.743
TDM
Abweichung DMEröffnungsbilanz gegenüber Umwertung TDM % TDM
1.372
576
-
./. 153
1.372 1.837
423 321
814
407
407
418
209 23
23
64
2.476
100
Ausgliederung Grund und Boden
Vorräte Lieferforderungen
bei Umwertung
2.743 3.675
36
./. 949
751
64
./. 1.725
3.848
1.174
100
./. 2.674
77
39
293
1.664
832
832
1
-
1
19
10
7
14
38
./. 895 2.953
./. 1.171 3
./. 99 1
./. 276 ./. 2.950
36
Forderungen Kombinat/ Staatshaushalt Flüssige Mittel 45
Gesamtvermögen abzüglich Fremdmittel: Rückstellungen (Fonds mit Verpfl.Charakter) Bankverbindlichkeiten Lieferverbindlichkeiten Verbindlichkeiten Kombinat/ Staatshaushalt sonstige Verbindlichkeiten
Eigenmittel
4952 7.695
28 ./. 1.789 ./. 23 5.906 77
394
Auch bei diesem Unternehmen liegen die wesentlichen Abwertungen bei den Sachanlagen (Grundmitteln) und den Vorräten. Hinzu kommen bisher nicht erfaßte Rückstellungen mit der Folge von bisher nicht verrechneten Kosten. e) Gummiwerke Liegau DDRSchlußbilanz
Nettowert Sachanlagen Ausgliederung Grund und Boden
Vorräte Lieferforderungen Sonstige Forderungen Aktive Abgrenzung Flüssige Mittel Gesamtvermögen abzüglich Fremdmittel: Rückstellungen (Fonds) Bankverbindlichkeiten Lieferverbindlichkeiten Verbindlichkeiten Staatshaushalt sonstige Verbindlichkeiten Eigenmittel
TM 18.656
18.656 4.022 1.330 984 83 126 6.545 25.201
%
bei Umwertung TDM
DMEröffnungsbilanz
TDM 3.169
74
9.328
./. 549 2.620
26 100
2.011 665 492 42 63 3.273 12.601
632 407 460 9 63 1.571 4.191
63
./. 6.708
37 100
./. 1.702 ./. 8.410
./. 3.527 ./. 4.689 ./. 112
./. 1.162
193
97
1.463
5.945
2.973
2.800
783
391
366
17
8
-
58
60
115 ./. 7.053
./. 28
18.148
72
%
Abweichung gegenüber Umwertung TDM
9.074
./. 498
./. 12
./ 9.572
Hier entfallen 70 % der Abwertung auf die überbewerteten Sachanlagen (Grundmittel), die zum Teil auf überhöhte Valutawerte für Maschinenimporte zurückgehen. Die restliche Abwertung verteilt sich auf die Vorräte und Rückstellungen.
395
f) Zimmerei
DDR-Schlußbilanz
TM
%
bei Umwertung TDM
DMEröffnungsbilanz TDM
%
Abweichung gegenüber Umwertung TDM
Nettowert
Sachanlagen Aussonderung Grund und Boden
Vorräte Gesamtvermögen abzüglich Fremdmittel: Rückstellungen (Fonds) Bankkredite Lieferverbindlichkeiten Sonstige Verbindlichkeiten Eigenmittel
*
288
144
174
+ 30
288
77
144
-* 174
63
+ 30
85 373
23 100
43 187
103 277
37 100
+ 60 + 90
./. 23 ./. 77
./. 12 + 78
-
-
6
71
35
35
1
1
1
17 ./. 53 134
23 ./. 65 212
34 ./. 106 267
./. 28 72
Die Bauten befinden sich auf fremden Grundstücken.
Dieser Ausnahmefall mit einer positiven Abweichung geht auf die Struktur und das Volumen der Einsatzfaktoren mit geringen Risiken zurück. Im Übrigen wird dokumentiert, daß die in der DM- Eröffnungsbilanz angewandten Prinzipien einen positiven Bewertungsgrundsatz darstellen.
396
g) Seehafen Rostock – Aktiengesellschaft (SHR-AG) DDR-Schlußbilanz
TM Nettowert Sachanlagen Ausgliederung Grund und Boden
Vorräte Lieferforderungen Sonstige Forderungen Aktive Abgrenzung Flüssige Mittel
%
bei Umwertung
DMEröffnungsbilanz
TDM
TDM
1.240.867
459.446
1.240.867 28.144
./.18.000 441.446 15.834
19.367
9.683
9.983
3.108
1.554
15.111
506 23.120 102.389
4
253 11.560 51.194
2.584.122
100
2.481.733
%
Abweichung gegenüber Umwertung TDM
89
./. 799.421
15 11.693 52.636
11
+ 1.442
1.292.061
494.082
100
./.797.979
6.403 53.700
3.201 26.850
48.021 26.850
641
320
328
5.407
2.704
1.598
217 ./. 33.292 1.258.769
10 ./. 76.807 417.275
./.16 84
./. 43.515 ./. 841.494
2.481.733 56.288
96
Gesamtvermögen abzüglich Fremdmittel: Rückstellungen (Fonds) Bankkredite Lieferverbindlichkeiten Sonstige Verbindlichkeiten Passive Abgrenzung Eigenmittel
433 66.584 2.517.538
./. 3 97
Gegenüber der nominellen Umwertung ergibt sich bei den Sachanlagen (Grundmitteln) eine Wertminderung von fast zwei Dritteln (64,4 %). Das Vorratsvermögen schrumpft nahezu auf die Hälfte. Zu den sonstigen Forderungen enthält der Bilanzanhang keine Erläuterungen. Aufgrund von Hinweisen auf Ausgliederungen von Vermögensposten dürfte die Sonderentwicklung mit diesen Sachverhalten in Verbindung stehen. Bei den Rückstellungen erscheint ein Zusatzbedarf von 45 Mio. DM, der durch das bisherige Ansatzverbot dieses Schuldpostens verursacht wurde.
397
h) Gothaer Fahrzeugwerke GmbH DDR-Schlußbilanz
TM Nettowert Sachanlagen Ausgliederung Grund und Boden Vorräte Lieferforderungen Sonstige Forderungen Aktive Abgrenzung Flüssige Mittel Gesamtvermögen abzüglich Fremdmittel: Rückstellungen (Fonds) Bankkredite Lieferverbindlichkeiten Sonstige Verbindlichkeiten Passive Abgrenzung Eigenmittel
%
bei Umwertung
TDM
170.350
DMEröffnungsbilanz
TDM
43
./. 38.576
60.849
85.175 48.864
./.14.250 46.599 36.041
46.328
23.164
22.391
400
200
346
628
314
50
3.746
1.873
1.875
170.350 97.727
%
Abweichung gegenüber Umwertung TDM
53
148.829
47
74.415
60.703
57
./. 13.712
319.179
100
159.590
107.302
100
./. 52.288
./.76 24
./.6.732 ./.59.020
1.696
848
9.105
80.161
40.081
40.080
64.134
32.067
32.174
3.915
1.958
358
63
31
–
./.74.985 84.605
./. 81.717 25.585
149.969 169.210
./.47 53
Die ehemalige Gothaer Waggonfabrik wurde lt. SMAD-Befehl Nr. 64 vom 1. Juni 1948 enteignet. Seit 1984 produzierte der Volkseigene Betrieb Fahrgestelle einschließlich Ersatzteile für das PKW-Modell „Wartburg“. In diesem fertigungsintensiven Betrieb zeigen die Sachanlagen (Grundmittel) einen Wertverlust gegenüber der Umwertungsbasis von 45 %. Bei den Vorräten dürfte die moderate Abwertung mit der Ersatzteilfertigung zusammenhängen. Auch bei diesem VEB zeigen die Rückstellungen einen erheblichen Nachholbedarf.
398
i)
Obererzgebirgische Posamenten- und Effekten-Werke GmbH DDRSchlußbilanz
TM Nettowert Sachanlagen Ausgliederung Grund und Boden Vorräte Lieferforderungen Sonstige Forderungen Flüssige Mittel Gesamtvermögen abzüglich Fremdmittel: Rückstellungen (Fonds) Bankkredite Lieferverbindlichkeiten Sonstige Verbindlichkeiten Eigenmittel
%
162.675
bei Umwertung
DMEröffnungsbilanz
TDM
TDM
81.338
82.759
%
Abweichung gegenüber Umwertung TDM
70
./. 19.293
./.20.714 162.675 106.489
81.338 53.245
62.045 20.479
7.902
3.951
3.753
5.509 77 119.977
42
2.754 38 59.988
2.753 39 27.024
30
./. 32.964
282.652
100
141.326
89.069
100
./. 52.257
166 87.750
83 43.875
18.403* 43.875
15.142
7.571
7.536
1.165 ./. 52.694 88.632
1.165 ./. 70.979 18.090
./.80 20
./. 18.285 ./.70.542
2.330 ./. 105.388 177.264
58
./. 37 63
* ohne Risiken aus Reprivatisierungsansprüchen
Der Abwertungsbedarf der Sachanlagen (Grundmittel) liegt hier bei knapp einem Viertel und bei den Vorräten bei fast zwei Dritteln. Unter den ausgewiesenen Rückstellungen ist ein Ausgleichsposten für Vermögenswerte enthalten, für die Reprivatisierungsansprüche abgewiesen wurden. Da dieser Posten keine Wertkorrektur, sondern eine Wertzurechnung darstellt, wurde eine Ausgliederung vorgenommen. Der Rückstellungsansatz dokumentiert, daß im DDR-Abschluß praktisch keine Rückstellungen und die damit verbundenen Kosten erfaßt wurden.
399
In Relation zu dem anhand der gleichartigen nominellen Umwertung abgeleiteten Gesamtvermögen zeigen die empirischen Fälle nachstehende Wertverluste: „Neutral“ – GmbH Mio. DM
%
Tiefbaukombinat Cottbus Mio. DM
%
Herstellung Metallwaren Mio. DM %
Gesamtminderung
./. 3
100
./. 64
100
1,0
100
darunter Sachanlagen Vorräte Rückstellungen Übrige (Saldo)
./. 2 ./. 1 -
67
./. 45 ./. 35 ./. 6 + 22*
70 54 9 ./.33
0,7 0,3 -
70 30
./. 3
100
./. 64
100
1,0
100
33
* davon 18 Mio. DM für den Ansatz rechtlich verselbständigter Betriebsteile als Beteiligungswerte Bauunternehmen Mio. DM Gesamtminderung darunter Sachanlagen Vorräte Rückstellungen Übrige (Saldo)
Gesamtminderung darunter Sachanlagen Vorräte Rückstellungen Übrige (Saldo)
%
Gummiwerke Liegau Mio. DM
%
Seehafen Rostock Mio. DM
%
./. 3,0
100
./. 10
100
./. 841
100
./. 0,9 ./. 1,7 ./.0,2 ./. 0,2 ./. 3,0
30 56 7 7 100
./. 7 ./. 2 ./. 1 – ./. 10
70 20 10 – 100
./. 799 ./. 12 ./. 45 + 15 ./. 841
96 1 5 ./. 2 100
Gothaer Fahrzeugbau Mio. DM % ./. 59 100 ./. 39 ./. 13 ./. 9 + 2 ./. 59
66 22 15 ./. 3 100
Obererzgebirge Effekten Mio. DM % ./. 71 100 ./. 19 ./. 33 ./. 19 0 ./. 71
27 46 27 0 100
400
Eine Zusammenfassung der aufgeführten Betriebe ergibt nachstehende Untergliederung der Minderungen:
Grundmittel (Sachanlagen) Vorräte Rückstellungen Übrige (Saldo)
Mio. DM ./. 896 ./. 97 ./. 81 + 22
% 85 9 8 ./. 2
./. 1.052
100
In den hohen Wertverlusten der Sachanlagen kommt der Verschleiß des Kapitalstocks und die mangelnde Modernität zum Ausdruck. Wegen der als Ausfluß der zentralistischen Kommandowirtschaft durch Gesetze und Verordnungen vorgegebenen einheitlichen Bilanzierungsgrundsätze – die Einräumung von Ansatz- und Bewertungswahlrechten hätte den Betrieben ein Ausbrechen aus dem starren Planungs- und Kontrollsystem ermöglicht – können die aus den aufgeführten Fällen abgeleiteten Aussagen als repräsentativ eingestuft werden. Die Eigenmittel (Nettovermögen) als Ausdrucksform der eigenen Unternehmenssubstanz zeigen insgesamt nachstehende Veränderungen: lt. Umwertung DDR-Schlußbilanz Mio. DM „Neutral“ – GmbH Tiefbaukombinat Cottbus Herstellung Metallwaren Bauunternehmen Gummiwerke Liegau Seehafen Rostock Gothaer Fahrzeugbau Obererzgebirge Effekten
4
lt. DMEröffnungsbilanz Mio. DM (gerundet) 1
Abweichung Mio. DM ./. 3
72
8
./. 64
2
1
./. 1
3
---
./. 3
9
./. 1
./. 10
1.258
417
./. 841
85
26
./. 59
89
18
./. 71
1.522 100 %
470 31 %
./. 1.052 ./. 69%
401
Diese Übersichten belegen auf empirischer Basis die Notwendigkeit des DMBilanzgesetzes und die erforderliche Neubewertung. Weiterhin läßt sich hieraus ableiten, daß die DDR-Bilanzen keinen Aussagewert über das in den Betrieben effektiv eingesetzte Nettovermögen vermitteln konnten. Dies gilt in gleicher Weise für die aus dem Vermögensvergleich am Anfang und am Ende der Abrechnungsperiode ermittelten Ergebnisse. Die Bilanzen der DDR-Betriebe wurden somit ihrer eigentlichen Funktion einer realistischen ökonomischen Darstellung der Vermögens- und Ertragslage nicht gerecht. 4.5. Auswertung der ersten hundert veröffentlichten DM-Eröffnungsbilanzen Auch die Auswertung49 der ersten hundert im Bundesanzeiger veröffentlichten DM-Eröffnungsbilanzen zeigt eine hohe Rückstellungsintensität (Relation der Rückstellungen zur Bilanzsumme = Gesamtvermögen). Dies bestätigt, daß in den DDR-Bilanzen durch das Rückstellungsverbot enorme Risiken und die damit verbundenen Kosten nicht erfaßt wurden. Das Sachanlagevermögen ist von einem hohen Anteil – des früher im Volkseigentum stehenden – Grund und Bodens geprägt. Der relativ niedrige Anteil der übrigen Sachanlagen dokumentiert den technischen Rückstand der Anlagen. Dies bestätigt ebenfalls die Feststellungen von Ludwig von Mises, daß die Bilanzen der sozialistischen Zentralplanwirtschaft als ein Instrument des „Nachbedenkens des vergangenen Handelns“50 und Grundlage für das „Vorbedenken künftigen Handelns“51 keine Informationen von ökonomischer Qualität für Entscheidungen der Betriebe liefern können. In gleicher Weise kann die Gewinn- und Verlustrechnung kein realistisches Ergebnis aus dem zu betrachtenden Handeln52 darstellen. 4.6. Ergänzende Bestätigung durch die Gesamteröffnungsbilanz der Treuhandanstalt Am 15. Oktober 1992 wird die Gesamteröffnungsbilanz für auf die Treuhandanstalt übertragenen rund 8.500 Unternehmen und sonstiges Vermögen zum Stichtag des 1. Juli 1990 vorgelegt. Sie weist als Summe des Anlage- und Umlaufvermögens Aktiva von rund 260 Milliarden DM aus. Dem stehen Belastungen auf der Passivseite von 520 Milliarden DM gegenüber, darunter rund
49 Hosterbach, Ulrich: Bilanzanalytische Auswertung der DM-Eröffnungsbilanzen, Diplomarbeit, Saarbrücken 1992, insbesondere S. 8 ff. und S. 36 ff. Küting, Karlheinz / Pfuhl, Joerg: Bilanzanalytische Auswertung der D-Markeröffnungsbilanzen, in: Betriebs-Berater 1992, Beilage 12, Heft 19, S. 1-16 (S.15). 50 Mises, Ludwig von: Nationalökonomie, Genf 1940, S. 198. 51 Ebd., S. 199. 52 Ebd., S. 199.
402
320 Milliarden DM an Rückstellungen und etwa 160 Milliarden DM an Verbindlichkeiten. Der Anteilsbesitz der Treuhandanstalt, der in ihrer Eröffnungsbilanz zum 1. Juli 1990 ausgewiesen ist, beträgt 81 Milliarden DM, wird aber um das Vierfache durch Lasten, Verluste und Risiken übertroffen, die in Erfüllung des gesetzlichen Auftrags von der Treuhandanstalt übernommen werden müssen. So erfordern Rückstellungen für die Neustrukturierung der Unternehmen allein 215 Milliarden DM. 53 Anstelle anfangs erwarteter Überschüsse weist die Eröffnungsbilanz ein hohes Defizit aus, natürlich auch mit Folgen für den wirtschaftlichen Vereinigungsprozeß. Diese Gesamtbetrachtung bestätigt die vorstehend für einzelne volkseigene Betriebe ermittelten Ergebnisse. Der ehemalige Finanzminister des Bundeslandes Sachsen-Anhalt, Karl-Heinz Paqué, kommt in seiner wirtschaftlichen Analyse der Deutschen Einheit zu einem klaren Ergebnis: „Das Ergebnis (nach 20 Jahren Wiedervereinigung – H. H.) ist allerdings nur ein Teilerfolg, zumal wenn man es an den überzogenen Erwartungen der frühen 1990er-Jahre misst. Aber das liegt nicht an schweren Fehlern der Politik, sondern an den wirtschaftlichen Flurschäden, die vier Jahrzehnte der Abschottung vom Weltmarkt in Ostdeutschland – und ebenso in Mitteleuropa – hinterlassen haben. Diese Schäden werden bis heute unterschätzt. [...] Es geht dabei vor allem um die Zerstörung der industriellen Innovationskraft. Diese wiederherzustellen wird noch lange eine wichtige politische Aufgabe bleiben, in Deutschland und Europa“.54 Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die vorstehenden Ergebnisse die fehlende ökonomische Qualität der DDR-Bilanzen bestätigen: Die in den DDR-Bilanzen angesetzten Anschaffungs- und Herstellungskosten basieren nicht auf aus den Märkten abgeleiteten ökonomischen Werten, da die „Preise“ durch den Staat festgesetzt wurden. Hinzu kommt ein nach dem Marx’schen Wertgesetz ideologisch ausgerichteter „Kostenbegriff“. Danach sind „Kosten“ der in Geld bewertete Verbrauch von lebendiger und vergegenständlichter Arbeit, die nach gesellschaftlichen Durchschnittsgrößen angesetzt werden. Allein auf dieser Grundlage scheidet eine Abbildung der wirklichen betrieblichen Verhältnisse nach ihrem ökonomischen Gehalt aus. Diese Effekte werden durch die Vorgaben von Normen, Normative und Standards verstärkt.
53 Breuel, Birgit (Hrsg.): Treuhand intern, Berlin 1993, S. 104. 54 Paqué, Karl-Heinz: Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der Deutschen Einheit, München 2009, Vorwort, S. VIII. Politisch wendet sich dieses Buch gegen eine neue „Dolchstoßlegende“. Es ist die Legende, daß die Politik nur vieles anders und besser hätte machen müssen, dann gäbe es heute eine kraftstrotzende ostdeutsche Wirtschaft, und die Probleme der Deutschen Einheit wären gelöst. Das Buch von Paqué ist ein Versuch, die Legende mit nüchternem Blick zu entzaubern.
403
Bei der Bemessung der Abschreibungen als „Kosten“ für den Verschleiß der Grundmittel (Sachanlagen) wurde lediglich die technische Abnutzung berücksichtigt. Der „moralische Verschleiß“ als wirtschaftliche Entwertung blieb ohne Ansatz. Zusätzlich erfolgte in bestimmten Zeitabständen eine generelle Aufwertung der Grundmittel (Sachanlagen). Durch das Außenhandelsmonopol des Staates wurden die Preise der Devisen durch die Anwendung von fest vorgegebenen Richtungskoeffizienten staatlich manipuliert. Die ideologische Ausrichtung der Werte und „Preise“ wird durch das Verbot einer Einbeziehung von sog. „gesellschaftlich nicht notwendigen Aufwendungen“ unterlegt. Der Ansatz von Rückstellungen war weitgehend verboten. Dadurch entfiel gleichzeitig eine Erfassung der entsprechenden „Kosten“, so daß falsche Ergebnisse ausgewiesen wurden.
Die empirischen Ergebnisse zur Darstellung der Vermögens- und Ertragslage in den Jahresabschlüssen der Volkseigenen Betriebe und der Vergleich mit den DM-Eröffnungsbilanzen belegen die fehlende ökonomische Qualität der Ergebnisse des betrieblichen Rechnungswesens als Grundlage für eine Wirtschaftsrechnung. Sie bestätigen die These von Ludwig von Mises, Georg Halm, Friedrich August von Hayek und Walter Eucken, daß in einer marktlosen Zentralplanwirtschaft eine Wirtschaftsrechnung wegen fehlender ökonomischer Parameter nicht möglich ist. __________________________________
5. Die Privatisierung des Volkseigentums durch die Treuhandanstalt (1990-1994) 5.1. Volkseigene Betriebe (VEB) Von Klaus Krakat VEB entstanden nach 1945 aus enteigneten und verstaatlichten Betrieben. Bis Mitte 1948 hatte man insgesamt 9.281 gewerbliche Unternehmen konfisziert. Sie existierten zunächst bis 1951 als unselbständige Filialbetriebe der ihnen vorgeordneten Vereinigungen Volkseigener Betriebe (VVB). Wesentlich ist zudem, daß die Befehle der SMAD55 in der Nachkriegszeit nicht in allen Fällen sofort zu einer Bildung von VEB führten, sondern zum Teil erst auf dem Umweg über Sowjetische Aktiengesellschaften (SAG) erfolgten.
55 Creuzberger, Stefan: Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD). In: Ebd., S. 703-708.
404
Anfang 1952 erhielten die VEB den Status selbständig wirtschaftender Einheiten. Frühzeitig rückte mit dem Aufbau der Wirtschaft nach dem Krieg und der Durchsetzung einer sozialistischen Planwirtschaft der volkseigene Produktionsbetrieb in den Mittelpunkt zentralplanwirtschaftlicher Aktionen der SED. Diesem und allen anderen VEB hatte man die Aufgabe zugewiesen, das vom Staat zugeteilte sachliche und finanzielle Vermögen effizient zu nutzen sowie Erzeugnisse und Leistungen auf der Grundlage staatlicher Pläne zur Verfügung zu stellen. Damit waren u. a. auch die Übernahme und Anerkennung des Prinzips der wirtschaftlichen Rechnungsführung (Realisierung des Wirtschaftlichkeitsprinzips auf Betriebsebene ohne Gefährdung der zentralen Steuerung) nach sowjetischem Vorbild oder Abgaben an den Staatshaushalt verbunden. Die Bildung von VEB entsprach der von der SED angestrebten Verwirklichung der Vergesellschaftung der Produktionsmittel im Sinne des klassischen Marxismus. Dieses vergesellschaftete Eigentum56 hatte jedoch eindeutig den Charakter von Staatseigentum. Mit Blick auf ihre formalrechtliche Konstruktion hatten VEB rechtlich und ökonomisch den Status selbständiger Wirtschaftseinheiten im Rahmen der plangelenkten staatlichen Wirtschaft. Sämtliche VEB waren nach westlicher Statistik und Begriffsdefinition Unternehmen (rechtlicher Status). Sie bestanden in der Regel aus einer Vielzahl örtlich getrennter Produktionsstätten. Die Leitungsorganisation eines VEB erfolgte nach dem in der Organisationslehre von Zentralverwaltungswirtschaften geltenden Prinzip der Einzelleitung und persönlichen Verantwortung. Wie die Praxis zeigte, führte diese personenbezogene Haftung keinesfalls zu einer Qualifizierung der VEB-Führung. Grund hierfür war die Tatsache, daß sämtliche Funktionsträger ständig bemüht waren, jede Entscheidung breit abzusichern, möglichst diffuse Verantwortlichkeiten zu erzeugen und damit persönliche Risiken zu minimieren. Die Befugnisse der Leiter waren vor allem auf Grund der in Form von Gesetzen und Plankennziffern vorgegebenen Aktionsbedingungen stark eingeschränkt. Die Zahl der VEB ist seit Anfang der 60er Jahre ständig geschrumpft, während deren Beschäftigungszahl permanent angestiegen ist. Dieser Konzentrationsprozeß war eng mit der letzten Verstaatlichungskampagne verbunden: Mit dieser Mitte 1972 abgeschlossenen Aktion wurden alle halbstaatlichen und privaten Betriebe in Industrie und Bauwesen sowie industriell produzierende Produktionsgenossenschaften (PGH) aufgelöst und in VEB überführt. Im Rahmen der Kombinatsreform57 Ende der 70er Jahre sind die meisten VEB organisatorisch in großen Kombinaten zusammengefaßt worden. Die bis dahin noch zu einem gewissen Grad wendigen Zulieferer verloren mit ihrer Eingliederung in Kombinate vollends ihre Flexibilität. Damit hatte die Zahl der selbständigen VEB durch eine erneute organisatorische Zentralisierung weiter abgenommen. Insgesamt ist die Zahl der Industriebetriebe (ohne Betriebe der Wasserwirtschaft) ab Ende 1958 bis Ende 1989 von 17.030 auf 3.374 vermindert worden.
56 Brunner, Georg: Eigentum, in: Ebd., S. 226-230. 57 Krakat, Klaus: Kombinate, in: Ebd., S. 468-470.
405
Hinter der Idee der Konzentration und Zentralisierung stand der Gedanke, daß Großbetriebe leistungsfähiger seien als kleine und mittlere Betriebe. Darüber hinaus erhoffte sich die Partei- und Wirtschaftsführung Erleichterungen bei der Wirtschaftslenkung. Die zunehmende Fülle und Komplexität der an die VEB herangetragenen Aufgaben hatten 1967 (VII. SED-Parteitag) zur Begründung einer Sozialistischen Betriebswirtschaft (SBW) und im weiteren Zeitverlauf zu speziellen SBW geführt. Die SBW war als eine primär praxisbezogene Unterweisung zum wirtschaftlichen, betrieblichen sowie sozialen Geschehen zu verstehen und durch eine produktive und eine ideologische Grundfunktion gekennzeichnet. Die produktive Funktion wurde durch Ziele der Wirtschaftspolitik58 und daraus resultierenden betrieblichen Funktionen vorgegeben. Die ideologische Funktion war eng verbunden mit der Sicherung gesellschaftspolitischer Beschlüsse der SED und einer Festigung der Partei und aller ihr gleichgeschalteten staatstragenden Organisationen. Davon ausgehend existierte die SBW ebenso als Disziplin der marxistisch-leninistischen Wirtschaftswissenschaften, und sie diente im gegebenen Zusammenhang der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung und -vermittlung.59
58 Gutmann, Gernot: Wirtschaft, in: Ebd., S. 954-962. 59 Krakat, Klaus: Volkseigene Betriebe (VEB), in: Eppelmann, Rainer et al. (Hrsg.): Lexikon des DDR-Sozialismus, Bd. 2, 2. Aufl., 1997, S. 903-905. Buck, Hannsjörg F.: DDR-Wirtschaft im Umbruch, in: Fischbach, Günter (Hrsg.): DDR-Almanach‚ 90. Daten. Informationen. Zahlen, Stuttgart, München, Landsberg 1990, S. 132-138. Gutmann, Gernot / Buck, Hannsjörg F.: Die Zentralplanwirtschaft der DDR – Funktionsweise, Funktionsschwächen und Konkursbilanz, in: Kuhrt, Eberhard (Hrsg.): Am Ende des realen Sozialismus, Bd. 2: Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den achtziger Jahren, Opladen 1996, S. 34 ff.
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5.2. Detlev Karsten Rohwedder: Die Treuhand erfüllt ihren Auftrag: Schnelle Privatisierung – entschlossene Sanierung – behutsame Stilllegung Dr. Detlev Karsten Rohwedder (12. Oktober 1932 – 1. April 1991) prägte wie kein anderer den Geist der Treuhandanstalt. Einen Einblick in das Denken des Managers Detlev Rohwedder gibt der Festvortrag, den er am 7. September 1988 anläßlich des 50jährigen Bestehens der Dortmunder IBM-Niederlassung im Technologie-Zentrum Dortmund hielt. Thema: Strukturwandel im Ruhrgebiet – Chance und Herausforderung für die Unternehmen. „Der Ansatz, den ich sehe und den ich in den Mittelpunkt stelle ist, hier in NRW das Beachtungsdefizit des unternehmerischen Potentials abzubauen und die starken Kräfte des marktwirtschaftlichen Ordnungssystems zu fördern und zu voller Leistungskraft gelangen zu lassen. Anders ausgedrückt: Wir können nur dann erfolgreich an der Modernisierung Nordrhein-Westfalens arbeiten, wenn die Wettbewerbsfähigkeit aller Branchen des Landes und unserer Unternehmen jedweder Größe zur Richtschnur staatlichen und politischen Handelns gemacht wird. Dies ist keine Position des Manchestertums, und ich bin auch in diesem Kreis wohl nicht verdächtig, ein Apologet der Ellenbogengesellschaft zu sein. Es geht mir nur, aber eben sehr prinzipiell darum, die wirtschaftspolitischen Grundeinsichten zu verbreiten und wieder in ihr Recht einzusetzen, die zu den staunenswerten Erfolgen der Bundesrepublik geführt haben, die von vielen Ländern in den letzten Jahrzehnten rezipiert worden sind und die heute bei unseren östlichen Nachbarn entdeckt und erprobt werden. Was wir hier in NRW brauchen, ist eine Rückbesinnung auf die Tugenden, mit denen wir den Aufbau nach dem Zusammenbruch geschafft haben und auf die Freiheiten unternehmerischen Handelns, die wir damals einsetzen konnten. Es geht darum, daß und wie die Ressourcen mobilisiert werden können, mit denen unsere Region glücklicherweise reich ausgestattet ist. Die Verwendungsseite, die heute die Entstehungsseite zu verdrängen droht, muß konsequent dahin verschoben werden, wohin sie gehört, nämlich auf den 2. Rang. Umverteilungspolitiken sind wichtig und unverzichtbar. Ebenso unverzichtbar sind aber auch Politiken, die die Entstehung des Sozialprodukts begünstigen. Wachstum anregen, Innovationen auslösen, Ertragskraft stimulieren. Positive Einstellung: Spätestens seit des Themas Europa '92 sollte allgemein klar geworden sein, daß wir nur die Wahl haben, uns entweder den Maßstäben der internationalen Wirtschaft zu öffnen oder langfristig ins Hintertreffen zu geraten. Statt immer neue Sozialverträglichkeitsprüfungen ins Gespräch zu bringen, statt ständig Zweifel an der Wünschbarkeit oder dem Erfolg neuer Technologien, moderner Verfahrensweisen oder überfälliger Reformen wie etwa bei der Bundespost zu äußern, müssen wir hierzulande viel eindeutiger eine positive Einstellung zu solchen Neuerungen gewinnen.
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Christian Morgenstern hat gedichtet: Wer das Ziel nicht kennt, kann den Weg nicht haben, wird sein Leben lang stets im Kreise traben. Das Ziel für NRW so zu bestimmen und die Wege so anzulegen, wie ich dies hier darlege, ist für mich die Aufgabe der politischen Führung und staatlichen Leitung unseres Landes. Die Klarheit meiner Position gebietet, zuzugeben, daß ich die Möglichkeiten der sektoralen und regionalen Wirtschaftspolitik in ihrer Langfristwirkung nicht sehr hoch einschätze. Die Entwicklung des Instrumentariums staatlicher Strukturpolitik läuft in den 60er Jahren parallel mit einem sich verändernden Rollenverständnis des Staates als Faktor im Wirtschaftsprozeß. Galt früher der Staat mehr als Garant eines Ordnungsrahmens für die Mechanismen der sozialen Marktwirtschaft, so wurde er in der wirtschaftspolitischen Diskussion immer stärker in die Rolle einer zentralen Lenkungsinstanz gedrängt, die die Mechanismen des Marktes zügeln und damit den Kapitalismus ‚humaner‘ machen sollte. In diesem Klima gedieh Strukturpolitik zu einem unverzichtbaren Bestandteil einer modernen systematischen Wirtschaftspolitik, die sich nicht darauf zu beschränken hatte, die Funktionsfähigkeit des marktwirtschaftlichen Prozesses zu sichern und zu fördern, sondern die auch akute Strukturprobleme lösen helfen sollte. Aus dieser Denkwelt stammen denn auch Maßnahmen, wie die Bildung einer Einheitsgesellschaft Ruhrkohle AG und die Verabschiedung des Kohleanpassungsgesetzes 1968, der verstärkte Ausbau des Schutzsystems für die heimische Kohle (Mineralölsteuer, Kohlepfennig, Kokskohlenbeihilfe) Ende der 70er Jahre, das Stahlstandorteprogramm des Bundes 1982, das ‚Aktionsprogramm Ruhrgebiet‘ der NRW-Landesregierung 19801986, die ‚Zukunftsinitiative Montanregionen‘ Diese Politiken waren bisher, wie wir alle wissen, unterschiedlich erfolgreich. Allerdings haben sie dazu beigetragen, die Folgen des Strukturwandels sozial abzufedern, haben vielleicht aber gerade dadurch den Anpassungsdruck vermindert und finanzielle Mittel fehlgeleitet. Ich kann den Ursachen für die zwiespältige Wirkung unserer Strukturpolitik nicht nachgehen – dazu gibt es fundierte Untersuchungen, z. B. eine Arbeit von Prof. Ulrich Sonnenschein von der Fachhochschule Dortmund in der Festschrift für Prof. Hans Besters, Bochum. Überholte Gläubigkeit. Ich meine, daß die Erwartungen, die an die Wirksamkeit staatlicher Strukturpolitik gestellt wurden, einfach zu hoch waren. Die Gläubigkeit an die Reparaturkraft staatlichen Wirkens ist überentwickelt und wohl auch überholt. Prof. Sonnenschein meint, daß die Erfahrungen mit der vermeintlichen Wunderwaffe Strukturpolitik gezeigt haben, daß sektorale und regionale Strukturpolitik
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im Ruhrgebiet sich teils gegenseitig, teils selbst blockiert und von Konjunktur, Recht sowie Bürokratie konterkariert worden sei. Die interregionale und -nationale Arbeitsteilung sei verfälscht, Ressourcenverschwendung betrieben, die Staatsbürokratie aufgebläht, Anspruchsdenken gezüchtet, Sicherheitsstreben gefördert und Subventionsmentalität erzeugt worden. Daraus ergibt sich für ihn die Generallinie für die wirtschaftliche Gesundheit des Reviers: Rückbesinnung auf die Grundlagen der Marktwirtschaft, also Rückzug des Staates auf seine klassischen Funktionen, zu denen im Bereich der Strukturpolitik gerade die Infrastrukturausstattung zählt, die Setzung eines stabilen Rahmenwerkes, damit sich die wirtschaftlichen Antriebskräfte frei entfalten können. Dies ist eine ebenso mutige und problemadäquate wie provokante Position, die ich Ihnen nicht vorenthalten wollte. Erfahrungen aus anderen Regionen der Welt zeigen, daß dieser Weg unter den gegebenen Bedingungen dort erfolgreich war. Ein Beispiel für ein erfolgreiches Vorankommen mit der hier propagierten Linie ist Pittsburgh in den USA. In den USA, so stellt eine McKinsey-Studie zu NRW fest, ist die Entwicklung einzelner Regionen stark durch das dortige politische System geprägt, in dem das ausgeprägte Engagement von Unternehmern und Spitzenmanagern im politischen Umfeld an der Tagesordnung ist. Freies Unternehmertum stellt dort – anders als in der Bundesrepublik Deutschland – unbestritten einen hohen Wert dar. Mit dieser Voraussetzung hat Pittsburgh in den letzten Jahren beachtliche Erfolge erzielt. Anfang der 80er Jahre lag dort die Arbeitslosigkeit mit bis zu 16 % um mehr als 5 Prozentpunkte über dem Landesdurchschnitt; heute ist sie unter den Schnitt der Arbeitslosigkeit der USA zurückgefallen.[…] Das Beispiel Pittsburgh zeigt, daß es darauf ankommt, daß sich Politik und Wirtschaft vorbehaltlos und am gemeinsamen Ziel orientiert zu gemeinsamer Arbeit zusammenfinden. Das setzt die Erkenntnis voraus, daß man einander braucht – die Wirtschaft die Politik und die Politik die Unternehmen. Rundheraus gesagt – ich bin mir nicht sicher, ob die Politik dies schon allenthalben erkannt hat. Kompliment an die Stadt. Hier – das möchte ich ohne Einschränkung sagen – ganz bestimmt. Dem Oberbürgermeister und der Stadtverwaltung können und sollten wir das Kompliment machen. Wäre es anders, wären wir nicht so weit, wie wir schon gekommen sind. Aber gilt dies auch für das Land? Auch was die Bundesregierung angeht, muß man seine Zweifel haben. Als Mann aus der Stahlindustrie glaube ich solche Zweifel hegen zu dürfen. Was wir in dieser Industrie in den letzten Jahren erlebt haben, sind die Folgen einer indifferenten Haltung zu industriellen Problemen und eines Mangels an Bereitschaft und Fähigkeit, Grundbedingungen zu erfüllen, nämlich Rahmenbedingungen unternehmerisches Handeln vorzugeben und auch in einem zugegeben sehr schwierigen internationalen Umfeld durchzusetzen. Zu den Rahmenbedingungen gehört für den Zusammenhang, der uns hier interessiert, eben in erster Linie das Klima, in dem sich unternehmerisches Arbeiten und Wirken entfalten kann. Es ist, wenn man NRW nach vorn bringen will nicht zulässig, in denen, die Arbeitsplätze schaffen Innovation und Wachstum zuwege
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bringen sollen, zunächst einmal potentielle Delinquenten zu sehen, denen man am besten auf die Finger sieht, die man ermahnt, wenn nicht gar verwarnt und in deren Kontrolle man das nächstliegende Ziel der Wirtschaftspolitik sieht. Hier wird ein äußerst bedenklicher Mangel an Gespür dafür bemerkbar, daß zu einem gedeihlichen Ambiente für Unternehmer auch gehört, daß man ihnen objektiv und unvoreingenommen, wenn schon nicht fürsorglich und wohlwollend begegnet. Nötig ist also nicht eine Politik der Bevormundung und der Verweisung auf den 2. Rang, sondern der Respekt vor den Ansichten auch der Unternehmer, der Respekt vor ihrer Erfahrung und Problemkenntnis, vor ihrem Einfallsreichtum und vor ihrer Entschlossenheit, alles in ihren Kräften Stehende zu tun, dem Land Fortschritt zu bringen. Ich habe nichts dagegen, wenn wieder und wieder gesagt wird, wie wichtig starke Gewerkschaften sind. Aber es wäre auch schön, wenn denjenigen, die Unternehmen führen, sei es, daß sie ihnen gehören, sei es, daß sie dazu bestellt sind, gesagt, besser noch: bewiesen würde, daß sie gebraucht werden und willkommen sind bei der gemeinsamen Anstrengung. Ich sage auch heute wieder: Die Bewährung im täglichen ist unsere Sache. Die braucht und kann uns keiner abnehmen. Den Rahmen, innerhalb dessen wir das tun, haben andere zur Verfügung zu stellen, sei es die Bundesregierung, sei es die Landesregierung. Mit der Wirtschaft. Und weil wir vom Klima sprechen, das wir brauchen, damit unser Land gedeiht: Was ich so sehr vermisse, aber auch erhoffe, ist, daß die Führung des Landes in allgemeinster, umfassendster Weise ebenso wie die Verwaltung in allen ihren Gliederungen auf die Wirtschaft des Landes positiv und konstruktiv zugeht und mit ihr an einem Strang zieht. Nicht deklamierend, sondern realiter. Öffentliche Dienstleistungen, hat Prof. Fels neulich in Hamburg gesagt, sind Bringschulden! Mit dieser richtigen Definition ist eigentlich alles gesagt! Wer sie für Holschulden hält, hat unser Wirtschaftssystem nicht verstanden und darf sich nicht wundern, wenn das Ganze nicht recht funktioniert, schon gar nicht der komplizierte Strukturwandel, wobei ich hinzubemerken möchte, daß es sehr lohnend wäre, sich einmal mit Fragen des Wandels staatlicher und administrativer Strukturen zu beschäftigen und auf ihre Anpassung an die Notwendigkeiten dieser 80er und 90er Jahre zu dringen. Dies ist zugegebenermaßen besonders schwer, aber auch unabweisbar, wenn wir vorankommen wollen. Das traurige Schicksal, das die Bundesregierung offenbar der von ihr eingesetzten Deregulierungskommission bereitet, taucht allerdings die Bereitschaft und Fähigkeit des Staates, an sich selbst zu arbeiten, in ein düsteres Licht. Es ist meine feste Überzeugung, daß NRW alle Chancen hat, wieder Tritt zu fassen. Es muß nur die Anforderungen unserer Zeit offen annehmen, wozu der technische Strukturwandel gehört, es muß bereit sein, sich Europa 1992 ebenso zu stellen wie der härter werdenden Konkurrenz, die von der Weltwirtschaft auf uns einwirken wird. Es gibt genug unternehmerische Initiative, es gibt genug schöpferische Begabung im Land, um damit fertig zu werden – vorausgesetzt, diese Kräfte können sich in einem Klima der Bejahung von Leistung und Erfolg entfalten.
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Das, was man ein wenig schönfärberisch Strukturwandel nennt, bleibt dann immer noch mühsam und konfliktträchtig genug. Mit Wandeln im Sinne eines gemächlichen, harmonisch sich entwickelnden Voranschreitens hat das Wort doch wohl weniger zu tun. Strukturen wandeln sich in der Industrie oft abrupt, bruchartig und alternativloser als dies das gesellschaftliche Bewußtsein realisiert und akzeptieren kann. Beharrende Konservative. Umso wichtiger ist die Bereitschaft zur Problembewältigung und der Mut zu sagen, daß und wie die Weichen auf die Zukunft zu stellen sind. In diesem Sinne Führungskraft unter Beweis zu stellen, Leadership zu zeigen, gehört auch zum Klima, das ich hier als eine eminente Voraussetzung für wirtschaftspolitische Erfolge so heraushebe. Mut und Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten brauchen wir und nicht Verzagtheit und ängstliche Ablehnung alles Neuen. Mutig, modern und progressiv: So wünsche ich mir unsere Partner aus der Politik. Stattdessen stößt man auf beharrende Konservative, wo man sie eigentlich nicht vermuten sollte. Vieles von dem, was ich als Klima umschrieben habe, ist hier in Dortmund wirksam geworden. Es gibt eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Stadt und Industrie- und Handelskammer. Es gibt eine projektbezogene Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Universität und anderen hier ansässigen Institutionen – ich verweise hier auf die Gemeinschaftsinitiative Dortmunder Unternehmen zur Sicherung des DeltaProjekts für Dortmund, einer forschungspolitisch ungemein wichtigen Einrichtung – oder die Beteiligung ein einem Venture Capital Fonds in Dortmund. Ohne euphorisch werden zu wollen, glaube ich, kann man sagen, daß dieses Klima der Zusammenarbeit und diese erfolgversprechenden Ansätze die Ursache dafür sind, daß Dortmund in der Bewältigung des Strukturwandels vielleicht ein bißchen die Nase vorn hat. Viele tragen zu dem neuen Dortmund bei, dessen Entstehen wir erleben: Eigentümerunternehmer, Freiberufler und Manager; alteingesessene Firmen und zugezogene, kleinere und größere, solche, denen es gut geht und solche, die noch wissen, wie eine rote Zahl aussieht, neuerdings Japaner und dann solche, die als Amerikaner angefangen haben, in Berlin vor 78 Jahren und in Dortmund vor 50 Jahren, und die doch längst Deutsche geworden sind. Leute, in deren deutschen Werken über 30.000 Menschen arbeiten und die es von Jahr zu Jahr wieder fertigbringen, daß ihr Unternehmen mit Abstand der größte Exporteur in der Datenverarbeitung ist. Für mich ist die IBM ein selbstverständlicher Teil unserer Volkswirtschaft und in NRW ein wichtiger Partner und Verbündeter in unserem Mühen um diese Region. Möge sie blühen, wachsen und gedeihen!58
58 Treuhandanstalt (Hrsg.): Dokumentation 1990-1994, Bd. 1, S. A 25-A 29.
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Zielvorstellung von Rohwedder beim Neu-Aufbau der Wirtschaft in den Neuen Bundesländern: Wettbewerbsfähige Strukturen wie in der alten Bundesrepublik.59 Warum hat ein CDU-Kanzler so viel Interesse daran, einen Sozialdemokraten in dieser Schlüsselposition zu sehen? Rohwedder: Ich glaube nicht, daß es dem Kanzler darum ging, einen SPDMann an der Spitze der Treuhand zu sehen. Ihm hat, glaube ich, besonders meine Arbeit bei Hoesch gefallen. Was reizt Sie an dem Job? Ist es die Möglichkeit, Industrie-, Struktur-, Regional-, ja Ordnungspolitik zu machen? Rohwedder: Die Manager-Aufgabe steht doch sehr im Vordergrund. Aber, wenn Sie darüber entscheiden, was etwa mit den Werften, der Chemie- oder der Stahlindustrie in den neuen Bundesländern geschehen soll, da ist dann immer, ob Sie wollen oder nicht, auch ein Element der Struktur- oder Industriepolitik mit enthalten. Aber es ist nicht Aufgabe der Treuhand, anstelle der Länder und des Bundes Struktur-, Ansiedlungs-, Energie- oder Regionalpolitik zu betreiben. Das Faszinierende an Ihrem Job ist aber doch, daß er so politisch ist. Rohwedder: Das Stimmt. Aber die Treuhand ist eingebunden in die Politik der Bundesregierung. Wir sind ein Zwitter. Einerseits haben wir eine privatwirtschaftliche Management-Aufgabe, andererseits die politische Aufgabe, Transformationsstelle zu sein für die Integration der ostdeutschen in die westdeutsche Wirtschaft. Können Sie diese Integration in den vier Jahren, die Sie zunächst einmal vor sich haben, schaffen? Oder sehen Sie sich länger in dieser Aufgabe? Rohwedder: Letzteres glaube ich nicht. Ich will in der ehemaligen DDR in den kommenden Jahren eine Wirtschaftsstruktur schaffen, die der bundesdeutschen entspricht, das heißt, eine Struktur, in der der Staat sich sehr stark zurückgenommen hat, in der das Kapital in privater Unternehmerhand die wichtigste Rolle spielt. Das ist das eine. Zum anderen gilt es, Strukturen zu schaffen, die es der Wirtschaft in der früheren DDR erlauben, sich im internationalen Wettbewerb zu behaupten. Wenn möglich, sollten diese Strukturen noch etwas kompetitiver, diversifizierter und internationaler sein als im westlichen Teil Deutschlands. Für Sie geht demnach Privatisieren eindeutig vor Sanieren? Rohwedder: Ja. Absolut. Wo wir sanieren, tun wir das zu dem Zwecke, die Unternehmen in einen Zustand zu versetzen, der für Investoren interessant ist. Wir wollen unter keinen Umständen jahrelang Riesensummen in Unternehmen pumpen. Sind Sie der Ansicht, daß eine staatliche Behörde wie die Treuhandanstalt …
59 Wirtschaftswoche, 23.11.1990.
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Rohwedder: … Ja, ich weiß, das ist kein sehr attraktiver Name. Das riecht nach Zentralismus und Bürokratenmuff … … daß eine solche Behörde am besten dazu geeignet ist, Tausende von Unternehmen, noch dazu ganz schnell, zu privatisieren? Investmentbanken oder Wirtschaftsprüfungsgesellschaften hätten den Job wohl besser machen können. Rohwedder: Das geht deswegen nicht, weil die Aufgabe – wie wir gerade festgestellt haben – eine hochgradig politische ist. Diese Aufgabekönnen Banken und Wirtschaftsprüfer nicht erfüllen. Die würden doch nur vermakeln, was sich leicht vermakeln läßt. Wo es schwierig wird, sind die nicht mehr sehr effektiv. Das ist doch bei der Treuhand nicht anders! Rohwedder: Doch, wir verfügen über beträchtliche Finanzmittel und sind deshalb in der Lage, die schwierigen Fälle anzusanieren und soweit in Ordnung zu bringen, daß sie verkauft werden können. Dauert das nicht viel zu lange? Rohwedder: Ich verspreche Ihnen, wir werden nicht in eine Haltung verfallen, wo wir quasi mit Zirkel und Millimeterpapier in sehr bürokratischer Weise qualvoll über die uns anvertrauten Unternehmen verfügen. Das geht schon mit einer gewissen Hemdsärmeligkeit zu. Wir wollen nicht immer den höchstmöglichen Preis erzielen. Andererseits ist Geschwindigkeit auch nicht alles. Wir dürfen nun nicht in eine Politik der Flüchtigkeit, Lieblosigkeit und Oberflächlichkeit verfallen. Was halten Sie von dem Vorschlag des sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf, den Treuhandbesitz in die Obhut der neuen Bundesländer zu geben? Rohwedder: Die Länder müßten ja auch die bedeutenden finanziellen Verpflichtungen der Treuhand übernehmen. Und das in einem Moment, wo sie selbst gerade geboren sind und alle Hände voll mit ihren eigenen Problemen zu tun haben. Nein, ich denke, daß die Dinge beim Bund besser aufgehoben sind. Kritiker fürchten, daß sie dort so gut aufgehoben sind, daß wir sie nie wieder loswerden. Rohwedder: Die Treuhand mit ihrem kleinen Apparat ist von vornherein so geschnitten, daß sie zentrifugale Kräfte entwickelt. Das heißt, die Voraussetzungen sind nicht gegeben, daß diese Unternehmen dauerhaft in Staatsbesitz bleiben. Es wäre nicht das erste Mal, daß eine Bürokratie wuchert! Rohwedder: Wir dürfen deshalb in unserer Organisation nicht zu perfekt werden. Unter keinen Umständen dürfen wir der Versuchung unterliegen, auf viele Jahre hinaus den Staatsunternehmer zu spielen. Die Treuhand muß so gebaut sein, daß sie auf ihre Selbstauflösung hinwirkt. Wann wird sich die Treuhand selbst überflüssig gemacht haben?
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Rohwedder: Das wird lange dauern, weil wir viele Unternehmen nicht kurzfristig veräußern können. Eine schöne Perspektive! Rohwedder: Damit muß man leben. Das hat in der alten Bundesrepublik auch 40 Jahre gedauert, bis Preussag, Veba, VW, Lufthansa et cetera zumindest teilweise privatisiert wurden! Wir müssen ja nicht alte Fehler wiederholen und uns noch mal so viel Zeit lassen. Rohwedder: Solche Dinge brauchen einfach Zeit. Sehen Sie mal, die Veba ist doch erst durch die kluge Führung von Herrn v. Bennigsen richtig börsenfähig geworden. In der Ex-DDR kommt noch hinzu, daß wir es ja nicht nur mit gewerblichen Vermögen zu tun haben. Wenn wir landwirtschaftlichen Grund und Boden mit derselben Geschwindigkeit verkaufen wie das im Westen üblich ist, brauchen wir mehr als 40 Jahre. Wenn Sie das schneller machen, ruinieren Sie die Grundstückspreise. Hinzu kommen noch politische Hemmnisse wie etwa die ungeklärten Eigentumsfragen. Das beschleunigt ja nun auch nicht gerade die Privatisierung. Herr Rohwedder, Sie reisen derzeit durch die Welt, um Käufer für Ihre Unternehmen zu finden. Was gibt es denn für Gründe, in der ehemaligen DDR zu produzieren, wenn das Motiv Patriotismus entfällt? Rohwedder: Ich halte nicht furchtbar viel davon, auf dem Gebiet der Ex-DDR Steuererleichterungen zu gewähren. Es gibt ja schon Förderprogramme. Die sollten erst einmal ausgeschöpft werden. Wenn wider Erwarten bis Sommer nächsten Jahres der Wachstumsmotor in den neuen Bundesländern nicht angesprungen sein sollte, kann man sich das Thema noch mal vornehmen. Wie beurteilen Sie die Aussichten der ostdeutschen Wirtschaft für die nähere Zukunft? Rohwedder: Die Talsohle ist noch nicht erreicht. Wir werden im Winter und im Frühjahr noch eine Zunahme der Firmenliquidationen und der Arbeitslosigkeit erleben. Aber ich hoffe, daß dies dann allmählich kompensiert wird durch kräftig zunehmende Investitionen. Wir sehen ein beeindruckendes Maß an Initiativen. Das hat sich noch nicht umgesetzt in Arbeitsplätze. Die Planungen aber sind in vollem Gange. Und die Ergebnisse werden sich zeigen. Vor einer Art deutschem Mezzogiorno, einem Armenhaus im Osten der Republik haben Sie keine Angst? Rohwedder: Nein, das halte ich für vollkommen ausgeschlossen. Davor steht schon das Verfassungsgebot der Gleichmäßigkeit der Lebensbedingungen. Deutschland ist reich und entschlossen genug, ein Armenhaus in der ehemaligen DDR zu verhindern. Es ist weltfremd, anzunehmen, die neuen Bundesländer könnten in die hoffnungslose Passivität absinken, die den Mezzogiorno kennzeichnet. Die Menschen in Deutschland sind nicht so.
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Interview mit „Die Welt“ vom 2.1.1991 WELT: Sind Sie Ideologe, Missionar … oder was treibt Sie an? Kommen wir wieder zum Roten Kreuz zurück? Rohwedder: Ich möchte, daß die Wiedervereinigung der Deutschen sich nach der staatlichen Einheit nun vollziehen möge im geistigen, im kulturellen Bereich, in den Universitäten, den Lehr- und Lern-Inhalten, der Kunst, der Literatur, daß dieses Volk wirklich zusammenfindet, was noch nicht der Fall ist. Ich möchte dazu beitragen, daß für diesen Prozeß des Zueinanderfindens die materielle Grundlage so rasch wie möglich gelegt wird. Das treibt mich um. Ich bin kein Mann des akademischen Bereiches. Ich bin kein Mann des literarischen Betriebes. Ich bin kein Theatermann oder sonst etwas. Ich komme aus der Wirtschaft und möchte, daß die Menschen in der früheren DDR möglichst rasch aus ihrer materiellen Inferiorität herausgeführt werden. Da bedarf es eben – insofern ist die Schaffung dieser Treuhandanstalt wirklich nicht dumm – einer zentralen Agentur, die sich mit einer energischen Kraftentfaltung ausschließlich darum kümmert, daß die Lebensbedingungen, Arbeitsbedingungen, die wirtschaftliche Existenz der Menschen in den früheren DDRBezirken möglichst rasch sich unseren Maßstäben, unserem Niveau angleichen. Die Treuhandanstalt ist die zentrale Institution, die unsere wirtschaftspolitischen Erfolgsrezepte und Grundüberzeugungen in die Ex-DDR hineinzutragen und auch für wirtschaftspolitische Strukturen zu sorgen hat, die jedenfalls nicht schlechter sind als das, was wir hier in der alten Bundesrepublik haben. WELT. Sie sprechen von materieller Inferiorität. Gibt es im Osten auch eine geistige Inferiorität? Sind die „Hirne“, die Denkwerkzeuge beschädigt? Gibt es geistige Deformationen? Rohwedder: Wenn 40 Jahre lang eine ganze Generation oder anderthalb durch Kindergärten, Grundschulen, weiterführende Schulen, Universitäten und dann durch ein Berufsleben hindurch in einem kommunistischen System gelebt haben, dann sind Dimensionen des normalen Denkens verlorengegangen. Das Wort Deformation bedeutet, daß die Menschen nur verkrüppelt sind in der Weite ihrer Lebenserfahrung. Alles war gefiltert und mußte durch das Nadelöhr des Marxismus-Leninismus. In diesem Sinne glaube ich schon, daß die Menschen erst jetzt tastend anfangen, ganz neue Erfahrungen zu sammeln, insbesondere im geistigen und kulturellen Bereich. Wir haben es hier mit einem Prozeß zu tun, der noch lange andauern wird. Leider habe ich nicht den Eindruck, daß den Westdeutschen die Heranführung der Menschen in der ehemaligen DDR an unsere Denkwelt ein brennendes Anliegen ist. Wenn es um die Wiedervereinigung Bayerns ginge oder um die Wiedervereinigung Württembergs oder Holsteins, wenn da die Teile auseinander wären, würden die zentripetalen Kräfte sehr viel unmittelbarer, sehr viel emotionaler, sehr viel stürmischer und auch leidenschaftlicher sein, als wenn jetzt diese Stämme aufgerufen sind, sich für die Brandenburger zu öffnen, für sie mitzutragen und mit ihnen zu teilen.
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Aber vielleicht hat das auch sein Gutes. Das Ausland hat mit einer gewissen Erleichterung den 3. Oktober, was davor und danach war, erlebt. Deshalb ist es ganz gut, daß die Dinge sich sehr stark im rationalen Bereich ansiedeln. Damit sind auch wir wieder im Felde der Politik, der Wirtschaft und des handwerklichen. WELT: Weil das so ist und weil unsere Marktwirtschaft durch rationale Privatunternehmer und Privatkapitalisten vorangetrieben wird, wäre es da nicht sinnvoll, den ganzen Ramsch drüben so schnell wie möglich und koste es, was es wolle, zu verscherbeln, zu verschenken, ja sogar noch Geld hinterherzuwerfen? Rohwedder: Das Tempo, das Sie damit meinen, hat sich die Treuhandanstalt auf die Fahnen geschrieben. Deshalb steht dieser Privatisierungs-, dieser Entstaatlichungsauftrag, ich sage die Kompression des staatlichen Bereichs auf einen unvermeidlichen Kern, an erster Stelle im Treuhandgesetz. Also uneingeschränktes Ja dazu, wobei dann aber doch gesagt werden muß, die Sache mit „koste es, was es wolle“ bedarf der Differenzierung. Da muß sich die Treuhand schon ein bißchen Mühe geben und bei diesem Prozeß der Entstaatlichung zugleich Strukturen schaffen, die marktwirtschaftlich akzeptabel sind. Das einfachste wäre, man würde die zu privatisierenden Unternehmen – wenn es ginge, es geht, glaube ich , nicht – einfach nach einem Windhundverfahren, first come, first serve, oder über Auktionen abstoßen. Dann käme es aber leicht dazu, daß sich marktwirtschaftlich unwillkommene Strukturen herausbilden. Wenn nur kapitalkräftige große Häuser zum Zuge kommen und alle anderen wegbeißen, alle anderen wegboxen, würde ich dieses Verfahren ordnungspolitisch eben nicht in Ordnung finden. Auf der Strecke blieben dann der Mittelstand, das Handwerk, die Ausländer. Man würde zum Schluß mit einer ziemlich monolithischen, unattraktiven, nicht sonderlich kompetitiven Wirtschaftsstruktur dasitzen. Das verstehe ich nicht als den Auftrag der Treuhand. Mein Fazit: Wir müssen sehr schnell den Staat zurückdrängen und dem Unternehmer mit seinen Investitionen, mit seiner Phantasie, mit seiner Aggressivität im Markt haben. Wir müssen aber den richtigen Unternehmer haben, den interessanten Unternehmer, den Unternehmer, der für Vielfalt im Markt sorgt. Noch eines: Die Unternehmen im Osten sind in aller Regel nicht in Ordnung – nicht ohne weiteres verkäuflich. Das heißt, die Vermutung eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs besteht nicht. Sondern es besteht die Vermutung, daß es sich um Hülsen handelt, in denen nicht viel steckt. Der Schnelligkeit der Privatisierung stehen übrigens Probleme wie Altschulden, Altlasten, ungeregelte Eigentumsfragen entgegen. WELT: Herr Rohwedder, die DDR-Wirtschaft – von Honecker als die zehntgrößte der Welt gefeiert – nur eine leere Hülse? Rohwedder: Eine sozialistische Wirtschaft ist – das weiß jetzt jedermann – nicht in der Lage, den internationalen Wettbewerb zu bestehen. Dafür fehlt es
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an allen Voraussetzungen: an der Technologie, den Produkten, der Marktkenntnis, der Effizienz des Herstellungsprozesses. Soll und Haben, Aufwendungen und Erträge, Kosten und Erlöse – das waren bis zur Wirtschaftsunion im Juli 1990 alles keine Maßstäbe. Der einzige Maßstab, der galt, war die Erfüllung des Plans. Ein Maßstab, der für den internationalen Wettbewerb ohne Relevanz ist. Das heißt, die Unternehmen liegen per definitionem vollkommen neben dem Fadenkreuz. Das ist das erste Kardinalproblem. Das zweite ist, daß die Unternehmen der ehemaligen DDR damit kämpfen, sich aus ihrer einseitigen Marktorientierung und Einbindung in den RGW-Bereich zu lösen. Übrigens: Es wird in der Ex-DDR enorm gearbeitet. Und das muß man ja auch mal sagen: Das ganz große Desaster, der ganz große Einbruch ist bisher noch nicht eingetreten. Man hat kaum für möglich gehalten, daß sich die Betriebe nun schon ein halbes Jahr lang, wenn auch mit Krämpfen, am Leben halten. Wir sind leider noch nicht am Tiefpunkt der Entwicklung. […] WELT: Haben Sie einen Wunsch für das Neue Jahr? Rohwedder: Ich wünsche mir, daß die so lange durch ein unfähiges, brutales und korruptes System geschundenen Menschen in den östlichen Bundesländern darauf vertrauen, daß ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben berechtigt sind, daß sie bei ihren Anstrengungen nicht allein gelassen werden, sondern daß viele Landsleute ihnen zur Seite stehen. Zu diesen Helfern gehört auch die Treuhandanstalt. Wunder dauern etwas länger. Die Treuhandanstalt kann die Erwartungen der Politiker auf eine schnelle Sanierung der ostdeutschen Wirtschaft nicht erfüllen. Kritik an der Arbeit der Treuhand übten insbesondere Politiker, Journalisten, Literaten und Schriftsteller, die fern der Wirtschaft standen in Form von Werturteilen (M. Weber). Peter Christ griff diese Art von Kritik auf: „Billiger lassen sich Schlagzeilen kaum machen als mit kräftigen Hieben gegen die Treuhandanstalt in Berlin. ‚Ich habe den Eindruck, daß die Treuhand auf dem besten Wege ist, den lähmenden Zentralismus der vergangenen DDR noch zu übertreffen‘, befindet zum Beispiel Dieter Schröder, Chef der Berliner Senatskanzlei. ‚Die Treuhandanstalt kann nicht die Aufgabe übernehmen, die Unternehmen (in der DDR, d. Red.) zu sanieren […] Ein solcher Ansatz ist zum Scheitern verurteilt‘, meint Horst Siebert, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel. Vom Gegenteil ist Franz Steinkühler, Vorsitzender der IG Metall überzeugt. Die Treuhand sei Anteilseigner der DDR-Industrie, und der müsse sanieren statt liquidieren. Am härtesten langt mal wieder Heiner Geißler, geschasster Generalsekretär der CDU, hin. Er wirft dem Treuhand-Chef Detlev Rohwedder schlicht ‚Versagen und Unfähigkeit‘ vor. Die Prägnanz der Urteile wächst mit der Entfernung vom kritisierten Gegenstand. Den meisten Kritikern ist gemein, daß sie nie ein Unternehmen geleitet, geschweige denn saniert oder verkauft haben. Darin unterscheiden sie sich von etlichen Vorstandsmitgliedern der Treuhand, und die hat 8.000 Betriebe und zudem Äcker, Wälder, kommunale Einrichtungen sowie demnächst auch noch das Vermögen der alten DDR-Parteien und Massenorganisationen am Hals. All dies, so der im
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Einigungsvertrag erneuerte gesetzliche Auftrag, soll die Treuhand privatisieren, also verkaufen, sanieren oder liquidieren, und zwar in dieser Rangfolge. In aller Unbescheidenheit definiert ihr Chef Detlef Rohwedder die Aufgabe der Anstalt öffentlichen Rechts: ‚Die Treuhand ist eine allmählich anlaufende Maschinerie zur Aufarbeitung von vier Jahrzehnten Kommunismus. Dieser Job ist einzigartig, kein anderes der sich reformierenden ehemaligen sozialistischen Länder hat bisher eine ähnliche Konstruktion wie die Treuhand geschaffen‘. Rohwedder: ‚Modelle für unsere Arbeit gibt es nicht‘. Die Treuhand kann also nur aus eigenen Fehlern lernen“.60 Am 27. März 1991 hatte Dr. Detlev Karsten Rohwedder allen Mitarbeitern der Treuhandanstalt einen Brief geschrieben. Darin hatte er noch einmal Aufgaben und Ziele der in ihrer Arbeit auch heftiger Kritik ausgesetzten Treuhandanstalt umrissen. Nach seiner Ermordung am 1. April 1991 gilt dieser Brief als sein wirtschaftsund sozialpolitisches Vermächtnis.61 Dr. Detlev Rohwedder Präsident der Treuhandanstalt An alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Treuhandanstalt
27. März 1991
Sehr geehrte Damen und Herren, als Lektüre für die bevorstehenden Ostertage schicke ich Ihnen einige Gedanken zur gegenwärtigen Position der Treuhandanstalt. Ich wünsche Ihnen ein frohes Osterfest! Mit freundlichem Gruß Ihr Rohwedder Die Treuhand erfüllt ihren Auftrag: Schnelle Privatisierung – entschlossene Sanierung – behutsame Stillegung. 1. Die Entscheidung für die deutsche Einheit war zugleich eine Entscheidung für Soziale Marktwirtschaft in ganz Deutschland. Dies macht einen umfangreichen Umbau der Wirtschaft in den neuen Bundesländern erforderlich. Viele Arbeitsplätze mit unzureichender Produktivität sind dadurch verlorengegangen, andere müssen mit hohem Aufwand an Kapital, Kenntnissen und Erfahrungen umgestaltet werden, neue Arbeitsplätze müssen in Bereichen wie dem Bauwesen, den Dienstleistungen etc. entstehen – auf Gebieten, die in der ehemaligen DDR traditionell unterversorgt waren. 2. Zentrale Aufgabe, die der Gesetzgeber der Treuhandanstalt gestellt hat, ist es, diesen Umbau der Unternehmen herbeizuführen und zu begleiten. Das der
60 Christ, Peter, in: Die Zeit, 8.11.1990. 61 Treuhandanstalt (Hrsg.): Dokumentation 1990-1994, Bd. 1, Berlin 1994, S. A72-A75.
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Treuhandanstalt gesetzte Ziel ist, die Staatswirtschaft so schnell wie möglich zurückzudrängen und neue unternehmerisch aktive Eigentümer zu finden. 3. Der Weg zu diesem Ziel ist heute verständlicherweise umstritten. Nachdem die Wirtschaft der neuen Bundesländer voll in den Wettbewerb des Weltmarktes integriert ist, haben viele Arbeitsplätze ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren, die sie vorher durch Subventionen und Abschottung vom Weltmarkt scheinbar hatten. Die Entscheidung, diese Arbeitsplätze abzubauen, ist schmerzlich für die Betroffenen, sie aufrecht zu erhalten ist teuer für die Gesamtheit und verlangsamt den gewollten Umbau der Volkswirtschaft. 4. Der Treuhandanstalt ist die Verantwortung für die Entscheidungen im Einzelfall übertragen worden. Sie darf nicht das Ziel ändern, aber sie hat das Tempo im Einzelfall und insgesamt unter Berücksichtigung der sozialen, wirtschaftlichen und finanziellen Folgen abzuwägen. Grundlage ihrer Arbeit sind die Prinzipien, die Bundesregierung, Ministerpräsidenten der neuen Länder und Treuhand-Vorstand im 8-Punkte-Programm für den Aufschwung Ost zur gemeinsamen Basis gemacht zu haben. 5. Priorität wird auch weiterhin die Überführung von Unternehmen in privates Eigentum haben. Dies ist der beste Weg, um mit neuem Wissen, neuem Kapital und neuen strategischen Unternehmenszielen ein Unternehmen und seine Arbeitsplätze zu erhalten und ihm eine neue Zukunft zu geben. Privatisierung ist die wirksamste Sanierung. 6. Unternehmen, die Zukunftschancen haben, die aber noch nicht privatisiert sind, wird die Treuhandanstalt weiterhin in der unternehmerischen Verantwortung des Eigentümers entschlossen unterstützen, ihre Sanierung ebenso wie ihr Wachstum finanziell absichern und tragen. Sie wird bei der Anpassung an die neue Markt- und Wettbewerbslage die sozialen Belange der Mitarbeiter berücksichtigen, muß jedoch auch darauf achten, daß nicht die Zukunftschancen des Betriebes – und dazu gehört die Privatisierung – gefährdet werden. Hier sind Arbeitsplatzverluste so wenig zu vermeiden wie bei der Privatisierung oder bei der Stillegung. Sanierung ist ständiger Auftrag der Treuhandanstalt für die Unternehmen auf dem Weg zur Privatisierung. 7. Es gibt in den neuen Bundesländern Betriebe, die keine Chance haben, Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen; vielfach sind dies Fertigungen, die in anderen Teilen Europas schon vor vielen Jahren im Strukturwandel aus dem Markt ausgeschieden sind. In diesen Fällen ist die Stillegung unvermeidlich. Die Treuhandanstalt ist bemüht, diesen Stillegungsprozeß behutsam zu strecken, um Zeit für das Aufwachsen neuer Arbeitsplätze zu gewinnen. Sie wird sich insbesondere dafür einsetzen, daß Gebäude und Infrastruktur für deren zügige Ansiedlung genutzt werden, auch wenn dies nur Übergangslösungen bis zur Fertigstellung von Neubauten sind.
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Stillegungen sollen zum Kristallisationskern neuer Aktivitäten werden. 8. Die Treuhandanstalt hat einen gesetzlichen Auftrag und sie leistet ihre Dienste in Erfüllung dieses Auftrages. Sie ist verpflichtet, unternehmerisch zu handeln – aber nicht im Eigeninteresse: Ihre Aufgabe ist Dienstleistung für das ganze Volk. 9. In einem Prozeß, den das ganze deutsche Volk wollte, hat die Treuhandanstalt dabei die schwere Aufgabe, schmerzliche aber unvermeidliche Umstellungen zu verantworten, die nötig sind, um das gemeinsame Ziel zu erreichen. 10. Vorstand und Mitarbeiter müssen wohl volles Verständnis dafür haben, daß diese Arbeit mit kritischer Aufmerksamkeit begleitet wird. Anfeindungen und Verleumdungen sind aber keine Kritik und können uns daher nicht treffen. Ich wünsche Ihnen ein Frohes Osterfest! Mit freundlichem Gruß Ihr Rohwedder
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Dr. Detlev Karsten Rohwedder 16. Oktober 1932 1953 1957 1960 1961 1962 1963 - 1969 1969 - 1978 1979 1980 1982 1983 3. Juli 1990 29. August 1990 November 1990 1991
geboren in Gotha/Thüringen Abitur in Rüsselsheim, anschließend Studium der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in Mainz und Hamburg Referendar-Examen Rohwedder heiratet Hergard Toussaint. Aus der Ehe gehen zwei Kinder, Philipp und Cäcilie, hervor Promotion zum Dr. jur. Assessor-Examen Leiter der Rechts- und Steuerabteilung und Mitinhaber der Kontinentale Treuhandgesellschaft/Wirtschaftsprüfungsges. in Düsseldorf Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft Stellvertr. Vorsitzender im Vorstand der Hoesch AG, der Hoesch Werke AG und Vorstandsmitglied der Estel NV Vorstandsvorsitzender der Hoesch AG, Stellv. Vorstandsvorsitzender Estel NV Vorstandsvorsitzender Hoesch AG und der Hoesch Werke AG (nach Auflösung von Estel) Wahl zum „Manager des Jahres“ Berufung zum Vorsitzenden des Verwaltungsrates der Berliner Treuhandanstalt Präsident der Treuhandanstalt erneute Wahl zum „Manager des Jahres“ Terroristen ermorden Detlev Karsten Rohwedder in Düsseldorf.
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5.3. Vom Plan zum Markt: Erfolge, die schmerzen Von Gerd v. Gusinski62 5.3.1. Aus VEB wurden AG und GmbH Nicht nur Menschen, auch Firmen und deren ·Produkte haben ihre Schicksale auf dem schwierigen Weg in die Soziale Marktwirtschaft. Denn die Umwandlung der ehemaligen volkseigenen Betriebe (VEB) und Kombinate in Kapitalgesellschaften ist alles andere als einfacher Rollentausch, auch wenn viele ihre Befreiung von der Knute der zentralistisch-dirigistischen Planwirtschaft und ihre Überleitung in privatwirtschaftliche Rechtsformen – Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH) und Aktiengesellschaften (AG) – nur als einen weitgehend formalen Akt einschätzten. Für manche war es nicht einmal das, sondern lediglich ein Etikettenschwindel. Umwandlung: ein Etikettenschwindel? Eine solche Folgerung liegt nahe, da in der Anfangsphase auch versucht wurde, planwirtschaftliche Elemente zu retten. Sie wird dadurch bekräftigt, daß die Umwandlung per Modrow-Regierungsbeschluß zentral verordnet wurde und die Generaldirektoren der Kombinate und die Betriebsdirektoren – also die alte Nomenklatura – mit der Umwandlung beauftragt wurden. Das alles geschah in einer Situation, in der nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 der Ruf nach Vereinigung immer drängender wurde und eigentlich schon klar war, daß es die Planwirtschaft nicht mehr geben würde; sie hatte sich selbst „außerplanmäßig“ abgewirtschaftet. Die Widersprüchlichkeit jener Zeit wird auch daraus ersichtlich, daß einerseits die Abschaffung der zentralistischen Wirtschaftsführung und des VEB-Status längst überfällig, andererseits aber noch im Januar/Februar 1990 die Kombinate und Betriebe gehalten waren, Planvorschläge zu erarbeiten. Und zwar nach althergebrachtem Muster auf der Grundlage staatlicher Vorgaben. Ziemlich rasch setzte sich – quer durch die politischen Gruppierungen jener Zeit – die Auffassung durch, daß flexible, unternehmerisch handelnde Wirtschaftseinheiten eine unverzichtbare Bedingung für den wirtschaftlichen und sozialen Wandel sein werden. Überfällig war nicht nur die Auflösung der Kombinate zur Beseitigung der faktischen Produktionsmonopole, sondern auch die Zulassung privater Unternehmen und die Überwindung der halbherzigen Schritte ausländischer Kapitalbeteiligung. Von der Bürgerbewegung wurde zudem gefordert, die Bürger über „Anteilscheine oder andere Arten von Wertpapieren“ am Volkseigentum zu beteiligen und dabei zu „marktwirtschaftlichen Eigentumsformen“ überzugehen.
62 Aus: Treuhandanstalt. Dokumentation 1990-1994, Band 3, Berlin 1994, S. 263-286. Quelle: Die Wirtschaft (Hrsg.): Kombinate. Was aus ihnen geworden ist, Berlin 1993.
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Der Beschluß „zur Umwandlung von volkseigenen Kombinaten, Betrieben und Einrichtungen in Kapitalgesellschaften“ vom 1. März 1990 kam wesentlich auf Druck des Runden Tisches zustande und geht auch inhaltlich auf ihn zurück. Die Übergangsregierung Modrow war dabei nicht viel mehr als die unter dem Zwang der Realitäten ausführende Instanz. Von ihr gehegte Vorstellungen einer Verbindung von planwirtschaftlichen Elementen mit Prinzipien der Marktwirtschaft unter Beibehaltung der Zweistaatlichkeit für einen längeren Zeitraum erwiesen sich damit endgültig als hinfällig. Dennoch setzte die Umwandlung der Kombinate und Betriebe in Kapitalgesellschaften äußerst schleppend ein. Verzögerungstaktik und Unfähigkeit waren damals noch die mildesten Vorwürfe. Allerdings darf nicht übersehen werden, daß dabei auch sachliche Gründe verschiedener Art eine Rolle spielten. Das war zum einen schlichte Unkenntnis über die „neue Ordnung“. GmbHund Aktiengesetz als rechtliche Grundlage der Umwandlung waren weithin unbekannt; sie galten jahrzehntelang als Begriffe von einem anderen Stern. Ausdruck dieser inhaltlichen Hilflosigkeit waren die damals oft gestellten Fragen, ob man sich z. B. in eine GmbH oder in eine AG umwandeln solle, was den Unterschied zwischen beiden ausmache und ob eine AG nicht mehr Gewicht und Wirkung verspreche? Offensichtlich hatte man dabei das Bild international renommierter Aktiengesellschaften vor Augen oder erinnerte sich der eigenen Konzern-Herkunft aus DDR-Vorzeiten. Zum anderen sollte die Umwandlung rechtlichen Mindestanforderungen entsprechen. Dazu gehörten nicht zuletzt Gesellschaftsvertrag, Satzung, Abschlußund Eröffnungsbilanz, Aufstellung der Forderungen und Verbindlichkeiten sowie Gründungsbericht der Kapitalgesellschaft. Die Aufstellung der Schlußbilanz sollte vor allem der lückenlosen Erfassung der Vermögenswerte dienen. Dazu war die Bilanz zum Stichtag der Umwandlung aufzustellen und von unabhängigen Gutachtern – zunächst noch die damalige Staatliche Finanzrevision – zu prüfen. In einer Schlußbilanz waren alle Vermögensänderungen zu erfassen, die in den Unternehmen zwischen der bestätigten Jahresbilanz per 31.12.1989 und dem Tag der Umwandlung eingetreten waren. Damit sollten ungesetzliche Manipulationen und unkontrollierte Verkäufe von Vermögenswerten gestoppt und für die Zukunft unterbunden werden. Der dafür erforderliche Zeitaufwand – ganz abgesehen von den massiven Engpässen an Wirtschaftsprüfern und Notaren zur Beurkundung der Umwandlung – war einer der Gründe, warum der Umwandlungsprozeß nur langsam einsetzte. Des weiteren kam hinzu, daß der Gründungsbericht konkrete Vorstellungen zum Unternehmenskonzept enthalten sollte. Im April 1990 gehörte zu den gutgemeinten Hinweisen der wieder aufgelegten ostdeutschen Wirtschaftswochenzeitung Die Wirtschaft (ihr Erscheinen war zu DDR-Zeiten unter dem Vorwand der Papiereinsparung eingestellt worden), vor der Umwandlung bereits zu prüfen, ob ein Unternehmen mit seinem Produktionsprofil und mit seinen Leistungen wettbewerbsfähig sei. Da mit dem Dirigismus der Vergangenheit auch die Subventionen, Richtungskoeffizienten, die alten Preise und viele andere die Realität verzerrenden Eingriffe wegfallen würden, sollten
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tragfähige Lösungen aus einer treffsicheren Bestimmung des Erzeugnisprofils in Verbindung mit einem technisch-technologischen Quantensprung und einer drastischen Verringerung des Aufwands abgeleitet werden. Ausdrücklich wurde in dem Artikel betont, daß ein erheblicher Teil der Betriebe an seinem Konzept für die ökonomische Umstellung noch arbeiten müsse. Sicher, in den Betrieben wurde analysiert, wurden Konzepte und Konzeptionen gemacht, fand teilweise ein intensiver Dialog zwischen Betriebsleitung und Belegschaft statt, aber mit Illusionen und großen Erwartungen, die mit dem Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion wie ein Kartenhaus zusammenbrachen. Die wichtige Frage, in welcher Form sich ein Betrieb organisiert, sei erst dann zu beantworten, wenn sich herausgestellt hat, daß der Betrieb unter Konkurrenzbedingungen wirklich existenzfähig ist, war ein fachlich korrekter Rat der Journalisten, aber zugleich war er wirklichkeitsfremd. Denn wer dachte damals schon ernsthaft daran, daß betriebliche Umstrukturierung auch Stillegung bedeuten könnte? Massenhafter Austritt aus den Kombinaten. Die Umwandlungsverordnung sah zwar eine Entflechtung der Kombinate nicht ausdrücklich vor, jedoch eröffnete sie die Möglichkeit, daß sich die Betriebe mit der Konstituierung als Kapitalgesellschaften aus dem bisherigen Kombinatsverband lösen und den Weg als eigenständige Gesellschaft gehen konnten. Was verklausuliert lautete „die umgewandelte Gesellschaft kann auch eine neue Firma gemäß den Rechtsvorschriften annehmen“, hieß im Klartext: ehemals eigenständige Betriebe, die irgendwann einmal zu Betriebsstätten in VEB degradiert wurden, oder lebensfähige Betriebsteile der VEB durften sich selbständig machen. Das war in der emotionsgeladenen Zeit gewissermaßen das Überdruckventil, um sich von der verordneten Kombinats-Zugehörigkeit und rigiden KombinatsBevormundung zu befreien sowie sich des politischen und administrativen Diktats der Auflagenerfüllung zu entledigen. Die Umwandlung in Kapitalgesellschaften war deshalb nicht nur ein notwendiger formalrechtlicher und inhaltlicher Schritt, die volkseigenen Wirtschaftseinheiten in marktwirtschaftliche Organisationsformen zu überführen, sondern mit der Umwandlung entlud sich auch der ganze Kombinats-Frust. Die Umwandlung wurde so zum gesellschaftlichen Ausgangspunkt freien Unternehmertums. Da die Umwandlungsverordnung den Betrieben freistellte, welche Rechtsform einer Kapitalgesellschaft gewählt wurde, kam es – von den Belegschaften nachdrücklich gefordert und vielfach erst auf ihren Druck hin – zu massenweisen Austritten aus den Kombinaten. Das betraf vor allem Kombinatsgebilde, die im Grunde nichts anderes als zwangsverordnete Zusammenschlüsse waren. Diese Betriebe hatten untereinander kaum arbeitsteilig-kooperative Bindungen, sie produzierten mehr oder weniger parallel und im Kombinat wurde ein Sammelsurium unterschiedlicher Sortimente hergestellt. Einziger gemeinsamer Nenner war die einheitliche Kombinats-Leitung. Von der Sortiments-Zusammenballung her ähnelten manche bezirksge-
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leiteten Kombinate einer Volkswirtschaft im Brennglas, wobei vieles hineingepreßt war, auch wenn es nicht zusammenpaßte. So reichte beispielsweise im ehemaligen Kombinat Maschinenbauerzeugnisse Dresden die Erzeugnispalette von Schwimmbaggern bis zu Bestecken. Indem sich die Betriebe dieser zusammengewürfelten Konglomerate in selbständige GmbH umwandelten, kam es faktisch zur Selbstauflösung bezirksgeleiteter Kombinate. Aber auch eine Reihe von zentralgeleiteten Kombinaten, z. B. im Bereich der Leichtindustrie, zerfiel in Einzelteile. Neben den Kombinaten Wolle und Seide, Kombinat Baumwolle oder Technische Textilien war einer dieser Fälle das ehemalige Kombinat Trikotagen. Es löste sich im Juni 1990 selbst auf. Einer der größten Kombinatsbetriebe, das Thüringer Obertrikotagenwerk Apolda, bildete eine Aktiengesellschaft, die sich aus den in GmbH umgewandelten Betriebsteilen zusammenschloß. Nach dem Zusammenbrechen der heimischen Absatzmärkte und der osteuropäischen Exportmärkte mußte bereits im April 1991 die Liquidation dieser AG eingeleitet werden; nur Betriebsteile bekamen durch neue private Eigentümer eine marktwirtschaftliche Perspektive. Der Austritt aus den Kombinaten erfolgte jedoch nicht allein oder überwiegend aufgrund der verbreiteten Anti-Kombinats-Haltung, der verständlichen Aversion gegen umtriebige Kombinatsleitungen, die sich in einer Reihe von Kombinaten geschlossen zur „Generaldirektion“ umgebildet hatten, oder wegen der Ablehnung der „SED-Promis“ in den·Kombinats-Führungsetagen. Motiv der Belegschaften war vor allem die nicht unrealistische Annahme, sich als Einzelunternehmen eine überschaubare Perspektive zu erarbeiten und als selbständiger Betrieb mehr Spielraum für unternehmerische Entscheidungen und Initiative zu besitzen als unter dem Dach einer Kombinats-AG. Von ihr wurde selbst im günstigsten Fall lediglich die Fortsetzung des üblichen Berichtsunwesens erwartet. Teilweise hielt man überdies intensiv Ausschau nach westdeutschen Unternehmen als Partner für Kooperationen oder Beteiligungen. Auch daher der Entschluß von Betrieben mit Profil, sich vom Kombinat möglichst schnell abzunabeln. Nicht selten bedeutete der Entschluß zur Trennung eine scharfe Auseinandersetzung mit Kombinatsleitungen, die das Konzept einer Umwandlung in eine Kombinats-AG und damit die eigene Absicherung betrieben. Viel Kraft und Zeit kostete es auch, die Bürokratie-Hürde zu nehmen, da zur Umwandlung die Stellungnahme des übergeordneten Organs einzuholen war. Von den damals noch bestehenden Industrieministerien und Kombinatsleitungen wurde teilweise auf diesem Wege versucht, den Austritt von Betrieben aus dem Kombinat zu verhindern. Besonders dann, wenn es sich um solche handelte, die als leistungsstark eingeschätzt wurden. Dieser Hindernislauf führte bei der Umwandlung zweifellos zu Verzögerungen. Kombinats-Konzerne: Rückzug auf Raten. Aber es gab auch jene Seite der Medaille; eine Reihe von Kombinatsleitungen und Kombinatsbetrieben ging jedenfalls davon aus: Um sich im Marktwettbewerb zu behaupten, könne eine Verbundlösung die bessere Basis sein, als wenn jeder Betrieb auf sich gestellt seine Zukunft in der Marktwirtschaft wage.
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Solche Überlegungen gab es in den Kombinaten des Bergbaus und der Grundstoff-Industrie, beispielsweise im ehemaligen Kali-Kombinat mit seinen Kalibetrieben „Südharz“, „Werra“, „Saale“ und dem Kaliwerk Zielitz. Mit seiner im Grunde gleichgelagerten Förderung und Aufbereitung von Stein- und Kalisalzen umfaßte das Kombinat zu DDR-Zeiten faktisch die gesamte Salzwirtschaft. (Die einzelnen Kalibetriebe bestanden wiederum aus mehreren Gruben und Aufbereitungswerken, zum Beispiel der Kombinatsbetrieb „Südharz“ aus den Kaliwerken Bleicherode, Bischofferode, Roßleben, Sollstedt, Sondershausen und Volkenroda.) Die Betriebe wandelten sich in Aktiengesellschaften um: in die Kali Südharz AG, Kali Werra AG, Zielitz Kali AG und in sechs GmbH, die zusammen den Konzern „Mitteldeutsche Kali AG“ bildeten. Die Vertreter der Belegschaften der Betriebe und Werke bezeichneten damals in ihrer Zustimmungserklärung diesen Weg der Umwandlung in Aktiengesellschaften und „daraus abgeleitet die Bildung einer Holding als Solidargemeinschaft für die komplexe Sicherung der Effektivitäts- und Rentabilitätsentwicklung bei sozialer Sicherstellung der Arbeitnehmer als unabdingbar“. Ausdrücklich wurde zudem hervorgehoben, daß im Rahmen der Holding keine weitere Zersplitterung von Betriebseinheiten zugelassen werden dürfte und Ausgliederungen als GmbH sollte grundsätzlich nur zugestimmt werden, „wenn diese Umwandlungen der Erhaltung von Arbeitsplätzen dienen und zur Verbesserung der Gewinnlage der Aktiengesellschaften beitragen“. Man wollte konzentriert im Verbund in den Marktwettbewerb gehen, da der Kalimarkt von Produzenten-Kartellen gestaltet wird, die ihre Absatz- und Preispolitik nicht voreinander geheimhalten. Der Mitteldeutschen Kali AG gelang es im Frühjahr 1991, sich in dieses Kartell einzukaufen. Dennoch begann mit der Anpassung an die marktwirtschaftlichen Strukturen die schwierigste Zeit in der über hundertjährigen Geschichte des ostdeutschen Kalibergbaus. Sechs von zehn Kaligruben mußten stillgelegt werden; ihre Vorkommen waren unter Marktbedingungen nicht mehr wirtschaftlich abzubauen. Und als Mitte 1993 die Fusion mit der westdeutschen Kali und Salz AG eingegangen wurde, kam es zu weiteren Stilllegungen in der ostdeutschen Kaliindustrie. Die Umwandlung der Kombinatsbetriebe in AG und deren Zusammenschluß zu einem Konzern – Mitteldeutsche Kali AG – sowie deren Privatisierung auf dem Wege der Fusionierung war zwar ein Sonderfall. Der Weg einer Umwandlung der Kombinatsbetriebe in Kapitalgesellschaften und Verbindung unter dem Dach einer Holding wurde aber auch von anderen gegangen. Insbesondere in Kombinaten, in denen die innerkombinatliche vertikale Arbeitsteilung ausgeprägt war oder spezialisierte Finalproduzenten unterschiedliche Erzeugnissegmente fertigten, deren Zusammenführung erst ein marktfähiges Sortiment in der entsprechenden Angebotstiefe ergab. Das betraf Kombinate, die meist branchenrein und relativ organisch gewachsen waren, eine gemeinsame Absatz- und Vertriebsorganisation hatten und unter einheitlichem Warenzeichen auftraten. Als weiteres Beispiel für eine Umwandlung soll das Kombinat Elektromaschinenbau Dresden dienen.
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Das ehemalige Kombinat Elektromaschinenbau Dresden war der zweitgrößte Exporteur des DDR-Maschinenbaus in westliche Länder und hatte in der Inlandsversorgung mit Elektromotoren eine weitgehende Monopolstellung. Anfang April 1990 schlossen sich die 15 in GmbH umgewandelten Betriebe zur VEM Antriebstechnik AG zusammen. Als eine wichtige Überlegung für den Zusammenschluß der Unternehmensgruppe in der Gesellschaftsform einer Holding AG wurde angesehen, daß der Absatz auf westlichen Märkten unter dem eingeführten Warenzeichen „VEM“ im Verbund besser gesichert und ausgebaut werden könne. Man wollte daher auch weiterhin z. B. den Vertrieb oder die Erzeugnisentwicklung zentral organisieren. Bei diesen Verbundlösungen hat aber auch eine Rolle gespielt, daß man durch die bisherige Stellung eines Monopolherstellers verwöhnt war. Abnehmer waren vielfach auf Gedeih und Verderb einzig von seiner Gnade abhängig. Erinnert sei an die Vorteile bilanzierender Kombinate im permanenten Kampf um Bilanzanteile oder an die vielen Bittgänge zu Zuliefermonopolisten, wenn sich die sogenannten Bilanzzuweisungen als „Luftnummer“ erwiesen. Typisch DDR waren auch die Tauschkreisläufe der Schattenwirtschaft, bei denen Beziehungen ausschlaggebend waren, wenn Engpaßmaterial organisiert werden mußte; auch hier saßen die Alleinanbieter am längeren Hebel. Die vorteilhafte Monopolstellung unter den Bedingungen ständiger Defizite hat nicht unerheblich zur Überschätzung der künftigen Position unter tatsächlichen Wettbewerbsbedingungen beigetragen. Der Grad der Selbsttäuschung über die reale Marktfähigkeit war groß. Und nicht minder die Naivität, als kombinatsähnlicher Konzern mit markterfahrenen, durch jahrzehntelange Behauptung gegen schärfste Konkurrenz „gehärtete“ Unternehmen mithalten zu können. Damit war oftmals bereits bei der Gründung der Keim des Mißerfolgs solcher Verbundlösungen gelegt; nicht wenige erwiesen sich als mißglückte Zwischenetappe, auf die eine weitere Umstrukturierung nach Kriterien der Marktökonomie folgen mußte. Allerdings war die „geschlossene Verbundlösung“, bei der sich die Betriebe des ehemaligen Kombinats ausnahmslos zusammenschlossen, die Ausnahme. Als Regelfall für gemeinsames Vorgehen bildete sich die „selektive Verbundlösung“ heraus, bei der lediglich Kombinatsbetriebe der gleichen Produktlinie zusammen mit den Komponentenherstellern einen Verbund eingingen. Basis dieser Entscheidung war u. a., als Komplettanbieter technologischer Fertigungslösungen und durch entsprechende Synergieeffekte sowohl betriebswirtschaftlich als auch angebotsseitig Pluspunkte machen zu wollen. Hingegen sahen Finalproduzenten mit eigener Erzeugungstradition das größte Plus in der Eigenständigkeit. Das betraf aber auch Zuliefererbetriebe mit Tradition, für deren ehemalige Eingliederung der hohe Selbstversorgungsgrad der Kombinate bestimmend war, um damit das ständige Dilemma von Lieferengpässen zu umgehen. Kennzeichnend für diese Tendenz der selektiven Verbundlösung – bei gleichzeitigem Austritt eines Teiles ehemaliger Kombinatsbetriebe aus dem Kombinatsverband – war die Umwandlung im Werkzeugmaschinenkombinat „7. Oktober“ Berlin:
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Aus den 16 Kombinatsbetrieben entstanden im Rahmen der Umwandlung 22 GmbH, da sich z. B. aus dem Bereich Technologie und Projektierung drei GmbH gründeten; von den 22 GmbH schlossen sich 16 im Rahmen der Niles-lndustrie GmbH zu einem Verbund zusammen und 6 GmbH entschieden sich für Eigenständigkeit.
Vorwiegend in der Grundstoffindustrie, im Schwermaschinen- und Anlagenbau sowie in der Werkzeugmaschinenindustrie – auch aufgrund von Empfehlungen westlicher Unternehmensberater – ging der Trend zunächst zur Bildung von Holdings. Dennoch setzte er sich in der Industrie insgesamt nicht durch. Tatsächlich begann mit der Umwandlung der Verfall der Kombinatsstrukturen. In trügerischer Hoffnung. Bereits in dieser ersten, spontanen Phase der Umwandlung wurden über 200 Kombinate aufgelöst. In der Konsumgüterindustrie waren es immerhin rund vier Fünftel und in der Investitionsgüterindustrie fast zwei Drittel der ehemaligen Kombinatsbetriebe, die einen neuen Verbund in einer Holding ablehnten. Aus den insgesamt über 8.000 ehemals volkseigenen Betrieben, die in rund 430 Kombinaten – davon 270 in Industrie und Bauwesen –, zusammengeschlossen waren, entstanden über 7.000 selbständige, nicht verbundene Kapitalgesellschaften. Etwa 1.100 Kapitalgesellschaften gingen Verbundlösungen ein. Im Zuge der Umwandlung in Kapitalgesellschaften vollzog sich ein weiterer Umstrukturierungsschritt, der auch zu ersten Veränderungen der Betriebsgrößenstrukturen führte: die Teilung von Kombinatsbetrieben in mehrere selbständige Kapitalgesellschaften. Diese Aufsplittung war besonders in den Bereichen der Leicht- und Lebensmittelindustrie, der Metallwarenherstellung und im Bauwesen ausgeprägt. Aus einem Kombinatsbetrieb entstanden teilweise mehr als fünf Kapitalgesellschaften. So waren bis Ende Juni 1990 aus 100 volkseigenen Betrieben im Bereich der zentralgeleiteten Industrie zwar nur etwas mehr als 120 Kapitalgesellschaften hervorgegangen. Aber im Bereich der bezirksgeleiteten Industrie lag der „Teilungsquotient“ im Durchschnitt immerhin bei 1:3. Allerdings bedeutete die Umwandlung in Kapitalgesellschaften und die damit einhergehende Auflösung von Kombinaten nicht, daß damit bereits markt- und wettbewerbsfähige Unternehmensstrukturen entstanden. Denn: Die Austritte aus dem Kombinatsverband waren zunächst einmal Reaktion auf und Befreiung von Kombinatszwängen und dirigistischen Kommandomethoden. Den „Wasserkopf“ Kombinat wollte man endgültig loswerden. Die Austritte waren Umbruch und Veränderung von unten, in scharfer Auseinandersetzung mit politisch belasteten und inkompetenten Leitungskräften. Aber die Umwandlung war noch nicht der systematische Entflechtungs- und Umstrukturierungsprozeß nach Wettbewerbserfordernissen. Dazu fehlte vor allen Dingen eigenes Management-Wissen. Und nicht wenige Betriebe haben bereits damals die Erfahrung machen müssen, daß auch westliche Unternehmensberater mit ihren Vorstellungen falsch lagen. Deren „Bilderbuchlösungen“ erwiesen sich nicht selten als enorm teure Makulatur.
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Selbst die Treuhandanstalt, die zeitgleich mit der Verordnung über die Umwandlung der volkseigenen Kombinate und Betriebe in Kapitalgesellschaften am 01.03.1990 gegründet worden war, ist in dieser ersten Phase spontaner Umwandlungsschritte nicht nur Hilfe gewesen. Diese Charakterisierung gilt, obwohl ihr Auftrag darin bestand, die Umwandlung der Unternehmen zu unterstützen, um anschließend die Gesellschaftsanteile der Kapitalgesellschaften zur „treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums“ zu übernehmen. In Abkehr von der Zentralplan-Praxis sollte die Treuhandanstalt – wie es in der Gründungsverordnung vom 01.03.1990 hieß – keine „wirtschaftsleitenden Funktionen“ ausüben. Bereits der damalige Status einer öffentlich-rechtlichen Anstalt – entlehnt dem bundesdeutschen Recht – sollte dies wohl unterstreichen. Aber in der Zeit des Umbruchs übte alles, was nach Zentralismus roch, eine intensive, wenn auch verständliche Reizwirkung aus. So riefen selbst empfehlende Muster-Verträge für GmbH oder AG, die lediglich als Hilfe in juristischen Fragen der Umwandlung gedacht waren, Mißtrauen hervor. Ob berechtigt oder nicht – alles, was von der Treuhandanstalt kam, hatte den penetranten Stallgeruch zentraler Planungsbürokratie unseligen Angedenkens an sich. Die Selbst-Umwandlung der Betriebe und Kombinate einerseits und die Bremsertätigkeit der Treuhandanstalt andererseits waren kurze Episode. Immerhin wandelten sich von Anfang April bis Ende Juni 3.605 ehemalige Kombinate und Betriebe in Kapitalgesellschaften um. Mit dem Treuhandgesetz – von der Volkskammer am 17.06.1990 beschlossen – wurden im Hinblick auf die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion nicht nur die restlichen Kombinate und Betriebe per Dekret in Kapitalgesellschaften umgewandelt. Außerdem hat das erste und letzte frei gewählte DDR-Parlament den Treuhandauftrag neu bestimmt: die unternehmerische Tätigkeit des Staates durch Privatisierung so rasch und so weit wie möglich zurückzuführen und die Wettbewerbsfähigkeit möglichst vieler Unternehmen herzustellen. 5.3.2. Mitte 1990 wurde es ernst Die Umwandlung der ehemaligen volkseigenen Betriebe und Kombinate und die damit einhergehenden horizontalen und vertikalen Entflechtungsschritte der „Kombinats-Dinosaurier“ waren erst das Vorspiel des Umstrukturierungs- und Anpassungsprozesses an marktwirtschaftliche Bedingungen. Mit der Währungsund Wirtschaftsunion wurden die Probleme schlagartig sichtbar. Jenseits ökonomischer Vernebelung Der „in sich geschlossene Reproduktionsprozeß“ – von Forschung und Entwicklung, über Produktion, einschließlich der Eigenherstellung wichtiger Zulieferungen und dem Bau von Rationalisierungsmitteln, bis zum Absatz – hatte eine weitgehend autarke Kombinatswirtschaft zum Ergebnis. Demgegenüber vollzogen sich international entgegengesetzte Tendenzen hin zur „schlanken Produktion“, deren wichtigste Ziele eine wesentliche Verringerung der Produktionstiefe und deutliche Kostenreduzierung sind. Sie wird durch einen innovativen, spezialisier-
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ten Zuliefermarkt ermöglicht, auf dem mittelständische Betriebsstrukturen dominieren. Was das gepriesene zweistufige „Leitungssystem Ministerium-Kombinat“ anbelangt, hatte es letztlich vor allem dazu geführt, den direkten Kommandoweg von oben nach unten zu perfektionieren. Natürlich fällt so eine weitgehende Schlußfolgerung heute leichter als damals. Zwar gaben manche Kombinatsleitungen die Anweisungswut von oben nach unten gedämpft weiter. Dadurch wurden indes lediglich in Einzelfällen kleine Freiräume abseits vom Plan geschaffen. Tatsache bleibt: Die übermächtigen Staatskombinate agierten in einem faktischen Produktionsmonopol. Hierdurch wurde – zusammen mit den zentralen Auflagen für Produktion und Absatz – jeglicher Wettbewerb mit seinen angebotsbelebenden und effizienzfördernden Impulsen erstickt. Und zwar gewollt und systembedingt. Mit der zwangsweisen Enteignung der Privatbetriebe sowie der Bertriebe mit staatlicher Beteiligung und mit dem Argument der besseren Leitbarkeit der Kombinate wurde auch die ehemals ausgeprägte mittelständische Unternehmensstruktur zugrunde gerichtet. Noch Mitte der 50er Jahre wurden in der damaligen DDR über 40 % der Wirtschaftsleistung in mittelständischen Betrieben erzeugt, bis rigorose Verstaatlichungspolitik und Kombinats-Gigantomanie die kleinen und mittleren Unternehmen weitgehend beseitigte. Ende der 80er Jahre lag der Anteil der Industriebetriebe mittelständischer Betriebsgröße – gemessen an der industriellen Wirtschaftsleistung – lediglich bei etwas über 10 %. Entsprechend arbeitete auch nur jeder achte Industriebeschäftigte in Betrieben mittelständischer Größenordnung. Dagegen sind in mittelständischen Unternehmen der alten Bundesländer weit mehr als die Hälfte der Industrie-Erwerbstätigen beschäftigt. In modernen Volkswirtschaften sind die kleinen und mittleren Unternehmen die eigentlichen Giganten für Wirtschafts- und·Wachstumsdynamik. Demgegenüber war bekanntlich die Großbetriebseinheit ein Leitbild der Planwirtschafts-Ideologie. Die Betriebe der Kombinate hatten im Durchschnitt rund 900 Beschäftigte; sie waren aber keine betriebswirtschaftlich integrierten Produktionsstandorte, sondern bestanden nicht selten aus regional weit auseinanderliegenden Betriebsteilen. Der zentral verordneten und von den Kombinaten selbst angestrebten Eigenversorgungsideologie wurde alles untergeordnet; letztlich mit der Konsequenz: es wurde produziert, egal was es kostete. Der erklärte Sinn und Zweck von Ökonomie – effizientes Wirtschaften mit knappen Ressourcen – wurde damit auf den Kopf gestellt. Heute gestehen selbst frühere Hof-Ökonomen der DDR ein: Im Vergleich zum „Zusammenwirken von innerem Profitmotiv und äußerem Konkurrenzdruck“ als Antriebskraft wurde kein besseres Wirtschaftskraut gefunden. Verschiedene Analysen und Rentabilitätsberechnungen des Wirtschafts- und des Finanzministeriums der DDR unmittelbar vor der Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion gingen zunächst davon aus, daß ca. 50 bis 70 % der Betriebe der ehemals zentralgeleiteten Industrie in die Verlustzone geraten und die Rentabilitätsschwelle nur nach einer intensiven Sanierungsphase erreichen würden. Über
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30 % der in die Verlustzone geratenen Betriebe wurden als konkursgefährdet angesehen. Darunter befanden sich über 60 Großunternehmen mit jeweils mehr als 5.000 Betriebsangehörigen, z. B. das Pkw-Kombinat Chemnitz mit rund 60.000 Beschäftigten. Das DDR-Wirtschaftsministerium ging davon aus, daß bis Ende 1991 annähernd 350.000 Beschäftigte freigesetzt würden. Allerdings waren solche Rechnungen höchst unvollständig. Denn zu diesem Zeitpunkt (Mai/Juni 1990) lagen nur für eine geringe Anzahl von Unternehmen halbwegs aussagefähige Unternehmenskonzepte vor. Und die Einschätzung der Absatzentwicklung für die Zeit nach der Währungsumwandlung ging nicht selten von einer Fortschreibung der alten Absatzlage aus. Weiterhin wurden die Umsatzerlöse einfach von Mark auf D-Mark umgerechnet, ohne daß entsprechende Preislisten in D-Mark zugrundelagen. Es waren insgesamt mehr als vage Rechnungen, wobei oftmals der Wunsch Vater des Gedankens war. So wurde angesichts der unmittelbar bevorstehenden Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion in der Treuhanddebatte der Volkskammer dringender Handlungsbedarf angemahnt. und man ging davon aus, daß für die Betriebe nach der schlagartigen Konfrontation der ostdeutschen Industrie mit der westdeutschen und internationalen Konkurrenz etwa 3 Mrd. DM Liquiditätshilfe im Monat Juli erforderlich sein würden. Die Wirklichkeit verlief wesentlich dramatischer. Globalbürgschaften und Liquiditätshilfen: Retter der ersten Stunde. Unmittelbar nach der Währungsumstellung drohten über 7.600 Unternehmen – das war fast der gesamte Bestand an Treuhandunternehmen – in den Sog akuter Zahlungsunfähigkeit zu geraten. Mit dem Inkrafttreten des Vertrages über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion wurden die Betriebskonten im Verhältnis 2:1 umgestellt, damit halbierten sich die Kontenbestände für Umlaufmittel der Betriebe. Das Rechnungseinzugsverfahren, bei dem im Zahlungsverkehr zwischen den Betrieben die Rechnungszahlung gewissermaßen automatisch erfolgte, war eingestellt und die Betriebe verfügten nur über relativ geringe Barbestände. So konnten Rechnungen nicht mehr bezahlt werden. Deshalb wurde nur noch gegen Vorkasse geliefert. Das hatte zur Folge, daß die Mehrzahl der Unternehmen ihre Rechnungen für Warenlieferungen und Leistungen nicht begleichen konnten. Da die Betriebe weder über DM-Eröffnungsbilanzen noch über die·normalerweise üblichen Sicherheiten verfügten, auf deren Grundlage Banken Kredite gewähren, mußte Überbrückungshilfe von außen organisiert werden. Die Treuhandanstalt übernahm gegenüber den Banken Globalbürgschaften, wofür ihr zunächst ein Bürgschaftsrahmen von 10 Mrd. DM eingeräumt wurde. Aber der von den Betrieben allein für den Monat Juli beantragte Liquiditätsbedarf betrug rund 24 Mrd. DM. Aus alter, planwirtschaftlicher Gewohnheit wurde mehr gefordert, als tatsächlich benötigt wurde. Und manches wurde mitbeantragt, wofür andere zuständig waren. Die Mittel z. B. für die Sonderregelung beim Kurzarbeitergeld mußte zwar die Bundesanstalt für Arbeit bereitstellen, dies hatte sich aber bis zu den Betrieben noch nicht herumgesprochen. Ein Abschlag erschien angebracht. Aber wie hoch sollte er sein?
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Um das Schlimmste zu verhindern, wurden im Durchschnitt etwa 40 % des beantragten Liquiditätsbedarfs bestätigt und damit innerhalb weniger Tage über 10 Mrd. DM Kredite durch die Treuhandanstalt verbürgt. An eine Prüfung der Anträge, wie man es bei diesen Größenordnungen erwarten sollte, war nicht ernsthaft zu denken. Selbst zweistellige Millionenbeträge wurden teilweise per Fernschreiber genehmigt. Und zwar Tag und Nacht und unter dramatischem Zeitdruck, damit die Betriebe die Lohnzahlung für den Monat Juli vornehmen konnten. Durch die Globalbürgschaft der Treuhandanstalt wurde nicht nur die Lohnzahlung im Juli gesichert – bekanntlich die erste in D-Mark. Es wurde weiterhin verhindert, daß die Produktionskreisläufe zusammenbrachen. Die Gefahr eines Massenzusammenbruchs von Unternehmen wurde mit den treuhandverbürgten Liquiditätskrediten gebannt. Liquiditätsmäßig entspannte sich die Lage. So wurden – im Vergleich zum Juli 1990 – im September rund 2.000 Liquiditätskredit-Anträge weniger gestellt. Das war Ausdruck der Umstellung auf die veränderten Zahlungsmodalitäten, aber nicht Anzeichen einer verbesserten wirtschaftlichen Lage der Unternehmen. Im Gegenteil. Angesichts der scharfen Umsatzeinbrüche auf dem heimischen ostdeutschen Markt und nicht kostendeckender Erlöse schlugen Liquiditätsprobleme in Rentabilitätsprobleme um. Das heißt: Durch die Liquiditätskredite überlebten die Unternehmen „am Tropf“, da viele Unternehmen Verluste „produzierten“. Alles in allem wurden von der Treuhandanstalt im Zeitraum Juli bis September 1990 Kredite in Höhe von 25,4 Mrd. DM verbürgt. Das waren: 25.400 Mio. DM. Bei 8.000 Treuhandunternehmen ergaben sich pro Unternehmen über 3 Mio. DM. Gewiß, ein unechter Durchschnitt, aber der Schluß stimmte dennoch: Die ostdeutsche Wirtschaft war ein einziger Sanierungsfall. Sie war eine Subventionierungswirtschaft, die zum Glück einen Zahlmeister hatte: die Treuhandanstalt. War es Ironie des Schicksals, daß diese Einrichtung, gegründet zur „Wahrung des Volkseigentums“ nun tatsächlich – wenn auch unter völlig anderen Vorzeichen – eine solche Rolle zu übernehmen hatte? Die Treuhandanstalt hat sich dafür eingesetzt, die Bürgschaften für Liquiditätskredite über den ursprünglich nur kurz bemessenen Zeitraum von ein paar Monaten zu verlängern. Damit wurde Zeit gekauft für die Unternehmen; denn ohne die Liquiditätskredite hätte die Umstrukturierung und Sanierung vielfach überhaupt gar nicht erst beginnen können. Natürlich bedeuteten diese Liquiditätshilfen noch keine Sanierung. Aber sie haben eine Brücke gebaut und den Unternehmen die Chance gegeben, nach dem Sprung ins kalte Wasser des internationalen Wettbewerbs nicht unterzugehen. Erst dadurch wurde ihnen die Chance eröffnet, sich im Kampf um die nackte Existenz „freizuschwimmen“. Und sie konnten sich von einem markterfahrenen und kapitalkräftigen „Rettungsschwimmer“ helfen lassen; leider hatten bei weitem nicht alle diese Qualifikation. Unmittelbar nach und nicht zuletzt aufgrund der Folgewirkungen der Wirtschafts- und Währungsunion kam auf die Unternehmen ein Berg von Problemen zu. Er hatte einerseits branchenspezifische Zuspitzungen, andererseits gingen und
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gehen die Probleme quer durch die Branchen. Alles in allem waren für die übergroße Mehrheit der Unternehmen die Problem-Dimensionen existenzbedrohend. Ostdeutschland: Marktwirtschaft ohne Markt. Der heimische Markt fiel an den Westen: Mit der D-Mark kam über Nacht das westliche Waren- und Leistungsangebot. Mit der neugewonnenen Konsumentenfreiheit setzte verständlicherweise der Run auf „Westprodukte“ ein. Dabei wurde nicht nur ausprobiert, was aus der Fernsehwerbung bekannt war. Wegen der tatsächlichen oder vermeintlichen Qualitätsüberlegenheit wurden die Westwaren in einem Umfang bevorzugt, der auf einen „de facto Boykott“ der vertrauten, aber ungeliebten DDR-Fabrikate hinauslief. Es war buchstäblich überwältigend: Nachdem man zu DDR-Zeiten 15 Jahre Wartezeit für ein Auto einplanen mußte und ein Pkw westlicher Marke für den DDR-Normalbürger ein unerfüllbarer Traum war, schossen nun Neu- und Gebrauchtwagenhändler wie Pilze aus dem Boden. Angesichts dieses Angebots waren „Trabant“ und „Wartburg“ so gut wie „out“. Es fanden sich kaum noch Käufer. Ähnlich war die Situation bei anderen technischen Konsumgütern, beispielsweise der Unterhaltungselektronik. Ob Nahrungsmittel oder Bekleidung, ob Schuhe oder Spirituosen: DDR-Produkte waren faktisch nicht mehr oder höchstens noch zu Schleuderpreisen absetzbar. Damit war der Absturz vieler heimischer Produzenten vorprogrammiert. Denn Einfuhrzölle für Westwaren beispielsweise zum angeblichen Schutz einheimischer Hersteller hätten bei den Verbrauchern mit Sicherheit kein Verständnis gefunden. Aber ebensowenig hätte es Sinn gemacht, Ost-Erzeugnisse zu subventionieren. Beim „Wartburg“ waren es, bevor die Produktion im Frühjahr 1991 auslief, über 6.000 DM je Fahrzeug gewesen. Aber es fanden sich trotzdem nicht genügend Käufer. Da kaum jemand Trabant oder Wartburg kaufen wollte, mußte die Produktion eingestellt werden. Der Siegeszug der Westwaren in die ostdeutschen Haushalte und die damit einhergehenden Umsatzeinbußen bei Ostprodukten führten Mitte 1990 zu einer steilen Talfahrt der Industrieproduktion in den jungen Bundesländern. Der stärkste Rückgang trat in den konsumnahen Bereichen ein. In der Textilindustrie war im Verlauf eines halben Jahres die Produktion um zwei Drittel durchgesackt. Die Verringerung der Bezüge an Vormaterialien und Zulieferteilen führte in weiteren Bereichen zu drastischen Produktionseinschränkungen. Zugleich wurden zwischen heimischen Unternehmen alte Lieferbeziehungen vielfach gekappt, da auch die ostdeutschen Hersteller die neuen Zugriffsmöglichkeiten in das westliche Leistungsangebot nutzten. Im Januar 1991 war wegen fehlender Aufträge in der Industrie rund ein Drittel der Beschäftigten in Kurzarbeit. In besonders stark betroffenen Sektoren – z. B. in der Textil- und Bekleidungsindustrie – lag die Kurzarbeiterquote bei über 50 %. Damit begann sich abzuzeichnen, in welchen Größenordnungen Produktionskapazitäten und Arbeitsplätze bei anhaltender Anpassung der Unternehmen an den gesunkenen Absatz bedroht sein würden. Mit dem Verlust der einstigen Monopolstellung auf dem „heimischen“ Markt wurde es in den Unternehmen zur
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bitteren Gewißheit, daß man sich von den bisherigen Produktionsmaßstäben und Fertigungsgrößen rigoros verabschieden mußte. Im Grunde bedeutete das: Unter enormem Druck den Mehrfach-Salto zum Stand zu bringen – von der so nicht überlebensfähigen, aufgeblähten planwirtschaftlichen Großbetriebseinheit zum schlanken, in Sortiment und Kosten wettbewerbsfähigen Unternehmen. Und sich so in einem schmerzhaften Schrumpfungs- und Aufholprozeß für den heimischen Markt wettbewerbsfähig zu machen. Westmärkte: Neuanfang bei Minus-Null: Zu DDR-Zeiten war der Export in westliche Länder hoch subventioniert. Die Erzeugnisse hatten wegen ihres Images vielfach nur Chancen im Niedrigpreissegment und sie wurden wegen der ständig leeren Devisenkassen auch um jeden Preis verkauft. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre betrug der sogenannte DevisenerlösKoeffizient 0,23. Das heißt: Im Durchschnitt wurden aus 100 Mark DDR-Produktion lediglich 23 Valutamark „erwirtschaftet“; dabei wurde eine Valutamark etwa einer D-Mark gleichgesetzt. Das verdeutlicht ungefähr, um wieviel höher das Aufwandsniveau – verzerrt z. B. auch durch weit überhöhte inländische Materialpreise – im Verhältnis zu Weltmarktrelationen war. Durch die Umrechnung von Valutamark in DDR-Mark unter Anwendung eines sogenannten Richtungskoeffizienten, also der Ermittlung des „Valutagegenwerts“ (ihn erhielten die Betriebe), und durch direkte Zuführungen aus dem Staatshaushalt war der Export ins westliche Ausland hochgradig subventioniert. Mit der Währungs- und Wirtschaftsunion fielen diese Subventionen weg. Die Betriebe konnten zwar erstmals über den Exporterlös selbst verfügen. Aber auch nur über ihn. Da die bisherigen Exportpreise die Kosten bei weitem nicht deckten und höhere Preise wegen der schlechten Produktparameter nicht durchsetzbar waren, gingen für viele Betriebe selbst langjährige Exportverbindungen in die Brüche. Die eklatanten kostenseitigen und sortimentsmäßigen Wettbewerbsrückstände wurden durch den mit dem Umtauschkurs verbundenen Aufwertungseffekt von mehreren hundert Prozent drastisch verstärkt. So gingen im Jahresverlauf 1990 die Exporte in das westliche Ausland um über 30 % und 1991 nochmals um 20 % zurück. Neben traditionellen Lieferanten von Konsumgüter-Billigangeboten, die ihren Umsatz bereits auf dem heimischen Markt weitgehend verloren hatten, traf es insbesondere Exporteure aus dem Bereich der Grundstoffindustrie, deren Erzeugnisse schon vor Öffnung der Grenzen nur durch Preisunterbietung auf westlichen Märkten absetzbar waren. Und für jene Investitionsgüter, die trotz des Aufwertungsschocks von Qualität und Standard her marktfähig waren oder marktfähig gemacht wurden, mußte der Marktzugang in einer Situation sich rezessiv verengender Märkte und weltweit zunehmender Überkapazitäten im harten Verdrängungswettbewerb erst einmal erkämpft werden. Viele ostdeutsche Unternehmen traten an, aber der Erfolg läßt auf sich warten. Ostexporte: im Kriechgang: Während vor allem im konsumnahen Bereich die Betriebe schlagartig einen großen Teil ihres einheimischen Absatzes verloren und die Westaufträge ausblieben, verzeichnete der Ostexport 1990 mit über 30 Mrd. DM noch einen Spitzenwert Ursächlich hierfür war: Der Osthandel wurde auch 1990 auf Transferrubelbasis abgewickelt und hoch subventioniert. Dies hat osteu-
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ropäische Importeure dazu veranlaßt sich einzudecken, solange die Lieferungen noch nicht in „Hart-Währung“ zu bezahlen waren. Anfang 1991 kam dann mit der Auflösung des RGW und der Umstellung des Handels auf konvertible Währungen der scharfe Einbruch. Die ostdeutsche Industrie verlor im Verlaufe nur weniger Monate weitgehend ihre angestammte Hauptexportbasis: 1991 ging der Ostexport um 60 % zurück. Dieser Rückgang wäre allerdings ohne das Hermes-Sonderprogramm im Handel mit der ehemaligen Sowjetunion noch gravierender gewesen. So tendierten die Ausfuhren ohne Hermes-Sonderkonditionen z. B. nach Bulgarien oder Rumänien faktisch gegen Null. Zu DDR-Zeiten betrug der Anteil der ehemaligen RGW-Länder am gesamten Außenhandel fast 70 %, davon ging mehr als die Hälfte in die ehemalige Sowjetunion. Die monopolartige Stellung der ehemaligen UdSSR bei der Rohstoffversorgung der DDR-Wirtschaft hatte Abhängigkeiten auch im Export geschaffen, die Kapazitäten und Sortimente ganzer Branchen und Kombinate prägten, z. B. im Schiffbau, Schienenfahrzeug- und Landmaschinenbau, Werkzeugmaschinenbau und in der Nachrichtentechnik. Die Beschäftigungseffekte des Osthandels der ehemaligen DDR betrafen – direkt und indirekt, d. h. einschließlich der Zulieferungen – etwa 1,5 Mio. Arbeitsplätze. Nicht wenige Großbetriebe produzierten vorwiegend oder ausschließlich – jeweils mit mehreren tausend Beschäftigten – für sowjetische Abnehmer. Typisches Beispiel war und ist das Werk Ammendorf der Deutschen Waggonbau AG: Tausende von Mitarbeitern fertigten ausschließlich Personenweitstreckenwagen für die ehemalige sowjetische Staatsbahn. SKET Magdeburg, das Kombinat Fortschritt Landmaschinen Neustadt oder Umformtechnik Erfurt lieferten zu DDRZeiten zum Teil 70 bis 90 % ihrer Erzeugnisse in die ehemaligen RGW-Länder. Ähnliches traf auf den Schiffbau zu. Aber auch Bereiche wie die Textil-, Bekleidungs- oder Möbelindustrie verzeichneten hohe RGW-Exporte. Wer bringt Märkte und Absatz? Selbst für marktwirtschaftlich gehärtete Unternehmen wäre der Verlust der Hauptabsatzlinien innerhalb weniger Monate existenzbedrohend. Um wieviel mehr gilt das für Unternehmen, die die heimischen Märkte an „Fremde“ abgeben mußten und als Neulinge auf westlichen Märkten mit „verschränkten Armen“ empfangen werden und dabei hohe Markteintrittsbarrieren überwinden und bewußt errichtete Hürden wegräumen müssen. Kernproblem und Hauptschwierigkeit der großen Mehrheit der Unternehmen war es – und dies gilt weitgehend auch heute noch: sowohl in preislicher wie qualitativer Hinsicht die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Produkte herzustellen, Kunden und Aufträge zu gewinnen – und das, bevor das dazu notwendige Marketing aufgebaut war. Das alles war nicht mit spontanen operativen Maßnahmen und Sortimentsbegradigungen rasch zu erreichen, sondern setzte ein Gesamtkonzept voraus. In genauer Abwägung der Risiken und Chancen müssen dabei die einzelnen, aufeinander abgestimmten Aufgabenkomplexe und Schritte konzipiert, festgelegt und umgesetzt werden, um das Überleben gegen harte Konkurrenz zu ermöglichen – vielfach durch totale Umgestaltung der betrieblichen Strukturen.
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Die Treuhandanstalt hatte dazu bereits Mitte Juli 1990 ihren Unternehmen einen „Leitfaden für die Ausgestaltung von Sanierungskonzepten“ übergeben und sie aufgefordert, Unternehmenskonzeptionen zu erarbeiten. Insbesondere sollten die Fragen beantwortet werden, mit welchen Produkten sich die Unternehmen am Markt behaupten wollen, auf welche Marktsegmente sie sich dabei konzentrieren, wie das Produktivitätsniveau schnell verbessert werden kann und welche Investitionen und finanziellen Mittel dafür erforderlich sind. Das Resultat war ernüchternd und enttäuschend zugleich. Niemand hatte erwartet, daß auf Anhieb der große Wurf gelingt. Aber Wunschzettel, wie sie zu Weihnachten geschrieben werden, durften es auch nicht sein, wenn man Boden unter die Füße bekommen wollte. Daß die Unternehmen fast ausnahmslos sanierungsbedürftig waren – wenn auch in unterschiedlichem Maße – und sie für eine Übergangszeit der massiven Unterstützung bedurften, war allein schon am Umfang der Liquiditätskredite ablesbar. Und die Verringerung von Produktion und Absatz sowie die damit zunehmende Nichtauslastung der Produktionskapazitäten im weiteren Verlaufe des Jahres 1990 und im Jahr 1991 taten ein weiteres. Sie wurden zum Teufelskreislauf, weil sich aufgrund des hohen Fixkostensockels – die Masse der Kosten sinkt nicht gleichmäßig mit dem Produktionsrückgang – die Relation von Umsatz zu Verlust zusehends verschlechterte. Vielfach überstiegen die Kosten den Umsatz deutlich, die Betriebe fuhren riesige Verluste ein. So trat ein noch höherer Liquiditätsbedarf zur Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit ein. Klar sollte aber auch sein, daß eine flächendeckende Liquiditätshilfe nach dem „Gießkannenprinzip“ die Talfahrt weder aufhalten noch eine Tendenzwende herbeiführen konnte. Vor diesem Hintergrund war und ist die damals wie heute vieldiskutierte Alternative „Privatisierung oder Sanierung“ eine Scheinalternative. Die tatsächliche Alternative hieß und heißt: Unternehmen für Unternehmen möglichst tragfähige Konzepte zu erarbeiten und ihnen zügig Know-how und Kapital zuzuführen, um die drastischen Produktivitäts- und Innovationsrückstände abzubauen und den Marktzugang zu „erzwingen“. In dieser Herausforderung stand faktisch jedes Unternehmen. Die Konsequenz konnte nur lauten: Sanierung auf Risiko eines privaten Erwerbers – also rasche Privatisierung – oder Sanierung auf Rechnung und Kosten der Treuhandanstalt, bis für das Unternehmen ein neuer, unternehmerisch aktiver Eigentümer die Verantwortung übernehmen würde. Nur für Unternehmen, die auf Dauer keine Chance haben, Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen, ist eine Stillegung unvermeidbar. Aber auch hier hat die Treuhandanstalt alles zu unternehmen, um Umstrukturierungen zu unterstützen und einen Teil der Arbeitsplätze zu retten. Unabhängig davon, wie man als Außenstehender mit oder ohne Kenntnisse das Sanierungsengagement des Zwischeneigentümers Treuhandanstalt, der für seine Unternehmen in der Verantwortung der Rechte und Pflichten eines Gesellschafters steht, auch beurteilen mag, eines steht fest: Sanierungsbegleitung durch die Treuhandanstalt hat einen entscheidenden Nachteil. Im Unterschied zum privaten Investor, der zusammen mit seinem unternehmerischen Konzept, seinem Kapital und Management-Know-how regelmäßig seine Markterfahrungen und
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Vertriebswege und damit Markt und Absatz einbringt, kann die Treuhand dies nicht leisten. Die Treuhand kann Märkte und Absatz nicht kaufen. In diesem Sinne war und ist ein unternehmerisch aktiver, verantwortungsbewußter privater Eigentümer der größte Gewinn auf dem schwierigen Weg aus der Verlustzone in die schwarzen Zahlen. Anhand seines eigenen Konzeptes und im wohlverstandenen Eigeninteresse macht er die Sanierung des Unternehmens zur eigenen Sache. In diesem Sinne war und ist Privatisierung auch ein Wettlauf gegen die Zeit – mit dem Ziel, ostdeutschen Unternehmen wieder eine Zukunft zu ermöglichen. Die Handlungsmaxime der Treuhandanstalt mußte darum lauten: zügig privatisieren, entschlossen sanieren und behutsam stilllegen. 5.3.3. Zukunftsperspektiven eröffnen Um an Unternehmenssubstanz zu stützen, zu retten und rüberzubringen was letztlich im Wettbewerb bestehen kann, durfte Privatisierung nicht bedeuten, Vermögenswerte schlechthin zu verkaufen. Das marktübliche Verkaufsmuster nach dem Höchstpreisgebot nimmt keine Rücksicht auf Unternehmensfortführung und Arbeitsplätze. Deshalb mußte ein Verkauf mit Konditionen entwickelt werden, die die neuen Eigentümer binden, die Sanierung der von der Treuhand übernommenen Unternehmen auch durchzuführen, um so die Unternehmen in eine marktgerechte Position zu bringen und damit Arbeitsplätze zu sichern. Ein solcher Privatisierungsmodus mußte erst gefunden werden, hierfür gab es keine Rezepte. Denn die punktuelle Privatisierung von Staatsbeteiligungen und öffentlichem Eigentum, wie sie von westlichen Ländern her bekannt war, konnte hierfür nicht als Modell dienen. Perspektiven verlangen nach dem Unüblichen. Generelles Ziel der Privatisierung sollte und mußte sein, im Interesse der Unternehmen -
unternehmerisches Management und Engagement, kaufmännisches und technologisches Know-how zu gewinnen, Investitions- und Innovationskapital ausfindig zu machen und Vertriebswege und – nach Möglichkeit – Absatzmärkte zu akquirieren.
Dazu mußten Pflöcke eingeschlagen, mußten Privatisierungskonditionen entwickelt werden, die ein solches Ergebnis im Interesse des gesamtwirtschaftlichen Um- und Neuaufbaus in Ostdeutschland möglichst absicherten, auch wenn es 100 %ige Sicherheit nicht geben kann. Die Eckpfeiler der Privatisierung wurden nicht von Anfang an gesetzt, und nicht in allen Fällen gelang die Sicherung optimal. Die Privatisierungskonditionen, die in dieser Art eine Leistung der Treuhandanstalt sind, orientieren sich schwerpunktmäßig an folgenden Zielen: -
Die Treuhand fordert von den Erwerbern ein tragfähiges Unternehmenskonzept, aus dem. sich schlüssig ergeben soll, wie der neue Eigentümer das Unternehmen fortführen will.
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Der Umfang der Investitionen, die der Erwerber plant und durchführen will, sind fester Bestandteil der Kaufverträge. Diese Vertragszusagen sollen Sicherheit und Perspektive für die Zukunft des Unternehmens sein. Den Zusagen des Erwerbers über die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen geht regelmäßig ein hartes Ringen um jeden Arbeitsplatz voraus. Denn mit seinem Unternehmenskonzept bringt der neue Eigentümer auch seine betriebswirtschaftliche Kalkulation zu Produktivität und Personalstärke ein. Zur Erhärtung der Investitions- und Arbeitsplatzzusagen werden Vertragsstrafen (Pönalien) festgelegt, um ein Ausbrechen des Erwerbers aus dem Vertrag zu erschweren. Solche Vertragsstrafen wurden notwendige Sonderkonditionen, die die Treuhandanstalt – zwar nicht gleich von Anfang an, aber durch Erfahrung geläutert – sehr bald zur festen Regel gemacht hat, um die Erwerber zur Einhaltung ihrer Zusagen in die Pflicht nehmen zu können.
Mit der Privatisierung geht die unternehmerische Verantwortung voll auf den neuen Eigentümer über. Die Treuhandanstalt ist keine „Ersatzkasse“, um unternehmerischen Mißerfolg oder nicht eingetroffene Erwartungen finanziell zu glätten. Sie hat die Einhaltung der Zusagen mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln durchzusetzen. -
Und nicht zuletzt geht es um einen angemessenen Kaufpreis. Auch das ist hartes Verhandeln; denn Unternehmer sind keine „barmherzigen Samariter“, die aus reiner Nächstenliebe einen Treuhandbetrieb kaufen. Natürlich ist Vorteil im Spiel. Solange sich alles in korrekten Bahnen bewegt, ist dagegen nichts einzuwenden. Aber kriminellen Aktivitäten im Zusammenhang mit Privatisierung – das ist selbstverständlich – wird schonungslos nachgegangen. Nicht zuletzt, um negative Auswirkungen auf die Belegschaften abzufangen.
Nicht selten wird die „Redlichkeit“ einer Privatisierung in der Öffentlichkeit angezweifelt, indem der Kaufpreis dem Immobilienvermögen gegenübergestellt und einerseits daraus geschlossen wird: Das Unternehmen wurde unter Wert verkauft. Bei einem reinen Immobilienverkauf wäre das möglicherweise richtig. Aber auch bei der Privatisierung von Liegenschaften für gewerbliche Zwecke werden Investitions- und Arbeitsplatzzusagen ausgehandelt und die Nichteinhaltung mit Pönalien belegt. Sind diese Vertragsbestandteile diesen Kritikern nichts wert? Andererseits wird bei Immobilienverkäufen häufig geklagt: Die TreuhandLiegenschaftsgesellschaft, die als Tochter der Treuhandanstalt speziell für die Vermarktung des Immobilienvermögens geschaffen wurde, verlange zu hohe Preise. Sie orientiere sich zu strikt an den Verkehrswerten für Liegenschaften, die zuvor von unabhängigen Gutachtern erstellt wurden. Grundsätzlich muß folgendes bedacht werden: Beim Unternehmensverkauf geht es weniger um die Aktiva, wie Grund und Boden, sondern vor allem um Passiva, nicht zuletzt um die laufenden Verluste, die der Käufer mit zu übernehmen hat. Es geht um investive Aufwendungen, die wegen der in der Vergangenheit unterlassenen Erhaltungsinvestitionen unverzichtbar sind. Und es geht um die
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Beseitigung ökologischer Altlasten oder die Realisierung von Sozialplänen. Je stärker sich der neue Eigentümer an der Beseitigung dieser Lasten beteiligt, desto größer wird der „Abschlag“ beim Kaufpreis. Zweifellos ist manches, was die Treuhand unternimmt, nicht marktüblich. Aber ohne ihre markt-unübliche Praxis wären die annähernd 180 Mrd. DM an Investitionen, die die neuen Eigentümer mittelfristig zugesagt haben, und die 1,5 Mio. Arbeitsplätze, die ebenfalls zugesichert wurden, nicht möglich gewesen. Sanierung durch Teilen. Als Zwischeneigentümer auf Zeit begleitet die Treuhandanstalt aktiv den Prozeß der unternehmensinternen Umstrukturierung und Entwicklung zum wettbewerbsfähigen Unternehmen. Es handelt sich um die unternehmensbezogene Umstellung von planwirtschaftlichen auf marktwirtschaftliche Strukturen, dabei wird das übliche Maß einer Unternehmenssanierung bei weitem überschritten. Das gilt nicht zuletzt für die Entflechtung der Kombinats-AG, der sogenannten TreuhandKonzerne, aber auch für die unternehmensinterne Ausgründung von Betriebsteilen. Entflechtung der Kombinate: Die nicht marktkonformen Strukturen und Größen der verbliebenen rund 230 Kombinats-AG erforderten eine systematische Entflechtung nach betriebswirtschaftlichen Effizienzmaßstäben. Diese weitgehende Entflechtung war ein wichtiger Schritt sowohl im Interesse der Sanierungs- wie Privatisierungsfähigkeit. Wesentlicher Gesichtspunkt hierbei war die Schaffung leistungsfähiger Wirtschaftseinheiten, die in der Lage sind, auf Marktanforderungen flexibel zu reagieren. Insbesondere war zu prüfen, inwieweit die bestehenden Konzernverbindungen noch notwendig und günstig waren. Es ging darum zu klären, ob z. B. nicht durch eine Aufspaltung der Verbundgesellschaften in eigenständige, nicht verflochtene Gesellschaften betriebswirtschaftlich leistungsfähigere Einheiten entstünden. Gleichzeitig waren regelmäßig die Konzentration der Kerngeschäftsfelder und die Sortimentsbereinigung zwischen den neuen, rechtlich selbständigen Unternehmen, aber auch innerhalb der neuen Geschäftseinheiten zu prüfen. Typisches Beispiel einer solchen Entflechtung der Treuhand-Konzerne war die TAKRAF AG (siehe Karte). Sie bestand ursprünglich aus 26 Betrieben mit einer breiten Produktpalette, die von Tagebauausrüstungen und Kränen unterschiedlichster Anwendungsgebiete über Ausrüstungen für Brikettfabriken bis zur Herstellung von Kfz-Ersatzteilen reichte. In einem ersten Entflechtungsschritt wurde der sogenannte periphere Bereich abgespalten. Damit schieden 22 Betriebe aus dem Konzern aus. Diese sind inzwischen weitgehend privatisiert. Das heißt: Entflechtung durch Abspaltung von verbundenen Unternehmen hat deren Privatisierungschancen – insbesondere ihre Übernahme durch mittelständische Investoren – erheblich verbessert. Mit der Trennung vom peripheren Bereich und von Randaktivitäten sowie einer weiteren Sortimentsbereinigung erfolgte die Konzentration der TAKRAF AG auf sechs Unternehmen mit drei Kernbereichen – Tagebau-Gewinnungstechnik, Kranbau und Hafentechnik. Es wurde eine Privatisierung in diesem Verbund angestrebt, wobei die möglichen Synergieeffekte
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zwischen diesen Kerngeschäftsfeldern allerdings erheblich überschätzt wurden. Als diese Grenzen offensichtlich waren, gingen schließlich die Kranbau-Betriebe den Weg einer Einzelprivatisierung. Und die TAKRAF Schwermaschinenbau AG existiert gegenwärtig nur noch als Mantelgesellschaft; vieles wurde durch Teilen an Private übertragen. Das einzige Unternehmen, das noch den Namen TAKRAF trägt, ist die TAKRAF Lauchhammer GmbH (TLL), bestehend aus dem Lauchhammerwerk und einem Ingenieurbetrieb in Leipzig als Systemanbieter von Tagebauanlagen. Mitte 1993 ist folgende Lösung ins Auge gefaßt: Ein westdeutscher Schwermaschinenbauer beteiligt sich an der TLL; die Treuhandanstalt bleibt dabei zunächst noch Gesellschafter. Von den 232 Treuhand-Konzernen (Holdings) befanden sich Ende März 1993 72 in Liquidation. Bei 59 Holdings ist der Entflechtungsprozeß noch im Gange, wobei ein Teil der entflochtenen Unternehmen bereits privatisiert wurde. Bei 57 Holdings sehen die Konzepte keine generelle Auflösung des Konzerns vor, aber es erfolgen Abspaltungen und Ausgründungen. 44 Holdings wurden bisher nahezu komplett privatisiert; die neuen Eigentümer tragen Verantwortung und Risiko für die weitere marktgerechte Umstrukturierung. Ein solcher Fall ist die Glasindustrie AG – hervorgegangen aus dem ehemaligen Flachglaskombinat Torgau. Die AG und die Mehrzahl der zu ihr gehörenden Betriebe wurden von einem französischen Investor übernommen. Sein Konzept sieht zusammen mit der Modernisierung der Flachglasproduktion vor allem die Ausweitung der Glasveredelung – u.a. ein marktgerechtes Angebot an Sicherheitsglas – und den Ausbau des Vertriebsnetzes in den jungen Bundesländern vor.
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Schwermaschinenbau-Kombinat TAKRAF - Leipzig Standorte der zugehörigen Kombinatsbetriebe
1 Schwermaschinenbaukombinat TAKRAF-Leipzig Verlade- und Transportanlagen Leipzig Schwermaschinenbau „S. M. Kirow“ Leipzig Montan Leipzig 2 TAKRAF Export-Import Außenhandel Berlin Berliner Aufzug- und Fahrtreppenbau
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3 Eisengießerei- u. Maschinenfabrik Zemag-Zeitz
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4 Förderanlagen Calbe/Saale 5 Förderanlagen- und Kranbau Köthen 6 Förderanlagen „7. Oktober“, Magdeburg Schwermaschinenbau Magdeburg 7 Förderausrüstungen Aschersleben 8 Gießerei Frankleben Paulahof 9 Hebemaschinenwerk Luisenthal
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Hebezugwerk Suhl Kranbau Eberswalde Kranbau Wittenberg Maschinen- und Apparatebau Landsberg Reparaturwerk Neubrandenburg Saalfelder Hebezeugbau Sächsischer Brücken- u. Stahlhochbau Dresden Schmalkaldener Kranbau Schwermaschinenbau Lauchhammerwerk Stahlgießerei Silbitz Thüringer Stahlbau Erfurt Vogtländischer Aufzugs- u. Maschinenbau Mylau Wutra-Werk Wurzen
Die nicht wundersame Unternehmensvermehrung: Ein weiterer Schritt zur Sanierungs- und Privatisierungsfähigkeit war die unternehmensinterne Entflechtung durch Ausgründung von Betriebsteilen zur Konzentration auf Kerngeschäftsfelder und zur Verringerung der Kosten sowie die Ausgliederung von Produktionshilfsbereichen, von produktionsnahen Dienstleistungen und von Betreuungseinrichtungen.
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Die Unternehmen waren in aller Regel zu groß, da sie von einem ganzen „Bauchladen“ an Hilfs-, Neben- und Dienstleistungsbereichen umgeben waren. Dieser Bauchladen war einerseits das Ergebnis von Mangelwirtschaft. So hatten die Unternehmen – nach betriebswirtschaftlichen Kriterien – überdimensionierte Instandhaltungs- und Reparatureinheiten, wozu vielfach eigene Bauabteilungen gehörten, einen eigenen Fuhrpark und die berühmt-berüchtigte Abteilung Konsumgüterfertigung, da auch Investitionsgüterherstellern Konsumgüterproduktion verordnet worden war. Zu DDR-Zeiten mußten die Betriebe die Erlöse vollständig oder teilweise an den Staatshaushalt abführen, so veralteten die Produktionsanlagen und -ausrüstungen weitgehend. Aufgrund der substanzverzehrenden Abschreibungspraxis war Ende der 80er Jahre fast jeder fünfte Produktionsarbeiter hauptamtlich mit Reparatur- und Instandsetzungsarbeiten beschäftigt. Weiter kam hinzu, daß AutarkieIdeologie und Selbstversorgungszwang zu betriebswirtschaftlich unsinnigen Fertigungstiefen mit enormen Kosten führte. So war die Fertigungstiefe, d. h. der Anteil der Teile, die im Unternehmen selbst hergestellt wurden, um ein Mehrfaches höher als international üblich. Zum anderen ging der Bauchladen auf ein Verständnis zurück, nach dem der Betrieb nicht nur technisch-ökonomische, sondern auch soziale Einheit war. Das heißt: Den Produktionsbetrieben wurden soziale Aufgaben übertragen, die in einer marktwirtschaftlichen Ordnung zum Kreis der kommunalen Daseinsfürsorge oder der privaten Dienstleistungen gehören. Typische Beispiele hierfür sind nicht nur die Betriebskindergärten, Kulturhäuser und Sportanlagen, sondern auch die Betriebsferienheime und betrieblichen Kinderferienlager. Zur marktwirtschaftlichen Umstrukturierung der Unternehmen gehört, daß diese Einrichtungen auf andere Träger übergehen. So wurden bisher beispielsweise etwa 700 Betriebskindergärten und -krippen sowie 850 Sporteinrichtungen an Städte und Gemeinden übertragen und Hunderte von Betriebsferienheimen privatisiert oder an ihre früheren Eigentümer zurückgegeben. Die Ausgliederung der Nebenbetriebe und Dienstleistungsbereiche und ihre Fortführung als eigenständige Gesellschaften, aber auch die Aufspaltung bestehender Unternehmen in mehrere neue Gesellschaften führte nicht nur zu Veränderungen der Betriebsgrößenstruktur bis hin zu mittelständischen Unternehmensgrößen, sondern auch zur nicht wundersamen Vermehrung des Treuhandbestandes: Durch Auf- und Abspaltung wurden aus den ursprünglich 8.000 über 13.000 Unternehmen. Ein nicht unerheblicher Teil der Ausgliederung selbständig fortführbarer Neben- und Hilfsbetriebe erfolgte in unmittelbarer Verantwortung der Geschäftsführungen, Vorstände und Aufsichtsräte; diese sind in der offiziellen TreuhandStatistik nicht erfaßt. Auch sie sind ein wichtiges Element der Neugründungen, insbesondere im industriellen Bereich. Es gibt Orte, wo weit über die Hälfte der gewerblich-industriellen Neugründungen auf die Privatisierung von Neben- und Hilfsbetrieben zurückgehen. Dadurch wurden insgesamt Tausende von Arbeitsplätzen erhalten.
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Eines der Beispiele, wie durch Entflechtung großer Unternehmen mittelständische Unternehmen aufgebaut und damit wettbewerbsfähige Arbeitsplätze geschaffen werden können, sind die Uhrenwerke Ruhla. Nach sorgfältiger Prüfung des Unternehmenskonzepts ergab sich, daß eine Sanierung in der bisherigen Struktur keine Erfolgsaussichten hatte. So ist der Betrieb in 39 kleine und mittelständische Unternehmen aufgespalten worden, die inzwischen weitgehend privatisiert sind, davon 13 auf dem Wege eines Management-Buy-Out (MBO) an ostdeutsche Führungskräfte. Durch die neu entstandenen Unternehmen wurden insgesamt über 2.500 Arbeitsplätze erhalten. Zudem sind von den neuen Eigentümern weit über 100 Mio. DM an Investitionen vorgesehen. Und: Die Tradition der Uhrenfertigung – unterstützt mit Landesbürgschaften – wird fortgesetzt, obwohl geplante Kooperationen nicht zustande kamen. Die Situation im hart umkämpften Markt ist äußerst schwierig und zwingt dazu, Standbeine auch auf benachbarten Gebieten – wie der Regelungstechnik – zu gewinnen. Alles in allem hat die Entflechtung der Treuhand-Konzerne, die Auf- und Abspaltung einerseits sowie die produkt- und produktionsbezogene Konzentration – einschließlich der Standortkonzentration – andererseits bewirkt, die überlebensfähigen Unternehmenskerne herauszuschälen. Schmerzhafte innerbetriebliche Sanierung: Zu den schmerzhaftesten Sanierungsschritten gehören Abbau der personellen Überbesetzung und Entlassungen aufgrund der Anpassung des Personalbedarfs an Umsatzrückgang und Kapazitätsabbau. Einerseits gehörten zur personellen Überbesetzung jene Arbeitsplätze, die schon unter planwirtschaftlichen Bedingungen nicht für die Erfüllung der betriebswirtschaftlichen Produktionsziele erforderlich waren. (Partei- und Gewerkschaftsleitungen und Vertreter anderer Massenorganisationen waren Bestandteil der betrieblichen Strukturpläne.) Andererseits führten etwa die rückständige Betriebsorganisation und Mangelwirtschaft zur typischen Aufblähung des Leitungsapparates. Nach Einschätzung ost- und westdeutscher Wirtschaftsforschungsinstitute ergab sich allein daraus eine verdeckte Arbeitslosigkeit von ca. 15 % der Beschäftigten eines Betriebes. (Das allein waren – auf die gesamte Wirtschaft bezogen – schon etwa 1,4 Mio. Beschäftigte). Wenn man die Abspeckung des Bauchladens der Neben-, Hilfs- und Betreuungsbereiche miteinbezieht, zeichnete sich der Trend ab, daß der betriebswirtschaftlich notwendige künftige Personalbedarf 30 bis 50 % unter der früher üblichen Belegschaftsstärke liegen würde. Infolge der Umsatzrückgänge waren die Auswirkungen noch gravierender. In einer Situation, in der viele Menschen arbeitslos wurden und andere es noch immer werden, wird es als besonders unerträglich empfunden, wenn diejenigen über Arbeitsplätze entscheiden, die aus dem früheren Unrechtssystem belastet sind. Zur Reorganisation des Personalwesens gehört daher auch, sich von den aus der Vergangenheit belasteten Führungskräften zu trennen. Doch wer auch immer die Management-Verantwortung trägt, die Qualifikation des Managements darf kein Schwachpunkt sein. Das betrifft insbesondere den erheblichen Nachholbedarf in solchen Bereichen wie Marketing und Vertrieb oder Controlling und Finanzwesen. Das betrifft z. B. auch den anderen Charakter der Materialwirtschaft,
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wo es nicht zuletzt um das Aufspüren und Nutzen von (preislichen) Einkaufsverteilen geht. Das sind andere Anforderungen als die frühere Findigkeit, Engpaßmaterial zu besorgen. Da zu DDR-Zeiten jedes eigenständige Marktverhalten der Betriebe verlorengegangen war, gehört zur Sanierung neben der Straffung und Erneuerung des Erzeugnissortiments, der Durchsetzung marktüblicher Qualitätsstandards und der Aufholung des technologischen Rückstandes als ein weiterer Schwerpunkt der Neuaufbau der betrieblichen Vertriebsorganisation. Das bedeutet Ablösung der bisherigen Verteiler-Mentalität durch Aufbau eines Marketings zur Überwindung von Marktzugangsbarrieren. Sanierung zur marktwirtschaftlichen Umstellung der ehemaligen volkseigenen Betriebe ist ohne gravierende Veränderungen im inneren Aufbau der Unternehmen nicht zu erreichen. Aktive Sanierungsbegleitung: Die Treuhand hat ein ganzes Instrumentarium der Sanierungsbegleitung entwickelt: -
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Auf der Grundlage der DM-Eröffnungsbilanzen und Unternehmenskonzepte – beides arbeitsintensive und zeitaufwendige Aufgaben – wurde die Sanierungsfähigkeit der Unternehmen von unabhängigen Expertenteams sorgfältig geprüft, die sich aus Wirtschaftsprüfern, Unternehmensberatern und Branchenkennern zusammensetzten, und es wurde eine Einstufung nach Umfang und Schwerpunkt der erforderlichen Sanierungsmaßnahmen vorgenommen. Als sanierungsfähig werden dabei auch Betriebe angesehen, die zwar zur Zeit rote Zahlen schreiben, in einem überschaubaren Zeitraum aber wettbewerbsfähig werden und dann voll kostendeckend arbeiten können. Das heißt: Bei der Beurteilung der Sanierungsfähigkeit ist die derzeitige konjunkturelle Lage von geringerer Bedeutung, vielmehr sind die mittelfristigen strukturellen Aussichten der Unternehmen von Interesse. Sanierungsfähigen Unternehmen hilft die Treuhand in Richtung Wettbewerbsfähigkeit, indem sie soweit entschuldet werden, daß sie mit einem angemessenen Eigenkapital – vergleichbar mit westdeutschen Branchenwettbewerbern – ausgestattet sind. Hinzu kommt eine Reihe weiterer Instrumente der aktiven Sanierungsbegleitung – wie Gesellschafterdarlehen, Forderungsabkäufe, Zinszuschüsse oder Übernahme von Einzelbürgschaften. Bis Ende 1992 hat die Treuhand rund 120 Mrd. DM für die Gesundung des sanierungsfähigen Unternehmensbestandes zur Verfügung gestellt. Neben bilanzieller Sanierung und „fresh money“ leistet die Treuhand weitere Unterstützung: Sie hilft z. B. bei der Beseitigung ökologischer Altlasten oder der Sozialplanfinanzierung. Umstrukturierung und Sanierung werden ohne die notwendigen Investitionen nicht gelingen. So hat die Treuhand ihre Unternehmen aufgefordert, die Investitionstätigkeit, wo immer es Sinn macht, zu beschleunigen. Dieses und nächstes Jahr werden etwa 6 Mrd. DM investiert und damit wird sich die In-
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vestitionsquote in den Treuhandunternehmen gegenüber dem letzten Jahr etwa verdoppeln. Trotz alledem: Sanierung ist eine Aufgabe, die letztlich vom „Management vor Ort“ zu leisten ist und damit wesentlich von dessen Qualität abhängt. Eine marktorientierte Sanierung der Treuhandunternehmen begünstigt oftmals ihre Privatisierungsaussichten, insbesondere auch die Übernahme durch mittelständische Investoren. Aktive Sanierungsbegleitung und Privatisierungsbemühungen stehen daher nicht im Gegensatz zueinander, sondern bilden ein sinnvolles Miteinander. Privatisierung aus der Stillegung heraus Die Alternative Stillegung, die für die Menschen in Ostdeutschland die schmerzhafteste Entscheidung ist, erfährt eine besonders sorgfältige Prüfung. Für Unternehmen, die auf Dauer keine Chance haben, Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen, bleibt. nur die Stillegung. Fehlende Wettbewerbsfähigkeit bei gleichzeitigem Mangel an Sanierungsfähigkeit trifft auf Produkte und Produktionen zu, für die auf dem heimischen und internationalen Markt keine Nachfrage (mehr) besteht oder die mit überalterten, kostentreibenden Technologien gefertigt werden. Hinzu kommt noch die Stillegung aus Gründen der Umweltbelastung und Gesundheitsgefährdung, wie bei bestimmten Anlagen und Betrieben in der chemischen Industrie. Werden diese Betriebe stillgelegt, entstehen teilweise nebenan auf der grünen Wiese saubere Produktionen. Nur Unternehmen mit nachhaltigen Verlusten, bei denen nach sorgfältiger Prüfung alternativer Umstrukturierungs- und Sanierungshilfen keine Besserung zu erkennen ist, werden als nicht sanierungsfähig beurteilt. Erst dann wird die stille Stillegung eingeleitet. Zum „behutsamen“ Vorgehen gehört dabei, die Abwicklung zeitlich zu strecken. So soll Zeit gewonnen werden, um jedes sich bietende Interesse für eine Weiterführung von Betriebsteilen auszuloten und die Nutzung vorhandener Substanz selbst für branchenfremde Neuansiedlungen auszuschöpfen. Nicht das Gesamtvollstreckungsverfahren, bei dem ein vom Gericht eingesetzter Konkursverwalter die Aufgabe hat, das vorhandene Vermögen so zu verwerten, daß möglichst viele Einnahmen erzielt werden, wird von der Treuhandanstalt vorrangig angewendet, sondern die Liquidation. In den meisten Fällen erfordert dieser Weg sowohl einen höheren finanziellen Aufwand als auch ein größeres zeitliches Engagement. Der Weg der Liquidation ist mit unkonventionellen Lösungen gepflastert, deshalb ist mit der Stillegung keineswegs das Ende eines Produktionsstandortes besiegelt; denn überlebensfähige Betriebsteile werden ausgegliedert und regelmäßig privatisiert. Gebäuden und Infrastruktureinrichtungen wird mit der Ausrichtung auf einen neuen Geschäftszweck eine Perspektive gegeben und Neuansiedlungen werden angestoßen. Auf diese Weise erfolgten aus der Stillegung heraus weit über 500 Verkäufe von Betriebsteilen. Dabei haben die Käufer ein Investitionsvolumen von mehr als
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2 Mrd. DM zugesagt. Es gibt Beispiele, wo es mit zig Teilprivatisierungen gelungen ist, Hunderte von neuen Arbeitsplätzen zu schaffen: von der Privatisierung der Betriebskantine mit 5 Mitarbeitern bis zu Nachfolgefirmen mit über 100 Mitarbeitern. Es gibt sogar einige Fälle, bei denen innerhalb von 12 Monaten mehr Arbeitsplätze geschaffen werden konnten, als im Unternehmen zu Liquidationsbeginn vorhanden waren. Aus der Stillegung heraus wurden auch über 100 Projekte realisiert, bei denen Führungskräfte des Unternehmens Betriebsteile übernommen haben. Keines dieser Management-Buy-Out mit bis zu 300 Beschäftigten ist bisher gescheitert, weil auch hier auf der Grundlage tragfähiger Unternehmenskonzepte sorgfältig entschieden wird. Leider gelingen aus der Stillegung heraus nur wenige Privatisierungen, die eine große Aufmerksamkeit in den Medien und damit in der Öffentlichkeit finden. Einer dieser Fälle war der Kühlschrankhersteller dkk Scharfenstein, der während der Liquidation eine neue Produktionslinie für den ersten FCKW- und FKWfreien Kühlschrank aufbaute und einen neuen Eigentümer fand, der auf diese Neuentwicklung setzt. Ein anderes Beispiel sind die Pneumant Reifenwerke Fürstenwalde – ehemals Stammbetrieb des Reifenkombinates. Sie sollen ebenfalls aus der Liquidation heraus privatisiert werden, obwohl Branchenkenner das für unmöglich hielten. Intensive Bemühungen haben dazu geführt, daß eine Gruppe inund ausländischer Investoren das in Liquidation befindliche Unternehmen übernehmen und die Reifenproduktion fortführen wird. Geplant ist, die Privatisierung bis Ende 1993 abzuschließen, womit die Zeit der bangen Ungewißheit endlich vorbei sein wird. Angesichts der vielfältigen Aktivitäten, die ergriffen werden, um auch aus der Stillegung heraus noch Produktionsstätten und Arbeitsplätze zu erhalten, kann durchaus von erfolgreichen Sanierungen unter Extrembedingungen gesprochen werden. Zwar mußten bisher 2 700 Unternehmen in die Liquidation gehen. Aber immerhin sollte es gelingen, von den rund 300 000 durch Betriebsstillegungen betroffenen Arbeitsplätzen etwa 80 000 zu retten. Das ist alles andere als das vielzitierte „Plattmachen“. Privatisierung: eine hoffnungsvolle Bilanz Heimischer Mittelstand und ausländische Investoren im Kommen: Über 40 Jahre wurde in der DDR der Mittelstand systematisch ausgeschaltet. Darum fördert die Treuhandanstalt im Rahmen ihrer Möglichkeiten unternehmerische Eigenständigkeit in den jungen Bundesländern. Sie leistet einen aktiven Beitrag zur Herausbildung eines einheimischen Mittelstandes durch den Verkauf von Betrieben an deren Führungskräfte, teilweise auch in Verbindung mit Mitarbeiterkapitalbeteiligung. Allein in über 2.000 Fällen haben ostdeutsche Führungskräfte im Rahmen eines solchen Management-Buy-Out ihren Betrieb oder einen Betriebsteil erworben. Das sind etwa 17 % der gesamten Privatisierungen. Immerhin wurden durch MBO-Privatisierungen 120.000 Arbeitsplatz- und 4,5 Mrd. DM Investitionszusagen vertraglich ausgehandelt. Die Zusagen sollen relativ rasch realisiert werden, vom Umfang her sind sie aber moderat. Es fehlt ostdeutschen
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Interessenten in der Regel das notwendige Kapital. Darum werden im Rahmen von MBO-Privatisierungen ausnahmsweise Sonderkonditionen wie Kaufpreisstundung oder Pachtkauf eingeräumt, um ostdeutschen Interessenten den Erwerb zu ermöglichen. Aber Privatisierung birgt neben den Chancen auch Risiken, darum muß die Treuhand auch bei MBO-Entscheidungen mit der notwendigen Sorgfalt vorgehen. Über 40 Jahre wurde in der DDR die Autarkie-Unvernunft großgeschrieben. Nach einer „Zeit ohne Internationalität“ sind ausländische Investoren von enormer Bedeutung, um ein Teil der Weltwirtschaft zu werden und auf den Weltmärkten ostdeutsche Beziehungen aufzubauen. Etwa 650 Unternehmen wurden bisher von ausländischen Interessenten erworben, die mit ihrem unternehmerischen Engagement einen zukunftsträchtigen Beitrag zum wirtschaftlichen Aufbau in den jungen Bundesländern leisten sollen. Privatisierung legt den Grundstock […]: Im Verlaufe von drei Jahren sind über 5.800 Treuhandunternehmen vollständig oder mehrheitlich privatisiert worden: große, mittlere, kleine und kleinste Unternehmen – quer durch die Branchen. Gleichzeitig wurden über 6.300 Unternehmensteile privatisiert, aus denen zum weit überwiegenden Teil neue gewerblich-industrielle Betriebe hervorgegangen sind. Man mag es beurteilen und kritisieren wie man will – je nachdem, wie hoch man die Erwartungen ansetzt und was man unter den gegebenen Bedingungen für normal hält – nüchterne Tatsache bleibt: -
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Die Umstrukturierung der planwirtschaftlichen Staatsbetriebe durch ihre Privatisierung und Reprivatisierung ist tragende Säule der Fortführung und Erneuerung der gewerblich-industriellen Tradition aus DDR-Vorzeiten. Privatisierung ist zugleich Hauptelement der Regenerierung der industriellen Basis. Ohne umfassende Privatisierung ist die wirtschaftliche Lebensfähigkeit, die die Entfaltung endogener Wachstumskräfte voraussetzt, nicht zu erreichen.
Heute überwiegt in der Mehrzahl der Industriebranchen bereits eindeutig das Segment der privaten Unternehmen. Ihr Anteil – Neugründungen, privatisierte und reprivatisierte Betriebe zusammengenommen – an der industriellen Wertschöpfung insgesamt beträgt bereits weit über zwei Drittel. Damit hat sich das Verhältnis Treuhandunternehmen zu privaten Unternehmen im Verlaufe von drei Jahren mehr als umgekehrt. Mit über 12.000 Privatisierungen – allein im gewerblichen Bereich – und mit mehr als 16.000 Liegenschaftsverkäufen – vor allem für gewerbliche Zwecke – wurde ein Grundstock gelegt, auf dem sich eine wettbewerbsfähige Wirtschaftsstruktur in den neuen Bundesländern entwickeln kann. Hinzu kommen etwa 20.000 Privatisierungen vor allem in den Bereichen Einzelhandel und Gastronomie sowie zahlreiche Pacht- und Kaufverträge in der Land- und Forstwirtschaft. Und nicht zuletzt wurden bisher 8.000 Objekte an die Kommunen übergeben.
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[…] auf dem sich aufbauen läßt: Für Ende der 90er Jahre zeichnen sich – trotz aller Schwierigkeiten, Fehler und Bremsspuren – für den Wirtschaftsstandort OstDeutschland positive Konturen ab. Die Investitionstätigkeit bekommt voraussichtlich in den Jahren 1994 bis 1996 eine hohe Dynamik, wenn die Masse der vertraglich zugesicherten Investitionen umgesetzt ist und weitere Investitionen bei heimischen Lieferanten und Abnehmern erfolgt sind. Die ostdeutsche Wirtschaft wird hochmodern und wettbewerbsfähig. Investitionen bedeuten immer ein Stück Zukunft und Zukunftsfähigkeit Aber Planung, Durchführung und Nutzung von Investitionen und damit ihre Auswirkungen auf die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen brauchen ihre Zeit. Es wird dann z. B. im Großraum Berlin annähernd soviele Arbeitsplätze geben wie 1990, als die Privatisierung begann – dann allerdings voll wettbewerbsfähig. Und wenn z. B. in den ostdeutschen Automobil-Standorten die geplanten Endausbaustufen der neuen Werke erreicht werden, wird die Automobilproduktion doppelt so hoch sein wie zu DDR-Zeiten – und zwar auf der Basis modernster Fertigungstechnologien mit einer Produktivität höher als in Westdeutschland. Weiterhin wird im Umfeld moderner Großinvestitionen Industrie und Handwerk aufwachsen, z. B. im Umfeld der Chemieinvestitionen in Milliarden-Höhe in Bitterfeld oder Schwarzheide. Dort kommen zu den Investitions- und Arbeitsplatzzusagen im Zusammenhang mit der Privatisierung nochmals etwa ebenso viele Investitionen und Arbeitsplätze im Bereich der Zulieferer, Abnehmer und im Dienstleistungssektor hinzu. Schon heute entwickeln sich die weitgehend privatisierte ostdeutsche Bauindustrie, das Bauhaupt- und Ausbaugewerbe ausgesprochen dynamisch. Dies ist nicht zuletzt auch Ergebnis der massiven Förderung der öffentlichen Infrastruktur – sei es im Bereich der Telekommunikation, bei der Modernisierung des Verkehrsnetzes oder der Energieversorgung. Es gibt für den, der sehen will, deutliche Zeichen, daß die jungen Bundesländer zu einem attraktiven Standort werden. Der Weg vom Plan zum Markt ist zwar ein schmerzhafter, und er ist langwieriger als anfangs abzusehen war. Aber mit ersten Blickkontakten beginnt sich am Horizont der späten 90er Jahre ein Teil jener Zukunft abzuzeichnen, für die die Menschen in den Herbsttagen 1989 auf die Straßen gingen. Privatisierungen der THA auf einen Blick (nachträgliche Ergänzung): „Als die Treuhandanstalt am 31. Dezember 1994 ihre Arbeit einstellte, hatte sie -
15.102 Privatisierungen vorgenommen; 4.358 Unternehmen reprivatisiert, an die alten Eigentümer oder ihre Nachkommen zurückgegeben; 310 Betriebe kommunalisiert bzw. in die Obhut der Gemeinden gestellt;
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3.718 Betriebe nach Teilprivatisierung und Outsourcing abgewickelt und stillgelegt. Die Nachfolgerin der Treuhand, die BvS, übernahm noch einen Restbestand von 192 Unternehmen, vor allem in Management KGs; für rund 25.000 kleine Geschäfte, Läden, Gaststätten und Apotheken neue Eigentümer gefunden. Die Liegenschaftsverwaltung der Treuhand (TLG) hatte 36.800 Immobilien, die Treuhand selbst 9.700 Objekte veräußert.
In nicht einmal fünf Jahren wurden insgesamt etwa 85.000 individuelle Privatisierungsverträge geschlossen, die alle Geschäftsbereiche und Größen – von der Kneipe über Bauland für Wohnungsbau oder Industrieansiedlung bis zu einem integrierten Stahlwerk – betrafen“.63 5.4. Privatisierte Unternehmen: Träger der wirtschaftlichen Erneuerung Von Gerd v. Gusinski64 Der im Juni 1990 von der Volkskammer beschlossene und in den Einigungsvertrag aufgenommene Auftrag der Treuhandanstalt, die 100 prozentige DDRStaatswirtschaft in marktwirtschaftliche Unternehmensstrukturen zu überführen, ist im Frühsommer 1994 weitgehend realisiert. Mit den Privatisierungsverträgen ist eines der ersten grundlegenden Kapitel der wirtschaftlichen Integration Ostdeutschlands geschrieben worden. In zigtausend Unternehmen kam es zu vielfältigen Aktivitäten der Sanierung und Modernisierung. Die Mehrzahl der privatisierten Unternehmen hat die Konsolidierungs- und Stabilisierungsphase zwar noch nicht hinter sich. Aber nicht nur in der Bauwirtschaft und im Dienstleistungssektor, sondern auch in immer mehr Branchen des verarbeitenden Gewerbes weisen positive Auftragsentwicklung und Produktionswachstum darauf hin, daß Unternehmen an Vitalität gewinnen und Arbeitsplätze ihre Anfälligkeit verlieren. 5.4.1. Vom Plan zum Markt: Weitgehend geschafft Über 90 Prozent des Firmenbestandes, der einst der Treuhandanstalt übertragen wurde, befand sich Ende April 1994 in privatwirtschaftlicher Verantwortung. -
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Im Verlaufe von knapp vier Jahren wurden annähernd 6.400 Treuhand-Unternehmen vollständig oder mehrheitlich privatisiert. Außerdem sind fast 7.300 private Firmen durch die Privatisierung von Betriebsteilen entstanden, die aus der Entflechtung von Treuhand-Unternehmen hervorgegangen sind. Knapp 1.600 Betriebe sind an ihre früheren Eigentümer zurückgegeben worden. Außerdem erhielten Alteigentümer über 2.700 Betriebsstätten zurück.
63 Breuel, Birgit: Die Treuhandanstalt – Zielvorgaben, Rahmenbedingungen und Ergebnisse, in: Breuel, Birgit / Burda, Michael C. (Hrsg.): Ohne historisches Vorbild: Die Treuhandanstalt 1990 bis 1994. Eine kritische Würdigung, Berlin 2005, S. 24 f. 64 Aus: Treuhandanstalt. Dokumentation 1990-1994, Band 3, Berlin 1994, S. 287-307. Quelle: Die Wirtschaft (Hrsg.): Privatisierte: Was aus ihnen wird, Berlin 1994.
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Bereits im Jahre 1992 war die „kleine“ Privatisierung weitgehend abgeschlossen. Neben rd. 400 größeren Einheiten, die an westdeutsche Einzelhandelsketten gingen, sind etwa 25.000 Ladengeschäfte, Gaststätten, Hotels, Apotheken, Buchhandlungen und Kinos an mittelständische Erwerber, meist an Existenzgründer aus den neuen Ländern übergeben worden.
Nimmt man die kleine und große Privatisierung und die Reprivatisierung des Treuhand-Firmenbestandes zusammen, so sind daraus mehr als 40.000 private Unternehmen entstanden, und zwar quer durch die Wirtschaftsbereiche. Hierbei sind die von Treuhand-Unternehmen selbst vorgenommenen Ausgründungen von Neben- und Hilfsbereichen, z.B. des eigenen Fuhrparks und von Bau- und Instandhaltungsabteilungen, noch nicht berücksichtigt. Sie erfolgten häufig mit den ersten Schritten der Umstrukturierung der Unternehmen, ohne daß sie als Privatisierungsaktivitäten erfaßt wurden. Es gibt kleinere und mittlere Städte, in denen annähernd die Hälfte der gewerblich-industriellen Neugründungen auf solche Ausgliederungen von Neben- und Hilfsbereichen zurückgehen. Nahezu 270 Unternehmen wurden auch Kommunen und Ländern übergeben. Die Mitarbeiter erwarten von den neuen öffentlichen Eigentümern Modernisierung und zukunftsorientierte Ausrichtung dieser Betriebe. Das gilt nicht zuletzt für die Verkehrsflughäfen, See- und Binnenhäfen, die Wasser- und Abwasserbetriebe oder die Betriebe des öffentlichen Personennahverkehrs. Die Eigentümer der Seehafen Rostock GmbH sind zu 74,9 Prozent die Hansestadt Rostock und zu 25,1 Prozent das Land Mecklenburg-Vorpommern. Beim Flughafen Schkeuditz sind sowohl der Freistaat Sachsen und das Land Sachsen Anhalt, die Landkreise Leipzig und Delitzsch, als auch die Städte Halle, Leipzig und Schkeuditz die Gesellschafter der Flughafen Halle-Leipzig GmbH. Und Aktionäre der Erzgebirge Wasser und Abwasser AG Chemnitz, die aus einem früheren VEB Wasserversorgung und Abwasserentsorgung hervorgegangen ist, sind ebenfalls mehrere Städte und Gemeinden. Für eine Reihe der ehemaligen volkseigenen Betriebe, für die keine Chance gesehen wurde, die Wettbewerbsfähigkeit durch Privatisierung, Reprivatisierung oder Kommunalisierung zu erreichen, blieb nur die Stillegung. Fehlende Wettbewerbsfähigkeit bedeutet Mangel an Sanierungsfähigkeit der Produktion und Produkte oder fehlende Nachfrage auf heimischen und internationalen Märkten. Hinzu kam die Stillegung aus Gründen der Umweltbelastung und Gesundheitsgefährdung. Stillegung bedeutet allerdings nicht das Aus für alle Betriebsteile: -
Überlebensfähige Betriebseinheiten wurden ausgegliedert und privatisiert.
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Gebäude und Infrastruktureinrichtungen erhielten einen neuen Geschäftszweck mit Perspektive.
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Neuansiedlungen wurden angestoßen, z. B. eine saubere Produktion gleich nebenan. Aus den 3.400 Betrieben und Betriebsteilen heraus, für die die Stillegung eingeleitet wurde, kam es bis zum Frühsommer 1994 zu ca. 600 Privatisierungs-
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verkäufen. Durch die Aktivitäten aus der Stillegung heraus sollen insgesamt etwa 100.000 Arbeitsplätze erhalten und geschaffen werden. Neben den Betrieben, die sich in der Liquidation befanden, waren es Ende April 1994 nicht einmal 200 Treuhand-Unternehmen mit weniger als 90.000 Beschäftigten, für die noch abschließende Lösungen gesucht wurden. Bei den allermeisten handelte es sich um kleinere und mittlere Betriebe. Allerdings gab es auch etwa ein Dutzend Treuhand-Unternehmen mit jeweils mehr als 1.000 Mitarbeitern, die in ihrer Region zu den größten Arbeitgebern zählen. Das bedeutet: Es waren zwar einige „große Brocken“ noch nicht privatisiert. Aber gemessen an den 14.000 vollzogenen Unternehmens- und Unternehmensteilprivatisierungen der letzten vier Jahre ist der Stabwechsel an private, investitionsaktive Eigentümer bereits weitgehend erfolgt. Mitte 1990; als die ehemaligen VEB und Kombinate per Gesetz an die Treuhandanstalt übertragen wurden, arbeiteten über 4 Mill. Beschäftigte in TreuhandUnternehmen. Damit gehörte nahezu jeder zweite ostdeutsche Arbeitnehmer der größten Beteiligungsholding der Welt an. In Industrie und Bauwirtschaft waren fast alle Erwerbstätigen Mitarbeiter in Treuhandbetrieben, wenn man die Beschäftigten in den Handwerksbetrieben nicht einbezieht. 1994 sind dagegen 98 Prozent der Erwerbstätigen des produzierenden Gewerbes in privaten Unternehmen beschäftigt: in privatisierten und reprivatisierten Betrieben, in Unternehmen, die auf der „grünen Wiese“ entstanden sind, in langjährig bestehenden Handwerksbetrieben oder auf Arbeitsplätzen bei Existenzneugründern. Mit der vom Gesetzgeber bestimmten Aufgabe, „die unternehmerische Tätigkeit des Staates durch Privatisierung so rasch und so weit wie möglich zurückzuführen“, war die Treuhandanstalt von Anfang an zwar lediglich Zwischeneigentümer auf Zeit, aber dennoch die entscheidende Institution des Übergangs vom Plan zum Markt. So überrascht es nicht, daß an ihr die schmerzhaften Strukturbrüche, Stillegungen und der massenhafte Verlust von Arbeitsplätzen festgemacht werden, aber in der öffentlichen Diskussion der Einfachheit halber die enormen Erblasten aus DDR-Zeiten, die Belastungen aus der Wirtschafts- und Währungsunion oder die Folgen der stark aufwärts gerichteten Tendenz der Löhne regelmäßig unberücksichtigt bleiben. Doch nachdem die Treuhand ihren Auftrag überwiegend realisiert hat, werden zwangsläufig weitergehende Probleme und Fragen immer mehr in den Vordergrund rücken: Was sind die Verträge und die darunter stehenden Unterschriften wirklich wert? Was investieren die neuen Eigentümer an Kapital, Erfahrung, Initiative und Verantwortung, um die Unternehmen zu konsolidieren und zukunftsorientiert auszurichten? Erweist sich der Grundsatz, an dem die Treuhandanstalt festgehalten hat, daß Privatisierung der beste Weg zur Sanierung ist, wirklich als tragfähige Strategie für Zigtausende von Unternehmen? 5.4.2. Notwendigkeit von Sanierung und Privatisierung Viele der Führungskräfte der Treuhandanstalt, die aus der Industrie der alten Bundesländer gekommen sind, waren keineswegs versessene Privatisierer. Von der Überlegung ausgehend, daß man am besten Unternehmen privatisieren könne,
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die Gewinn erwarten ließen, wollten sie die Sanierung der Unternehmen in eigener Regie in die Wege leiten. Doch schnell wurde klar, daß die Masse der Treuhand-Unternehmen nur durch eine Intensiv-Betreuung, die die Treuhand selbst nicht zu leisten in der Lage war, saniert werden konnte. Sowohl Wirtschaftswissenschaftler als auch Wirtschaftspraktiker kamen zu gleichlautenden Einschätzungen: -
So gelangten amerikanische Wissenschaftler (Akerlof und andere in ihrer Berkeley-Studie) zu einem niederschmetternden Ergebnis: Sie schätzten, daß auf der Grundlage der DDR-Technologie und der alten Organisationsstrukturen sowie der im Oktober 1990 geltenden Lohnkosten und Weltmarktpreise nur 8,2 Prozent der ostdeutschen Industriebeschäftigten ihren Arbeitsplatz behalten könnten. Millionen von Erwerbstätigen drohte die Entlassung, und nur bei wenigen hunderttausend Industriebeschäftigten sollten die Arbeitsplätze rentabel sein. Zwar ließen sich auf der Kostenseite spürbare Entlastungen einleiten und durchsetzen, etwa durch Vermeidung offensichtlicher Fehlorganisation und durch Produktivitätssteigerung bei Neuinvestitionen. Doch dies hieß, vor Ort in den Unternehmen ausreichend qualifizierte Managementkapazitäten nutzen zu können. Zudem bereitete die geschrumpfte Nachfrage nach Produkten aus den neuen Bundesländern den Unternehmen große Sorgen. Doch woher Aufträge, Vertriebswege und Märkte für Tausende von Unternehmen nehmen?
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Nach dem Urteil unabhängiger Wirtschaftsprüfer hatten weniger als 10 Prozent der Treuhandbetriebe, die als sanierungsfähig eingeschätzt wurden, nur einen geringen Sanierungsbedarf, und zwar sowohl finanziell als auch vom Managementeinsatz. Die Mehrzahl der sanierungsfähigen Unternehmen brauchte dringend ausgefeilte Unternehmenskonzepte und kompetente investitionsaktive Sanierer vor Ort. Zum weit überwiegenden Teil wurden die Sanierungsaussichten zwar positiv beurteilt, aber sie waren davon abhängig, ob Unternehmen für Unternehmen und Schritt für Schritt die neue Marschroute sachkundig abgesteckt und willensstark beschritten wurde.
Die Übertragung der Sanierung und Privatisierung auf seriöse private Investoren versprach für die Unternehmen und ihre Belegschaften am wirkungsvollsten zu sein. Doch welche Strategie der Privatisierung und welche Privatisierungskonditionen, insbesondere zur Auswahl der neuen Eigentümer sollte die Treuhandanstalt zugrunde legen? Wie sollte sie sich und ihre Unternehmen vor Unvermögen, Unseriosität und kriminellen Aktivitäten schützen? 5.4.3. Investitionen und Arbeitsplätze als Übernahmebedingung Die Treuhandanstalt hat ihre Unternehmen nicht marktwirtschaftlich „pur“ verkauft. Nicht der Meistbietende erhielt ohne Auflagen den Zuschlag. Denn das hätte (im Extremfall) auch bedeuten können: Der Betrieb wird stillgelegt, und die Grundstücke bleiben zu Spekulationszwecken brach liegen.
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Das A und O: Unternehmenskonzepte: Entscheidender Punkt war das Unternehmenskonzept des Erwerbsinteressenten, und wo immer es möglich erschien, wurde es im Rahmen eines Bieterwettbewerbs eingefordert, entweder in Form von Ausschreibungen oder durch gezielte Ansprache potentieller Interessenten für das zu privatisierende Unternehmen. Mit der Prüfung der Unternehmenskonzepte war zu entscheiden, wer als Erwerber favorisiert wurde. Als Indiz dafür, daß sich die eingeforderten Unternehmenskonzepte als „Sicherung“ zur Prüfung der Ernsthaftigkeit und Kompetenz der Erwerbsinteressenten bewährt haben, kann gelten: Bei insgesamt 14.000 Unternehmensprivatisierungen waren bis April 1994 durch das Vertragsmanagement der Treuhandanstalt 180 privatisierte Betriebe als insolvent erfaßt. Liquiditäts-, Finanzierungsund Absatzprobleme waren in vielen Fällen entscheidend; nur bei einer sehr begrenzten Zahl von Erwerbern brachte kriminelle Energie die Unternehmen in Schwierigkeiten. Zwar ist die bisherige Zahl insolvent gewordener privatisierter Unternehmen noch kein Endergebnis, aber welches Auswahlverfahren hätte eine geringere Ausfallquote gewährleistet? Und welches Verfahren regt stärker Modernisierung der Betriebe sowie Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen an, als es vertraglich vereinbarte Investitions- und Arbeitsplatzzusagen tun? Investitionszusagen als Sanierungsmaßstab: Ein treuhandspezifisches Privatisierungskriterium ist die Verpflichtung des Erwerbers zu Investitionen. Mit den Investitionsverpflichtungen soll nicht nur die Fortführung, sondern die nachhaltige Modernisierung und Erneuerung des Betriebes verbindlich eingeplant werden. Mit den Investitionszusagen wird der neue Eigentümer in die Pflicht genommen, den übernommenen Betrieb möglichst schnell wettbewerbsfähig zu machen. Zweifellos liegt ein solches Vorgehen im Eigeninteresse des Investors, aber damit Art und Umfang der Zusage nicht gleich in der ersten schwierigen Situation des Unternehmens hinfällig werden, galt es, die Nichteinhaltung von Investitionszusagen zu erschweren. So wurden bei Nichteinhaltung Vertragsstrafen (Pönalien) vorgesehen. Mit den neuen Eigentümern wurden bis Ende April 1994 Investitionszusagen in Höhe von über 190 Mrd. DM ausgehandelt. Die Masse der Investitionszusagen wird sich indes erst von 1994 an voll auswirken; denn bei über 80 Prozent der Zusagen enden die Realisierungsfristen 1994 und später. Investitionen brauchen Zeit: Von der Planung und Konzeption über die Umsetzung und Durchführbarkeit bis hin zur Inbetriebnahme sowie Produktions- und Produktivitätswirksamkeit. Für 1993 hat das Vertragsmanagement der Treuhandanstalt knapp 3.000 Verträge auf 16Mrd. DM Investitionszusagen zu überprüfen. Ende Mai 1994 war für drei Viertel der Verträge die Prüfung abgeschlossen. Die bisherige Überprüfung zeigte, daß für 73 Prozent der Verträge die Zusagen eingehalten, teilweise sogar übererfüllt waren. Der „lnvestitionsüberschuß“ belief sich auf 3,2 Mrd. DM, dem standen allerdings nicht erfüllte oder aufgeschobene Investitionsverpflichtungen in Höhe von 1,3 Mrd. DM gegenüber. Es ist Aufgabe des Vertragsmanagements, die Einhaltung der Investitionszusagen nicht nur zu überprüfen, sondern auch bei
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Nichteinhaltung Lösungen für ihre Erfüllung zu finden, im äußersten Fall sogar die Zahlung der Pönalien zu veranlassen. Dieser äußerste Fall, der mit einem (zeitweiligen) Verzicht auf Durchführung von Investitionen verbunden ist, dürfte auch in Zukunft die Ausnahme bleiben; denn bei den allermeisten Privatisierten ist die Geschäftslage so schlecht nicht, würden sonst z. B. international erfolgreiche Unternehmen davon sprechen, daß ihre ostdeutschen Werke im internen Qualitätsvergleich nach kurzer Zeit einen Spitzenplatz einnehmen (werden)? Arbeitsplatzzusagen und tatsächliche Entwicklung: Gleichrangiges Kriterium für die Privatisierungsentscheidungen waren die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen. Mit seiner Beschäftigungszusage verpflichtet sich der Käufer, innerhalb eines Zeitraumes eine festgelegte Anzahl von Arbeitsplätzen zu erhalten oder zu schaffen. Seit Anfang 1991 gehört die Vereinbarung der konkreten Anzahl der zu sichernden oder zu schaffenden Arbeitsplätze zu den verbindlichen Richtlinien der Treuhand-Vertragsgestaltung. Die Vertragsstrafen werden fällig, wenn die Arbeitsplatzzusage innerhalb des vereinbarten Zeitraumes unterschritten wird. Sie liegen im Durchschnitt bei etwa 25.000 DM pro Arbeitsplatz und Jahr. Insgesamt hat die Treuhand bis Ende April 1994 1,5 Mill. Arbeitsplatzzusagen erreicht. Davon sind rd. 950.000 Arbeitsplätze einklagbar. Insbesondere die Verträge, die im 2. Halbjahr 1990 abgeschlossen wurden, enthalten für 250.000 Arbeitsplätze kaum bindende vertragliche Regelungen. Für 1993 sind vom Vertragsmanagement über 10.000 Verträge auf die Einhaltung von über 560.000 Arbeitsplatzzusagen zu überprüfen. Ende Mai 1994 war bei 7.400 Verträgen die Prüfung abgeschlossen. Bei 4 von 5 Verträgen wurden die Zusagen eingehalten oder übererfüllt. Insgesamt waren es rd. 95.000 Arbeitsplätze mehr, als zugesagt wurden. Dem steht allerdings gegenüber, daß in etwa 3.000 Verträgen die Zusagen nicht eingehalten wurden. Dies bedeutet ein Minus von 33.000 Arbeitsplätzen, und selbst wenn die Untererfüllung durch die Übererfüllung anderer Investoren mehr als ausgeglichen wurde, bleiben es 33.000 Arbeitsplätze, die fehlen. Daß Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern bereits sicherer werden und in immer mehr ostdeutschen Unternehmen positive Personaldispositionen überwiegen, weist darauf hin: Der Umfang der Nichteinhaltung von Arbeitsplatzzusagen dürfte an Gewicht verlieren. 1-DM-Verkäufe und Schlimmeres: Die Treuhand mußte im Interesse der Investitions- und Arbeitsplatzzusagen Zugeständnisse machen. Im Interesse der Arbeitsplätze und Investitionen ging es um Geben und Nehmen. Es wäre indes eine Fehlinterpretation zu glauben, die Treuhandanstalt hätte die größten Zugeständnisse bei den „Eine-D-Mark-Verkäufen“ oder „negativen Kaufpreisen“ gemacht; denn die angeblich Begünstigten mußten und müssen die ganze Verantwortung und das volle Risiko mit allen Konsequenzen tragen. Vorwürfe des Unterpreis-Verkaufs wurden wiederholt laut, z. B. bei der Übergabe von fünf Flugzeugen des Typs IL 18 an ostdeutsche Mitarbeiter der ehemaligen Interflug für „nur“ 1 DM. Mit diesen veralteten Propellermaschinen, die ein Durchschnittsalter von 25 Jahren hatten, riskierten sie 1991 den Neuanfang. An Engagement und Kompetenz hat es dabei nicht gefehlt, aber die Nutzung der
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IL 18 erwies sich letztlich als zu kostenintensiv, um erfolgreich gegen die Konkurrenz der westdeutschen Charterfluggesellschaften anzufliegen. Einem Eigenkapital von 1 Mill. DM standen Verluste von 10 Mill. DM gegenüber. Da sich kein Kapitalgeber fand, um auch eine längere Durststrecke durchstehen zu können, ist das Unternehmen trotz Treuhand-„Geschenks“ zu Boden gegangen. Für einiges Aufsehen sorgte auch die Anfang 1993 erfolgte Privatisierung der Eisen- und Hüttenwerke Thale AG, deren Aktien zum symbolischen Preis von 1 DM vom ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Dr. Ernst Albrecht und einem engagierten Bremer Kaufmann übernommen wurden. Die Aktionäre haben sich verpflichtet, alle Erträge aus ihrer Aktionärseigenschaft dem Unternehmen zur Verfügung zu stellen und künftig ist eine Aktionärsstruktur unter Beteiligung der Mitarbeiter vorgesehen. Nach Einstellung unwirtschaftlicher Fertigungen, Konzentration auf wesentliche Kerngeschäftsfelder und einer weitgehenden Erneuerung der Produktpalette wird derzeit der größte Teil des Umsatzes zwar bereits auf neuen Märkten erzielt. Insbesondere bei Zuliefererzeugnissen aus Sintermetall für die Automobilindustrie kann Thale bereits Aufträge für einen großen Automobilproduzenten als wichtige Referenz vorweisen. Aber nach Einschätzung der Thale AG sind sowohl Kostenstrukturen als auch Produktionsprogramm noch nicht so, wie es für eine zukunftsorientierte Fortführung notwendig wäre. Das eigentlich „Spektakuläre“ an diesem „Fall“ ist daher nicht der Verkauf der Aktien zum symbolischen Preis von 1 DM, und selbst die „Mitgift“ der Treuhandanstalt in Form eines zeitweiligen Verlustausgleichs in zweistelliger Millionenhöhe ist es nicht, sondern vielmehr die Tatsache, daß die Alternative zum „1DM-Deal“ die sonst von der Treuhandanstalt vorgesehene Schließung des gesamten Betriebes gewesen wäre. Und dies in einem Ort, wo andere Beschäftigungsmöglichkeiten noch lange nicht in Sicht sind. Und ist der Zuschuß der Treuhandanstalt auch noch so groß, eine Garantie für zukünftigen unternehmerischen Erfolg ist er nicht. Ein eindeutiges „Zuschußgeschäft“ war z. B. die Privatisierung der Jenoptik Carl Zeiss Jena, die zu 100 % vom Land Thüringen übernommen wurde. Gegenwärtig hat sie vor allem noch den Charakter einer Wirtschaftsfördergesellschaft zur Neuansiedlung von innovativen und technologisch anspruchsvollen Arbeitsplätzen. Die „Mitgift“ der Treuhand betrug dabei 1,9 Mrd. DM – davon entfielen knapp 1 Mrd. DM auf die Tilgung der Altkredite –, und sie wurde durch Aufwendungen des Landes Thüringen in Höhe von 800 Mill. DM ergänzt Die Treuhandanstalt und das Land Thüringen wenden für alle derzeit bestehenden und noch zu schaffenden 6.000 Arbeitsplätze rd. 1,7 Mrd. DM auf, also über eine Viertelmillion Mark pro Arbeitsplatz. Wer annimmt, daß die sorgfältige Prüfung des Unternehmenskonzeptes und der damit verbundenen Arbeitsplatz- und Investitionszusagen als Entscheidungsgrundlage akzeptabel sei, verläßt sich nach Meinung von Kritikern auf einen „Schwachpunkt“ der Treuhand-Strategie. Das Unternehmenskonzept, lautete der Einwand, wäre keine objektive Entscheidungsgrundlage, und bei mehreren Bewerbern mit unterschiedlichen Konzepten müsse die angemessene Auswahl schwerfallen. Wäre es doch in der Praxis nur immer so gewesen, daß regelmäßig
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mehrere „Wunschkandidaten“ zur Verfügung gestanden hätten! Weil dem nicht so war, hätte ein Verzicht auf die Treuhand-Kriterien bei der Privatisierung zwar manche Privatisierung erleichtert, wohl aber auch eine spätere Stillegung durch den neuen Erwerber. 5.4.4. Investoren und ihre Motive Die durch die Privatisierung ausgelösten Impulse der wirtschaftlichen Modernisierung und Vitalisierung werden sich 1994 noch nicht endgültig beurteilen lassen. Und zur nüchternen Beurteilung gehört auch, daß mit der Privatisierung der Treuhand-Unternehmen deren Überleben und Expansion im Markt noch nicht garantiert ist. Sie können wie jedes andere Unternehmen scheitern, falls die neuen Eigentümer Aufgabe oder Umfeld nicht in den Griff bekommen. Ob aus Ex-Treuhand-Unternehmen etwas wird, was aus ihnen wird und welchen Einfluß sie auf ihr wirtschaftliches Umfeld ausüben, dürfte nicht zuletzt von den Motiven, Absichten und Zielen der Investoren abhängen. Was hat eigentlich internationale Konzerne oder große Firmen aus den alten Bundesländern, was mittelständische westdeutsche Unternehmer oder ostdeutsche Führungskräfte und Mitarbeiter bewogen, Tausende von Unternehmen zu übernehmen, die wegen der schlagartig veränderten ökonomischen Umwelt in allergrößten Anpassungsschwierigkeiten steckten? War es für deutsch-deutsche Aktivitäten anfänglich nur die pure Euphorie der deutschen Wiedervereinigung, war der Kauf lediglich Mittel zum Zweck, um einen potentiellen ostdeutschen Konkurrenten in den Griff zu bekommen, oder war es doch zukunftsorientiertes Kalkül unternehmerischer OstWest-Aktivität? Bestätigt sich die oftmals geäußerte Befürchtung, daß die ostdeutsche Industrie zur „verlängerten Werkbank“ wird, oder gewinnen ostdeutsche Firmen dadurch Zukunftsfähigkeit, daß sie in der Firmengruppe z. B. eines weltweit führenden Maschinenbauers als selbständige Einheit planen, konstruieren und produzieren, aber das Vertriebsnetz der Gruppe vorteilhaft nutzen können? Das Spektrum der Fragen ist beachtlich, und zweifellos ist auch ihr Spannungsfeld groß. Motive im Wandel: Bereits aus der Zeit, als die Unternehmensprivatisierung erst auf Touren zu kommen begann, liegen Aussagen über Motive zur Übernahme von Treuhand-Unternehmen vor. Die Umfrageergebnisse von Wirtschaftsforschungsinstituten Ende 1990/Anfang 1991 besagen, daß das in den neuen Ländern vorhandene Nachfragepotential ein wesentliches Motiv für die Übernahme- und Investitionsaktivitäten westlicher Unternehmen waren. Die Präsenz im ostdeutschen Markt war danach für über zwei Drittel der westdeutschen und für die Hälfte der ausländischen Investoren der Hauptgrund für die Übernahme von Betrieben in den neuen Bundesländern. Ein weiterer wichtiger Grund insbesondere für Großunternehmen und große mittelständische Firmengruppen war zu diesem Zeitpunkt, über ihre Aktivitäten in den neuen Ländern die osteuropäischen Märkte zu erschließen. Sie sahen den Standort „Neue Bundesländer“ auch als eine Art Brückenkopf nach Osteuropa. Allerdings hat die Vorstellung, daß eine Investition in Ostdeutschland den Markt-
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zugang zu den mittel- und osteuropäischen Reformstaaten wesentlich erleichtern würde, aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten in diesen Ländern rasch an Bedeutung verloren. Und heute wird die Situation eher davon bestimmt, daß das Niedriglohnniveau jenseits von Oder und Erzgebirge ein Standortvorteil ist, der erhebliche Anreize bietet, arbeitsintensive Fertigungen nicht nach Fernost, sondern in die neuen Niedriglohn-Länder des „nahen“ Ostens zu verlagern. Ob hierdurch auch grenzüberschreitende Kooperationen zwischen Unternehmen in Ostdeutschland, Polen oder Tschechien nicht nur in Einzelfällen, sondern in erheblichem Umfang entstehen, bleibt der Zukunft vorbehalten. Ein in der Anfangsphase der Privatisierung nicht unwesentliches Motiv für unternehmerisches Engagement in den neuen Ländern waren auch die Chancen der Kapazitätserweiterung durch Übernahme und Modernisierung ostdeutscher Betriebe und zwar im engen Zusammenhang mit der Verfügbarkeit qualifizierter und motivierter Arbeitskräfte. Dieses Übernahmemotiv bestand damals in Westdeutschland vor allem vor dem Hintergrund ausgelasteter eigener Produktionskapazitäten, nicht zuletzt durch die boomende vereinigungsbedingte Sonderkonjunktur. Allerdings war auch dieses Motiv wenig dauerhaft, denn die weltwirtschaftliche Rezession machte um die Bundesrepublik keinen Bogen. Damit haben sich manch hochgesteckte Erwartungen, die mit dem unternehmerischen Engagement in Ostdeutschland verknüpft waren, kurzfristig nicht erfüllt. Davon blieben selbst renommierte Großunternehmen nicht verschont, die mit ihren Plänen zum Hoffnungsträger ganzer Regionen wurden. Dies trifft z. B. auf die westdeutsche Hoechst AG zu, die 1992 das Chemiefaserwerk Guben kaufte. Doch die dort hergestellte Polyamidfaser wird in Fernost zu so niedrigen Kosten produziert, wie sie in Guben nicht erreicht werden können. Diese Produktion ist nicht aufrechtzuerhalten; denn das Werk Guben hat allein 1993 einen Verlust in Höhe von 70 Mill. DM gemacht. In Guben wird ein zweiter Anlauf unternommen. Über 160 Mill. DM sollen in eine neue Produktionsanlage investiert werden. Mittelfristig will Hoechst das Gubener Chemiefaserwerk zu einem der modernsten Standorte in ganz Westeuropa ausbauen. Doch das ist erst der morgige Tag. Die Realität von heute ist, daß mit der Einstellung der bisherigen Produktion zunächst einmal ein „Fadenriß“ eintritt und Hunderte von Arbeitsplätzen verlorengehen. Neue Aktivitäten am alten Hauptsitz: In manchen Fällen war auch ein alter Firmenstandort ausschlaggebend, um sich in den neuen Bundesländern zu engagieren. Einer der ostdeutschen Betriebe, die davon profitieren, ist die Sodawerk Bernburg GmbH. Vor dem zweiten Weltkrieg war Bernburg deutscher Hauptsitz der belgischen Solvay-Gruppe. Der Bernburger Betrieb wurde nach dem zweiten Weltkrieg als Reparationsleistung demontiert. Mit der zu DDR-Zeiten am alten Standort errichteten Sodafabrik wurde weiterhin nach dem Solvay-Patent produziert. Anfang September 1991 erhielt der Solvay-Konzern sein Eigentum zurück. Erklärtes Ziel ist es, Bernburg zu einem modernen Standort auszubauen. Bis 1996 sollen 640 Mill. DM investiert werden. Allein 240 Mill. DM kostet die notwendige Instandsetzung und Modernisierung der Infrastruktur des Werkes, u. a. ent-
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stehen moderne Abwasserreinigungsanlagen. Und es wird eine Anlage zur Herstellung von Soda mit einer Jahreskapazität von rd. 500.000 t gebaut. Dann wird Soda so kostengünstig hergestellt, daß es auch in den alten Bundesländern voll wettbewerbsfähig auf den Markt kommen kann. Bis dahin ist es noch ein schwieriger Weg – auch für einen Konzern, der in fast 40 Ländern tätig ist und 1993 einen Umsatz von rd. 12 Mrd. DM erwirtschaftete. Motiv: im Europäischen Binnenmarkt: Während bei der Rückkehr des belgischen Solvay-Konzerns an seinen früheren ostdeutschen Standort sicherlich der betreffende Restitutionsanspruch eine bedeutende Rolle gespielt hat – aufgrund von Bestimmungen des Potsdamer Abkommens stand zu DDR-Zeiten alliiertes Eigentum unter sogenannter staatlicher Verwaltung –, war beim Engagement ausländischer Investoren von außerhalb der Europäischen Union oftmals entscheidend, daß sie dadurch im europäischen Binnenmarkt präsent wurden. Umfrageergebnisse bei ausländischen Investoren vom Sommer 1993 ergaben, daß dieser Standortvorteil in Zusammenhang mit dem Angebot an qualifizierten Arbeitskräften das wichtigste Ansiedlungsmotiv war. Ein interessantes Beispiel, wie sich ein weltweit tätiger Konzern in den neuen Ländern ein Standbein für den Ausbau seiner Europa-Aktivitäten schafft, betrifft die Fernsehglas Tschernitz GmbH. Der Lausitzer Betrieb, einst einziger Hersteller von Glaskolben für Farbbildröhren in der DDR, wurde im März 1994 an eine Tochterfirma eines der größten TV-Glashersteller der Welt privatisiert, an die koreanische Unternehmensgruppe Samsung. Die Samsung Corning Deutschland mit Sitz in Tschernitz soll zu einem der europaweit bedeutendsten Standorte der Bildschirmherstellung ausgebaut werden. Hauptsächlich werden dann die eigenen Betriebe beliefert, nicht zuletzt das Werk für Fernsehelektronik Berlin, das 1993 von der Samsung Gruppe übernommen wurde. Dazu werden über 300 Mill. DM investiert. Die alten Produktionsanlagen werden durch neue ersetzt, und bereits in einer ersten Ausbaustufe wird der Produktionsumfang verdoppelt. Es ist vorgesehen, die Produktion bis auf das Fünffache zu steigern. Das vorhandene qualifizierte Fachpersonal hat die faire Prüfung und optimistische Entscheidung der Übernahme positiv mitbeeinflußt, wie es die Südkoreaner formulierten. Angesichts der Ausbaupläne erscheinen indes nicht nur die vorhandenen Arbeitsplätze gesichert, sondern es dürften auch neue geschaffen werden. Eines der ungewöhnlichsten Beispiele dafür, daß die neuen Länder wegen ihrer Zugehörigkeit zum Europäischen Binnenmarkt ein für ausländische Investoren attraktiver Standort sind, ist der Verkauf der Umformtechnik Erfurt an ein tschechisches Unternehmen im Frühjahr 1994. Für die Umformtechnik Erfurt ging damit die quälend lange Zeit der Ungewißheit zu Ende. In ihrer Anfangsphase traten zwar auch westdeutsche Konkurrenzunternehmen als Interessenten auf, deren Absichten lagen aber wohl eher in einer „Umgestaltung“ des ostdeutschen Wettbewerbers zu einer verlängerten Werkbank, wenn nicht sogar in seiner „Ausschaltung“. Die Treuhand formulierte es zurückhaltender: Die westdeutschen Angebote (Unternehmenskonzepte) wären nicht ausreichend tragfähig. Zwischenzeitlich meldete sich zwar auch ein kanadischer Interessent, aber es kam keine Übernahme
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zustande. So ging aus den Privatisierungsverhandlungen der Schwermaschinenbaukonzern Skoda Pilsen als neuer Eigentümer der Umformtechnik hervor. Die Tschechen haben sich verpflichtet, 150 Mill. DM zu investieren und rd. 1.000 Arbeitsplätze langfristig zu erhalten. Für die Skodawerke Pilsen, die vor allem Schienenfahrzeuge und Kraftwerksausrüstungen herstellen, bedeutet dieser Kauf die Erweiterung um ein attraktives Erzeugnissegment. Zugleich sind die Tschechen durch die Übernahme der Umformtechnik Erfurt mit einem Bein auf dem Markt der Europäischen Union. Das hat wahrscheinlich den Ausschlag für die Übernahme der Umformtechnik gegeben, nachdem beide schon vorher bei großen Aufträgen zusammenarbeiteten. Frischer Wind ins Haus: Die Treuhandanstalt hat sich intensiv darum bemüht, möglichst viele ausländische Investoren nach Ostdeutschland zu bekommen. Damit sollte einer Wirtschaft, die 40 Jahre außerhalb internationaler Markterfahrung gelebt hat, der ausländische Wettbewerber sozusagen „ins Haus geholt werden“, um dadurch die Wirtschaft der neuen Bundesländer in die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung zu integrieren. Vor allem von Interessenten aus den westeuropäischen Nachbarländern, aber auch von jenseits des Atlantiks und aus Fernost wurden rd. 840 ostdeutsche Betriebe und Betriebsteile übernommen. Diese sollen mit zugesicherten Investitionen in der Größenordnung von rd. 21,5 Mrd. DM saniert und modernisiert werden. Welche Bedeutung dabei das Engagement ausländischer Investoren sowohl für ganze Regionen als auch für die Belebung des Wettbewerbs hat, wird z. B. an der Privatisierung der Mitteldeutschen Braunkohle AG (MIBRAG), eines der beiden ostdeutschen Unternehmen des Braunkohlenbergbaus, deutlich. Anfang 1994 übernahm ein Investorenkonsortium, bestehend aus den Stromerzeugern NRG Energy (USA), Power Gen (Großbritannien) und dem Bergbauunternehmen Morrison Knudson (USA), die MIBRAG. Das Konzept der neuen Eigentümer sieht die Förderung von 20 Mill. t Rohbraunkohle jährlich vor, die überwiegend verstromt werden soll. Damit wird einerseits das Ziel erreicht, die Braunkohlengewinnung in Mitteldeutschland langfristig zu sichern. Andererseits werden damit erstmals ausländische Stromerzeuger in der Bundesrepublik Deutschland unternehmerisch aktiv. Daß diese Entwicklung in der Stromwirtschaft zu vorteilhaften Wettbewerbseffekten führen dürfte, steht nicht nur im Einklang mit theoretischen Überlegungen, sondern auch mit vielfältigen Erfahrungen. Ein weiteres interessantes Beispiel für das Engagement ausländischer Investoren ist die Kvaerner-Warnow-Werft. Sie verzeichnete von den großen, durch Privatisierung gesicherten ostdeutschen Schiffbaubetrieben bislang wohl die meisten Fortschritte bei der Umstrukturierung. Die veraltete Warnow-Kabelkrananlage, seit Jahrzehnten gewissermaßen Symbol des Schiffbaus an der mecklenburgischvorpommerschen Ostseeküste, hat 1994 ihre Funktion weitgehend verloren. An ihre Stelle tritt u. a. ein neues Trockendock, das im nächsten Jahr in Betrieb gehen soll. In den faktischen Neubau der Werft wird über eine Mrd. DM investiert. Ein erheblicher Teil der Mittel kommt von der Treuhandanstalt. Zusätzlich gleicht sie die bis 1995 entstehenden Verluste mit aus. Ohne diese Subventionen wäre der
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Kvaerner-Konzern 1992 nicht nach Ostdeutschland gekommen, wie man freimütig bekennt. Aber wäre ohne Kvaerner dieser industrielle Kern, von dem viele Zulieferer abhängig sind, zu erhalten gewesen? Bis 1995 wird in Warnemünde eine der modernsten Werften Europas entstehen, die sich im weltweiten Wettbewerb durchsetzen will. Dafür sprechen auch Einsatz und Qualitätsarbeit der 1.900 Mitarbeiter. Ihr Engagement ist nach Aussagen der norwegischen Werftleitung zumindest gleich hoch einzuschätzen wie an anderen Kvaerner-Standorten. Die heimischen Märkte. Es scheint eine Strategie zu geben, die es ermöglicht, daß Investoren ihre Zielvorstellungen relativ schnell und erfolgreich verwirklichen können. Hierauf deuten die Untersuchungsergebnisse von Wirtschaftsforschungsinstituten nicht nur aus der Anfangsphase der Privatisierung, sondern auch zu späteren Zeitpunkten hin. Teilhabe an den sogenannten lokalen und regionalen Märkten Ostdeutschlands erwies sich als Erwerbs- und Investitionsmotiv erster Klasse. Es gibt eine Reihe von Betrieben und Produktionen, die in der Nähe der Abnehmer angesiedelt sein sollten, weil die Güter vor allem vom jeweiligen lokalen und regionalen Markt bezogen werden. Das gilt für große Teile des Nahrungsund Genußmittel-Gewerbes, für Bereiche der Baumaterialienindustrie und baunahe Branchen oder verschiedene Bereiche des Dienstleistungssektors. Erfolgreich durch Präsenz vor Ort: Für den Bereich Steine und Erden ist die Nähe zum Kunden ein sehr wichtiger, meist sogar der entscheidende Standortfaktor. Bei Kies, Transportbeton oder Ziegeln sind der wesentliche Vorteil kurze Transportwege. Die Ziegelindustrie war wegen der Plattenbauweise in der DDR besonders stark vernachlässigt worden, da aber eine nachhaltig steigende Nachfrage nach Ziegeln erwartet werden konnte (diese ist inzwischen auch eingetroffen), kam die rasche Privatisierung der Ziegeleien so überraschend nicht. Sowohl westdeutsche Unternehmen als auch deutsche Tochterfirmen ausländischer Unternehmensgruppen haben Produktionsstätten und Anlagen übernommen. Diese werden mit erheblichen Investitionen modernisiert; vielfach werden die veralteten Anlagen komplett durch neue, hochmoderne ersetzt. Innerhalb kurzer Zeit sollen in der Ziegelindustrie insgesamt 1,5 Mrd. DM in die Sanierung bestehender Produktionsstätten und den Bau neuer Werke investiert werden. Bislang sind mehr als 20 Betriebe komplett saniert. Über 30 Ziegeleien und Klinkerwerke sollen neu errichtet werden; davon steht ein großer Teil bereits. Folge der „Runderneuerung“ ist, daß heute dreimal so viel Ziegel aus ostdeutscher Produktion als aus westdeutscher Fertigung in den neuen Ländern verkauft werden. Vor drei Jahren war das Verhältnis umgekehrt. Die Kapazitätserweiterung allein, die zu einer Verdoppelung der Ziegel- und Klinkerproduktion gegenüber DDR-Zeiten führen wird, charakterisiert den Strukturwandel in dieser Branche noch nicht hinreichend. Sanierung und Neuaufbau der Werke, verbunden mit einem hohen Mechanisierungsgrad führen nach Ansicht der Investoren dazu, daß Mauer- und Dachziegel in Ostdeutschland heute effizienter hergestellt werden können als im Westen der Republik. Da die neuen Länder über große Tonlagerstätten guter Qualität verfügen, wird der Ziegel in
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Ostdeutschland seine Renaissance erleben. So sind die Perspektiven günstig, daß im Zuge von Kapazitätserweiterung die Zahl der Arbeitsplätze steigen wird. Ein weiteres Beispiel für eine rasche Privatisierung ist die ostdeutsche Zementindustrie. Hier wirkte sich ebenfalls das Investorenmotiv Präsenz im regionalen Markt und Kundennähe aus. Hinzu kam, daß die Modernisierung vorhandener Standorte, insbesondere auch durch Investitionen zur Einhaltung der Umweltnormen, offensichtlich weniger zeitaufwendig war als eine Neuansiedlung, die aufgrund strenger Umweltschutzauflagen langwierige Genehmigungsverfahren zur Folge gehabt hätte. So bot die Übernahme der Treuhand-Zementwerke die bessere Möglichkeit des (regionalen) Marktzutritts als Neuansiedlungen auf der grünen Wiese. Zügig verlief ebenfalls die Privatisierung der ostdeutschen Zuckerindustrie, obwohl die Anlagen total überaltert und die Werke für eine kostengünstige Produktion viel zu klein waren. Entscheidend war die sogenannte Zuckerquote der Europäischen Union. Im Rahmen der EU-Agrarmarktordnung erhalten die Fabriken eine Produktionsquote für Zucker. Diese wird dann in Lieferquoten für Rüben umgerechnet. Hierdurch sollen die Erzeugerpreise der Zuckerrübenanbauer gestützt werden. Die für die neuen Bundesländer festgelegte Zuckerquote bedeutete an sich, daß die ostdeutsche Zuckerherstellung nach EU-Kriterien regional beschränkt wurde, in der Realität kam es aber zu einer Markterweiterung für westdeutsche Zuckerproduzenten. An die vier großen westdeutschen Zuckerunternehmen gingen über vier Fünftel der ostdeutschen Zuckerquote, und lediglich ein ausländisches Unternehmen erhielt den Zuschlag für Zuckerfabriken in Mecklenburg-Vorpommern. Die rasche Privatisierung der ostdeutschen Zuckerindustrie war daher im wesentlichen eine deutsch-deutsche Angelegenheit. Das Ergebnis ist bekannt: Dem Neubau größerer modernster Werke an einigen traditionellen Standorten in den Zuckerrübenanbaugebieten steht die Schließung zahlreicher kleiner ostdeutscher Zuckerfabriken gegenüber. Ostdeutsche Marken im Kommen: Lokale und regionale Märkte können sich auch aufgrund von Unterschieden im Nachfrageverhalten der Verbraucher bilden. So war für einen großen Teil der ostdeutschen Raucher nach einer kurzen Probierphase der zuvor gewohnte Geschmack ausreichend Anlaß, zu den ostdeutschen Marken zurückzukehren. Der deutsche Zigarettenmarkt ist regional zweigeteilt. Deshalb hält zum Beispiel die Alt-DDR-Marke „f6“ in den neuen Bundesländern einen Marktanteil von über 30 Prozent, während sie im Westen der Republik weithin unbekannt ist. Die Markentreue der Verbraucher stellt bei Zigaretten ein beachtliches Marktpotential dar. So verwundert es nicht, daß die westdeutsche Branche zügig den Erwerb der ostdeutschen Zigarettenindustrie anstrebte. Einer der Großen der Branche plante sogar die Übernahme des ehemaligen Tabakkombinates „in einem Stück“. Dies scheiterte indes an wettbewerbsrechtlichen Bedenken. Daraufhin übernahmen Philipp Morris die Dresdner Fabrik, Reemtsma die Nordhausener und Reynolds das Warenzeichen „Club“ von der Berliner Zigarettenfabrik. Auch in der ostdeutschen Bierindustrie haben westdeutsche Konzerne schnell und in großem Umfang ostdeutsche Brauereien übernommen. Ein wichtiges Mo-
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tiv waren dabei entweder traditionelle Regionalmarken oder Standorte, die wichtige Ressourcen wie Wasserquellen bereits nutzten und deren Erschließung nicht erst aufwendige Genehmigungsverfahren erforderten. Und natürlich förderte der Durst der ostdeutschen Biertrinker den Absatz und die Verzinsung des eingesetzten Kapitals. Die Vorteile einer standortnahen Produktion und die Rückbesinnung auf Markenartikel aus DDR-Zeiten und DDR-Vorzeiten haben nicht nur zu einer raschen Privatisierung entsprechender ostdeutscher Betriebe geführt. Ihre neuen Eigentümer verfolgen teilweise ein unternehmerisches Konzept, das bewußt auch auf eine Renaissance althergebrachter Namen setzt, und sie lassen es sich einiges kosten. Ein solches Beispiel – mit typischen Höhen und Tiefen – ist das Waschmittel „Spee“. Zu DDR-Zeiten lag sein Marktanteil bei 80 Prozent, doch angesichts der Omnipräsenz weltbekannter westdeutscher Marken stürzte es zunächst auf unter 10 Prozent ab. Das Düsseldorfer Unternehmen Henkel kaufte 1990 das von ihm in Genthin in den 20er Jahren gegründete Werk und ging damit an einen seiner alten Firmenstandorte zurück. Zum einen wurde eine neue Rezeptur für das „Spee“ entwickelt, die hohen Qualitäts- und Umweltanforderungen standhält, und zum anderen wurden über 100 Mill. DM in neue Produktionsanlagen investiert. Weststandard, Markentreue und günstiger Preis führen dazu, daß „Spee“ heute in Ostdeutschland wieder einen Marktanteil von annähernd 30 Prozent hat. Zusätzlich weist „Spee“ im Westen erste Erfolge vor. Die Firma Henkel hat mit ihren Investitionen in Produkt und Produktion die Ernsthaftigkeit unterstrichen, den Produktionsstandort Genthin zu erhalten und zukunftsträchtige Arbeitsplätze zu schaffen. Und mit der Errichtung einer weiteren hochmodernen Anlage sollen zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. Solche Beispiele einer gelungenen Symbiose von Firmentradition und gutem Image eines Ost-Markenartikels sind nicht allzu häufig, sie beschränken sich aber keineswegs auf den Nahrungsmittel- oder Verbrauchsgüterbereich. Ähnliche Fälle gibt es auch bei Investitionsgütern, etwa durch die Rückkehr der AEG in ihr 1913 errichtetes Werk in Hennigsdorf, das zu DDR-Zeiten Alleinhersteller von Elektroloks war und in dem heute Firmen- und Facharbeitertradition mit modernem westlichen High-Tech für Wettbewerbsfähigkeit sorgen. Frühzeitige Privatisierung und die Rückbesinnung auf heimische Produkte führen dazu, daß inzwischen verschiedene Sparten deutlich im Aufwind sind. Allerdings sind die Wachstumsraten vor dem Hintergrund der in der Übergangsphase drastisch gesunkenen Nachfrage und Produktion zu sehen. Nachdem z. B. der ostdeutsche Bierausstoß 1991 auf weniger als ein Drittel abgesunken war, erreichte er Anfang 1994 erst wieder die Hälfte seiner früheren Menge. Demgegenüber sind die baunahen Branchen, die von der regen Bautätigkeit vor Ort und den umfangreichen Investitionen in die Verbesserung der Infrastruktur profitieren, nicht nur auf anhaltendem Wachstumskurs, sondern auch auf hohem Niveau. So weiteten z. B. die Steine- und Erdenindustrie oder der Stahl- und Leichtmetallbau ihre Produktion innerhalb der vergangenen drei Jahre gegenüber dem 2. Halbjahr 1990 um mehr als die Hälfte aus.
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Deutsch-deutsche Zusammenschlüsse. Während in den Branchen, die überwiegend für den lokalen und regionalen Markt produzieren, die Entwicklung überwiegend aufwärts gerichtet ist, gestaltet sich der marktwirtschaftliche Umstellungs- und Privatisierungsprozeß in jenen Industriezweigen erheblich schwieriger, deren Produkte im überregionalen Wettbewerb mit der westdeutschen und ausländischen Konkurrenz zu kämpfen haben. Deshalb ist es so unvorteilhaft nicht, wenn sich ein ostdeutsches (Tochter-) Unternehmen auf seinem schwierigen Sanierungspfad in die Wettbewerbsfähigkeit auf ein markterfahrenes (Mutter-) Unternehmen. stützen kann. Und angesichts der mit der Wirtschafts- und Währungsunion eingeleiteten Integration der neuen Länder in das Wirtschaftssystem der alten Länder ist es so überraschend nicht, wenn zum überwiegenden Teil westdeutsche Erwerber die Stützen werden. Das betrifft auch solche Industriezweige wie den Maschinenbau oder die Elektroindustrie, die zu DDR-Zeiten obenan standen. Namentlich für den ostdeutschen (Werkzeug-) Maschinenbau schienen die Aussichten zum Zeitpunkt der Wirtschafts- und Währungsunion zwar recht günstig. Mit etwa 60 Prozent hatte er etwa die gleiche Exportquote wie die westdeutschen Maschinenhersteller. Allerdings setzte der DDR-Maschinenbau 90 Prozent seiner Exporte in den Ländern des RGW ab. Nur 5 Prozent wurden nach Westeuropa, Nordamerika und Fernost geliefert. Mit der Auflösung des RGW, der Umstellung des Handels auf konvertible Währungen und den wirtschaftlichen Schwierigkeiten in den mittel- und osteuropäischen Reformstaaten ging das Hauptabsatzgebiet des ostdeutschen Maschinenbaus weitgehend verloren. Hinzu kam, daß die heimischen Kunden des ostdeutschen Maschinenbaus nunmehr aus einem weltweiten Angebot auswählen konnten und dabei vielfach westliche Erzeugnisse bevorzugten. Die Schwierigkeiten der notwendigen Umorientierung des ostdeutschen Maschinenbaus auf westliche Märkte mit fest etablierten Anbietern wurden durch die weltweite Rezession der Branche weiter verschärft. So brach der Absatz im ostdeutschen Maschinenbau im Verlauf der letzten drei Jahre um fast zwei Drittel weg. Dieser Absturz hatte den Verlust von zigtausend Arbeitsplätzen zur Folge. Angesichts sinkender Kapazitätsauslastung auch der westdeutschen Maschinenbauer gerieten die ostdeutschen Unternehmen zunehmend ins Hintertreffen. Manchem potentiellen Kunden wurde von Seiten der westlichen Konkurrenz der „gutgemeinte“ Rat gegeben, „bei Treuhand-Unternehmen besser nicht zu kaufen, denn von denen würde sowieso keines überleben.“ Die Situation im westdeutschen Werkzeugmaschinenbau der vergangenen Jahre wurde als tiefste Rezession der Nachkriegsgeschichte charakterisiert. Vielleicht sind gerade deshalb Branchenverbundlösungen in Form von Ost-West-Allianzen verwirklicht worden, um beiderseitige Stärken zum gemeinsamen Vorteil nutzbar zu machen. Auch den westlichen Partnern eröffnen sich mit der Erweiterung ihrer Erzeugnispalette um komplementäre Erzeugnislinien interessante Möglichkeiten einer strategischen Neuorientierung. Die gepriesene mittelständische Struktur des westdeutschen Werkzeugmaschinenbaus erweist sich heute nicht immer nur als Stärke, denn in zahlreichen Erzeugnissegmenten wird man zum
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Beispiel gegen die japanische und amerikanische Konkurrenz künftig nur in größeren unternehmerischen Einheiten mithalten können. Die ostdeutschen Werkzeugmaschinenbauer bringen in die jeweilige Verbundlösung Wichtiges ein: Qualifizierte Arbeitskräfte mit hoher fachlicher Motivation und über Jahrzehnte gewachsene technische Kompetenz, denn immer wieder kamen bedeutende Innovationen des deutschen Maschinenbaus z. B. auch aus Sachsen. Und zumindest perspektivisch könnten auch die langjährigen Kontakte nach Osteuropa von Bedeutung sein, denn dort steht schließlich ein riesiger Maschinenpark ostdeutscher Herkunft, der tagtäglich an ostdeutsche Qualität und Zuverlässigkeit erinnert. Außerdem haben ostdeutsche Werkzeugmaschinenbauer während ihrer Treuhandzeit wichtige Fortschritte in ihrer Sanierung erreicht: Die Erzeugnisse wurden technisch vielfach auf Weststandard gebracht. Und durch Abtrennung der kostentreibenden Rand- und Nebenaktivitäten sowie Redimensionierung auf das betriebsnotwendige Anlagevermögen wurde der lebensfähige Unternehmenskern herauskristallisiert. So wurde die zu DDR-Zeiten aufgrund der Selbstversorgungsideologie verordnete unwirtschaftliche Fertigungstiefe spürbar verringert. Liegt im internationalen Werkzeugmaschinenbau der Anteil der Zulieferungen bei über 60 Prozent, war im DDR-Werkzeugmaschinenbau das Verhältnis umgekehrt; rd. 70 Prozent der Teile wurden selbst gefertigt. Die wichtigste Sanierungsaufgabe war auch schwierigste: Verankerung der konkurrenzfähigen Ost-Produkte in einem funktionierenden Vertriebssystem. Dieses Erfordernis wurde vielfach durch die Privatisierung an einen West-Partner mit entsprechenden Voraussetzungen angegangen. Im Verbund auf die Weltmärkte: Einer der bekanntesten Privatisierungsfälle dieser Art dürfte die Übernahme des „Schleifring-Verbunds“ durch die weltweit tätige Körber-Gruppe sein. Der Schleifring-Verbund wurde im Rahmen der aktiven Sanierung von der Treuhandanstalt in die Wege geleitet. Ihm gehörten die Berliner Werkzeugmaschinenfabrik Marzahn (BMF), die Mikrosa Werkzeugmaschinen GmbH Leipzig, das Chemnitzer Schleifmaschinenwerk und ursprünglich auch die Werkzeugmaschinenfabrik Glauchau an, deren Produktpalette später von der BMF fortgeführt wurde. Mit dem neu- und weiterentwickelten Programm an Innen- und Außenrundschleifmaschinen traten sie als Systemanbieter von Schleiftechnik auf. Die Unternehmen wurden in eine Holding, die Schleifring-Maschinenbau GmbH eingebracht, deren Anteile von der westdeutschen Körber AG Ende 1993 übernommen wurden, die der weltweit führende Ausrüster der Tabakindustrie ist. Durch die Einbindung in den Körber-Konzern entsteht eine Produktpalette, die zusammen mit dem Programm der entsprechenden Körber-Unternehmen die wesentlichen Schleiftechniken sowohl im Universalmaschinen- als auch im Sondermaschinenbereich umfaßt. Zur neuformierten Schleifring-Gruppe gehören neben den drei Schleifmaschinenbauern aus den neuen Bundesländern zwei aus den alten Bundesländern, zwei aus der Schweiz und ein Hersteller aus Großbritannien. Die Gruppe dieser acht produzierenden Gesellschaften will weltweit zum „komplettesten“ Anbieter in der Schleiftechnik werden. Die Vorteile der Gruppe liegen
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in ihrer erhöhten Kompetenz durch die erweiterte Leistungsbreite und in der Lieferung von Komplettlösungen für komplexe Bearbeitungsaufgaben. Zugleich führen Synergien in Entwicklung, Fertigung, Materialwirtschaft und Einkauf zu einem besseren Preis-Leistungs-Verhältnis. Einerseits wurde durch die Einbindung die internationale Präsenz der ostdeutschen Unternehmen erhöht, sie wurden in einen weltweit funktionierenden Schleifmaschinenvertrieb einbezogen. Andererseits behalten die ostdeutschen Betriebe ihre operative Selbständigkeit und ihr spezielles, einander ergänzendes Produktionsprogramm. Die Körber AG hat sich verpflichtet, in die drei ostdeutschen Schleifmaschinenbetriebe 70 Mill. DM zu investieren, und sie hat 85 Prozent der übernommenen Arbeitsplätze vertraglich garantiert. Zwar wurde bereits unter Treuhandträgerschaft eine deutliche Personalanpassung vorgenommen, doch erst durch die Einbindung in die Körber-Gruppe werden die 85 Prozent sicher; dafür stehen Image und Erfolg der Körber-AG. Neuer Partner – die Identität bleibt: Für Aufsehen hatte bereits zuvor die Übernahme der Heckert-Chemnitzer Werkzeugmaschinenbau GmbH durch die Traub AG aus Reichenbach bei Stuttgart im Herbst 1993 gesorgt: Einmal, weil der westdeutsche Drehmaschinenhersteller wegen der schwierigen branchenkonjunkturellen Situation in den alten Bundesländern selbst in Turbulenzen geraten war, zum anderen weil Heckert bereits in DDR-Vorzeiten einen Namen hatte – Ende des vorigen Jahrhunderts wurde hier die erste deutsche Fräsmaschine industriell gefertigt, und zu DDR-Zeiten gehörte der Heckert-Werkzeugmaschinenbau zu den Vorzeigebetrieben. Doch Heckert exportierte über 80 Prozent seiner Erzeugnisse in die früheren RGW-Länder und geriet mit den wegbrechenden Ostmarkten in riesengroße Schwierigkeiten. Im Frühjahr 1992 hatte die Treuhandanstalt dem von der Heckert-Geschäftsführung vorgelegten Unternehmenskonzept zugestimmt. Die Sanierung des Traditionsunternehmens wurde mit 140 Mill. DM für Investitionen aktiv unterstützt. So wurde z. B. die neue Technologie des Hochgeschwindigkeitsfräsens von einer baden-württembergischen Firma gekauft, um das Leistungspotential von Heckert zu stärken. Trotzdem blieb eine längere Phase der Unsicherheit, in der es zwar nach Aussagen der Heckert-Geschäftsführung kaum Vorbehalte gegen die Produkte gab, aber bei potentiellen Kunden bestand eine psychologische KaufSchwelle, weil Heckert bereits (zu) lange Treuhand-Unternehmen war. Doch das Warten und die zähen Verhandlungen haben sich letztlich gelohnt. Die HeckertChemnitzer Werkzeugmaschinen GmbH wurde von einem kompetenten Interessenten übernommen. Das Unternehmenskonzept sieht für Heckert vor, in den nächsten Jahren etwa 60 Mill. DM zu investieren und mit den erwarteten Umsatzsteigerungen auch die Zahl der Beschäftigten wieder zu erhöhen. Die Treuhandanstalt wird bei Heckert anfallende Verluste zwei Jahre lang mittragen und sich zusammen mit dem Freistaat Sachsen an Investitionen beteiligen. Damit soll Heckerts eigenständige Produktverantwortung für den Bereich Fräsen langfristig gesichert werden.
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Die Schwäbische Traub AG schafft sich ein zweites Standbein und die Heckert-Produkte, deren Identität auch künftig gewahrt bleibt, werden in ihre weltweite Vertriebsorganisation aufgenommen. Damit erhält der sächsische Hersteller von Bearbeitungszentren die Chance, als gleichwertiger Partner zu bestehen. Wie schon bei der SchleifringGruppe, kommen Produktprogramme zusammen, die sich systematisch ergänzen und Synergieeffekte entstehen lassen. Schleifring und Heckert sind sicherlich zwei außergewöhnliche Fälle, wo interessante Perspektiven gefunden wurden. Aber es sind keine Einzelfälle. Im Werkzeugmaschinenbau, der nach wie vor eine Schlüsselbranche ist, keimt auch anderenorts wieder Zuversicht, denn auch dort beginnen unternehmerische Kerne wieder zu wachsen. So zählte bei Mikromat Dresden, bekannt durch seine Hochpräzisionswerkzeugmaschinen, die Belegschaft Ende 1993 100 Mitarbeiter mehr, als ein Jahr zuvor bei seiner Privatisierung vereinbart worden war. Euphorie ist zwar nach wie vor fehl am Platz. Denn die Schar der ostdeutschen Werkzeugmaschinenhersteller, die sich unter ihren neuen Eigentümern „zurückmelden“, ist leicht überschaubar, und Neuanfänge werden irgendwann einmal immer schwierig. Doch der feste Wille, die lange Tradition des Werkzeugmaschinenbaus in den neuen Ländern neu zu beleben, sollte letztlich dazu führen, die Perspektive der ostdeutschen Werkzeugmaschinenbauer positiv zu gestalten. Frühe Kooperation mit Perspektive: Die Anfangszeit der Privatisierung war eine Zeit, in der vor allem westdeutsche Kaufinteressenten eine ganze Reihe von ehemaligen volkseigenen Betrieben entweder aufgrund langjähriger Lieferbeziehungen oder als Mitwettbewerber viel besser kannten als die Treuhandanstalt. Zu diesen Interessenten zählten damals nicht zuletzt mittelständische Firmen(gruppen) aus den alten Bundesländern. Sie sahen in der Übernahme eines ostdeutschen Betriebes die Chance, ihr eigenes Sortiments- und Leistungsangebot zu erweitern und zu verbessern. Dies war auch der Hauptgrund, warum es für einen sächsischen Druckmaschinenhersteller im Frühjahr 1991 zu einer deutsch-deutschen Verbindung kam. Das ostdeutsche Unternehmen verfügte bei der Entwicklung und Fertigung großformatiger Druckmaschinen über umfangreiches Know-how. Dagegen hatte sich der westdeutsche Übernahmeinteressent mehr auf kleinformatige Maschinen spezialisiert. Der Erwerb des ostdeutschen Unternehmens erfolgte maßgeblich unter dem Aspekt der Erweiterung der Produktpalette. Eine Stärkung der internationalen Wettbewerbsposition schien sicher zu sein. Zwar brach für Druckmaschinen von Planeta Radebeul der osteuropäische Hauptexportmarkt weg, da aber diese Erzeugnisse auch auf westlichen Märkten nicht unbekannt waren, konnte an diese Kenntnis angeknüpft werden. 1993 kamen die Hauptkunden zu 25 Prozent aus der Bundesrepublik sowie zu je 30 Prozent aus Westeuropa und Amerika. Außerdem vertritt die Planeta AG auf Ostmarkten, z. B. in China, auch andere Unternehmen der Koenig & Bauer AG, die der Mehrheitsgesellschafter des Radebeuler Betriebes ist. Mit Eigenentwicklungen und der Möglichkeit, das komplette Angebotsprogramm an Druckmaschinen der Koenig & Bauer-Unternehmensgruppe anbieten zu können, ist die Planeta AG trotz der schwierigen Lage im internationalen
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Druckmaschinenbau im Aufwind; zumal sich zwischenzeitliche Turbulenzen nicht zuletzt mit Unterstützung der Treuhand wieder beruhigten. Insgesamt gesehen, erweist sich diese frühe Privatisierung der Planeta durch die Vernunftehe mit dem drittgrößten deutschen Druckmaschinenhersteller als günstiger Umstand mit Perspektive. Chancen für den Mittelstand. In der Vielzahl der Privatisierungsfälle durfte es nicht darum gehen, die früheren Kombinatsmonopole durch neue Konzernstrukturen zu ersetzen: Denn bei der Umstrukturierung der ostdeutschen Wirtschaft auf eine effiziente Leistungsbasis kommt der Herausbildung eines wettbewerbsfähigen gewerblichen Mittelstandes entscheidende Bedeutung zu. Mittelständische Betriebe sind Unternehmen mit weniger als 500 Beschäftigten. Sie sind ein unverzichtbares Element im Gefüge moderner Volkswirtschaften. Ihre Stärke liegt darin, sich schnell und flexibel veränderten Marktbedingungen anzupassen. Ein erheblicher Teil der Innovationen und technologischen Neuerungen in den alten Bundesländern und in anderen westlichen Industrienationen geht auf das Konto kleiner und mittlerer Unternehmen. Sie beleben den Wettbewerb und steigern die Leistungsfähigkeit der gesamten Wirtschaft. Und in mittelständischen Unternehmen arbeiten viele Erwerbstätige; der Mittelstand ist in Westdeutschland der größte Arbeitgeber. Im Gegensatz dazu waren die monopolartigen Kombinate Leitbild der Planwirtschaften. Noch Mitte der 50er Jahre wurden in der DDR zwar über 40 Prozent der Wirtschaftsleistung in mittelständischen Betrieben erzeugt. Doch eine rigorose Verstaatlichungspolitik beseitigte den gewerblich-industriellen Mittelstand fast vollständig. Dies geschah insbesondere durch die Enteignung im Jahre 1972 der rd. 11.000 bis dahin noch privat geführten Unternehmen und ihre Eingliederung in Großbetriebsstrukturen. So war die DDR-Wirtschaft zuletzt in 420 sogenannten zentral- und bezirksgeleiteten Kombinaten konzentriert, darunter rd. 270 im produzierenden Gewerbe. Damit der Mittelstand seine Rolle als Motor der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern erfüllen kann, hat die Treuhandanstalt die Schaffung mittelständischer Strukturen durch Entflechtung, Reprivatisierung und durch eine Privatisierung auch zugunsten vieler kleiner und mittlerer Unternehmen zu einem wichtigen Bestandteil ihres Konzepts gemacht. Bereits im Oktober 1990 hat sich die Treuhand in ihren Leitlinien zur Geschäftspolitik dazu bekannt, daß eine Privatisierung an das ostdeutsche Management und die Belegschaft nicht nur eine mögliche, sondern eine gleichwertige Privatisierungsvariante ist, nicht zuletzt um ostdeutschen Bürgern den Weg in die unternehmerische Selbständigkeit zu ermöglichen. Privatisierung durch Management-Buy-Out: Privatisierung durch Management-Buy-Out (MBO), also der Kauf des Unternehmens oder eines Unternehmensteiles durch die eigenen Führungskräfte, wurde zu einem festen Begriff. Teilweise entstanden MBO-Privatisierungen auch in Kombination mit Mitarbeiterbeteiligungen oder durch Kapitalbeteiligung von Seiten der Banken oder entsprechender Beteiligungsgesellschaften. In rd. 10 Prozent der Fälle war der Kauf
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durch firmeneigene Führungskräfte mit einem Management-Buy-In (MBI), mit einer Beteiligung von externen Führungskräften kombiniert. Insgesamt erfolgten bis Ende April 1994 nahezu 2.700 Privatisierungen von Unternehmen und Unternehmensteilen im Rahmen von MBO/MBI-Aktivitäten. Das sind von der Anzahl her ein Fünftel aller Unternehmensprivatisierungen. Und von den MBO-Erwerbern wurden 4,5 Mrd. DM an Investitionen und die Beschäftigung von 125.000 Mitarbeitern zugesagt, ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur wirtschaftlichen Erneuerung in der ostdeutschen Wirtschaft. Bei MBO-Privatisierungen wurden Sonderkonditionen, wie Kaufpreisstundung, Ratenzahlung oder Pacht der Immobilien eingeräumt, um den ostdeutschen Interessenten den Kauf zu erleichtern. Dazu gehört z. B. auch die Ausgliederung nicht betriebsnotwendiger Grundstücke; denn verständlicherweise sind MBO/ MBI-Erwerber von sich aus daran interessiert, die Kosten für die Übernahme des Betriebes auf das unumgängliche Maß zu beschränken. Ohne diese Herauslösung nicht betriebsnotwendiger Grundstücke hätte sich der Verkaufspreis um den Verkehrswert dieser Grundstücke erhöht, für die MBO-Erwerbsinteressenten hätte ein solches Vorgehen vielfach zu unüberbrückbaren Hürden bei der Kaufpreisfinanzierung geführt. (Die Banken haben sich bei der Beleihung von Grundstücken an Ostdeutsche in der Regel restriktiv verhalten.) Auch hinsichtlich der Altschulden – also der Verbindlichkeiten der Unternehmen, die noch aus DDR-Zeit stammen – wurden die MBO-Erwerber eher günstiger gestellt, als bei anderen Privatisierungsformen. Denn in fast 90 Prozent der MBO-Fälle hat die Treuhand die Altkredite übernommen. Das ist gegenüber der Gesamtheit der Privatisierungen ein überproportionaler Anteil. Soweit bei MBO-Privatisierungen Altschulden auf den Erwerber übergegangen sind, ist dies mit dem Ziel erfolgt, den Kaufpreis zu senken und auf die begrenzten Finanzierungsmöglichkeiten des Erwerbers einzugehen. Die wiederholt in der Öffentlichkeit geäußerte Sorge, MBO-Unternehmen seien in ihrem Fortbestand besonders gefährdet, wird durch die bisherigen Erfahrungen nicht bestätigt. Bis Ende April 1994 hat es in rd. 600 Fällen nachträgliche Gespräche mit MBO-Erwerbern gegeben. Davon sind über die Hälfte bereits einvernehmlich abgeschlossen. Ein Schwerpunkt, der angesprochen wird, sind Finanzierungsprobleme. Die Treuhand ist u. U. bereit, Zahlungsaufschub auszuhandeln, soweit Kaufpreisstundung und Ratenzahlung nicht schon vereinbart wurden. Sie ist bereit, auch über andere Anpassungsmöglichkeiten zu verhandeln, wenn z. B. die eingegangene Verpflichtung zu Arbeitsplatzerhalt nicht eingehalten werden kann und verlängerte Zeitvorgaben erwogen werden. Aber auch für MBOUnternehmen muß gelten, daß geschlossene Verträge einzuhalten sind. Nach erfolgter MBO-Privatisierung sind in diesen Betrieben engagierte Maßnahmen zur Marktanpassung durchgeführt worden. So wurden z. B. die Betriebsabläufe vielfach neu organisiert, die Qualität der Produkte verbessert und große Anstrengungen unternommen, den Absatz auszuweiten. Nach Umfrageergebnissen des Instituts für Mittelstandsforschung Bonn vom März 1994 haben sich bei 80 Prozent der MBO-Unternehmen die dem Geschäftsplan zugrunde liegenden Umsatzerwartungen zumindest erfüllt. Allerdings gab es deutliche Unterschiede
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nach Wirtschaftsbereichen. Bei MBO-Industriebetrieben trafen zwar nur bei 62 Prozent der Firmen die Umsatzerwartungen ein oder wurden übertroffen, aber fast alle Betriebe konnten 1993 zumindest Umsatzsteigerungen realisieren. Eines der bekanntesten MBO-Unternehmen ist die Florena Cosmetic GmbH in Waldheim. Die drei Geschäftsführer, die von der Pike auf im Betrieb gearbeitet haben, übernahmen Anfang 1992 Verantwortung und Risiko, um das einst größte DDRKosmetikunternehmen auf Erfolgskurs zu bringen. Mit der Verbesserung der Rezepturen und der Produktqualität, einer neuen Verpackungslinie und der Konzentration der Produktion auf den Standort Waldheim, wo ein neuer Werksteil noch zu DDR-Zeiten 1989 fertiggestellt worden war, begann der Weg zurück auf den Markt. Bis zum Frühsommer 1994 ist viel an Sympathie bei den Kunden zurückgewonnen worden. So hat Florena in Ostdeutschland bei Hautpflegemitteln wieder einen beachtlichen Marktanteil erreicht. Zudem soll durch einen neu organisierten Vertrieb auch der Absatz in den alten Bundesländern ausgeweitet werden. Inzwischen beschäftigt Florena Cosmetic wieder mehr als 200 Mitarbeiter. Damit übertrifft das MBO-Unternehmen seine gegebenen Zusagen für 170 Arbeitsplätze. Bei den Investitionen ist die „Übererfüllung“ noch höher. Florena Cosmetic ist kein Einzelfall, denn viele MBOUnternehmen investieren so zügig wie nur möglich, um rasch wettbewerbsfähig zu werden, auch wenn die Kapitalbeschaffung oft äußerst schwierig ist und um die ausreichende Liquidität gekämpft werden muß. Mit rd. 50 Prozent ist der Industrieanteil bei MBO-Unternehmen bedeutend höher als im Neugründungsgeschehen insgesamt. Auch unter diesem Gesichtspunkt wird der nicht zu unterschätzende Beitrag der MBO-Betriebe zur wirtschaftlichen Konsolidierung und ihr nicht mehr wegzudenkender Platz in der Unternehmenslandschaft der neuen Bundesländer deutlich. Rückgabe von enteigneten Betrieben: Zur wichtigen Säule des einheimischen unternehmerischen Mittelstandes wurde auch die Reprivatisierung, insbesondere durch die Rückgabe der 1972 enteigneten Betriebe an ihre früheren Eigentümer oder deren Anspruchsberechtigte. Mit dem im März 1990 verabschiedeten Unternehmensgesetz wurde die Reprivatisierung eingeleitet. Das Gesetz sah vor, daß die Berechtigten den enteigneten Betrieb vollständig oder Vermögensgegenstände aus dem enteigneten Betrieb zurückverlangen konnten. Allerdings hatten sie entsprechende Verbindlichkeiten des volkseigenen Betriebes zu übernehmen. Trotz dieses Risikos erfolgten bereits bis Ende September 1990 rd. 3.000 Unternehmensreprivatisierungen. Am 3. Oktober 1990 trat mit dem Einigungsvertrag auch das neue Vermögensgesetz in Kraft. Damit wurde die Unternehmensrückgabe auf eine neue rechtliche Basis gestellt. So waren neben der Rückgabe des Unternehmens Ausgleichsleistungen für wesentliche Verschlechterungen der Vermögens- und Ertragslage vorgesehen. Für die Rückgabe von Unternehmen galt, daß das Unternehmen – sofern es als sanierungsfähig anzusehen war – im Zuge der Rückübertragung mit einer gewissen Mindestausstattung versehen werden mußte, die eine Rückgabe als überlebensfähiges Unternehmen ermöglichen sollte. So wurden im Rahmen der
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Unternehmensrückgabe die meisten Altschulden durch Verrechnung mit Ausgleichsleistungen vollständig oder teilweise entschuldet, hierdurch verbesserte sich die Investitionskraft und Liquidität der Unternehmen. Die Verrechnung der Ausgleichsansprüche mit den Altkrediten und den bis zur Rückgabe aufgenommenen Liquiditätsdarlehen durch die Treuhandanstalt führte in vielen Fällen dazu, daß reprivatisierte Unternehmen sehr viel stärker von Altschulden entlastet wurden als die anderen Treuhand-Unternehmen, wenn diese von Privaten übernommen wurden. Von den rd. 16.200 unternehmensbezogenen Rückgabeanträgen ist bis Ende April 1994 in ca. 10.000 Fällen über die Eigentumsrückgabe entschieden worden. Dabei wurden über 4.300 Treuhand-Unternehmen oder Betriebsteile von Treuhand-Unternehmen an die früheren Eigentümer zurückgegeben. Innerhalb kürzester Zeit entwickelten sich reprivatisierte Firmen zu Trägern jener mittelständischen Innovationskraft, wie sie für die wirtschaftliche Eigendynamik der neuen Bundesländer unerläßlich ist. Der sächsische Innovationspreis beispielsweise ging 1993 an ein reprivatisiertes Unternehmen, die Leipziger Sika Werke. In diesem traditionellen Familienunternehmen wurde eine Heißschmelzfolie zur Verbindung von Werkstoffen (z. B. zur Verbindung von Holz mit Edelstahl) entwickelt, für die es bislang weltweit keinen geeigneten Klebstoff gab. Von den reprivatisierten Unternehmen zählen etwa 3.000 zum gewerblichindustriellen Mittelstand, hierbei handelt es sich keineswegs nur um Klein- oder Kleinstunternehmen. Über ein Drittel der am Markt aktiven reprivatisierten Unternehmen hat mehr als 50 Beschäftigte. Sie gehören nach den Erfahrungen der alten Bundesländer zu einer Betriebskategorie, die mittelfristig besonders kräftig expandiert. Neue Vielfalt im Verkehrsbereich: Einige Wirtschaftszweige, z. B. der Verkehrsbereich werden ausgesprochen mittelständisch geprägt sein. So haben drei Viertel aller privatisierten Verkehrsbetriebe unter 50 Mitarbeiter, und in weiteren 12 Prozent der Firmen beträgt die Zahl der Beschäftigten 50 bis 99. Mittelständische Vielzahl und Vielfalt entstand nicht zuletzt aus den 142 Kraftverkehrsgesellschaften. Diese Gesellschaften wurden Mitte 1990 durch Umwandlung der 15 Kraftverkehrskombinate mit jeweils mehreren tausend Mitarbeitern und der Spedition Deutrans geschaffen. Charakteristisch für diese Gesellschaften waren „verflochtene“ Unternehmen, in denen die unterschiedlichsten Bereiche wie Öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV), Straßengüternah- und Fernverkehr, Taxibetriebe, Reisebüros und Touristikunternehmen unter einem Dach zusammengefaßt waren. Bevor die Kraftverkehrsgesellschaften privatisiert werden konnten, mußte insbesondere der ÖPNV ausgegliedert und auf die Kommunen übertragen werden, da diese im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltungsaufgaben einen gesetzlichen Anspruch darauf hatten. Dabei war in jedem einzelnen Fall Einigung darüber zu erzielen, welche Betriebsmittel und Grundstücke entflochten und zur Fortführung als Eigenbetrieb notwendig waren und unentgeltlich an die Kommunen übertragen wurden. Einvernehmliche Regelungen mußten auch in bezug auf ökologische Alt-
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lasten und Altschulden geschaffen werden. So übernahm die Treuhandanstalt z. B. über 200 Mill. DM Altschulden. Viele Kommunen hatten es nicht eilig, denn solange diese Betriebe bei der Treuhand waren, belasteten die Defizite z. B. aus dem Schüler- und Berufsverkehr nicht die Kassen der Länder oder Gemeinden. Und mit der Übertragung der über 200 Gesellschaften des Öffentlichen Personennahverkehrs wurden die kommunalen Gebietskörperschaften auch für rd. 25.000 Arbeitsplätze voll verantwortlich. Durch die eigentliche Privatisierung der Kraftverkehrsgesellschaften entstanden etwa 250 Betriebe und Betriebsteile des Güterkraftverkehrs im engeren Sinne sowie Taxibetriebe und Werkstätten. Hierdurch wurden nochmals 15.200 Arbeitsplätze vertraglich gesichert, und die Käufer erklärten sich bereit, 1,3 Mrd. DM in ihre neuen Unternehmen zu investieren. Viele der ostdeutschen Unternehmen des Straßengüterverkehrs haben inzwischen ihren Fahrzeugpark grundlegend modernisiert. Das Durchschnittsalter der Fahrzeuge ist bei den ostdeutschen Betrieben inzwischen geringer als bei den westdeutschen. Auch wenn es den ostdeutschen Betrieben – insgesamt gesehen – in relativ kurzer Zeit gelungen ist, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, das Geld für die Rückzahlung der Kredite muß erst einmal verdient werden. Die Saat geht auf. Ob ausländische Konzerne, westdeutsche Großunternehmen, mittelständische Firmen, ostdeutsche MBO-Erwerber oder unternehmerisch aktive Alteigentümer, engagiertes Unternehmertum ist tausendfach zum Hoffnungsträger des wirtschaftlichen Neuaufbaus geworden. Es liegt im wohlverstandenen Eigeninteresse der neuen Eigentümer, sich im Markt zu positionieren und möglichst bald zu expandieren. Aber Realismus gebietet, nicht außer Acht zu lassen, daß die Aufwärtsentwicklung von einem sehr niedrigen Niveau ausgeht und die Arbeitslosigkeit vielen Menschen in Ostdeutschland sehr große Sorgen bereitet. Nach dem scharfen Strukturwandel der letzten Jahre besteht nunmehr jedoch die realistische Chance, daß sich die ostdeutsche Wirtschaft nachhaltig von der Talsohle löst. Seit dem vergangenen Jahr beginnt die Inbetriebnahme rasch modernisierter oder neuer Werke deutlich zu Buche zu schlagen. Die Industrieproduktion steigt; und auch in den Problembranchen zeichnet sich eine Stabilisierung der Umsätze ab. Es ist unverkennbar, daß sich die positiven Zeichen mehren und sich die Anstrengungen auszuzahlen beginnen. Umstrukturierung und Privatisierung sowie die anschließende Sanierung und Modernisierung führen dazu, daß Unternehmen und Belegschaften den Blick nach vorn richten, vorankommen und Zukunftsfähigkeit gewinnen.
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5.5. Treuhandanstalt und der Zusammenbruch des RGW63 Von Hermann Clement 5.5.1. Aufgaben und Ausgangslage für die Treuhandanstalt (THA) Der Treuhandanstalt (THA) war die Aufgabe übertragen, die Betriebe der ehemaligen DDR auf die Privatisierung vorzubereiten, zu sanieren und zu privatisieren. Eingriffe in das operative Geschäft der Betriebe zählten nicht zu ihren Aufgaben. Dies galt auch für deren Außenhandelstätigkeit. Die Osthandelsintegration konnte für die THA daher zunächst nur ein positiver oder negativer Faktor bei der Bewertung der Betriebe im Privatisierungsprozess bzw. bei der Sanierung sein. Zumindest bis ins späte Frühjahr 1992 hat die THA ihre Aufgabe auch so verstanden.64 Daher hatte die THA auch keine Strategie zur Förderung, Erhaltung oder zum Abbau der Abhängigkeit der Betreibe von den Ostmärkten bzw. eine Alternative für den Wegfall der Ostmärkte entwickelt. Auch bei den Verhandlungen zwischen der Führung der DDR und der Bundesrepublik hoben vor allem die Vertreter der DDR den Zugang zu den Ostmärkten als wesentlichen Aktivposten der DDR-Wirtschaft hervor. Viele Akteure im Vereinigungsprozess konnten sich 1990 nicht vorstellen, dass die Sowjetunion ihr Imperium aufgibt oder dass sich Wesentliches an den Parametern des RGWHandels ändern würde. Den meisten Akteuren war auch nicht klar, wie marode die Volkswirtschaften des RGW waren. Sie gingen davon aus, dass der Handel mit den RGW-Staaten in großem Umfang fortgesetzt, ja sogar ausgebaut werden könnte. Nur wenige Beteiligten sahen, dass unter Weltmarktbedingungen und dem Wegfall der politischen Präferenzen DDR-Produkte von einem großen Teil der östlichen Märkte verdrängt und auch das Interesse der DDR Betriebe an Produkten aus den RGW-Staaten massiv schwinden würde. Wirtschaftsminister Pohl erkläre daher noch am 22. Juni 1990, „die außenwirtschaftlichen Beziehungen mit den Ländern des RGW unter Beachtung marktwirtschaftlicher Grundsätze ausbauen zu wollen“.65 5.5.2. Abhängigkeit der DDR-Betriebe vom RGW-Markt Die Bedeutung des RGW als Exportmarkt war für die Privatisierung der Betriebe der ehemaligen DDR somit ein wichtiger Parameter. Die DDR-Wirtschaft
63 Der Beitrag beruht auf dem Artikel: Hedtkamp, Günter / Clement, Hermann unter Mitwirkung von Koehne, Ludwig: Treuhandanstalt und Osteuropa, in: Treuhandanstalt, Dokumentation 1990-1994, Bd. 14, S. 505 ff. 64 B-Interviews mit Dr. Wolfgang Vehse vom 18.5.1993 / Eberhard Bredenbreuker vom 18.5.1993 und Dr. Volker Charbonnier vom 8.6.1993. 65 MW-Informationen, Die DDR-Industrie auf dem Weg zur sozialen Marktwirtschaft, hrsg. vom Ministerium für Wirtschaft, 22.06.1990, S. 31.
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galt als stark mit dem RGW verflochten. Das Statistische Bundesamt gab den Anteil der europäischen RGW-Staaten am Außenhandel der DDR für 1987 mit über zwei Dritteln an und für 1991 werden immer noch 62 % ausgewiesen.66 Allein auf die Sowjetunion entfielen nach dieser Berechnung etwa 40 %. Allerdings sind diese Zahlen strukturellen verzerrt. Ihnen liegen die administrativ, z. T. von den realen Preisen stark abweichenden Preise und unrealistische Wechselkurse zugrunde. Der Handel mit den sozialistischen Staaten wurde dadurch stark überbewertet. Berechnungen anhand der Betriebspreise in der DDR gehen daher davon aus, dass 1987 nur 53,9 % des Gesamtexports in die Staatshandelsländer ging und dieser Anteil bis 1989 auf 50,6 % sank. Auch Berechnungen anhand einer Neubewertung der Wechselkurse und ihre Vereinheitlichung bestätigen die Überbewertung des RGW-Handels. Unter Zugrundlegung dieser Kurse betrug der RGWAnteil an den Exporten der DDR 1985 40,9 % und stieg bis 1989 auf 43,2 %.67 Große Unterschiede bestanden in dieser Hinsicht aber zwischen den einzelnen Wirtschaftszweigen und Industriebranchen. In einigen Branchen, wie der Bauindustrie, dem Fahrzeugbau, dem Spezialmaschinenbau und dem Schwermaschinenbau wurden Werte vorn über 80 % am Gesamtexport erreicht, während in anderen Branchen der Anteil relativ gering war. Zudem ist festzustellen, dass die DDR vergleichsweise gering in die internationale Arbeitsteilung eingebunden war. Nur 20% der gesamten Warenproduktion gingen in den Export und diese Quote ist von 1985 bis 1990 sogar noch um 2,2 % Punkte gesunken.68 Der Export in die Staatshandelsländer, berechnet in Betriebspreisen, am Umsatz lag demnach bei knapp 11 %.69 Eine Umfrage bei Treuhandbetrieben bestätigt aber die bereits erwähnte starke Abhängigkeit einiger Branchen vom RGW-Markt. So entfielen im Schwermaschinenbau 40 %, in der Rüstungsindustrie 29,5 %, im Werkzeugmaschinenbau 28,1 % und im Fahrzeugbau 24,4 % des Umsatzes auf die Exporte in den RGW. Die DDR-Betriebe waren gleichzeitig für ihre östlichen Partner z. T. bedeutende Lieferanten; für die Sowjetunion waren einigen Branchen geradezu Hoflieferanten. 50-90 % der Gesamtimporte der Sowjetunion bei Reise- und Kühlwagen, Spezialausrüstungen für die Mikroelektronik, Fischereifahrzeuge, Ausrüstungen für die erdölverarbeitende Industrie, polygraphische Ausrüstungen und Landmaschinen entfielen auf Lieferungen aus der DDR.70
66 Dies bezieht sich auf Zahlen, die durch das BMWI, AB, bereitgestellt wurden. 67 Wetzker, K.: Daten und Fakten zur wirtschaftlichen Lage in Ostdeutschland, Institut für angewandte Wirtschaftsforschung, Berlin 1990, S. 265 ff. 68 Wetzker, K.: Daten und Fakten zur wirtschaftlichen Lage in Ostdeutschland, a. a. O., S. 265. 69 Ebenda. 70 Gusinski, Gerd von: Chancen für strategische Unternehmenskooperationen, in: Fischer, J. / Messner, F. / Wohlmuth, K. (Hrsg.): Osteuropa, Geschichte, Wirtschaft, Politik. Bd. 3, November 1991, S. 462 f.
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Die erst in den Anfängen steckende Kapitalverflechtung der Volkswirtschaften des RGW konnte bis auf sehr wenige Großprojekte (z. B. Erdöl- und Erdgasleitungen, Uranerzabbau, Asbestgewinnung) vernachlässigt werden. Dass 1990 die Ostverbindungen der DDR-Betriebe noch als wichtige Stütze angesehen wurde, kommt allein schon darin zum Ausdruck, dass im Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion den Betrieben ausdrücklich das Recht eingeräumt wurde, bis Ende 1990 noch Verträge in Transferablen Rubeln abzuschließen. Dabei wurde wohl übersehen, dass viele der Partner im RGW bereits zur Verrechnung in konvertibler Währung übergingen. 5.5.3. Wegfall der Geschäftsgrundlage Bereits seit Mitte der 80er Jahre zeigte sich, dass der Handel im RGW auf der bis dahin gelten Basis mit bilateralen Handelsverträgen, unrealistischen Verrechnungspreisen und Abrechnung in dem nicht konvertierbaren Transferablen Rubel kaum noch akzeptiert wurde. Das System zeigte Auflösungserscheinungen. Gleichzeitig haben sich auch die politischen Bedingungen gewandelt. Politische und wirtschaftliche Neubewertung der Handelsbeziehungen im RGW: Die neue wirtschaftliche und außenpolitische Ausrichtung der Sowjetunion unter Gorbatschow führte Ende der 80er Anfang der 90er Jahre zu einer Neubewertung der Beziehungen im RGW. Die angestrebte konstruktive Zusammenarbeit mit dem Westen und die partielle Aufgabe des Hegemonieanspruchs über Osteuropa (Breschnew-Theorie) sowie die sich abzeichnende Auflösung des Warschauer Paktes führten zu einer Neubewertung der RGW-Beziehungen. Die politische Privilegierung war nicht mehr notwendig. Die wirtschaftlichen Kriterien traten in den Vordergrund. In der Sowjetunion setzte sich, wie bereits zuvor bei westlichen Beobachtern, die Ansicht durch, dass der RGW-Handel für die Sowjetunion eine enorme Belastung darstelle. Die Sowjetunion lieferte vor allem Rohstoffe und Energie für die strukturell von Schwerindustrie und hohem Materialeinsatz geprägten Volkswirtschaften der Partnerländer zu niedrigen Preisen. Dafür erhielt sie allenfalls partiell weltmarktfähige Industrieprodukte zumeist zu Weltmarktpreisen. Spätestens seit Mitte der 80er Jahre war die Sowjetunion daher immer weniger bereit, noch in der Lage, den steigenden Energie- und Rohstoffbedarf der RGW-Partnerländer zu decken. Dies umso mehr, als die RGW-Länder sich durch den z. T. kaum verarbeiteten Weiterverkauf dieser Rohstoffe ihren Devisenbedarf zu decken versuchten. Es kam daher zu heftigen Auseinandersetzungen über die Äquivalenz der Tauschbeziehungen im RGW. Gleichzeitig gingen die osteuropäischen RGW-Länder (insbesondere Polen und Ungarn) immer stärker dazu über, ihren Intra-RGW-Handel in konvertiblen Währungen abzuwickeln und nicht mehr im Transferablen Rubeln. Dieser Haltung schloss sich dann auch die Sowjetunion auf der 45. Tagung des RGW in Sofia im Januar 1990 an und forderte den Übergang zu aktuellen Weltmarktpreisen und einer Verrechnung in konvertiblen Währungen im RGW-Handel. Damit brach
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aber das gesamte bisherige Handelssystem in sich zusammen. Die DDR-Führung wurde von dieser Entwicklung überrollt. Die Regierung Modrow hatte diesen radikalen Positionswandel der Sowjetunion nicht erwartet.71 Die meisten osteuropäischen Länder stellten ihren Handel mit der Sowjetunion bereit 1990 auf konvertible Währungen um und die Sowjetunion reagierte bei den anderen Ländern mit Einschränkungen der Energielieferungen. Dies war der Todesstoß für den RGW. Eine geplante Nachfolgeorganisation oder eine Zoll- bzw. Zahlungsunion zwischen den ehemaligen RGW-Staaten kam nicht mehr zustande.72 Da zudem die meisten RGW-Staat sich von der sozialistischen Planung abwandten und zu marktwirtschaftlichen Ordnungen übergingen, brach auch die jeweilige binnenwirtschaftliche Komponente für das bisherige RGW-Handelssystem, die verbindliche Planung und die administrativen Lieferbeziehungen, weg. Bereits auf der 44. Ratstagung des RGW in Prag zeigte sich, dass die RGWStaaten deshalb zu keinem gemeinsamen Handeln mehr fähig waren. Der dann noch Ende 1990 folgende Zusammenbruch der Sowjetunion und die Auflösung in 16 eigenständige Staaten machten das gesamte System mit seinen speziellen Mechanismen und privilegierten Strukturen obsolet. Diese Erkenntnis setzte sich in der DDR und auch unmittelbar nach der Wiedervereinigung Deutschlands nur langsam durch. Die wirtschaftlichen Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten mussten völlig neu bewertet werden. Unzureichende Konkurrenzfähigkeit der Produkte: Da die Produktion in den RGW-Ländern in feste, langfristige Vertragsbeziehungen mit politisch fixierten Preisen und Mengen eingebettet war, waren die Betriebe in allen RGW-Ländern in den meisten Bereichen nicht gegenüber westlichen Produkten konkurrenzfähig. Technisch, qualitativ und hinsichtlich des Designs konnten die wenigsten Produkte von Betrieben der RGW-Staaten mit den Produkten westlicher Betriebe mithalten. Am ehesten war dies noch bei einfachen materialintensiven Produkten mit einer geringen Fertigungstiefe der Fall. Der Vorsitzende des polnischen Bankenverbandes erklärte daher im Herbst 1992 offen, dass der Grund für die ausbleibenden Bestellungen Polens bei den DDR Betrieben nicht der Devisenmangel, sondern das schlechte Preis-Leistungsverhältnis der Waren der neuen Bundesländer sei.73 Die lange Zeit nicht erreichbaren „Westprodukte“ übten zudem in weiten Teilen der Bevölkerung eine derartig Umorientierung der Nachfrage aus, dass die in den RGW-Ländern produzierten Produkte keine Chance dagegen hatten. Mit der Öffnung der Märkte, dem Übergang zum Handel in konvertiblen Währungen und zu freien Preisen, sahen sich die RGW-Betriebe plötzliche der Konkurrenz von westlichen Betrieben in ihren angestammten RGW-Märkten aus-
71 B-Interview mit Dr. Wolfgang Lemke vom 3.3.1993. 72 Sobell, Vlad: EAST European Economics at a Turning Point, RFE, Report on Eastern Europe, May 4, 1990, S. 40 ff. 73 Handelsblatt vom 3. 11. 1992.
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gesetzt, die zumeist die nun nachgefragten Produkte bereits im Sortiment hatten, mit besserem Marketing auf den Markt drängten und zudem auch noch die Finanzkräftigeren waren. In vielen Fällen konnten dem die Betriebe der ehemaligen Staaten des RGW und auch die DDR-Betriebe nur wenig entgegensetzen. Sie verloren daher erhebliche Marktanteile auf diesen Märkten. Veränderte Preisverhältnisse: Hinzu kam, dass sich mit der Aufhebung der Preisbindung die Preisrelationen stark verschoben. Die Betriebe waren auf diese Veränderungen nur unzureichend vorbereitet, da das Management bis dato keinerlei Erfahrung hatte, wie auf solche flexiblen Verhältnisse zu reagieren war. Zusammenbruch der Gesamtnachfrage: Zusätzlich brach die Nachfrage in den RGW-Staaten stark ein. Die in den letzten Jahren ihrer Existenz bereits sich abzeichnenden Zahlungsschwierigkeiten traten nur offen zutage. So lagen z. B. in der Sowjetunion die Nettoinvestitionen einschließlich militärischer Hardware 1992 um 63 % unter dem Niveau von 1985.74 Die sinkenden Einkommen führten zu einem starken Rückgang des Konsums. Die Nachfragestruktur veränderte sich dramatisch. Dies wurde in Deutschland auf politischer Ebene nicht so schnell registriert, wie es die ehemaligen DDR-Betriebe zu spüren bekamen. Auch diese hatten bis zuletzt noch ihre große Chance im „riesigen Bedarf“ der Sowjetunion gesehen, was sich als Fata Morgana erwies. Die Aufträge aus dem RGW-Bereich brachen radikal weg. 5.5.4. Wahrnehmung und Reaktion Die aus der Auflösung des RGW, dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den völlig neuen Aktionsparametern im Osthandel sich ergebenden Konsequenzen wurden insbesondere in der DDR bzw. den neuen Bundesländern also nur unzureichend wahrgenommen. Die Absatzprobleme in Osteuropa und vor allem in der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten wurden primär als kurzfristiges politisches oder konjunkturelles Ereignis betrachtet und nicht als der tatsächlich erfolgende tiefgreifende strukturelle Wandel.75 Auch einige westliche Wissenschaftler haben noch 1992 die ehemalige DDR durchaus als Drehscheibe für den Handel mit Osteuropa76 und der ehemaligen Sowjetunion gesehen, was ja mittel- und langfristig nicht falsch war, kurzfristig aber abwegig und die Probleme nicht löste. Der Vertrauensschutz, der den Betrieben noch bis Ende 1990 das Recht einräumte, Verträge in Transferablen Rubeln abschließen, verzögerte die Reaktion der Betriebe zudem erheblich. Den neuen Bundesländern gelang es daher im Ge-
74 PlanEcon Report, Nr. 5-6, 1993, S. 5, 11. 75 Zschiedrich, Harald: RGW: Ende oder Neubeginn? In: Osteuropa-Wirtschaft, Nr. 35 (1990), Heft 4, S. 284. 76 Gross, D. und Steinherr, A.: in Handelsblatt vom 22.2.1992.
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gensatz zu Ungarn, Polen und der CSFR nicht, ihren Westhandelsanteil relativ schnell zu steigern.77 Reaktion der Treuhandanstalt: Aufgrund ihrer oben dargestellten Aufgabenstellung hat die THA für die Betriebe bis Ende 1991 keine eigene Strategie zur Erhaltung der Osthandelsbeziehungen bzw. zur Umorientierung der Exporte auf die Westmärkte entwickelt.78 Mit dem endgültigen Zusammenbruch der Ostmärkte Anfang 1992 sah sich die THA dann doch gezwungen auf die politischen Organe einzuwirken, die Ostmärkte zu fördern. Ansonsten ginge eine wesentliche Komponente für die Privatisierung und damit auch den Erfolg der THA verloren. Der Aufbau spezieller Zuständigkeiten für den Osthandel in der THA kam jedoch nie richtig zustande. Die THA verfolgte eine Doppelstrategie, um ihre Aufgabe, die Privatisierung erfolgreich durchzuführen. Gegenüber der Politik setzte sie sich vor allem für eine finanzielle Förderung der Ostexporte ein. Dies sollte vor allem durch einen intensiven Einsatz des Instruments der Hermesbürgschaften erfolgen.79 Die Betriebe hielt sie aber gleichzeitig an, ihre Ostmarktabhängigkeit zu vermindern. In Ansätzen unterstützte die THA die Betriebe dabei mit Liquiditäts- und Modernisierungskrediten. Die Position eines Sonderbeauftragten Osteuropa, die 1992 geschaffen wurde, sollte die Betriebe im Osthandel unterstützen, war aber angesichts der strukturellen Veränderungen wenig erfolgreich. Trotzdem, oder vielleicht auch deshalb, wurden in den Unternehmenskonzepten die Ostmärkte noch lange zu Unrecht als Positivum gewertet. Auch der Finanzvorstand Kraus, der durchaus kritisch auf die Zahlungsfähigkeit der Osthandelspartner und die Konkurrenzfähigkeit der DDR Betriebe schaute, sah in den Absatzproblemen eher ein finanzielles als ein strukturelles Problem und unterbewertete die völlig veränderte Interessenlage der Sowjetunion. Ähnlich bewertete der Leitungsausschuss die Ostexporte, vor allem nach der Absicherung durch die Bundesregierung. Auch bei ihm standen die Finanzierungsprobleme im Vordergrund. Die strukturellen Veränderungen wurden als nicht so bedeutend empfunden. Zusammenspiel mit der Politik: Es war daher verständlich, dass die THA von der Politik vor allem die finanzielle Absicherung der Ostexporte verlangte. Dies hatte die Bundesregierung auch im Vereinigungsprozess der Sowjetunion zugesagt.80 Unmittelbar nach der Währungsumstellung stand daher der Ausgleich für
77 IW-Trends 20 (1993), Heft 1. 78 B-Interviews mit Rainer Maria Gohlke vom 26.3. 1993 und Dr. Wolfgang Vehse vom 18.5.1993 sowie Dr. Volker Charbonnier vom 8.6.1993. 79 B-Interviews mit Fritz Hohmann vom 30.4. und 2.5.1993 und Dr. Wolfgang Vehse vom 18.5.1993. 80 B-Interview mit Axel Gerlach vom 2.5.1993.
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die durch den neuen Kurs des Transferablen Rubels den Betreiben entstehenden Verluste im Vordergrund.81 Nach mehreren Konzeptvorschlägen wurde dann von der Bundesregierung die Förderung der Ostexporte der ehemaligen DDR-Betriebe über ein erweitertes Instrument der Hermesversicherung mit Sonderkonditionen für die Sowjetunion betrieben. Voraussetzung für die Erlangung der Sonderkonditionen für Lieferungen in die Sowjetunion war die bestätigte Sanierungsfähigkeit der liefernden Betriebe. Es folgte daraufhin ein Antragsboom. Allerdings änderte sich die Situation mit dem Putsch in der Sowjetunion im Sommer 1991 und der rasch sich verschlechternden Zahlungsfähigkeit der Sowjetbetrieb schnell, so dass die Bundesregierung restriktivere Bedingungen für die Indeckungnahme von diesen Exportversicherungen veranlasste. Die THA versuchte noch entgegen zu steuern, jedoch mit geringem Erfolg. Ab 1992 wurde die Hermesdeckung auf 5 Mrd. DM plafoniert. Aufgrund von nicht immer von der Bundesregierung akzeptierten Änderungswünschen der russischen Regierung hinsichtlich der zu liefernden Gütern (Lieferung von Konsumgütern statt Investitionsgütern) flossen die Mittel nur langsam ab. Ende 1992 war der Plafond erst zur Hälfte ausgenutzt.82 Die THA versuchte über ein „Notkonzept für den Russlandexport“ die Lieferungen nach Russland zu stabilisieren und damit ihre Betriebe zu retten. Viele Interessenvertreter folgten dieser Argumentation, dass die Ostexporte gefördert werden sollten und nicht die Arbeitslosigkeit. Die Politik spielte aber nicht mehr mit. Die Regierung sah zu Recht nun verstärkt die strukturellen Probleme des Osthandels, die kurz und mittelfristig nicht zu beheben waren. Sie hatte zu Recht Angst, dass sich die Betriebe bei weiterer Ausrichtung auf die subventionierten Ostmärkte nicht der notwendigen Anpassung unterziehen würden. Die spezielle Ostmarktförderung über Hermes wurde nur noch bis März 1993 verlängert. Gleichzeitig wurde Maßnahmen zur Förderung der Westexporte und der stärkeren Einbindung der ehemaligen Betriebe der DDR in die öffentliche Auftragsvergabe eingeleitet. Die THA, ihre Betriebe und z. T. auch die neuen Eigentümer wollten die rasanten strukturellen und politischen Veränderung lange nicht wahr haben und setzten oft noch auf den Russlandhandel. Aber bereits im Herbst 1992 standen in den neuen Bundesländern für 1,5 bis 2 Mrd. DM Maschinen auf Halde, die für Russland produziert worden waren.83 Der Osthandel musste auf eine ganz neue Basis gestellt werden, was ja nach einiger Zeit auch gelang.
81 Basis dafür war der Artikel 29 des Einigungsvertrags, der den Vertrauensschutz für die gewachsenen außenwirtschaftlichen Beziehungen, insbesondere den RGW-Handel garantierte. 82 Brief von Dr. Charbonniers an Wolfram Krause vom 11.6.1992. 83 Süddeutsche Zeitung vom 16.10.1992.
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5.6. Die Privatisierung des Handels in den neuen Bundesländern. Ein Überblick aus der Arbeit der GPH Gesellschaft zur Privatisierung des Handels mbH84 Von Wolfgang Bernhardt Überblick Der Autor berichtet aus seiner Tätigkeit für die Gesellschaft zur Privatisierung des Handels. Er schildert den Umfang der Aufgabe und stellt die Verfahrensgrundsätze für die Privatisierung des Handels dar. Der Autor zeigt die Schwierigkeiten der Privatisierung auf. Sie liegen einmal in der Tatsache, dass der Handel in der DDR trotz aller organisatorischen Änderungen in seiner Struktur auf dem Stand der 1940er Jahre geblieben war: kleine, ineffiziente Ladenflächen bilden die Mehrheit, und nur wenige große Ladenflächen waren vorhanden. Die kleinen Läden aber haben nur geringe Überlebenschancen. Schwierigkeiten entstanden für die Privatisierung aber auch aus dem Verhalten der Kommunen, die eigene Ladenflächen nur zu exorbitanten Preisen vermieten wollten. Der Beitrag stellt auch anschaulich die Arbeitnehmer-Arbeitgeberbeziehungen dar. Schließlich werden die Ergebnisse der Privatisierung der ehemaligen Handelsorganisation (HO) behandelt. Gründung und Aufgabenstellung der GPH Die GPH Gesellschaft zur Privatisierung des Handels mbH (GPH) wurde am 9. Oktober 1990 als Tochtergesellschaft der Treuhandanstalt (THA) in Berlin gegründet und hat am15. Oktober 1990 ihre Tätigkeit aufgenommen. Die Aufgabenstellung lautete: -
Privatisierung der Ladengeschäfte, Gaststätten und Hotels des ehemaligen volkseigenen Einzelhandels (bekannt unter dem Namen „volkseigene Handelsorganisation“ oder kurz „HO“). Ausgenommen waren (nur) die CentrumWarenhäuser und die Interhotels. - Privatisierung der Unternehmen des ehemals sozialistischen Großhandels und der wissenschaftlich–technischen Einrichtungen, soweit diese in der Zuständigkeit des früheren Ministeriums für Handel und Tourismus lagen. Hinzu kamen die Organisations- und Abrechnungszentren und der sog. Spezialhandel. Unmittelbar mit Tätigkeitsbeginn am 15. Oktober 1990 veranlasste die GPH
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Aus: Zeitschrift für Betriebswirtschaft (ZfB). Unternehmen in den neuen Bundesländern. Erfahrungen mit Transformationsprozessen, Ergänzungsheft 1/93, S. 40 ff. In der Zeit vom Herbst 1990 bis Herbst 1991 war Wolfgang Bernhardt Aufsichtsratsvorsitzender der Treuhand-Tochter GPH Gesellschaft zur Privatisierung des Handels mbH (GPH).
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eine Unterbrechung aller damals laufenden Ausschreibungen, über die es vielfache Beschwerden aus den neuen Bundesländern gab (wegen ungleicher und/oder unbekannter Regeln, wegen verdeckter Vergaben und angeblicher Bevorzugung bestimmter Gruppen oder Unternehmen). Der Wegfall des Entflechtungsgesetzes und der Entflechtung der alten DDR-Regierung mit dem 3. Oktober 1990 machten ohnehin einen Einschnitt notwendig; ein „Verbot“ bestimmter Maßnahmen oder Geschäfte, die künftig nur mit Zustimmung der GPH getroffen werden konnten. Dazu gehörten alle Grundstücksgeschäfte und der Abschluss von Verträgen jeder Art mit einer Laufzeit von mehr als 6 Monaten. eine Bestandsaufnahme der – bis zum 15. Oktober 1990 – bereits erfolgten oder angelaufenen Privatisierungen und eine Erfassung der sog. Joint Venture- oder ähnlichen Verträge mit Unternehmen aus den alten Bundesländern (deren Texte in Berlin nicht vorliegen).
Bestandsaufnahme Einzelhandel / Gaststätten Die Bestandsaufnahme „lief“ in der Zeit von Mitte Oktober bis Mitte November 1990 und brachte folgende Ergebnisse: Es hatte Ende 1988/Anfang 1989 rund 30.000 HO-„Objekte“ (Einzelhandel/ Gaststätten/Hotels)·gegeben (mancher hatte weit höhere Zahlen genannt und dabei offenbar irrtümlicherweise Konsum- oder private Läden mit hinzugerechnet). Davon sollten in der Zwischenzeit, so das Ergebnis unserer Oktober-Befragung, rund 11.300 Läden und Gaststätten privatisiert oder geschlossen worden sein. Angaben, die sich später als lückenhaft und damit als zum Teil fehlerhaft herausstellten, so dass wir im November 1990 einen vermeintlich „sicheren“ Bestand von 18.700 „Objekten“ zugrunde legen konnten, mit dem wir in unsere Ausschreibungen gegangen sind. Alle HO-Einheiten waren auf 153 Kapitalgesellschaften verteilt, die sich in den früheren Monaten des Jahres 1990 aus der zuvor – einheitlichen – HO gebildet hatten. Hinzu kamen die rechtlich verselbständigten Organisations- und Abrechnungszentren, wissenschaftlich-technischen Einrichtungen und Unternehmen des sogenannten Spezialhandels, zusammen weitere 30 Gesellschaften:85 Verfahrensgrundsätze und Eckwerte der Privatisierung Parallel zu der Bestandsaufnahme erfolgte die Vorbereitung und Festlegung der Privatisierungsgrundsätze. Dabei galt aus GPH-Sicht: - Es musste sich um ein übereinstimmendes Verfahren für die fünf neuen Bundesländer und den östlichen Teil Berlins handeln.
85 Die Einzelheiten finden sich in den Darstellungen der KPMG Treuverkehr AG aus dem November 1990 (Einzelhandel), Januar 1991 (Großhandel) und März 1991 (OAZ und wissenschaftliche Einrichtungen).
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Jeder ernsthafte Interessent sollte die Möglichkeit zum Erwerb eines Ladengeschäfts, einer Gaststätte oder eines Hotels erhalten, woraus sich die öffentliche – teilweise internationale – Ausschreibung ergab. - Die Regeln mussten einfach, verständlich, handhabbar und nachvollziehbar sein: das galt auch für die Bewertungsvorschriften und die Musterverträge, die zu fairen und vertretbaren Übernahmebedingungen und zu einem schnellen Abschluss führen sollten (Wobei der Preis eine maßgebende Rolle spielen, aber nicht den alleinigen Ausschlag geben sollte). Aus diesen „Vorgaben“ folgte für das Zusammenwirken zwischen GPH und THA-Niederlassungen: -
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die Rahmen- und Leitlinien86 mussten einheitlich sein und von der GPH kommen; ihre Ausfüllung und Durchführung im Einzelfall hatte die Gegebenheiten „vor Ort“ zu berücksichtigen und mithin dezentral – durch die 15 Niederlassungen der THA – zu erfolgen; allerdings waren die großen, die Landesgrenzen weithin überschreitenden Joint-Venture- und ähnlichen Verträge, vor allem mit Unternehmen aus den alten Bundesländern, zentral durch GPH zu verhandeln und abzuschließen oder aufzukündigen. Die GPH-Eckwerte lauteten – kurz gesagt – so: Übernahme aller Arbeitsverhältnisse durch den Erwerber (schon wegen §613a BGB, aber zugleich als vertragliche Verpflichtung gegenüber der GPH/THA). Uns war klar, dass dies die Privatisierungserlöse nennenswert vermindern würde; Kauf der Einrichtungen und der Vorräte zum Zeitwert nach einem einheitlichen, schematisierten Bewertungsverfahren, das zu einem sog. Mindestpreis/ Objekt führte (der zunächst nicht unterschritten werden durfte). Im Bereich der größeren Gaststätten und Hotels wurden diese Mindestpreise Objekt für Objekt durch ein erfahrenes, fachkundiges Beratungsteam ermittelt, das uns auf Zeit zur Verfügung stand;87 die Ergebnisse („Schlusszahl“ und Zusammensetzung) hat die GPH den Niederlassungen zu ihrer Erleichterung an die Hand gegeben; Keine Vorgabe eines rechenbaren Ertragswertes, aber Aufforderung zur Bekanntgabe eines sog. Aufpreises, der – als Schätzwert für Standort und good-
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Die GPH hat den THA-Niederlassungen für die verschiedenen Ausschreibungen solche Leitlinien an die Hand gegeben: für Einzelhandel und Gaststätten am 20.11.1990 und am 21.12.1990, für Großhandel am 27.2.1991 und für die Hotels am 27.3.1991, 22.4.1991 und 21.5.1991.
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GfU Gesellschaft für Unternehmensberatung und Dienstleistungsmarketing mbH in Düsseldorf – die Bewertungsgrundsätze und die Zusammenstellung der Mindestpreise für die größeren gastronomischen Betriebe finden sich in den GfU-Exposés vom 31.12.1990 und 27.3.1991.
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will – den Mindestpreis ergänzen sollte. Mindestpreis und Aufpreis stellten den sog. Bietpreis dar, der bei der jeweiligen THA-Niederlassung innerhalb der Ausschreibungsfrist abzugeben war; - Keine Veräußerung von Grundstücken und Gebäuden. Ohne diese Vorgabe, für die vielfältige Gründe sprachen, wäre eine zügige Privatisierung nicht möglich gewesen. - Statt dessen Überleitung der alten bzw. Abschluss neuer – wenn möglich langfristiger – Mietverträge mit Festmieten bei kleinen Geschäften/Gaststätten bzw. einer umsatzbezogenen Miete (mit Mindestbeträgen) bei größeren Objekten. In diesem Zusammenhang waren vornehmlich die kommunalen und die privaten Vermieter angesprochen; denn von den ursprünglichen knapp 30.000 HO-Objekten befanden sich nur 4.356 Läden/Gaststätten in HORechtsträgerschaft. Nach der Bestandsaufnahme und der Festlegung der „Eckwerte“ folgten die Ausschreibungen, die erste knapp 6 Wochen nach GPH-Tätigkeitsbeginn. Erste Ausschreibung (26. November bis 3. Dezember 1990). Zum Verkauf standen rund 11.300 kleinere Objekte (8.731 Läden bis 100 qm VK und 2.562 Gaststätten bis 140 qm VK). Zweite Ausschreibung (2. bis 21. Januar 1991). Ausgeschrieben wurden rund 2.623 mittlere und große Objekte (1.419 Läden und 1.204 Gaststätten). Gleichzeitig wurden verschiedene kleinere Objekte aus der ersten Ausschreibung in die zweite Ausschreibung übernommen; dasselbe galt für alle Läden oder Gaststätten, die uns im Oktober/November 1990 nicht gemeldet wurden, aber plötzlich als noch zu privatisieren „auftauchten“ (in den beiden ersten Quartalen des Jahres 1991 nahm die Zahl solcher Objekte, von denen wir nicht erfahren hatten, ständig zu). Beide Ausschreibungen lösten großes Interesse aus. 90 % der Zuschläge aus der ersten Ausschreibung und 50 % der Zuschläge aus der zweiten Ausschreibung erfolgten an Interessenten aus den neuen Bundesländern. Leider erwies sich die Überleitung der Mietverträge durch private Eigentümer und zahlreiche Kommunen an die·Käufer als schwierig und führte in einem beachtlichen Umfang zur Rückgabe der entsprechenden Zuschläge (alles über knapp 6.000 Läden und Gaststätten einschließlich einer Reihe von Verträgen aus den Zentralverhandlungen). Zentralverhandlungen GPH (über Joint Venture- und andere Verträge aus der Zeit vor dem 3. Oktober bzw. dem 9./15. Oktober 1990, dem Gründungstag/Tätigkeitsbeginn der GPH). Über 140 solcher Haupt-Verträge standen zur Diskussion (mit Neben- und Mietverträgen wurde die Zahl 1.000 erreicht). Wir haben sie Vertrag für Vertrag
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durch außenstehende Anwälte88 einer eingehenden rechtlichen Prüfung unterziehen lassen (neben einer Rücksprache beim Bundeskartellamt) und die entsprechenden Hinweise und Erkenntnisse in unseren Nach-Verhandlungen berücksichtigt. Allein in Berlin haben seit Gründung der GPH bis zum 30. Juni 1991 weit mehr als 500 Verhandlungen stattgefunden (daneben zahllose Folge-Gespräche unserer Frankfurter Anwälte, denen wir „Richtzahlen“ an die Hand gegeben haben). Zum Jahreswechsel 1990/1991 und im ersten Quartal 1991 wurden die zentralen Verhandlungen – über 5.099 Objekte89 – im Rahmen der GPH-Eckwerte abgeschlossen. Eine Reihe von Verträgen (aus der Vor-GPH-Zeit) bzw. die Anschluss-Verhandlungen blieben – lange – ohne Ergebnis und/oder wurden endgültig abgebrochen (wobei die zunächst gebundenen Flächen vielfach in die Ausschreibungen übernommen wurden). Nach dem Stand Ende Juni 1991 haben wir uns, mit zwei größeren Ausnahmen, verständigen können (teilweise nach monatelangen Auseinandersetzungen) – auch auf Rückgabe/Rücknahme. Die Zahl der GPH-Verträge beläuft sich auf rund 200. Im Bereich der Zentralverträge mit den großen Lebensmittel-Filialunternehmen aus den alten Bundesländern haben wir dabei (noch) einen besonderen „Eckwert“ angesprochen und durchsetzen können: - alle Ladengeschäfte bis 100 qm VK sind von diesen Unternehmen innerhalb von 12 Monaten ihrerseits zu privatisieren und bis dahin von ihnen zu beliefern; es geht um etwa 1.750 Läden, ein wichtiger Beitrag zur Schaffung mittelständischer Strukturen im ostdeutschen Handel. Übergabe der Läden/Gaststätten Ebenso wie der Verkauf ist auch die Übergabe der privatisierten Betriebe (mit Inventuren) abgeschlossen. Es handelte sich um eine Gemeinschaftsaufgabe, an der viele beteiligt waren (mit genauem Zeit- und Ablaufplan): -
GPH Niederlassungen der Treuhandanstalt (15) koordinierende HO-Nachfolge-Geschäftsführer (15) zwei Beratungsgesellschaften90 (Einzelhandel bzw. Gaststätten/Hotels) in Berlin und vor Ort bei den THA-Niederlassungen. Parallel zu der Übergabe erfolgte im 2. Quartal 1991 eine Bestandsaufnahme der (noch) verbliebenen, zurückgegebenen oder wieder aufgetauchten Läden und 88 Rechtsanwälte Pünder Volhard Weber & Axster in Frankfurt, Düsseldorf und Berlin, die in den kritischen Wochen mit zahlreichen Partnern und Mitarbeitern zur Verfügung gestanden haben. 89 Davon – 4.988 Läden, – 111 Gaststätten. 90
VVW Unternehmensberatung GmbH in Köln für Einzelhandel; GfU Gesellschaft für Unternehmensberatung und Dienstleistungsmarketing in Düsseldorf für Gaststätten und Hotels.
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Gaststätten und eine Entscheidung über deren mögliche Verwertung bzw. Schließung – mit der entsprechenden "Umsetzung". In diesem Zusammenhang und im Rahmen der „verschmelzenden Aufspaltung“ der 153 HO-Nachfolgegesellschaften im Juni/Juli 1991 wurde immer klarer, dass die Rückmeldungen im Rahmen der GPH-Bestandsaufnahme von Mitte Oktober bis Mitte November 1990 teilweise unvollständig und damit unzutreffend waren: die damals angeblich schon privatisierten ca. 11.300 HO-Objekte waren entweder zu einem bestimmten Teil noch vorhanden oder sie befanden sich erst auf dem Wege zur Privatisierung oder zur Schließung (mit Kündigung der Mietverhältnisse),91 was zu dem entsprechenden Regelungsbedarf für die GPH führte. Besonders deutlich wurden alle diese Umstände durch die späteren Kündigungen und Abfindungen im Rahmen der beiden GPH-Tarifverträge und durch die verschmelzende Aufspaltung der 153 Nachfolgegesellschaften. Die GPH wurde dort mit unvollständigen und/oder „steckengebliebenen“ Privatisierungen aus der Zeit bis Mitte Oktober 1990 konfrontiert (einschl. der Nichtübernahme oder Rückgabe von Geschäftseinheiten, die jetzt mit „abzuwickeln“ waren). Das Ergebnis lautet heute so: Die GPH/THA-Niederlassungen haben seit dem 15. Oktober 1990 rund 13 040 Betriebe privatisiert und übergeben. Die HO-Nachfolgegesellschaften betreiben seit 1. Juli 1991 kein Ladengeschäft und keine Gaststätten mehr, von einigen wenigen „Hängepartien“ abgesehen. Die Schließungen mit negativen Folgen für die Privatisierung und die Arbeitsplätze betreffen seit Oktober 1990 7.449 Objekte und sind auf folgende Gründe zurückzuführen: -
keine Anschlussmietverträge durch kommunale Wohnungsbauverwaltungen: ca. 3.117 Fälle - keine Anschlussmietverträge durch private Hauseigentümer: ca. 2.850 Fälle - Schließung durch die GPH, weil keine Wirtschaftlichkeit (Größe der Fläche/ Lage): ca. 1.482 Fälle An der GPH ist kein Mietvertrag bzw. seine Überleitung gescheitert (soweit die rund 4.356 HO-Rechtsträgerobjekte betroffen sind), während sich viele Kommunen durch ihre „Nein“-Haltung besonders hervorgetan haben (nicht zuletzt Berlin, das sich z. B. nicht gescheut hat, den Ratskeller im sog. roten Rathaus zu schließen und 93 Mitarbeiter zuzüglich 26 Lehrlinge auf die Straße zu setzen). Großhandel Es geht um den früheren sozialistischen Großhandel, soweit er dem Ministerium für Handel und Tourismus zugeordnet war (heute in Form von 136 Nachfolge-Kapitalgesellschaften)92 und dessen Privatisierung. 91
Aus den 11.300 wurden auf diesem Wege (nur) 9.300 Einheiten, die im Oktober 1990 nicht mehr im Bestand waren.
92 Nur Großhandel, ohne OAZ (14), wissenschaftliche Einrichtungen (11) und Spezialhandel (5).
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Der erste Abschnitt bestand in zentralen Verhandlungen durch GPH im Rahmen der Joint Venture-Gespräche lt. Ziff. 6 (Waren des täglichen Bedarfs = food) und in selbständigen Verkaufsgesprächen (vornehmlich Industriewaren – nonfood); dieser Teil wurde mit dem Monatswechsel April/Mai 1991 abgeschlossen: 53 Gesellschaften wurden vollständig privatisiert; von weiteren 115 Gesellschaften konnten wesentliche Betriebsteile veräußert werden; dabei galten die gleichen Eckwerte wie im Einzelhandel, mit der Folge, dass 12.000 Arbeitsplätze gesichert werden konnten. Der zweite Abschnitt der Privatisierung des hier angesprochenen Großhandels hat überwiegend regionale Bedeutung und erfolgt seit Mai 1991 – im ganzen oder in Teilen - durch die THA-Niederlassungen „vor Ort“; die Koordination liegt bei dem THA-Unternehmensbereich 4/Niederlassungen.93 Der dritte und letzte betrifft teilweise den Einzel-, teilweise den Großhandel oder gehört zu beiden Bereichen: - 14 Organisations- und Abrechnungszentren (OAZ) - 11 wissenschaftlich-technische Einrichtungen - 5 Gesellschaften des sog. Spezialhandels (Versorgung der sowjetischen Streitkräfte). Diese Gesellschaften wurden von GPH bis Ende Juni 1991 weiter betreut, privatisiert oder geschlossen; der verbliebene Teil wurde an den Unternehmensbereich 4/Niederlassungen der THA abgegeben. Bestandsaufnahme, Ausschreibung und Privatisierung der früheren HO-Hotels Nach dem Ergebnis der Bestandsaufnahme handelte es sich ursprünglich um 425 Hotels; davon waren 66 Hotels bereits anderweitig veräußert oder geschlossen, so dass 359 Hotels zur Privatisierung durch die GPH verblieben. Diese hatten mit Ausnahme von 13 Hotels (nur) bis zu 60 Zimmer; von den großen 13 Hotels lagen sechs Hotels zwischen 60 und 90, vier Hotels zwischen 90 und 120 und drei Hotels über 120 Zimmer. Die erste Ausschreibung der 346 Hotels bis zu 60 Zimmer (davon 125 Hotels bis 10 Zimmer und 130 Hotels bis 20 Zimmer) erfolgte durch die GPH und die THA-Niederlassungen in der Zeit vom 21. März bis 9. April 199l. Sie rief großes Interesse hervor (Zahl der Gebote: 840). Die zweite Ausschreibung der 9 Hotels über 60 Zimmer fand in der Zeit vom 24. April bis 13. Mai 1991 statt und wurde – wie die Ausschreibung der Hotels bis 60 Zimmer – über die GPH/THA-Niederlassungen abgewickelt. Auch hier war das Interesse groß (78 Gebote). 93 In Übereinstimmung mit einem THA-Vorstandsbeschluss vom 3. April 1991; die Kontinuität ist u.a. dadurch sichergestellt, dass Herr Dr. H. Behrendt, der den Großhandel bei GPH betreut hat, mit Wirkung zum 1. Mai 1991 zur THA/Koordination Niederlassungen übergewechselt ist.
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Die Privatisierung der verbliebenen vier Spitzenhotels (Hotel Neptun / Warnemünde, Hotel Lausitz / Cottbus, Parkhotel / Leipzig, Hotel Gewandhaus / Dresden) erfolgte über eine dritte nationale und internationale Ausschreibung in der Zeit vom 21. Mai bis 7. Juni 1991. Dort wurden 80 Gebote abgegeben. Inzwischen (nach dem Stand vom 15. August 1991) wurden Zuschläge für 288 Hotels erteilt: - 280 Hotels aus der ersten Ausschreibung - 5 Hotels aus der zweiten Ausschreibung - 3 Hotels aus der dritten Ausschreibung. (Die große Zahl der Bieter und die unterschiedlichen Konzepte verzögerten hier die Entscheidung). 65 Prozent dieser Hotels gingen an Interessenten aus den neuen Bundesländern, in 83 Fällen (ca. 35 Prozent aller Zuschläge) an die bisherigen Leiter und/oder Pächter der Hotels. Mit 33 ernsthaften Bietern wurde weiter verhandelt (teilweise wurden die Bieter aufgefordert, ihre Investitions- und Finanzierungskonzepte zu vervollständigen). Für 39 kleine Hotels erfolgten keine Gebote (oder keine solchen zum Mindestpreis). Diese Hotels wurden dann durch die einzelnen THA-Niederlassungen nach den örtlichen Gegebenheiten vermarktet. Die Ausschreibung und Vergabe der Hotels unterscheidet sich in einem wichtigen Punkt von den „Vorgaben“ im Rahmen des Einzelhandels und der Gaststätten: Die GPH hat hier Grundstücke und Gebäude mit veräußert, u. a. wegen des sehr hohen Investitionsbedarfs/Zimmer und der vergleichsweise geringen Zahl der Objekte, die die Klärung der Eigentumsfragen in Verbindung mit den neuen gesetzlichen Möglichkeiten eher möglich machen sollte94 – so unser Ausgangspunkt. Diese Hoffnung hat sich – leider – nur zum Teil bestätigt; die Zahl der Restitutionsansprüche ist größer und der „Prozess“ mühsamer, als erwartet werden 94 Gfu Gesellschalt für Unternehmensberatung und Dienstleistungsmarketing mbH hat am 18. Februar 1991 im Auftrag der GPH ein „Konzept für die schematische Bewertung“ vorgelegt. Aufgrund fehlender Bodenrichtwert-Karten für die Städte der neuen Bundesländer wurde eine eigene Bodenrichtwerttabelle für alle 5 neuen Bundesländer erarbeitet. Die Basis hierfür bilden Statistiken über Kaufwerte für Bauland (statistisches Bundesamt, Wiesbaden) sowie herangezogene Vergleiche zwischen west- und ostdeutschen Großstädten, respektive Regionen. Gebäudewertung der Gebäudewert wurde entsprechend dem Sachwertverfahren in der Wertermittlungsverordnung festgestellt. Die schematische Bewertung erfolgte demnach auf der Basis der Eckdaten. Herstellungswert x Index-Stand (Basis 1913) = Herstellungswert (CBM) x Umbauter Raum (CBM) = Herstellungswert / gesamt- Wertminderung = Gebäudezeitwert. – Um in möglichst kurzer Zeit alle auszuschreibenden Objekte bewerten zu können wurde ein schematisiertes Bewertungsformular eingesetzt. – Als Eckwerte für die Bewertung wurden bewusst die Substanzzeitwerte herangezogen, da fundierte Ertragswertdaten nicht existieren – auf Grund des zwischenzeitlich erfolgten Paradigmawechsels auch nicht vorhanden sein können.
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konnte: bislang liegen für 191 Hotels – das sind 53 % – private Restitutionsansprüche vor (dazu kommen 18 kommunale Rückübertragungsverlangen), ein Beweis mehr, wie richtig es war, im Handel ohne Immobilien zu privatisieren. Wir werden in einer Vielzahl der betroffenen Hotels den Weg über eine Investitions-Vorrangentscheidung zu gehen (nach § 3 a Vermögensgesetz) suchen; doch das kostet Zeit. Tarifverträge GPH mit HBV/NGG/DAG (einschl. Sozialplan) für Einzel- und Großhandel Die Privatisierung des Handels auf der Grundlage der GPH-Eckwerte sollte möglichst viele Arbeitsplätze erhalten und sichern (und hat dies getan). Es war vorauszusehen, dass gleichwohl viele Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz verlieren würden (z. B. in den Läden und Gaststätten, die die GPH schließen musste oder andere zuvor geschlossen haben, mehr noch im überbesetzten Verwaltungsbereich). Hier waren im Vorhof entsprechende Regelungen zu treffen – und dies ist nach langen und schwierigen Verhandlungen mit HBV am 28. Januar 1991 gelungen; NGG und später DAG haben sich angeschlossen.95 Bei den GPH-Tarifverträgen mit HBV, NGG und DAG aus dem Januar/ Februar 1991, die in erster Linie für Personalmaßnahmen ab 1. Januar 1991 gelten, standen Qualifizierungsmaßnahmen im Vordergrund; Abfindungs-zahlungen folgten (erst) in der zweiten Reihe. GPH hat wegen dieser Tarifverträge zunächst vielfältige Kritik, insbesondere aus manchen Verbänden in Köln und Bonn, erfahren – ganz zu Unrecht, weil dabei die gesetzlichen Bestimmungen (§ 613 a BGB), die Aufgabenstellung und Notwendigkeiten der GPH und die Gegebenheiten „vor Ort“ verkannt wurden. Doch die Einwände gehören wohl der Vergangenheit an, spätestens seit der „Gemeinsamen Erklärung von Treuhandanstalt, DGB und DAG“ vom 13. April 1991 (zum Abschluss von Sozialplänen), eine Erklärung, in deren Rahmen sich die GPH mit Rückendeckung der THA entschlossen hat, über einen zweiten Tarifvertrag (auch) für solche früheren HO-Mitarbeiter eine sozialverträgliche Lösung zu suchen, die in der Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 1990 ihren Arbeitsplatz verloren haben und deshalb nicht unter den Tarifvertrag aus dem Januar/Februar 1991 fallen.96 Treuhandanstalt und GPH haben auf diesem Wege Lasten aus der Zeit vor dem GPH-Tätigkeitsbeginn abgetragen. Zur Zeit laufen die Schulungs- und Qualifizierungsmaßnahmen, und die Abfindungszahlungen wurden geleistet (1. Juli 1991) oder werden bis 1. Oktober 1991 fällig (mit den Überläufern für die Abwicklungsstäbe zum 31. Dezember 1991). Es geht um rund 100.000 Mitarbeiter, wovon 65.000 Mitarbeiter unter Tarifvertrag 1 und 25.000 Mitarbeiter unter Tarifvertrag 2 fallen. Der Aufwand für die Abfindungen liegt bei 440 Mio. DM (Einzelhandel/ Gaststätten; Hotels). 95 NGG am 31. Januar 1991 und DAG am 6. Februar 1991.
96 Tarifverträge mit NGG vom 17. Juli 1991, mit HBV vom 1. August 1991 und mit DAG vom 14. August 1991.
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Sicherung von Arbeitsplätzen In den Ladengeschäften, Gaststätten und Hotels des ehemaligen volkseigenen Einzelhandels (HO) waren zum 31. Dezember 1989 nach unseren Feststellungen 280 000 Mitarbeiter beschäftigt (am 1. Januar 1991 waren es noch 155.000 Mitarbeiter). Aufgrund der Privatisierungs-„Eckwerte“ (Stichwort: „Übernahme aller Arbeitsverhältnisse“) hat GPH hiervon knapp 80.000 Arbeitsplätze retten können; hinzu kommen rund 40.000 Arbeitsplätze aus der ersten Phase der Privatisierung (bis Oktober 1990), die sich mit dem GPH-Tätigkeitsbeginn und der späteren GPH-Privatisierung z. T. überlagert und überschnitten hat, zusammen also rund 120.000 Arbeitsplätze. Die GPH hat – wie gesagt – 100.000 HO-Mitarbeiter (von 280.000 Beschäftigten zum 31. Dezember 1989) abgefunden.97 60 000 ehemalige HO-Mitarbeiter sind demnach seit 1. Januar 1990 aufgrund eigener Kündigung (Erreichung der Altersgrenze) ausgeschieden, wobei letztere, wie wir vermuten, in den alten oder in den neuen Bundesländern einen anderen Arbeitsplatz gefunden haben (müssen). Mit anderen Worten: die Privatisierung des Handels hat dazu geführt, dass 120.000 der HO-Arbeitsplätze auf die Erwerber übergeleitet werden konnten (neben vielen Tausenden von Mitarbeitern, die offenkundig einen anderen Arbeitsplatz gefunden haben). Und es ist für uns wichtig hinzuzufügen, dass wir alle Lehrverhältnisse absichern konnten: durch alte/neue Ausbildungsplätze in den privatisierten großen Betrieben oder durch finanzielle Unterstützung zur Schaffung von Ausbildungsplätzen an dritter Stelle. Verschmelzende Aufspaltung der HO-Nachfolgegesellschaften (Einzelhandel/ Gaststätten/Hotels) und Verwaltung der (früheren) HO-Immobilien Die Zusammenführung und Abwicklung der alten HO-Gesellschaften wird keine operative Bedeutung mehr besitzen, aber noch geraume Zeit in Anspruch nehmen (und manche Mühe mit sich bringen); dabei geht es besonders um die Erfassung, Verwaltung und zum Teil Veräußerung des umfangreichen Immobilienbesitzes. Zur allseitigen Vereinfachung hat der Vorstand der Treuhandanstalt auf Vorschlag der GPH beschlossen, die 153 HO-Nachfolgegesellschaften (auf der Grundlage des Spaltungsgesetzes) im Wege der sog. „verschmelzenden Aufspaltung“ per Ende Juni 1991 (mit Wirkung zum 1. Juli 1990 nach§ 1 Abs. V DMBilanzgesetz) auf drei neue Gesellschaften in Berlin zu spalten:98 97 Bei dieser Zahl ist zu berücksichtigen, dass GPH die gesamten Verwaltungsbereiche übernommen hat und übernehmen musste, die durch die Privatisierungsmaßnahmen in der Zeit vor dem 9./15. Oktober unberührt geblieben waren. Von daher sind die betriebsbedingten Kündigungen bzw. Vorruhestandsmaßnahmen, die alles über alles knapp 100.000 früheren HO-Beschäftigte betroffen haben, zu den ursprünglichen 280.000 Mitarbeitern in Beziehung zu setzen. 98 In diesem Zusammenhang hat uns die Anwaltskanzlei Hengeler Mueller Weitzel Wirtz in Düsseldorf beraten.
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EXHO Immobilien-Verwaltungs-Gesellschaft mbH (für den Betrieb der für die Ladengeschäfte und Gaststätten notwendigen Grundstücke) FREHO Immobilien-Verwaltungs-Gesellschaft mbH (für die nicht betriebsnotwendigen Grundstücke, z. B. Verwaltungsgebäude, Betriebsakademien, Kinderkrippen etc.). DUHO Verwaltungs-Gesellschaft mbH (für die verbleibenden „übrigen“ Aktiva und Passiva; auf diese Gesellschaft sind auch die (noch) bestehenden Arbeitsverhältnisse und die Behandlung des Sozialplanes übergegangen).
Das Spaltungsgesetz erlaubt es, Teile des Vermögens einer Gesellschaft, die mittelbar oder unmittelbar im alleinigen Eigentum der Treuhandanstalt steht, durch eine Gesamtvermögensübertragung auf eine oder mehrere neu entstehende Gesellschaften zu übertragen. Mit der Übertragung des Vermögens der Altgesellschaften auf die neu entstehenden Gesellschaften erlöschen die Altgesellschaften. -
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Von diesen Möglichkeiten haben THA/GPH Gebrauch gemacht: Die DUHO übernimmt die Abwicklung der alten HO bzw. der HO-Nachfolgegesellschaften. Die FREHO geht mit ihren etwa 1 400 nicht betriebsnotwendigen Grundstücken in den THA-Vorstandsbereich 5 über (dort sind die Grundstücke zur Veräußerung vorgesehen). Die EXHO verwaltet die etwa 4.350 früheren HO-Rechtsträgerobjekte (Handel und Gaststätten), die jetzt durch langfristige Mietverträge unterlegt und abgesichert sind. Es ist vorgesehen, diese Grundstücke „zusammenzulassen“ und in geschlossener Form als Immobilienfonds oder als Immobilien-Aktiengesellschaft zu einem späteren Zeitpunkt über die Veräußerung von Anteilen/Aktien zu privatisieren.
Wirtschaftliche Ergebnisse Die wirtschaftlichen Ergebnisse der HO-Privatisierung (ohne Centrum-Warenhäuser und Interhotels) lassen sich in wenigen Kennzahlen so zusammenfassen: Von den früheren rund 20.500 Läden und Gaststätten, die die GPH am 15. Oktober übernommen hat, konnten 13 040 Einheiten privatisiert werden (GPH und THA-Niederlassungen).99 Davon sind ca. 90 % der Flächen bis 100 qm VK an Interessenten aus den neuen Bundesländern gegangen und 50 % der Flächen über 100 qm VK, soweit sie zur Ausschreibung gelangt sind.100 99 GPH hat mit der „verschmelzenden Aufspaltung“ in einer besonderen und zunächst strittigen Form die Möglichkeiten des Spaltungsgesetzes genutzt. Inzwischen ist diese Aufspaltung durchgeführt und bei den meisten der betroffenen 153 Registergerichten eingetragen; die anderen werden folgen. 100 Etwa 6.000 weitere Privatisierungen sind an den Kommunen und privaten Vermietern gescheitert.
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Wie weit sich hier ein stabiler Mittelstand bilden und entwickeln kann, wird wesentlich von der künftigen Gestaltung der Mietverträge (Laufzeit und Mietzins) durch die privaten und öffentlichen Eigentümer abhängen. Besonders die Kommunen sind hier aufgerufen, Zeichen zu setzen; ob sie es tun, ist nach unseren Erfahrungen zum Teil leider zweifelhaft. Die Aufpreise (goodwill) und die Kaufpreise für Anteilsverkäufe liegen für die Privatisierungsmaßnahmen seit 15. Oktober 1990 (durch GPH und THA-Niederlassungen) nach dem derzeitigen Stand bei rund 340 Mio. DM. Von den früheren 360 Hotels, die die GPH an den Markt gebracht hat, sind 65 % an Erwerber aus den neuen Bundesländern gegangen. Die Mindest-Kaufpreise (in diesem Fall einschließlich Grund und Boden) betragen zusammen 518 Mio. DM (hier werden sich durch die Restitutionsansprüche allerdings „Kürzungen“ von 200 bis 300 Mio. DM ergeben). Von den etwa 280.000 HO-Arbeitsplätzen (31. Dezember 1989) konnten 120.000 im Rahmen der Privatisierung auf die neuen Eigentümer übergeleitet werden (als wesentlicher „Eckwert“ der Privatisierung mit nennenswerten Auswirkungen zulasten der Bietpreise und Veräußerungserlöse). 60.000 frühere HOMitarbeiter haben einen anderweitigen Arbeitsplatz gefunden (oder sind wegen Erreichung der Altersgrenze ausgeschieden). Für die etwa 100.000 Mitarbeiter, die seit 1. Juli 1990 ihren alten HO-Arbeitsplatz verloren haben (oder in Vorruhestand gegangen sind), stehen über die beiden GPH-Tarifverträge mit HBV, NGG und DAG umfassende Schulungs- und Qualifizierungsprogramme zur Verfügung. Die Abfindungsbeträge an diese Mitarbeiter liegen insgesamt bei rund 440 Mio. DM. In den östlichen Bundesländern entstanden im Handel viele neue Arbeitsplätze. Hier gibt es gute berufliche Anschlussmöglichkeiten, vor allem bei entsprechender Qualifizierung und Mobilität. Die Handelsimmobilien und die sogenannten nicht betriebsnotwendigen Grundstücke und Gebäude, die über EXHO bzw. FREHO unverändert bei der THA liegen, sollen eine anderweitige Privatisierung erfahren (in Form von Grund und Boden –FREHO – oder gegebenenfalls in Gestalt von Anteilen an Immobilienfonds oder Aktiengesellschaften – EXHO –). Alle diese Immobilien besitzen bei vorsichtiger Schätzung einen Wert in der Größenordnung von 3 Mrd. DM. Im Dezember 1989 war ich in Dresden. Ich habe an dem frühen Versuch eines gesamtdeutschen Symposiums teilgenommen. Ein Referent zitierte dort das – angeblich chinesische – Sprichwort: „Man muss etwas erledigen, bevor es geschieht“. Ich fand die Worte überlegens- und beachtenswert: Wir haben uns seit dem ersten GPH-Arbeitstag am 15. Oktober 1990 von diesem Sprichwort mit leiten lassen. Das Gewicht der Zeitfrage war uns klar; sie wurde jeden Tag deutlicher; so sind wir (noch) schneller „gelaufen“, als es unser ursprünglicher Zeitplan vorsah – und haben jetzt nach knapp 9 Monaten unsere „operativen“ Aufgaben erledigt und die Privatisierung abgeschlossen. „Man muss etwas erledigen, bevor es geschieht" – ein Stück davon haben Dr. Neubert und ich mit unserer kleinen ost-westlichen GPH-Mannschaft verwirk-
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licht, mit Unterstützung vieler bei der Treuhandanstalt – Dr. Odewald, Frau Breuel, Dr. Rohwedder und den THA-Niederlassungen – mit Hilfe der beiden zuständigen Bonner Ministerien, die uns, unbeschadet mancher Widerstände und Interventionen, ihr Vertrauen geschenkt haben und mit wohlwollend-kritischer Begleitung durch die Wirtschaftspresse – dafür sind wir dankbar. 5.7. Kriminalität von Einzelakteuren und Wirtschaftskriminalität im Einigungsprozeß 5.7.1. Privatisierung und Kriminalität Von Kari-Maria Karliczek Die Wiedervereinigung beider deutschen Staaten ging mit der Notwendigkeit der Umgestaltung des Wirtschaftssystems auf dem Gebiet der ehemaligen DDR einher. Dafür sollten möglichst schnell Eigentümer für die mehr als 8.000 staatseigenen Unternehmen gefunden werden. Sofern dies aussichtslos erschien, sollten die Unternehmen abgewickelt werden. Um dies zu realisieren, wurden die DDRBetriebe der Treuhandanstalt übertragen, die damit zum weltweit größten staatswirtschaftlichen Akteur wurde. Für die Privatisierung und Abwicklung der Unternehmen stand der Treuhandanstalt zunächst ein Zeitraum von vier Jahren zur Verfügung. Nach Ablauf dieser Zeit setzte die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS) die Tätigkeit der Treuhandanstalt fort. Innerhalb kürzester Zeit mussten über 4.000 Mitarbeiter gefunden werden, die über ausreichende Kompetenz und Erfahrung verfügten, um nicht nur die Privatisierung bzw. Abwicklung der DDR-Betriebe zu begleiten, sondern auch die bis dahin erforderlichen Maßnahmen der Umgestaltung der Unternehmen.101 Das Ziel der schnellen Privatisierung wurde bereits zum Zeitpunkt der Gründung der Treuhandanstalt durch die Politik formuliert und erzeugte einen großen Zeit- und Handlungsdruck, der zusammen mit der gerade zu Beginn unzulänglichen personellen Ausstattung der Treuhandanstalt, dafür verantwortlich gewesen sein mag, dass nicht alle Privatisierungsvorgänge hinlänglich kontrolliert wurden.102 Bereits Ende 1990 wurden erste Fehler der Privatisierung in der Öffentlichkeit thematisiert. Die Treuhandanstalt reagierte darauf mit der Einrichtung interner Kontrollinstanzen wie Controlling, Revision und der Stabsstelle Recht. Die Aufgabe der Stabsstelle Recht bestand vor allem darin, Privatisierungsvorgänge auf eine mögliche strafrechtliche Relevanz zu überprüfen und sie gegebenenfalls einer 101 Karliczek, Kari-Maria / Theile Hans: Rahmenbedingungen der Arbeit der Treuhandanstalt, in: Boers, Klaus / Nelles, Ursula / Theile, Hans (Hrsg.), Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR-Betriebe, Baden-Baden 2010, S. 149-173; S. 151. 102 Boers, Klaus: Wirtschaftskriminologie. Vom Versuch mit einem blinden Fleck umzugehen, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 2001, S. 335-356, 343 f.
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strafrechtlichen Ermittlung zuzuführen.103 Gleichwohl kam es im Verlauf der Privatisierung der Unternehmen der ehemaligen DDR immer wieder zu strafrechtlich relevanten Handlungen. Allerdings können diese nicht allein den gerade anfänglich immensen strukturellen Mängeln der Treuhandanstalt zugeschrieben werden. Allein die Vielzahl der getätigten Transaktionen ließ ein Auftreten von kriminellen wirtschaftlichem Handeln erwarten. Aus heutiger Sicht kann festgestellt werden, dass es sich trotz der Einmaligkeit der historischen Situation nicht um außergewöhnliche Fälle von Wirtschaftskriminalität handelte. Die vorgefundenen Fälle wiesen häufig Merkmale auf, die sich auch in Fällen „normaler“ Wirtschaftskriminalität finden lassen.104 Insbesondere die Motive der Akteure unterscheiden sich nicht von denen der Akteure in ähnlichen Fällen von Wirtschaftskriminalität. Beteiligt waren zumeist Unternehmen oder Einzelakteure aus dem westdeutschen Raum, die Handlungsmuster einsetzten, die ihnen vertraut waren und die aus ihrer Sicht den meisten Gewinn versprachen. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen welche strukturellen Bedingungen kriminelles Handeln im Rahmen der Privatisierungstätigkeit der Treuhandanstalt beförderten. Als Strukturen werden hier alle relativ stabilen Gegebenheiten erfasst, die von den Handelnden als relevant wahrgenommen werden. Dazu gehören nicht nur Ressourcen,105 die bestimmten Akteuren zur Verfügung stehen, sondern auch Regeln106 und Erwartungsmuster107. Während Regeln in Form von Konventionen, Recht, Rollenerwartungen usw. in das soziale Handeln einfließen, entsprechen die Erwartungsmuster einem kollektiv geteilten Wissen, das sich aus regelmäßigen sozialen Abläufen ergibt und zu dem auch das Wissen um die Bedeutung und Anwendung der Regeln gehört. Während die Ressourcen und die Regeln verschiedene Möglichkeiten vorgeben, bieten die Erwartungsmuster Orientierungen für die Auswahl und das Nutzen dieser Möglichkeiten. Welchen Strukturen relevant wurden, wird an Hand der Ergebnisse einer am Kriminalwissenschaftlichen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster durchgeführten und durch die DFG geförderten qualitativen Untersu-
103 Erbe, Joachim: Die Stabsstelle Recht der Treuhandanstalt, in: Neue Kriminalpolitik 1999, S. 26-30. Boers: Wirtschaftskriminologie, S. 344. 104 Boers: Wirtschaftskriminologie, S. 343. 105 Giddens, Anthony: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt/Main, New York, 1997, S. 68 106 Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft, S. 68 107 Parson, T. 1973 [1945]. Systematische Theorie in der Soziologie. Gegenwärtiger Stand und Ausblick, in: Ders., Beiträge zur soziologischen Theorie. Darmstadt, Neuwied, 1973 [1945], S. 31-64, 54. Martens, Wil: Die eine Struktur ist die andere nicht. Über die Struktur unterschiedlicher Systeme, in: Gershoff, Rainer / Kneer, Georg (Hrsg.): Struktur und Ereignis in theorienvergleichender Perspektive. Opladen Wiesbaden1999, S. 263-278, 266.
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chung von wirtschaftsstrafrechtlich relevanten Fällen aus der Privatisierungstätigkeit der Treuhandanstalt gezeigt.108 Einen ersten Zugang zu den Fällen bot eine Analyse der hierzu vorhandenen Akten der Stabsstelle Recht, die treuhandintern Vorwürfe auf ihre strafrechtliche Relevanz überprüfte, ergänzt durch die Analyse staatsanwaltschaftlicher Akten. Im Anschluss wurden qualitative Experteninterviews mit möglichst vielen an der jeweiligen Privatisierung und der späteren strafrechtlichen Ermittlung beteiligten Personen durchgeführt.109 Im Rahmen einer Fallstrukturanalyse wurden die Fälle aus den verschiedenen Perspektiven der Beteiligten und den Ergebnissen der Aktenanalyse rekonstruiert. So konnten aus den Übereinstimmungen und Divergenzen Anhaltspunkte für die im jeweiligen Fall relevanten Strukturen gefunden werden und in einem weiteren Schritt eine vergleichende Kontrastierung zwischen den Fällen durchgeführt werden, die in ihrem Ergebnis verallgemeinerungsfähige Aussagen erlaubte.110 Im Rahmen der Privatisierungen der Treuhandanstalt traten sowohl Unternehmen (Corporate Crime) als auch individuelle Akteure als Täter (Managerkriminalität) in Erscheinung. Es handelt sich hier um grundlegend verschiedene Formen von Kriminalität, die jeweils eigene kriminologische bzw. sozialwissenschaftliche Erklärungsansätze fordern.111 Der vorliegende Beitrag wird sich ausschließlich auf Managerkriminalität beziehen, also auf Fälle, in denen individuelle Akteure im Bestreben ihren eigenen Gewinn zu maximieren, strafrechtlich relevante Handlungen begingen. 112 Managerkriminalität trat im Rahmen der Privatisierungstätigkeit der Treuhandanstalt in zwei Formen auf: Zum einen waren es Mitarbeiter der Treuhandanstalt, die in Ausführung ihrer beruflichen Aufgaben Straftaten begingen, die in einem wirtschaftlichen Kontext standen. Zum anderen waren es Investoren, die sich die strukturellen Bedingungen zu Nutze machten. Die Privatisierungsabläufe in der Treuhandniederlassung Halle waren ein Beispiel dafür, wie sich Managerkriminalität im Rahmen der Privatisierungen äußer-
108 Die Ergebnisse des gesamten Forschungsprojektes finden sich in folgender Publikation: Boers, Klaus / Nelles, Ursula / Theile, Hans (Hrsg.): Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR-Betriebe, Baden-Baden 2010. 109 Tatverdächtiger/Beschuldigter, Polizeibeamte, Staatsanwalt, Verteidiger, Richter, Treuhandmitarbeiter, (konkurrierende) Investoren, Belegschaft und Gewerkschaft 110 Karliczek, Kari-Maria / Boers, Klaus: Qualitative Methoden zur Erhebung der Wirtschaftskriminalität, in: Boers, Klaus / Nelles, Ursula / Theile, Hans (Hrsg.), Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR-Betriebe, Baden-Baden 2010, S. 68-86. 111 Boers, Klaus: Wirtschaftskriminalität: Begriffe, Methoden, empirische Erkenntnisse, Theorien und Forschungsziele. Einführung in die Untersuchung, in: Boers, Klaus / Nelles, Ursula / Theile, Hans (Hrsg.): Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR-Betriebe, Baden-Baden 2010, S. 17-67. 112 Für die Darstellung weiterer Fälle: Karliczek, Kari-Maria: Strukturelle Bedingungen von Wirtschaftskriminalität. Eine empirische Untersuchung am Beispiel der Privatisierung ausgewählter Betriebe der ehemaligen DDR, Münster 2007. S. 81-104.
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te. So oder in ähnlicher Form hätte es wohl in jeder anderen Treuhandniederlassung ebenfalls geschehen können. Mitarbeiter der Treuhandanstalt Halle erwarben Unternehmen und Unternehmensteile unter deren eigentlichen Wert und verkauften sie später gewinnbringend weiter. Des Weiteren wurden sowohl durch den Privatisierungsdirektor als auch durch verschiedene Mitarbeiter Bestechungsgelder angenommen und im Gegenzug Unternehmen zu einem sehr niedrigen Preis verkauft. Dabei wurde nicht darauf geachtet, ob der Investor das Unternehmen tatsächlich fortführen oder nur aushöhlen wollte. Wurde ein Kaufpreis vereinbart, der nicht nur symbolisch war, wurde den Investoren die Möglichkeit gegeben, diesen aus den finanziellen Rücklagen der Unternehmen zu bezahlen. Die Treuhandniederlassung Halle hatte als eine der ersten Niederlassungen der Treuhandanstalt alle in ihrem Bereich liegenden Unternehmen privatisiert und schloss ihr operatives Geschäft im September 1992 ab. Kurz darauf tauchten in der Presse erste negative Berichte über die Privatisierungsverläufe sowie über einzelne Investoren auf.113 Im November 1992 wurden Ermittlungen wegen Korruption, Betrug und Untreue bei der Privatisierung von ehemaligen volkseigenen Betrieben gegen den Privatisierungsdirektor, dessen Mitarbeiter und späteren Nachfolger sowie gegen freiberuflich tätige Mitarbeiter (Liquidatoren) der Niederlassung eingeleitet. Im Folgenden werden die Geschehnisse skizziert, die dazu führten. Dem Privatisierungsdirektor der Treuhandniederlassung Halle, ab 1. Januar 1991 in dieser Position, oblag es u. a. die Preise für die zu privatisierenden Unternehmen festzulegen und die abzuschließenden Verträge zu überprüfen. Er beauftragte einen ihm bekannten Rechtsanwalt damit, ihn bei der Privatisierung zu unterstützen. Bei dem Verkauf der Unternehmen sollte dieser „Provisionen“ für die Genehmigung des Vertrages durch den Privatisierungsdirektor von den Käufern verlangen und die Hälfte an den Privatisierungsdirektor weiterleiten. Weitere Mitarbeiter wurden ebenfalls aufgrund privater Kontakte eingestellt und in das Provisionssystem eingeweiht. Auch Käufer wurden nicht selten über private Kontakte gefunden. Auch der Kontakt zu einem Unternehmer aus dem Stuttgarter Raum, dessen Aktivitäten im Raum Halle letztlich den Auslöser für strafrechtliche Ermittlungen waren, kam so zu Stande. Es handelte sich um einen Unternehmer, dessen westdeutsches Unternehmen zu dieser Zeit Liquiditätsschwierigkeiten hatte und dessen wirtschaftliches Engagement zunächst mit der Hoffnung verbunden war, durch eine Verlegung der Produktion in den Osten Deutschlands aufgrund des niedrigen Lohnniveaus und mittels hier gewährter Fördermitteln die finanziellen Engpässe überwinden zu können. Einmal mit der Treuhandniederlassung in Halle ins Geschäft gekommen, kaufte er jedoch immer weitere Unternehmen sowie Grundstücke zu einem symbolischen Preis und zahlte gleichzeitig erhebliche 113 Anlass war eine Pressemitteilung der Treuhandanstalt z. B. Mitteldeutsche Zeitung 21. November 1992: S. 1. Frankfurter Rundschau 23. November 1992: S. 11. Mit Fortschreiten der Ermittlungen erhielt die Berichterstattung der Presse eine Dynamik, die im Sommer 1993 ihren Höhepunkt erreichte.
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Bestechungsgelder, die er dem Barvermögen der gekauften Unternehmen entnahm. Die Privatisierer der Treuhandniederlassung Halle nahmen jedoch nicht nur Bestechungsgelder, sondern bereicherten sich auch direkt aus den zu privatisierenden Unternehmen. So wurde beispielsweise der Geschäftsführer der Omnibusund Nutzfahrzeug Service GmbH dazu gebracht, einem Treuhandmitarbeiter einen Barscheck auszustellen. Der Geschäftsführer ging dabei gutgläubig davon aus, dass das Geld zur Entschuldung des Unternehmens verwendet würde, was aber nicht der Fall war. Vielmehr wurde dieses Geld privat verwendet. Der Geschäftsführer der Freyburger Formkasten GmbH wurde durch Druck dazu veranlasst, Grundstücke des Unternehmens an einen Mitarbeiter der Treuhandniederlassung Halle zu veräußern. Im Rahmen einer weiteren Privatisierung kauften zwei Treuhandmitarbeiter über eine gemeinsam gegründete Firma Anteile an einem Datenverarbeitungsunternehmen (Datenverarbeitungszentrum Halle), welches gute Entwicklungsprognosen hatte. Allein der Wert der Grundstücke und des Barvermögens dieses Unternehmens überstieg den Kaufpreis um das Zehnfache. Später wurden diese Anteile mit hohem Gewinn verkauft. Die hier genannten Vorgänge sollen nur beispielhaft für eine Vielzahl ähnlicher stehen, die sich im Rahmen der Privatisierung der Unternehmen in der Region Halle ereigneten. Viele waren gekennzeichnet davon, dass es personelle Vernetzungen zwischen den Mitarbeitern der Treuhandniederlassung und den Investoren gab. Weitere Angebote von möglichen Investoren wurden in der Regel nicht berücksichtigt und die Unternehmen, als eine weitere Gegenleistung für die bezahlten Bestechungsgelder, vor dem Verkauf entschuldet. Auf eine Mehrerlösklausel114 sowie auf die Vereinbarung von Vertragsstrafen für den Fall, dass Investitions- und Arbeitsplatzzusagen nicht eingehalten werden, wurde verzichtet. Für die Unternehmen bedeutet eine derartige Privatisierung in der Regel, dass ihnen liquide Mittel in Form von Barentnahmen, Beraterhonoraren, Spesenabrechnungen oder Darlehen entzogen und ihre Grundstücke entweder verkauft oder mit einer hohen Grundschuld belastet wurden. Parallel dazu wurde in den meisten Fällen die unternehmerische Tätigkeit auf ein Minimum reduziert und Arbeitsplätze abgebaut. Wollten sich die Geschäftsführer der betroffenen Unternehmen dagegen zur Wehr setzen, wurde ihnen durch die Vertreter der Treuhandniederlassung Halle mit Entlassung gedroht. Erst Ermittlungen gegen den Unternehmer aus dem Stuttgarter Raum, wegen Konkurses seines westdeutschen Unternehmens, führten zu einer Überprüfung der von ihm getätigten Investitionen in den neuen Bundesländern und somit zur Entdeckung der geleisteten Bestechungen sowie der Manipulationen beim Verkauf der ostdeutschen Unternehmen. Die Ermittlungen wurden daraufhin ausgeweitet
114 Sollte innerhalb einer bestimmten Zeit ein Grundstück oder das Unternehmen selbst zu einem höheren Preis weiterverkauft werden, so war ein Teil des Gewinnes an die Treuhandanstalt abzuführen.
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und brachten eine Vielzahl strafrechtlich relevanter Privatisierungsvorgänge ans Licht. Die für diese ersten Ermittlungen zuständige Staatsanwaltschaft Stuttgart stellte recht bald fest, dass ihre Hallenser Kollegen weder die Erfahrungen noch die Sachkompetenz oder die nötigen personellen Ressourcen hatten, um diese Fälle angemessen ermitteln zu können und übernahm deshalb die Ermittlungen aufgrund der Wohnortzuständigkeit (§ 8 Abs. 2 StPO) selbst. Das daraus entstandene Strafverfahren gegen die Hauptbeteiligten endete mit Freiheitsstrafen von 4-5 Jahren. Fragt man nun nach den relevanten Strukturen, kann man feststellen, dass die Vorfälle sowohl durch spezifische treuhandinterne, als auch durch unterschiedliche externe Strukturen begünstigt wurden: Zu den treuhandinternen Strukturen zählte das Primat der schnellen Privatisierung, welches das Erzielen eines möglichst hohen Verkaufspreises oder die wirtschaftliche Sinnhaftigkeit der Privatisierung in den Hintergrund treten ließ. Damit die Privatisierer nicht für Fehler, die im Rahmen der schnell abgewickelten Geschäfte möglich waren, rechtlich und materiell verantwortlich gemacht werden konnten, wurde dem Bundesfinanzminister eine zivilrechtliche Haftungsfreistellung für diesen Personenkreis abgerungen. Die Haftungsfreistellung galt für alle Mitarbeiter einschließlich der leitenden Angestellten. Sie umfasste anfänglich grobe Fahrlässigkeit, wurde später auf leichte Fahrlässigkeit beschränkt und bezog sich nicht auf strafrechtlich relevante Geschehnisse, was aber den meisten Treuhandmitarbeitern nicht bewusst war. Des Weiteren war es die Besetzung der Treuhandniederlassung Halle mit zu wenig und im Wirtschaftsbereich kaum erfahrenen Personal sowie die Rekrutierung von Mitarbeitern über persönliche Kontakte. Die weitgehende Handlungsautonomie der Niederlassungsleiter115 und die Unmöglichkeit der Kontrolle aller Personalentscheidungen durch die Zentrale der Treuhandanstalt führte hier zu problematischen internen Verflechtungen. Man hätte „[…] dem Leiter der Niederlassung zehn Sack Gold und den Ortsnamen gegeben und der hat dann losfahren und Mitarbeiter rekrutieren müssen. Anfangs gab es dafür weder Reglements noch die Möglichkeit, Mitarbeiter und Interessenten im ausreichenden Maß zu kontrollieren“, schildert ein Mitarbeiter der Treuhandanstalt die Situation. Die Niederlassungen wären als weitgehend autonome Einheiten geplant gewesen, die Niederlassungsleiter hätten „sozusagen kleine Rohwedders“ sein sollen und hatten einen erheblichen Gestaltungsspielraum. Möglicherweise, um das Tempo der Privatisierung hoch zu halten, wurden die ab Oktober 1990 gelten Privatisierungsrichtlinien,116 die zumindest Grundregeln für die Privatisierung formulierten, treuhandintern kaum kommuniziert und waren, wie in den Interviews deutlich wurde, ganz offensichtlich nur den wenigsten Mitarbeitern bekannt. 115 Maaßen, Hartmut: Transformation der Treuhandanstalt. Pfadabhängigkeit und Grenzen einer kompetenten Führung, Wiesbaden 2002, S. 155. 116 Karliczek / Theile: Rahmenbedingungen der Arbeit der Treuhandanstalt, S.161 ff.
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Eine interne Kontrolle der Treuhandanstalt, die der Komplexität der Aufgabe angemessen gewesen wäre, gab es zum Zeitpunkt der Privatisierungen in Halle noch nicht. Zwar gab es für Unternehmen ab einer bestimmten Größe Genehmigungsvorschriften,117 jedoch fielen die getätigten Privatisierungen aufgrund der Unternehmensgröße nicht in diesen Bereich. Erst im Frühjahr 1991 begannen die Abteilungen Controlling und Revision sowie die Stabsstelle Recht in der Treuhandzentrale in Berlin mit ihrer Arbeit.118 Eine Kontrolle einzelner Privatisierungsvorgänge in den Niederlassungen erfolgte jedoch nur bei bekannt werden von Unregelmäßigkeiten und das auch nur in dem Maße, wie es die geringen personellen Möglichkeiten zuließen. Die Intensität der internen Ermittlungen war dabei nicht immer gleich hoch. So bat zum Beispiel die Staatsanwaltschaft Halle im Juni 1991 die Stabsstelle Recht der Treuhandanstalt aufgrund einer Strafanzeige um eine Überprüfung eines Privatisierungsvorganges der Niederlassung Halle. Diese leitete die Anfrage an die Rechtsabteilung der Niederlassung weiter. Hier war inzwischen die Lebensgefährtin eines von der Strafanzeige betroffenen Privatisierers tätig und erteilte eine entsprechend unverfängliche Antwort. Die Stabsstelle Recht teilte dann der Staatsanwaltschaft mit, dass die Vorwürfe, wegen derer ermittelt werden sollte, unzutreffend wären. Eine zweite Anfrage der Staatsanwaltschaft Halle an die Stabsstelle Recht der Treuhandanstalt im Januar 1992 – ein erstes Ermittlungsverfahren gegen den Privatisierungsdirektor der Niederlassung Halle war nach einer Strafanzeige bereits eingeleitet – führte zu der Bitte des damaligen Leiters der Stabsstelle Recht, das Verfahren einzustellen, was dann auch geschah. Neben der fehlenden internen Kontrolle, waren es jedoch auch die fehlenden strafrechtlichen Kontrollmöglichkeiten, denen eine große Bedeutung zukam. Selbst wenn die interne Kontrolle der Treuhandanstalt funktioniert hätte, wären strafrechtliche Ermittlungen schwierig gewesen. Sowohl die Möglichkeit der Strafrechtsinstanzen strafrechtlich relevantes Handeln im Bereich der Wirtschaft zu entdecken und zu verfolgen, als auch ihre Möglichkeiten, generalpräventive Wirkungen zu erzielen, waren in den neuen Bundesländern Anfang der 1990er Jahre äußerst bescheiden. Ursächlich sind hierfür zwei Aspekte zu benennen: Zum einen gab es generelle Probleme in der Verfolgung von Wirtschaftskriminalität, die nicht nur in den neuen Bundesländern zu dieser Zeit relevant waren. Zum anderen wies das Strafrechtssystem in den neuen Bundesländern darüber hinaus umbruchsbedingte Besonderheiten auf, die eine angemessene strafrechtliche Kontrolle behinderten: In der DDR oblag die judizielle Überwachung der Einhaltung der Gesetze Juristen, die „dem Volk und seinem sozialistischem Staat treu ergeben“ waren.119 Entsprechend der engen Bindung der Richter und Staatsanwälte an den alten Staat 117 Karliczek: Strukturelle Bedingungen von Wirtschaftskriminalität, S.67 f. 118 Bischoff, Barbara / Wiepen, Thomas: Formelle und informelle soziale Kontrolle im Zusammenhang mit der Privatisierung von DDR-Betrieben, in: Boers / Nelles / Theile (Hrsg.): Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR-Betriebe, Baden-Baden 2010, S. 457-632. 119 Art. 94 Verfassung der DDR.
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konnten nur relativ wenige nach der Wiedervereinigung ihre Tätigkeit fortsetzen. So wurden von den 1.580 Berufsrichtern der ehemaligen DDR lediglich 650 als „Richter auf Probe“ in den Dienst übernommen.120 Diese waren aber wegen ihrer unzureichenden juristischen Qualifikation besonders in den Fachgerichtsbarkeiten nur begrenzt einsetzbar.121 Ähnliches lässt sich für die Staatsanwaltschaften konstatieren. Angesichts dieser Gegebenheiten setzte ein massiver „Juristenimport“ aus den alten Bundesländern ein. Hierbei handelte es sich zum Teil um abgeordnete, also bereits erfahrene Richter und Staatsanwälte, zu einem großen Teil aber auch um Assessoren, die faktisch direkt vom Examen in den Gerichtsalltag kamen. 122 Der erste Leiter der Stabsstelle Recht der Treuhandanstalt, Dr. Richter, wies in einer Vorlage zur Kanzlerrunde 1991 daraufhin, dass seines Erachtens die Strafverfolgungsbehörden in Berlin und den neuen Bundesländern nicht in der Lage seien, Wirtschaftskriminalität wirksam zu bekämpfen.123 Erst im Oktober 1994 wurde mit der Staatsanwaltschaft II am Landgericht Berlin eine Institution geschaffen, die sich ausschließlich mit der im Rahmen des Vereinigungsprozesse anfallenden Kriminalität beschäftigte. Zu ihren Aufgaben gehörte neben der Verfolgung von Straftaten des Ministeriums für Staatssicherheit und Gewalttaten an der innerdeutschen Grenze auch die Verfolgung von vereinigungsbedingter Wirtschaftskriminalität. Diese Sonderstaatsanwaltschaft ermöglichte eine Kompetenzbündelung und aufgrund ihrer Arbeitsweise eine höhere Effizienz, als dies in anderen Staatsanwaltschaften der Fall war.124 Zusammenfassend, auch unter Einbeziehung weiterer hier nicht geschilderter Fälle, kann festgehalten werden, dass es neben dem Bestreben der beteiligten Akteure, für sich selber einen hohen Gewinn zu erwirtschaften, verschiedene Strukturen Kriminalität im Rahmen der Privatisierungsprozesse begünstigte: Zu nennen ist hier zunächst die politisch gewollte schnelle Privatisierung der Unternehmen der ehemaligen DDR und der daraus resultierende hohe Zeitdruck für Geschäftsabschlüsse. Gleichzeitig gab es unzureichende Regelungen innerhalb 120 Die Anzahl der Richter in der DDR lag mit 1 pro 10.000 Einwohner bereits vor der „Ausdünnung“ mittels politischer Überprüfung weit unter der in den alten Bundesländern (2,8 pro 10.000 Einwohner) üblichen. Wollmann, Hellmut: Entwicklung des Verfassungs- und Rechtsstaates in Ostdeutschland als Institutionen und Personaltransfer, in: Wollmann, Hellmut / Derlien, Hans-Ulrich / König, Klaus / Renzsch, Wolfgang / Seibel, Wolfgang (Hrsg.): Transformation der politisch-administrativen Strukturen in Ostdeutschland, Opladen 1997, S. 25-48, 41. 121 Wollmann: Entwicklung des Verfassungs- und Rechtsstaates in Ostdeutschland als Institutionen und Personaltransfer, S. 44. 122 Wollmann: Entwicklung des Verfassungs- und Rechtsstaates in Ostdeutschland als Institutionen und Personaltransfer, S. 45 f. 123 Treuhandanstalt (Hrsg.): Dokumentation Treuhandanstalt 1990-1994, Band 10, 1994, S. 901. In den Kommentierungen der Statistik der Stabsstelle wird ebenfalls auf die Überlastung der Staatsanwaltschaften hingewiesen (a. a. O.: 913, 924). 124 Ausführlich zur Staatsanwaltschaft II: Bischoff / Wiepen: Formelle und informelle soziale Kontrolle im Zusammenhang mit der Privatisierung von DDR-Betrieben, S. 517 ff.
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der Organisation Treuhandanstalt. Den Mitarbeitern der Treuhandanstalt wurde ein Übermaß an Handlungsfreiräumen eingeräumt, solange sie dem „Hauptziel“ der schnellen Privatisierung gerecht wurden. Gleichzeitig gab es innerhalb der Treuhandanstalt keine Instanz, die Vertragsabschlüsse und Vertragseinhaltung in ausreichendem Maße kontrollieren konnte. Eine Entdeckung von Fehlverhalten war somit gering. Das wurde von den handelnden Akteuren auch so wahrgenommen und war maßgeblich für deren Handlungsentscheidungen. Auch eine externe Kontrolle durch die Instanzen der Strafrechtskontrolle war relativ unwahrscheinlich, so dass auch das Strafrecht keine präventive Wirkung für die Privatisierungsabläufe entfalten konnte.
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5.7.2. Wirtschaftskriminalität im Einigungsprozess Von Kai Renken und Werner Jenke Einleitung: Spätestens mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 begann nicht nur der rasche Prozess der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, sondern auch der rasante Verfall staatlicher Autorität in der DDR, der eine ganz besondere Art der Wirtschaftskriminalität ermöglichte, die als so genannte „Vereinigungskriminalität" ein wenig ruhmreiches Kapitel der deutschen Wiedervereinigung darstellt. Bisher kam es hier zwar zu zahlreichen Ermittlungsverfahren, aber nur in einer verschwindend geringen Zahl auch zu Verurteilungen. Beteiligt an dieser besonderen Form der Kriminalität waren jedoch nicht nur altgediente Träger des DDR-„Systems“, die sich das durch den beginnenden Zusammenbruch des Staates Ende 1989 entstehende Machtvakuum zu Nutze gemacht und ihre jeweiligen Insider-Kenntnisse zu ihrem Vorteil genutzt haben. Es waren vor allem „Geschäftemacher“ und „Glücksritter“ aus beiden Teilen Deutschlands, die in dieser Zeit ungeklärter Verhältnisse die Gunst der Stunde nutzten, sehr schnell zu sehr viel Geld zu kommen. Daneben ist hier die „Jedermann“-Kriminalität anzusprechen, unter der Straftaten im Zusammenhang mit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zum 1. Juli 1990 verstanden werden können. Bis Anfang des Jahres 1999 wurden nach Schätzung des Berliner Generalstaatsanwaltes a. D., Christoph Schaefgen, bundesweit nicht weniger als rund 62.000 Ermittlungsverfahren gegen ca. 100.000 Personen im Zusammenhang mit der Regierungs- und der Vereinigungskriminalität geführt.125 Berlin hatte hierbei die Hauptlast mit mehr als 21.000 Ermittlungsverfahren zu tragen. Auf vereinigungsbedingte Wirtschaftsstraftaten entfielen hiervon rund 4.000 Ermittlungsverfahren, von denen bis zum 31. August 1999 insgesamt 180 zur Anklage gebracht werden konnten, die zu 128 rechtskräftigen Verurteilungen führten.126 Ein ähnliches Bild bot sich in den anderen Bundesländern. Darüber hinaus befassen sich unzählige zivil- und verwaltungsgerichtliche Verfahren sowie Verfahren vor dem Bundesamt für Finanzen mit der Rückführung der den eigentlich berechtigten Personen und Institutionen zu Unrecht entzogenen Vermögenswerte. Der verursachte Schaden lässt sich nur schätzen: Die Schätzungen reichen bis zu 26 Milliarden DM.127 Abgrenzung der Regierungs- zur Vereinigungskriminalität: Abzugrenzen ist die Vereinigungskriminalität von der oft mit ihr in unmittelbarem Zusammenhang
125 Schaefgen, Christoph: Zehn Jahre Aufarbeitung des Staatsunrechts in der DDR, in: Neue Justiz, 54 (2000) 1, S. 1. 126 Senatsverwaltung für Justiz des Landes Berlin, Pressemitteilung Nr. 66/99 vom 30. September 1999. 127 Fischer, Dirk: Systemtransformation und Wirtschaftskriminalität, Dissertation, Berlin 1996, S. 52 f.
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genannten Regierungskriminalität, was auf die 1991 gegründete „Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität“, kurz ZERV, zurückzuführen ist. Die Regierungskriminalität umfasst grundsätzlich nur diejenigen Straftaten, die bis Ende 1989 durch die Repräsentanten der früheren Staats- und Parteiführung der DDR begangen wurden, so zum Beispiel die an der innerdeutschen Grenze begangenen Tötungs- und Körperverletzungsdelikte, Wahlfälschungen, Rechtsbeugungen etc. Vereinigungskriminalität im weiteren Sinne hingegen umfasst zunächst diejenigen Wirtschaftsstraftaten, die ihrer Art nach bereits bekannt sind, aber durch die Umfeldbedingungen der wirtschaftlichen Umstrukturierung in den neuen Bundesländern eine ungeahnte Qualität und Quantität erreicht haben. Hierzu zählen Bilanzfälschung, Bilanzverschleierung und Subventionsbetrug – begünstigt durch die seitens der EU, des Bundes und der Länder großzügig verteilten Fördermittel –, vor allem aber auch der so genannte Gründungsschwindel, in dessen Rahmen bei der Unternehmensgründung zur Verfolgung unterschiedlichster Interessen gegenüber dem zuständigen Handelsregister falsche Angaben gemacht wurden. Vereinigungskriminalität im engeren Sinne ist die erst durch die besonderen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Wiedervereinigung ermöglichte Wirtschaftskriminalität, die daher auch als Transformations- oder Umwandlungskriminalität bezeichnet wird.128 An erster Stelle ist hier die „Jedermann“-Kriminalität im Rahmen der Schaffung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen den beiden deutschen Staaten und der damit einhergehenden Einführung der DM in den neuen Bundesländern sowie die unberechtigte Inanspruchnahme des so genannten Transferrubelverfahrens, der so genannte „XTR-Betrug“, bis zum 31. Dezember 1990 zu nennen. Hinzu kommen die durch die alten Funktionsträger im Staats- und Parteiapparat unter Ausnutzung ihrer besonderen Kenntnisse über das Vorhandensein von – oftmals verschleiert gehaltenen – Vermögenswerten begangenen Straftaten („Systemkriminalität“) und schließlich die so genannte Treuhandkriminalität. Bei Letzterer handelt es sich um Straftaten die im Zusammenhang mit der Privatisierung oder Liquidierung der der früheren Treuhandanstalt bzw. ihrer Nachfolgeorganisation übertragenen Unternehmen und sonstigen Vermögenswerten durch Außenstehende, Mitarbeiter oder in kollusivem, d. h. geheimen, betrügerischen Zusammenwirken von Außenstehenden und Mitarbeitern begangen wurden. Währungsumstellungskriminalität: Mit Staatsvertrag vom 18. Mai 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik wurde die Schaffung einer Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit Wirkung zum 1. Juli 1990 vereinbart.129 Signifikante Folge war die Einführung der DM
128 Fischer, Dirk: S. 48, wobei Fischer den Begriff der „Vereinigungskriminalität“ für treffender hält (S. 50). 129 Gesetz zu dem Vertrag vom 18. Mai 1990 über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, Bundesgesetzblatt, Jahrgang 1990, Teil II, S. 518 ff.
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auf dem Gebiet der DDR als alleiniges Zahlungsmittel. Vereinfacht dargestellt gestaltete sich die Einführung der DM wie folgt: DDR-Bürger durften – je nach Lebensalter – bis zu 6.000 M/DDR bei einem Geldinstitut im Verhältnis 1:1 umtauschen; darüber hinausgehende Beträge sowie das Vermögen juristischer Personen und „sonstiger Stellen“ wurden im Verhältnis 2:1 umgetauscht. Für Guthaben außerhalb der DDR ansässiger natürlicher und juristischer Personen galt der für Inländer geltende Umtauschkurs von 2:1 nur dann, wenn das Guthaben bis zum 31. Dezember 1989 begründet worden war; anderenfalls galt ein Umtauschverhältnis von 3:l. Grundsätzlich ausgenommen von der Umstellung waren Guthaben, die unter Verstoß gegen die damaligen DDR-Devisenvorschriften begründet worden waren.130 Verhindert werden sollten damit insbesondere Gewinne aus Schwarzmarktgeschäften am eigentlichen Umtauschkurs von 4,4:1 vorbei. Es bedarf keiner großen Phantasie, um sich vorzustellen, welche Möglichkeiten diese Regelungen vor allem denjenigen boten, die frühzeitig über die erst im Mai 1990 offiziell bekannt gegebenen Umtauschkurse informiert waren. So kam es zum Beispiel innerhalb von Familien zu einer „Umverteilung“ des Familienguthabens, sodass die Höchstbeträge für den Umtausch im Verhältnis 1:1 mehrfach in Anspruch genommen werden konnten. Darüber hinaus kam es zur Übertragung vorhandener, in M/DDR geführter Privatguthaben so genannter Devisenausländer auf im DDR-Inland ansässige Verwandte und Bekannte, um so in den Genuss der Umstellung im Verhältnis 2:1 zu gelangen. Den summenmäßig größten Umfang dürften aber diverse „Darlehensvergaben“ insbesondere westdeutscher Unternehmen an DDR-Unternehmen gehabt haben, die kurz nach der Währungsumstellung wieder zurückgezahlt wurden. Dies hatte seine Ursache darin, dass die „Darlehensbeträge“ auf den Devisenausländerkonten, wie oben dargestellt, im Verhältnis 3:1 umgestellt worden wären, nach dem Transfer auf ein Inländerkonto aber im Verhältnis 2:1 umgestellt wurden. Eine Variante ergab sich in Form der vorübergehenden „Umleitung“ von Kaufpreisen auf die Konten von inländischen Privatpersonen, das heißt, dass Kaufpreise, die eigentlich auf ein Devisenausländerkonto hätten gezahlt werden müssen und dort im Verhältnis 3:1 umgetauscht worden wären, zwischenzeitlich auf das Konto eines Inländers gezahlt und dort geparkt wurden. Nach der Umstellung im Verhältnis 2:1 wurden sie – ggf. nach Abzug einer Provision – an den Devisenausländer weitergeleitet. Grundsätzlich nicht kriminell war „günstiges Zahlungsverhalten“. Dies betraf auch die Begleichung von Verbindlichkeiten, bei denen durch geschicktes Zahlungsverhalten erhebliche Gewinne erzielt wurden.131 Zur Verdeutlichung folgendes Beispiel: Das ostdeutsche Unternehmen A bezog Anfang 1990 Ware von dem westdeutschen Unternehmen B im Wert von 100 Mio. DM, wofür es bei Zahlung vor der Umstellung (Verhältnis 4,4:1) 440 Mio. M/DDR hätte aufwenden müssen. Bei Zahlung nach der Umstellung im Verhältnis 2:1 (= 220 Mio. DM) blieben von 130 Masing, Tobias: Rückforderung rechtswidriger Währungsumstellungsgewinne nach dem Währungsumstellungsfolgengesetz, in: Zeitschrift für Vermögens- und Immobilienrecht, 8 (1998) 11, S. 594. 131 Ebd., S. 596.
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den eigentlich zu verauslagenden 440 Mio. M / DDR sogar noch 120 Mio. DM für das Unternehmen A übrig. Als Reaktion auf das enorme Schadensausmaß im Bereich der Währungsumstellung wurde im Jahre 1993 das so genannte Währungsumstellungsfolgengesetz (WUFG)132 geschaffen. Hiernach ist das Bundesamt für Finanzen (BfF) verpflichtet, rechtswidrige Umstellungen rückwirkend zurückzunehmen und nachträgliche Verzinsung zu verlangen. Das hatte zur Folge, dass das BfF rechtswidrige Umstellungen zurücknehmen musste, also hinsichtlich des „ob“ der Rücknahme keine eigene Entscheidungsgewalt hat bzw. hatte.133 Darüber hinaus sieht das WUFG eine Beweislastumkehr zu Lasten der Betroffenen vor, zumindest soweit das BfF einen ersten Anschein für eine rechtswidrige Kontenumstellung ermitteln konnte.134 Einziger ,,Ausgleich“ hierfür ist der Billigkeitserlass.135. Transferrubel (XTR)-Betrug: Aufs engste mit der Währungsumstellung verknüpft sind die zahlreichen Betrugsfälle im Zusammenhang mit der unberechtigten Inanspruchnahme des Transferrubelverrechnungsverfahrens, die es den Tätern mit Beginn der Währungsunion ermöglichte, „weiche“ Transferrubel in „harte“ DM „umzurubeln“: Der Außenhandel zwischen den Staaten des ehemaligen Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), zu denen auch die DDR gehörte, wurde mangels frei konvertierbarer Währungen der Mitgliedstaaten und mangels Devisen seit den sechziger Jahren auf Basis des „transferablen Rubels“ – kurz: XTR, einer künstlichen Verrechnungseinheit – durchgeführt. Dieser Transferrubel stand im Verhältnis 1:4,67 zur M/DDR. In Moskau war mit der Internationalen Bank für wirtschaftliche Zusammenarbeit (IBWZ) eine Clearingstelle eingerichtet worden, die mit den in den Mitgliedstaaten gebildeten Außenhandelsbanken (in der DDR war dies die Deutsche Außenhandelsbank AG, DABA) die Kaufpreiszahlungen abwickelte.136 Innerhalb des XTR-Verfahrens gab es zwei Abrechnungsmöglichkeiten: das Sofortbezahlungsverfahren und das Vorauskasseverfahren.
Das Sofortbezahlungsverfahren setzte regelmäßig voraus, dass die Ware zum Zeitpunkt der Abrechnung durch die Außenhandelsbank bereits beim Empfänger eingetroffen war. Der Verkäufer reichte dann bei seiner Außenhandelsbank die Vertrags- und Lieferunterlagen ein, die nach einer überschlägigen Prüfung der Dokumente aus ihrem eigenen Vermögen dem Verkäufer den Kaufpreis in M/DDR bzw. später DM gutschrieb und gleichzeitig gegen die IBWZ eine „Forderung“ erhielt, die ihrerseits die Außenhandelsbank des Empfängerlandes „belastete“.
132 Gesetz gegen rechtswidrige Handlungen bei der Währungsumstellung von Mark der DDR in Deutsche Mark vom 24. August 1993, Bundesgesetzblatt 1993, Teil 1, S. 1522 ff. 133 § 2 Abs. 1 WUFG. 134 § 2 Abs. 2 S. 2 WUFG. 135 § 2 Abs. 3 WUFG. 136 Einen guten Überblick über das genaue Verfahren geben Budde, Julius / Flüh, John: Transferrubelgeschäfte und DM-Forderungen, in: Zeitschrift für Wirtschaftsrecht, 13 (1992) 6, S. 369 ff.
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Beim Vorkasseverfahren „beschaffte“ sich der Käufer durch Vorlage der entsprechenden Vertragsunterlagen bei seiner Außenhandelsbank Transferrubel und ließ sie über die Außenhandelsbank des Empfängerlandes dem Verkäufer „zukommen“, sodass dem Verkäufer der Kaufpreis schon vor der Warenlieferung gutgeschrieben werden konnte.
Spätestens mit Einführung der DM in der DDR zum l. Juli 1990 hätte eigentlich die Teilnahme der DDR an diesem Verfahren beendet werden müssen. Eine sofortige Umstellung des Außenhandels der DDR mit ihren östlichen Partnern auf der Basis harter Devisen hätte aber das System des RGW aller Voraussicht nach zusammenbrechen lassen, da in den anderen Mitgliedstaaten nach wie vor Devisen eine Mangelware darstellten.137 Um dies wenigstens für eine Übergangszeit zu verhindern, wurde die Fortführung des Verrechnungsverfahrens bis zum 31. Dezember 1990 vereinbart. Hierfür musste letztlich die Bundesrepublik Deutschland einstehen, die im Zuge der Wiedervereinigung in die vertraglichen Verpflichtungen der DDR im Bereich des Außenhandels eingetreten war.138 Dies ermöglichte es dann, nach dem 1. Juli 1990 Transferrubel im Wege von Scheingeschäften in DM „umzurubeln“. Insbesondere geschah dies durch Einreichung gefälschter Vertrags- und vor allem Lieferpapiere, welche die DABA dann zur Zahlung des Kaufpreises veranlasste, obwohl es zu keiner Warenlieferung gekommen war.139 Auch war der Zugang zum XTR-Verfahren grundsätzlich nur in der DDR ansässigen Betrieben bzw. Unternehmen und auch nur für den Im- und Export von in den RGW-Staaten produzierten Gütern eröffnet. Dies hinderte aber einige „Westbetriebe“ nicht daran, sich Zugang zu diesem System durch Einschaltung eines „Ostbetriebes“ als Strohmann zu verschaffen.140 Ein in der Presse häufig erwähnter Fall ist derjenige eines thüringischen Elektrotechnikers, der immerhin 40 Mio. DM durch Vorlage gefälschter Rechnungen erschlichen hat. Diese wollte er aber nicht selbst gefälscht, sondern von einem Bayern erhalten haben, der mit angeblichen Lieferungen von Benzin, Zigaretten und Reifen nach Ungarn schnellen Gewinn machen wollte. Der Thüringer hat im Rahmen seines Strafverfahrens behauptet, das gesamte umgerubelte Geld dem Bayern abgeliefert zu haben – er wurde im Jahre 1998 zu vier Jahren Haft verurteilt.141
137 Fischer, Dirk: S. 45 f. 138 Art 29 des Einigungsvertrages vorn 31. August 1990 bestimmt, dass die „gewachsenen außenwirtschaftlichen Beziehungen der DDR, insbesondere die bestehenden vertraglichen Verpflichtungen gegenüber den Ländern des RGW, Vertrauensschutz“ genießen. 139 Ein solcher Fall liegt dem Urteil des BGH vom 23. Mai 2000 (5 StR 427/99) zugrunde, in: Zeitschrift für Wirtschaft, Steuern und Strafrecht, (2000) 8, S. 297 f. 140 Ein solcher Fall liegt dem Urteil des BGH vom 18. Februar 1998 (5 StR 682/96) zugrunde, in: Zeitschrift für Wirtschaft, Steuern und Strafrecht, (1998) 5, S. 179 f. 141 Vgl. „40 Millionen Mark nach München verschwunden“, in: Der Tagesspiegel vom 30. September 1999.
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Systemkriminalität: Als weitere Fallgruppe der vereinigungsbedingten Kriminalität sind die Straftaten im Zusammenhang mit der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit, des beim Ministerium für Außenhandel eingerichteten Bereiches „Kommerzielle Koordinierung“ sowie der Auflösung und Umwandlung der SED und anderer Parteien und Massenorganisationen der DDR zu nennen. Diese Kriminalität ist gekennzeichnet durch die besondere Nähe, das Sonderwissen und die zumeist unkontrollierte Verfügungsbefugnis der Täter über die beträchtlichen Vermögenswerte dieser Institutionen im In- und Ausland. Ebenso ist allen drei Vermögenskreisen, die mit dem Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 31. August 1990 im Wesentlichen dem Treuhand-, Finanz- oder Sondervermögen zugeordnet wurden, die konspirative und bewusst intransparente Handhabung der meist in Devisen bestehenden Vermögenswerte durch die zuständigen Stellen der DDRAdministration gemeinsam. Ministerium für Staatssicherheit (MfS): Das in der der DDR gefürchtete und gehasste MfS löste sich nach massiven Protesten aus der Bevölkerung bereits kurz nach dem Jahreswechsel 1989/90 formal auf und wurde zunächst als Amt für nationale Sicherheit weitergeführt. Mitarbeiter dieser im Inland als Repressionsinstrument und im Ausland als Aufklärungs- und Destabilisierungsinstrument benutzten Mielke-Behörde hoben allein im Zeitraum 1. Oktober 1989 bis 30. April 1990 rund 700 Mio. M/DDR in bar bei der Staatsbank der DDR ab.142 Wegen dieser Barabhebungen wurden wegen des Verdachtes der Untreue und Unterschlagung bei den zuständigen Staatsanwaltschaften Anzeigen erstattet, die jedoch sämtlich mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt werden mussten. Die dagegen eingelegte Beschwerde der Treuhandanstalt wurde mit der Begründung verworfen, das von ihr verfolgte Ziel der systematischen Aufbereitung des Geldflusses ohne konkreten Bezug zu jeweils einem bestimmten Ermittlungsverfahren könne nicht Grundlage staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen sein; d. h., die Staatsanwaltschaft dürfe nicht „ins Blaue hinein“ ermitteln. Nach Überprüfung von ca. fünfhunderttausend Buchungsvorgängen von MfS-Konten bei der Staatsbank und den MfS-Sparkassen konnten allerdings keine nennenswerten, insbesondere strafrechtlich relevanten Erkenntnisse gewonnen werden. Der Auslandsspionagedienst der DDR, die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), verfügte für seine „Operativvorgänge“ über Devisenbestände, sogenannte „schwarze Kassen“, über deren Höhe und Verwendung keine abschließende Sicherheit gewonnen werden konnte, da sich dieser Bereich mit Beginn des Jahres 1990 mit Billigung der DDR-Behörden selbst aufgelöst hatte. Anhand einiger Strafverfahren, in denen die Unterschlagung „schwarzer Kassen“ Verfahrensgegenstand war, lassen sich jedoch auf Volumen und Verteilungswege Rückschlüsse ziehen. So wurde beispielsweise der ehemalige Leiter der rückwärtigen Dienste der HVA und Verwalter einer „schwarzen Kasse“ wegen Untreue zu einer Bewährungsstrafe
142 Förster, Andreas: Auf der Spur der Stasi-Millionen, Berlin 1998, S. 119.
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verurteilt, nachdem er 500.000 DM dieses Bestandes zum Teil in Plastiktüten an ehemalige Mitarbeiter weitergereicht hatte. Anhand der vor der Vernichtung bewahrten Unterlagen gewinnt man heute die Erkenntnis, dass Vermögensentziehung in großem Maßstab bereits im Vorfeld der absehbaren Auflösung des MfS geplant und praktiziert wurde. Bereits im Herbst 1989 kursierten Dokumente, welche die Strategie insbesondere hinsichtlich der Verwendung des MfS-Vermögens nach dem Zusammenbruch der DDR festlegten. Danach sollte dieses Vermögen auf systemtreue Politkader verteilt werden, die auch nach vollzogenen politischen Veränderungen politische Standfestigkeit versprachen.143 Nach den Ermittlungen der ZERV wurden allein in Berlin Dutzende von Firmengründungen mit MfS-Geldern finanziert. Der Plan, ehemalige MfS-Mitarbeiter mit entsprechender finanzieller Ausstattung in der Privatwirtschaft anzusiedeln, ging in weiten Bereichen auf.144 Auch die Aufdeckung von Unterschlagungen im Zusammenhang mit MfSGrundstücken gehört in den Bereich der vereinigungsbedingten Kriminalität. In diesen Fällen wurden zahlreiche MfS-Objekte, die im Grundbuch als Privateigentum von existierenden oder fingierten Personen – regelmäßig treue Mitarbeiter des MfS – eingetragen wurden und von denen sich das MfS notarielle Verzichtserklärungen hatte geben lassen, veräußert und der Kaufpreis für sich behalten. Wenigstens ein Teil dieser Grundstücke konnte gefunden werden; hierbei wird es aber wohl auch bleiben, da das vom MfS geführte Verzeichnis aller Verzichtserklärungen verschwunden ist und vermutlich auch bleiben wird. Kriminalität im Bereich der ehemaligen „KoKo“-Unternehmen: Die von dem Bereich Kommerzielle Koordinierung („KoKo“) gehaltenen ca. 223 Unternehmen im In- und Ausland, welche die für die DDR dringend benötigten Devisen mit legalen wie illegalen Geschäften erwirtschafteten und zum Zeitpunkt der Wende über beträchtliche Vermögenswerte verfügten, waren ein besonderes Objekt der Begierde für Spekulanten und Betrüger. Während sich die Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit den Geschäftsaktivitäten des Bereiches KoKo bis zur Flucht seines früheren Leiters Schalck-Golodkowski am 3. Dezember 1989 vorwiegend mit den Verfahrenskomplexen Embargoverstöße, Waffenhandel und Eigenbereicherung von Funktionären zu befassen hatte, standen nach der Wende die vielfältigen kriminellen Vorgehensweisen, die zur Aneignung der nach Artikel 22 des Einigungsvertrages zum Finanzvermögen des Bundes gehörenden Firmenwerte führten, im Vordergrund. Gängigste Methoden waren hier insbesondere die nach § 331 Nr. 1 HGB strafbewehrten Bilanzmanipulationen, die potentielle Käufer im Zusammenwirken oder mit Billigung der Geschäftsführer durchführten und die eine Unterbewertung des Unternehmens oder seiner Anlagen zum Ziel hatten. Bei den anschließenden Verkäufen an befreundete 143 Ebd., S. 10 ff. Krause, Werner H.: Altstalinisten in Schlüsselpositionen in Lauerstellung, in: Zeit-Fragen, (1997) 38, S. 9. 144 Krause, Werner H.: Ebenda, S. 9.
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Dritte oder an sich selbst im Rahmen des so genannten „management buy outs“ stand dann der Kaufpreis in einem eklatanten Missverhältnis zu dem tatsächlichen Unternehmenswert – und er wurde darüber hinaus in den meisten Fällen noch aus den liquiden Mitteln des Unternehmens selbst bezahlt. Dieser gerade in Unternehmen des Bereiches Kommerzielle Koordinierung häufig vorkommende Unterwertverkauf war Gegenstand zahlreicher staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen, und er nimmt bis heute in einigen Großverfahren die Zivilgerichte in Anspruch. Erschwerend sowohl für die Aufklärung als auch für die gerichtliche Beweislage kommt hinzu, dass kurz nach der Wende bis Anfang 1991 insbesondere die werthaltigen Auslandsunternehmen des Bereiches KoKo von der ehemaligen rechten Hand des früheren Leiters Schalck-Golodkowski, Frau Waltraud Lisowski, „abgewickelt“ wurden. Verkäufe der genannten Art wurden hier initiiert, gefördert oder genehmigt. In diesen Zeitraum fallen die meisten Unterwertverkäufe, die weitgehend unkontrolliert von der Treuhandanstalt vonstatten gingen, die diesen komplexen und weitgehend konspirativ geführten Bereich erst ab Ende 1990, und dies nur sukzessive, übernahm. Des Weiteren wurde durch Bilanzmanipulationen der Abfluss von Geldmitteln verschleiert, durch überhöhte Rechnungslegungen oder betrügerische Scheingeschäfte wurden den Unternehmen liquide Mittel entzogen. Gerade bei der zuletzt genannten Variante, deren Schadensausmaß nach heutigen vorsichtigen Schätzungen im dreistelligen Millionenbereich liegt, entwickelte sich eine bedrohliche Allianz westeuropäischer Embargohändler, hoher MfS-Offiziere und Mitarbeiter von KoKo-Unternehmen, die nur die Beiseiteschaffung von Geldmitteln zum Ziel hatte. In diesem Zusammenhang ist auch die Unterschlagung von ganzen Unternehmen oder Unternehmensteilen zu nennen. Hier ging es vor allem um Unternehmen, die von dritten Personen oder Westfirmen treuhänderisch für den Bereich KoKo gehalten wurden und deren Treuhänderschaft nach der Wende nicht der Treuhandanstalt offenbart wurde. Hier sind zum Beispiel die Unternehmen F. C. Gerlach oder die Berag GmbH zu nennen; Letztere wurde trotz einer ausdrücklichen Auflösungsanweisung des ehemaligen kommissarischen Leiters des Bereiches KoKo, Prof. Dr. Gerstenberger, durch den damaligen „Inhaber“ umfirmiert und im eigenen Namen weiterbetrieben.145 Eine weitere Manipulation lag darin, Firmen neu zu gründen und das Vermögen anderer KoKo-Unternehmen auf die Neugründungen zu übertragen. Kriminalität im Bereich der Parteien und Massenorganisationen :Der Bereich Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR weist insofern eine Besonderheit auf, als deren zum Stichtag 7. Oktober 1989 bestehendes Vermögen ab dem 1. Juni 1990 unter treuhänderische Verwaltung zunächst der Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen (UKPV), mit dem Beitritt dann der Treuhandanstalt gestellt wurde. Dies bedeutete, dass Vermögensveränderungen ab diesem Zeitpunkt zu ihrer Wirksamkeit 145 Bericht des 1. Untersuchungsausschusses des 12. Deutschen Bundestages, Textband, Drucksache 12/7600, S. 130 f.
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der Zustimmung durch die UKPV bzw. später der Treuhandanstalt bedurften.146 Hintergrund dieser Regelung war die Befürchtung, dass insbesondere die SED / PDS ihr Vermögen vor einer Enteignung retten wollte, wie dies bereits auf dem außerordentlichen Parteitag vom Dezember 1989 beschlossen und durch eine „Arbeitsgruppe zum Schutz des Vermögens der SED-PDS“ umgesetzt wurde.147 Infolgedessen kam es zu Maßnahmen, die in vielerlei Hinsicht den kriminellen Handlungsmustern in den oben erwähnten Bereichen von MfS und KoKo entsprachen; zu strafrechtlichen Verurteilungen kam es aber auch hier nur in einigen wenigen Fällen. Darüber hinaus kam es mit dem offensichtlichen Ziel der Vermögenssicherung gerade im Bereich der SED / PDS zu zahlreichen – aber nicht strafbaren – Vermögensveränderungen in Höhe von rund 250 Mio. DM unter Verstoß gegen das Erfordernis der Zustimmung der UKPV bzw. der Treuhandanstalt. Bestes Beispiel hierfür ist die (versuchte) Tilgung angeblicher Altschulden der SED gegenüber der KPdSU unter Einbeziehung der sowjetischen Firma Putnik.148 Als einen großen Vorteil für diesen Bereich der Systemkriminalität muss man es bezeichnen, dass der das Vermögen der Parteien und Massenorganisationen verwaltenden Treuhandanstalt neben dem „scharfen Schwert“ des Zustimmungserfordernisses mit dem Sekretariat der UKPV eine Ermittlungsbehörde nur für diesen Bereich zur Seite stand. Treuhandkriminalität: Ein ebenso unrühmliches, aber in Anbetracht der Größe und Komplexität der zu bewältigenden Aufgabe wohl kaum zu vermeidendes Kapitel anlässlich der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwälzungen ist schließlich dasjenige der so genannten Treuhandkriminalität. Hier waren es insbesondere in den Anfangsjahren 1990 bis 1992 fehlende Organisationsstrukturen und damit einhergehend fehlende effektive Kontrollmechanismen und -maßnahmen der Treuhandanstalt (THA), welche die „Arbeit“ der Täter erheblich begünstigten. Häufig sind auch hier die bereits erwähnten Fälle von Bilanzfälschung und Unterwertverkauf, vor allem im Zusammenhang mit nicht betriebsnotwendigen Grundstücken; eine besondere Rolle spielte hierbei auch die Ausnutzung von Insider-Wissen. In einigen Fällen kam es auch zur späteren, von vornherein geplanten systematischen Aushöhlung der übernommenen Unternehmen durch die „Investoren“. Darüber hinaus gab es Fälle von Ausschreibungsbetrug in Verbindung mit Bestechung 146 §§ 20 a, b ParteienG/DDR, die in Verbindung mit den Maßgaberegelungen nach Anlage II, Kapitel II, Abschnitt III des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 fortgelten. Hiernach war nur das nach materiell-rechtsstaatlichen Grundsätzen erworbene Vermögen den Parteien und Massenorganisationen wieder zur Verfügung zu stellen, im Übrigen war es an die früher Berechtigten zurückzugeben bzw. ist es zu gemeinnützigen Zwecken in den neuen Ländern zu verwenden. 147 UKPV, Bericht an den Deutschen Bundestag, Band 2, Vermögen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), S. 11 ff. 148 Die in Moskau domizilierende Firma Putnik stellte fingierte Rechnungen über 107 Mio. DM aus, die seitens der PDS in zwei Teilbeträgen im September und Oktober bezahlt wurden. Die verantwortlich Handelnden wurden letztlich vom Vorwurf der Untreue (zu Lasten der PDS) freigesprochen, da davon auszugehen sei, dass die Mitglieder in Vorstand und Präsidium der Partei über den Vorgang zumindest in groben Zügen unterrichtet gewesen seien.
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(so zum Beispiel die „Ganoven GmbH Halle“).149 Schließlich gehören in diesem Bereich die Fälle von Preisabsprachen im Zusammenhang mit Auftragsvergaben durch die Treuhandanstalt (so zum Beispiel das „Sauna-Kartell“ von Bitterfeld).150 Besonders bedauerlich – weil besonders einfach vermeidbar – sind Fälle mangelnder Überprüfung der Handelspartner der THA, insbesondere in Bezug auf deren Bonität, was manches Mal zu bösen Überraschungen führte. Trotzdem sei nochmals darauf hingewiesen, dass sich im Verhältnis zu Größe und Komplexität der bis heute einmalig gebliebenen Aufgabenstellung der Treuhandanstalt der Umfang der Treuhandkriminalität in einem überschaubaren Rahmen hält. Angesichts der Krassheit mancher Einzelfälle wird und wurde dies schnell und gerne übersehen. Auch liegt eine Ursache manchen Betruges gegenüber der THA sicher in dem Umstand begründet, dass sich die Treuhandanstalt im Regelfall am Ertrags- und nicht am Substanzwert der von ihr zu privatisierenden Unternehmen orientierte. Dieser wiederum war oftmals sehr gering, weil die Unternehmen keine Chance hatten, im Wettbewerb zu bestehen, wenn nicht ein Investor erhebliche Umstrukturierungen vornehmen würde. Dazu waren aber regelmäßig der kostenintensive Abbau von Arbeitsplätzen und der ebenso kostenintensive Austausch veralteter Produktionsanlagen notwendig. Daher kam es mehrfach zu sog. „1-DM-Verkäufen“, die nicht nur Investoren anlockten, die diese Bezeichnung auch wirklich verdienten. Der vielleicht größte Einzelfall und zugleich ein besonders herausragendes Beispiel für eine perfekte Mischung aus Gerissenheit und einem Höchstmaß an krimineller Energie auf der einen Seite und fehlender Kontroll- bzw. Warnmechanismen auf der anderen Seite ist der Fall der Wärmeanlagenbau Berlin GmbH (WBB).151 Anfang 1991 interessierte sich die Deutsche Babcock AG für den einstigen DDRMonopolisten für Heizkraftwerke und Fernwärmeleitungen. Sie schickte daher ihren damaligen Prokuristen, Michael Rottmann, nach Berlin, um die Situation der WBB zu analysieren. Dort angekommen, verbündete sich Rottmann mit den beiden WEB-Geschäftsführern sowie zwei Schweizer Staatsbürgern und malte die wirtschaftliche Situation der WBB so schwarz, dass Babcock das Interesse verlor. Gleichzeitig präsentierte er der Treuhandanstalt einen angeblich solventen Käufer in Gestalt des Schweizer Unternehmens Chematec, welches wohl damals schon hoch verschuldet war und schließlich für zwei Mio. DM die WBB erwarb. Dabei übte sie aber nur eine Strohmannfunktion für Rottmann und seine Mittäter aus. Zum damaligen Zeitpunkt belief sich der tatsächliche Wert der WBB nach Schätzungen auf rund 68 Mio. DM, wobei die WBB über liquide Mittel in Höhe
149 Eine gelungene Darstellung rund um die „Ganoven GmbH Halle“ findet sich bei Jürgs, Michael: Die Treuhänder, München-Leipzig 1997, S. 366 ff. 150 Löblich, Eberhard: Das Saunakartell erschüttert die Vorzeigeregion Bitterfeld, in: Der Tagesspiegel vom 27. September 1997. 151 „Prozess zur Vereinigungskriminalität“, in: Der Tagesspiegel vom 29. März 2000; die dortige Schilderung deckt sich im Wesentlichen mit den Erkenntnissen der ZERV im Jahresbericht 1999, S. 9 ff.
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von rund 150 Mio. DM sowie etliche lukrative Grundstücke verfügte. Bereits unmittelbar nach dem Kauf wechselte Rottmann in die Geschäftsführung der WBB und begann zusammen mit seinen Komplizen, die Guthaben über ein undurchsichtiges Firmengeflecht auf andere Konten zu transferieren, Grundstücke zu veräußern und Hypotheken aufzunehmen. Auf diese Weise sollen Rottmann und Komplizen der WBB insgesamt rund 150 Mio. DM entzogen haben; übrig blieb hingegen ein Schuldenberg in Höhe von 100 Mio. DM. Aber auch Rottmann werden die „abgezweigten“ Gelder auf absehbare Zeit wohl nichts mehr nützen. Nach seiner Flucht im Jahre 1995 wurde er im September 2000 in der Nähe von London verhaftet; nach seiner Überstellung in die Bundesrepublik wartet der Prozess vor dem Landgericht Berlin auf ihn. Ein Mittäter Rottmanns wurde zwischenzeitlich zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt. Ein anderer bemerkenswerter Fall ist der als Markstein der deutsch-indischen Wirtschaftsbeziehungen gefeierte Verkauf der Firmen „Thüringische Faser“ und der „Sächsischen Seide“ an die indischen Brüder Dalmia. Diese erwarben im Herbst des Jahres 1991 über ihre Firma „Twentyfirst Century Oil” (TFC) die beiden Unternehmen zum symbolischen Kaufpreis von je 1,- DM; zugleich garantierten sie die Aufrechterhaltung von mehr als tausend Arbeitsplätzen und Investitionen in Höhe von 150 Mio. DM. Wie sich später herausstellte – und bei einer vorherigen Prüfung schon vor dem Kauf hätte herausstellen können – konnten die Brüder Dalmia deshalb sehr großzügig mit ihren Versprechungen sein, da die TFC über keinen Pfennig Geld verfügte. Nach dem „Kauf“ freuten sie sich nicht nur über die Überweisung einer Starthilfe in Höhe von 40 Mio. DM durch die Treuhandanstalt; besonders freuten sie sich über eine Überweisung der „Thüringischen Faser“ über neun Mio. DM auf ein Konto in Kuala Lumpur.152 Schließlich ist natürlich der Fall „Leuna“ zu erwähnen, also der Verkauf der ostdeutschen Leuna-Raffinerie an den französischen Konzern Elf-Aquitaine im Jahre 1992 und die damit verbundenen Vorwürfe insbesondere der Bestechung/ Bestechlichkeit bis hinein in höchste Staatsämter. Da aber bis zum heutigen Tage keine abschließende (straf-) rechtliche Bewertung der näheren und weiteren Umstände des Verkaufes vorliegt, im Gegenteil immer noch ermittelt wird, muss zum jetzigen Zeitpunkt an dieser Stelle auf eine nähere Betrachtung verzichtet werden.153
152 Darstellung bei Jürgs, Michael: (Anm. 25), S. 353 ff. 153 Aus Politik und Zeitgeschichte B 32-33 / 2001.
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5.8. Die Treuhandanstalt im Bild der Öffentlichkeit. Vor allem die „Bild-Zeitung“, das „Neue Deutschland“, der „Spiegel“, die „tageszeitung“ und die „Superzeitung“ stellten die THA eindeutig negativ dar. Von Hans Mathias Kepplinger unter Mitwirkung von Christian Kolmer154 Einleitung: Die Treuhandanstalt befindet sich im Schnittpunkt verschiedener Interessen, die man auf zwei Achsen lokalisieren kann. Die Enden der einen Achse bilden ihre Geschäftspartner und die Betroffenen im weitesten Sinne – die Alteigentümer, Käufer und neuen Besitzer von Objekten sowie die Mitarbeiter dieser Objekte und ihre soziale Umgebung. Die Enden der anderen Achse bilden staatliche Einrichtungen und die einzelnen Staatsbürger – die involvierten Regierungen, Parlamente, Gerichte – sowie die unbeteiligte Bevölkerung. Die verschiedenen Akteure und Beobachter besitzen nicht unbedingt die gleichen Sichtweisen, und sie handeln nicht notwendigerweise nach den gleichen Maximen. So dürften in vielen Fällen die Investoren und die Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern zumindest kurzfristig entgegengesetzte Interessen haben – die einen z. B. einen Abbau des Personalbestandes, die anderen seine Erhaltung. Selbst wenn ihre Interessen langfristig übereinstimmen, werden sie die notwendigen Maßnahmen u. U. an Hand verschiedener Kriterien bewerten – die einen an Hand von betriebswirtschaftlichen Erfordernissen, die anderen an Hand von wohlfahrtsstaatlichen Erwartungen. Die Folge sind mehr oder weniger massive Konflikte über Entscheidungen zwischen den Beteiligten, die z. T. auch die breitere Öffentlichkeit erreichen. Der bei weitem größte Teil der Bevölkerung kennt die Tätigkeit der THA nur aus der Berichterstattung von Presse, Hörfunk und Fernsehen oder aus Berichten von Bekannten, die ihre Informationen wiederum überwiegend von den Massenmedien haben. Die Massenmedien stellen sozusagen das Scharnier zwischen der Tätigkeit der THA und den Ansichten der Bevölkerung dar. Dabei richten sich einige spezialisierte Blätter an Leser mit ausgeprägten ökonomischen Kenntnissen und Interessen. Andere zielen auf das breite Publikum, das diese Voraussetzungen nicht mitbringt. Damit stellt sich die Frage, aus welcher Perspektive die Medien die Tätigkeit der THA dargestellt haben und welche Urteilsmaßstäbe dabei vermittelt wurden: Dominierte die Sichtweise der Klienten oder der Betroffenen? Wurden die Probleme nach wirtschaftlichen oder sozialen Gesichtspunkten bewertet?155
154 Kepplinger, Hans Mathias unter Mitwirkung von Kolmer, Christian: Die Treuhandanstalt im Bild der Öffentlichkeit, in: Fischer, Wolfram / Hax, Herbert / Schneider, Karl Hans: Treuhandanstalt. Das Unmögliche wagen, Berlin 1993, S. 357-373. 155 Heinrich, Jürgen: Forschungsstand Wirtschaftsjournalismus im deutschsprachigen Raum, in: Siegfried, Klaue (Hrsg.): Marktwirtschaft in der Medienberichterstattung. Wirtschaftsjournalismus und Journalistenausbildung, Düsseldorf u. a. 1991. Kalt, Gero (Hrsg.): Wirtschaft in den Medien. Defizite, Chancen und Grenzen. Eine kritische Bestandsaufnahme, Frankfurt am Main 1990. Deetjen, Gottfried: Industriellenprofile in Massenmedien, Hamburg 1977. Sondergeld, Klaus: Die Wirtschafts- und Sozialberichterstattung in den Fernsehnachrichten, Münster 1983. Klaue, Siegfried (Hrsg.): Marktwirtschaft in der Medienberichterstattung. Wirtschaftsjourna-
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In der vorliegenden Studie werden – pars pro toto – die Themen und Tendenzen der Darstellung der THA in Zeitungen und Zeitschriften untersucht. Dies geschieht zum einen durch drei Fallstudien zur Darstellung von markanten Aktivitäten der THA sowie durch eine systematische Inhaltsanalyse der Berichterstattung über wesentliche Aktivitäten der THA vom 1. Oktober 1990 bis zum 30. September 1992. Parallel dazu werden für den gleichen Zeitraum die Anlässe der Anrufe beim „Bürgertelefon“ der THA analysiert, das Anfragen verschiedenster Art entgegennahm. Diese Anrufe kann man als Indikatoren für die Interessen und Probleme des Personenkreises betrachten, der von den Aktivitäten der THA theoretisch oder praktisch berührt war. Ziel der Untersuchung sind Antworten auf folgende Fragen: (1) Wie haben Zeitungen und Zeitschriften die Liquidation, Sanierung und Privatisierung von drei wichtigen Betrieben dargestellt? (2) Welche Themen standen im Mittelpunkt der Berichterstattung über die Aktivitäten der THA? (3) Wie wurde die Tätigkeit der THA bewertet? (4) Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestanden zwischen der Berichterstattung unterschiedlicher Zeitungen und Zeitschriften? (5) Welche Fragen standen im Mittelpunkt der telefonischen Anfragen bei der THA? (6) Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestanden zwischen den thematischen Interessen der Anrufer bei der THA und den Schwerpunkten der Darstellung ihrer Tätigkeit? 5.8.1. Die Presseresonanz der THA 5.8.1.1. Qualitative Analysen: Fallstudien zur Liquidation, Sanierung und Privatisierung Die Entscheidung der DDR-Regierung, eine staatliche Agentur mit der Privatisierung der vergesellschafteten Betriebe zu betrauen, war von volkswirtschaftlichen Überlegungen bestimmt, weil die Schaffung privaten Eigentums eine Voraussetzung für die Herstellung marktwirtschaftlicher Verhältnisse war. Die operative Tätigkeit der THA wurde dagegen stärker von betriebswirtschaftlichen Konzepten bestimmt. In jedem Einzelfall mußte die THA entscheiden, ob und gegebenenfalls an wen ein Unternehmen zu verkaufen war, ob Finanzmittel für eine vorhergehende Sanierung bereitgestellt werden sollten oder ob der Betrieb zu schließen war. Die lismus und Journalistenausbildung, Düsseldorf u. a. 1991. Schröter, Detlef: Mitteilungs-Adäquanz. Studien zum Fundament eines realitätsgerechten journalistischen Handelns, in: Hans Wagner (Hrsg.): Idee und Wirklichkeit des Journalismus. Festschrift für Heinz Starkulla, München 1988, S. 175-216. Ders.: Qualität im Journalismus. Testfall: Unternehmensberichterstattung in Printmedien, München u. Mühlheim 1992. Ruß-Mohl, Stephan / Stuckmann, Heinz D. (Hrsg.): Wirtschaftsjournalismus. Ein Handbuch für die Ausbildung und Praxis, München u. Leipzig 1991.
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THA war dabei den Einflüssen divergierender Interessen ausgesetzt, so daß die Privatisierungsbemühungen zum Gegenstand heftiger Konflikte werden konnten. An drei Beispielen soll untersucht werden, wie das Bild der THA von der Darstellung der Privatisierungstätigkeit in der Presse geprägt wurde. Für die Untersuchung wurden Unternehmen ausgewählt, die aus Gründen der Tradition oder wegen ihrer Bedeutung für die regionale Wirtschaftsstruktur die Aufmerksamkeit der Presse auf sich zogen. Ein weiteres Kriterium war, daß die Entscheidung über Privatisierung, Sanierung oder Liquidation der Unternehmen umstritten war. Liquidation (Robotron). Das Robotron-Kombinat war in der DDR der einzige Hersteller von mikroelektronischen Geräten, wie z. B. Personalcomputern. Der größte Teil der Produktion, etwa 35-40 %, wurde in die Länder des RGW exportiert. Im Jahre 1989 hatte das Robotron-Stammwerk in Sömmerda 13.800 Mitarbeiter, im Herbst 1990 waren noch 11.000 Arbeitsplätze vorhanden. Während das Robotron-Management in den ersten Monaten nach der Wirtschaftsunion vom Juli 1990 glaubte, die Exporte in die Sowjetunion aufrechterhalten zu können, wurde im Frühjahr 1991 die schlechte Situation des Unternehmens unübersehbar. Ende Juli 1991 beschloß die THA die Schließung des Werkes zum Jahresende. Am 5. Dezember 1991 lief der letzte Computer in Sömmerda vom Band. Über die Entwicklung von Robotron sind im Zeitraum vom 24. Dezember 1989 bis zum 4. Februar 1993 insgesamt 208 Beiträge im Pressearchiv der THA dokumentiert. In der Berichterstattung kann man drei Phasen unterscheiden. In der ersten Phase, die sich vom Dezember 1989 bis zum Juni 1991 erstreckte, berichtete die Presse vorwiegend über betriebswirtschaftliche Aspekte der Entwicklung bei Robotron. Vor allem die westdeutsche Presse befaßte sich mit den Absatzmöglichkeiten des Unternehmens, möglichen Gemeinschaftsunternehmen mit westdeutschen Firmen und der im März 1991 veröffentlichten Bilanz von Robotron. Eine andere Perspektive wies lediglich der Beitrag des „Neuen Deutschlands“ vom 12. Februar 1991 auf. Unter dem Titel „Für den Löwen nun der Gnadenschuß?“ berichtete das Blatt über eine Demonstration der Belegschaft in Erfurt. Die zweite Phase erstreckte sich vom Juni 1991, als erstmals die drohende Liquidation und Massenentlassungen thematisiert wurden, bis zum Jahresende 1991. In diesem Zeitraum berichtete die ostdeutsche Presse stärker über Robotron als westdeutsche Zeitungen. Gleichzeitig zeigten sich inhaltliche Unterschiede in der Berichterstattung zwischen west- und ostdeutschen Blättern. Die Mehrzahl der westdeutschen Zeitungen stellte weiterhin die ökonomischen Ursachen der Entlassungen und der Robotron-Schließung in den Mittelpunkt ihrer Darstellung. Demgegenüber wandten sich ostdeutsche Blätter, wie das „Neue Deutschland“, die „Tribüne“, die „Junge Welt“, aber auch die „Frankfurter Rundschau“ und die „tageszeitung“ stärker den negativen Folgen der Liquidation für die Robotron-Mitarbeiter und den Protesten der Belegschaft gegen die THA und die Betriebsleitung zu. Im September 1991 prägten Demonstrationen von Robotron-Beschäftigten in Berlin und Erfurt die Berichterstattung der Presse. Die westdeutschen Zeitungen schilderten die Proteste vor dem Hintergrund der aussichtslosen wirtschaftlichen Lage des Unternehmens als Randereignis. In diesen Beiträgen erschien die THA
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nicht als verantwortlich für die Schließung des Werkes. Das „Neue Deutschland", die „Tribüne“ und die „Junge Welt“ machten dagegen die THA für die negativen Folgen für die Belegschaft und die Region verantwortlich. Einen Höhepunkt fand die Kritik an der THA in einem Beitrag der „Jungen Welt“ vom 25. Oktober 1991, die der THA eine gezielte Vernichtung von Robotron vorwarf: Die THA habe das Unternehmen im Auftrag der westlichen Konkurrenz geschlossen und wolle nun die „Filetstücke“ westdeutschen Unternehmern zuschanzen. Gegen die Schließung von Robotron führten ostdeutsche Blätter und Berliner Regionalzeitungen vor allem das sozialpolitische Argument der Verhinderung von Massenarbeitslosigkeit an. THA-Vorstandsmitglied Klinz begründete dagegen die Entscheidung der Behörde nach dem Bericht der „Welt“ vom 21. September 1991 mit dem betriebswirtschaftlichen Argument, zur Schließung des „schwerkranken“ Unternehmens gebe es keine Alternative. Argumente, mit denen die Erhaltung des Werkes im Hinblick auf seine Bedeutung für die ostdeutsche Volkswirtschaft insgesamt gefordert wurde, erschienen dagegen nur selten in der Presse. Allein die Rolle von Robotron für die regionale Wirtschaftsstruktur und die Gefahr der Dequalifikation des ostdeutschen Arbeitskräfteangebotes kamen in diesem Zusammenhang zur Sprache. Ein Beispiel ist ein Kommentar der „Berliner Zeitung“ vom 5. September 1991, in dem der Autor den Erhalt von Robotron forderte, um die Kosten für einen Wiedereinstieg in „Hochtechnologie-Bereiche“ niedrig zu halten. Im September berichtete die Presse im Zusammenhang mit Robotron auch über Forderungen der Gewerkschaften und der SPD-Opposition nach einer „aktiven Strukturpolitik“. An das Beispiel Robotron anknüpfend, verlangte SPD-Geschäftsführer Blessing nach dem Bericht der „Frankfurter Rundschau“ vom 19. September 1991, die THA solle sich verstärkt der Sanierung ostdeutscher Betriebe zuwenden. In der dritten Phase, nach der Schließung des Büromaschinenwerkes und den vielbeachteten Protesten, wandte sich die Presse wieder stärker betriebswirtschaftlichen Faktoren zu. Lediglich ein Fünftel der Beiträge berichtete von Protesten gegen die THA. Die Regionalpresse in Sachsen befaßte sich intensiv mit dem Schicksal weiterer Robotron-Tochterbetriebe, von denen viele von der Schließung bedroht waren. Dabei wurden auch die Geschicke unbedeutender Betriebe mit wenigen Mitarbeitern ausgiebig thematisiert. In diesen Beiträgen wurde die Rolle der THA durchgehend negativ dargestellt. Positive Entwicklungen, wie z. B. die Privatisierung der Robotron-Tochter Comped im Januar 1993, fanden vor allem in der westdeutschen Presse Beachtung Diese Vorgänge wurden jedoch im Gegensatz zu negativen Entwicklungen nicht der Tätigkeit der THA zugerechnet. Das Lob der Presse galt den privaten Investoren, die teilweise in ausführlichen Beiträgen vorgestellt wurden. Sanierung (Orwo). Orwo ist der Markenname der Produkte aus der Filmfabrik Wolfen. Das namhafte photochemische Unternehmen im Chemiegebiet Halle-Bitterfeld-Wolfen beschäftigte vor der Wende 15.000 Arbeitskräfte. Im Kombinat Wolfen, einem früheren Standort der IG Farben, wurden u. a. Viskosefasern und Zellwolle hergestellt. Nach Ansicht der THA war allein die Filmproduktion sanie-
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rungsfähig. Zu diesem Zweck hat die THA im März 1992 80 Mill. DM bereitgestellt. Haupthindernis für die Privatisierung waren immense Umweltschäden, zu deren Beseitigung sich kein Investor bereitfand. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich vom 24. Juni 1991 bis zum 6. Dezember 1992. Die Berichterstattung über Orwo war vorwiegend betriebswirtschaftlich ausgerichtet. Das Unternehmen stellte konkurrenzfähige Produkte her. Dementsprechend befaßte sich beinahe ein Drittel von 64 untersuchten Beiträgen mit Produkten der Firma, u. a. einem neuen Farbfilm, der 1991 auf den Markt gebracht wurde. Hauptgegenstand der Berichterstattung waren das Sanierungskonzept und die Umstrukturierung der Filmfabrik. Nachdem die THA den Betrieb für sanierungsfähig erklärt hatte, entließ das Unternehmen im September 1991 7.200 Mitarbeiter. Über diese Entlassungen berichteten lediglich ostdeutsche Zeitungen, ohne daß dieser Vorgang bewertet wurde. Die „Junge Welt“ verbreitete jedoch am 27. September 1991, daß Orwo-Filme verschwinden würden. Das „Neue Deutschland“ zitierte am selben Tage den stellvertretenden PDS-Vorsitzenden Brie, der hinter der Entscheidung den Einfluß der westdeutschen Orwo-Konkurrenz vermutete. Die THA wurde in diesem Zusammenhang zwar erwähnt, jedoch nicht negativ dargestellt. Von Februar bis August 1992 befaßte sich die Presse vorwiegend mit dem Entscheidungsprozeß der THA zur Sanierung der Filmfabrik. Dabei stellte die überregionale Presse die verschiedenen Sanierungskonzepte und die von der THA befürwortete Umstrukturierung in eine Vermögensverwaltung für die teilweise unverkäuflichen Liegenschaften und eine davon getrennte Gesellschaft für die Produktion von Photomaterial in den Mittelpunkt. Der Schwerpunkt der Berichterstattung lag auf dem Entwicklungspotential und den Absatzchancen von Orwo. Die Tätigkeit der THA fand nur am Rande Beachtung. Lediglich das „Handelsblatt“ stellte am 12. März 1992 die umfangreiche finanzielle Unterstützung des Betriebes durch die THA in den Mittelpunkt eines Artikels über die Genehmigung der Sanierung durch den THA-Vorstand. Anschuldigungen des Betriebsrates gegen die THA gab die Presse, vor allem in Sachsen, im erwähnten Zeitraum breiten Raum. Im Zentrum stand der Vorwurf, die THA zögere die endgültige Entscheidung über das Unternehmen bewußt hinaus. Auch habe die Treuhandanstalt im Rahmen von Verkaufsverhandlungen Konkurrenten von Orwo Zugang zu Kundenlisten ermöglicht. Als die THA im Mai die Entscheidung zur Sanierung bestätigte, stellte dies vor allem die ostdeutsche Presse als einen Sieg dar, den die Belegschaft der Behörde abgerungen habe. Im letzten halben Jahr des Untersuchungszeitraumes lag der Schwerpunkt auf den neuen Produkten und den Absatzchancen von Orwo. Aus Anlaß der Photokina erschienen im September 1992 sechs Beiträge in ost- und westdeutschen Blättern. In der Berichterstattung kontrastierte die positive Darstellung des Unternehmens und seiner Produkte mit der negativen Schilderung der THA. So erwähnte die „Junge Welt“ in ihrem Messebericht am 19. September 1992 die Kritik der Geschäftsführung, die der THA mangelnde öffentliche Unterstützung vorgeworfen hatte. In den meisten Beiträgen wurde die THA jedoch nicht genannt. In der Dar-
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stellung sowohl der überregionalen als auch der regionalen ostdeutschen Presse erschien Orwo als eigenständiges Unternehmen, das seinen Erfolg auf den Auslandsmärkten allein eigener Leistung verdankte. Privatisierung (Sächsische Edelstahlwerke Freital). Die Sächsischen Edelstahlwerke Freital waren in der DDR der Hauptanbieter von Spezialstählen. Neun Zehntel der Produktion wurden von den ostdeutschen Kraftfahrzeugherstellern abgenommen. Nach der Wirtschaftsunion stand das Unternehmen deshalb vor schweren Problemen. Im März 1992 erklärte die THA, für das Stahlwerk sei kein Privatisierungskonzept zu finden. Sie habe aber die Hoffnung, einzelne Betriebsteile veräußern zu können. Gegen diese Absichten wehrte sich die Belegschaft im September 1992 mit Betriebsbesetzungen und einer Blockade des Dresdner Flughafens. Den Beschäftigten gelang es, den sächsischen Ministerpräsidenten Biedenkopf für ihre Sache zu gewinnen. Die THA rückte von ihrem Beschluß zur Liquidation ab und genehmigte zum Jahresende 1992 den Verkauf an ein mittelständisches westdeutsches Unternehmen. Die Berichterstattung über das Edelstahlwerk wurde von den Protestaktionen der Belegschaft beherrscht. Der Untersuchungszeitraum erstreckte sich vom 28. Mai 1991 bis zum 18. Januar 1993. Der eigentliche Zeitraum der Auseinandersetzung umfaßte allerdings nur die Zeit zwischen dem 22. März und dem 2. Oktober 1992. In diesem Zeitraum erschienen 158 von 168 dokumentierten Beiträgen, während sich aus den Jahren 1990 und 1991 nur ein Beitrag fand. In diesem wurde das Stahlwerk nur am Rande erwähnt. Schwerpunkt der Berichterstattung war die Besetzung des Flughafens. Sie umfaßte 41 Beiträge. Im Zeitraum zwischen März 1992, als die Schließungsabsicht der THA durch die „Neue Zeit“ verbreitet wurde, und der Flughafenbesetzung Mitte September 1992 schilderte die Presse die Entwicklung in Freital überwiegend als einen Konflikt zwischen der Belegschaft und der THA. Überregionale ostdeutsche Zeitungen und die Regionalpresse in Sachsen berichteten im April 1992 ausführlich über die Betriebsbesetzung, mit der die Belegschaft für das Weiterbestehen ihres Werkes demonstrierte. In Westdeutschland griff die „Frankfurter Rundschau“ das Thema auf. Das „Handelsblatt“ berichtete dagegen in einer Meldung über die Aufschiebung der Liquidation durch die THA und ließ die Betriebsbesetzung unerwähnt. Der Höhepunkt des Konfliktes zwischen THA und Stahlwerkern lag im September 1992. Als Reaktion auf den Beschluß der THA, das Werk zu schließen, besetzten die Freitaler Stahlwerker am 16. September 1992 für mehrere Stunden den Dresdner Flughafen. Die Vorgänge fanden in der Presse eine breite Beachtung. Straßenverkaufszeitungen wie „Bild“ und „Dresdner Morgenpost“ machten mit der Flughafenbesetzung auf und berichteten in Reportagen und Hintergrundartikeln über die Blockade. Eine besondere Bedeutung gewann die Besetzung durch die als „zufällig“ bezeichnete Anwesenheit von Ministerpräsident Biedenkopf. Zwölf der 41 Beiträge, hauptsächlich in der Dresdner Lokalpresse, aber auch in „Bild“, stellten Biedenkopfs Rede vor den Demonstranten in den Mittelpunkt ihrer Berichterstattung. Nach Darstellung der „Dresdner Morgenpost“ erhob Biedenkopf schwere Angriffe gegen die THA und versprach den Stahlwerkern die Rettung von Freital.
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Laut „Junger Welt“ vom 17. September gipfelten seine Vorwürfe gegen die THA in den Worten, die Entscheidung zur Schließung sei eine Beleidigung für denkende Menschen. Am folgenden Tag reagierte die THA auf die Vorgänge mit einer Rücknahme ihres Schließungsbeschlusses. Ein zweiter Schwerpunkt der Berichterstattung über Freital lag in der Darstellung des Konfliktes zwischen THA und sächsischer Staatsregierung um die Anschubfinanzierung zur Sanierung des Edelstahlwerkes. In einem Gastbeitrag in der „Leipziger Volkszeitung“ forderte Ministerpräsident Biedenkopf am 26. September, die THA aus dem Verantwortungsbereich des Finanzministers zu lösen und der Behörde die Sanierung „strukturbestimmender Unternehmen“ zur Aufgabe zu machen. Gleichzeitig bemühte er sich um eine „Aussöhnung“ mit der THA, indem er davor warnte, pauschale Vorwürfe gegen die Behörde zu erheben. In der Darstellung der Boulevardpresse und der Regionalpresse in Ostdeutschland erschien die Treuhandanstalt als Widersacher der Stahlarbeiter. Ihre Stillegungspolitik wurde als Ursache der Krise des Edelstahlwerkes geschildert. Ein Beispiel ist die „Bild“-Schlagzeile vom 8. September: „Treuhand will Stahl-Werk in Freital plattwalzen“. Ökonomische Argumente traten dabei in den Hintergrund. Statt dessen warfen „Bild“, „Neues Deutschland“ und die Regionalpresse in Sachsen der THA vor, sie vernichte die ostdeutsche Stahlindustrie im Dienste westdeutscher Konzerne. Am 10. September stellte die „Dresdner Morgenpost“ die Frage: „Edelstahl aus Freital – von West-Konkurrenten abserviert?“ Die Auseinandersetzung um die Anschubfinanzierung zog sich noch einen weiteren Monat hin. Lediglich die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und die „Neue Zeit“ meldeten, daß sich der Freistaat Sachsen bereit erklärt hatte, die Finanzierung zu übernehmen. Seit dem Ende der Kontroverse um das Stahlwerk ist die Region Freital wieder aus der Presseberichterstattung verschwunden. Obwohl das Stahlwerk zum 1. Januar 1993 privatisiert worden ist, fand sich lediglich in der „Sächsischen Zeitung“ vom 18. Januar ein Beitrag über die wirtschaftliche Situation des Unternehmens. Nachdem die THA von ihrem Entschluß zur Liquidation abgerückt war, kam es zu einer intensiveren Diskussion um den Auftrag der THA. Die Mehrzahl der Zeitungen in Ost- und Westdeutschland griff dabei die Argumente der Landesregierung und der Gewerkschaften auf, die einen Wechsel der THA zu aktiver Sanierungspolitik sowie die Gründung einer Staatsholding, die alle sanierungsfähigen Betriebe umfassen sollte, forderten. Lediglich die „Welt“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ sowie die Wirtschaftspresse brachten auch Argumente gegen die Erhaltung des Werkes, wie z. B. die Störung der Selbststeuerung des Marktes durch die Subventionierung unproduktiver Betriebe. Zusammenfassend kann man feststellen, daß die Berichterstattung der Presse über die Privatisierung von der Darstellung der Konflikte zwischen Belegschaften und THA beherrscht wurde. Im Einzelfall stand das Schicksal der Entlassenen im Blickpunkt, ihre Proteste zogen das Interesse der Medien auf sich. Die Tatsache von Massenentlassungen an sich wurde in der Berichterstattung nicht immer nega-
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tiv dargestellt. So wurden Entlassungen, die im Rahmen von Sanierungsmaßnahmen erfolgten, kaum kritisiert. Kam es jedoch zu Protesten, wenn ostdeutsche Betriebe aufgelöst werden sollten, gab die Presse den Anschuldigungen gegen die THA großen Raum. Die Rolle der THA bei der Privatisierung wurde in der Berichterstattung über die einzelnen Betriebe vor allem bei negativen Vorgängen herausgestellt. Die Verantwortung für diese Entwicklungen wurde häufig der THA zugeschrieben. Im Falle positiver Entwicklungen berichteten die Zeitungen vor allem über neue Investoren, über Sanierungskonzepte, Produkte und ihre Aussichten am Markt. Die THA wurde hierbei kaum erwähnt, das Geschehen nicht ihr, sondern anderen zugerechnet. In der Berichterstattung über die Privatisierung wurden die ökonomischen Ursachen der ostdeutschen Strukturkrise und die volkswirtschaftlichen Umstände, die das Handeln der THA bestimmten, wenig berücksichtigt. Im Einzelfall lag der Schwerpunkt der Berichterstattung weniger auf dem gesamtwirtschaftlichen Nutzen der Privatisierung, sondern auf den einzelwirtschaftlichen Nachteilen, die die Belegschaften und die Kommunen in Ostdeutschland trafen. 5.8.1.2. Quantitative Analysen: Themen und Tendenzen der Berichterstattung Von den 19 untersuchten Blättern (Tab. 1) sind im Pressearchiv der THA vom 1. Oktober 1990 bis zum 30. September 1992 insgesamt 3.190 Beiträge über die Grundsatzdiskussion um die Privatisierung, die Rechtsgrundlagen für die Tätigkeit der THA, über den Vorrang konkurrierender Ziele für die THA, über die Person des Präsidenten bzw. der Präsidentin, den Aufbau und die Organisation sowie über die Verkaufspolitik der THA dokumentiert. Daneben sind weitere 419 Beiträge über die ostdeutsche Wirtschaft allgemein gesammelt worden, in denen die THA Erwähnung fand. Die meisten Beiträge erschienen in den überregionalen Abonnementzeitungen, zu denen man auch das „Handelsblatt“ rechnen kann. Allerdings gab es zwischen den überregionalen Abonnementzeitungen erhebliche Unterschiede in der Intensität der Berichterstattung. Während sich das „Handelsblatt“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ sehr häufig mit der Thematik befaßten, gingen die „Frankfurter Rundschau“, das „Neue Deutschland“ und vor allem die „tageszeitung“ nur relativ selten darauf ein.156
156 Für die quantitative Analyse der Presseberichte wurde ein Codebuch entwickelt, das in wesentlichen Teilen dem für die Untersuchung des Bürgertelefons entwickelten Codebuch (vgl. Anm. 4) entsprach, allerdings an einigen Stellen darüber hinausging. Dadurch konnten beide Teilstudien miteinander verknüpft, aber auch Fragen behandelt werden, die keinen Eingang in die Protokolle des Bürgertelefons gefunden haben. Die Presseberichte wurden anhand des thematisch geordneten Pressearchivs der THA erfaßt. Dies ermöglichte einen relativ leichten Zugriff auf eine große Zahl von Artikeln, setzten der Analyse jedoch Grenzen, weil aufgrund der Archivierung der Beiträge keine Aussagen über die Gesamtberichterstattung einzelner Blätter möglich waren. Die Auswahl der untersuchten Blätter war an zwei Gesichtspunkten orientiert. Zum einen sollten die Blätter unterschiedliche Zeitungs- und Zeitschriftentypen repräsentieren.
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Die Wirtschaftspresse berichtete – mit Ausnahme des „Handelsblattes“ – erstaunlich selten über die Diskussion um die genannten Ziele und Aufgaben der THA sowie über die rechtlichen Grundlagen ihrer Arbeit. Dies gilt für die „Börsenzeitung“ und die „Wirtschaftswoche“, trifft jedoch vor allem für das „Manager Magazin“ und „Capital“ zu, die sich mit der Thematik seltener befaßten als z. B. „Die Zeit“ und der „Spiegel“. Auch die drei Berliner Blätter lassen deutliche Unterschiede in der Gewichtung der Thematik erkennen. Der „Tagesspiegel“ brachte viele Beiträge. Relativ wenige Beiträge und vor allem nur wenig Raum widmete die „Berliner Morgenpost“ der Thematik. Die meisten Blätter charakterisierten die THA alles in allem leicht negativ. Der empirische Gesamtmittelwert der Darstellung betrug – bei einem theoretischen Wert von 3,0-3,3. Vor allem die „Bild-Zeitung“, das „Neue Deutschland“, der „Spiegel“, die „tageszeitung“ und die „Superzeitung“ stellten die THA eindeutig negativ dar. Dagegen berichteten „Capital“, „Handelsblatt“ und „Wirtschaftswoche“ sowie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und „Die Welt“ ausgewogen oder leicht positiv (Tab. 1). Die sehr negative Darstellung der Treuhandanstalt im „Neuen Deutschland“ wird nur noch von der „Bild-Zeitung“ übertroffen.
Zum anderen sollten sie eine Mindestmenge von Beiträgen zu den verschiedenen Themen publiziert haben. Aufgrund einer Vorstudie wurden acht überregionale Abonnementzeitungen (darunter zwei Wirtschaftszeitungen), zwei Straßenverkaufszeitungen, drei regionale Abonnementzeitungen, drei Wochenblätter und drei Wirtschaftsmagazine für die Analyse ausgewählt. Untersucht wurden alle Artikel, die zu den unten genauer vorgestellten Themen vom 28. November 1989 bis zum 30. September 1992 archiviert wurden. Der Zeitraum bis zur deutschen Vereinigung wurde in die Analyse einbezogen, um Aussagen über die Entstehung der THA machen zu können. Er wird jedoch, um die Darstellung zu vereinfachen, hier nicht berücksichtigt, zumal das Thema auch kaum behandelt wurde.
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Tabelle 1: Anzahl und Umfang der erfaßten Berichte sowie Tenor der Darstellung der THA
Ausgewertete Zeitungen und Zeitschriften Wirtschaftspresse Handelsblatt Börsenzeitung Wirtschaftswoche Capital Manager Magazin Summe / Durchschnitt Überregionale Abonnementzeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung Welt Süddeutsche Zeitung Frankfurter Rundschau tageszeitung (taz) Neues Deutschland Summe / Durchschnitt Wochenpresse Zeit Spiegel Stern Summe / Durchschnitt Regionale Abonnementzeitungen Berliner Zeitung Tagesspiegel Berliner Morgenpost Summe / Durchschnitt Straßenverkaufszeitungen Bild Superzeitung Summe / Durchschnitt Gesamtsumme / Durchschnitt
Anzahl der Beiträge
Umfang in Zeilen (standardisiert)
Tenor X
514 76 88 8 15
46.253 7.725 13.151 2.094 5.453
3,0 2,9 3,2 2,8 3,1
701 401 330 281 249 47 293 1.601
74.676
3,0
35.253 27.861 27.623 27.691 3.709 19.133 141.270
2,9 2,9 3,1 3,3 3,7 4,0 3,3
24 56 3 83
4.891 15.801 381 21.073
3,2 3,7 3,5 3,5
352 476 348 1.176
25.369 26.235 18.615 70.219
3,3 3,2 3,1 3,2
23 25 48 3.609
1.318 741 2.059 309.297
4,2 3,4 3,8 3,3
Anm.: Die Ausprägungen des Tenors der Darstellung reichen von 1 (eindeutig positiv) bis 5 (eindeutig negativ)
Den Schwerpunkt der untersuchten Berichterstattung bildete die Verkaufspolitik der THA. Auf sie entfielen allein 1.446 der 3.609 erfaßten Artikel. Dabei dominierten zwei Themen, die Privatisierung und die Sanierung von Unternehmen. Im Vergleich dazu spielten die Reprivatisierung und die Liquidation nur eine untergeordnete Rolle. Dieser Befund muß allerdings relativiert werden: Unabhängig von konkreten Vorhaben der THA gab es in der Presse eine umfangreiche Grundsatzdiskussion um die Privatisierung. Zusammen mit der Diskussion anhand konkreter Pläne der THA beherrschte damit die Privatisierung die Berichterstattung.
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Ebenso bemerkenswert wie die Schwerpunkte sind einige Schwachstellen der Berichterstattung. Die Bewältigung der Altlasten, die Kommunalisierung von Sachwerten, die Auftragsvergabe an THA-Unternehmen und einige andere Themen wurden in den untersuchten Beiträgen nur wenig beachtet. Möglicherweise waren diese Themen Gegenstände anderer Beiträge, die hier nicht erfaßt werden konnten. Eine andere Möglichkeit besteht darin, daß die genannten Sachverhalte generell nur eine geringe Beachtung fanden. Die THA wurde bei der Behandlung der verschiedenen Themen unterschiedlich charakterisiert. Überwiegend positiv war ihre Darstellung im Kontext von Beiträgen über grundsätzliche Fragen der Privatisierung sowie über konkrete Privatisierungsmaßnahmen. Überwiegend negativ war ihre Darstellung im Kontext von Beiträgen über die Reprivatisierung, die Sanierung und die Liquidation von Unternehmen. Dies bestätigt und ergänzt die Ergebnisse der Fallstudien. Überwiegend negativ wurde die THA auch im Zusammenhang mit der immer wieder aufflackernden Diskussion um den Vorrang konkurrierender Ziele der THA sowie der allgemeinen Wirtschaftslage in Ostdeutschland dargestellt. Dies ist u. a. darauf zurückzuführen, daß die THA für die schlechte wirtschaftliche Situation mitverantwortlich gemacht wurde (Tab. 2). Die untersuchten Zeitungen und Zeitschriften befassen sich generell mehr oder weniger intensiv mit Wirtschaftsfragen. Neben der Wirtschaftspresse im engeren Sinn, die vorrangig oder ausschließlich über diese Thematik berichtet, stehen die überregionalen Abonnementzeitungen, deren Wirtschaftsressorts hohes Ansehen genießen, die Wochenpresse mit ihrer umfangreichen Hintergrundberichterstattung, die Regionalpresse mit regelmäßigen Wirtschaftsteilen sowie die Straßenverkaufszeitungen mit eher punktuellen Beiträgen zu Wirtschaftsfragen. Die Blätter besitzen mit anderen Worten einen unterschiedlichen Grad der Spezialisierung und damit eine unterschiedliche Themenkompetenz. Damit stellen sich zwei Fragen: Erstens, setzten die spezialisierten Blätter mit entsprechend hoher Themenkompetenz die gleichen oder andere Schwerpunkte als Blätter, die nur gelegentlich über Wirtschaftsfragen berichteten, und zweitens, erhielt die Masse der Bevölkerung das gleiche Bild von der Tätigkeit der THA wie die an Wirtschaftsfragen speziell interessierte Leserschaft der Fachblätter – oder wurden sie aus einer anderen Perspektive über andere Sachverhalte informiert?157
157 Schröter, Detlef: Mitteilungs-Adäquanz. Studien zum Fundament eines realitätsgerechten journalistischen Handelns, in: Wagner, Hans (Hrsg.): Idee und Wirklichkeit des Journalismus. Festschrift für Heinz Starkulla, München 1988, S.175 -216. Ders.: Qualität im Journalismus. Testfall: Unternehmensberichterstattung in Printmedien, München u. Mühlheim 1992.
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Tabelle 2: Hauptthemen der Berichterstattung und Tenor der Darstellung der THA in bezug auf das Hauptthema Hauptthemen
Anzahl der Beiträge 255 197 163 62 570
Umfang in Zeilen 24.167 19.408 17.026 6.327 52.386
36 837 322 120 131
3.511 58.198 26.050 8.415 8.408
3,6 2,9 3,3 3,3 3,1
Summe / Durchschnitt Verkaufspolitik Sonstiges Altlasten Beschäftigungsgesellschaften Verkauf von Sondervermögen Kommunalisierung Auftragsvergabe an THA- Unternehmen Räume für Weiterbildung Ostdeutsche Wirtschaft allgemein Anderes
1.446 10 38 54 32
104.537 851 2.494 3.375 2.075
3,2 3,0 3,3 3,4 3,4
9 3
415 62
2,8 3,3
419 351
52.020 39.029
3,4 3,1
Gesamtsumme / Durchschnitt
3.609
324.217
3,2
Grundsatzdiskussion um die Privatisierung Rechtliche Grundlagen der THA Vorrang konkurrierender Ziele für die THA Person des Präsidenten der THA Aufbau und Arbeitsweise der THA Verkaufspolitik der THA Reprivatisierung Privatisierung Sanierung Liquidation Verkaufspolitik, Anderes
Tenor X 2.9 3,1 3,4 3,0 3,3
Anm.: Die Ausprägungen des Tenors der Darstellung reichen von 1 (eindeutig positiv) bis 5 (eindeutig negativ)
Die Antwort auf beide Fragen fällt, wie man aufgrund der drei Fallstudien vermuten kann, eindeutig aus: Die Blätter mit ausgeprägter Wirtschaftskompetenz setzten in ihrer Berichterstattung über die THA deutlich andere Schwerpunkte als die anderen Blätter. Besonders deutlich wird dies bei einem Vergleich zwischen den Extremen, der Wirtschaftspresse auf der einen und den Straßenverkaufszeitungen auf der anderen Seite. So berichtete die Wirtschaftspresse wesentlich intensiver als die Straßenverkaufszeitungen über die Grundsatzdiskussion um die Privatisierung ehemals staatlicher Betriebe, die rechtlichen Grundlagen der THA und den Vorrang konkurrierender Ziele. Andererseits befaßte sich die Straßenverkaufspresse erheblich intensiver mit der Person des Präsidenten / der Präsidentin sowie mit dem Aufbau und der Arbeitsweise der THA. Im einen Fall ging es vorrangig um die abstrakten Prinzipien, im anderen Fall um die konkreten Personen und Organisationen. Eine besondere Rolle spielten die regionalen Abonnementzeitungen. Auch dies war aufgrund der Fallstudien zu vermuten. Sie befaßten sich intensiver als alle anderen Zeitungstypen mit der Verkaufspolitik der THA und hier wiederum vor allem
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mit der Privatisierung. Dieser Sachverhalt dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, daß im Erscheinungsgebiet der Blätter relativ viele Menschen von Privatisierungsmaßnahmen betroffen waren oder sein konnten. Bemerkenswert ist schließlich, daß sich die Wochenpresse relativ intensiv mit der allgemeinen Lage der ostdeutschen Wirtschaft befaßte. Hierbei ging es um strukturelle Probleme, die dem eher ereignisübergreifenden Charakter der Wochenpresse entsprechen (Tab. 3). Tabelle 3: Schwerpunkte der Berichterstattung in Blättern mit mehr oder weniger ausgeprägter Wirtschaftskompetenz in Zeilen Themenschwerpunkte
Wirtschaftspresse n= 79.798 in %
Grundsatzdiskussion um Privatisierung Rechtl. Grundlagen Vorrang konkurr. Ziele Person des Präsidenten Aufbau u. Arbeitsweise Verkaufspolitik Reprivatisierung Privatisierung Sanierung Liquidation Sonstiges Summe Verkaufspolitik Sonstiges Altlasten Beschäftigungsges. Sondervermögen Kommunalisierung Auftragsvergabe Räume für Weiterbildung Ostdeutsche Wirtschaft allgemein Anderes Summe
Überregionale Abonnementzeitungen n= 145.452 in %
Wochenpresse n= 21.181 in %
Regionale Abonnementzeitungen n= 74.667 in %
Straßenverkaufszeitungen n= 3.119 in %
9,8 8,4 7,0 0,9 12,5
6,8 6,1 5,4 2,0 17,8
7,4 6,0 2,9 4,9 28,8
6,5 3,3 3,8 1,8 12,7
3,0 0,9 3,4 9,5 30,8
1,3 16,3 8,8 2,7 2,8 31,9
1,1 15,9 8,2 2,2 2,1 29,5
0,9 9,1 4,1 2,5 1,1 17,7
0,8 26,6 8,3 3,4 4,0 43,1
--4,7 2,9 1,9 1,1 10,6
0,5 0,7 0,1 1,2 0,1 0,1
0,2 0,7 1,1 0,5 0,1 ---
------0,2 -----
0,1 1,3 2,2 0,6 0,2