Einführung in die Theologie Martin Luthers 3534251318, 9783534251315

Die Bedeutung Martin Luthers erstreckt sich weit über Theologie und Kirche hinaus in die Bereiche von Kultur, Politik un

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German Pages [151] Year 2013

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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
1. Einleitung
1.1 Methodische Probleme der Lutherdeutung
1.2 Zum Stand der Lutherforschung.
1.3 Literatur zum Lutherstudium
1.3.1 Quellen
1.3.2 Hilfsmittel und Sekundärliteratur
2. Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung
2.1 Studium und Eintritt ins Kloster
2.2 Der Streit um die Datierung des reformatorischen Durchbruchs
2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen
2.3.1 Die Kritik an der überlieferten Schriftlehre
a) Die Umbildung der Lehre vom vierfachen Schriftsinn in Luthers frühen Vorlesungen
b) Die doppelte Klarheit der Schrift
c) Bibel und Kirchenväter – Luthers Kritik an der scholastischen Theologie
2.3.2 Die Kritik an der Bußlehre
a) Das mittelalterliche Bußverständnis
b) Luthers Bußverständnis und seine Voraussetzungen im Sündenbegriff
c) Luthers Begriff des Gewissens
2.3.3 Iustitia Dei beim frühen Luther
2.4 Der Bruch mit der Papstkirche
2.5 Die Entfaltung der reformatorischen Theologie
3. Luthers Gottesanschauung
3.1 Gotteserkenntnis und Glaubensgerechtigkeit
3.2 Theologia crucis
3.3 Die verborgene Verborgenheit Gottes
4. Das Christusbild Luthers
4.1 Jesus Christus, mein Herr
4.2 Communicatio Idiomatum – Die neue Sprache des Glaubens
5. Persona facit opera, non opera personam – Glaube und Werk
5.1 Gesetz und Evangelium
5.2 Die Rechtfertigung als Definition des Menschen
5.3 Libertas christiana und servum arbitrium
5.4 Die guten Werke
6. Das Kirchenverständnis
6.1 Sichtbare und verborgene Kirche
6.2 Kirche als Gemeinde
6.3 Die Sakramente
a) Taufe
b) Abendmahl
6.4 Geistliches und weltliches Regiment
7. Die Eschatologie
7.1 Tod und jüngstes Gericht
7.2 Das Ende aller Dinge
Literatur
Personenregister
Sachregister
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Einführung in die Theologie Martin Luthers
 3534251318, 9783534251315

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Christian Danz

Einführung in die Theologie Martin Luthers

Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Abbildung: Symbolische Darstellung der Durchbrechung des mittelalterlichen Weltbildes, 1888. Aus: Camille Flammarion: L’atmosphère, et la météorologie populaire, Paris 1888. i akg-images.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. i 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVIS, Bickenbach Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-25131-5 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-72958-6 eBook (epub): 978-3-534-72959-3

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Methodische Probleme der Lutherdeutung . 1.2 Zum Stand der Lutherforschung . . . . . . . . 1.3 Literatur zum Lutherstudium. . . . . . . . . . 1.3.1 Quellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Hilfsmittel und Sekundärliteratur. . .

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2. Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Studium und Eintritt ins Kloster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Der Streit um die Datierung des reformatorischen Durchbruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Die Kritik an der überlieferten Schriftlehre . . . . . . . . a) Die Umbildung der Lehre vom vierfachen Schriftsinn in Luthers frühen Vorlesungen . . . . . . . b) Die doppelte Klarheit der Schrift . . . . . . . . . . . . c) Bibel und Kirchenväter – Luthers Kritik an der scholastischen Theologie. . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Die Kritik an der Bußlehre. . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das mittelalterliche Bußverständnis . . . . . . . . . . b) Luthers Bußverständnis und seine Voraussetzungen im Sündenbegriff. . . . . . . . . . . c) Luthers Begriff des Gewissens . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Iustitia Dei beim frühen Luther . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Der Bruch mit der Papstkirche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Die Entfaltung der reformatorischen Theologie. . . . . . . . . . 3. Luthers Gottesanschauung . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Gotteserkenntnis und Glaubensgerechtigkeit. 3.2 Theologia crucis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die verborgene Verborgenheit Gottes . . . . .

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4. Das Christusbild Luthers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Jesus Christus, mein Herr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Communicatio Idiomatum – Die neue Sprache des Glaubens .

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5. Persona facit opera, non opera personam – Glaube und Werk. . . . 5.1 Gesetz und Evangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung

5.2 Die Rechtfertigung als Definition des Menschen . . . . . . . . 5.3 Libertas christiana und servum arbitrium . . . . . . . . . . . . . 5.4 Die guten Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Das Kirchenverständnis . . . . . . . . . . . 6.1 Sichtbare und verborgene Kirche . . 6.2 Kirche als Gemeinde . . . . . . . . . . 6.3 Die Sakramente . . . . . . . . . . . . . a) Taufe. . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abendmahl. . . . . . . . . . . . . . 6.4 Geistliches und weltliches Regiment

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7. Die Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Tod und jüngstes Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Das Ende aller Dinge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Die Theologie Martin Luthers stellt zweifellos für den Protestantismus einen fundamentalen Bezugspunkt dar. Deren Bedeutung erstreckt sich indes nicht allein auf die protestantische Frömmigkeit, sondern die Reformation ist eines derjenigen geschichtlichen Ereignisse mit weitreichenden kulturellen Folgen. Der Band Einführung in die Theologie Martin Luthers erkundet grundlegende Themen und Fragestellungen des Reformators sowohl vor dem Hintergrund der werkgeschichtlichen Entwicklung seiner Theologie als auch in einer systematischen Perspektive. Ausgehend von Luthers neuem Verständnis des christlichen Glaubens werden die Herausbildung und Ausgestaltung seines theologischen Denkens dargestellt und zentrale Themenstellungen wie seine Gottesanschauung, sein Christusbild oder sein Verständnis des Menschen beleuchtet. Danken möchte ich an erster Stelle meiner Frau Uta-Marina Danz. Ohne ihre vielfältige Unterstützung und Hilfe wäre der vorliegende Band nicht zustande gekommen. Mein Dank gilt Herrn stud. theol. Alexander Schubach (Wien) für seine Korrekturarbeiten und die Erstellung der Register sowie der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft für die Aufnahme dieses Bandes in ihr Verlagsprogramm und die äußerst konstruktive Zusammenarbeit. Wien, im Februar 2013

Christian Danz

1. Einleitung 1.1 Methodische Probleme der Lutherdeutung Hegels Reformationsdeutung

Ernst Troeltsch

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) hatte in seinen zwischen 1822 und 1831 mehrfach gehaltenen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie in der Reformation und in der Gestalt Martin Luthers die „Hauptrevolution“ erblickt, in der „aus der unendlichen Entzweiung […] der Geist zum Bewußtsein der Versöhnung seiner selbst kam“ ([68], S. 128). Die Reformation ist das weltgeschichtliche Datum, mit dem das Zeitalter der Subjektivität und der Freiheit des Individuums anhebt ([68], S. 130f.; [59]), auch die Gestalt Luthers trägt für Hegel durch und durch die Züge der Neuzeit, welche das dunkle Mittelalter weit hinter sich lässt. Eine solche Deutung des Reformators – der er selbst Vorschub geleistet hat – findet sich freilich nicht nur bei Hegel, sie ist geradezu signifikant für den Protestantismus des 19. Jahrhunderts ([76], S. 11–32). Den Beginn der Moderne machten protestantische Intellektuelle an der Reformation fest, so dass sie ihre eigene Gegenwart in unmittelbarer Kontinuität mit der Reformation sehen konnten. Differenzierter fällt das Urteil von Ernst Troeltsch (1865–1923) zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus. In seiner großen Studie über Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit von 1906 unterscheidet er zwischen dem Alt- und dem Neuprotestantismus und ordnet sowohl Luther als auch den Protestantismus des 16. und 17. Jahrhunderts dem Mittelalter zu. Die Neuzeit beginnt Troeltsch zufolge erst mit der Aufklärung und sei – entgegen allem Pathos, mit dem protestantische Theoretiker die Moderne als unmittelbare Folge der Reformation herausstellen –, jedenfalls was die Reformation betrifft, eine Wirkung wider Willen gewesen. Die Stiefkinder der Reformation, die Täufer und Spiritualisten, von den Reformationskirchen in die neue Welt vertrieben und von dort rückwirkend auf die alte Welt, haben die Aufklärung hervorgebracht und mit ihr eine völlig neue Form des Protestantismus und seiner Theologie ([93], S. 268). Der Neuprotestantismus steht Spiritualisten wie Sebastian Franck (1499–1542/43) näher als Luther, welcher für Troeltsch noch völlig in die mittelalterliche Einheitskultur gehört ([92], S. 193). Die Deutung und geistesgeschichtliche Einordnung Luthers ist – wie die genannten Beispiele zeigen – äußerst kontrovers und vor allem voraussetzungsreich. Das betrifft zum Beispiel schon die umstrittene Frage nach dem sogenannten reformatorischen Durchbruch Luthers, also dem Zeitpunkt, an dem er zu seiner neuen Deutung des Christentums durchgedrungen ist. War Luther bereits 1514 evangelisch, wie die sogenannten Frühdatierer behaupten, oder ist seine grundlegende Entdeckung erst 1518 anzusetzen, so dass er noch katholisch war, als er am 31. Oktober 1517 die 95 Thesen an die Tür der Schlosskapelle in Wittenberg hämmerte? Sowohl für die Früh- als auch für die Spätdatierung der reformatorischen Entdeckung gibt es gute Argumente. Ihre Plausibilität und Überzeugungskraft hängt indes davon ab, was

1.1 Methodische Probleme der Lutherdeutung

man genauer unter ,reformatorisch‘ versteht. Je nach dem Vorverständnis fällt dann auch die Datierung des reformatorischen Durchbruchs aus. Schon hier wird ein methodisches Problem der Deutung der Theologie Luthers sichtbar, welches keineswegs nur die Frage nach dem Zeitpunkt der reformatorischen Wende betrifft. Es tangiert ebenso die geistesgeschichtliche Einordnung der Reformation im Ganzen als auch den Werdegang Luthers sowie die Interpretation seiner Theologie insgesamt ([71], S. 468–543; [76]). Luther selbst hat seine Theologie nicht in Form eines theologischen Kompendiums oder gar einer Dogmatik vorgelegt. Seine Schriften sind fast ausschließlich Gelegenheitsschriften und verdanken sich jeweils konkreten Anlässen. In den zahllosen Debatten, in denen Luther zur Feder greift, verschiebt und verändert sich naturgemäß auch seine eigene Position. Schon die frühen Vorlesungen repräsentieren eine äußerst komplexe Entwicklung, die anschaulich macht, wie der junge Wittenberger Professor um eine eigene Position ringt. In den innerreformatorischen Streitigkeiten der 1520er und 1530er Jahre unterliegt seine Haltung gegenüber bestimmten Themen einem Wandel. Hiermit ist das methodische Folgeproblem verbunden, wie die Theologie Luthers am sinnvollsten dargestellt werden kann. Zwei Möglichkeiten werden in der Lutherforschung hauptsächlich in den Blick genommen: die systematisch-theologische und die historisch-genetische Darstellung der Theologie Luthers [82]. Nimmt man Gesamtdarstellungen des Werkes des Reformators zur Hand, dann stellt man fest, dass systematisch-theologische Rekonstruktionen überwiegen. Bereits die erste große Deutung von Luthers Theologie aus dem 19. Jahrhundert von Theodosius Harnack (1816–1889) mit dem Titel Luthers Theologie mit besonderer Beziehung auf seine Versöhnungs- und Erlösungslehre, die 1862–1886 erschien, ist systematisch-theologisch aufgebaut [32]. Sie war ungemein folgenreich. Die Theologie Luthers wird von Harnack in Form einer Dogmatik dargestellt: die verstreuten und in unterschiedlichen Debattenkontexten stehenden Äußerungen des Wittenberger Theologen werden den entsprechenden Locis der Dogmatik zugeordnet. Im 20. Jahrhundert wurde dieses Verfahren von Erich Seeberg (1888–1945) [43], Friedrich Gogarten (1887–1967) [31] und Paul Althaus (1888–1966) angewandt [26]. Althaus beispielsweise setzt in seiner Theologie Martin Luthers mit dem Problem der Gotteserkenntnis ein, also mit einem klassischen Thema der Prolegomena der Dogmatik und geht dann zu der materialen Dogmatik über, indem er von der Gotteslehre über Anthropologie, Christologie, Ekklesiologie bis hin zur Eschatologie Luthers Aussagen einordnet und systematisiert. Bei dem systematischen Darstellungsverfahren von Luthers Theologie wird allerdings nicht nur eine gegenwärtige Anordnung des dogmatischen Stoffes auf Luther übergestülpt, sondern auch die werkgeschichtliche Entwicklung von dessen Denken ausgeblendet. Emanuel Hirsch (1888–1972) bemerkt in seiner Besprechung von Erich Seebergs 1940 erschienener Schrift Grundzüge der Theologie Luthers nicht zu Unrecht [42], „eine Darstellung von Luthers Theologie als ein gegliedertes Ganzes“ sei eine Aufgabe, die bisher – Seeberg nicht ausgenommen – „noch keinem geglückt ist“ ([70], S. 218). Im Gegensatz zur systematisch-theologischen Darstellung der Theologie des Reformators ist die historisch-genetische werkgeschichtlich orientiert.

Systematischtheologische Darstellungen

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1. Einleitung Historischgenetische Darstellungen

Die Entwicklung des Denkens von Luther wird in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt und auf eine systematische Zusammenschau verzichtet. Einem solchen werkgeschichtlichen Verfahren sind die Lutherstudien Karl Holls (1866–1926) und Emanuel Hirschs ([230]; [135]; [175]) verpflichtet. Holl führt in seinem Buch Luther von 1921 Einzelaspekte von Luthers Theologie in einer an den Quellen ausgewiesenen genetischen Perspektive vor [71]. Martin Brecht (geb. 1932) hat es in seiner großen dreibändigen Lutherbiographie unternommen, die Entwicklung des Reformators von den Anfängen bis zur Entfaltung des reformatorischen Programms in einem breiten geistesgeschichtlichen und politisch-gesellschaftlichen Rahmen nachzuzeichnen [23]. Man muss allerdings sagen, auch eine werkgeschichtliche und biographische Darstellung des Werkes des Reformators kommt nicht ohne steuernde Kategorien aus. Die Einheit eines Werkes oder einer Biographie, das zeigen zum Beispiel die Ausführungen von Brecht, liegt nicht einfach vor, sondern sie ist in einem hohen Maße eine Konstruktion, deren Einheitsprinzipien alles andere als selbstverständlich sind. Man braucht nur eine ältere katholische Lutherbiographie neben die von Brecht zu legen, um zu sehen, wie die eigenen Interessen die Anordnung und Interpretation des historischen Stoffes prägen. An den oben bereits erwähnten höchst unterschiedlichen Einordnungen der Reformation durch Hegel und Troeltsch wurde das in Frage stehende Problem bereits sichtbar. Weder eine Darstellung der Theologie Luthers noch die von anderen historischen Begebenheiten und Ereignissen kann gegenwartsbezogene Interessen ausschalten. Der Versuch, das vergangene Geschehen so nachzuzeichnen, wie es wirklich gewesen ist, stellt eine Abstraktion dar, die verkennt, dass man sich geschichtlichen Gestalten nur aus der jeweils eigenen Gegenwart zuwenden kann. Lutherdarstellungen sind gegenwärtige Konstruktionen, die freilich an dessen Texten und an der geistes- und religionsgeschichtlichen Entwicklung überprüft werden müssen und selbst schon in der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des Reformators stehen ([57]; [90]). Um den methodischen Schwierigkeiten einer angemessenen Rekonstruktion der Theologie Luthers Rechnung zu tragen, hatte Bernhard Lohse (1928–1997) den Versuch unternommen, die werkgeschichtliche Entwicklung des Denkens des Reformators mit einer systematischen Zusammenschau der Hauptpunkte von dessen Theologie zu verzahnen ([37]; [82]). Im ersten Teil seiner Studie geht er der Entwicklung des Wittenberger Theologen im Horizont wichtiger zeitgenössischer theologischer Traditionen, grundlegender Stationen seines Werdegangs sowie den Kontroversen nach, die für die Herausbildung von dessen theologischem Denken relevant waren. Der systematischen Zusammenschau von Luthers Theologie ist der zweite Teil gewidmet. Er ist an dem Aufbau einer theologischen Dogmatik orientiert. Die vorliegende Einführung in die Theologie des Reformators stellt zunächst Grundzüge seines Denkens in einer werkgeschichtlichen Perspektive dar und entfaltet sodann vor diesem Hintergrund dessen zentrale Themenfelder. Auf eine systematische Zusammenschau von Luthers Theologie wird verzichtet, auch wenn mit dem Bußgedanken sowie der theologia crucis (Kreuzestheologie) Motive benannt werden, denen eine Schlüsselfunktion für sein theologisches Denken zukommen.

1.2 Zum Stand der Lutherforschung

1.2 Zum Stand der Lutherforschung Die Interpretationen der Theologie des Reformators sowie seines Werdegangs sind immer ein Ausdruck der jeweiligen Zeit, in der sie geschrieben wurden. Insofern spiegeln sie auch ausnahmslos zeitgenössische theologische Optionen wider ([96], S. 1–3; [54]; [91]). Das ist indes nicht überraschend, als die Auseinandersetzungen mit der Gestalt des Reformators in einem hohen Maße der Selbstverständigung des Protestantismus über seine eigene Identität dient. Auch da, wo wie bei Troeltsch der Abstand zwischen der Zeit Luthers und der eigenen Gegenwart in den Vordergrund rückt, geht es um das Selbstverständnis des Protestantismus. In der lutherischen Theologie des 16. und 17. Jahrhunderts ist der Wittenberger Reformator zwar die zentrale Bezugsgestalt, aber zu einer historischen Erforschung seines Werkes kommt es freilich noch nicht ([49]; [85]). Erste Ansätze hierzu bilden sich im Jahrhundert der Aufklärung heraus. Der Hallenser Theologe Johann Salomo Semler (1725–1791) unterscheidet zwischen Luther und der altprotestantischen Theologie und knüpft auf der Grundlage seiner historischen Theologie an das Schriftverständnis des Reformators an [87]. Geradezu im Sinne eines Vorreiters der Aufklärung bezieht sich Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) auf den Wittenberger. Er habe die Menschheit vom Joch der Tradition befreit, nun müsse es aber darum gehen, „uns von dem unerträglichern Joche des Buchstabens“ zu erlösen. „Wer bringt uns endlich ein Christentum, wie du es itzt lehren würdest; wie Christus es selbst lehren würde!“ ([79], S. 442) Im Streit um seine Versöhnungslehre beruft sich der Erlanger Theologe Johann Christian Konrad von Hofmann (1810–1877) gegenüber seinen Widersachern ausdrücklich auf Unterschiede zwischen Luther und dem Altprotestantismus ([88], S. 685–692). Damit wird von ihm methodisch die Differenz zwischen dem Wittenberger Reformator und seinen Nachfolgern in die Debatte eingeführt. Die Lutherdarstellung von Theodosius Harnack, welche die Versöhnungslehre in den Fokus rückt, wendet sich gegen von Hofmann. Eine Deutung der Theologie des Reformators, welche zwischen diesem und dem dogmatischen Lehrbegriff seiner Epigonen unterscheidet, arbeitet der Göttinger Theologe Albrecht Ritschl (1822–1889) in seinem Hauptwerk Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung aus [48]. Ambivalent fällt das Urteil Adolf von Harnacks (1851–1930) in seiner Dogmengeschichte aus. Zwar habe der Wittenberger Reformator ähnlich wie zuvor Augustin (354–430) die Innerlichkeit in der Religion (wieder)entdeckt, aber zugleich das dogmatische Christentum der Alten Kirche wiederbelebt. „Derselbe Mann, der das Evangelium von Jesu Christo aus dem Kirchenthum und dem Moralismus befreit hat, hat seine Geltung in den Formen der altkatholischen Theologie verstärkt, ja diesen Formen nach Jahrhunderte langer Quiescirung erst wieder Sinn und Bedeutung für den Glauben verliehen.“ ([67], S. 814; [94]; [47]) Als Begründer der Lutherforschung im eigentlichen Sinne darf der Berliner Kirchenhistoriker Karl Holl gelten. 1921 legte er unter dem Titel Luther eine Sammlung von Aufsätzen über die Theologie des Reformators vor, die eine breite Wirkung erzielte und nach wie vor zu den Standardwerken der Forschung gehört ([71]; [95]). Die gedankliche Dichte von Holls Lutherbuch

Anfänge der Lutherforschung

Karl Holl

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1. Einleitung

Holl-Schule

Lutherforschung nach dem Zweiten Weltkrieg

resultiert aus einer Verknüpfung von historischer Rekonstruktion und systematischem Interesse. Die Rückbesinnung auf Luther dient der Steuerung der eigenen, als krisenhaft erfahrenen Gegenwart. Holls Studien sind in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Zunächst arbeitet er die systematische Problemstellung Luthers heraus. Im Zentrum der Theologie des Wittenberger Reformators steht die Rechtfertigungslehre. Mit hoher methodischer Präzision rekonstruiert der Berliner Kirchenhistoriker das Werden von Luthers Verständnis der Rechtfertigung des Menschen durch Gott anhand der frühen Texte, insbesondere der frühen Vorlesungen. Dabei verknüpft Holl in seiner Deutung der Rechtfertigungslehre Luthers eine Erfahrungsdimension mit einer theozentrischen Perspektive. Der Mensch erfährt sich als der Gemeinschaft mit Gott völlig unwürdig. Dass Gott aber den Menschen anerkennt und Gemeinschaft mit ihm stiftet, ist die Erfahrung der Rechtfertigung. Der Ort des Gottesverhältnisses ist für Holl das Gewissen des Menschen. Luthers Religion sei deshalb, wie Holl der Theologie des 20. Jahrhunderts einschärfte, in ihrem Kern eine sittlich bestimmte Gewissensreligion ([71], S. 1–110). Für seine Deutung der Theologie des Reformators kommen Holl zwei wichtige Ergebnisse der vorangegangenen Forschung zugute: Einmal die seit 1883 erscheinende kritische Gesamtausgabe der Werke Luthers. Durch die Weimarer Ausgabe erhielt die Lutherforschung eine methodischen Standards genügende Textgrundlage. Zweitens wurden Luthers frühe Vorlesungen erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt. Seine Römerbriefvorlesung von 1515/16 veröffentlichte Johannes Ficker (1861–1944) im Jahre 1908 [13]. Der Forschung wurden dadurch Texte zugänglich, die in den früheren Jahrhunderten unbekannt waren und die es nun erlaubten, die Entwicklung der Theologie Luthers von seinen Anfängen an zu rekonstruieren. Holl ist der erste, der die neuen Quellen auswertet und zur Deutung von dessen Theologie heranzieht. Die weitere Lutherforschung hat der Berliner Kirchenhistoriker entscheidend geprägt und die Themen vorgegeben, die im 20. Jahrhundert bearbeitet wurden. In den Untersuchungen von Holl und seinen zahlreichen Schülern – Emanuel Hirsch, Hanns Rückert (1901–1974), Heinrich Bornkamm (1901–1977) ([55]; [56]) – trat für die Folgezeit der junge Luther in den Mittelpunkt des Interesses [22]. Zahlreiche Studien zu dessen Theologie und zu der Frage des reformatorischen Durchbruchs erschienen in den 1920er und 1930er Jahren, so zum Beispiel die Untersuchung Die Anfänge von Luthers Christologie nach der 1. Psalmenvorlesung des Hirsch-Schülers Erich Vogelsang (1904–1944), die nach wie vor als ein Standardwerk einzustufen ist [208]. Die Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg hat sowohl an die Resultate von Holl und seiner Schule angeknüpft als auch Modifikationen an dem von ihm geprägten Lutherbild vorgenommen. In der Kritik an Holls pointierter These von der Gewissensreligion Luthers spiegelt sich allerdings auch die theologische Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wider. Unter dem Eindruck der Theologie Karl Barths (1886–1968), die nach dem Zweiten Weltkrieg zur dominierenden Universitätstheologie an den deutschsprachigen Theologischen Fakultäten avancierte, und ihrer Betonung des Wortes Gottes sowie des strikten Gegensatzes von Gott und Welt verfiel Holls Verständnis der Gewissensreligion Luthers der Kritik. Von theologi-

1.2 Zum Stand der Lutherforschung

schem Zeitkolorit sind zahlreiche der Lutherdeutungen nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt. Am deutlichsten ist das in der Studie von Ernst Bizer (1904–1975) der Fall, die 1958 unter dem Titel Fides ex auditu erschien [53]. Bizer untersucht die theologische Entwicklung des jungen Luther von der ersten bis zur zweiten Psalmenvorlesung. Im Unterschied zu Holl setzt er den reformatorischen Durchbruch nicht schon in der ersten Psalmenvorlesung an, sondern erst 1518. Freilich spricht Luther bereits in den Dictata super Psalterium von der iustitia Dei als einer Gabe Gottes, aber diese frühe Deutung der Gerechtigkeit Gottes steht, wie Bizer zu zeigen versucht, noch ganz im Horizont einer dem Mittelalter verbundenen Demutstheologie. Deshalb sei das Verständnis der Rechtfertigung bei dem jungen Luther noch vorreformatorisch, genauer eine monastische Humilitas-Theologie ([23], Bd. 1, S. 215–230; [103]). Grundlegend für Bizers Interpretation von Luthers Entdeckung ist die Annahme, unter dem eigentlich Reformatorischen sei das Wort Gottes als Gnadenmittel zu verstehen ([53], S. 154–160). Diese Deutung des Reformatorischen trägt jedoch deutlich die Spuren der Wort-Gottes-Theologie Karl Barths. Die Lutherforschung der 1960er und 1970er Jahre hat mit Ausläufern bis heute darum gestritten, ob die reformatorische Entdeckung früh oder spät zu datieren sei. Entscheidende Impulse erhielt die Diskussion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem durch Gerhard Ebeling (1912–2001) ([118]; [65]). Die Untersuchungen Ebelings lassen sich in ihrer Bedeutung nur mit denen von Karl Holl vergleichen. Wie der Berliner Kirchenhistoriker verbindet der Tübinger und Züricher Theologe einen historischen Zugriff auf Luther mit einer systematischen Fragestellung. Im Unterschied zu Holl, der die Rechtfertigung und den Gewissensbegriff ins Zentrum der Theologie Luthers gerückt hatte, tritt bei Ebeling die Lehre von der Schrift in den Blickpunkt. Wegweisende Untersuchungen zur Herausbildung von Luthers Schriftverständnis und seiner Hermeneutik verdanken wir Ebeling ([117]; [65], Bd. 1, S. 132–195). Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich auch eine breite katholische Lutherforschung etabliert. Die neuere römische Lutherforschung ist von der traditionellen Polemik gegenüber Luther, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Friedrich Heinrich Suso Denifle (1844–1905) [58] und Hartmann Grisar (1845–1932) zu finden ist [66], abgerückt und versucht, vor dem Hintergrund breiter Quellenforschung ein Lutherbild zu zeichnen, welches freilich auch in den 1960er und 1970er Jahren noch eine unverkennbare römischkatholische Färbung trägt. Zu nennen sind insbesondere Joseph Lortz (1887–1975) [83], Erwin Iserloh (1915–1996) ([74]; [73]; [72]) und Otto Hermann Pesch (geb. 1931) ([40]; [86]). Sie gehen allesamt davon aus, dass die spätmittelalterliche Theologie und Frömmigkeit, welche Luther bekämpft hatte, gar nicht wirklich katholisch gewesen sei. Die Kritik Luthers an der spätmittelalterlichen Kirche wird als berechtigt anerkannt. Der Reformator sei – so die von den genannten Autoren gezogene Konsequenz – dem wirklichen und wahren Katholizismus enger verbunden, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Die Spaltung der Kirchen infolge der Reformation sei mithin auf historische Kontingenzen zurückzuführen, habe aber keinen Anhalt an den theologischen Kernthemen. Hinter solchen Lutherbildern – das wird schnell deutlich – steht eine bestimmte Auffassung von Ökumene,

Gerhard Ebeling

Römisch-katholische Lutherforschung

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1. Einleitung

Haupttendenzen der neueren Forschung

welche die Differenzen zwischen dem Protestantismus und dem Katholizismus als überholt verstehen möchte. Nun, da die Missstände in der Katholischen Kirche beseitigt sind, stehe auch einer Vereinigung beider Kirchen nichts mehr im Wege. Die neuere Forschung zu Luther ist dadurch ausgezeichnet, dass sie das Werk des Reformators stärker in seinen geistes-, mentalitäts- und sozialgeschichtlichen Horizont rückt und vor ihm versteht. Fünf Haupttendenzen der gegenwärtigen Debatte zeichnen sich ab ([78]; [77]). Zunächst wird in der gegenwärtigen Forschung Luther wesentlich stärker, als es früher der Fall war, in den Gesamtkontext der Wittenberger Universität gerückt. Themen wie Luther und Philipp Melanchthon (1497–1560) ([52]; [75]; [62]), Johann von Staupitz (1465–1524) [97] oder Nikolaus von Amsdorf (1483–1565) [61], Justus Jonas (1493–1555) [60] oder Georg Rörer (1492–1557) [84] treten in den Blickpunkt der Forschung. Sodann hat sich die Forschung in den letzten Jahren intensiv dem späten Luther zugewandt. In der Lutherforschung im Anschluss an Holl wurde primär der junge Luther und sein Werdegang hin zum reformatorischen Durchbruch untersucht. Auch heute noch hat das Spätwerk Luthers keine so hohe Aufmerksamkeit erfahren. Dabei geht es vor allem um Fragen des Übergangs von der Theologie des späten Luther zur Theologie des Altprotestantismus, also um Fragen, die mit der Konfessionalisierung in einem Zusammenhang stehen und höchst kontrovers diskutiert werden ([64]; [63]). Drittens fragt die neuere Forschung nach den geistigen Wurzeln des jungen Luther. Während die Deutungen in den Bahnen der Theologien Albrecht Ritschls und Karl Barths die Frage nach dem Einfluss der spätmittelalterlichen Mystik auf das Werk des Reformators weitgehend marginalisiert hatten, ist diesem Hintergrund in den letzten Jahren stärker nachgegangen worden ([124]; [50]). Eine vierte Tendenz der gegenwärtigen Lutherforschung liegt in der Auseinandersetzung mit der Gesamtdeutung Luthers durch Ebeling. Ebeling hatte in einer Vielzahl von Einzelveröffentlichungen ein aus den Quellen erarbeitetes Lutherbild von eindrucksvoller Geschlossenheit vorgelegt [30]. In sein Lutherbild lassen sich jedoch zahlreiche von der neueren Forschung herausgearbeitete Aspekte, wie die Bedeutung der Mystik, nur sehr schwer eintragen. Und schließlich wird fünftens nach der Rolle Luthers für die Bekenntnisbildung innerhalb der evangelischen Kirchen gefragt [81].

1.3 Literatur zum Lutherstudium 1.3.1 Quellen Weimarer Ausgabe

Die Weimarer Ausgabe (WA) bildet die Textgrundlage für alle wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Werk des Reformators. Sie ist in vier Abteilungen untergliedert: die erste Abteilung enthält die Schriften Luthers, von denen bisher 60 Bände erschienen sind. In der zweiten Abteilung, von der 6 Bände vorliegen, werden die Tischreden Luthers überliefert. Luthers Bibelübersetzungen finden sich in der Abteilung drei: Deutsche Bibel. Sie umfasst 12 Bände. Der umfangreiche Briefwechsel des Reformators ist dargestellt in der Abteilung vier. Es liegen 18 Bände vor.

1.3 Literatur zum Lutherstudium

D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883ff. Schriften, Bd. 1–60, Weimar 1883ff. (= WA) Tischreden, Bd. 1–6, Weimar 1912–1921 (= WA. TR) Deutsche Bibel, Bd. 1–12, Weimar 1906ff. (= WA. DB) Briefwechsel, Bd. 1–18, Weimar 1930ff. (= WA. B)

Die Edition der Weimarer Ausgabe trat an die Stelle von älteren Ausgaben der Werke des Reformators ([51]; [89]). Die erste Edition mit deutschen Lutherschriften erschien bereits 1539 und die erste Ausgabe mit den lateinischen Schriften 1545. Die für das 19. Jahrhundert maßgebliche Edition der Werke des Reformators ist die Erlanger Ausgabe. Sie wurde zwischen 1826 und 1857 veröffentlicht. Eine zweite Auflage wurde 1862 in Angriff genommen, aber 1885 abgebrochen, da inzwischen der erste Band der Weimarer Ausgabe vorlag. Die ersten Bände der Weimarer Ausgabe wurden ab 1883 publiziert. Die Editionsprinzipien, welche den ersten Bänden zugrunde lagen, sind inzwischen überholt, so dass einige frühe Texte wie die erste Psalmenvorlesung neu ediert werden mussten. Diese Neueditionen erscheinen seit 1981 in dem Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers (AWA). Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers. Texte und Untersuchungen, hrsg. im Auftrag der Kommission zur Herausgabe der Werke Martin Luthers, Köln 1981ff. (= AWA)

Wissenschaftlichen Maßstäben genügt die von Otto Clemen (1871–1946) seit 1912 herausgegebene Studienausgabe der Werke Luthers. Sie erschien zunächst in vier Bänden, wurde dann um weitere vier Bände erweitert und mehrfach aufgelegt. Diese sogenannte Bonner Ausgabe (BoA) bietet in chronologischer Reihenfolge grundlegende Texte des Reformators.

Bonner Ausgabe

Martin Luther, Werke in Auswahl, 8 Bde., hrsg. v. O. Clemen, Bonn 1912ff. ND Berlin 1955ff. (= BoA)

Einen historisch-kritischen Textbestand, der den überarbeiteten Editionsprinzipien der Weimarer Ausgabe entspricht, liefert die sechsbändige Studienausgabe (StA) von Hans-Ulrich Delius (geb. 1930). Die Werke Luthers bietet die Ausgabe in einer chronologischen Reihenfolge. Martin Luther, Studienausgabe, 6 Bde., hrsg. v. H.-U. Delius, Berlin 1980–1999. (= StA)

Als Lesehilfe für das Studium der lateinischen Schriften Luthers dient die dreibändige Lateinisch-deutsche Studienausgabe (Lat.-dt. StA). Die von Wilfried Härle (geb. 1941), Johannes Schilling (geb. 1951), Günther Wartenberg (1943–2007) unter Mitarbeit von Michael Beyer (geb. 1952) veranstaltete Ausgabe ist thematisch ausgerichtet und bietet wichtige lateinische Texte Luthers in deutscher Übersetzung. Der in der Ausgabe wiedergegebene lateini-

Studienausgaben

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1. Einleitung

sche Text der Schriften Luthers entspricht allerdings nicht den historisch-kritischen Standards, wie er für die Weimarer Ausgabe oder die Studienausgabe konstitutiv ist. Martin Luther, Lateinisch-deutsche Studienausgabe, 3 Bde., hrsg. v. W. Härle/J. Schilling/G. Wartenberg, Leipzig 2006–2009. (= Lat.-dt. StA)

Eine Übersetzung grundlegender Texte Luthers, angefangen von den frühen Vorlesungen bis hin zum Spätwerk bringt die nach 1945 begonnene und von Kurt Aland (1915–1994) herausgegebene Ausgabe Luther Deutsch. Die zehnbändige Leseausgabe wurde mehrfach aufgelegt und ist seit 2002 als CD-Rom erhältlich. Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, 10 Bde., hrsg. v. K. Aland, Göttingen 41991. (= LD)

Eine kommentierte Auswahl von zentralen Texten des Reformators liegt in der von Hans Heinrich Borcherdt (1887–1964) besorgten sogenannten Münchner Ausgabe vor. Von ihr erschienen zunächst sechs Bände und sieben Ergänzungsbände, die mehrfach nachgedruckt worden sind. Martin Luther, Ausgewählte Werke, 6 Bde., hrsg. v. H.H. Borcherdt, München 2 1938. Martin Luther, Ausgewählte Werke. Ergänzungsreihe, 7 Bde., hrsg. v. H.H. Borcherdt, München 21934ff.

Die von Karin Bornkamm (geb. 1928) und Gerhard Ebeling herausgegebenen sechs Bände mit Ausgewählten Schriften Luthers sind eine geeignete Leseausgabe, um sich mit den mittelhochdeutschen Schriften des Reformators vertraut zu machen. Wissenschaftlichen Ansprüchen genügt diese thematisch angelegte Ausgabe nicht. Martin Luther, Ausgewählte Schriften, 6 Bde., hrsg. v. K. Bornkamm/G. Ebeling, Frankfurt a.M. 1982. (= AS)

1.3.2 Hilfsmittel und Sekundärliteratur Hilfsmittel

Unentbehrliche Hilfsmittel, um sich mit der kaum noch zu überschauenden Literatur zu Martin Luther sowie dem Diskussionsstand vertraut zu machen, stellen das von Albrecht Beutel (geb. 1957) herausgegebene Luther Handbuch sowie das Hilfsbuch zum Lutherstudium von Kurt Aland dar. Das thematisch angeordnete Luther Handbuch bietet eine einführende und grundlegende Orientierung über den geistesgeschichtlichen Hintergrund des Denkens von Luther, Kontroversen, theologische Themenfelder sowie Literatur und die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte seiner Theologie. Das Hilfsbuch ermöglicht eine Orientierung bei der Erschließung der Schriften

1.3 Literatur zum Lutherstudium

Luthers. Eine fortlaufende Bibliographie mit internationaler Forschungsliteratur zu Luther ist in dem 1926 begründeten Lutherjahrbuch (LuJ) zugänglich. Neben einer systematischen Erfassung der Sekundärliteratur enthält das Lutherjahrbuch Spezialbeiträge zu diversen Forschungsthemen. A. Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005. K. Aland, Hilfsbuch zum Lutherstudium, Witten 41996. * Lutherjahrbuch. Organ der internationalen Lutherforschung, hrsg. im Auftrag der Luther-Gesellschaft, Göttingen 1926ff. (= LuJ) * *

Werkgeschichtliche Einführungen in das Leben des Reformators ermöglichen eine erste Zuordnung von Texten und zentralen Begriffen in den zeitgenössischen Debatten. Zugleich erschließen sie bestimmte Grundthemen von dessen Theologie im biographischen Kontext. Wichtige neuere Einführungen in das Denken Luthers stammen von Albrecht Beutel und Dietrich Korsch (geb. 1949), grundlegende ältere von Reinhard Schwarz (geb. 1929) und Gerhard Ebeling.

Einführungen

D. Korsch, Martin Luther. Eine Einführung, Tübingen 22007. A. Beutel, Martin Luther. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung, Leipzig 2 2006. * R. Schwarz, Luther, Göttingen 32004. * G. Ebeling, Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 1964. * *

Gesamtdarstellungen der Theologie Martin Luthers bieten eine systematische Zusammenschau seines Denkens. Wichtige neuere liegen vor aus der Feder von Bernhard Lohse und Hans Martin Barth (geb. 1939). Während Lohse das Denken des Reformators zugleich werkegeschichtlich und systematisch darstellt, orientiert sich Barth an Hauptthemen von dessen Theologie. Eine guten Überblick über Grundthemen der Theologie des Wittenbergers gibt nach wie vor die Arbeit von Paul Althaus. H.-M. Barth, Die Theologie Martin Luthers. Eine kritische Würdigung, Gütersloh 2009. * B. Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995. * P. Althaus, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 21963. *

Gesamtdarstellungen

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2. Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung Die Entwicklung von Luthers Denken in seiner Frühzeit stand bislang im Fokus der Forschung. Im 20. Jahrhundert wurden lange Kontroversen darüber geführt, wann der Reformator zu seiner neuen Deutung des christlichen Glaubens gelangt sei: zu Beginn seiner Wittenberger akademischen Lehrtätigkeit um 1512 oder erst gegen Ende des zweiten Jahrzehnts des 16. Jahrhunderts. Luther selbst nannte sein neues Verständnis der Gerechtigkeit Gottes – der iustitia Dei – als den entscheidenden Wendepunkt. Was versteht der Reformator unter iustitia Dei, und wie unterscheidet sie sich von dem mittelalterlichen Gebrauch des Begriffs? Die in der Debatte vorgebrachten Argumente für oder wider eine Früh- bzw. Spätdatierung der reformatorischen Entdeckung werden im Folgenden vorgestellt. Zunächst ist jedoch Luthers Werdegang vor dem Hintergrund der spätmittelalterlichen Frömmigkeit und Theologie bis zur Übernahme seiner Wittenberger Professur 1513 zu skizzieren.

2.1 Studium und Eintritt ins Kloster Luthers Familie

Luther wurde am 10. November 1483 in Eisleben geboren und am folgenden Tag auf den Namen des Tagesheiligen – Martin – getauft. Sozial gesehen entstammt er einem Aufsteigermilieu, das im 15. Jahrhundert durch die beginnende Industrialisierung möglich war ([24], S. 15–24; [21], S. 26–33; [23], Bd. 1, S. 13–32). Sein Vater Hans Luder (1449–1530) ist Nachkomme einer Bauernfamilie, war allerdings aufgrund des thüringischen Erbrechts als ältester Sohn von dem väterlichen Erbe ausgeschlossen. Aus diesem Grund zog die Familie Luder nach Mansfeld, wo es der Vater im örtlichen Kupferbergbau zu einer ansehnlichen Stellung brachte und sich im örtlichen Bürgertum etablieren konnte. Die Mutter Luthers, Margarete, geborene Lindemann (1459–1531), kam aus bürgerlichen Verhältnissen in Eisenach. Die Änderung des Familiennamens Luder in Luther geht auf den Reformator zurück, und sie steht im Zusammenhang mit seiner Kritik an der Bußpraxis im Spätmittelalter. In Anlehnung an das griechische Wort eleutherios – der Freie – hat er 1517 seinen Namen in ,Luther‘ umgeformt ([4], Bd. 1, S. 108–113). Martin Luthers Familie ist – so kann man sagen – aus dem Bauernstand in das Bürgertum aufgestiegen, und dieser Umstand prägte seinen weiteren Lebensweg. Die Zeugnisse über das Leben in Luthers Elternhaus sind spärlich. Die Erziehung war streng: von den Kindern wurde strikter Gehorsam erwartet. Das entspricht dem üblichen Erziehungsrahmen im späten Mittelalter. Erik H. Eriksons (1902–1994) hat versucht, die religiöse und theologische Entwicklung Luthers und seines Gottesbildes tiefenpsychologisch aus einem Vater-

2.1 Studium und Eintritt ins Kloster

konflikt zu erklären [120]. Allerdings sind die Quellen für solch eine weitreichende Deutung nicht aufschlussreich. Auch die Religiosität in seinem Elternhaus scheint sich in den normalen Bahnen des spätmittelalterlichen kirchlichen Lebens bewegt zu haben. Besondere Auffälligkeiten sind in den Zeugnissen nicht überliefert. Um sich im Bürgertum zu etablieren, wurde der junge Martin von seinem Vater dafür auserkoren, die Schule zu besuchen. Die Schulausbildung, welche der Vorbereitung auf das Studium an der Universität diente, musste sich die Familie hart erarbeiten. Luther war sich dem zeitlebens bewusst. Er besuchte zunächst von 1490 bis 1497 die Mansfelder Stadtschule, von 1497 bis 1498 die Schule in Magdeburg und von 1498 bis 1501 die Schule in Eisenach. Mit dem Übergang in die Magdeburger Schule verließ er mit 14 Jahren das Elternhaus und wohnte in einer Art Schülerwohnheim. Es wurde von den ,Brüdern vom gemeinsamen Leben‘ getragen, einer aus den Niederlanden kommenden und der ,devotio moderna‘ nahestehende Frömmigkeitsbewegung [110]. In Eisenach wurde Luther von Verwandten der Mutter aufgenommen. Die ersten 18 Jahre von Luthers Leben verliefen durchweg ohne Besonderheiten. Er wird von seiner Familie gefördert, um sich im aufstrebenden Bürgertum zu behaupten. Die Voraussetzung hierfür ist Bildung. Neben den klassischen Trivialfächern – Grammatik, Rhetorik und Logik – wurde er in Musik, klassischer Literatur und Latein unterwiesen. Hinzu kommt die Bekanntschaft mit unterschiedlichen Strömungen spätmittelalterlicher Religiosität. 1501 hatte er das Lateinschulniveau und damit die Voraussetzung für das Universitätsstudium erreicht und ging an die Universität Erfurt, die 1392 gegründet wurde und um 1500 als eine bedeutende Stätte des Nominalismus und des aufblühenden Humanismus galt ([24], S. 24–27; [21], S. 33–37; [23], Bd. 1, S. 33–58). Der Nominalismus oder die ,via moderna‘ ist eine wichtige Richtung innerhalb spätmittelalterlicher Theologie und Philosophie und geht auf Johannes Duns Scotus (um 1270–1308) und Wilhelm von Ockham (1285–1349) zurück. Beide versuchen, eine neue Antwort auf die Frage zu geben, ob Allgemeinbegriffen, zum Beispiel ,Mensch‘, Realität zukommt ([121, S. 426–459). Theologen und Philosophen wie Thomas von Aquin (um 1225–1274), die der ,via antiqua‘ zugehörten, behaupteten im Anschluss an Platons (427–347 v. Chr.) Ideenlehre die Realität der Allgemeinbegriffe oder Universalien. Für die via moderna hingegen existiert nur das Einzelne. Die allgemeinen Begriffe sind bloße Nomen. Im Unterschied zum Thomismus wird im Nominalismus auch das Verhältnis von Vernunft und Glaube neu bestimmt. Das schlägt sich insbesondere in der Bestimmung des Gottesgedankens nieder, und zwar mit weitreichenden Folgen für die Gnadenlehre. Thomas von Aquin hatte vor dem Hintergrund seiner Aristoteles-Rezeption eine Synthese von Vernunft und Glaube vorgelegt und den Intellekt als die zentrale Bestimmung Gottes verstanden. Wenn Gott handelt, dann ist er in seinem Wirken an eine Ordnung gebunden. Im späten Mittelalter wurde die von Thomas ausgearbeitete Synthese fraglich. Sein Gottesbegriff schien die Allmacht Gottes zu beschränken. Wenn Gott nur nach einer in seinem Wesen begründeten Ordnung handeln kann, dann – so der Einwand – sei seine Allmacht beschränkt. Bereits wenige Jahre nach dem Tod von Thomas wur-

Schulbildung

Nominalismus

Thomas von Aquin

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2. Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung

Potentia dei absoluta et ordinata

Mittelalterliche Gnadenlehre

Akzeptationstheorie

den 1277 von dem Pariser Bischof Stephan Tempier (gest. 1279) 219 theologische und philosophische Sätze verurteilt, welche die göttliche Allmacht einschränkten. Darunter war auch die von Thomas in der Summa theologiae ausgesprochene These von der Einzigkeit dieser Welt. Im Unterschied zu Thomas von Aquin stellt der Nominalismus den Willen in das Zentrum der Bestimmung Gottes. Gott ist wesentlich Wille. Damit ist die Behauptung verbunden, dass er in seinem Handeln an keine ihm bereits vorgegebene Ordnung gebunden ist. Auch für den Nominalismus handelt Gott zwar nach einer Ordnung, aber sie ist von ihm selbst gesetzt und kann folglich von ihm jederzeit wieder geändert werden. In diesem Sinne unterscheiden sowohl Duns Scotus als auch Wilhelm von Ockham zwischen einer potentia dei absoluta und einer potentia dei ordinata [100]. Mit jener Unterscheidung soll zum Ausdruck gebracht werden, dass Gott nach einer von ihm selbst gesetzten Ordnung handelt (ordinata), diese jedoch in seiner Macht steht (absoluta). Die Unterscheidung betont also die Freiheit Gottes in seinem Handeln. Durch den spätmittelalterlichen Nominalismus wird das Gott-Welt-Verhältnis neu justiert, so dass von einer gegebenen Ordnung nicht mehr umstandslos auf Gott und seine Gesinnung zurückgeschlossen werden kann. Er erscheint dadurch freilich als ein Willkürgott. Denn jetzt kann gesagt werden: was Gott hervorbringt, ist allein aus dem Grund gut, weil es von ihm hervorgebracht wurde. Die Freiheit Gottes und die Kontingenz der Welt werden ins Absolute gesteigert. Durch die Unterstreichung der Freiheit Gottes wird auch die einmal gesetzte Heilsordnung mit ihrem Zentrum in der Offenbarung in Jesus Christus ungewiss. Gott kann jede von ihm gesetzte Heilsordnung jederzeit durch eine andere ersetzen. Das hat Konsequenzen für die Ausgestaltung der Gnadenlehre. Von Duns Scotus wird sie zur Akzeptationstheorie (acceptatio divina) ausgebaut ([131], S. 489; [111]; [112]). Der Mensch, der der Gnade teilhaftig werden will, kann und muss für die spätmittelalterliche Theologie und Frömmigkeit einen Beitrag hierzu leisten. Er disponiert sich selbst für das Heil, da er die Kraft zum facere quod in se est (zu tun, was in ihm ist) hat. Zwar kann der Mensch nicht das Vollverdienst, das meritum de condigno, erreichen, aber soviel in ihm liegt, soll er anstreben. Ein meritum de congruo (Verdienst nach Billigkeit) darf ihm nicht abgesprochen werden. Für die ockamistische Gnadenlehre kann der Mensch aus eigener Kraft Gott über alles lieben, und auch eine wahre Reue (contritio) im Unterschied zur attritio (Zerknirschung, Furchtreue) ist ihm möglich ([125], S. 14). Gemäß der potentia ordinata müsste der Mensch damit den Lohn der Seligkeit verdienen. Aber Gott ist nicht an den von ihm faktisch gesetzten Heilsweg gebunden. Auch derjenige, der sich nicht ausreichend für den Empfang der Gnade disponiert hat, wie Paulus, als er die Christen verfolgte, kann von Gott bekehrt werden. Gott lässt sich von niemandem zwingen, die Leistung der höchsten Liebe zu ihm auch als ein vollgültiges Verdienst anzuerkennen. Er kann es so halten und das meritum de congruo akzeptieren (acceptatio) und es damit zwar nicht seinem Inhalt, wohl aber seiner Geltung nach verändern, d.h. zum meritum de condigno machen. Es bleibt aber seinem freien Ermessen vorbehalten, ob er die Leistungen eines Menschen akzeptiert oder nicht. Durch die spätmittelalterliche Akzeptationslehre und ihre

2.1 Studium und Eintritt ins Kloster

Voraussetzungen in der Freiheit und absoluten Allmacht Gottes kommt eine große Unsicherheit in die Gnadenlehre hinein. Das Heil des Menschen wird ungewiss. Als Luther 1501 an der Erfurter Universität mit dem philosophischen Grundstudium an der Artistenfakultät begann, lernte er den spätmittelalterlichen Nominalismus durch seine beiden Lehrer Jodokus Trutfetter (ca. 1460–1519) und Bartholomäus Arnoldi von Usingen (1462–1532) in einer gemäßigten, durch Gabriel Biel (gegen 1410–1495) vermittelten Form kennen. Für die weitere Entwicklung Luthers ist dieser nominalistische Hintergrund prägend geblieben. So steht die Kritik an der Leistung der Vernunft, die sich bei Luther durchgehend findet, durchaus in Kontinuität mit dem Nominalismus von Duns Scotus und Ockham. Freilich setzt der Reformator vor diesem Hintergrund völlig neue Akzente, die den spätmittelalterlichen Nominalismus weit hinter sich lassen. Das philosophische Grundstudium an der Artistenfakultät war in dem mittelalterlichen Wissenschaftsbetrieb die Voraussetzung für das Studium der Theologie, der Jurisprudenz und der Medizin. Die sieben freien Künste, die septem artes liberales, bildeten die theoretische Grundlage des Studiums an den übrigen Fakultäten. Sie umfassten Grammatik, Logik, Rhetorik, Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie. Nach vier Jahren hatte Luther 1505 das philosophische Grundstudium mit dem Magister Artium als Zweitbester seines Jahrgangs abgeschlossen. Mit dem Erwerb des wissenschaftlichen Rüstzeugs konnte das Hauptstudium beginnen. Nach dem Wunsch seines Vaters sollte es die Jurisprudenz sein. Im Frühjahr 1505 begann Luther mit dem Studium der Jurisprudenz, und zugleich lehrte er – entsprechend den Gepflogenheiten des damaligen Lehrbetriebs – an der Artistenfakultät. In der zweiten Semesterhälfte unterbrach er sein Studium und reiste ins heimische Mansfeld. Der genaue Grund dieser ungewöhnlichen Studienunterbrechung ist nicht mehr erkennbar. Vermutet wird, dass der Vater ihn nach Mansfeld beordert habe, um ihm den Plan einer reichen Heirat zu unterbreiten ([24], S. 28). Wie auch immer, bekannt ist nur, dass Luther auf der Rückreise von Mansfeld am 2. Juli 1505 bei Stotternheim in ein Gewitter geriet. Ein in seiner Nähe einschlagender Blitz versetzte ihn in Todesangst, und er suchte Hilfe bei einer Heiligen: „Hilff du, S. Anna, ich wil ein monch werden!“ ([2], Bd. 4, S. 440, Nr. 4707) Bereits 15 Tage später, am 17. Juli 1505 geht Luther ins Kloster. Im 21. Jahrhundert mag dieser Schritt befremdlich erscheinen. In ihm spielen spätmittelalterliche Frömmigkeit und individuelle Entwicklung Luthers ineinander. Der erste Bericht über das Stotternheimer Gewitter mit der Nennung der Heiligen Anna, einer gerade erst in Mode gekommenen Heiligen, stammt aus dem Jahre 1539, also 34 Jahre nach der Begebenheit bei Stotternheim ([115]; [116]). Das gilt auch für andere autobiographische Rückblicke auf seine frühe Zeit als Mönch und seine eigene Entwicklung. Sie sind deutlich von dem Interesse geprägt, eine kontinuierliche Entwicklung vom Mönch zum Reformator zu gestalten. Konstruktion und historischer Ablauf greifen ununterscheidbar ineinander ([24], S. 31). Selbstverständlich markiert der Eintritt ins Kloster einen Bruch in der Entwicklung des jungen Luther, freilich einen solchen, der vor dem Hintergrund der damaligen Frömmigkeit verständlich ist.

Studium in Erfurt

Gewitter bei Stotternheim

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2. Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung Mittelalterliche Sakramentsfrömmigkeit

Buße, Tod und letztes Gericht

Das Leben des Menschen im späten Mittelalter war durchgehend von der Religion bestimmt. Sie und ihre soziale Institution, die Kirche, prägten und strukturierten das Leben des Menschen von seinem Anfang bis zu seinem Ende. Das ist die Funktion der kirchlichen Sakramente ([35], S. 25–27). Einige der sieben Sakramente beziehen sich direkt auf die entscheidenden Wendepunkte im menschlichen Leben. Das Sakrament der Taufe steht am Anfang des Lebens, die Firmung am Übergang zum Erwachsenenalter, das Sakrament der Eheschließung an einem weiteren wichtigen Wendepunkt und die Krankensalbung am Ende des Lebens. Diese vier Sakramente versehen prägnante Stationen des Lebens mit einer religiösen Deutung und können nur einmal empfangen werden, anders als die drei weiteren Sakramente der Buße, der Eucharistie und der Priesterweihe. Buße und Eucharistie haben ihren Fokus in den Verwerfungen des Lebens und müssen daher unabhängig von den Wendepunkten in der Biographie wiederholt angeeignet werden können. Mit dem Sakrament der Taufe ist zwar grundsätzlich einem jeden Menschen das Heil eröffnet, aber auf jedem Lebensweg kommt es zu Abweichungen vom Heil, die eine erneute Heilszuwendung nötig machen. Das geschieht in der Buße, durch die die Verfehlungen in der Lebensführung vergeben werden. Dadurch wird der Mensch für die Eucharistie vorbereitet, welche ihm das von Christus erworbene Heil vermittelt ([35], S. 26). Das Sakrament der Priesterweihe schließlich schafft gewissermaßen die Voraussetzung für den regelgerechten Gebrauch der Sakramente. Es begründet den geistlichen Stand und entspricht dem Ehesakrament, welches dem weltlichen Stand zugeordnet ist. Eine besondere Rolle nimmt in dem sakramentalen System der mittelalterlichen Kirche die Buße ein, in der die Verfehlungen des Menschen zum Thema werden. In ihr geht es um eine sittlich-ethische Selbstprüfung des Menschen und mithin um die Frage, ob der Mensch mit seinem Leben vor Gott bestehen könne. Kann der Mensch nicht bestehen, so muss er fürchten, der ewigen Seligkeit verlustig zu werden. Diese Zuspitzung der religiösen Lebensdeutung steht im Hintergrund von Luthers Gelübde, angesichts des drohenden eigenen Todes Mönch zu werden. Es ist freilich nicht der Tod als solcher, der Luther zu diesem Bruch mit seiner bisherigen Existenz führte. Für den mittelalterlichen Menschen stellt der Tod nichts Außergewöhnliches dar, wohl aber der plötzliche Tod, der einen Menschen im Hinblick auf sein ewiges Schicksal unvorbereitet trifft. Mit seiner Erfahrung ist die drohende Alternative von ewiger Seligkeit oder Verdammnis verbunden. Sie lässt aber auch Luthers Entschluss, Mönch zu werden, im spätmittelalterlichen religiösen Kontext verständlich erscheinen. Denn was liegt angesichts dessen, ob man selbst würdig ist, vor Gott in seinem Gericht bestehen zu können, näher, als ein Leben in dem Stand zu führen, der stellvertretend für die große Masse den strengen Willen Gottes lebt ([160], S. 197); [35], S. 27). So sehr sich Luthers Schritt in den religiösen Welthorizont der Zeit einfügt, so stellt er freilich einen Einschnitt in seinem bisherigen Leben und den Karriereplänen des Vaters für seinen Sohn dar. Inwieweit diese individuelle Konfliktlage in den Schritt des Sohnes von der weltlichen zur klösterlichen Existenz hineinspielt, lässt sich aufgrund der Quellen nicht mehr genauer rekonstruieren. Gleichwohl kann man sagen, dass Luthers Gang ins Kloster als Versuch verstanden werden kann, „durch einen Bruch in der bisherigen

2.1 Studium und Eintritt ins Kloster

Kontinuität des Lebens – und um den Preis eines längeren Zerwürfnisses mit dem Vater – eine höhere Konstanz, nämlich die Beständigkeit des Lebens vor Gott, zu gewinnen“. ([35], S. 28) Luther trat am 17. Juli 1505 in das Kloster der Augustiner-Eremiten in Erfurt ein ([24], S. 34–52; [21], S. 37–44; [23], Bd. 1, S. 59–110). Warum er dieses Kloster wählte, kann nur noch vermutet werden. In jedem Fall gehörten die Augustiner-Eremiten zu den rigoroseren Orden. Das Leben im Kloster war streng geregelt: Strukturiert durch Stundengebete verbanden sich Leben und religiöse Reflexion. Seinen eigenen, späteren Selbstzeugnissen zufolge nahm Luther seine monastische Existenz sehr ernst ([1], Bd. 22, S. 305f.; Bd. 37, S. 611; Bd. 38, S. 143). Im Kloster hat er allerdings sowohl als Mönch als auch in wissenschaftlicher Hinsicht Karriere gemacht. 1506 legte er sein Mönchsgelübde ab. Von der Klosterleitung wurde die intellektuelle Begabung des jungen Mönchs erkannt, und man bestimmte ihn dazu, Priester zu werden und Theologie zu studieren. Am 3. April 1507 wurde er im Erfurter Dom zum Priester geweiht, und am 2. Mai 1507 fand die Primiz, die erste Messe, statt. Für das Priesteramt war ein Theologiestudium nicht erforderlich. Erst im Anschluss an die Weihe zum Priester begann Luther mit dem Studium der Theologie in seinem Orden. Seine theologischen Lehrer waren Johannes Natin (gest. 1529), Leonard Heutleb und Georg Lyser. Zur Fortsetzung seiner Studien wurde Luther 1508 von seinem Orden an die Universität Wittenberg geschickt. Am 9. März 1509 erlangte er in Wittenberg den untersten akademischen Grad, den eines Baccalaureus biblicus. Mit ihm verband sich für ihn die Aufgabe, die biblischen Bücher auszulegen. Im Herbst des Jahres 1509 begann Luther nun wieder in Erfurt mit der Ausbildung zum Baccalaureus sententiarum. Dieser Grad der akademischen Ausbildung umfasste die Kommentierung der Sentenzen des Petrus Lombardus (ca. 1095–1160), des einflussreichsten Lehrbuches der Dogmatik im Mittelalter. Jeder Studierende der Theologie hatte das Werk des Lombarden während seines Studiums kommentierend in einem Zeitraum von zwei Jahren auszulegen. Luther tat es im Studienjahr 1509/10. Seine Randbemerkungen, mit denen er sich auf die Vorlesung vorbereitete, sind noch erhalten ([1], Bd. 9, S. 29–93). Der junge Luther kann hier bereits auf die zentrale Rolle der Heiligen Schrift für die Theologie hinweisen: „Auch wenn viele berühmte Gelehrte so denken, so haben sie dennoch für sich keine Schrift, sondern allein menschliche Vernunftüberlegungen. Ich aber habe für diese Meinung einen Schriftbeleg, dass die Seele das Abbild Gottes sei. Daher sage ich mit dem Apostel: ,Wenn ein Engel vom Himmel‘, das heißt, ein Gelehrter in der Kirche, ,anderes gelehrt hat, sei er verworfen‘.“ ([6], Bd. 5, S. 7 = [1], Bd. 9, S. 46) Allerdings wird man solche Aussagen auch nicht überbewerten können. Sie stehen vollständig im Kontext der zeitgenössischen spätmittelalterlichen Theologie. Luther ist hier noch von der Übereinstimmung von Schrift und Kirchenlehre überzeugt. Am 18./19. Oktober 1512 wurde Luther in Wittenberg unter dem Vorsitz von Andreas Bodenstein aus Karlstadt (1486–1541) zum Doktor der Theologie promoviert und erhielt den höchsten akademischen Titel. Noch im selben Jahr ist er Nachfolger seines Ordensoberen Johannes von Staupitz (1469–1524) auf dessen Wittenberger Professur für Theologie geworden. Staupitz spielte, wie von der Forschung seit einigen Jahren betont wird, für

Kloster und Studium der Theologie

Professor in Wittenberg

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2. Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung

den Werdegang des jungen Luther eine entscheidende Rolle ([24], S. 72–89; [129]; [130]; [97]). Als Beichtvater Luthers wies er den mit Anfechtungen ringenden jungen Mönch auf ein Verständnis Christi als barmherzigen Retter hin. Dass Luther sein vormaliges Bild von dem strengen, unnachgiebigen Richter Christus überwinden konnte, ein daraus resultierendes neues Bußverständnis gewann ([1], Bd. 1, S. 525–527) sowie die Bekanntschaft mit der Mystik machte [140], verdankt er vor allem seinem Wittenberger Beichtvater. Die Wittenberger Universität wurde erst im Jahre 1502 gegründet und ist eine ganz persönliche Schöpfung von Friedrich dem Weisen (1463–1525) ([64]; [24], S. 62–66; [23], Bd. 1, S. 111–125). Der Gründung diente die Tübinger Universität als Muster, und Staupitz war neben Georg Spalatin (1484–1545) – dem kursächsischen Hofkaplan und Prinzenerzieher – einer der Hauptberater des sächsischen Kurfürsten. Zwei Wittenberger Bettelorden waren jeweils mit der Wahrnehmung einer theologischen Professur betraut. Staupitz hatte für die Augustiner-Eremiten eine der theologischen Professuren inne, und er, der Luthers Begabung frühzeitig erkannte, baute ihn als seinen Nachfolger auf. 1513 nahm Luther seine Vorlesungstätigkeit auf, und sie galt einem Thema, das ihm durch seine monastische Prägung überaus vertraut war: dem Psalter. Luther hatte somit zwar nicht, wie es der Vater wollte, als Jurist Karriere gemacht, wohl aber als Mönch und als Wissenschaftler.

2.2 Der Streit um die Datierung des reformatorischen Durchbruchs

Quellentexte

Die Forschung zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war infolge neuer Quellen mehrheitlich zu der Auffassung gelangt, dass Luther bereits in seiner ersten Psalmenvorlesung von 1513 bis 1515 ein Verständnis der Gerechtigkeit Gottes gewonnen hatte, welches sich von der überlieferten Lehrtradition grundlegend unterschied. Der Frühdatierung der reformatorischen Erkenntnis hatte Ernst Bizer in seinem Buch Fides ex auditu von 1958 energisch widersprochen. Er war der Meinung, Luther sei erst 1518 oder gar 1519 zu seiner neuen Einsicht gekommen. Die Debatte darüber, ob Luther nun bereits in den Dictata super Psalterium oder erst nach 1518 seine grundlegende Entdeckung gemacht habe, hat die Lutherforschung seit den 1960er Jahren bis in unsere Gegenwart in Atem gehalten. Sie hängt freilich in einem starken Maße davon ab, was man genau unter der reformatorischen Erkenntnis versteht. Im Folgenden werden die in der Debatte vorgebrachten Argumente sowie die Hauptpositionen kurz vorgestellt ([141]; [142]; [24], S. 106–117). Bei einer genaueren Betrachtung der Kontroverse zeigt sich allerdings, dass sie der komplexen Entwicklung des Reformators zwischen 1510 und 1520 nicht gerecht wird. Luther hat an verschiedenen Stellen seines Werkes im Rückblick auf seine biographische Entwicklung sowie auf seine reformatorische Entdeckung Bezug genommen: (1.) in der Vorrede zum ersten Band seiner lateinischen Schriften von 1545 ([1], Bd. 54, S. 179–187), (2.) in der späten Genesisvorlesung ([1], Bd. 44, S. 716) und (3.) in zahlreichen späteren Tischgesprächen ([2], Bd. 2, S. 177, Nr. 1681; Bd. 3, S. 228, Nr. 3232b; vgl. [20]). Hinzu

2.2 Der Streit um die Datierung des reformatorischen Durchbruchs

kommt (4.) als ein bedeutender früher Beleg sein Widmungsschreiben an Johannes von Staupitz zu den Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute vom 30. Mai 1518 ([1], Bd. 1, S. 525–527). Das wichtigste Dokument stellt ohne Frage seine Vorrede von 1545 dar, das große Selbstzeugnis, und es steht denn auch aus naheliegenden Gründen im Zentrum der Debatten über die Früh- oder Spätdatierung der reformatorischen Wende. Luther berichtet in ihr über seinen eigenen Werdegang. „Inzwischen war ich in diesem Jahr [1518] wieder zum Psalter zurückgekehrt, um ihn erneut auszulegen – in der Hoffnung, geübter zu sein, nachdem ich die Briefe des Paulus an die Römer, die Galater und den, der an die Hebräer [geschrieben] ist, in Vorlesungen behandelt hatte. Gewiss war ich damals von einem brennenden Verlangen gepackt worden, Paulus im Römerbrief zu verstehen. Aber nicht Kaltherzigkeit hatte dem bis dahin im Wege gestanden, sondern eine einzige Wortverbindung in Röm 1: ,Die Gerechtigkeit Gottes wird darin offenbart.‘ [Röm 1,17] Ich hasste nämlich diese Wortverbindung ,Gerechtigkeit Gottes‘, die ich nach der üblichen Verwendung bei allen Lehrern gelehrt war philosophisch zu verstehen als die (wie sie sie bezeichnen) formale bzw. aktive Gerechtigkeit, auf Grund derer Gott gerecht ist und die Sünder und Ungerechten straft. Ich aber, der ich, so untadelig ich auch als Mönch lebte, mich vor Gott als Sünder mit ganz unruhigem Gewissen fühlte und nicht darauf vertraun konnte, durch mein Genugtun versöhnt zu sein, liebte Gott nicht, ja, ich hasste vielmehr den gerechten und die Sünder strafenden Gott und empörte mich im Stillen gegen Gott, wenn nicht mit Lästerung, so doch mit ungeheurem Murren und sagte: Als ob es nicht genug sei, dass die elenden und durch die Ursünde auf ewig verlorenen Sünder durch jede Art von Unheil niedergedrückt sind durch das Gesetz der Zehn Gebote, vielmehr Gott nun auch durch das Evangelium noch Schmerz zum Schmerz hinzufügt und uns mit seiner Gerechtigkeit und seinem Zorn zusetzt! So wütete ich mit wildem und verwirrtem Gewissen. Dennoch klopfte ich ungestüm an dieser Stelle bei Paulus [Röm 1,17] an, verschmachtend vor Durst herauszubekommen, was der Heilige Paulus wolle. Bis ich, durch Gottes Erbarmen, Tage und Nächte darüber nachsinnend meine Aufmerksamkeit auf die Verbindung der Wörter richtete, nämlich: ,Die Gerechtigkeit Gottes wird darin offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus Glauben.‘ Da begann ich, die Gerechtigkeit Gottes zu verstehen als diejenige, durch die der Gerechte als durch Gottes Gabe lebt, nämlich durch den Glauben, und dass dies der Sinn sei: Durch das Evangelium werde die Gerechtigkeit Gottes offenbart, und zwar die passive, durch die uns der barmherzige Gott gerecht macht durch den Glauben, wie geschrieben steht: ,Der Gerechte lebt aus Glauben.‘ Hier fühlte ich mich völlig neugeboren und durch geöffnete Tore in das Paradies eingetreten zu sein. Da zeigte sich mir sogleich ein anderes Gesicht der ganzen Schrift. Ich ging danach durch die ganze Schrift nach dem Gedächtnis und sammelte auch in anderen Wortverbindungen eine Entsprechung, etwa Werk Gottes, das heißt, was Gott in uns wirkt, Kraft Gottes, mit der er uns kräftig macht, Weisheit Gottes, mit der er uns weise macht, Stärke Gottes, Heil Gottes, Herrlichkeit Gottes.“ ([8], Bd. 2, 505. 507 = [1], Bd. 54, S. 185f.)

Großes Selbstzeugnis

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2. Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung Frühe Vorlesungen

Soweit Luthers großes Selbstzeugnis über seine reformatorische Entdeckung. An dem im zeitlichen Abstand von 26 Jahren geschriebenen Bericht fallen zwei Dinge auf. Zunächst: Seine alles entscheidende Erkenntnis habe er sich kurz vor dem Beginn der zweiten Psalmenvorlesung errungen, und zwar nachdem er über den Römerbrief sowie den Galater- und Hebräerbrief des Apostels Paulus gelesen habe. Im Herbst 1512 übernahm Luther von seinem Förderer Staupitz dessen Wittenberger Professur und begann im Sommer 1513 mit seiner ersten Vorlesung über die Psalmen, den Dictata super Psalterium. Die erste Psalmenvorlesung endete wahrscheinlich im Frühjahr oder Herbst 1515. Das genaue Datum ist in der Forschung strittig ([24], S. 67f.; [6], Bd. 5, S. 40). Entweder im Frühjahr oder im Herbst 1515 begann Luther mit seiner Vorlesung über den Römerbrief des Apostels Paulus. Diese Vorlesung endete mit dem Sommersemester 1516, wahrscheinlich im September. Vom 27. Oktober 1516 bis zum 13. März 1517 las er über den Galaterbrief des Apostels Paulus und von Ostern 1517 bis Ostern 1518, wahrscheinlich vom 21. April 1517 bis 26. März 1518, traktierte Luther den Hebräerbrief, den er ebenfalls für paulinisch hielt. Im Herbst 1518 wendete er sich dann mit den Operationes in Psalmos erneut dem Psalter zu. Seine zweite Psalmenvorlesung hat Luther situationsbedingt mehrfach unterbrechen müssen und bei Psalm 22 schließlich ganz abgebrochen, da er zum Reichstag nach Worms musste. Erst auf der Wartburg hat er die Auslegung von Psalm 22 beenden können. Der weitere Vorlesungstext ist dann bis 1521 in Einzellieferungen im Druck erschienen. Vorlesungen Luthers: 1513–1515 Dictata super Psalterium ([1], Bd. 3; Bd. 4; Bd. 55, Abt. 1–2) 1515–1516 Römerbriefvorlesung ([1], Bd. 56) 1516–1517 Galaterbriefvorlesung ([1], Bd. 57 (2), S. 5–49. 53–108) 1517–1518 Hebräerbriefvorlesung ([1], Bd. 57 (3), S. 5–91. 97–238) 1518–1521 Operationes in Psalmos ([1], Bd. 5; [5], Bd. 2)

Gerechtigkeit Gottes

Iustitia activa

Luther scheint in seinem Selbstzeugnis sagen zu wollen, dass er seine reformatorische Entdeckung im Jahre 1518 gemacht habe. Worin sie bestand, ist der zweite hier zu nennende Aspekt: nämlich in einem neuen Verständnis der Gerechtigkeit Gottes. Auch hierüber erklärt sich Luther in dem vorliegenden Text. Aufgrund seiner theologischen Ausbildung, so schildert es der Reformator, war er gewohnt, die iustitia Dei im Sinne der formalen oder aktiven Gerechtigkeit zu verstehen. Dieses Verständnis der Gerechtigkeit Gottes habe ihn dazu geführt, dass er das Wort hasste und im Gewissen verzweifelte. Was ist mit dieser formalen Gerechtigkeit, der iustitia activa gemeint? Die Konzeption einer formalen Gerechtigkeit geht auf Aristoteles (384 v. Chr.–322 v. Chr.) zurück und meint eine distributive oder austeilende Gerechtigkeit: Jeder hat einen Anspruch auf einen richtigen Ausgleich an dem Gesamtbestandteil der Güter ([99], 100–129). Wer nur immer tut, was von ihm gefordert ist, erhält entsprechend dem Guten, was er bewirkt hat, einen gerechten Ausgleich. Wendet man dieses Gerechtigkeitsmodell auf das Gott-Mensch-Verhältnis an, wie es die mittelalterliche Theologie getan hat, dann zeigt sich sofort ein Problem: Auch wenn der Mensch das Gute tut, wozu er gefordert ist, so

2.2 Der Streit um die Datierung des reformatorischen Durchbruchs

fängt er doch aufgrund der Erbsünde immer beim Bösen an ([35], S. 51). Wenn aber Gott allwissend und gerecht ist, dann kann er diesen Umstand nicht übersehen. Durch das Handeln des Menschen kann es also zu einem Ausgleich zwischen ihm und Gott nicht kommen. Es sei denn, Gott verzichtet auf seine Gerechtigkeit. Aber auch wenn man das konzedieren wollte – es steht im Widerspruch zum Gottesbegriff – so kann der Mensch doch nie sicher sein. Er muss folglich immer damit rechnen, dass Gott den Sünder entsprechend seiner Gerechtigkeit richtet. Wird also die iustitia Dei nach dem Modell der aktiven Gerechtigkeit verstanden, dann kann der Mensch nicht wissen, ob er wirklich genug getan hat, um im Gericht bestehen zu können. Denn die leiseste böse Regung im Herzen würde der iustitia activa zufolge bedeuten, dass der Mensch zwar äußerlich etwas Gutes getan hat, aber seine innere Gesinnung nicht gut war. Und da Gott in das Herz des Menschen blickt, kann er die böse Gesinnung unmöglich übersehen. Eine Gewissheit über das eigene Heil stellt sich so nicht ein. Luthers reformatorische Erkenntnis besteht seinem Selbstzeugnis zufolge in einem neuen Verständnis der iustitia Dei: sie ist nicht nach dem Modell eines Ausgleichs zwischen Gott und Mensch durch das Handeln des Menschen zu verstehen, sondern als Geschenk Gottes. Gott gibt dem Menschen seine Gerechtigkeit, ohne etwas von ihm zu fordern. Die Gerechtigkeit Gottes versteht Luther also nicht als eine göttliche Eigenschaft, sondern er bezieht sie auf den Glauben. Mit dem neuen Verständnis der iustitia Dei ändert sich gegenüber der mittelalterlichen Theologie die Stellung und der Sinn des Glaubensbegriffs [127]. Er wird zu einem religiösen Grundbegriff. In seinem späten Rückblick bezeichnet Luther sein neu errungenes Verständnis der Gerechtigkeit Gottes im Unterschied zur aktiven Gerechtigkeit mit einem Terminus, der in seinen Texten allerdings erst 1525 auftaucht, als iustitia passiva (passive Gerechtigkeit) ([1], Bd. 18, S. 768f.; vgl. [134], S. 15f.). Geht man nun allerdings von der Deutung des reformatorischen Durchbruchs durch den alten Luther aus und versucht, ihn an den Quellen aus dem zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts zu überprüfen, dann stößt man aller von dem Reformator vorgenommenen chronologischen Zuordnungen ungeachtet auf große Schwierigkeiten. Zunächst findet sich das von ihm in dem großen Selbstzeugnis angeführte Verständnis der iustitia Dei als einer schenkenden Gerechtigkeit bereits in der ersten Psalmenvorlesung. Ab der Auslegung von Psalm 32 begegnet man ersten Anklängen eines Verständnisses der iustitia Dei in dem Sinn, wie es Luther 1545 ausgeführt hat. Zu Röm 1,17 notiert er in den Dictata super Psalterium: „Item ,Iustitia dei revelatur in eo &c.‘ Sensus est: Nullus hominum scivit, quod ira dei esset super omes et quod omnes essent in peccatis coram eo, sed per Euangelium suum ipse de coelo revelavit et quomodo ab ista ira salvi fieremus, et per quam iustitiam liberaremur, scilicet per Christum.“ ([6], Bd. 5, S. 105 = [1], Bd. 3, S. 174)

„Ebenso Röm. 1,17 ,Darin wird offenbart die Gerechtigkeit usw.‘. Das bedeutet: Kein Mensch hat gewußt, daß der Zorn Gottes auf allen lag und daß alle vor ihm in Sünden waren, aber durch sein Evangelium hat er das selbst vom Himmel offenbart und (auch) wie wir von diesem Zorn gerettet würden und durch welche Gerechtigkeit wir befreit würden, nämlich durch Christus.“ ([10], Bd. 1, S. 44; vgl. [1], Bd. 56, S. 171–173)

Iustitia passiva

Iustitia Dei in den frühen Vorlesungen

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2. Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung

Ernst Bizers Kritik an der Frühdatierung

Widmungsschreiben an Staupitz

An solchen Stellen, die, wie Emanuel Hirsch schreibt, den „erste[n] schüchterne[n] Versuch“ darstellen, „die persönlich errungene Auslegung von Röm 1,17 andern lehrend mitzuteilen“ ([134], S. 28), haben die Behauptungen einer zeitlich sehr früh anzusetzenden reformatorischen Entdeckung ihren Anhalt ([71], S. 155–287; [134]; [108]). Luther wäre dann bereits im Herbst des Jahres 1514 zu einem neuen Verständnis der iustitia Dei gelangt. Karl Holl, der als erster ausgiebig die frühen Vorlesungen Luthers ausgewertet hat, war gar der Meinung, der Reformator sei zu seinem neuen Verständnis der iustitia Dei im Sinne einer geschenkten Gerechtigkeit schon vor der ersten Psalmenvorlesung gelangt, nämlich zwischen Sommer 1511 und Frühjahr 1513 ([71], S. 193–197; [126]; [44], S. 68f.). Der Frühdatierung hat Bizer widersprochen [53]. Er belegt seine These der Spätdatierung nicht nur durch Stellen aus dem Werk Luthers nach 1514, in denen die iustitia Dei nicht als Gabe Gottes verstanden wird, Bizer hat auch den Inhalt der reformatorischen Erkenntnis anders bestimmt, als es bis dahin geschehen war. Für ihn geht es bei Luthers grundlegender Einsicht – im Gegensatz zu dessen eigener Selbstdeutung – nicht um ein neues Verständnis von Röm 1,17, sondern um das Wort Gottes als Heilsmittel. Das „,Erlebnis‘ [ist] auf das Frühjahr oder den Sommer 1518 anzusetzen“, und die Entdeckung besteht darin, „daß Luther das Wort als das Gnadenmittel entdeckt hat“ ([53], S. 7. 154–160). Luthers Gebrauch von iustitia Dei vor 1518, also auch da, wo er von der Gerechtigkeit Gottes als einer Gabe spricht, stehe noch ganz im Banne einer monastischen Humilitasfrömmigkeit, welche als vorreformatorisch einzustufen sei ([53], S. 21f. 40 u.ö.; [23], Bd. 1, S. 215–230; [103]). Die Diskussion um Früh- oder Spätdatierung hat zu keinem Konsens in der Forschung geführt. Sie konnte es aus mehreren Gründen auch nicht. In der Debatte wurde der Durchbruch als ein einmaliger Akt im Sinne eines pietistischen Bekehrungserlebnisses verstanden. Dadurch wird jedoch nicht nur ein äußerst voraussetzungsreiches Verstehensmodell an Luthers Werdegang herangetragen – nämlich das pietistische Modell der echten Konversion, von der man genau angeben kann, wann und wo sie stattgefunden hat –, sondern auch die Komplexität von Luthers theologischer Entwicklung wird auf eine Fragestellung und einen Zeitpunkt reduziert. Sodann muss man sagen, dass Luthers großes Selbstzeugnis gar nicht die Absicht hat, einen bestimmten Zeitpunkt zu benennen. Hierfür sprechen bestimmte grammatikalische Probleme in dem Text ([24], S. 109f.; [37], S. 106f.), aber vor allem dessen Intention. Er soll in die lateinischen Werke des Reformators einführen. An Luthers Darstellung seines Werdegangs in dem Rückblick von 1545 fällt auf, dass er seine eigene Entwicklung in einem bestimmten Interesse konstruiert und unter Aufnahme von Traditionen stilisiert. Es gab nicht nur im Mittelalter eine sogenannte Turmerlebnis-Tradition [150], sondern mit Paulus und Augustin in der Christenheit eine lange Tradition von geprägten Konversionsmustern. Luther bedient sich in dem großen Selbstzeugnis solcher Traditionen, um seinen Werdegang zum Reformator mit erst sehr viel später gewonnenen Kategorien zu deuten. Das zeitlich am nächsten an die von Luther in seinem späten Selbstzeugnis berichteten Ereignisse heranreichende Dokument ist sein Widmungsschreiben an Staupitz vom Frühjahr 1518. Hier formuliert er mit ähnlichen Worten und Wendungen wie 1545 eine neue Entdeckung.

2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen

„Haesit hoc verbum tuum in me, sicut sagitta potentis acuta, coepique deinceps cum scripturis, poenitentiam docentibus, conferre, Et ecce iucundissimum ludum, verba undique mihi colludebant, planeque huic sententiae arridebant et assultabant, ita, ut cum prius non fuerit ferme in scriptura tota, amarius mihi verbum, quam poenitentia (licet sedulo etiam coram deo, simularem, et fictum coactumque amorem exprimere conarer) Nunc nihil dulcius aut gratius mihi sonet, quam poenitentia“ ([8], Bd. 2, S. 18 = [1], Bd. 1, S. 525).

„Dieses dein Wort haftete in mir wie der scharfe Pfeil eines Starken, und ich fing danach an, es mit den Schriften derer zu vergleichen, die die Buße lehren. Und siehe – ein überaus erfreuliches Spiel! Von allen Seiten spielten die Worte mit mir zusammen, schlossen sich dieser Meinung an und traten ihr bei, derart, dass, wo zuvor in der ganzen Schrift kaum ein bittereres Wort als Buße für mich gewesen war (obwohl ich mich vorsätzlich auch vor Gott anders stellte und eine erdichtete und erzwungene Liebe zum Ausdruck zu bringen suchte), für mich jetzt nichts süßer und angenehmer klingt als Buße.“ ([8], Bd. 2, S. 19)

Mit der neuen Entdeckung ist an dieser Stelle allerdings nicht die iustitia Dei gemeint, sondern die Buße. Der Reformator fasst in dem Widmungsschreiben an seinen Beichtvater wesentliche Aspekte seines Neuverständnisses des Bußsakraments zusammen, welches er sich seit der ersten Psalmenvorlesung erarbeitet hatte. Insofern unterstreicht gerade dieses frühe Zeugnis die Komplexität von Luthers theologischer Entwicklung und die Facettenbreite, in der sie sich begrifflichen Ausdruck verschafft.

2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen Luthers Entwicklung zum Reformator lässt sich weder auf einen zeitlich fixierbaren Durchbruch noch auf eine bestimmte Aussageintention bzw. eine theologisch maßgebliche Formulierung reduzieren. Sein Denken formiert sich vielmehr in den zeitgenössischen Debattenkontexten von Kloster und Universität in Erfurt und Wittenberg in einem mehrere Jahre umfassenden Prozess ([126], S. 26–31; [24], S. 107–117). Wichtige Grundlinien und Themen von Luthers theologischer Entwicklung sind nun in den Blick zu nehmen: zunächst die Herausbildung seines Schriftverständnisses, sodann seine Kritik an dem spätmittelalterlichen Bußsakrament und schließlich sein Verständnis der iustitia Dei sowie deren konstitutive Aufbauelemente. Der ,äußere Durchbruch‘ der Reformation, also die Versendung der 95 Thesen Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum ([1], Bd. 1, S. 233–238) am 31. Oktober 1517 an den Erzbischof Albrecht von Brandenburg (1490–1545), fällt in die Zeit der Hebräerbriefvorlesung. Im Anschluss an die Hebräerbriefvorlesung, die am 26. März 1518 endete, reiste Luther nach Heidelberg, wo er am 25. oder 26. April 1518 vor dem Ordenskapitel der Augustiner-Eremiten 40 Thesen verteidigte, die sich vehement gegen die scholastische Theologie wendeten ([1], Bd. 1, S. 353–374; vgl. [24], S. 126–135; [161]; [149]). Seine Ablassthesen fanden – bedingt durch den

Kirchengeschichtlicher Rahmen

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2. Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung

Leipziger Disputation

Buchdruck auf der einen und eine ablasskritische Zeitstimmung auf der anderen Seite – eine rasche Verbreitung: Bereits Ende 1517 lagen Drucke in Leipzig, Nürnberg und Basel vor. Im Januar 1518 verteidigte Johannes Tetzel (1460–1519) auf der Versammlung der sächsischen Dominikanerprovinz in Frankfurt an der Oder 95 bzw. 106 Thesen, die von seinem Ordensbruder Konrad Wimpina (1460–1531) verfasst wurden. Der Tenor der Gegenthesen von Wimpina und Tetzel zielte darauf, Luther als Ketzer bloßzustellen ([23], Bd. 1, S. 198–215). Der Ablassstreit, der sich an einem marginalen theologischen Thema entzündete, brachte eine Lawine ins Rollen, die Luther wohl selbst überrascht hat. Im Frühsommer des Jahres 1518 leitete die römische Kurie Voruntersuchungen gegen Luther ein ([23], Bd. 1, S. 232–237). Allerdings spielte die politische Lage für den Wittenberger, da sein Kurfürst Friedrich III. – der zu den wichtigsten Kurfürsten im Deutschen Reich gehörte – seine schützende Hand über ihn hielt. Friedrich der Weise erwirkte, dass Luther in Deutschland verhört wurde und nicht, wie die Kurie wollte, in Rom. Im Oktober 1518 kam es nach Beendigung des Reichstags in Augsburg zum Verhör Luthers durch Kardinal Thomas Cajetan (1469–1534) ([23], Bd. 1, S. 237–255; [145]). Cajetan sollte nicht mit dem widerspenstigen Wittenberger Mönch disputieren, sondern ihn zum Widerruf bewegen. Der beharrte jedoch darauf, er könne nur dann widerrufen, wenn er aus der Schrift widerlegt werde. Auch weitere Versuche der Kurie, Luther zum Einlenken zu bewegen, etwa die Mission von Karl von Miltitz (1490–1529), blieben erfolglos ([23], Bd. 1, S. 255–263). In Leipzig kam es vom 4. bis 14. Juli 1519 zur Konfrontation mit dem Ingolstädter Theologen Johannes Eck (1486–1543). Die Leipziger Disputation führte zu einer weiteren Eskalation des Streits, da nun die Stellung des Papstes in den Fokus der Auseinandersetzung um Luther rückte ([1], Bd. 59, S. 427–605; vgl. [23], S. 285–332; [24], S. 144–151; [37], S. 134–143; [158]). Mit der Wahl Karls V. (1500–1558) zum deutschen Kaiser im Jahre 1519 musste die Kurie schließlich keine Rücksicht mehr auf Friedrich den Weisen nehmen, so dass der Prozess gegen Luther nun wieder Schwung aufnahm. Allerdings war es jetzt bereits zu spät, um die Reformation einzudämmen. Am 15. Juni 1520 erreichte den Wittenberger Augustiner-Eremiten die Bannandrohungsbulle, die im Oktober rechtskräftig wurde. Luther verbrannte sie am 10. Dezember 1520 vor dem Elstertor zu Wittenberg zusammen mit den „gottlose[n] Bücher[n] des päpstlichen Rechts“ ([21], S. 81). Am 3. Januar 1521 schließlich wurden er und seine Anhänger mit der päpstlichen Bulle Decret Romanum Pontificem definitiv exkommuniziert. 2.3.1 Die Kritik an der überlieferten Schriftlehre Im Zentrum der Theologie Martin Luthers steht die Heilige Schrift. Prägnant formuliert er deren systematische Bedeutung 1520 in seiner Assertio omnium articulorum ([1], Bd. 7, S. 94–151): „Man muss nämlich hier mit der Schrift als Richter ein Urteil fällen, was [aber] nicht geschehen kann, wenn wir nicht der Schrift in allen Dingen, die den Vätern beigelegt werden, den ersten Rang einräumen. Das heißt, dass sie durch sich selbst ganz gewiss ist, ganz leicht zugänglich, ganz verständlich, ihr eigener Ausleger [sui ipsius interpres] alles von allen prüfend, richtend und erleuchtend“ ([8], Bd. 1,

2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen

S. 79. 81 = [1], Bd. 7, S. 97). Das Wort Gottes ist die einzige Norm und Grundlage theologischer Aussagen. Die alles beherrschende Stellung der Heiligen Schrift für die Theologie ist freilich erst das Resultat sowohl von Luthers theologischer Entwicklung als auch – damit verbunden – seiner Auseinandersetzung mit der römischen Kurie. Je mehr sich der Konflikt mit Rom zuspitzte, umso mehr unterstreicht er die alleinige Prinzipienfunktion der Bibel für Theologie und Kirche. Schrift und mittelalterliche Kirche treten für den Reformator nach 1517/18 auseinander. Die Bibel wird nun der Kirche und ihrem Lehramt vor- und übergeordnet. Freilich ist auch die mittelalterliche Theologie an der Schrift orientiert: Theologie ist sowohl für die Scholastik als auch für Luther Auslegung vorgegebener autoritativer Lehrgrundlagen ([102], S. 276). Bereits der junge Luther hatte sich in seinen Erfurter Vorlesungen über die Sentenzen des Lombarden auf eine Vorrangstellung der scriptura vor den „humanas rationes“ ([6], Bd. 5, S. 7 = [1], Bd. 9, S. 46) berufen. Als er im Sommer 1513 seine Vorlesung über die Psalmen beginnt, orientiert er sich ganz an der mittelalterlichen Auslegungstradition. Im Folgenden ist Luthers Aufnahme und Umformung der Lehre vom vierfachen Schriftsinn und die Herausbildung seines eigenen Schriftverständnisses sowie das damit zusammenhängende Reformprogramm des Theologiestudiums darzustellen.

a) Die Umbildung der Lehre vom vierfachen Schriftsinn in Luthers frühen Vorlesungen Luther eröffnete 1513 seine Vorlesung über den Psalter mit einer förmlichen „PRAEFATIO IHESU CHRISTI“, in der er seinen Studenten das Schema des vierfachen Schriftsinnes erörterte ([6], Bd. 5, S. 46–48 = [1], Bd. 3, S. 12f.; vgl. [102], S. 276; [117], S. 219–226). Im Anschluss an Johannes Cassianus (gest. um 430) unterschied die mittelalterliche Auslegungstradition zwischen einem Literalsinn (wörtliche Bedeutung), einem allegorischen (dogmatischer Sinn, der sich auf die Glaubenden bezieht), einem tropologischen (moralischer Sinn) und einem anagogischen Sinn (eschatologische Dimension) des Bibeltextes [114].

Lehre vom vierfachen Schriftsinn

„Littera gesta docet, quid credas allego- „Der Buchstabe lehrt, was geschehen ria. Moralis quid agas, quod tendas ana- ist; die Allegorie, was zu glauben ist; der gogia.“ moralische Schriftsinn, was zu tun ist; der anagogische, was zu hoffen ist.“

Während seiner ersten Psalmenvorlesung war Luther nicht nur das überlieferte hermeneutische Verfahren der Interpretation des biblischen Textes selbstverständlich, sondern auch das der Kommentierung. In sein eigenes Exemplar des Psalterdrucks – der als Wolfenbütteler Psalter erhalten ist – hat er handgeschriebene Interlinearglossen und Marginalglossen zwischen die Zeilen des Bibeltextes beziehungsweise an dessen Rand gesetzt und sie dann den Studenten in der Vorlesung diktiert. Neben den längeren oder kürzeren Glossen verwendet er Scholien, d.h. längere Kommentarstücke zu einem

Kommentierungsverfahren

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2. Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung

Christologische Deutung der Psalmen

Verhältnis von tropologischem und wörtlichem Schriftsinn

oder mehreren Versen beziehungsweise Teilversen. Auch die Scholien von Luthers erster Vorlesung sind als Dresdner Scholien-Handschrift erhalten. Erst in der zweiten Psalmenvorlesung hat er das Interpretationsverfahren mit Interlinear-, Marginalglosse und Scholien aufgegeben und durch eine fortlaufende Kommentierung des Textes ersetzt. Bei der Exegese der Psalmen verwendet Luther die neuesten wissenschaftlichen Hilfsmittel seiner Zeit: Das Lehrbuch und Lexikon der hebräischen Sprache von Johannes Reuchlin (1455–1522) mit dem Titel De rudimentis Hebraicis, sodann das Psalterium quincuplex des französischen Humanisten Jacobus Faber Stapulensis (1450/1455–1536). In der Römerbriefvorlesung legt er ab der Auslegung des 9. Kapitels das von Erasmus von Rotterdam (1466/1467/1469–1536) im Frühjahr 1516 in Basel edierte griechische Neue Testament – Novum Instrumentum omne – zugrunde. Mit der mittelalterlichen Lehr- und Frömmigkeitstradition versteht der junge Professor die Psalmen christologisch. Sie sind schon dem wörtlichen Textsinn nach als Gebete Christi aufzufassen ([117], S. 222; [119]). Der Wittenberger Theologe verstärkt allerdings in den Dictata super Psalterium die christologische Dimension des Psalters. Dadurch kommt es im Verlauf der Vorlesung zu einer Veränderung des traditionellen Auslegungsschemas von dem vierfachen Schriftsinn: Luther ordnet den tropologischen Schriftsinn dem allegorischen und dem anagogischen Sinn über ([102], S. 276; [117], S. 177). Ein besonders eindringliches Beispiel hierfür ist seine Auslegung von Psalm 71 (72) ([1], Bd. 3, S. 464–486; vgl. [144]). Luther unterscheidet iustitia und iudicum (Gericht) sowohl im Hinblick auf den Menschen als auch auf Gott. Beide sind entgegengesetzt. Dem allegorischen Schriftsinn nach, der freilich prophetisch im Wortsinn zu verstehen ist, bezieht sich das Gericht Gottes auf die Scheidung der Guten und der Bösen. Tropologicum hingegen meint iudicium Dei das Gericht, in dem er „alles verdammt und verdammen läßt“. Das sei, wie der Wittenberger Theologe fortfährt, „im eigentlichen Sinne die Demut oder Erniedrigung. Denn nicht, wer sich demütigt dünkt, ist gerecht, sondern wer sich in seinen Augen verabscheuenswürdig und verdammenswert vorkommt [und seine Sünden verdammt, straft usw.] der ist gerecht“ ([10], Bd. 1, S. 91f. = [1], Bd. 3, S. 465). Luther versteht das Wort als den Sohn Gottes ([1], Bd. 3, S. 463) und schaut es mit dem Glaubenden zusammen. Dadurch verschiebt sich die Textaussage im tropologischen Sinn von dem moralischen Gehalt zu deren Heilsbedeutung. Die weitere Entwicklung von Luthers Theologie resultiert vor allem aus dem Verhältnis des so verstandenen tropologischen zu dem wörtlichen Sinn der Schrift ([136]; [134]), S. 33f.). Der buchstäbliche Sinn des Psalters hat es mit Christus zu tun und der tropologische mit dem Evangelium. „Der eine schilderte das Leiden und die Herrlichkeit Christi, seine Ängste, seine Gottverlassenheit und seine Triumphe; der andere zeigte, was dies für den Menschen bedeutet, wie er es auf sich anwenden und in sich nacherleben soll.“ ([136], S. 547; [117], S. 202) Luther verknüpft schon hier den wörtlichen Sinn der Schrift mit deren Verstehen durch den glaubenden Menschen. Die Schrift, so könnte man pointiert zusammenfassen, hat man erst dann verstanden, wenn man den gekreuzigten Christus und in ihm sich selbst erkannt hat. Zur Schriftinterpretation gehört die subjektive Erfahrungsdimension

2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen

konstitutiv hinzu. Seinen wohl prägnantesten Ausdruck hat dieser Zusammenhang in der Auslegung des Magnifikats von 1521 gefunden. In der Vorrede schreibt Luther: „DIeszen heiligen lobgesang ordenlich zuuorstehen / ist zu merckenn / das die hochgelobte iunckfraw Maria ausz eygner erfaru(n)g redet / darynnen sie durch den heyligen geist ist erleucht vnnd geleret worde(n). Den(n) es mag niemant got noch gottes wort recht vorstehe(n) / er habs denn on mittel von de(m) heyligen geyst. Niema(n)t kansz aber von dem heiligen(n) geist habe(n) / er erfaresz vorsuchs vnd empfinds denn / vnnd yn der selben erfarung / leret d(er) heylig geyst / alsz ynn seiner eygenen schule.“ ([7], Bd. 1, S. 317 = [1], Bd. 7, S. 546)

Die Unterscheidung und Verknüpfung von äußerem Wort der Schrift und innerer Erfahrung hat Luther aufgenommen und systematisch ausgestaltet in seiner späteren Lehre von der doppelten Klarheit der Schrift (vgl. unten). Die von dem Reformator in der ersten Psalmenvorlesung vorgenommene Verzahnung von tropologischem und Literalsinn führt ihn bei der Auslegung der Psalmen zur Auflösung des überkommenen mittelalterlichen Verfahrens der Schriftauslegung. Als er nach Beendigung der Dictata super Psalterium die Vorlesung für den Druck überarbeitet, schreibt er in der neuen Fassung von Psalm 4, dass alle vier Schriftsinne in einen einzigen einmüden ([1], Bd. 3, S. 46). Ein Jahr später in der Galaterbriefvorlesung erklärt Luther dann den sensus historicus zum Grundsinn der Schrift ([1], Bd. 57 (2), S. 95f.). Seit 1518, im Zusammenhang mit der schärfer werdenden Auseinandersetzung mit der römischen Kurie, wird Luthers Verständnis der Schrift immer ausgeprägter. Es wächst in ihm nicht nur die Überzeugung von der Eindeutigkeit und Klarheit der Bibel, sie rückt auch immer stärker in eine grundlegende Prinzipienfunktion für Theologie und Kirche ein. Maßgebliche Autorität in geistlichen Dingen sind weder Papst noch Konzilien oder kirchliche Lehrtradition oder gar menschliche Vernunft, sondern ist allein die Schrift. Der Text der Bibel ist jedoch grammatisch auszulegen. Die philologisch-grammatisch zu erhebende Bedeutung der Schriftworte wird zum Maßstab und Kriterium der Auslegung ([1], Bd. 6, S. 509). Gegenüber dem römischen Lehramt macht der Reformator am Ende des zweiten Jahrzehnts des 16. Jahrhunderts mit wachsender Schärfe deutlich, dass die Schrift als Grundlage und Richtschnur jeglicher theologischer Lehrbildung zu gelten habe. Zur endgültigen Verabschiedung der Lehre vom vierfachen Schriftsinn kommt es in der zweiten Psalmenvorlesung. In der Auslegung von Psalm 21 (22), 19: „Sie teilten meine Kleider unter sich auf und werfen das Los um mein Gewand“ vergleicht Luther die mittelalterliche Lehre vom vierfachen Schriftsinn mit den Kriegsknechten, welche nach der Kreuzigung Christi dessen Gewand zerstückelten ([1], Bd. 5, S. 644f.). „Die Ironie dieser Interpretation besteht darin, daß sie zwecks Kritik jener Auslegungsmethode die vorliegende Textstelle selbst allegorisch deuten muß.“ ([102], S. 277) Freilich hat Luther, worauf wiederholt hingewiesen wurde, auch nach seiner programmatischen Verabschiedung der Lehre vom vierfachen

Bibel als Grundlage der Theologie

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2. Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung

Schriftsinn nie ganz auf die allegorische Deutung der Schrift verzichtet ([213], S. 198).

b) Die doppelte Klarheit der Schrift

Äußere Klarheit der Schrift

Die von Luther vorgenommene Auszeichnung der Heiligen Schrift fand ihren treffendsten Ausdruck in der Lehre von der doppelten Klarheit der Schrift, wie er sie 1525 in De servo arbitrio ausgeführt hat. In diese Lehre gehen diejenigen Neuerungen und Aspekte seines Schriftverständnisses ein, die er sich in seinen exegetischen Vorlesungen erarbeitet hatte ([1], Bd. 9, S. 46; vgl. [136]; [117]; [119]). Sie sind auch für sein Verständnis der Kirche grundlegend (vgl. unten). Der Reformator unterscheidet zwischen einer äußeren und einer inneren Klarheit der Schrift (claritas externa et interna scripturae) ([102]; [156]; [104]; [133]). Luthers Begriff der claritas externa scripturae ist das Resultat der von ihm vorgenommenen Auflösung der mittelalterlichen Lehre von dem vierfachen Schriftsinn, in deren Folge der sensus historicus zur Grundlage der Schriftauslegung avanciert ([1], Bd. 5, S. 8). Über die äußere Klarheit der Schrift erklärt Luther gleich in den ersten Abschnitten von De servo arbitrio: „Eadem vero res, manifestissime toti mundo declarata, dicitur in scripturis tum verbis claris, tum adhuc latet verbis obscuris. Iam nihil refert, si res sit in luce, an aliquod eius signum sit in tenebris, cum interim multa alia eiusdem signa sint in luce.“ ([8], Bd. 1, S. 236 = [1], Bd. 18, S. 606)

„Ein und dieselbe Sache aber, ganz deutlich der ganzen Welt erklärt, wird in der Schrift mal mit klaren Worten ausgesagt, mal verbirgt sie sich bisher hinter undeutlichen Worten. Nun macht es nichts, wenn die Sache am Licht ist, ob irgendein Zeichen in Dunkelheit liegt, weil ja unterdessen viele andere ihrer Zeichen am Licht sind.“ ([8], Bd. 1, S. 237)

Der Begriff claritas externa bezeichnet eine offenkundige Sache, die im Licht steht und durch sprachliche Zeichen angezeigt wird. Luther hat die genannte Relation von Zeichen und Sache in De servo arbitrio aber auch in anderen Texten als Evidenz bezeichnet ([1], Bd. 6, S. 505). Nun macht jedoch das von ihm in diesem Zusammenhang angeführte Beispiel eines öffentlichen Brunnens, den man von den Seitengassen einer Stadt aus nicht sieht, deutlich, dass er mit Evidenz nicht an logische Evidenz denkt, wie sie etwa Vernunftschlüssen eigen ist, sondern an das Vorliegen einer Sache in ihrer objektiven Bestimmtheit ([1], Bd. 18, S. 606; vgl. [133], S. 171f.). Es ist hier also genauer von Sachevidenz zu reden, die sich auf die sprachlichen Zeichen überträgt, die diese repräsentieren ([1], Bd. 18, S. 641. 715. 718. 739; vgl. [102], S. 277). Der Terminus claritas externa bezeichnet folglich die sich in dem Wortsinn der Schrift ausdrückende Sachevidenz ([1], Bd. 18, S. 641. 739). Sie ist, wie Luther erklärt, mit den Mitteln der Grammatik und der Philologie zu erheben. Mit der Klärung der claritas externa der Schrift ist Luthers Schriftverständnis noch nicht vollständig erörtert. Das wird sofort deutlich, wenn man folgende Stelle aus De servo arbitrio in Betracht zieht.

2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen

„Quid enim potest in scripturis augustius latere reliquum, postquam fractis signaculis et voluto ab hostio sepulchri lapide, illud summum mysterium proditum est, Christum filium Dei factum hominem, Esse Deum trinum et unum, Christum pro nobis passum et regnaturum aeternaliter?“ ([8], Bd. 1, S. 234 = [1], Bd. 18, S. 606)

„Was kann denn in der Schrift noch Erhabenes verborgen sein, nachdem die Siegel gebrochen sind und der Stein von der Tür des Grabes weggewälzt worden ist? Womit das höchste Geheimnis an den Tag getreten ist, dass nämlich Christus, der Sohn Gottes, Mensch geworden ist, dass Gott dreifaltig ist und ein einziger, dass Christus für uns gelitten hat und herrschen wird in Ewigkeit.“ ([8], Bd. 1, S. 235)

Den Gehalt der claritas externa, der durch die Buchstaben der Schrift repräsentiert wird, bezeichnet Luther hier mit dem menschgewordenen Gott, Christus dem Gekreuzigten. Er tritt in der Schrift klar zutage. Zugleich deutet sich hier bereits der Zusammenhang von äußerer und innerer Klarheit der Schrift an ([133], S. 190f. 207–212; [164], Sp. 730 Anm. 2). Für das Verständnis von Luthers Begriff der claritas interna und ihres Zusammenhangs mit der claritas externa ist folgende Bemerkung von Relevanz: „Wenn du von der inneren Klarheit sprichst, sieht kein Mensch auch nur ein Jota in den Schriften, es sei denn, er hätte den Geist Gottes.“ ([8], Bd. 1, S. 239 = [1], Bd. 18, S. 609) Der Reformator nimmt in seinen Begriff der claritas interna die von ihm in der ersten Psalmenvorlesung ausgearbeitete Unterscheidung von Geist und Buchstabe (2. Kor 3,6) auf, die er jedoch im weiteren Verlauf seiner theologischen Entwicklung durch die darin enthaltene Antithetik von Gesetz und Evangelium ablöste ([117], S. 210–216; [30], S. 100–119). Der Geist wirkt inwendig, aber er bleibt in seinem Wirken auf den äußeren Buchstaben angewiesen. Er bedient sich in seinem gewissmachenden Handeln des äußeren Buchstabens als einem Vehikel ([1], Bd. 18, S. 695. 653; vgl. [1], Bd. 18, S. 62–214). Das gewissmachende Handeln des Geistes besteht seinem Gehalt nach darin, dass er – wie Luther im Anschluss an den alttestamentlichen Sprachgebrauch sagt – das durch die Sünde verfinsterte menschliche Herz umwendet. Die Selbstsüchtigkeit des Menschen wird von dem Geist durch die Aufrichtung des Bildes Christi überwunden: In „einem sehr süßen Hinreißen“ wendet er das Herz zu Christus hin ([8], Bd. 1, S. 647 = [1], Bd. 18, S. 782). Damit ist der Gehalt von Luthers Begriff der claritas interna der Schrift erreicht. Sie bezieht sich auf die Herzenserkenntnis – „in cordis cognitione sita“ ([1], Bd. 18, S. 609) – und beinhalt die mit dem Rechtfertigungsglauben verbundene Heilsgewissheit, die als ein eigenes Wirken des Geistes im Inneren des Menschen verstanden werden muss ([133], S. 207–212). Die innere Klarheit der Schrift entspricht der äußeren. Aufgrund der claritas interna – der durch den Geist gewirkten Herzenserkenntnis – vermag der Mensch die äußere Klarheit der Schrift sowohl in ihren einzelnen Bestandteilen wie im Ganzen zu erfassen. Ohne die innere Klarheit bleibt aber auch jenes höchste Geheimnis in der Schrift, von dem oben bereits die Rede war, nämlich dass „die Siegel gebrochen sind und der Stein von der Tür des Grabes weggewälzt worden ist“ ([8], Bd. 1, S. 235 = [1], Bd. 18, S. 606), verborgen ([133], S. 182).

Innere Klarheit der Schrift

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2. Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung Zusammenhang der beiden Klarheiten

Wie verhalten sich nun beide Klarheiten zueinander? Ist die äußere der inneren Klarheit im Sinne eines objektiven Grundes vor- und übergeordnet, wie einige Interpreten meinen ([104], S. 84. 88)? Oder muss man der claritas interna eine grundlegendere Bedeutung beimessen [133]? Beide Lesarten werden Luthers Gedanken nicht gerecht. Zwar ist die äußere Klarheit der inneren in gewisser Weise vorgeordnet, aber zum Ziel gelangt jene erst in dieser. Ohne die innere Herzenserkenntnis bleibt die Schrift dunkel. Dann wäre aber das Verhältnis beider Klarheiten im Hinblick auf ihre Konstitutionsfunktion angemessener als Gleichursprünglichkeit zu beschreiben. Äußere und innere Klarheit der Schrift sind folglich beide konstitutive Momente im Verstehen der Bibel ([102], S. 283). Das Verstehen der Schrift ist das Werk des Geistes Gottes: Ohne dass Gott vermittelst des äußeren Wortes durch den Heiligen Geist im Herzen des Menschen Christus als den menschgewordenen und gekreuzigten Gott Gestalt werden lässt, kommt es weder zur Gewissheit des Menschen noch zu einem Verstehen der Heiligen Schrift. c) Bibel und Kirchenväter – Luthers Kritik an der scholastischen Theologie

Humanismus

Bibel und Augustin

Bevor Luther mit seinen Ablassthesen im Herbst des Jahres 1517 an die Öffentlichkeit getreten ist, hat er an der Wittenberger Universität als Reformer des Theologiestudiums gewirkt ([23], Bd. 1, S. 264–284; [24], S. 89–106). Seine Universitätsreform stand im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Ausleger der Heiligen Schrift. Als er 1512 an der Wittenberger Universität promoviert wurde, existierte sie gerade einmal 10 Jahre. Die Voraussetzungen für eine Reform des Theologiestudiums waren also überaus günstig. Hinzu kam ein kollegiales Umfeld, welches Reformen des Studiums durchaus aufgeschlossen war. Das zeigte sich nicht nur an der Berufung des berühmten Gräzisten Philipp Melanchthon im August 1518. Die Wittenberger Universität besaß eine klare humanistische Orientierung. Dem frühneuzeitlichen Humanismus ging es um eine „Neubelebung der sprachlichen Wissenschaften in Gestalt einer intensivierten Philologie“ ([24], S. 91). Das Losungswort des Humanismus lautet bekanntlich „ad fontes“ – zurück zu den antiken Quellen. Damit war vor allem ein Rückgang hinter die mittelalterliche Auslegung antiker Autoren, die als Entstellung gewertet wurde, gemeint. In der Forschung ist es freilich umstritten, ob man Luther selbst dem Humanismus zuordnen kann oder nicht [75]. Wie auch immer man diese Frage entscheidet, unstreitig ist freilich, dass seine Wittenberger Tätigkeit in einem humanistisch geprägten Reformkontext steht. Luthers Auslegung der biblischen Schriften ist verbunden mit einer wachsenden Kritik an der scholastischen Theologie seiner Zeit. In seinen Vorlesungen geht der junge Professor zunehmend hinter die mittelalterlichen Kommentatoren auf den Urtext der Bibel zurück und verwendet die neuesten exegetischen Hilfsmittel seiner Zeit. Auch die Kirchenväter – allen voran Augustin (354–430) – werden von Luther nicht mehr durch die Brille der mittelalterlichen Interpretatoren gelesen, sondern im Original. Bereits in der Römerbriefvorlesung ist er mit Augustins antipelagianischer Schrift De spiritu et littera aufs engste vertraut [143]. Im Corrolarium zu Röm 4,7 – „Selig sind die, denen die Ungerechtigkeiten vergeben und denen die Sünden be-

2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen

deckt sind“ – fügt Luther mitten in seine lateinischen Ausführungen zur Kritik der scholastischen Theologie auf Deutsch ein: „O Stulti, o Sawtheologen!“ ([6], Bd. 5, S. 242 = [1], Bd. 56, S. 274) Der Abstand zwischen Bibel und Kirchenvätern auf der einen und der mittelalterlichen Theologie auf der anderen Seite tritt nicht nur immer stärker ins Blickfeld des Reformators, sondern es geht ihm auch explizit darum, die scholastische Theologie durch eine an der Bibel und den Kirchenvätern orientierte Theologie zu ersetzen. Die Bibel und Augustin sollen an die Stelle des mittelalterlich verstandenen Aristoteles und seiner Kommentatoren treten. In einem Brief an seinen Gefährten und Ordensbruder Johannes Lang (1487–1548) vom 18. Mai 1517 berichtet Luther über den Lehrbetrieb an der Wittenberger Universität: „Theologia nostra et S. Augustinus prospere procedunt et regnant in nostra universitate Deo operante. Aristoteles descendit paulatim inclinatus ad ruinam prope futuram sempiternam. Mire fastidiuntur lectiones sententiariae, nec est, ut quis sibi auditores sperare possit, nisi theologiam hanc, id est bibliam aut S. Augustinum aliumve ecclesiasticae autoritatis doctorem velit profiteri.“ ([6], Bd. 6, S. 5 = [4], Bd. 1, S. 99, Nr. 41)

„Unter Gottes Beistand machen unsere Theologie und S. Augustin gute Fortschritte und herrschen an unserer Universität. Aristoteles steigt nach und nach herab und neigt sich zum nahe gerückten ewigen Untergang. Auf erstaunliche Weise werden die Vorlesungen über die Sentenzen verschmäht, so dass niemand auf Hörer hoffen kann, der nicht über diese Theologie, d.h. über die Bibel, über S. Augustin oder über einen anderen Lehrer von kirchlicher Autorität lesen will.“ ([24], S. 96)

Mit der Fokussierung auf die Bibel und Augustin sind weitreichende Folgen für den Aufbau des Universitätsstudiums verbunden. Sie zielen im Kern auf eine Abschaffung des an der aristotelischen Philosophie orientierten Grundstudiums an der Artistenfakultät. Luther hat seine Kritik an der scholastischen Theologie seiner Zeit nicht nur in seinen Vorlesungen vorgetragen, sondern auch in Disputationen. Am 4. September 1517, also wenige Wochen vor Beginn der Ablassstreitigkeiten, verteidigte Franz Günther (gest. 1528) aus Nordhausen in Wittenberg zur Erlangung des Baccalaureus biblicus eine von Luther verfasste Thesenreihe. Sie trägt den Titel Disputatio contra scholasticam theologiam ([1], Bd. 1, S. 224–228) und ist um einiges radikaler als die späteren Ablassthesen ([123]; [23], Bd. 1, S. 160–172; [24], S. 101–104). In der These 45 heißt es: „Es ist ein Irrtum zu sagen, ohne Aristoteles wird man kein Theologe. Gegen die allgemeine Rede.“ These 46 knüpft nahtlos an: „Vielmehr wird man ein Theologe nur, wenn man es ohne Aristoteles wird.“ Luthers Kritik gilt hier ganz dem mittelalterlichen Aristoteles-Verständnis und vor allem seiner Indienstnahme für die Theologie. Sie richtet sich nicht, wie in letzter Zeit wiederholt gezeigt wurde, gegen den historischen Aristoteles [113]. Grundlegende Themen der Theologie des Reformators – die Bestreitung der Freiheit des menschlichen Willens (These 5) oder die Überzeugung, dass der natürliche Mensch nicht wollen kann, dass Gott Gott ist (These 17) – finden sich bereits in diesen Disputationsthesen. Die Heidelberger Disputation vom April 1518 nimmt diese Themen dann wieder auf und führt sie weiter.

Disputatio contra scholasticam theologiam

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2. Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung

2.3.2 Die Kritik an der Bußlehre Der innere Ursprung der Reformation liegt in Luthers Auseinandersetzung mit dem Wesen und der Funktion der Buße ([102], S. 271; [101]; [124], S. 1–24; [44], S. 140f.). Mit ihrem Begriff und ihrer Praxis hatte er sich schon in den Dictata super Psalterium auseinandergesetzt. Auch seine erste Veröffentlichung – Die sieben Bußpsalmen mit deutscher Auslegung ([1], Bd. 1, S. 158–222) aus dem Jahre 1517 – galt der Buße. Das von ihm in seinen frühen Vorlesungen erarbeitete Bußverständnis wurde dann zum Fundament der Kritik an dem Ablassinstitut der mittelalterlichen römischen Kirche. Der im Herbst des Jahres 1517 einsetzende Ablassstreit markierte den äußeren Durchbruch der Reformation. Luther hatte sich sein eigenes Verständnis der Buße in ihren Grundzügen bereits vor Ausbruch des Ablassstreites erworben. Es führt in das systematische Zentrum seiner Theologie: Die Buße zielt für ihn auf ein von Gott gnadenhaft gewirktes Selbstverstehen des Menschen. In ihrem Kern ist sie die Einsicht des Menschen in sein vollkommenes Sündersein vor Gott. Sünden-, Gnaden- und Gottesverständnis sind in Luthers Bußtheologie eng miteinander verbunden. Mit seinem Bußverständnis setzte er durchaus neue, über die mittelalterliche Lehrtradition hinausgehende Akzente. Um seine Auffassung der Buße und die damit verbundene Kritik an dem Ablassinstitut der Kirche zu verstehen, muss als Erstes das mittelalterliche Bußsakrament in seinen Grundzügen erörtert werden. Als Zweites sind Luthers neues Verständnis der Buße und die es tragenden inneren Aufbauelemente darzustellen. a) Das mittelalterliche Bußverständnis Bußsakrament

Das Markusevangelium beginnt bekanntlich mit dem Ruf Jesu: „Tut Buße und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15). Das Bußthema ist in der Tat für das Christentum von Anfang an grundlegend. Bei ihm geht es um eine neue Begründung des Gottesverhältnisses nach vorangegangenen Verfehlungen, also um die Rückkehr des Menschen zu Gott ([105]; [148]). Im frühen Christentum und in der Alten Kirche wurde dem bußwilligen Sünder eine Wiederaufnahme in die Heilsgemeinschaft der Kirche ermöglicht, wenn er öffentlich seine Verfehlungen beichtete und bestimmte Bußleistungen erbrachte. Sie bestanden in der Regel aus Gebet, Fasten und Almosen. Zu Beginn des Mittelalters kam es jedoch zu einer Wende im Bußverständnis, als dessen Resultat die Buße 1439 auf der Synode von Florenz als Viertes unter den sieben Sakramenten der Kirche erschien ([151]; [160]). Das Decretum Gratiani von 1140 kennt drei Hauptstücke der Buße: die Reue (poenitentia im engeren Sinne oder contritio), die Beichte (confessio) und die Genugtuung (satisfactio). Das Bußsakrament 1. contritio cordis (Reue): sie hat für einige Autoren sündenvertilgende Kraft; dient der Vorbereitung auf den sakramentalen Empfang der Gnade 2. confessio oris (Beichte): Bekenntnis der Sünden gegenüber dem Priester; entspricht dem Auftrag Christi 3. satisfactio operis (Genugtuung): Leistungen entsprechend der Bußkanones

2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen

Die wichtigste Umstellung im Mittelalter betraf die Einführung der Privatbuße sowie – damit verbunden – eine Reglementierung des Bußwesens seit dem 9. Jahrhundert. Die Buße war nun nicht mehr wie in altkirchlicher Zeit eine Form öffentlicher Gemeindezucht, sondern der bußwillige Sünder legte vor dem Priester ein individuelles Schuldbekenntnis ab, wurde von ihm absolviert und gemäß der Bußkanones zu individuellen Bußübungen verpflichtet. Die sogenannte Tarifbuße führte jedoch dazu, dass die Bußleistungen einen ganz neuen Sinn bekamen. Sie verschoben sich von der Schuld auf den Aspekt der Strafe. Im 12. Jahrhundert wandelte sich das Bußverständnis ([124], S. 2–8; [151], S. 50–102). Die inneren Dimensionen von Schuld, Reue und Liebe traten nun in das Zentrum des Bußinstituts. Für Petrus Abaelard (1079–1142) ist die Reue (contritio) der Inbegriff der Buße ([151], S. 56–59). Sie besteht in dem von Gott gnadenhaft gewirkten Schmerz des Sünders über seine Sünden. Das Motiv der Reue soll nicht die Furcht vor Strafen sein, sondern die Liebe zu Gottes Güte. Dem reuigen Sünder erlässt Gott die ewigen Strafen (poenae aeternae). Zur wahren Reue – in der die Sündenschuld vergeben ist – gehört, dass der Poenitent einen Priester zum Beichten aufsucht. Den Gegenstand des kirchlichen Bußverfahrens bilden die übrigbleibenden zeitlichen Strafen (poenae temporales). Sie werden in dem irdischen Leben und nach dem Tod im Fegefeuer – den kanonischen Bußbestimmungen gemäß – durch Satisfaktionsleitungen abgegolten. Wurde die Absolution ursprünglich nur dann erteilt, wenn der reuige Sünder durch Bußübungen seine Umkehr vor der Gemeinde öffentlich unter Beweis stellte, so änderte sich diese Reihenfolge im 13. Jahrhundert. Noch bevor die Bußleistungen erbracht wurden, konnte die Absolution erteilt werden. Nach mittelalterlicher Auffassung wird die Erbsünde durch die Taufe vergeben. Die Buße wandelt alle auf die Taufe nachfolgenden Sünden in lässliche Sünden und tilgt deren ewige Schuld. Es bleibt also nur noch die Strafwürdigkeit der lässlichen Sünden bestehen, und sie wird in Form kirchlich auferlegter Strafleistungen beglichen. Einher geht damit eine Aufwertung des Priesters, der die Absolution erteilt. Er hat für die mittelalterlichen Autoren die Schlüsselgewalt. In deren Folge wird der göttliche Auftrag zur Sündenvergebung auf die Vollmacht zur Strafsanktion übertragen. Die kirchlichen Bußstrafen konnten somit als äußerer Vollzug des Strafhandelns Gottes verstanden werden. Dadurch wurde die kirchliche Strafkompetenz über den Bereich des menschlichen Lebens hinaus ausgedehnt, und hier wird das purgatorium – das Fegefeuer – für das Bußsakrament relevant [162]. Denn wenn jemand starb, bevor er die von der Kirche auferlegten Bußleistungen erfüllen konnte, bot sich ihm nun die Möglichkeit, die noch offenen Leistungen abzugelten. Das Fegefeuer ist der Vorhof der Hölle, aber selbst kein Ort der Verdammnis, sondern ein Läuterungsort. In ihm konnte und sollte das nachgeholt werden, was man im irdischen Leben versäumte, um nach vollständiger Erfüllung aller Bußstrafen geläutert ins Paradies eintreten zu können. An dieser Stelle bekommt der Ablass seine Funktion für das mittelalterliche Bußinstitut ([151], S. 103–117; [152]). Der Ablass, seit dem 13. Jahrhundert indulgentia genannt, wurzelt im System der Tarifbuße, das die Ersetzung der fixierten Satisfaktionen durch andere Leistungen wie Geldzahlung (re-

Wandlungen im 12. Jahrhundert

Fegefeuer

Ablass

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2. Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung

demption) vorsieht, wobei die Leistungen einander äquivalent sein sollen. Beim Ablass hingegen fällt die Äquivalenzforderung weg. Die ersten Ablässe wurden in Südfrankreich Mitte des 11. Jahrhunderts für Kirchenbaumaßnahmen und Kreuzzüge gewährt und versprachen von Anfang an Erleichterung des Fegefeuers. Hugo von St. Cher (gest. 1263) verknüpfte den Ablass mit dem thesaurus ecclesiae (Schatz der Kirche). Ihm zufolge kann der Papst aus dem Schatz der überschüssigen Verdienste Christi sowie der Heiligen Ablass gewähren. Papst Clemens VI. (1342–1352) erklärte die Theorie des thesaurus ecclesiae zur offiziellen Kirchenlehre. Im späten Mittelalter wurde das Ablassangebot immer breiter und vielfältiger. Es liegt auf der Hand, dass das Ablassinstitut auf der einen Seite eine wichtige Finanzquelle für die Papstkirche darstellte und auf der anderen Seite sehr wirkungsmächtig war, die Massen an die Kirche zu binden. 1506 schrieb Papst Julius II. (1443–1513) anlässlich der Grundsteinlegung der Peterskirche zu Rom einen Plenarablass aus, durch den deren Bau finanziert werden sollte. Sein Nachfolger Leo X. (1475–1521) hat diesen Plenarablass am 31. März 1515 durch eine eigene Ablassbulle erneuert. In der Anfang 1517 erschienenen Instructio summaria von Erzbischof Albrecht von Brandenburg wurden die Richtlinien des Petersablasses festgelegt. Sie sahen vier Haupt-Gnaden vor, die durch den Kauf von Ablassbriefen erlangt werden konnten. „Die erste Gnade ist die vollkommene Vergebung aller Sünden. Eine größere Gnade als diese kann nicht genannt werden, weil der Mensch, der in Sünden lebt und der Gnade Gottes beraubt ist, durch sie vollkommene Vergebung und von neuem die Gnade Gottes erlangt. […] Die zweite Haupt-Gnade ist ein Beichtbrief voll von den größten, hilfreichsten und bislang unerhörten Möglichkeiten. […] Die dritte Haupt-Gnade ist die Teilhabe an allen Gütern der allgemeinen Kirche. Sie besteht darin, daß die für den Neubau Geld gebenden Menschen und ihre in der Liebe verstorbenen Eltern von nun an und in Ewigkeit Anteil haben werden an allen Bitten, Fürbitten, Almosen, Fasten, Gebeten und Wallfahrten aller Art. […] Zur Erlangung dieser beiden Haupt-Gnaden ist es nicht notwendig zu beichten. […] Die vierte Haupt-Gnade besteht in der vollkommenen Vergebung aller Sünden für die im Fegefeuer befindlichen Seelen.“ (Zitiert nach [37], S. 116)

Der Ablass bildete einen zentralen Bestandteil des mittelalterlichen Bußsakraments. Dass er zu einer Veräußerlichung der Buße führte, ist deutlich. Er war schon im Mittelalter nicht unumstritten. Luthers Kritik am Ablass in den Thesen von 1517 nimmt die ablasskritische Stimmung seiner Zeit auf, hat jedoch ein völlig verändertes Bußverständnis zum Fundament. b) Luthers Bußverständnis und seine Voraussetzungen im Sündenbegriff In der ersten seiner 95 Thesen zur Erläuterung der Kraft des Ablasses, die Luther am 31. Oktober 1517 an Erzbischof Albrecht von Brandenburg schickte, heißt es: „Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: ,Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen‘ [Matth 4,17], wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.“ ([8], Bd. 2, S. 3 = [1], Bd. 1, S. 233) Das neutestamentliche Bußverständnis, demzufolge das gesamte

2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen

christliche Leben Buße sei, stehe wie Luther in den folgenden Thesen ausführt, nicht nur im Gegensatz zum mittelalterlichen Bußsakrament und seinen drei Bestandteilen der contritio cordis, der confessio oris und der satisfactio operis (vgl. ebd. These 2) sondern meine auch nicht nur die innere Buße allein (vgl. ebd. These 3). Die wahre Buße liege vielmehr in der Einheit von innerer und äußerer Buße. Dieses von Luther in den 95 Thesen ausgeführte Verständnis der Buße wurde ihm 1517 zur Grundlage seiner Kritik an dem mittelalterlichen Ablassinstitut ([124], S. 90–114; [101]. Er versteht die Buße nicht mehr als ein dem reuigen Sünder von der Kirche angebotenes sakramentales Hilfsmittel, sondern als einen Bestandteil des menschlichen Lebens im Gottesverhältnis. Er bezieht sie auf die göttlicherseits gewirkte Einsicht des Menschen in seine vollkommene Sündhaftigkeit gegenüber Gott ([102], S. 272). Die Buße ist eine Form der Selbstbeurteilung. In ihr entwickelt sich eine Dialektik von ,gerecht‘ und ,ungerecht‘, die sich über das Gottesverhältnis aufbaut. Dieses Bußverständnis ist das Resultat seiner Verknüpfung von Sündenbegriff und Buße. Um die Eigentümlichkeit von Luthers Bußtheologie zu verstehen, empfiehlt es sich, die angedeutete Verzahnung zu erschließen. So wird auch deutlich, warum er das mittelalterliche Bußsakrament und das Ablassinstitut einer radikalen Kritik unterzieht. Luther unterscheidet zunächst mit der mittelalterlichen Lehrtradition zwischen der Erbsünde und der Aktsünde. Allerdings hat er schon früh, wie die 1509 verfassten Randbemerkungen zu den Sentenzen des Lombarden erkennen lassen, sein Sündenverständnis in dem Begriff der concupiscentia (Begierde) zum Ausdruck bringen können ([1], Bd. 9, S. 73). Mit der spätmittelalterlichen Theologie teilte er zunächst noch die Auffassung einer Tilgung der Erbsünde durch die Taufe, womit beim Menschen nur noch deren Reste als Schuldverhängnis und Sündenstrafen verbleiben. Da jedoch die Begierde als eine reale Erfahrung auch nach der Taufe noch bleibt, konnte die concupiscentia nicht mit der Erbsünde identisch sein. In den frühen Randbemerkungen ordnet Luther die Begierde der Aktualsünde zu. Jene Einschätzung wird von ihm in den folgenden Jahren verändert, und zwar in dem Maße, in dem er die qualitative Einheit von Erbsünde und Aktualsünde unterstreicht. Deren Unterscheidung wird damit zweitrangig. In der ersten Psalmenvorlesung deutet Luther die Sünde als Verlust der urständlichen Gerechtigkeit. Der Mensch verkehrt die Gerechtigkeit in Ungerechtigkeit, und in dieser Umkehrung besteht das allgemeine Wesen der Sünde. In seiner Erläuterung zu Ps 59,3 („Errette mich von den Übeltätern“) führt der junge Professor mit Bezug auf Paulus aus: „Gerechtigkeit heißt an Gott zu glauben, wie der Apostel im Römerbrief Kap. 4 und 1 zeigt, denn ,der Gerechte lebt aus Glauben‘ (Röm. 1,17). Ungerechtigkeit dagegen heißt: nicht zu glauben, denn jeder, der nicht glaubt, ist ungerecht und gottlos.“ ([10], Bd. 1, S. 62 = [1], Bd. 3, S. 331) Luther bezeichnet die Ungerechtigkeit als Unbilligkeit, und sie besteht darin, dass der Mensch „seine eigene Gerechtigkeit“ aufstellt und meint, sich „Gott, auch wenn er uns warnt, nicht unterwerfen zu wollen“ ([10], Bd. 1, S. 62 = [1], Bd. 3, S. 331). Darin erkennt aber der Mensch als Niedrigstehender das Urteil des Höherstehenden, nämlich Gottes, nicht an und verwirft es. Die Ungerechtigkeit des Menschen ist seine Abwendung von Gott und seine Zuwendung zum Geschaffenen. Der Mensch ist nicht auf Gott, sondern auf sich selbst bezogen. Die widergöttliche Selbst-

Sündenverständnis

Sünde als widergöttliche Selbstbehauptung

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2. Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung

Erscheinungsformen der Sünde

behauptung – das Sich-Gründen des Menschen auf sich selbst – bezeichnet Luther in der ersten Psalmenvorlesung als „inflexus et curvus […] in se ipsos“ ([6], Bd. 5, S. 125 = [1], Bd. 3, S. 292) und identifiziert sie mit der concupiscentia ([1], Bd. 55, 1. Abt., S. 129; vgl. [102], S. 273). Sünde ist die Verkehrung des Gottesverhältnisses, so dass der Mensch in allem seinen Handeln auf sich gerichtet ist und seine Ich-Perspektive zur Grundlage des Gottesverhältnisses macht. Der Wittenberger Theologe verlagert damit den Sündengedanken in die immer schon von egoistischen Motiven und Interessen gesteuerte Selbstbezogenheit des Menschen. Mit seiner Neubestimmung des Sündenbegriffs wird nicht nur die überlieferte Unterscheidung von Erb- und Aktualsünde hinfällig, auch der Sündenbegriff wird vom moralischen Fehlverhalten gelöst und als ichzentrierte Selbstsucht des Menschen verstanden. Die mittelalterliche Differenzierung von Todsünden und lässlichen Sünden, welche die Grundlage des Bußsakraments bildet, tritt dadurch in den Hintergrund. Alles menschliche Handeln ohne Gottesfurcht ist Todsünde ([1], Bd. 1, S. 357f. 633). Aufgrund der Selbstsucht wird selbst die Gottesvorstellung, wie Luther in der Römerbriefvorlesung ausführt, zu einer Wunschprojektion des Menschen und für egoistische Interessen funktionalisiert ([1], Bd. 56, S. 173). Die Erscheinungsformen der Sünde sind für Luther der Hochmut – superbia ([1], Bd. 3, S. 292) – und der Selbstbetrug des Menschen. Der Mensch behauptet gegenüber Gott einen Eigenwert, aber darin betrügt er nur sich selbst. Denn er erkennt das Urteil Gottes über ihn – alle Menschen sind Lügner (Ps 116,11; Röm 3,4) – nicht an. Er versteht sich selbst nicht als Sünder, sondern als gerecht und ist gerade darin ungerecht. Wenn der Mensch jedoch nicht anerkennt, dass er Sünder ist, so verschwindet die Sünde gewissermaßen. Von dieser Beobachtung geht Luther aus: der Mensch, obwohl er Sünder ist, bestreitet es und bringt so seine Sünde zum Verschwinden. In der Erklärung zu Psalm 51 fasst Luther die angesprochene Dialektik in 4 Thesen zusammen. „Primo. Omnes homines sunt in peccatis coram deo et peccant, i.e. sunt peccatores vere. Secundo. Hoc ipsum deus per prophetas testatus est et tandem per passionem Christi idem probavit: quia propter peccata hominum foecit eum pati et mori. Tertio. Deus in seipso non iustificatur, sed in suis sermonibus et in nobis. Quarto. Tunc fimus peccatores, quando tales nos esse agnoscimus, quia tales coram deo sumus.“ ([6], Bd. 5, S. 119 = [1], Bd. 3, S. 287f.)

Buße und Sündenerkenntnis

„Erstens. Alle Menschen sind in Sünden vor Gott und sündigen, d.h. sie sind wahrhaftig Sünder. Zweitens. Eben das hat Gott durch die Propheten bezeugt und schließlich mit der Passion Christi erhärtet: denn um der Sünden der Menschen willen hat er ihn leiden und sterben lassen. Drittens. Gott wird nicht gerecht erwiesen in sich selbst, sondern in seinen Worten und in uns. Viertens. Dann werden wir zu Sündern, wenn wir anerkennen, daß wir Sünder sind, weil wir es vor Gott sind.“ ([10], Bd. 1, S. 53)

Die Buße wird von Luther in den Dictata super Psalterium auf den Sündenbegriff bezogen. Sie ist dasjenige Geschehen, in dem der Mensch ein Bewusstsein davon bekommt, dass er sündigt und mithin, wie der Wittenberger Theo-

2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen

loge in seiner Auslegung von Psalm 51 schreibt, erst Sünder wird. Die Buße bezeichnet folglich die Entstehung des Sündenbewusstseins bei dem einzelnen Menschen. Insofern darf der Bezugspunkt von Luthers früher Bußtheologie in der inneren Selbsterkenntnis des Menschen gesehen werden. In der Buße wird sich der Mensch seiner eigenen Sündhaftigkeit bewusst und bekennt es vor Gott. Sündenerkenntnis und Bekenntnis der Sünde gehören zusammen. Mit dem Hinweis, dass die Buße das Geschehen der wahren Selbsterkenntnis des Menschen und damit die Entstehung des Sündenbewusstseins sei, ist Luthers Bußtheologie noch nicht vollständig erörtert. Wenn die Sünde des Menschen gerade in seiner Ichzentriertheit besteht und ihre Erscheinungsform seinen Selbstbetrug über sein eigenes Sündersein darstellt, dann kann der Mensch sich freilich auch nicht aus und von sich selbst als Sünder verstehen. Denn was schützt das eigene, noch so ehrlich gemeinte Sündenbekenntnis davor, nichts anderes als eine besonders raffinierte und sublimierte Form von Hochmut zu sein? Wenn Luther der Meinung ist, dass die wahre Buße nicht, wie es das mittelalterliche Bußsakrament vorsieht, in der Reue bestehen kann, dann hat er genau jenen Umstand im Blick. Kann doch, wie er in den 95 Thesen schreibt, keiner „über die Wahrhaftigkeit seiner Reue“ Gewissheit haben ([8], Bd. 2, S. 7 = [1], Bd. 1, S. 234 These 30; vgl. [1], Bd. 1, S. 319). Aus diesem Grund löst er die Entstehung des Sündenbewusstseins vom Handeln des Menschen und versteht es als ein Wirken Gottes am Menschen. Die wahre Reue ist eine Folge der Buße, aber keinesfalls deren Ausgangspunkt ([1] Bd. 1, S. 320. 322. 525). Dass der Mensch sich als Sünder erkennt und sich als ein solcher bekennt, ist für Luther nur als ein Handeln Gott denkbar. Darauf zielt die von ihm in den Dictata super Psalterium sowie in der Römerbriefvorlesung ausgeführte Demutstheologie. Sie hat ihre Pointe in der von Gott gnadenhaft gewirkten Selbsterkenntnis des Menschen als Sünder. Geradezu klassisch hat der Wittenberger Professor seinen frühen Grundgedanken in seiner Auslegung des Paulinischen Römerbriefs ausgeführt. Der ganze Brief habe keinen anderen Sinn als den, die totale Sündhaftigkeit des Menschen aufzudecken. „Summarium huius epistole est destruere et evellere et disperdere omnem sapientiam et iustitiam carnis (id est quantacunque potest esse in conspectu hominum, etiam coram nobis ipsis), quantumvis ex animo et synceritate fiant, et plantare ac constitutuere et magnificare peccatum (quantumvis ipsum non si aut esse putabatur.“ ([6], Bd. 5, S. 222 = [1], Bd. 56, S. 157)

„Die Summe dieses Briefes ist: zu zerstören, auszurotten und zu vernichten alle Weisheit und Gerechtigkeit des Fleisches (mag sie in den Augen der Menschen, auch bei uns selbst, noch so groß sein), wie sehr sie auch von Herzen und aufrichtigen Sinnes geübt werden mag, und einzupflanzen, aufzurichten und großzumachen die Sünde (sowenig sie auch vorhanden sein mag oder sosehr man auch solches von ihr glauben mochte).“ ([14], Bd. 1, S. 9)

Das menschliche Handeln ist aufgrund der von egoistischen Motiven geprägten Selbstbezogenheit Sünde. Noch in die edelsten und besten Handlungen des Menschen spielen Beweggründe hinein, über die er sich weder in seinem Handeln noch in seinem Rechenschaft-Geben vielleicht bewusst ist oder die

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2. Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung

er womöglich verdrängt. Luther hat damit den religiösen Sündengedanken in die Selbstbeurteilung des individuellen Subjekts verlagert und mit einer abgründigen Dialektik der Selbstsicherung im Geschehen der Selbsterkenntnis des Menschen coram Deo verzahnt. Mit diesem Sündenverständnis sind die Grundlagen der mittelalterlichen Gnadentheologie sowie des Bußsakraments aufgehoben. Die spätmittelalterliche Akzeptationstheorie von Duns Scotus nimmt den um sein Heil besorgten Menschen in die Pflicht. Zunächst soll und muss er tun, was ihn ihm ist, und Gott wandelt sodann das von dem Menschen erworbene Verdienst in ein Vollverdienst um. Jener Voraussetzung der ockhamistischen Gnadenlehre hat Luther vollständig den Boden entzogen: Alles, was der Mensch tut, ist Ausdruck seiner Sünde und nichts als der Versuch, die eigene Gerechtigkeit vor Gott aufzurichten. Der Mensch sündigt also nicht nur, sondern er ist ganz Sünder. Auch das facere quod in se est kann dann nur ein Vermögen zum Sündigen sein, keinesfalls jedoch eine Leistung, welche der Mensch zu seinem Heil beizutragen vermag. Luther hat den Sündenbegriff auf das Selbstverhältnis des Menschen bezogen. Die Sünde ist kein Mangel des Menschen oder gar eine Schwäche, sondern die Verkehrung der schöpfungsmäßigen Ordnung. In der Buße wird sich der Mensch seiner Sündhaftigkeit inne und wird das, was er ist – Sünder. Der anthropologische Ort des Bußgeschehens, und damit auch der Gottesbegegnung, ist das Gewissen. c) Luthers Begriff des Gewissens Luther hat mehrfach in seinem Werk auf die fundamentale Stellung des Gewissensbegriffs hingewiesen. Am bekanntesten ist die Stelle am Ende seiner Rede auf dem Reichstag zu Worms vom 18. April 1521 ([1], Bd. 7, S. 832–838). „Nisi convictus fuero testimoniis scripturam aut ratione evidente (nam neque Papae neque conciliis solis credo, cum constet eos et errasse sepius et sibiipsis contradixisse), victus sum scripturis a me adductis et capta conscientia in verbis dei, revocare neque possum nec volo quicquam, cum contra conscientiam agere neque tutum neque integrum sit. Ich kan nicht anderst, hie stehe ich, Got helff mir, Amen.“ ([1], Bd. 7, S. 838)

„Wenn ich nicht durch Schriftzeugnisse oder einen klaren Grund widerlegt werde – denn allein dem Papst oder den Konzilien glaube ich nicht; es steht fest, daß sie häufig geirrt und sich auch selbst widersprochen haben –, so bin ich durch die von mir angeführten Schriftworte überwunden. Und da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen.“ ([9], Bd. 1, S. 269; vgl. [146])

Für die gesamte mittelalterliche Theologie ist es schlicht undenkbar, dass das Gewissen eines Einzelnen sich gegen die gesamte Kirche stellt und sie des Irrtums zeiht. In seinen Resolutionen zu den Ablassthesen von 1518 hat Luther diesen Einwand aufgenommen und ihn lapidar mit dem Hinweis beantwortet: „Ich bin nicht allein, sondern die Wahrheit ist mit mir.“ ([1], Bd. 1, S. 611) Das Verständnis des Gewissens als Ort – nicht als Quelle – der Wahrheit und der Gottesbegegnung ist nun freilich das Resultat seiner eigenen theologi-

2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen

schen Entwicklung, in der er den ihm durch sein Studium vertrauten Gewissensbegriff umbildet. Die Lehrtradition hatte erst im hohen Mittelalter im Rückgriff auf die antike Theologie und Philosophie den Begriff des Gewissens ausgebildet [154]. Signifikant für den mittelalterlichen Gewissensbegriff ist die Unterscheidung von syntheresis und conscientia. Unter syntheresis verstanden die mittelalterlichen Autoren das Vermögen der Seele, sich zum Guten hinzuneigen. Sie ist „eine von jedem Menschen von Natur besessene affektive Kraft und Fertigkeit, die unmittelbar auf das Gute gerichtet ist und insofern das natürliche Gesetz zum Gegenstand hat“ ([135], S. 20f.; vgl. [154], Sp. 586). Jene natürliche Kraft ist durch den Sündenfall des Menschen nicht gänzlich verderbt. Im Unterschied zu dem natürlichen Vermögen der Ausrichtung des Menschen auf das Gute bezeichnete man mit conscientia die praktische Anwendung der Grundsätze der syntheresis. „Die conscientia ist eine Fertigkeit des praktischen Intellekts, die sich auf die sittlicher Beurteilung unterstehenden Handlungen bezieht und das natürliche Gesetz zu ihrem ersten unmittelbaren Gegenstande hat.“ ([135], S. 21; vgl. [154], Sp. 586) Diese Unterscheidung hat vor allem die Funktion, die Wandelbarkeit und Irrtumsfähigkeit des wirklichen Gewissens verständlich zu machen, denn die conscientia kann falsch sein und sich irren.

Mittelalterliches Gewissensverständnis

Unterscheidung von syntheresis und conscientia: * syntheresis = das Vermögen der Seele, sich zum Guten hinzuneigen * conscientia = die praktische Anwendung der Grundsätze der syntheresis

Die innere Aufspaltung des Gewissensbegriffs in syntheresis und conscientia ist nicht ohne Schwierigkeiten. Sie treten vor allem dann zu Tage, wenn jemand nach seinem Gewissen handelt und im Widerspruch zur Kirchenlehre steht. In solchen Fällen empfahlen die mittelalterlichen Theologen, man solle das Gewissen ablegen. Ein Schuldbewusstsein ist damit aber im Grunde genommen unmöglich gemacht beziehungsweise nur äußerst schwer in diesen Gewissensbegriff einzuordnen. Zu einer eigentlichen religiösen Vertiefung des Gewissens ist es bei den mittelalterlichen Autoren nicht gekommen. Es ist an sich keine religiöse Größe und damit auch nicht der Ort der Gottesbeziehung. Luther hat den mittelalterlichen Gewissensbegriff und seine Aufspaltung in syntheresis und conscientia zunächst übernommen, ihn jedoch im Verlauf seiner theologischen Entwicklung zunehmend umgeprägt. In der Römerbriefvorlesung von 1515/16 spricht Luther im Zusammenhang seiner Erläuterung von Röm 1,19 von syntheresis und versteht sie als eine „syntheresis theologica“, die in allen Menschen „inobscurabilis“ ([6], Bd. 5, S. 225 = [1], Bd. 56, S. 177), nicht zu verdunkeln sei, aber nach 1516 hat er den Begriff nicht mehr gebraucht. Vor dem Hintergrund seines neuen, an Paulus und Augustin orientierten Verständnisses von Theologie, empfand er den Begriff als unbiblisch. Der Gehalt des syntheresis-Begriffs verschwindet indes in den Texten des Reformators nicht. Er hat ihn in sein Verständnis der natürlichen Vernunft und des jedem Menschen von Gott ins Herz geschriebenen Gesetzes aufgenommen. Damit kommt dem Menschen ein gewissermaßen

Luthers Umbildung des Gewissensbegriffs

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2. Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung

Conscientia

Gewissen und Gottesverhältnis

vorreflexives Wissen von Gott zu, welches sich im Gewissen als eine Macht manifestiert, die es überkommt ([135], S. 125f.). Mit dem Zurücktreten des Begriffs syntheresis erhält die conscientia eine neue Bedeutung. Letztere wird zur Grundlage der Neubestimmung des Gewissens. Sie „ist eine Tugend nicht des Handelns, sondern des Urteilens, welche das Handeln beurteilt“ ([1], Bd. 8, S. 606). Das eigentliche Werk des Gewissens sei es, wie Luther im Anschluss an Paulus (Röm 2) ausführt, coram Deo anzuklagen oder zu entschuldigen. In der ersten Psalmenvorlesung zeichnet der junge Professor die conscientia als Ursprung und Ort der stärksten Affekte und Affektäußerungen aus ([135], S. 130). Das Gewissen schreit ([1], Bd. 3, S. 535. 617), lärmt ([1], Bd. 3, S. 175. 309), ist unruhig ([1], Bd. 3, S. 168), fürchtet sich ([1], Bd. 3, S. 540), ist angefochten und verzweifelt ([1], Bd. 4, S. 263). Es ist für den jungen Luther der Ort, wo der Mensch seiner Sündhaftigkeit und Schuldverflochtenheit inne wird. Das Schuldbewusstsein meldet sich in der anklagenden Stimme des Gewissens. Es kann durch ein Wort oder durch eine andere Person geweckt werden. Grundsätzlich führt Luther das anklagende Gewissen auf die Schrift und die Verkündigung zurück. Vor solchen Erfahrungen der tiefsten Gewissensmarter ist kein Mensch gefeit. Der letzte Ernst der Gewissenserfahrung rührt für Luther daher, dass sich in ihm Gott meldet. Dadurch bekommen das Gewissen und seine anklagende Stimme erst seine Unbedingtheitsdimension und seine letzte Unausweichlichkeit. Der Mensch erfährt, was und wer er vor Gott ist. Die Erkenntnis – die sich hierbei erschließt – ist die seines Zurückbleibens hinter der unbedingten Forderung Gottes, das Gute aus reinem Herzen zu tun. Luther versteht das Gewissen nicht in erster Linie wie die scholastische Tradition als ein sittliches Selbstbewusstsein, welches die einzelnen Handlungen beurteilt, sondern als Träger des menschlichen Gottesverhältnisses. Die Erfahrung, die der Mensch im Schuldbewusstsein, in den Qualen des angefochtenen Gewissens macht, ist zunächst die des Gerichts Gottes. Der Reformator hat diesen Gedanken in variantenreicher Fülle vorgetragen. Eine sehr prägnante Fassung findet sich in der Adventspostille von 1522: „Dieweyl nu die tzwey ym herzten sind, gewissen der sund, und erkenntniß gottis straffe, muß es ymer betrubt, vortzagt und erschrocken seyn, hatt alle augenblick sorge, gott stehe hynder ihm mit der keule“ ([1], Bd. 10, 1. Abt., 2. Hälfte, S. 171). Das Gewissen wird von Luther von vornherein mit der Gottesbeziehung verbunden und im Unterschied zur mittelalterlichen Lehrtradition religiös verstanden. Coram Deo und conscientia (Gewissen) sind für ihn identisch. In der Römerbriefvorlesung heißt es in dem Scholion zu Röm 15,20: „Denn das Gewissen ist’s, das einen vor Gott entweder zuschanden werden läßt oder mit Ehren bekleidet.“ ([14], Bd. 2, S. 443 = [1], Bd. 56, S. 526f.) Und wenig später, in den Operationes in Psalmos, bezeichnet Luther das Gewissen ähnlich wie das Herz als das Innerste des Menschen ([1], Bd. 5, S. 525). In der anklagenden Stimme des Gewissens vollzieht sich das Gericht Gottes. Gott zerschlägt, wie Luther in den Ablassresolutionen schreibt, das Herz des Menschen ([1], Bd. 1, S. 540. 556. 557f.; vgl. [135], S. 137). Für die mittelalterliche Theologie war Gott im schlechten Gewissen nicht präsent, für Luther hingegen ist er im bösen Gewissen in seinem Zorn anwesend.

2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen

Auch das letzte Gericht bezieht Luther auf die gegenwärtige Gewissenserfahrung (vgl. unten). Formal sind bei ihm Buße und jüngstes Gericht identisch. In den Ablassthesen von 1517 kann er den Unterschied von Himmel, Hölle und Fegefeuer von der Gewissenserfahrung her bestimmen (vgl. [1], Bd. 1, S. 234 These 16). Die Hölle entspricht der Erfahrung des verzweifelten Gewissens und das Heil – der Himmel – hingegen dem guten und freudigen Gewissen. „Wo d(er) mensch nit / yn sich selbt befindt vnd fulet / eyn solch gewissen / vnd fro(e)lich hertz zu gottis gnaden / den hilfft keyn ablaß / ob er schon alle brieff vnd ablas lo(e)ßet / die yhe geben seyn / dan an ablas vnd ablas brieff mag man selig werden vnd die sund betzalen add(er) gnugthun / durch den todt. Aber an fro(e)lich gewissen / vnd leichtes hertz / zu got . mag niemant selig werden.“ ([7], Bd. 1, S. 247 = [1], Bd. 2, S. 714; vgl. [1], Bd. 4, S. 609; Bd. 10, 1. Abt., S. 2; [135], S. 152f.)

Mit seiner Reformulierung der überlieferten Vorstellungen von Himmel und Hölle reinigt der Reformator die Religion von allen äußerlichen und sinnlichen Bestandteilen und verlagert sie in die Selbsterkenntnis des Menschen vor Gott. Luthers Neubestimmung des Gewissens als Träger des Gottesverhältnisses sowie dessen Verknüpfung mit dem Schuldbewusstsein bzw. der Buße wurde für ihn zum Fundament seiner Kritik am mittelalterlichen Bußsakrament und dem Ablassinstitut. Beide bleiben der wahren Buße gegenüber viel zu äußerlich ([160], S. 197–199). Wenn er in der These 32 der Ablassthesen formuliert: „In Ewigkeit werden mit ihren Lehrern jene verdammt werden, die glauben, sich durch Ablassbriefe ihres Heils versichert zu haben.“ ([8], Bd. 2, S. 7 = [1], Bd. 1, S. 234) –, dann hat er vor allem die Verhinderung der wahren Selbsterkenntnis des Menschen durch das Bußsakrament im Blick. Luther hat damit das sakramental magische Bußverständnis der mittelalterlichen Kirche völlig durchbrochen und an dessen Stelle die geistige Erfassung Gottes im Inneren des Gewissens als Selbsterkenntnis des Menschen gesetzt. Es ist dann völlig konsequent, wenn er der gängigen Ablasspraxis seiner Zeit die These entgegensetzt: jeder „wahrhaft reumütige Christ erlangt vollkommenen Erlass von Strafe und Schuld; der ihm auch ohne Ablassbriefe zukommt“ ([8], Bd. 2, S. 7 = [1], Bd. 1, S. 235 These 36). Damit stellt sich nun abschließend die Frage, was der junge Luther unter der Gnade und der Gerechtigkeit Gottes verstanden hat. 2.3.3 Iustitia Dei beim frühen Luther In seinem großen Selbstzeugnis aus dem Jahre 1545 hatte Luther als Inhalt seiner reformatorischen Entdeckung ein neues Verständnis der iustitia Dei angegeben. Die Gerechtigkeit Gottes, von der Paulus in Röm 1,17 schreibt, sie „wird darin offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus Glauben“ ([8], Bd. 2, S. 507 = [1], Bd. 54, S. 186), ist die Kraft, mit der Gott den Menschen gerecht macht, und keine göttliche Eigenschaft. Das „wortleyn deyn warheit und dein gerechtickeit“ heißt nicht „do got mit war und ge-

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2. Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung

Sündenerkenntnis und Gottesverhältnis

recht ist, alß etlich vill meinen, sundern die gnad, da mit uns gott warhafftig macht unnd gerecht durch Christum, wie dan Apostolus Paulus Ro. 1. und 2. und 3. nennet die gerechtickeit gottis und warheit gottis, die uns durch denn glauben Christi geben wirt“ ([1], Bd. 1, S. 212). Im Folgenden interessiert allerdings weniger Luthers eigene spätere Selbstdeutung, sondern sein Gnadenverständnis, wie es aus der Perspektive des Bußverständnisses resultiert. Nachdem der mit der wahren Buße verbundene Gerichtsaspekt erörtert wurde, ist jetzt darzustellen, wie Luther die Gnade bzw. das Gnadenhandeln Gottes in seine neue Konzeption einfügt. Sein Gnadenverständnis unterliegt im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts einer Entwicklung. An deren Ende steht die These, dass der Glaube die Gnade und damit das Ganze des Heils sei. Luther hat sie in seiner Hebräerbriefvorlesung, also im unmittelbaren zeitlichen Kontext des Ablassstreits, ausgesprochen ([134]; [102], S. 271–275; [139]). Die Einsicht des Menschen in sein vollkommenes Sündersein vor Gott ist ein Handeln Gottes an ihm: Versteht sich der Mensch als vor Gott ungerecht, dann gibt er Letzterem recht und ist selbst gerecht. Auf vielfältige Weise hat der junge Luther diesen Gedanken in seinen frühen Vorlesungen dargestellt. In ihm liegt der Kern dessen, was die Forschung Luthers frühe Demutstheologie genannt und bisweilen als vorreformatorisch eingestuft hat. In seiner Erläuterung von Ps 51,8 („siehe, dir gefällt Wahrheit“) formuliert der Wittenberger Professor: „Quare a nullo iustificatur, nisi ab eo, qui se accusat et damnat et iudicat. Iustus enim primo est accusator sui et damnator et iudex sui. Et ideo deum iustificat et vincere ac superare facit. Econtra impius et superbus primo est excusator sui ac defensor, iustificator et salvator. Quare ipso facto dicit deo salvator se non indigere, et iudicat deum in suis sermonibus et iniustificat ac mendacem et falsum arguit. Sed non prevalebit, deus enim vincet.“ ([1], Bd. 3, S. 288)

„Daher wird (Gott) von niemandem anderem als gerecht erwiesen als von dem, der sich selbst anklagt und verdammt und richtet. Der Gerechte nämlich ist zu allererst Ankläger, Verdammer und Richter seiner selbst. Und deshalb erweist er Gott als gerecht und lässt ihn siegen und überwinden. Dagegen ist der Gottlose und Übermütige zuerst einer, der sich entschuldigt, verteidigt, rechtfertigt und zu retten sucht. Daher sagt er eben deswegen, er bedürfe Gott als Retter nicht und richtet (damit) Gott in seinen Worten und macht ihn ungerecht und klagt ihn als Lügner und Falschredner an.“ ([10], Bd. 1, S. 54)

Das mit der Einsicht in das vollkommene Sündersein vor Gott verbundene Bekenntnis der eigenen Sündhaftigkeit versteht Luther als Übereinstimmung des Menschen mit dem Urteil Gottes, und eben darin ist er gerecht oder hat Anteil an der Gerechtigkeit Gottes, wie er nur wenig später bemerkt. „Wer sich selbst richtet und die Sünde bekennt, erweist Gott als gerecht und wahr; denn er sagt das von sich, was Gott von ihm sagt. Und so stimmt er mit Gott überein und ist wahrhaftig und gerecht, wie Gott, mit dem er übereinstimmt. Denn beide sagen dasselbe. Gott aber spricht Wahres und Gerechtes: und er sagt dasselbe. Also ist auch er selbst mit Gott gerecht und wahrhaftig.“ ([10], Bd. 1, S. 56 = [1], Bd. 3, S. 289; vgl. [1], Bd. 1, S. 323)

2.3 Die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung in Luthers frühen Vorlesungen

Die iustitia Dei wird von Luther in den Dictata, in der Römerbrief- aber auch in der Galaterbriefvorlesung als Übereinstimmung der Willensrichtung des Menschen mit Gott beziehungsweise mit seinem Wort verstanden. Dabei gewinnt die Gerechtigkeit Gottes in dem Menschen Gestalt, wenn er sich selbst als ein Nichts vor Gott erkennt ([1], Bd. 1, S. 322). Und genau darin – in der eigenen Selbstverdammung und Demütigung vor Gott – wird der Mensch selbst wahr. Seine Gerechtigkeit besteht in der neuen Selbstbeurteilung, in der er das Urteil Gottes über ihn anerkennt. Der Gehalt von Luthers Verständnis der iustitia Dei umfasst drei Aspekte: die Anerkennung Gottes durch den Menschen, auf Seiten des Menschen eine neue Selbstbeurteilung sowie den Rechtfertigungsglauben [132]. „Denn allein der Glaube macht gerecht [sola fides iustificet], und wer zu Gott kommen will, der muss glauben.“ ([8], Bd. 2, S. 51 = [1], Bd. 1, S. 324) Das Gericht Gottes und seine Gnade sind zwei Seiten eines Geschehens. Denjenigen, den Gott im Gericht tötet, also bei dem durch das Handeln Gottes die Erkenntnis seiner vollkommenen Sündhaftigkeit entsteht, den lässt Gott im Grunde schon an seiner Gnade teilhaftig werden. Wenn „Gott damit beginnt, einen Menschen gerecht zu machen, dann verdammt er ihn erst, und wen er geistlich erbauen will, den reißt er ein; wen er heilen will, den verwundet er; wen er lebendig machen will, den tötet er“ ([10], Bd. 2, S. 42 = [1], Bd. 1, S. 540; vgl. [71], S. 29). Luther hat diesen Gedanken in seinem weiteren Werk immer wieder neuen Ausdruck verliehen. Am häufigsten hat er sich dabei der Formulierung aus dem 1. Sam 2,6f. und 5. Mose 32,39 bedient: „Ich werde töten und lebendig machen.“ ([10], Bd. 2, S. 42 = [1], Bd. 1, S. 540; vgl. [1], Bd. 4, S. 469 u.ö.) Die frühe Fassung der Gerechtigkeit Gottes in den Dictata, in der Römerbrief- und in der Galaterbriefvorlesung ist noch durchzogen von überkommenen Vorstellungen und Begriffen der mittelalterlichen Gnadenlehre. Luther kann von der eingegossenen Gnade reden, und noch in der Römerbriefvorlesung sieht er den Schlussstein des Rechtfertigungsglaubens in der Liebe zu Gott. Erst in der Hebräerbriefvorlesung ist Luther zu der abschließenden Einsicht gekommen, „daß der die Gerechtigkeit Gottes ergreifende Glaube tatsächlich das Ganze des christlichen Gottesverhältnisses repräsentiert“ ([102], S. 284). Er unterscheidet nun strikt die Gerechtigkeit, welche der Mensch durch sein Handeln erlangen kann, von derjenigen des Glaubens. Der Kleine Galaterbriefkommentar von 1519 stellt beide Arten treffend einander gegenüber. „In primis itaque sciendum, quod homo dupliciter iustificatur et omnino contrariis modis. Primo ad extra, ab operibus, ex propriis viribus. Quales sunt humanae iusticiae, usu (ut dicitur) et consuetudine comparatae. […] sic enim putant, operando iusta iustum fieri, temperando temperatum, et similia. […] Haec est iusticia servilis, mercennaria, ficta, speciosa, externa, temporalis, mundana, humana, quae ad futuram gloriam nihil prodest“ […]

„Vor allen Dingen muß man denn wissen, daß der Mensch gerecht werde auf zweierlei Weise, davon eine stracks wider die andre ist. Zuerst nach außen, von den Werken, aus den eignen Kräften. Derart sind die menschlichen Gerechtigkeiten, die, wie man sagt, durch Übung und Gewohnheit erworben werden. […] Denn also meinen sie, durch Tun des Gerechten gerecht, durch sich Mäßigen mäßig zu werden, und dergleichen. […] Das ist die Gerechtigkeit, so

Gerechtigkeit Gottes

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2. Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung

Secundo ab intra, ex fide, ex gratia, ubi homo de priore iusticia prorsus desperans tanquam ab immundicia menstruatae proruit ante deum, gemens humiliter peccatoremque sese confessus cum publicano dicit: Deus, propitius esto mihi peccatori. Hic, inquit Christus, descendit iustificatus in domum suam.“ ([1], Bd. 2, S. 489f.)

Glaube und Hoffnung

da ist knechtisch, gedungen, erdichtet, hübsch anzusehen, äußerlich, zeitlich, weltlich, menschlich, welche nichts nutzt zum künftigen Leben. […] Zweitens, von innen, aus dem Glauben, aus der Gnade, wo der Mensch an der ersten Gerechtigkeit ganz und gar verzweifelt […] und vor Gott niederfällt und mit demütigem Seufzen sich als Sünder bekennt und mit dem Zöllner sagt: ,Gott sei mir Sünder gnädig‘ (Luk 18, 13f.). Dieser, spricht Christus, ,ging gerechtfertigt in sein Haus‘.“ ([18], S. 117f.)

Mit der sich seit 1517 durchsetzenden Einsicht wird die im Rechtfertigungsglauben erlangte Heilsgewissheit zum methodischen Zentrum der Theologie. Immer wieder schärft Luther jetzt die Korrelation von fides und promissio ein [103]. Die methodische Umstellung hat zur Folge, dass sich Glaubensbegriff und Gnadenverständnis mehr und mehr wechselseitig durchdringen ([102], S. 284). In seiner Auslegung von Hebr 7,12 („Denn wenn das Priestertum verändert wird, dann muß auch das Gesetz verändert werden.“) erklärt er: „Aber der Glaube ist ja schon die gerecht machende Gnade.“ ([10], Bd. 1, S. 316 = [1], Bd. 57 (3), S. 191) Zu völliger Klarheit hat Luther seinen Glaubensbegriff in den Ablassresolutionen vom Frühjahr 1518 gebracht. „Denn wer zum Sakrament kommen will, der muß glauben (Hebr. 11,6). […] Petrus spricht also nicht eher als Christus los, sondern er verkündigt nur die Lossprechung und weist auf sie hin. Wer an diese mit Zuversicht glaubt, der erlangt wahrhaft Frieden und Vergebung bei Gott (d.h. er ist gewiß, daß er absolviert ist), nicht als Sache, sondern durch die Gewißheit des Glaubens, wegen des untrüglichen Wortes dessen, der aus Barmherzigkeit verheißt“ ([10], Bd. 2, S. 46 = [1], Bd. 1, S. 542). Immer wieder erklärt nun der Reformator, der Glaubende habe an seinem Glauben genug und bedarf keiner Werke: „glaubstu so hastu / glaubstu nit / so hastu nit“ ([7], Bd. 2, S. 273 = [1], Bd. 7, S. 24; vgl. [1], Bd. 2, S. 733). Allein der Glaube an das Vergebungswort Christi – der kein ,äußerer Vorgang‘ ist – schafft dem Gewissen Frieden. Die mit dem Glauben verbundene Gewissheit des Menschen kommt ebenso wenig wie die Erkenntnis seines eigenen Sünderseins vor Gott durch sein Handeln zustande, sondern sie ist allein Gottes Werk. Luther löst die wahre Selbsterkenntnis des Menschen und die Entstehung von grundlegender Gewissheit von dem menschlichen Handeln ab und verlagert sie in den Gottesgedanken. Alle Gewissheiten, die der Mensch sich errichtet, sind stets von der bohrenden Frage begleitet, ob sie auch wirklich tragen. Grundlegende Selbsterkenntnis erschließt sich dem Menschen nicht durch seine intentionalen Akte. Sie kann also nicht gewollt werden. Vielmehr stellt sich ein Sich-Verstehen unableitbar ein. Die theologische Beschreibung dieses Geschehens der wahren Selbsterkenntnis lautet: Das Gottesverhältnis als wahres Sich-Verstehen wird von Gott selbst konstituiert ([1], Bd. 7, S. 24). Es selbst kommt indes nur über den Umweg

2.4 Der Bruch mit der Papstkirche

des Gerichts und der Anklage Gottes zustande. Das Gottesverhältnis des Glaubens entsteht durch die Negation des Menschen hindurch und fußt auf dem Vergebungs- und Verheißungswort Gottes, mit dem er den Menschen freispricht. Im Gottesgedanken muss sich allerdings die Spannung von Gericht und Vergebung niederschlagen. Andernfalls würde Gott der religiösen Selbsterkenntnis des Menschen äußerlich bleiben. Es ist Gott selbst, der den Menschen im Gewissen anklagt und ihn freispricht. In der kategorialen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium beziehungsweise von Gottes fremdem und seinem eigentlichen Werk hat Luther diese Dialektik durchdacht. Dadurch erhält der Gottesgedanke seine Prägnanz. In seiner Schrift De servo arbitrio von 1525 hat Luther die Gerechtigkeit Gottes als iustitia Dei passiva beschrieben. Hier fällt nun der Begriff, mit dem er zwanzig Jahre später im Rückblick den Inhalt seiner reformatorischen Entdeckung zusammenfasst. Sein Verständnis der Gerechtigkeit Gottes als Überwindung der Ungerechtigkeit des Menschen zielt auf die durch Gott selbst hervorgebrachte Einheit von Gott und Mensch im Glauben. Im Glauben ist sich der Mensch nicht nur verständlich geworden und zu sich selbst gekommen, er weiß sich darin auch von Gott anerkannt. Deshalb kann man zusammenfassend sagen, „Gottes Gerechtigkeit ist derjenige Vorgang, in dem er sich selbst und den Menschen verwirklicht.“ ([17], S. 95)

2.4 Der Bruch mit der Papstkirche Am 3. Januar 1521 wurden Luther und seine Anhänger exkommuniziert. Die systematisch theologischen Motive für den Bruch mit der mittelalterlichen Papstkirche lagen vor allem in seinem neuen Bußverständnis und den aus ihm resultierenden institutionskritischen Konsequenzen ([147]; [21], S. 73–97; [24], S. 135–192; [35], S. 29–55). Vertreter der römischen Kurie, wie Kardinal Cajetan, der Luther im Herbst 1518 in Augsburg verhörte, hatten die Sprengkraft des Bußverständnisses des jungen Mönchs rasch erfasst. In der mit Luthers Bußverständnis verknüpften These, dass die Gewissheit des Glaubens nicht an die institutionell verfasste Kirche gebunden ist, sah der Kardinal einen Bruch mit der römischen Kirche: „Das heißt eine neue Kirche bauen!“ (Zitiert nach [21], S. 76) Luthers Neubestimmung der Buße sowie sein Schriftverständnis markieren die systematischen Eckpunkte, die ihn in Entfremdung von der mittelalterlichen Kirche bringen und die schließlich – im Zusammenspiel mit den äußeren Ereignissen – zur Etablierung eigenständiger Kirchentümer führen. Mit seinem Bußverständnis ist eine Verinnerlichung der Religion verbunden. Er ersetzt die sakramentale Buße durch das innerliche Geschehen des Glaubens und bezieht es auf das gesamte Leben des Christen. Die Buße ist kein sakramentaler Akt mehr, der beliebig oft wiederholt werden kann, sondern in Luthers Bußverständnis ist festgehalten, dass es immer und in jedem Augenblick um das Gegenüber von Gott und Mensch geht. In der Konsequenz seines neuen Verständnisses als ein lebensbegleitendes Moment tritt die Predigt des Wortes Gottes an die Stelle des überlieferten Bußsakraments. Die Buße wird zu dem von Gott gewirkten Geschehen, in dem sich der Mensch

Verinnerlichung der Religion

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2. Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung

vor Gott als totaler Sünder versteht. Der Glaubende weiß sich als Sünder vor Gott und allein darin von Gott anerkannt. Die Gerechtigkeit des Glaubens ist nicht seine eigene, sondern eine ihm fremde, von Gott zugesprochene. Der Ort der Buße ist die Innerlichkeit des Subjekts, das Herz oder das Gewissen des Menschen. Im Gewissen begegnet Gott dem Menschen. Mit der von Luther vorgenommenen Innenverlagerung der Religion beziehungsweise der Gottesbeziehung in das Gewissen werden die äußeren institutionellen Vermittlungsinstanzen zweitrangig. An deren Stelle tritt die Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung des individuellen Menschen im Glauben. Aus der Verzahnung von Gewissen und coram Deo resultiert eine Aufwertung des Individuums und des individuellen Glaubens. Der Einzelne und sein Gottesverhältnis treten in das Zentrum der Religion. Damit ist der religiöse Individualismus von Luther prinzipiell in sein Recht eingesetzt, auch wenn er erst in der Zeit der europäischen Aufklärung unter veränderten soziokulturellen Bedingungen zum Durchbruch kommt ([94]; [101]). Das Gewissen ist zwar für Luther der grundlegende Ort der Gottesbegegnung, aber es ist nicht selbst der Produzent der Wahrheit. In seiner berühmten Rede vor dem Wormser Reichstag sagt Luther 1521: „Und da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen.“ ([9], Bd. 1, S. 269 = [1], Bd. 7, S. 838) Die Schrift ist als Wort Gottes der Ort und die Quelle der Wahrheit. „[A]lle Rechenschaft, die das Gewissen sich oder andern davon gibt, daß die Erkenntnis göttlicher Dinge, von der es hingenommen ist, wirklich die Wahrheit und keine Erdichtung oder Lüge ist, hat für Luther an der Schrift ihren festen, alles regierenden Grund- und Ausgangspunkt.“ ([135], S. 185) Die Bibel fungiert zugleich als allgemeine Appellations- und Wahrheitsinstanz. Deshalb ist sie und nicht die Kirche oder ihr Lehramt, wie der Reformator gegenüber der römischen Kirche geltend macht, die alleinige Entscheidungsinstanz in religiösen Dingen. Im Auslegungsmonopol des Papstes trete hingegen ein bloß menschlicher Anspruch und mithin Menschenlehre an die Stelle des Wortes Gottes. Aller Betonung der Objektivität und Vorgegebenheit der Schrift ungeachtet bleibt es indes nicht bei einer einfachen Vorordnung. Die Verknüpfung von Innerlichkeit und äußerer Vermittlung, von Innen und Außen ist für Luthers Theologie insgesamt signifikant. Der Glaube als inneres Geschehen ist vermittelt durch das äußere Wort der Predigt. Aber auch das äußere Wort Gottes – die Schrift und die Verkündigung – ist keine einsinnige Größe, sondern es tritt in der Doppelheit von Forderung und Verheißung auf. Prägnant ausgeführt hat Luther den eben genannten Zusammenhang in seinem Traktat Von der Freiheit eines Christenmenschen. Dort heißt es: „Czum funfften / Hatt die seele keyn ander dinck / widder yn hymel noch auff erden darynnen / sie lebe / frum / frey / vnd Christen sey / den das heylig Eu(a)ngelij / das wort gottis von Christo geprediget. […] Fragistu aber / wilchs ist denn das wort das solch grosse gnad gibt. Vnd wie sol ichs gebrauchen? Antwort. Es ist nit anders / den(n) die predigt von Christo geschehen wie das Euangeliu(m) ynnehelt. Wilche soll seyn / vnd ist alßo gethan / das du ho(e)rist deynen gott zu dir reden / Wie alle deyn leben vnd werck / nichts seyn fur gott / sondern mu(e)ßsist /

2.5 Die Entfaltung der reformatorischen Theologie

mit allen dem das ynn dir ist ewiglich vorterben. Wilchs ßo du recht glaubst / wie du schuldig bist / so mustu an dir selber vortzweyffelnn / vnd bekennen / das war sey der spruch Osee. O Israel yn dir ist nichts / denn deyn vorterben / alleyn aber yn mir steht deyn hulff. Das du aber auß dir vnd von dir / das ist auß deynem vorterben(n) ko(m)men mu(e)gist / ßo setzt er dir fur / seynen lieben ßon Jhesum Christu(m) / vnd leßsit dir durch seyn lebendigs trostlichs wort sagen. Du solt ynn den selben mit festem glauben dich ergeben / vnd frisch ynn yhn vortrawen.“ ([7], Bd. 2, S. 267. 269 = [1], Bd. 7, S. 22f.)

Die Doppelheit von göttlicher Forderung und Verheißung zielt auf den inneren Menschen. Im neuen Menschen des Glaubens ist jegliche äußere und menschliche Hierarchie aufgehoben. In ihm herrscht Christus allein. Die innere königliche Freiheit des Christenmenschen verwirklicht sich im äußeren Leib und in der Sozialdimension als selbstlose Hingabe an den Nächsten. Mit diesem aus seinem Bußverständnis erwachsenen äußerst komplexen Glaubensverständnis verändert sich die Zuordnung von Individuum und Institution. Sie birgt eine enorme Sprengkraft in sich. Wie bei der Buße das Sakrament durch die Verkündigung ersetzt wird, so tritt die kirchliche Institution hinter die Schrift zurück. Die alleinige Aufgabe der institutionellen Kirche ist die Verkündigung des Wortes Gottes. Darüber hinaus kommt ihr keine religiös-sakramentale Qualität mehr zu. Mit Luthers Glaubensverständnis, in dem das Ganze des christlichen Heils beschlossen liegt, ist ein neues Verständnis der Kirche beziehungsweise der christlichen Gemeinschaft verbunden. Die inneren Aufbauelemente von Luthers Kirchenverständnis müssen an späterer Stelle noch genauer besprochen werden. Deutlich wird jedoch schon hier, dass die von Luther vorgenommene Innenverlagerung des Gottesverhältnisses tendenziell das mittelalterliche Kirchenverständnis sprengt. In seine eigene Bestimmung des Verhältnisses von Individuum und Institution ist indes eine Spannung von Institutionskritik und Quietismus eingeschrieben.

2.5 Die Entfaltung der reformatorischen Theologie In seinen drei reformatorischen Hauptschriften aus dem Jahre 1520 hat Luther sein neues Verständnis des Glaubens als Gerechtigkeit Gottes weiter ausgeführt: zunächst in der Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, der wirkungsmächtigsten Programmschrift des Reformators, sodann in der lateinischen Schrift De captivitate Babylonica ecclesia praeludium und schließlich in dem Traktat Von der Freiheit eines Christenmenschen, der bekanntesten der drei reformatorischen Hauptschriften. Mit den drei Abhandlungen aus dem Jahre 1520 ist Luther auf dem Höhepunkt seiner theologischen Wirksamkeit ([24], S. 151–164; [37], S. 143–203). Im Vergleich mit dem mittelalterlichen Christentum kann man von einer Neubestimmung des Wesens des Christentums sprechen, in deren Zentrum das im Glauben des Individuums beschlossene Gottesverhältnis steht.

Glaube und Institutionenkritik

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2. Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung

Reformatorische Hauptschriften

Die reformatorischen Hauptschriften von 1520 An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung ([1], Bd. 6, S. 404–465) * Aufhebung des Unterschieds von Priestern und Laien De captivitate Babylonica ecclesia praeludium ([1], Bd. 6, S. 497–573) Untergrabung der sakramentalen Basis der mittelalterlichen Kirche * Kriterium der Sakramente: Einsetzung durch Christus sowie die Relation von Verheißung und Glaube *

Von der Freiheit eines Christenmenschen ([1], Bd. 7, S. 3–38) die Schrift sei eine ganze Summe eines christlichen Lebens * Doppelthese: der Christenmensch ist frei und zugleich jedermann untertan *

An den christlichen Adel deutscher Nation

De captivitate Babylonica ecclesia praeludium

Von der Freiheit eines Christenmenschen

Mit der Adelsschrift wendet sich Luther an Laien und versucht, der reformatorischen Bewegung eine breite gesellschaftliche Basis zu verschaffen. Diese Stoßrichtung resultiert aus seiner Bußtheologie und ihren Konsequenzen für das Priestertum. Die Unterscheidung zwischen Priestern und Laien – Luther nennt sie die erste Mauer, hinter der sich die römische Kirche verschanzt – wird geschliffen. Der geistliche Beruf ist kein hervorgehobener Stand, sondern ein Amt. Alle Christen sind als solche gleich vor Gott ([1], Bd. 6, S. 408). Die Schrift prangert Missstände an, insbesondere die Geldgier der römischen Kurie. Luther registriert sensibel eine in Deutschland weitverbreitete Kritik an der spätmittelalterlichen Kirche und dem Papstamt und nimmt sie auf. Hieraus erklärt sich die enorme Wirkung der Adelsschrift. Binnen kurzer Zeit erschienen 14 Nachdrucke des Textes ([76], S. 271–274). In der zweiten reformatorischen Hauptschrift über die Babylonische Gefangenschaft der Kirche untergräbt Luther die sakramentale Basis der mittelalterlichen Kirche. Die Kritik zielt mit dem Sakramentsbegriff auf den Lebensnerv der römischen Kirche. Das Kriterium für das Sakrament ist für Luther die Schrift. Erst dann, wenn sich in der Bibel eine Verbindung von Einsetzungswort und sichtbaren Zeichen aufweisen lasse, kann von einem Sakrament gesprochen werden. „Zuallererst muss ich die Siebenzahl der Sakramente bestreiten und vorerst nur noch drei Sakramente aufstellen: die Taufe, die Buße und das Brot. Und all diese, so meine These, sind uns durch die römische Kirche in elendigliche Gefangenschaft verschleppt worden, so dass die Kirche ihrer Freiheit völlig beraubt ist.“ ([8], Bd. 3, S. 185 = [1], Bd. 6, S. 501) Letztlich hat Luther nur Taufe und Abendmahl als Sakramente gelten lassen. Wie tiefgreifend seine Kritik an der mittelalterlichen Kirche empfunden wurde, mag man daran ersehen, dass die Theologische Fakultät der Universität Paris diese Lutherschrift aufgrund ihrer kapitalen Irrtümer auf eine Stufe mit dem Koran stellte. Der ebenfalls 1520 erschienene Freiheitstraktat darf schließlich als ein Meisterwerk aus Luthers Hand gelten. Albrecht Ritschl (1822–1889) erblickte in der lateinischen Fassung der Schrift „geradezu das Programm der Reformation Luthers“. „Man kann nämlich“, so Ritschl weiter, „das evangelische Ideal des christlichen Lebens gegen das katholische gar nicht ohne den Inhalt des lutherischen Gedankens der religiösen Freiheit […] feststellen.“

2.5 Die Entfaltung der reformatorischen Theologie

([202], S. 36) Für Luther stellt die Schrift, wie er in seinem Sendschrieben an Papst Leo X. schreibt, nichts weniger als die „gantz Summa eynis Christlichen leben“ dar, jedenfalls, wie er hinzufügt, wenn man sie richtig versteht ([6], Bd. 2, S. 10 = [1], Bd. 7, S. 11). Der Traktat bildet das Gegenstück zur Schrift über die babylonische Gefangenschaft der Kirche und beginnt mit der bekannten Doppelthese – „Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr / u(o)ber alle ding / vnd niemandt vnterthan. Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding vnd yderman vnterthan.“ ([7], Bd. 2, S. 265 = [1], Bd. 7, S. 21) – und führt in ihrem ersten Teil den Glauben als die wahre christliche Freiheit aus, die sich, wie Luther im zweiten Teil der Schrift darlegt, in der selbstlosen Nächstenliebe realisiert ([155]; [128]). Nach dem Reichstag zu Worms 1521 war Luther auf der Wartburg. Hier übersetzte er das Neue Testament ins Deutsche und schuf damit die Grundlage der deutschen Sprache. Es erschien im September 1522 – „Septembertestament“ – in einer Auflage von 3000 Exemplaren und war binnen weniger Tage verkauft. Der Wartburgaufenthalt Luthers machte aber auch deutlich, dass er etwas ins Rollen gebracht hatte, das inzwischen so selbständig geworden war, dass es auch ohne ihn seinen Fortgang nahm ([24], S. 193–204; [23], Bd. 2, S. 139–193). 1522 kam es in Wittenberg zu Unruhen, veranlasst durch eine Gruppe von religiösen Schwärmern, die ,Zwickauer Propheten‘. Die Reformation schien außer Kontrolle zu geraten: die Ordnung der Messe wurde radikal geändert, Altäre und Heiligenbilder demoliert. Im März 1522 kehrte Luther nach Wittenberg zurück und stoppte binnen weniger Wochen das Treiben. Eindringlich sind die Invokavitpredigten ([1], Bd. 10, 3. Abt., S. 1–64), die Luther in Wittenberg gehalten hat. Änderungen sollten durch das gepredigte Wort erfolgen, welches die Herzen der Menschen erreicht, und nicht durch Gewalt. Gegenüber den ,Schwachen‘ ist Rücksicht zu nehmen, da nicht „alle gleich starck jm glauben“ ([7], Bd. 2, S. 531 = [1], Bd. 10, 3. Abt., S. 5) sind. Seit den 1520er Jahren war Luther auf der einen Seite um eine Neuordnung der Kirche bemüht und auf der anderen zunehmend in innerreformatorische Streitigkeiten verwickelt. Was die Neuordnung der Kirche betrifft, so gab es bereits 1527 in Kursachsen, wo sich die Reformation ungehindert ausgebreitet hatte, erste Visitationen, maßgeblich unter Federführung von Philipp Melanchthon ([165]; [24], S. 209–220). Luthers Katechismen ([1], Bd. 30, 1. Abt., S. 125–238. 243–425) von 1529 stellten gewissermaßen Reaktionen auf die deprimierenden Visitationserfahrungen dar. Die hochgradige theologische Unbildung der Pfarrer machte es notwendig, den reformatorischen Glauben in elementaren Sätzen zusammenzufassen. Hinzu kam die Neuordnung des Schulwesens. Die Reformation war auch von Anfang an eine Bildungsreform gewesen. Für die zukünftigen Prediger sollte die Ausbildung in den alten Sprachen – Hebräisch und Griechisch – verbindlich gemacht werden ([166]; [167]). In der Zeit seiner Auseinandersetzung mit der römischen Kirche waren die innerreformatorischen Gegensätze zu Karlstadt, Thomas Müntzer (1489–1525) und Ulrich Zwingli (1484–1531) u.a. verdeckt [153]. Nach dem Bruch mit Rom traten diese Konflikte immer stärker hervor. Zunächst kam es 1524 beim Abendmahlsverständnis zum Bruch zwischen Luther und Karlstadt. 1525 – ein wahres Schicksalsjahr für Luther – wurde die Differenz

Septembertestament

Neuordnung der Kirche

Kontroverse mit Erasmus von Rotterdam

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2. Der junge Luther und die Herausbildung der reformatorischen Entdeckung

zwischen Erasmus von Rotterdam und dem Wittenberger unüberbrückbar ([24], S. 221–257; [23], Bd. 2, S. 210–234; [137]; [252]). Mit De servo arbitrio ([1], Bd. 18, S. 600–787) hatte er Erasmus brüskiert. Den unmittelbaren Anlass für Luthers Buch bildete Erasmus’ Schrift De libero arbitrio IATPIBH sive collatio per Desiderium Erasmum Roterodamum [172], welche Anfang September 1524 bei Froben in Basel erschien, aber der weitere Entstehungskontext der Schrift lag in Luthers reformatorischer Entdeckung und ihren Implikationen. Sein neues Verständnis der iustitia Dei hatte er in seiner Römerbriefvorlesung von 1515/16 mit dem Gedanken der Alleinwirksamkeit Gottes verbunden. In der 13. seiner Heidelberger Thesen heißt es: „Das freie Willensvermögen nach dem Sündenfall ist ein bloßer Name, und indem es tut, was in seinen Kräften steht, sündigt es tödlich.“ ([8], Bd. 1, S. 47 = [1], Bd. 1, S. 354) Diese These wurde in der Bannandrohungsbulle Leos X. vom 15. Juni 1520 verworfen (DS 1486). In seiner Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum ([1], Bd. 7, S. 94–151) vom 29. November 1520 hatte Luther die von ihm eingenommene Lehrposition noch einmal verschärft. Unter Bezugnahme auf die 13. Heidelberger These schreibt er: „Daher ist auch dieser Artikel notwendig zu widerrufen. Ich habe nämlich schlecht gesagt, dass das freie Willensvermögen vor der Gnade eine Sache allein dem Namen nach sei; vielmehr hätte ich einfach sagen müssen: ,Das freie Willensvermögen ist ein Hirngespinst unter den Dingen oder ein [bloßer] Name ohne Inhalt.‘ Denn niemand hat es in seiner Hand, sich etwas Böses oder Gutes vorzunehmen, sondern alles (wie der in Konstanz verdammte Artikel Wyclifs recht lehrt) geschieht aus absoluter Notwendigkeit [necessitate absoluta].“ ([8], Bd. 1, S. 203 = [1], Bd. 7, S. 146) Eine solche Position war denn auch für Erasmus unannehmbar, der der Sache der Reformation in gewisser Hinsicht durchaus wohlwollend gegenüberstand. Im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit Ulrich von Hutten (1488–1523) ging Erasmus zu Beginn der 1520er Jahre auch öffentlich auf Distanz zu Luther. Die Kontroverse, die schließlich in den beiden Streitschriften kulminierte, war freilich auch veranlasst durch mancherlei Indiskretionen und Briefveröffentlichungen der beiden in den Streit verwickelten Kontrahenten. In seiner Diatribe von 1524 unternimmt er den Versuch, Luthers Bestreitung der menschlichen Willensfreiheit durch Belege aus der Schrift, den Kirchenvätern und praktische Vernunftgründe seinerseits zu widerlegen. Dabei ist es ihm um eine vermittelnde Position zwischen dem göttlichen Gnadenhandeln und der menschlichen Willensfreiheit zu tun. Zwar reagierte Melanchthon, an den Erasmus eines der ersten Exemplare der Diatribe geschickt hatte, erleichtert über den maßvollen Ton, in dem Erasmus seine Schrift gehalten hatte, und gab diesem zu erkennen, dass auch Luthers Antwort entsprechend ausfallen würde. Aber Luthers Stellungnahme, der die Schrift des Erasmus nur mit Widerwillen las, fiel dann doch anders aus. Durch die ab Mitte der 1520er Jahre einsetzenden innerreformatorischen Streitigkeiten sowie die Bauernaufstände abgehalten, kam Luther erst im Jahre 1525 zu einer Antwort auf Erasmus’ Schrift. Am 31. Dezember 1525 lag De servo arbitrio als Druckschrift vor, und bereits Mitte November desselben Jahres begann Justus Jonas (1493–1555) mit der Arbeit an der deutschen Übersetzung. Sie erschien Anfang 1526 unter dem Titel Das der

2.5 Die Entfaltung der reformatorischen Theologie

freie // wille nichts sey, Antwort // D. Martini Luther an // Erasmum Roterdam. Erasmus war über Luthers gegen ihn gerichtete Schrift entsetzt und tief verletzt. 1526 publizierte er eine Replik mit dem Titel Hyperaspistes Diatribae adversvs servvm arbitrivm Martini Lvtheri, libri duo, auf die der Wittenberger jedoch nicht mehr reagiert hat. Im Marburger Religionsgespräch von 1529 kam es schließlich zum Bruch Luthers mit Zwingli ([24], S. 277–292; [137], S. 152–161). Der konkrete Anlass lag in der Auseinandersetzung über das Abendmahl. Wie Karlstadt vertrat Zwingli ein Verständnis des Abendmahls als Gedächtnismahl. Für ihn ist das Abendmahl eine commemoratio, durch welche diejenigen, die fest glauben, dass sie durch Christi Tod und Blut mit dem Vater versöhnt sind, diesen lebensspendenden Tod verkündigen ([37], S. 190). Luther beharrt in den 1520er Jahren jedoch sowohl gegenüber Karlstadt als auch gegenüber Zwingli auf dem einfachen Sinn der Einsetzungsworte des Abendmahls: das Wort ,ist‘ meint nicht, dass Brot und Wein Leib und Blut Christi bedeuten, sondern dieser ist. Luther, bei dem das ,ist‘ in den Einsetzungsworten des Abendmahls 1519/20 noch keine so dominierende Rolle gespielt hatte, geht es um die Realpräsenz Christi im Abendmahl. Diese versucht er seit 1526 durch seine Ubiquitätslehre (Lehre von der Allenthalbenheit des Leib Christi) zu entfalten. Sie bestimmt er in dem Sermon […] wider die Schwarmgeister ([1], Bd. 19, S. 482–523) von 1526 wie folgt: „Item wir glewben, das Jhesus Christus nach der menscheit sey gesetzt uber alle creaturen und alle ding erfulle […]. Ist nicht allein nach der Gottheit sondern auch nach der menscheit ein Herr aller ding, hat alles ynn der hand und ist uberal gegenwertig.“ ([1], Bd. 19, S. 491) Christus ist für Luther nicht nur seiner Gottheit nach allgegenwärtig, sondern auch seiner Menschheit nach. Der Reformator greift hier auf scholastische Denkfiguren zurück, von denen er zuvor keinen Gebrauch gemacht hatte. Wie auch immer man Luthers in den Abendmahlsstreitigkeiten entwickelte Abendmahlslehre beurteilen mag, so sind doch die christologischen Konsequenzen unübersehbar. Hierauf ist an späterer Stelle noch einmal ausführlich zurückzukommen. 1513 hatte Luther in Wittenberg mit seiner Vorlesungstätigkeit begonnen und nahm seine Professur mit mehreren Unterbrechungen bis 1546 wahr. Hauptsächlich las er über die Bücher des Alten Testaments. Von 1532 bis 1535 widmete er sich zum dritten Mal dem Psalter und von 1535 bis 1545 – vielfach unterbrochen – dem ersten Buch der Bibel, der Genesis ([1], Bd. 42–44). Drei Monate vor seinem Tod kam er mit der Vorlesung zum Abschluss. Luther starb auf einer Reise in seinen Geburtsort Eisleben am 18. Februar 1546. Auf seinem Sterbezettel notierte er die bekannten Worte: „Wir sind Bettler. Das ist wahr.“ Zuvor heißt es allerdings: „Den Vergil in seinen Bucolica und Georgica kann keiner verstehen, der nicht fünf Jahre Hirt oder Bauer gewesen ist. Den Cicero in seinen Briefen versteht keiner, der nicht zwanzig Jahre in einem großen Staatswesen tätig gewesen ist. Die Heilige Schrift glaube keiner genügend verschmeckt zu haben, der nicht hundert Jahre lang mit den Propheten die Gemeinden geleitet hat“ ([2], Bd. 5, S. 317f., Nr. 5677; zitiert nach [21], S. 175f.).

Kontroverse mit Zwingli

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3. Luthers Gottesanschauung

Transformation des mittelalterlichen Gottesbegriffs

Streit um Luthers Gottesanschauung

Luthers Gottesbegriff stellt einen Bestandteil seines Bußverständnisses dar ([44], S. 140–162; [46], S. 25–149; [26], S. 27–42. 99–118; [37], S. 223–235; [35], S. 73–87). Insofern dürfen die Beschreibung seiner Gottesanschauung ebenso wie die in den nächsten Abschnitten vorzunehmenden Erörterungen über dessen Christologie, Anthropologie und Ekklesiologie als Entfaltungen der in seiner Bußtheologie zusammengefassten Elemente gelten ([44], S. 140f.). Im Zentrum seiner frühen Bußtheologie steht die Einsicht, dass sowohl das Wort der Vergebung als auch das der Anklage auf Gott selbst zurückzuführen sind. Weder die Entstehung des Sündenbewusstseins noch die Gewissheit des Glaubens kommen durch menschliche Mitbeteiligung zustande. Sie sind allein Gottes Werk im Menschen. Religion ist für Luther Gottesanschauung. Die für letztere signifikante Spannung von Forderung und Verheißung, von Gericht und Gnade resultiert aus seinem Bußverständnis. Das ist gemeint, wenn der Wittenberger in der Erläuterung des ersten Gebots im Großen Katechismus von 1529 schreibt: „Denn die zwei gehören zuhaufe, Glaube und Gott. Worauf Du nu (sage ich) Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott.“ ([16], S. 560) Durch die Verbindung mit dem Glaubensvollzug wurde der mittelalterliche Gottesbegriff durch Luther transformiert und in seiner religiösen Bedeutung neu erfasst. Der Reformator löste die Gottesvorstellung aus allen nichtreligiösen Bestandteilen, seien diese nun politischer oder kosmologischer Natur, und stellte den Gottesgedanken völlig auf die Selbstdeutung religiöser Gewissheit ein. Emanuel Hirsch schrieb deshalb im Vorwort seiner kleinen Studie Luthers Gottesanschauung von 1918 nicht zu Unrecht, „Luthers Gottesbild ist nicht nur das lebendigste und bestimmteste, sondern auch das durchdachteste und klarste, das die christliche Theologie überhaupt erzeugt hat“ ([175], S. 24). Allerdings stieß Hirschs These von der Klarheit und Geschlossenheit von Luthers Gottesbild nicht nur auf Zustimmung. In der Literatur zu dessen Gottesanschauung wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, ob es ihm wirklich gelungen sei, ein einheitliches Gottesbild zu konzipieren, oder ob nicht sein Gottesgedanke dämonische Züge trägt. Ausgangspunkt der Kritik an seinem Gottesbild ist insbesondere der von ihm in seiner Streitschrift gegen Erasmus von Rotterdam 1525 in De servo arbitrio ausgeführte Gottesgedanke. Luther versteht Gott in De servo arbitrio nicht nur als alles bestimmende Macht, der zufolge in der Welt alles nach einer unverbrüchlichen Notwendigkeit vorgeht, sondern er unterscheidet hier auch zwischen einem ,offenbaren‘ und einem ,verborgenen Gott‘. In der angeführten Unterscheidung sah man einen nicht überwundenen Rest des nominalistischen Gottesgedankens bei Luther fortwirken. So deutete Reinhold Seeberg in seiner Darstellung der Theologie Luthers in seinem Lehrbuch der Dogmengeschichte dessen Unterscheidung zwischen dem deus revelatus und dem deus absconditus im Sinne der nominalistischen Unterscheidung von potentia dei ordinata und potentia dei absoluta ([44], S. 158). In Luthers

3. Luthers Gottesanschauung

Rede von dem deus absconditus finde sich ein Nachhall der potentia dei absoluta, der zufolge jede Ordnung in der Macht Gottes steht und von ihm geändert werden kann. Andere protestantische Theologen wie Albrecht Ritschl (1822–1889) und dessen Sohn Otto Ritschl (1860–1944) erblickten in Luthers Gottesanschauung aus De servo arbitrio nominalistische Reste oder gar einen Anklang an Marcions (um 85–160) Zweigötterlehre. Auch insgesamt fiel Albrecht Ritschls Urteil über De servo arbitrio nicht gerade günstig aus. Die Schrift sei, wie er im ersten Band seines Hauptwerks Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung schreibt, „ein unglückliches Machwerk“ ([248], S. 221). Die Schwierigkeiten der Rekonstruktion von Luthers Gottesanschauung erhöhen sich noch durch einen anderen Umstand. Von seinem Bußverständnis aus unterzog der Wittenberger Theologe den Gottesgedanken einer Neubestimmung, aber sie blieb in die traditionellen Bestimmungen eingelagert. Luther hat die Bekenntnisse der alten Kirche und die in ihnen enthaltenen dogmatischen Lehren von der Trinität und der Zwei-Naturen-Christologie übernommen. In den Schmalkadischen Artikeln von 1536/38 erklärte der Reformator: „Das erste Teil der Artikel ist von den hohen Artikeln der gottlichen Majestät, als: 1. Daß Vater, Sohn und heiliger Geist in einem gottlichen Wesen und Natur drei unterschiedliche Personen, ein einiger Gott ist, der Himmel und Erde geschaffen hat etc. 2. Daß der Vater von niemand, der Sohn vom Vater geboren, der heilige Geist vom Vater und Sohn ausgehend. 3. Daß nicht der Vater noch der heilige Geist, sondern der Sohn sei Mensch geworden. 4. Daß der Sohn sei also Mensch worden, daß er vom heiligen Geist ohn männlich Zutun empfangen und von der reinen, heiligen Jungfrau Maria geporn sei, darnach gelitten, gestorben, begraben, zur Helle gefahren, auferstanden von den Toten, aufgefahren gen Himmel, sitzend zur Rechten Gottes, kunftig, zu richten die Lebendigen und die Toten etc., wie der Apostel, item S. Athanasii Symbolon und der gemeine Kinderkatechismus lehret. Diese Artikel sind in keinem Zank noch Streit, weil wir zu beiden Teilen dieselbigen bekennen. Darumb nicht vonnoten, itzt davon weiter zu handeln.“ ([16], S. 414f.)

Luther hat formell das überlieferte trinitarische und christologische Dogma beibehalten. Er bediente sich der überlieferten dogmatischen Sprache und ihrer Formeln, aber er füllte sie im Ausgang von seiner theologischen Entdeckung mit neuem Inhalt. Das gilt auch für die überlieferte Trinitätslehre. In dem seiner Schrift Vom Abendmahl Christi von 1528 angefügten Bekenntnis hat der Reformator eindrücklich seine eigene Auffassung von der Trinität dargelegt und – in der Folge seines Verständnisses der iustitia Dei als gegebene Gerechtigkeit – den triniarischen Gottesgedanken ganz auf den Gedanken eines Sich-Gebens Gottes zugespitzt. „Das sind drey person / vnd ein Gott / der sich vns allen selbs gantz vnd gar gegeben hat / mit allem das er ist vnd hat.“ ([7], Bd. 4, S. 251 = [1], Bd. 26, S. 505; vgl. [185]; [37], S. 223–227; [173]) Gottes Sein, so könnte man Luthers Gottesanschauung insgesamt zusammenfassen, „ist im Sichgeben“ ([185], S. 79).

Luther und die altkirchlichen Bekenntnisse

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3. Luthers Gottesanschauung

Man sieht bereits an diesen kurzen einleitenden Bemerkungen, dass Luthers Gottesbegriff nicht nur in der Forschungsliteratur äußerst umstritten ist, sondern auch vor nicht geringe Interpretationsschwierigkeiten stellt. Bei der Erörterung von seiner Gottesanschauung ist in jedem Fall zu der Frage Stellung zu beziehen, ob er es vermocht hat, ein in sich geschlossenes Gottesbild auszuarbeiten. In dem ersten Unterabschnitt wird Luthers Gottesbegriff als ein Bestandteil seines Bußverständnisses unter der Überschrift Gotteserkenntnis und Glaubensgerechtigkeit entfaltet. Der zweite Unterabschnitt ist mit der theologia crucis dem wohl bekanntesten Bestandteil von Luthers Theologie gewidmet. Deren innere Struktur, Aufbauelemente sowie Funktion sind herauszuarbeiten. Mit der theologia crucis ist die These verbunden, dass sich Gott nur unter dem Gegenteil verborgen – sub contrario – offenbart. Gott ist in seiner Offenbarung verborgen. Von dieser Verborgenheit des offenbaren Gottes unterscheidet der Wittenberger in De servo arbitrio eine verborgene Verborgenheit Gottes. Letztere ist es, welche scheinbar hinter dem offenbaren Gott noch einen zweiten, verborgenen Gott einführt und die Kritik an Luthers Gottesbild heraufbeschworen hat. Ob es sich bei dem deus absconditus wirklich um einen zweiten Gott handelt und wie diese Rede von der verborgenen Verborgenheit Gottes zu verstehen ist, wird im dritten Unterabschnitt darzulegen sein.

3.1 Gotteserkenntnis und Glaubensgerechtigkeit

Gott und Glaube

„[C]ognitio dei et hominis est sapientia divina et proprie theologica.“ ([1], Bd. 40, 2. Abt., S. 327) Die Theologie hat es Luther zufolge mit der Erkenntnis Gottes und des Menschen zu tun ([30], S. 280–309; [35], S. 73–76). Diese Bestimmung des Theologiebegriffs stellt eine Folge seines Verständnisses der Buße dar. Gotteserkenntnis und wahre Selbsterkenntnis des Menschen fallen für den Reformator zusammen, so dass das Gottesbild ein Ausdruck des mit dem Glauben verbundenen neuen Selbstvollzugs des Menschen ist: Das Sich-Verstehen des Menschen als durch Gott gerechtfertigter Sünder findet seine Darstellung in der Gottesvorstellung. Folglich müssen sich die beiden Aspekte des Bußgeschehens – Gericht und Gnade Gottes – in dem Gottesgedanken selbst niederschlagen. Das führt zu einer für Luthers Gottesbild insgesamt konstitutiven Antinomie beziehungsweise einer spannungsvollen Gegensatzeinheit. Der Aufbau religiöser Gewissheit geschieht durch einen Bruch hindurch: Gott tötet, wenn er lebendig macht. Mit Rudolf Ottos (1869–1937) bekannter Bestimmung aus seinem Buch Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen könnte man Luthers Gottesanschauung als Kontrasteinheit eines mysterium tremendum et fascinosum zusammenfassen. Auf diese Weise vermochte es der Reformator, die religiöse Deutung des individuellen Lebensvollzugs mit dem Gottesgedanken zu verbinden. Die innere Struktur und die Bestandteile dieses Gottesbildes müssen nun genauer erläutert werden. Gott erschließt sich dem Menschen nicht durch müßiges Grübeln oder Spekulieren. Das wahre Gottesverhältnis ist an den konkreten Lebensvollzug des Individuums gebunden und ist der Ausdruck von dessen religiöser Gewissheit. An dieser Verknüpfung von religiöser Selbstdeutung und Gottes-

3.1 Gotteserkenntnis und Glaubensgerechtigkeit

vorstellung hat Luthers Polemik gegen die Vernunft und den metaphysischen Gottesgedanken ihren Anhalt. Freilich stellt der Reformator nicht in Abrede, dass die Vernunft Gott erfassen kann. Die natürliche Vernunft vermag sowohl die Existenz Gottes als auch dessen Eigenschaften durchaus erkennen. In der Auslegung des Propheten Jona von 1526 schreibt der Reformator: „So weyt reicht das naturlich liecht der vernunfft, das sie Gott fur eynen guetigen, gnedigen, barmhertzigen, milden achtet; das ist eyn gross liecht. Aber es feylet noch an zwey grossen stucken. Das erst, sie gleubt wol, das Gott solchs vermuge und wisse zuthun, zu helffen und zugeben. Aber das er wolle oder willig sey, solchs an yhr auch zu thun, das kan sie nicht […]. Das ander: […] Sie weys, das Gott ist. Aber wer odder wilcher es sey, der da recht Gott heyst, das weys sie nicht. […] Also spielt auch die vernunfft der blinden kue mit Gott und thut eytel feyl griffe und schlecht ymer neben hin, das sie das Gott heysst das nicht Gott ist, und widderumb nicht Gott heysst das Gott ist, wilchs sie keynes thet, wo sie nicht wuste, das Gott were, odder wuste eben, wilches odder was Gott were. […] Darumb ists gar eyn gros unterscheyd, wissen, das eyn Gott ist, und wissen, was odder wer Gott ist. Das erste weys die natur und ist ynn allen hertzen geschrieben. Das ander leret alleine der heylige geyst.“ ([1], Bd. 19, S. 206f.; vgl. [168], S. 86–88)

Eine natürliche Gotteserkenntnis ist der Vernunft aufgrund des ins Herz geschriebenen Gesetzes möglich. Luther identifizierte seit 1516 das, was die mittelalterlichen Theologen syntheresis nannten – das Vermögen der Seele, sich auf das Gute auszurichten –, mit der natürlichen Vernunft und dem jedem Menschen ins Herz geschriebenen göttlichen Gesetz. Zeitlebens hat der Wittenberger Theologe an einer natürlichen Gotteserkenntnis festgehalten, sie allerdings auch für religiös belanglos erachtet. Bereits in seinem frühen Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi aus dem Jahre 1519 schreibt er, „was hilfft dichs / dz gott / gott ist / wan er dier nit eyn gott ist?“ ([6], Bd. 1, S. 155f. = [1], Bd. 2, S. 137) Der bloße Gedanke der Existenz oder Gottheit Gottes ist für sich genommen religiös ohne Interesse. Gehaltvoll wird der Gottesgedanke erst dann, wenn er mit dem eigenen Lebensvollzug verbunden ist. Die religiöse Dimension des Gottesgedankens zeigt sich nicht in der theoretischen Reflexion, sondern sie „leret alleine der heylige geyst“. Glaubensvollzug und Gotteserkenntnis sind von Luther aufs Engste verzahnt. Dass der Gottesgedanke in seiner religiösen Funktion als Ausdrucksmittel und Selbstdarstellung wahrer religiöser Gewissheit fungiert, bedeutet freilich kein Infragestellen des An-sich-Seins Gottes. Davon geht Luther vielmehr aus. Gott ist für ihn reines In-sich- und Von-sich-Sein. „Aber nu sind alle ding durch Christum gemacht, unnd er ist durch keyniß gemacht; ßo hatt er gewißlich seyn weßen von und ynn yhm selbs unnd von keynem gemachten ding, auch von keynem mecher.“ ([1], Bd. 10, 1. Abt., 1. Hälfte, S. 151) Dem Menschen erschließt sich Gott allein in seinem eigenen Leben, und nur so, dass er zu einer Erkenntnis seiner selbst gelangt. Darin lag ja die Pointe von Luthers Bußgedanken: in der Buße kommt der Mensch zu einem Verständnis seiner selbst als vollkommener Sünder beziehungsweise als Nichts coram Deo. Gotteserkenntnis ist zunächst Selbsterkenntnis des Men-

Natürliche Gotteserkenntnis

Selbst- und Gotteserkenntnis

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3. Luthers Gottesanschauung

Antinomie im Gottesgedanken

schen als Sünder vor Gott. Mit dem Sündenbewusstsein ist das Schuldbewusstsein verknüpft, welches bereits das Gericht Gottes im Gewissen des Menschen ist ([1], Bd. 1, S. 630, These 2). Die Einsicht in den Abstand von Gott und Mensch markiert den ersten Aspekt der Gotteserkenntnis: dem Menschen wird die innere Selbstbezogenheit und Selbstsucht seines Handelns evident. Zugleich erscheint Gott im Gewissen des Einzelnen als der strenge Richter in seinem Zorn und führt ihn in die Verzweiflung. Mit der Dimension des Zornes Gottes hat der Reformator in die religiöse Selbstbeurteilung die Spannung von Gelingen und Verfehlen aufgenommen, in der sich jedes menschliche Leben bewegt. Die Einsicht in den Abstand zwischen Gott und Mensch erklärt noch nicht, wie es zur Gemeinschaft zwischen beiden kommt. Es muss noch ein weiteres Moment hinzutreten, welches sich allerdings nicht aus der Verzweiflung ableiten lässt. Solche Erfahrungen sind durchaus ambivalent. Dass es beim einzelnen Menschen zum Aufbau von Gewissheit im eigenen Leben kommt, ist ebenso kontingent wie die Entstehung des Schuldbewusstseins. Das Zustandekommen von Gewissheit im Leben des Menschen verbindet Luther mit der Barmherzigkeit und Gnade Gottes. Sie bezieht sich auf die Verzweiflung, ist aber aus ihr nicht ableitbar. In das neue Selbstverständnis werden das Gericht und die mit ihm verbundene Selbsterkenntnis integriert. Erst von hier aus, also von der sich bei dem Einzelnen einstellenden Gewissheit, erscheint die eigene Verzweiflung als Gericht Gottes und der Zorn Gottes als seine Barmherzigkeit und Liebe ([175], S. 37). Dieses in sich gestufte Geschehen der Selbsterkenntnis hat Luther in seinem Gedanken der iustitia Dei, der Gerechtigkeit Gottes, zusammengefasst. Sie enthält ein Doppeltes: Gott verwirklicht sich selbst im Gewissen des einzelnen Menschen als ein Gott der Liebe und der Barmherzigkeit, und zugleich kommt der Mensch zu sich selbst und verwirklicht sich. Gotteserkenntnis und wahre Selbsterkenntnis sind zwei Seiten eines in sich gestuften Geschehens, welches freilich nur aus der Perspektive der Glaubensgewissheit als ein solches zutage tritt. Die Spannung zwischen dem göttlichen Zorn und seiner Barmherzigkeit löst sich im Vollzug des Glaubens auf, also in dem konkreten, individuellen Selbstverständnis. Allein hier erscheint Gott als ein Gott der Liebe. Außerhalb des Glaubens brechen Zorn und Barmherzigkeit Gottes gleichsam auseinander. Die Spannung im Gottesgedanken lässt sich in einer objektivierenden Reflexion nicht synthetisieren ([175], S. 48). In De servo arbitrio hat Luther diese Antinomie prägnant herausgearbeitet: „Sic aeternam suam clementiam et misericordiam abscondit sub aeterna ira, iustitiam sub iniquitate. Hic est fidei summus gradus, credere illum esse clementem, qui tam paucos salvat, tam multos damnat, credere iustum, qui sua voluntate nos neccessario damnabiles facit.“ ([8], Bd. 1, S. 286 = [1], Bd. 18, S. 633)

„So verbirgt Gott seine ewige Güte und seine Barmherzigkeit unter ewigem Zorn, seine Gerechtigkeit unter Ungerechtigkeit. An dieser Stelle liegt der höchste Grad des Glaubens: zu glauben, dass derjenige gütig ist, der so wenige rettet und so viele verdammt; zu glauben, dass derjenige gerecht ist, der uns nach seinem Willen notwendigerweise verdammungswürdig macht.“ ([8], Bd. 1, S. 287)

3.1 Gotteserkenntnis und Glaubensgerechtigkeit

Auf das in der zitierten Stelle anklingende Motiv der theologia crucis ist im nächsten Abschnitt genauer einzugehen. Zunächst müssen noch kurz der religiöse Gehalt von Luthers Gottesbild sowie die sich hieraus ergebenden Näherbestimmungen Gottes erörtert werden. Die wahre Gotteserkenntnis bringt ein sich selbst in seiner Ambivalenz und Zwiespältigkeit verständlich gewordenes menschliches Leben zum Ausdruck. Gotteserkenntnis ist eine solche Selbstbeurteilung, in der die bleibende Endlichkeit und Zwiespältigkeit des eigenen Lebens in das Selbstverständnis aufgenommen ist. Eben das unterscheidet die wahre Gotteserkenntnis des Glaubens von den Götterbildern des Menschen. Wenn für den Menschen Gott das ist, woran er sein Herz hängt, dann kann die Frage, wie sich der wahre Gott von den menschlichen Gottesbildern unterscheidet, nicht einfach mit dem Hinweis auf Gott beantwortet werden. Auch der wahre Gott erscheint für den Menschen nur als ein Gottesbild. Deshalb ist und bleibt die Rede von ihm menschliche Rede, die vor Instrumentalisierung und Funktionalisierung nicht geschützt ist. Wenn aber die These von dem Zusammenhang von menschlicher Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis zutrifft, dann kann eine Antwort nur darin liegen, dass die wahre Gotteserkenntnis der Ausdruck eines sich in seiner Endlichkeit und Ambivalenz verstehenden menschlichen Lebens darstellt. Die Dialektik von Sicherung und Abhängigkeit, die mit jedem Gewissheitsaufbau und mit jeder Sinnsuche verbunden ist, wird in der wahren Gotteserkenntnis durchschaut. An deren Stelle tritt ein solches Selbstverständnis, in der sich das Sich-Verstehen des menschlichen Lebens selbst ausspricht. Luther hat in seinen Gottesgedanken die Spannung von Zorn und Barmherzigkeit so aufgenommen, dass die Einheit beider Momente an das kontingente Zustandekommen von menschlicher Glaubensgewissheit gebunden ist. Von diesem Gesichtspunkt aus ergeben sich die Bestimmungen des Gottesgedankens. An erster Stelle ist der Gedanke der göttlichen Allmacht zu nennen, der für Luthers Gottesbild schlechterdings grundlegend ist. Der Allmachtsgedanke ist für ihn kein metaphysisches Gottesprädikat, sondern ein Implikat der eigenen Heilsgewissheit. Der Ausgangspunkt des Verständnisses Gottes als allmächtiger Schöpfer und Wirker der Welt ist die eigene Erfahrung des Glaubens. Luther hat dem Allmachtsgedanken seit der Römerbriefvorlesung von 1515/16 die Näherbestimmung gegeben, dass Gott alles allein wirkt ([1], Bd. 1, S. 649; Bd. 2, S. 539; Bd. 18, S. 718; vgl. [71], S. 45; [175], S. 29). Gott wirkt, wie der Reformator unter Aufnahme von Paulus 1. Kor 12,6 sagt, „alles in allen“. Würde Gott nicht in jedem Augenblick mit seinem Wirken und Willen in der Welt sein, dann würde sie ins Nichts zurückfallen. Ohne den wirkenden Willen Gottes fällt kein Blatt vom Baum ([1], Bd. 56, S. 383). Die Geschichte ist sein Turnierplatz, die Mächte der Weltgeschichte sind seine Larven und Mummerei ([1], Bd. 19, S. 360; Bd. 15, S. 373). „Es gaht also zu / wen got durch mittel der creaturn wirckt / so sihet man offentlich / wo gewalt oder schweche sey / daher das sprichwort kumpt / Got hilfft de(m) sterckisten. Alszo wilcher furst den krieg gewinnet / durch de(n) hat got die andern geschlage(n). Frist ein wolff yema(n)ts odder wirt sonst beschediget / szo ists durch die creatur geschehen / also macht vn(d) zubricht got ein creatur durch die andern / wer do ligt der ligt / wer do steht der steht / Aber wen er selb wirckt / durch seynen arm / da gaht es anders zu / da ists zustoret ehe wen man meynet / widderumb erbawet ehe

Bestimmungen Gottes

Allmacht Gottes

Gottes Mummerei

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3. Luthers Gottesanschauung

Alleinwirksamkeit Gottes

man meynet / vnd niemant sihet.“ ([7], Bd. 1, S. 350 = [1], Bd. 7, S. 585f.; vgl. [184], S. 169–177) Der Mensch kann aus der Alleinwirksamkeit Gottes nicht heraustreten. Im Guten wie im Bösen ist der menschliche Wille durch die göttliche Allmacht bewegt. „Illud igitur reliquum, quod dicimus naturae in impio et Satana, ut creatura et opus Dei, non est minus subiectum omnipotentiae et actioni divinae, quam omnes aliae creaturae et opera Dei. Quando ergo Deus omnia in omnibus movet et agit, neccessario movet etiam et agit in Satana et impio.“ ([8], Bd. 1, S. 462. 464 = [1], Bd. 18, S. 709)

Gott als Liebe

„Das also, was wir den Rest der Natur im Gottlosen und in Satan nennen, ist als ein Geschöpf und ein Werk Gottes nicht weniger der göttlichen Allmacht und Wirkung unterworfen als alle anderen Geschöpfe und Werke Gottes. Da ja doch Gott alles in allem bewegt und wirkt, bewegt und wirkt er auch notwendigerweise im Satan und im Gottlosen.“ ([8], Bd. 1, S. 463. 465)

Gott ist schlechthinnige Aktuosität – „actuosissima“ ([1], Bd. 18, S. 747. 711) – und ununterbrochen am Wirken ([1], Bd. 18, S. 615f.; Bd. 7, S. 585–589). Ein schnarchender Gott, wie der des Aristoteles, ist keiner ([1], Bd. 18, S. 706). Das Schöpfungshandeln wird von Luther im Sinne einer creatio continua (kontinuierliche Schöpfung) verstanden. Gott überlässt sein Werk nicht sich selbst, sondern gewährt ihm in ständiger Aktualität Sein und bewahrt es vor dem Chaos. Deshalb wäre der Wunsch, Gott möge wegen der Gottlosen aufhören zu wirken, gleichbedeutend mit dem, er solle aufhören, Gott zu sein ([229], S. 94–96). Aufgrund seiner Alleinwirksamkeit ist Gott in allem gegenwärtig und zugleich in seinem Willen und Wirken frei. „Nichts ist so klein / Gott ist noch kleiner / Nichts ist so gros / Gott ist noch gro(e)sser / Nichts ist so kurtz / Gott ist noch ku(e)rtzer / Nichts ist so lang / Gott ist noch lenger / Nichts ist so breit / Gott ist noch breiter / Nichts ist so schmal / Gott ist noch schmeler / vnd so fort an / Ists ein vnaussprechlich wesen vber vnd ausser allem das man nennen odder dencken kan.“ ([7], Bd. 4, S. 102 = [1], Bd. 26, S. 339f.) Die Bestimmung Gottes als allmächtiger, freier Wille, der alles in der Welt bewegt, stellt ein Implikat der Glaubensgewissheit dar. Gerade als Alleinwirksamkeit besagt sie, der Glaubende darf sich immer und überall in Gottes Hand wissen. „Die Allmacht des Allwirkenden ist die eine Voraussetzung alles Gottvertrauens.“ ([175], S. 30) Neben dieser Bestimmung steht die der unveränderlichen Liebe. Gott ist reines Gutsein, und er kann nie anders als gut handeln. Auch die Bestimmung Gottes als Liebe fußt auf der eigenen Gewissheitserfahrung. Dass Gott Liebe ist und sich in seinem Wort definitiv zur Liebe bestimmt hat, ist für Luther Basis und Grund des Trostes für das angefochtene Gewissen. In seiner Liebe ist Gott der Quellgrund alles Guten. Am eindrücklichsten hat der Wittenberger Reformator diesen Aspekt des Gottesgedankens in dem Bild zusammengefasst, dass wir in der Rechtfertigung Gott als „eitel brunst und ein glu(e)ender backofen voller liebe“ ([1], Bd. 36, S. 425) erfahren. e

„Das, wenn jmand wolte Gott malen und treffen, so must er ein solch bild treffen, e das eitel liebe were, als sey die Go ttliche natur nichts, denn ein feur offen und e brunst solcher liebe, die himel und erden fullet, Und widderumb, wenn man

3.2 Theologia crucis

e

kund die Liebe malen und bilden, muste man ein solch bilde machen, das nicht wercklich noch menschlich, ja nicht Engelisch noch himlisch, sondern Gott selbs were.“ ([1], Bd. 36, S. 424)

Gott ist notwendig reine Gutheit und nichts als Gutheit. Wenn Gott jemanden liebt, dann liebt er ihn ewig und fest. In De servo arbitrio beschreibt der Reformator eindringlich jene Notwendigkeit der Unveränderlichkeit Gottes im Unterschied zum Menschen. „Wir wissen sehr wohl, dass Gott nicht liebt oder hasst wie wir, weil wir ja in veränderlicher Weise sowohl lieben als auch hassen, er aber nach seiner ewigen unveränderlichen Natur liebt und hasst.“ ([8], Bd. 1, S. 501 = [1], Bd. 18, S. 725) Luther schaut in „Gottes Willen eine immer sich gleichbleibende Beständigkeit, die durch die Unzuverlässigkeit und Launenhaftigkeit des menschlichen Willens nicht im Geringsten berührt wird“. Das sei, wie Emanuel Hirsch zu Recht bemerkte, „ein starker Gegensatz zur katholischen Frömmigkeit. Dort steht Gott allemal gerade so zu uns, wie wir uns zu ihm stellen“ ([175], S. 32). In seinem Gottesbild verknüpft Luther die allmächtige Freiheit des Herrn aller Dinge mit der Bestimmung der Notwendigkeit des wesenhaft Guten. Die Einheit beider Momente liegt allein in dem Sich-Verstehen des Menschen in seinem Leben. Gottes Wesen entzieht sich damit der Alternative von Notwendigkeit und Kontingenz: Gott ist notwendig und kontingent im gleichen Sinne ([35], S. 87). Genau darin ist Luthers Gottesgedanke ein Ausdruck des Wesens der Frömmigkeit. Dass jemand glaubt, ist kontingent. Aber diese Kontingenz des eigenen Sich-Verstehens fußt im unveränderlichen Handeln Gottes. Der Glaube rückt sein eigenes kontingentes Entstehen in eine Notwendigkeitsperspektive ein und versteht es von hier aus neu. Die Bestimmung des notwendigen und unveränderlichen göttlichen Wirkens ist der Ausdruck der religiösen Gewissheit. „Wenn du nämlich zweifelst oder ablehnst zu wissen, dass Gott alles nicht zufällig, sondern notwendigerweise und unveränderlich vorherweiß und will – wie kannst du dann seinen Zusagen glauben, gewiss darauf vertrauen und dich darauf stützen? Wenn er nämlich zusagt, musst du gewiss sein, dass er zu erfüllen weiß, vermag und will, was er zusagt.“ ([8], Bd. 1, S. 257 = [1], Bd. 18, S. 619)

3.2 Theologia crucis Luther hat in sein Gottesbild die Antinomie von Gericht und Barmherzigkeit aufgenommen und dadurch die Gotteserkenntnis mit der Glaubensgerechtigkeit verbunden. Allein im individuellen Lebensvollzug des Glaubens löst sich die Antinomie von göttlichem Gericht und göttlicher Barmherzigkeit auf in das Verständnis Gottes als unwandelbare Liebe: Gott tötet, um lebendig zu machen, er führt in die Hölle, um in den Himmel zu erheben. Luther hat diese Dialektik in den Operationes in Psalmos auf die Formel gebracht: „CRUX sola est nostra theologia“ und geradezu systematisch am Psalter in allen Facetten durchgeführt ([1], Bd. 5, S. 176. 217; vgl. [170]). Die theologia crucis bildet die begriffliche Verdichtung und Zusammenfassung der bußtheologischen Grundlagen sowie der theologischen Voraussetzungen

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3. Luthers Gottesanschauung

Theologia crucis in der Forschung

von Luthers Denken insgesamt ([181]; [169]; [180]). Ihr kommt der Rang eines methodischen Fundaments seiner Theologie zu. In der Forschung wurde Luthers theologia crucis erst 1929 durch Walter von Loewenich (1903–1992) zum Gegenstand einer monographischen Untersuchung gemacht. Von Loewenich ging in seiner Studie Luthers Theologia crucis von den Heidelberger Disputationsthesen vom April 1518 aus und rückte insbesondere die Thesen 19 und 20 in den Mittelpunkt ([181], S. 19). Seither gilt die Heidelberger Disputation als Programmschrift der reformatorischen Theologie Luthers – obwohl es auch immer wieder Stimmen gab, die sie als vorreformatorisch einstuften, da die Thesenreihe noch einer mittelalterlichen monastischen Demutstheologie verpflichtet sei ([23], Bd. 1, S. 225. 227). Von Loewenich selbst konzentrierte sich in seiner Rekonstruktion der thelogia crucis inhaltlich auf den Begriff des deus absconditus ([181], S. 26–52), der von Luther in der Erläuterung der 20. These herangezogen wird. Der Reformator schreibt hier: „Quia enim homines cognitione Dei ex operibus abusi sunt, voluit rursus Deus ex passionibus cognosci et reprobare illam sapientiam invisibilium, per sapientiam visibilium, ut sic, qui Deum non coluerunt manifestum ex operibus, colerent absconditum in passionibus.“ ([8], Bd. 1, S. 52 = [1], Bd. 1, 362)

„Weil nämlich die Menschen die Erkenntnis Gottes aus den Werken missbraucht haben, wollte Gott wiederum aus den Leiden erkannt werden und jene Weisheit des Unsichtbaren durch die Weisheit des Sichtbaren verwerfen, damit so diejenigen, die den in seinen Werken offenbaren Gott nicht verehrten, den in den Leiden verborgenen [Gott] verehren sollten.“ ([8], Bd. 1, S. 53)

Man kann freilich fragen, ob mit der von von Loewenich vorgenommenen Zuspitzung der theologia crucis auf den deus absconditus – und damit auf eine erkenntnistheoretische Fragestellung – schon deren Gehalt angemessen erfasst ist. Von Loewenich geht es in seiner Studie auch darum, das liberale Lutherbild von Albrecht Ritschl bis hin zu Adolf von Harnack zu korrigieren, wo der Gedanke des deus absconditus unterbelichtet wurde. Das Kolorit der zeitgenössischen theologischen Debattenlagen am Ende der 1920er Jahre führt denn bei von Loewenich zu Verzeichnungen von Luthers Kreuzestheologie beziehungsweise zu deren theologiepolitischer Instrumentalisierung ([181], S. 169–194). Auch deren Aufbauelemente bleiben in seiner Darstellung unberücksichtigt. Neben der von von Loewenich inaugurierten erkenntnistheoretischen Deutung der theologia crucis wurden in der Forschung noch anthropologische und christologische Deutungen vorgeschlagen ([180], S. 346f.; [170], S. 26–82; [186]). Eine anthropologische Deutung der theologia crucis hat Hans-Joachim Iwand (1899–1960) vertreten ([176]; vgl. [170], S. 76–79). Er rückt den Zusammenhang von Kreuzestheologie und Rechtfertigung in den Mittelpunkt. Die theologia crucis ist nicht nur ein Erkenntnisprinzip, vielmehr beschreibt sie das Leben des Christen im Ganzen. Für eine christologische Deutung der theologia crucis trat der Hirsch-Schüler Erich Vogelsang ein ([208], S. 15–30; vgl. [170], S. 79–81). Christus ist der Ort, an dem sich

3.2 Theologia crucis

die theologia crucis vollzieht, und da Luther im Sinne der tropologischen Auslegung der Schrift Christus auf den Christen bezieht, so beschreibt die kreuzestheologische Christologie das Leben des Glaubenden in der Spannung von Gewissheit und Anfechtung. Man sieht bereits an dem knappen Überblick, wie kontrovers Luthers Kreuzestheologie in der Forschung behandelt wird. Strittig ist nicht nur die Frage, ob man die Heidelberger Disputation zur textlichen Grundlage und zum Ausgangspunkt einer Rekonstruktion von Luthers theologia crucis nehmen sollte, und wenn ja, welche Paragraphen als einschlägig zu gelten haben: nur die Paragraphen 19 bis 20, wie von Loewenich meinte, oder die gesamte Thesenreihe ([161], S. 7–43)? Ulrich Barth (geb. 1945) hat unlängst in seiner Studie Die Dialektik des Offenbarungsbegriffs vorgeschlagen [169], nicht die begrifflichen Distinktionen der Heidelberger Disputation zum methodischen Ausgangspunkt der Rekonstruktion von Luthers theologia crucis zu nehmen, sondern dessen frühe Vorlesungen insgesamt heranzuziehen. Damit ist eine weiterführende Perspektive aufgezeigt, da Luthers frühe Vorlesungen für die Kenntnis und das Verständnis seiner theologischen Entwicklung die unverzichtbare Quelle darstellen. Die Hauptbelegstellen für Luthers theologia crucis vom Frühjahr 1518 sind: (1.) Hebräerbriefvorlesung (Ostern 1517 bis Ostern 1518) ([1], Bd. 57 (3), S. 5–91. 97–238, bes. S. 79f.) (2.) Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute (Frühjahr 1518), ([1], Bd. 1, S. 525–628, bes. S. 613f.) (3.) Asterisci adversus obeliscos Eccii – eine Streitschrift gegen die Obelisci des Ingolstädter Theologen Johannes Eck (1486–1543) ([1], Bd. 1, S. 281–314, bes. S. 290f.) (4.) Disputatio Heidelbergae habita (Frühjahr 1518) ([1], Bd. 1, S. 356–365, bes. S. 362f.)

Was verstand nun Luther unter theologia crucis, und welche Aufbauelemente gehen in sie ein? Um das zu beantworten, ist es hilfreich, einen Blick in seine Hebräerbriefvorlesung zu werfen, also in einen Text aus dem unmittelbaren zeitlichen Kontext der Heidelberger Disputation. In der Glosse zu Hebr 12,11 – „Alle Züchtigung aber, wenn sie da ist, dünkt uns nicht Freude, sondern Traurigkeit zu sein; aber hernach wird sie geben eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen, die dadurch geübt sind.“ – kommt Luther auf die theologia crucis zu sprechen. Er schreibt hier: „Haec sunt duo contraria in scripturis frequentata: iudicium et iustitia, ira et gratia, mors et vita, malum et bonum. Et ,haec magna opera Domini‘. ,Alienum opus eius ab eo, ut operetur opus suum‘. ,Spiritus quidem promptus, caro autem infirma‘. Mire enim laetificat conscientiam, iuxta ps. 4: ,In tribulatione dilatasti mihi‘ i.e. dilatationem fescisti mihi. Est enim infusio gratiae, ut Ro. 5: ,Probatio

„Dies sind zwei Gegensätze, die in der Schrift häufig begegnen: Gericht und Gerechtigkeit, Zorn und Gnade, Tod und Leben, Übel und Gut. Und ,das sind die großen Taten des Herrn‘: ,Ein ihm fremdes Werk ist es, auf dass er sein Werk tue‘ [Jes 28,21]. ,Denn der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach‘ [Mt 26,41]. Wundersam nämlich macht er das Gewissen fröhlich, nach Ps 4: ,In

Hauptbelegstellen der theologia crucis

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3. Luthers Gottesanschauung

spem operatur, spes autem non confundit‘. Haec theologia crucis est, seu, ut apostolus dicit: ,Verbum crucis scandalum Judaeis et stultitia gentibus‘, quia penitus abscondita ab oculis eorum.“ ([6], Bd. 5, S. 374 = [1], Bd. 57 (3), S. 79)

Modus loquendi von Luthers Theologie

Aufbauelemente der theologia crucis

der Angst tröstest du mich‘ [Ps 4,2], d.h. schaffst du mir einen weiten Raum. Ist es doch die Eingießung der Gnade, nach Röm 5: ,Erfahrung bringt Hoffnung, Hoffnung aber lässt nicht zu schanden werden‘ [Röm 5,4f.]. Dies ist die Theologie des Kreuzes, oder wie der Apostel sagt: ,Das Wort vom Kreuz, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit‘ [1. Kor 1,18.23]; denn sie ist ganz und gar verborgen vor ihren Augen“. ([169], S. 103)

An der zitierten Passage aus der Hebräerbriefvorlesung fällt auf, dass Luther sein Verständnis der theologia crucis durch eine Verschränkung von unterschiedlichen Bibelzitaten erläutert. Dieses Verfahren ist nun höchst aufschlussreich und signifikant für seine gesamte Theologie. Schon bei einem oberflächlichen Blick in dessen Vorlesungen und sonstige Texte zeigt sich, dass er unterschiedliche Schriftzitate zusammenstellt und geradezu ineinanderschiebt, um einen bestimmten Bedeutungsgehalt zu markieren. Hierin liegt, wie Ulrich Barth gezeigt hat, der eigentümliche modus loquendi von Luthers Theologie. Der Reformator habe nämlich „schon recht früh einen Typus systematischer Exegese entwickelt, bei der Bibelstellen sozusagen als Stellvertreter oder Repräsentanten bestimmter theologischer Gedanken fungieren, die im Verlauf des Auslegungsdiskurses dann wie Quasi-Merkmale zu einem übergeordneten Begriff synthetisiert werden und dessen theologische Struktur bilden“ ([169], S. 100). Ein solches methodisches Verfahren liegt nun auch bei der theologia crucis vor. Es sind vor allem vier Bibelzitate, aus denen sich deren Struktur ergibt. Zunächst ist der sünden- und bußtheologische Rahmen der Kreuzestheologie zu nennen, auf den Luther durch die Zitation von Mt 26,41 anspielt. Der Verweis auf das paulinische Wort vom Kreuz (1. Kor 1,18) – dem Luther den Begriff theologia crucis entlehnt – am Ende der zitierten Glosse aus der Hebräerbriefvorlesung muss in diesem Rahmen verstanden werden. Die zweite relevante Stelle markiert das Jesajazitat (Jes 28,21) und die hier begegnende Unterscheidung von einem opus alienum (fremdes Werk) und einem opus suum (eigenes Werk). Sie bezieht sich auf die Eigentümlichkeit des göttlichen Handelns. Luther verknüpft nun den Aussagegehalt von 1. Kor 1,18 und Jes 28,21 mit Ps 4,2. 4: „Erkennet doch, dass der Herr seine Heiligen wundersam führt [mirificavit].“ Eine solche Verschränkung der drei Schriftstellen begegnet schon in den Dictata super Psalterium ([1], Bd. 4, S. 87; vgl. [134], S. 24 Anm. 2). Gott handelt, wie Luther immer wieder betont, wundersam in seinen Heiligen. Und schließlich verknüpft der Wittenberger Theologe den bisher vorgestellten Aussagenkomplex mit Röm 5,4f.: „Geduld [bringt] Bewährung, Bewährung aber Hoffnung, Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den heiligen Geist, der uns gegeben ist.“ Eine solche Verzahnung von unterschiedlichen Schriftzitaten zu einer übergeordneten Aussageintention begegnet nicht nur in der Hebräerbrief-

3.2 Theologia crucis

vorlesung, sondern auch an anderen Stellen, an denen Luther auf die theologia crucis zu sprechen kommt: in den Ablassresolutionen vom Frühjahr 1518 ([1], Bd. 1, S. 613f.), der Heidelberger Disputation oder in der zweiten Psalmenvorlesung ([170], S. 98–102). In den Disputationsthesen von 1518 heißt es in der Erläuterung zu These IV („Die Werke Gottes, wie ungestaltet sie auch immer seien und wie schlecht sie erscheinen, sind doch in Wahrheit unsterbliche Verdienste.“): „Quod cum agnoscimus atque confitemur, nulla in nobis est species neque decor, sed vivimus in abscondito Dei (id est, in nuda fiducia misericordiae eius) in nobis habentes responsum peccati, stulticiae, mortis et inferni, Iuxta illud Apostoli, 2. Corinth. 6. Quasi tristes, semper autem gaudentes, quasi mortui, et ecce vivimus. Et hoc est, quod Esaias cap. 28. vocat, opus alienum Dei, ut operetur opus suum (id est, nos humiliat in nobis, desperantes faciens, ut exaltet in sua misericordia, sperantes faciens).“ ([8], Bd. 1, S. 38 = [1], Bd. 1, S. 357)

„Wenn wir das erkennen und bekennen, ist in uns ,keine Gestalt noch Schönheit‘ [Jes 53,2], sondern wir leben im Verborgenen Gottes [Kol 3,3], das heißt, in nacktem Vertrauen auf seine Barmherzigkeit, während wir in uns das Urteil der Sünde, der Torheit, des Todes und der Hölle haben, gemäß jenem [Wort] des Apostels, 2. Kor 6: ,Als die Traurigen, aber allezeit fröhlich, als die Toten, und siehe wir leben.‘ Und das ist es, was Jesaja Kap. 28 ,das fremde Werk Gottes‘ nennt, damit er sein [eigenes] Werk wirke (das heißt, er demütigt uns in uns, indem er uns zu Verzweifelnden macht, um uns in seiner Barmherzigkeit zu erhöhen, indem er uns zu Hoffenden macht).“ ([8], Bd. 1, S. 39)

Der Gehalt sowie die eigentümliche Struktur von Luthers theologia crucis ergeben sich aus der Verknüpfung der aufgeführten Schriftstellen. In dem Gesamtrahmen seiner Sünden- und Bußtheologie zielt sie auf das göttliche Offenbarungshandeln und dessen Aufnahme durch den Menschen. Diese Intention stellt zunächst eine Folge der Verschränkung von 1. Kor 1,18. 23 und Ps 4,4 dar. Luther bezieht das paulinische Wort vom Kreuz nicht nur auf Jesus Christus, sondern auf das christliche Dasein insgesamt und versteht von hier aus das „mirum“ von Ps 4,4. Mit dem wundersamen Handeln Gottes sind nicht mehr wie in der Lehrtradition die sinnenfälligen Mirakel gemeint, sondern das Zustandekommen des Gottesverhältnisses des Menschen in der Buße. Das Entstehen des Glaubens beim Einzelnen geht durch den Tod des alten Menschen hindurch. „Gottes Art“ sei es, so Luther in der Römerbriefvorlesung, „erst zu zerstören und zunichte zu machen, was in uns ist, bevor er seine Gaben schenkt“ ([14], Bd. 2, S. 109 = [1], Bd. 56, S. 375). Mit dem wunderlichen Handeln Gottes „ynn seynen kindern“ ([1], Bd. 1, S. 208) verbindet der Reformator eine Dialektik von Augenschein und Wirklichkeit ([169], S. 108; [170], S. 149). Sie klang in der oben zitierten vierten These der Heidelberger Disputation bereits an. Der natürliche Mensch, der am Äußeren orientiert ist, kann das mirum des göttlichen Handelns nicht verstehen, da es unter dem Gegenteil verborgen ist ([1], Bd. 4, S. 82). Es erschließt sich nur dem geistlichen Verstehen. „Gottes Werk muß nämlich verborgen und unverstanden bleiben gerade dann, wenn es geschieht. Es wird aber nicht anders verborgen als unter einer Gestalt, die unserem Begreifen und Denken widerspricht.“ ([14], Bd. 2, S. 111

Wundersames Handeln Gottes

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3. Luthers Gottesanschauung

Verborgenheit des göttlichen Handelns

= [1], Bd. 56, S. 376f.) Das Kreuz Christi repräsentiert nicht nur das göttliche Handeln, sondern auch das christliche Leben. Im Lichte des Kreuzes verkehren sich alle Dinge in ihr Gegenteil. Die Handlungen des Menschen erscheinen äußerlich gut, aber sie sind innerlich schlecht, und das Handeln Gottes, welches äußerlich schlecht erscheint, ist innerlich gut, wie Luther in der dritten der Heidelberger Thesen ausführt ([169], S. 109). Das göttliche Handeln steht damit in einem Grundgegensatz zum menschlichen Handeln. Es erscheint äußerlich ungestalt und schlecht, aber innerlich als unsterblicher Verdienst. So stehen sich menschliches und göttliches Handeln gegenüber, und beide unterliegen – wenn auch in „entgegengesetzter Wertumkehrung“ – dem Gegensatz von Sein und Schein ([169], S. 111; [170], S. 116). Während das menschliche Handeln, wie es in der Buße sichtbar wird, innerlich schlecht ist, ist das scheinbar negative göttliche Handeln innerlich gut. Das göttliche Handeln ist für Luther unter dem Augenschein des natürlichen Menschen verborgen. Die Verborgenheit des göttlichen Offenbarungshandelns ist die Folge der „Schuld der ersten Sünde“. Durch sie ist „unsere Natur […] so tief in sich selbst verkrümmt […], daß sie nicht nur die köstlichsten Gottesgaben an sich reißt und genießt […], ja auch Gott selbst ,gebraucht‘, um jene Gaben zu erlangen, sondern daß sie’s sogar gar nicht merkt, daß sie so gottwidrig, verkrümmt und verkehrt nach allem, ja sogar auch nach Gott nur um ihrer selbst willen trachtet“ ([14], Bd. 1, S. 327. 329 = [1], Bd. 56, S. 304). Deshalb erkennt nur der Glaubende, dem die unhintergehbare Selbstbezogenheit allen seines Handelns evident geworden ist, das wundersame Handeln Gottes, da „das Kreuz all das Unsere in den Tod gibt“ ([14], Bd. 1, S. 329 = [1], Bd. 56, S. 305). Die durch 1. Kor 1,18 repräsentierte Alternative von Weisheit und Torheit beziehungsweise von fleischlichem und geistlichem Verstehen des wundersamen göttlichen Handelns ist nun allerdings keine solche, die dem Menschen offen steht. Eben das soll die Zitation von Jes 28,21 zum Ausdruck bringen, welche die Alternative von fleischlichem und geistlichem Verstehen an das göttliche Wirken zurückbindet. Die Einbeziehung der Jesajastelle in den Gedankenkomplex der theologia crucis begegnet bei Luther bereits recht früh. Bei der Kommentierung von Ps 92 (93),4 – „Wundersam ist der Herr in der Höhe“ – in der ersten Psalmenvorlesung greift Luther explizit auf Ps 4,4, Jes 28,21 sowie 1. Kor 1,18 zurück, um sein Verständnis von „mirabilis“ zu erläutern. Mirabilis, „hoc est, quod eum tradit in omnes passiones et mortes et tribulationes et tamen simul salvat. Et quando maxime deserit, tunc maxime suscipit. Et cum damnat, maxime salvat. Sic enim mirabile (secundum Isaiam 28.) fecit consilium suum, dum ,opus eius alienum est ab eo, ut faciat opus suum‘. […] Quare et hoc psalmo cum dixisset magnas esse persecutiones sanctorum, miratur qoud deus per illas magis salvat per stultitiam crucis.“ ([6], Bd. 5, S. 182f. = [1], Bd. 4, S. 87)

Wundersam, „das besagt, dass [der Herr] ihn [sc. seinen Heiligen] in alle Leiden und Todesarten und Anfechtungen hineinführt und dennoch zugleich rettet. Und wen er am allermeisten verlässt, den nimmt er am meisten an. Und dann, wen er verdammt, hilft er am meisten. So wundersam nämlich (gemäß Jes 28) vollführt er seinen Rat, dass ,während sein Werk fremd von ihm ist, er genau sein Werk tut‘. […] durch jene [großen Verfolgungen der Heiligen] errettet Gott mehr, vermöge der Torheit des Kreuzes.“ ([169], S. 113f.)

3.2 Theologia crucis

Luther deutet Jes 28,21 als eine generelle Aussage über das göttliche Handeln und entnimmt der Stelle die Unterscheidung zwischen einem fremden und einem eigenen Werk Gottes. Durch die Selbsterkenntnis des Menschen als vollkommener Sünder, durch Anfechtung und Trübsal führt Gott ihn in seinem fremden Werk in die Hölle und d.h. in den Abgrund der Verzweiflung an sich selbst. Den Gott in Leiden und Anfechtung bringt, dessen erbarmt er sich jedoch bereits. Gott vollzieht sein fremdes Werk, um sein eigenes auszuführen. Das aber bedeutet: Gott verwirklicht seinen „Willen nicht auf eine unmittelbare Weise, sondern er wirkt sein ,opus proprium‘ immer nur im Durchgang durch sein ,opus alienum‘.“ ([169], S. 114) Er demütigt den Menschen, um ihn zu erhöhen, er tötet, um lebendig zu machen. Das göttliche Handeln ist für Luther in der Welt aufgrund der sündhaften Selbstbezogenheit und Selbstsucht des Menschen stets unter dem Gegenteil verborgen und dem Augenschein nicht sichtbar. Im Kreuz Christi ist Gott unter dem Gegenteil ebenso verborgen wie in seinem Zorn. „Die dem Menschen zugewandte Rückseite und das Sichtbare Gottes sind Gegensätze zum Unsichtbaren: das heißt, Menschlichkeit, Schwäche, Torheit.“ ([8], Bd. 1, S. 53 = [1], Bd. 1, S. 362) Mit Jes 28,21 verankert der Wittenberger Theologe das wundersame Handeln Gottes am Menschen – die Torheit und Schwachheit des Kreuzes – in einem zweifachen Handeln Gottes. Zugleich – und damit kommt die Bedeutung jener Jesajastelle in den Blick – betont er mit der dem alttestamentlichen Propheten entnommenen Unterscheidung die innere soteriologische Zielgerichtetheit des widersprüchlich erscheinenden göttlichen Handelns: Gott tötet, um lebendig zu machen ([169], S. 116). „Fremd ist sein Werk, auf das er sein Werk tue“ ([1], Bd. 55, 1. Abt., S. 147 = [1], Bd. 3, S. 246). Gott will den Sünder selig machen. Allein, „zu diesem seinem eigentlichen Werk selbst kann er nicht gelangen, wenn er nicht sein fremdes Werk hinzunimmt“ ([1], Bd. 57 (3), S. 128). Die innere Finalität vom opus alienum zum opus suum, welche Luther Jes 28,21 entnimmt, liegt freilich weder zutage, noch ist sie erfahrbar. Im Leben des Menschen erscheint die Gleichzeitigkeit von opus alienum und opus suum, von Töten und Lebendigmachen, nur in einem zeitlichen Nacheinander. Aufgrund der grundsätzlichen Verborgenheit der inneren Verwiesenheit des zweifachen göttlichen Handelns bleibt dem Glaubenden nur die Hoffnung, welche ihn von ihm selbst weg auf Gott hin verweist ([169], S. 118). „ubi nihil visibile, nihil experimentale nec intus nec foris est, in quod confidatur aut quod ametur aut timeatur, sed super omnia in invisibilem Deum et inexperimentalem, incomprehensibilem, sc. in medias tenebras interiores rapitur, nesciens, quid amet, sciens autem, quid non amet, et omne cognitium et expertum fastidiens.“ ([6], Bd. 5, S. 250 = [1], Bd. 56, S. 307)

„Hier ist nichts Sichtbares, nichts Erfahrbares, weder innerlich noch äußerlich, auf das man sein Vertrauen setzen könnte oder das man lieben oder fürchten könnte; sondern hoch hinaus über alle Dinge wird sie in den unsichtbaren, unerfahrbaren, unbegreifbaren Gott hineingerissen, mitten hinein in die innwendige Finsternis, ohne daß sie weiß, was sie liebt, aber wohl weiß, was sie nicht liebt, und alles, was sie erkannt und erfahren hat verabscheut.“ ([14], Bd. 1, S. 333)

Gottes fremdes und eigenes Werk

Hoffnungsaspekt

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3. Luthers Gottesanschauung

Die von Luther in seine theologia crucis aufgenommene Stelle aus dem paulinischen Römerbrief (Röm 5,4f.) hat nun genau die Funktion, die Gewissheit zum Ausdruck zu bringen, dass der Weg zum opus suum notwendig über das opus alienum führt. „Wenn er in dieser Not geduldig ist und auf die Hand dessen wartet, der an ihm wirkt und ihm die Gnade eingießt, so ist er angenommen und wird Hoffnung, Glauben und Liebe erhalten, welche ihm eben dabei eingegossen werden.“ ([10], Bd. 1, S. 419f. = [1], Bd. 5, S. 164) Trübsal, Anfechtung und Leiden sind die Weise des christlichen Daseins in der Welt, denn die „Trübsale heißen in der Schrift recht eigentlich das Kreuz Christi“ ([14], Bd. 1, S. 323 = [1], Bd. 56, S. 301). Überblickt man die einzelnen Aufbauelemente von Luthers theologia crucis – Ps 4,4, 1. Kor 1,18. 23, Jes 28,21 und Röm 5,4f. – in ihrem inneren Zusammenhang, so wird man kaum um das Urteil umhinkommen, dass sie eine Gedankenstruktur von eindrucksvoller systematischer Geschlossenheit und Dichte aufweist. Luther verschränkt in ihr sünden-, bußtheologische, soteriologische, christologische und theologische Motive zu einem Gesamtbild. In dieser Form bildet die theologia crucis nicht nur eine pointierte Verdichtung von Luthers Theologie, sondern auch das methodische Fundament seiner gesamten Theologie.

3.3 Die verborgene Verborgenheit Gottes Gott ist im individuellen Glaubensvollzug unmittelbar präsent, und darin kommt es sowohl zur Verwirklichung Gottes – als Liebe – als auch des Menschen. Die innere Dialektik des Zustandekommens des Glaubens beschreibt die theologia crucis, die keinesfalls nur in der Theologie des jungen Luther eine Rolle spielt. Sie hat ihren Fokus darin, dass Gott sich unter dem Gegenteil verborgen offenbart und der Glaubende sein Leben gegen den Augenschein realisiert. Gott bleibt in seiner Offenbarung ein verborgener Gott, ein deus absconditus. In seiner 1525 publizierten Streitschrift gegen Erasmus von Rotterdam – De servo arbitrio – verwendet Luther den Begriff des deus absconditus noch in einem anderen Sinne als in der theologia crucis. Hier ist der deus absconditus kein dialektischer Aspekt des deus revelatus mehr, sondern der verborgene Gott steht scheinbar noch ,hinter‘ und ,neben‘ dem deus revalatus, der in seiner Offenbarung unter dem Gegenteil verborgen ist ([179]; [168]; [174]; [178]; [182]). Wenn allerdings hinter dem offenbaren Willen Gottes noch ein zweiter, grundsätzlich verborgener Wille Gottes stehen würde, dann wäre freilich Gott einem unheilbaren Zwiespalt unterworfen und mithin der Gottesgedanke selbst problematisiert ([177], S. 175–177). Albrecht Ritschls Urteil – De servo arbitrio sei ein unglückliches Machwerk – würde zu Recht bestehen, und Luthers Gottesbild wäre nicht einheitlich. Luther führt die genannte Unterscheidung in De servo arbitrio neu ein ([168], S. 83; [174], S. 278), und zwar als Antwort auf die Auslegung von Ezechiel 18,24: – „Ich, Gott, will nicht den Tod des Sünders, sondern dass er sich bekehre und lebe“ – durch Erasmus in der Diatribe ([172], S. 64f.). Aus der Sicht von Erasmus führt jene Stelle aus dem Ezechielbuch bei dem Wittenberger aufgrund seiner These von der Alleinwirksamkeit Gottes und der

3.3 Die verborgene Verborgenheit Gottes

dieser korrespondierenden Unfreiheit des menschlichen Willens geradewegs in den Widerspruch, dass Gott den Tod des Sünders beklagt, den er doch selbst herbeigeführt hat. Hierauf repliziert Luther in De servo arbitrio: „qui de praedicata et oblata misericordia Dei loquitur, non de occulta illa et metuenda voluntate Dei, ordinantis suo consilio, quos et quales praedicatae et oblatae misericordiae capaces et participes esse velit. Quae voluntas non requirenda, sed cum reverentia adoranda est, ut secretum longe reverendissimum maiestatis divinae, soli sibi reservatum, ac nobis prohibitum, multo religiosius, quam infinitae multitudinis specus Coricii. […] Aliter de Deo vel voluntate Dei nobis praedicata, revelata, oblata culta, Et aliter de Deo non praedicato, non revelato, non oblato, non culto disputandum est. Quatenus igitur Deus sese abscondit et ignorari a nobis vult, nihil ad nos. Hic enim vere valet illud, Quae supra nos, nihil ad nos.“ ([8], Bd. 1, S. 404 = [1], Bd. 18, S. 684f.)

„Er spricht von der gepredigten und dargebotenen Barmherzigkeit Gottes, nicht von jenem verborgenen und zu fürchtenden Willen Gottes, der nach seinem Ratschluss ordnet, welche und was für welche nach seinem Willen der gepredigten und dargebotenen Barmherzigkeit fähig und teilhaftig sind. Dieser Wille ist nicht zu erforschen, sondern mit Ehrfurcht anzubeten als ein in höchstem Grade verehrungswürdiges Geheimnis der göttlichen Majestät, ihm allein vorbehalten und uns verboten, weit frömmer als Korykische Höhlen von unendlicher Menge. […] Anders ist über Gott oder über den Willen Gottes zu disputieren, der uns gepredigt, offenbart, dargeboten und von uns verehrt wird, und anders über Gott, der nicht gepredigt, nicht offenbart, nicht dargeboten, nicht verehrt wird. So weit also Gott sich selbst verbirgt und von uns nicht gekannt werden will, geht er uns nichts an. Hier hat wahrlich jenes Wort Geltung: ,Was über uns ist, geht uns nichts an.‘“ ([8], Bd. 1, S. 405)

Soweit Luthers Ausführungen in De servo arbitrio, denen zufolge zwischen einem offenbaren und einem verborgenen Willen Gottes zu unterscheiden sei. Den Ausdruck deus absconditus hat Luther aus Jes 45,15 – „Fürwahr, bei dir ist Gott verborgen, der Gott Israels, der Retter.“ – übernommen, und er begegnet bereits im Zusammenhang mit der theologia crucis in seinem Frühwerk. Auch für seine Unterscheidung zwischen dem deus absconditus und dem deus praedicata, revelata, oblata culta in De servo arbitrio beruft sich Luther auf die Schrift. In 2. Thess 2,4 schreibt Paulus von dem Antichristen, er erhebt sich über jeden, „der als Gott gepredigt und verehrt wird“. Luther, der die Stelle nach der Vulgata wiedergibt – „alles, was Gott heißt oder was verehrt wird“ („supra omne, quod dicitur Deus et quod colitur“) – findet hier einen Gott, der sich über den deus praedicatus et cultus erhebt [174]. Diese Unterscheidung scheint nun in der Tat darauf hinauszulaufen, dass Luther sagen will, hinter dem geoffenbarten Willen Gottes, der sich im Kreuz Christi als Liebe manifestiert hat, stehe noch ein dunkler, unerforschbarer Wille, der unterschiedslos alles in allem wirkt. Mit einer solchen Annahme wäre aber Luthers Gottesbild selbst nicht frei von dämonischen Zügen. Das Vertrauen zu Gott würde unter einem letzten Vorbehalt stehen, und Gott könnte seinen Heilswillen jederzeit revozieren. Wie ist Luthers prononcierte Rede von

Verborgener und offenbarer Gott

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3. Luthers Gottesanschauung

Glaube als individueller Vollzug

einer verborgenen Verborgenheit Gottes in De servo arbitrio zu verstehen ([35], S. 79–87; [168], S. 83–179; [178], [189]; [187])? Bei der Interpretation von Luthers Anschauung der verborgenen Verborgenheit Gottes ist methodisch bei der individuellen Glaubensgewissheit einzusetzen ([35], S. 79). Allein im Ausgang von ihr wird deutlich, dass der deus absconditus nur als ein Bestandteil der eigenen Heilsgewissheit verstanden werden kann. Obwohl Luther von dem reinen Ansichsein Gottes ausgeht, ist doch Gott nur im eigenen Glaubensvollzug präsent. Insofern kann man sagen, sein Gottesgedanke zielt auf die Durchsichtigkeit des Menschen – auf dessen Selbsterkenntnis als Sünder. Der Gottesgedanke in seinem religiös einzig relevanten Sinne fungiert als Selbstdarstellung religiöser Gewissheit und dem mit ihr verbundenen Sich-Verstehen des Menschen. Gott und Glaube gehören zusammen, aber der Glaube ist unvertretbar an seinen individuellen Vollzug und seine Aneignung durch den Menschen gebunden. Folglich kann die religiöse Selbstdeutung, die sich in der Vorstellung Gottes als reine, sich schenkende Liebe ausspricht, nicht verallgemeinerbar sein. Nun entsteht der Glaube bei dem einzelnen Menschen nicht durch sein eigenes Handeln, vielmehr gründet er allein im Wirken Gottes. Hier handelt Gott ohne uns in uns ([1], Bd. 18, S. 754; vgl. [184], S. 87–89). Dass ein Mensch glaubt, also zu einem neuen und tieferen Verständnis seiner selbst kommt, hängt weder von seinem Willen noch von seinen Bemühungen ab. Gott allein wirkt das Heil, und d.h. seine eigene Präsenz im Glauben. Dieser Grundanschauung korrespondiert Luthers Behauptung der Unfreiheit des menschlichen Willens. Sie besagt ja gerade, dass das Gottesverhältnis des Menschen nicht durch sein Handeln zustande kommt [229]. Die These von der Unfreiheit des menschlichen Willens sowie die mit ihr verbundene Behauptung einer unverbrüchlichen Notwendigkeit, nach der alles in der Welt geschieht, meint keinen wie auch immer gearteten Determinismus, der die menschliche Freiheit bestreiten möchte ([184], S. 93; [35], S. 86f.). Es geht bei Luthers These von der Unfreiheit des menschlichen Willens – worauf unten noch näher eingegangen werden muss – vielmehr um eine religiöse Thematisierung und Reflexion der menschlichen Freiheit. Das servum arbitrium zielt auf eine innere Bestimmung der Freiheit und nicht auf eine äußere Heteronomie. Der Glaube entsteht stets durch einen Übergang vom Unglauben zum Gottvertrauen, vom Sündersein zum Gerechtfertigtsein. Nur der Glaubende versteht sich als Sünder, und darin ist er gerechtfertigt. Zum Glauben gehört folglich, wie Luther in seiner Streitschrift gegen den Skeptizismus des Erasmus unerbittlich einschärft ([1], Bd. 18, S. 603–605), notwendig das Wissen darum hinzu, dass der eigene Glaube nur durch Gott und eben nicht durch den Menschen hervorgebracht werden kann. Wenn aber Gott alles allein wirkt und – da er ununterbrochen am Wirken ist – „notwendigerweise“ auch im Gottlosen und im Satan bewegt, dann muss sowohl der frühere eigene Unglauben als auch der Unglaube der anderen auf das Wirken Gottes zurückgeführt werden. „Warum die einen vom Gesetz erreicht werden, die anderen nicht, so dass jene die angebotene Gnade annehmen und diese sie verachten – das ist eine andere Frage und sie wird von Ezechiel an dieser Stelle nicht behan-

3.3 Die verborgene Verborgenheit Gottes

delt.“ ([8], Bd. 1, S. 405 = [1], Bd. 18, S. 684) Der deus absconditus repräsentiert das kontingente Zustandekommen des Glaubens beim Einzelnen. Betrachtet man Luthers Antwort auf die Frage, warum die einen vom Gesetz getroffen werden und die anderen nicht, in deren Zusammenhang er den verborgenen Willen Gottes ins Spiel bringt, genauer, dann wird schnell deutlich, dass sie gar keine theoretisch-objektive Aussage sein will. Der Glaubende soll seines eigenen Heils gewiss sein und nicht darüber spekulieren, warum Gott die einen für sein Wort öffnet und die anderen nicht. „Denn nach dem Wort müssen wir uns richten, nicht nach jenem unerforschlichen Willen.“ ([8], Bd. 1, S. 407 = [1], Bd. 18, S. 685f.) Religion und Gottesglaube sind Weisen der Selbstvergewisserung und Selbstdeutung des endlichen Menschen. Da ihm die Perspektive Gottes nicht zur Verfügung steht, soll er sich an den geoffenbarten und gepredigten Gott halten. Deshalb gilt: „Quae supra nos, nihil ad nos“, wie Luther unter Aufnahme eines sokratischen Diktums sagt [178]. Die Einführung des deus absconditus dient allein der Vergewisserung des eigenen Heils. Die von Luther in De servo arbitrio neu eingeführte Bedeutungsnuance des deus absconditus im Sinne einer verborgenen Verborgenheit Gottes im Unterschied zur theologia crucis gehört in den gedanklichen Kontext der Erwählungs- und Prädestinationslehre. Seine Ausführungen wären missverstanden, wenn man sie von der subjektiven Perspektive der eigenen Glaubensgewissheit lösen und als eine gleichsam objektive Beschreibung verstehen wollte. Die Prädestinationsvorstellung ist das Korrelat des Rechtfertigungsglaubens und beinhaltet, dass das eigene, mit dem Glauben verbundene Heil allein von Gott bewirkt wird und keinerlei Voraussetzungen im Menschen hat. Somit bringt der Prädestinationsgedanke die Unbedingtheit des eigenen Sich-Verstehens des Glaubens zu einem scharfen Ausdruck. Luthers Umgang mit der Prädestinationsvorstellung in De servo arbitrio – „Warum jene Majestät diesen Fehler unseres Willens nicht aufhebt oder in allen ändert, weil es ja doch nicht in der Macht des Menschen liegt, oder warum er ihm jenen anrechnet, obwohl sich der Mensch ihm nicht entziehen kann, danach zu fragen ist nicht erlaubt“ ([8], Bd. 1, S. 407 = [1], Bd. 18, S. 686) – entspricht seinen Ausführungen in der frühen Römerbriefvorlesung. Hier hat er drei Stufen der Erwählungsgewissheit unterschieden. Die erste Stufe beschreibt der Reformator wie folgt: „Primus eorum, qui contenti sunt de tali voluntate Dei neque murmurant contra Deum, verum confidunt se esse electos et nollent se damnari.“ ([6], Bd. 5, S. 271 = [1], Bd. 56, S. 388)

„Die erste Stufe, das sind die, die zufrieden sind mit dem Willen Gottes, so wie er ist, und nicht wider Gott murren, vielmehr vertrauen, daß sie erwählt sind, und die nicht wollten, daß sie verdammt werden.“ ([14], Bd. 2, S. 133; vgl. [232], S. 148–154; [207], S. 31 Anm. 2)

Die zweite, höhere Stufe bezeichnet die, welche sich in den Willen Gottes schicken und die in ihren Herzen zufrieden sind, auch wenn Gott sie zu „den Verworfenen rechnen wollte“ ([14], Bd. 2, S. 133 = [1], Bd. 56, S. 388). Auf der dritten und höchsten Stufe stehen die, welche sich dem Willen Gottes

Erwählung und Prädestination

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3. Luthers Gottesanschauung

vollständig unterstellen und ihre Verwerfung auf sich nehmen. „Die werden am vollkommensten gereinigt von dem eigenen Willen und von der ,Klugheit des Fleisches‘.“ ([14], Bd. 2, S. 133 = [1], Bd. 56, S. 388) Wenn Luther in der Streitschrift von 1525 darauf beharrt, dass den Menschen Gott in seiner Majestät nichts angeht und der Glaubende sich – statt zu spekulieren – an den gepredigten Gott halten solle, dann nimmt er die erste Stufe der Erwählungsgewissheit aus der Römerbriefvorlesung auf ([232], S. 153; [207], S. 80. 85f.). In De servo arbitrio liegt der Fokus der Erörterungen deutlich auf der religiösen Selbstvergewisserung: „Mose handelt vielmehr davon: nicht so sehr, dass er die Bosheit des Pharao predigt als die Wahrheit und Barmherzigkeit Gottes. Die Kinder Israels sollen nämlich nicht den Zusagen Gottes misstrauen, in denen er zugesagt hat, er werde sie befreien.“ ([8], Bd. 1, S. 475 = [1], Bd. 18, S. 713) Die Unterscheidung des deus absconditus von dem deus revelatus dient der Vergewisserung des eigenen Glaubens, der auf Erden stets angefochten bleibt. Durch ihre Rückbindung an den Glaubensvollzug des Einzelnen unterscheidet sich Luthers Rede von der verborgenen Verborgenheit Gottes von der nominalistischen Differenzierung der potentia Dei absoluta et ordinata. Allein deshalb führt die in De servo arbitrio eingeführte Unterscheidung zwischen einem verborgenen und einem offenbaren Gott auch nicht zu einer Auflösung seines Gottesgedankens. Vielmehr weist Luther mit dem deus absconditus der lebensweltlichen Kontingenz, sei es im Hinblick auf das Zustandekommen des eigenen Glaubens, sei es in Hinsicht auf den eigenen Lebensvollzug, einen Ort im Gottesgedanken zu. In diesem Sinne markiert der deus absconditus einen notwendigen „Grenzbegriff“ ([178], S. 223). Er repräsentiert diejenige Unbestimmtheit, die als Horizont mit jeder Bestimmung mitgesetzt ist. Von einem solchen Grenzbegriff kann freilich nicht gesagt werden, dass er etwas will und tut. Luther, so muss man allerdings kritisch einwenden, macht genau das an einigen Stellen in De servo arbitrio. Wenn er schreibt, Gott will „nicht den Tod des Sünders, im Wort nämlich. Er will ihn aber in seinem unerforschlichen Willen“ ([8], Bd. 1, S. 407 = [1], Bd. 18, S. 685), dann spricht er dem deus absconditus einen bestimmten Willen zu. Die Perspektive der religiösen Selbstdeutung wird mit solchen Aussagen verlassen und eine gleichsam göttliche Position eingenommen, welche keinem Menschen zur Verfügung steht. Der Reformator fällt hier hinter seine eigene Einsicht in die Beschränktheit des menschlichen Standpunkts zurück und ist entsprechend zu korrigieren ([35], S. 86f.; [177], S. 175f.).

4. Das Christusbild Luthers Luthers theologia crucis verbindet die Gottes- und die Selbsterkenntnis des Menschen als gerechtfertigter Sünder mit dem Paulinischen Wort vom Kreuz. Im Leiden, in der Schwachheit und in der Anfechtung offenbart sich Gott. Bereits die erste Psalmenvorlesung hatte der junge Wittenberger Professor unter das Motto des leidenden Christus gestellt. Der Wortsinn des Psalters redet von „Christum in sua passione“ ([6], Bd. 5, S. 48 = [1], Bd. 3, S. 13). Aufgrund seiner christologisch-tropologischen Auslegungsweise verknüpft Luther die buchstäblichen Aussagen der Psalmen über den leidenden Christus mit „jedem geistlichen und inneren Menschen“ ([1], Bd. 55, 1. Abt., S. 8). In der Römerbriefvorlesung legt er, nachdem er über das wundersame Handeln Gottes an seinen Heiligen geschrieben hat, dar: „Sic enim egit in opere suo proprio, quod est primum et exemplar omnium operum suorum, i.e. in Christo. Quem tunc, quando voluit glorificare et in regnum statuere, sicut omnium discipulorum piissima cogitatio ferventer optabat et expectabat, maxime contrarie fecit mori, confundi et ad inferos descendere.“ ([6], Bd. 5, S. 263 = [1], Bd. 56, S. 377)

„So nämlich handelte er an seinem eigentlichen Werke, dem Erstling und Urbild aller seiner Werke, ich meine an Christus. Ihn hat er gerade dann, als er ihn verherrlichen und in sein Königtum einsetzen wollte, wie es der fromme Gedanke aller Jünger so glühend wünschte und erwartete, ganz im Gegenteil zuerst sterben, zuschanden werden und in die Hölle fahren lassen.“ ([14], Bd. 2, S. 111)

Luthers Christusbild und seine Aussagen über die Gläubigen haben ihre Eigenart darin, dass sie ganz auf die theologia crucis eingestellt sind ([170], S. 340–388). Die angefochtene Seele hat, wie er in dem Freiheitstraktat von 1520 ausführt hat, „keyn ander dinck / widder yn hymel noch auff erden darynnen / sie lebe / frum / frey / vnd Christen sey / den das heylig Eua(n)gelij / das wort gottis von Christo geprediget“ ([7], Bd. 2, S. 267 = [1], Bd. 7, S. 22). Das Christusbild repräsentiert der angefochtenen Seele die mit dem Wort Gottes verbundene Dialektik von Gericht und Barmherzigkeit, in der sich das menschliche Sich-Verstehen aufbaut. Luthers Christusbild ist folglich eine Weiterbestimmung des Wortes Gottes als Evangelium ([44], S. 179–201; [26], S. 159–195; [211]; [37], S. 235–248; [199]). Christus ist, wie der Reformator formulieren kann, der Spiegel des väterlichen Herzens Gottes ([1], Bd. 20, S. 228; Bd. 17, 2. Abt., S. 244). Im Glauben gewinnt Christus im Herzen beziehungsweise im Gewissen des glaubenden Menschen Gestalt. „Nit allein gibt der glaub ßouil / das die seel / dem gottlichen wort gleych wirt aller gnaden voll / frey / vn(d) selig / sondernn voreynigt auch die seele mit Christo / als eyne brawt mit yhrem breudgam.“ ([7], Bd. 2, S. 275 = [1], Bd. 7, S. 25) Diese Christusanschauung baut auf Luthers Bußverständnis auf. Die wahre Buße besteht, wie es in den Disputationsthesen Von der Vergebung der Sünden von 1518 heißt, in dem Glauben des Sün-

Christusbild und Glaube

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4. Das Christusbild Luthers

Grundzüge von Luthers Christologie

Entwicklung von Luthers Christologie

ders an das Vergebungswort Christi. „Nichts nämlich rechtfertigt als allein der Christusglaube, zu dem das Darreichen des Wortes durch den Priester notwendig ist.“ ([8], Bd. 2, S. 31 = [1], Bd. 1, S. 632) Wie Luther selbst berichtet hat, ist er zu seinem Christusbild durch Johannes von Staupitz im Kloster gelangt ([2], Bd. 1, S. 59f. u.ö.; [1]; Bd. 1, S. 525–527; vgl. [163]; [207], S. 71–74). Sein Beichtvater habe ihn angesichts seiner Anfechtungen durch den richtenden Christus auf den gekreuzigten Christus hingewiesen. An dieser Auskunft wird ein doppelter Grundzug von Luthers Christologie deutlich. Zunächst rückt er – und zwar bereits in den frühen Randbemerkungen zu Augustin ([1], Bd. 9, S. 17) – den Menschen Jesus Christus in das Zentrum seiner Christologie. Ausgangspunkt der Christusanschauung ist bei Luther nicht mehr wie in der altkirchlichen und mittelalterlichen Debatte die metaphysische Frage, wie göttliche und menschliche Natur in einer Person vereinigt werden können, sondern das biblische Bild von dem Menschen Jesus Christus ([208], S. 11). Sodann verknüpft der Wittenberger Professor die Aussagen über Christus mit denen über die Christen ([207], S. 78f.). Hieraus resultiert die für den Reformator signifikante soteriologische Zuspitzung seiner Christusanschauung. Hinter dem Christusbild tritt – insbesondere in den Predigten Luthers – die dogmatische Konstruktion des Gottmenschen Jesus Christus zurück. Alle Aussagen der überlieferten Personchristologie werden im Horizont der Soteriologie reformuliert. So deutlich diese beiden Grundzüge in dem Christusbild Luthers hervortreten, so schwierig ist es indes, seine Christologie insgesamt auf eine systematische Weise zu interpretieren. Das hat seinen Grund nicht nur darin, dass er keine Lehre von Christus im Sinne einer dogmatischen Abhandlung geschrieben und christologische Motive und Reflexionen in höchst unterschiedlichen Zusammenhängen entfaltet hat [211]. Gravierender noch ist: in die Gestaltung seines Christusbildes nahm er sehr disparate christologische Traditionen und Motive auf. Sie reichen von den altkirchlichen Vorstellungen der Vergottung des Menschen, dem Betrug des Teufels über Elemente der mittelalterlichen Mystik bis hin zu Motiven der anselmischen Satisfaktionstheorie. Im Hinblick auf das christologische Dogma ist dasselbe zu sagen, wie zu der mit ihm zusammenhängenden Trinitätslehre: Luther hat formal an der Zwei-Naturen-Lehre festgehalten und sie vorausgesetzt. Allerdings ergibt sich sein eigenes Verständnis der Christologie nicht aus den christologischen Formeln und Begrifflichkeiten, denen er sich bei der Darstellung und Ausgestaltung seines Christusbildes bedient hat, sondern allein aus seiner Grundanschauung. Sie liegt in dem neuen Bußverständnis beziehungsweise dem Rechtfertigungsglauben. Von ihm aus werden die überlieferten Motive umgeformt und mit neuem Inhalt gefüllt. Das Christusbild und die Christologie Luthers unterliegen einer Entwicklung, welche in der Forschung unterschiedlich bewertet wird. Zwar hat bereits der junge Erfurter Sententiar in seinen Anmerkungen zu Augustin und zu Petrus Lombardus die Menschheit Jesu Christi in den Mittelpunkt seiner Christusanschauung gestellt, aber aufs Ganze gesehen bleibt doch sein damaliges Christusbild den spätmittelalterlichen Schulformeln verpflichtet ([209], S. 36–50). In den frühen Vorlesungen über die Psalmen, den Römer-, Galater- und Hebräerbrief geht Luther von dem Menschen Jesus Christus aus und fokussiert die Christologie auf das Leiden und die Anfechtung Jesu

4.1 Jesus Christus, mein Herr

Christi am Kreuz. Infolge seiner Neuinterpretation des wundersamen Handelns Gottes – des mirum aus Ps 4,4 – bezieht er jedoch dieses nicht auf die Wundertaten im Leben Jesu, sondern sowohl auf das Gottesverhältnis Jesu als auch das der Gläubigen. Christusbild und christliche Existenz rücken ganz nahe zusammen: der Leidende, Angefochtene und den Tod überwindende Christus wird zum Bild der Gläubigen. Christus – so Luthers Formel – ist sacramentum et exemplum (Sakrament und Vorbild) ([1], Bd. 9, S. 18). Ab der Mitte der 1520er Jahre entfaltet der Wittenberger Reformator – insbesondere in seiner Auseinandersetzung mit dem Abendmahlsverständnis der Oberdeutschen und Schweizer Reformatoren – sein Christusbild stärker im Rückgriff auf die überlieferten dogmatischen Formeln der Zwei-NaturenLehre. Allerdings wird das altkirchliche christologische Dogma von ihm in einer soteriologischen Perspektive rezipiert. Wichtig für seine späte Christologie sind neben den Abendmahlsschriften die Disputationsthesen Verbum caro factum est / Das Wort ward Fleisch ([1], Bd. 39, 2. Abt., S. 3–5) und De divinitate et humanitate Christi / Von der Gottheit und Menschheit Christi ([1], Bd. 39, 2. Abt., S. 93–96) aus den Jahren 1539 und 1540. In ihnen legt er seine aus seiner reformatorischen Entdeckung resultierende Neudeutung der Zwei-Naturen-Lehre im Zusammenhang vor. Sie zielt auf eine Reformulierung des Dogmas im Horizont der religiösen Sprache. Einzusetzen ist mit dem aus Luthers theologia crucis resultierenden Christusbild. Von hier aus ist seine Umformung des dogmatischen Christusbildes zu untersuchen.

Sacramentum et exemplum

4.1 Jesus Christus, mein Herr Signifikant für Luthers Christusanschauung ist die Gleichförmigkeit – conformitas – von Christus und den Glaubenden ([6], Bd. 1, S. 157 = [1], Bd. 2, S. 138; vgl. [35], S. 56–57; [208]; [207]). Immer wieder schärft er in seinen Vorlesungen und Texten seit den Erfurter Randbemerkungen zu Augustin ein, Christus sei sacramentum et exemplum. Am bündigsten hat der Reformator seine christologische Grundanschauung in seiner Erläuterung des zweiten Artikels des Glaubensbekenntnisses im Kleinen Katechismus von 1529 zusammengefasst. Dort heißt es: „Ich gläube, daß Jesus Christus, wahrhaftiger Gott vom Vater in Ewigkeit geborn und auch wahrhaftiger Mensch von der Jungfrauen Maria geborn, sei mein HERR“ ([16], S. 511; vgl. [37], S. 238; [26], S. 167). Jesus Christus ist für Luther genau darin ,mein Herr‘, wenn der Mensch „durch den Glauben […] dem Worte Gottes ähnlich“ wird, so dass der, der „an ihn glaubt, ein Sohn Gottes wird“ ([10], Bd. 1, S. 309 = [1], Bd. 57 (3), S. 151). Entsprechend heißt es von Christus, er „wollte uns nicht unähnlich sein, ja vielmehr wurde er für uns wie einer von uns und nahm die Knechtsgestalt an, das heißt, er unterwarf sich selbst allen Übeln“ ([8], Bd. 2, S. 75 = [1], Bd. 2, S. 148). Die methodische Grundlage der angeführten christologischen Aussagen Luthers ist die theologia crucis. Sie kommt in seinem Christusbild zu einem besonders starken Ausdruck. Christus ist das Werk Gottes, in dem die Antinomie des göttlichen Handelns zur Darstellung gelangt. Seit der Hebräerbriefvorlesung hat Luther seinen frühen Gedanken der Menschheit Jesu Christi mit dem Christushymnus

Christusbild als Darstellung des göttlichen Handelns

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4. Das Christusbild Luthers

aus dem Philipperbrief (Phil 2,5–11) verknüpft ([1], Bd. 2, S. 148; Bd. 1, S. 268; Bd. 6, S. 114; Bd. 10, 3. Abt., S. 219; Bd. 20, S. 308). In Verbindung mit dem Leitgesichtspunkt der theologia crucis heißt es in der Hebräerbriefvorlesung: „Igitur qui vult salubriter ascendere ad amorem et cognitionem Dei, dimittat regulas humanas et metaphysicas de divinitate cognoscenda et in Christi humanitate seipsum primum exerceat. Impiissima enim temeritas est, ubi Deus ipse humiliavit se, ut fieret cognoscibilis, quod homo aliam sibi viam quaerat proprii ingenii consiliis usus.“ ([6], Bd. 5, S. 345 = [1], Bd. 57 (3), S. 99; vgl. [4], Bd. 1, S. 326–331, bes. 328f., Nr. 145)

Angefochtener Christus

„Wer also in heilbringender Weise zur Liebe und Erkenntnis Gottes emporsteigen will, der lege die von Menschen gegebenen metaphysischen Anleitungen, das göttliche Wesen zu erkennen, beiseite und übe sich zuerst in bezug auf das menschliche Wesen Christi. Denn höchst unfromme Vermessenheit ist es, wenn der Mensch, wo doch Gott selbst sich erniedrigt hat, um erkennbar zu werden, sich einen andern Weg sucht und dabei den Eingebungen seines eigenen Geistes folgt.“ ([10], Bd. 1, S. 293)

Wie genau sich Luthers Christusbild in seine theologia crucis einfügt, wird nicht nur in seiner Betonung der Menschheit Jesu Christi sowie den Gedanken der Erniedrigung und Knechtsgestalt ersichtlich, welche später in der sich herausbildenden altlutherischen Christologie eine geradezu konstitutive Rolle spielen, sondern vor allem in seiner gegenüber der Lehrtradition neuen Betonung der Anfechtung und Gottverlassenheit Jesu ([207]; [31], S. 163; [199], S. 90; [170], S. 341–356). Bereits in der ersten Psalmenvorlesung kommt diese Eigenart der Christologie Luthers zum Zuge. So bemerkt er in seiner Auslegung von Psalm 68 (69), die Psalmen sind „Gebete des tatsächlich in der Hölle weilenden Christus“ ([10], Bd. 1, S. 80 = [1], Bd. 3, S. 432). Am deutlichsten hat der Reformator den Gedanken des angefochtenen Christus in seinem Sermon von der Bereitung zum Sterben ([1], Bd. 2, S. 685–697) von 1519 ausgeführt. Nachdem Luther in seiner in der mittelalterlichen Tradition der ars moriendi ([195]; [196]) stehenden Schrift die drei Schreckensbilder des Sterbens – Sünde, Tod und Hölle – vor Augen gemalt hat, kommt er auf Christus, das „gnaden bild“, zu sprechen, auf das der Sterbende blicken und „ynn sich bilden“ soll ([7], Bd. 1, S. 236 = [1], Bd. 2, S. 689), um die schreckenden und anfechtenden Bilder zu verdrängen. Von Christus heißt es hier, er sei „vmb deynen wille(n) / gen hell gefaren / vn(d) von gott ist vorlassen geweßen / alß eyner der vordampt sey ewiglich / da er sprach am Creutz / Eli eli lama asabthani. O meyn gott o meyn gott / waru(m)b hastu mich vorlassen“ ([7], Bd. 1, S. 237 = [1], Bd. 2, S. 690; vgl. [1], Bd. 2, S. 139). In der Konsequenz seiner theologia crucis treibt Luther die Anfechtung und Gottverlassenheit des am Kreuz sterbenden Christus bis zum Äußersten. Christus unterstellt sich selbst – für die an der Zwei-Naturen-Lehre orientierte Lehrtradition undenkbar – dem Gericht und wird für die Menschen zur Sünde ([1], Bd. 8; vgl. [207], S. 28–30; [193]; [170], S. 348–456). In seiner Gottverlassenheit ist Christus das Trostund Gnadenbild des angefochtenen Menschen, der, völlig zunichte geworden, nicht auf sich, sondern allein auf Gott vertraut. „Sich yn dem bild / ist

4.1 Jesus Christus, mein Herr

vbirwunden deyn helle / vn(d) deyn vngewiß vorsehung / gewiß gemacht / das ßo du da mit alleyn dich beku(m)merst / vnd das glaubst fur dich geschehn / ßo wirstu / yn dem selben glauben behalten gewißlich“ ([7], Bd. 1, S. 237 = [1], Bd. 2, S. 690). Der leidende und von Gott verlassene Christus repräsentiert das opus alienum Gottes, durch das allein ein Mensch „zu seyns selb erkentnis kume“ ([6], Bd. 1, S. 157 = [1], Bd. 2, S. 138). Verzweiflung, Anfechtung und Gottverlassenheit sind jedoch die Weisen, auf die Gott dem Menschen nahe kommt. „Wir bitten um Heil und er führt uns, um uns selig zu machen, noch tiefer in die Verdammnis hinein und verbirgt unter solchem Unwetter seine Erhöhung.“ ([14], Bd. 2, S. 119 = [1], Bd. 56, S. 381) Christus ist das Gnadenbild des wundersamen göttlichen Handelns, und darin ist er sacramentum et exemplum. Die Formel zielt – wie an Luthers Erläuterung in der Hebräerbriefvorlesung deutlich wird – auf die Selbsterkenntnis des Menschen als Sünder vor Gott. „Sacramentum passionis Christi est mors atque remissio peccatorum, exemplum autem est imitatio poenarum eius. Ideo qui Christum vult imitari quoad exemplum, necesse est, ut credat primum firma fide Christum pro se esse passum ac mortuum quoad sacramentum.“ ([6], Bd. 5, S. 348 = [1], Bd. 57 (3), S. 114)

„Das Sakrament des Leidens Christi ist sein Tod und die Vergebung der Sünden, das Vorbild aber die Nachahmung seiner Qualen. Wer also Christus als Vorbild nachahmen will, muß notwendigerweise zuerst fest daran glauben, daß Christus als Sakrament (als göttliches Zeichen) für ihn gelitten hat und gestorben ist.“ ([10], Bd. 1, S. 296)

Die Qualen des angefochtenen Gewissens – für Luther der Sitz der Hölle (vgl. oben) – bezieht der Reformator auf die Passion Christi. Die mit dem Bußgeschehen verbundene Erkenntnis des vollkommenen Sünderseins des Menschen vor Gott hat ihr inneres Ziel in dem Vertrauen des Menschen auf Gottes Verheißung der Sündenvergebung. Beide Momente werden durch die Bestimmung Christi als sacramentum repräsentiert. Sie bezieht sich auf den inneren Menschen. Zur wahren Buße gehört jedoch nicht nur die innere, sondern auch die äußere Buße. Jene wäre keine, „wenn sie nicht äußerlich vielfältige Marter des Fleisches schafft“ ([8], Bd. 2, S. 3 = [1], Bd. 1, S. 233). Den zuletzt genannten Aspekt seines Bußverständnisses hat Luther in seine Bestimmung von Christus als exemplum aufgenommen ([1], Bd. 56, S. 321f.). Im Herzen des Glaubenden bildet sich Christus als Gabe innerlich ein, „nehret deynen glawben und macht dich tzum Christen“, aber „Christus als eyn exempel ubet deyne werck, die machen dich nit Christen, ßondern sie gehen von dyr Christen schon zuuor gemacht “ ([1], Bd. 10, 1. Abt., 1. Hälfte, S. 12; vgl. [1], Bd. 57 (3), S. 124f.; Bd. 5, S. 639; [170], S. 375–382). Die im Anschluss an Phil 2,5–11 beschriebene Konformität zwischen Christus und den Gläubigen hat Luther unter Aufnahme von früheren Motiven in das Bild eines fröhlichen Wechsels zwischen Christus und dem Sünder gekleidet ([1], Bd. 2, S. 145; vgl. [201]). Eine seiner bekanntesten Formulierungen findet sich in dem Freiheitstraktat.

Christusbild und Glaube

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4. Das Christusbild Luthers

Fröhlicher Wechsel und Streit

Fides apprehensiva Christi

„Hie hebt sich nu der fro(e)lich wechßel vnd streytt / Die weyl Christus ist gott vnd mensch / wilcher noch nie gesundigt hatt / vnd seyne frumkeyt vnu(e)birwindlich / ewig / vnd almechtig ist / ßo er denn der glaubigen seelen sund / durch yhren braudtring / das ist / d(er) glaub / ym selbs eygen macht vnd nit anders thut / den(n) als hett er sie getha(n) / ßo mussen die sund ynn yhm vorschlunden(n) vn(d) erseufft werden / Denn sein vnu(e)birwindlich gerechtigkeyt / ist allenn sunden zustarck / also wirt die seele vo(n) allen yhren sunden / lauterlich durch yhre(n) malschatzts / das ist des glaubens haben / ledig vnd frey / vnd begabt / mit der ewigen gerechtickeit yhrs breu(e)dgamß Christi.“ ([7], Bd. 2, S. 277 = [1], Bd. 7, S. 25f.)

Luther verbindet Christus und den Glaubenden so eng miteinander, dass Ersterer sich in das Herz des Glaubenden geradezu einbildet und gemalt wird. Ebenso kann der Reformator davon reden, dass Christus in seinem Sterben die Glaubenden „abgebildet“ hat ([14], Bd. 1, S. 371 = [1], Bd. 56, S. 324). Beide werden „eins“ durch den Glauben. „Durch den Glauben an Christus wird die Gerechtigkeit Christi unsere Gerechtigkeit. Alles, was ihm gehört, ja er selbst, wird unser Eigentum.“ ([8], Bd. 2, S. 71 = [1], Bd. 2, S. 145; vgl. [102], S. 286f.) Die in dem fröhlichen Wechsel liegende Aneignungsstruktur hat Luther im Begriff der fides apprehensiva Christi (aneignender Glaube) festgehalten ([1], Bd. 39, 1. Abt., S. 44f.; vgl. [135], S. 205 Anm. 1). Christus muss zwar von dem Menschen angeeignet werden, damit es zum wahren Glauben kommt, aber die Notwendigkeit dieser existentiellen Aneignung liegt nicht im aneignenden Menschen, sondern in Christus als dem Glaubensgegenstand selbst ([102], S. 287). Außerhalb der fides apprehensiva ist Christus lediglich Gegenstand eines bloßen und äußerlichen Fürwahrhaltens (fides historica) ([1], Bd. 7, S. 29; Bd. 10, 1. Abt., 2. Hälfte, S. 24). Das auf Kreuz und Auferstehung Jesu Christi fokussierte Christusbild des Reformators beschreibt das Zustandekommen des eigenen Glaubens in dem Geschehen der Buße. Dass zum Glauben sowohl die Differenz von Gott und Mensch als auch deren Überwindung gehört, findet seine religiöse Darstellung in Tod und Auferstehung Jesu Christi. Sein zusammenfassender Ausdruck ist das Bekenntnis: Ich glaube, dass Jesus Christus mein Herr ist.

4.2 Communicatio Idiomatum – Die neue Sprache des Glaubens

Christologisches Dogma

Luthers Umgang mit dem überlieferten christologischen Dogma ist an seinem Grundgedanken der Konformität zwischen Christus und den Gläubigen orientiert und erhält durch die theologia crucis sein spezifisches Profil. In den Fokus des Interesses rückt die Lehre von der communicatio idiomatum, der wechselseitigen Anteilhabe der Eigenschaften, und mit ihr verbindet sich ein Insistieren auf eine neue Sprache des Glaubens ([203]; [209]; [206]; [204]; [190]). Worin der Kern von Luthers Neubestimmung der Personchristologie, also der Frage nach der Einheit von Gott und Mensch in der Person Jesu Christi besteht, wird deutlich, wenn man dessen Fassung mit der überkommenen Zwei-Naturen-Lehre vergleicht. Die Alte Kirche hat auf dem Konzil von Chalcedon im Jahre 451 die dogmatischen Bestimmungen der

4.2 Communicatio Idiomatum – Die neue Sprache des Glaubens

Christologie für die Folgezeit verbindlich festgelegt. Die Person des Gottmenschen wurde als eine Einheit von göttlicher und menschlicher Natur verstanden. In den einschlägigen Passagen des Chalcedonense heißt es: „[E]inen und denselben Christus, Sohn, Herrn, Einziggeborenen, in zwei Naturen, unvermischt, unverwandelt, ungetrennt, unzerteilt erkannt, wobei keinesfalls die Verschiedenheit der Naturen wegen der Einigung aufgehoben ist, vielmehr die Eigentümlichkeit jeder Natur erhalten bleibt und zu Einer Person und Einer Hypostase vereinigt wird, nicht in zwei Personen geteilt oder getrennt, sondern einen und denselben einziggeborenen Sohn, Gott-Logis, Herrn Jesus Christus, wie von alters her die Propheten von ihm und Jesus Christus selber uns gelehrt haben und das Bekenntnis der Väter uns überliefert hat.“ (DS 302; zitiert nach [198], S. 138–140)

Der Konzilsbestimmung zufolge ist Christus sowohl wahrer Gott als auch wahrer Mensch sowie eine Person in zwei von einander unterschiedenen Naturen. Als wahrer Gott ist Christus seiner Gottheit nach wesenseins (homoousios) mit dem Vater; zugleich ist er wahrer Mensch und seiner Menschheit nach wesenseins (homoousios) mit den Menschen. Von den zwei in Christus zur Einheit einer Person vereinigten Naturen soll gelten: Sie sind in ihm im Hinblick auf ihre Unterschiedenheit unvermischt und unverändert, und in Hinsicht auf die Person sind sie ungeteilt und ungetrennt. Die dogmatischen Bestimmungen des Konzils von Chalcedon sind indes nicht ohne Probleme. Zunächst stellen die Formulierungen einen Kompromiss zwischen den im Streit liegenden christologischen Positionen der alexandrinischen und antiochenischen Schulen dar. Sodann konnte und kann die Frage, wie unter der Voraussetzung der beiden gegensätzlichen Naturen in Christus an der Einheit der Person festgehalten werden könne, nicht befriedigend gelöst werden. Da beide Naturen miteinander unvereinbar sind und sich ausschließen, führten die Versuche, sie gedanklich zur Einheit einer Person zusammenzufügen, immer wieder zur Eliminierung einer der beiden Naturen oder der Einheit der Person ([192], S. 56–79). Mit seiner Christusanschauung hat Luther an die christologische Terminologie und die altkirchliche Zwei-Naturen-Lehre angeknüpft. Sowohl beim trinitarischen als auch beim christologischen Bekenntnis war er von der Schriftgemäßheit dieser Dogmen überzeugt. In den Schmalkaldischen Artikeln von 1536/38 schreibt er, über die dogmatischen Bestimmungen der Trinität sowie der Christologie sei mit den Altgläubigen weder „Zank noch Streit“ ([16], S. 415). Ganz in diesem Sinne hat der Reformator 1528 mit der Lehrtradition in seinem Bekenntnis seinen Glauben an den Sohn Gottes zusammengefasst. „Zum andern gleub ich / vnd weis / das die schrift vns leret / Das die mittel person ynn Gott / nemlich der Son / allein ist warhafftiger mensch worden / von dem heiligen geist on mans zuthun empfangen / vnd von der reynen heiligen iungfraw Maria / als von rechter natu(e)rlichen mutter / geborn / wie das alles S(ankt) Lucas klerlich beschreibt vnd die Prophete(n) verku(e)ndigt haben. Also / das nicht der Vater oder heiliger geist sey mensch worden / wie etliche ketzer geleret. Auch das Gott der son / nicht allein den leib / on seele ‹wie etliche ketzer geleret› sondern auch die seele / das ist / eine gantze vo(e)llige menschheit angenomen / vnd

Luther und das christologische Dogma

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4. Das Christusbild Luthers

rechter samen odder kind Abraham vnd Dauid verheissen vnd natu(e)rlicher son Marie geborn sey / ynn aller weise vnd gestalt / ein rechter mensch / wie ich selbs byn vnd alle andere / on das er on sunde / allein von der Iungfrawen durch den heiligen geist komen ist / Vnd das solcher mensch sey warhafftig Gott / als eine ewige vnzurtrenliche person aus Gott vnd mensch worden / also das Maria die heilige iungfraw sey eine rechte warhafftige mutter / nicht allein des menschen Christi / wie die Nestorianer leren / Sondern des sons Gotts / wie Lucas spricht / Das ynn dir geborn wird / soll Gotts son heissen / Das ist mein vnd aller herr / Ihesus Christus / Gottes vnd Marien einiger / rechter natu(e)rlicher son / warhafftiger Gott vnd mensch.“ ([7], Bd. 4, S. 246f. = [1], Bd. 26, S. 500f.)

Wie gestaltet sich nun Luthers Anknüpfung an die christologischen Formeln der alten Kirche vor dem Hintergrund seines Christusbildes? Er hat mit der Lehrtradition fraglos in der Person Christi eine Einheit von göttlicher und menschlicher Natur angenommen, allerdings auch durchaus neue Akzente gesetzt. In seiner Auseinandersetzung mit Ulrich Zwinglis Abendmahlsverständnis, welche der Wittenberger 1528 in der Schrift Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis ([1], Bd. 26, S. 261–509) geführt hat und die für sein Verständnis der Christologie grundlegend ist, kommt er auf die beiden Naturen in Christus zu sprechen. „Ob nu hie die alte wettermecherynn fraw vernunfft / der Alleosis grosmutter / sagen wu(e)rde / Ia die Gottheit kann nicht leiden noch sterben / Soltu antworten / Das ist war / Aber dennoch weil Gottheit vnd menschheit ynn Christo eine person ist / so gibt die schrifft / vmb solcher personlicher einickeit willen / auch der Gottheit / alles was der menscheit widerferet / vnd widderumb / Vnd ist auch also ynn der warheit / Denn das mustu ia sagen / Die person [zeige Christum] leidet / stirbet / Nu ist die person warhafftiger Gott / drumb ists recht gered / Gottes son leidet / Denn ob wol das eine stu(e)ck [das ich so rede] als die Gottheit / nicht leidet / so leidet dennoch die person / welche Gott ist / am andern stu(e)cke / als an der menscheit.“ ([7], Bd. 4, S. 82f. = [1], Bd. 26, S. 321) Gottheit und Menschheit in Christus

Verbum caro factum est

Gottheit und Menschheit bilden in Christus eine Person. Nun gehören die Merkmale der Unveränderlichkeit sowie die Leidensunfähigkeit zur göttlichen Natur. Folglich kann – wie Luther hervorhebt – die Gottheit weder leiden noch sterben. Das sei auch der Vernunft einsichtig und wird von ihr bekräftigt. Im Unterschied zur Vernunft spricht jedoch die Schrift von der Passion, dem Leiden und dem Tod Christi. Wenn aber Christus eine Person in zwei Naturen ist, wie kann man dann von ihm sagen, er leidet? Wie ist der Widerspruch zwischen der Leidensunfähigkeit der göttlichen Natur und dem von der Schrift behaupteten Leiden des Sohnes Gottes aufzulösen? In der Disputation Verbum caro factum est aus dem Jahre 1539 hat Luther strikt zwischen dem Geltungsbereich der Philosophie und dem der Theologie unterschieden. Was in der „Theologie wahr“ ist – die von Joh 1,14 behauptete Fleischwerdung des Wortes –, sei „in der Philosophie […] schlicht unmöglich und abwegig“ ([8], Bd. 2, S. 463 = [1], Bd. 39, 2. Abt., S. 3; vgl. [65], Bd. II, 3, S. 158; [205]). Folglich muss man „bei den Artikeln des Glaubens zu einer anderen Dialektik und einer anderen Philosophie übergehen, die Wort Gottes und Glaube genannt wird“ ([8], Bd. 2, S. 465 = [1], Bd. 39, 2. Abt., S. 5). Lu-

4.2 Communicatio Idiomatum – Die neue Sprache des Glaubens

ther löst die christologischen Aussagen von der logisch-metaphysischen Ebene ab und weist sie dem Glaubensakt und seiner Artikulation zu. Darauf zielt seine Behauptung, im „Reich des Glaubens“ außerhalb jeder Sphäre von Dialektik und Philosophie sei „in neuen Sprachen zu reden“. „Bei den Artikeln des Glaubens ist die Empfindung [affectus fidei] zu betreiben, nicht der Verstand der Philosophie. Dann wird man wahrhaft erkennen, was es heißt: Das Wort ward Fleisch.“ ([8], Bd. 2, S. 467 = [1], Bd. 39, 2. Abt., S. 5) Luther ist weniger an einer metaphysischen Konstruktion des Gottmenschen interessiert – wie die theologische Lehrtradition seit der Alten Kirche – sondern an der Anschauung des biblischen Christus. Darin kommt zur Geltung, dass die Person Christi einen „unaussprechlichen Sachverhalt“ repräsentiert ([8], Bd. 2, S. 477 = [1], Bd. 39, 2. Abt., S. 96; vgl. [1], Bd. 40, 3. Abt., S. 686; Bd. 41, S. 522f.; Bd. 37, S. 9). Folglich ist das Hauptstück im Evangelium, wie der Reformator in der Schrift Eyn kleyn unterricht, was man ynn den Euangelijs suchen und gewartten soll ([1], Bd. 10, 1. Abt., 1. Hälfte, S. 8–18) von 1522 schreibt, „das du Christum […] auffnehmist unnd erkennist […], das, wenn du yhm tzusihest odder ho[e]rist, das er ettwas thutt odder leydet, das du nit tzweyffellst, er selb Christus mit solchem thun und leyden sey deyn, darauff du dich nit weniger mu[e]gist vorlassen, denn alß hettistu es than, ia alß werist du der selbige Christus“ ([1], Bd. 10, 1. Abt., 1. Hälfte, S. 11; vgl. [1], Bd. 12, S. 285). Der methodische Ausgangspunkt von Luthers Christusanschauung ist die Einheit von Gott und Mensch in der Person Jesu Christi, wie sie in der Bibel dargestellt ist und vom Glaubenden aufgenommen wird. Was bedeutet das für das Verständnis der Personchristologie und die Schwierigkeit, von der göttlichen Natur ein Leiden auszusagen? Der Wittenberger Theologe unterscheidet zwischen Gott und Mensch unabhängig von deren Vereinigung in Jesus Christus und deren Einheit in Christus [204]. Deshalb kann der Reformator in der oben zitierten Stelle aus der Abendmahlsschrift von der Leidensunfähigkeit der Gottheit reden. Aber das gilt eben nur in abstracto, und bei solchen Aussagen ist das sokratische Diktum angebracht: „quae supra nos, nihil ad nos“ ([1], Bd. 18, S. 685; vgl. [213], S. 187 Anm. 63). Gleiches ist aber auch von der menschlichen Natur in abstracto zu sagen. Ihr kommen keine göttlichen Prädikate als solcher zu ([1], Bd. 39, 2. Abt., S. 93). In seiner Schrift Rationis Latomianae confutatio ([1], Bd. 8, S. 43–128) von 1521 hat Luther diesen Unterschied von abstrakt und konkret zusammengefasst. „Ubi cautissime observandum, ut utranque naturam de tota persona enunciet, cum omnibus suis propriis, et tamen caveat, ne quod simplicitet deo, aut simpliciter homini convenit, et tribuat. Aliud enim est, de deo incarnato, vel homine deificato loqui, et aliud de deo vel homine simpliciter.“ ([8], Bd. 2, S. 394 = [1], Bd. 8, S. 126)

„Wobei sehr sorgfältig zu beachten ist, dass er beide Naturen von der ganzen Person aussagt mit all ihren Eigenschaften und sich gleichwohl davor hütet, ihm beizulegen, was Gott schlechthin oder dem Menschen schlechthin zukommt. Denn das eine ist es, vom fleischgewordenen Gott oder gottgewordenen Menschen zu reden, und ein anderes, von Gott oder dem Menschen schlechthin.“ ([8], Bd. 2, S. 395)

Neue Sprache des Glaubens

Personchristologie

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86

4. Das Christusbild Luthers Humanitas und deitas

Luther unterscheidet in seiner Christologie zwischen dem Abstraktbegriff Natur beziehungsweise Menschheit (humanitas) und der Einheit von Gott und konkretem Mensch (homo) in Jesus Christus ([1], Bd. 39, 2. Abt., S. 93 Thesen 8 u. 9). Christus ist wahrer Mensch und wahrer Gott, und deshalb nehmen in ihm sowohl der Begriff ,Gott‘ als auch der Begriff ,Mensch‘ eine „neue Bedeutung“ an ([8], Bd. 2, S. 473 = [1], Bd. 39, 2. Abt., S. 94). „So folgt notwendigerweise, dass die Wörter Mensch, Menschheit, gelitten usw. und alles über Christus Gesagte neue Wörter sind.“ ([8], Bd. 2, S. 473 = [1], Bd. 39, 2. Abt., S. 94) Es ist somit anders von der humanitas und der deitas ,außerhalb‘ der Person Christi als ,in‘ ihr zu sprechen. Von der Person Christi, in der göttliche und menschliche Natur vereinigt sind, ist folglich in neuen Sprachen zu sprechen – loqui novis linguis.

„20. Certum est tamen, omnia vocabula in Christo novam significationem accipere in eadem re significata. […] 22. Novae linguae usu significat rem cum divinitate inseparabiliter in eandem personam ineffabilibus modis coniunctam. 23. Ita necesse est, vocabula: homo, humanitas, passus etc. et omnia de Christo dicta nova esse vocabula. 24. Non quod novam seu aliam rem, sed nove e aliter significet, nisi id quoque novam rem dicere velis.“ ([8], Bd. 2, S. 472 = [1], Bd. 39 2. Abt., S. 94)

Communicatio idiomatum

„20. Jedoch ist sicher, dass alle Wörter bei Christus eine neue Bedeutung annehmen, wenn dieselbe Sache bezeichnet wird. […] 22. Dem Gebrauch der neuen Sprache nach bezeichnet das Wort [sc. Geschöpf] eine Sache, die mit der Gottheit untrennbar in derselben Person in unaussprechlicher Weise verbunden ist. 23. So folgt notwendigerweise, dass die Wörter Mensch, Menschheit, gelitten usw. und alles über Christus Gesagte neue Wörter sind. 24. Nicht, dass sie eine neue oder eine andere Sache bezeichneten, sondern sie bezeichnen sie auf eine neue und andere Weise, es sei denn, dass man auch dies eine neue Sprache nennen wollte.“ ([8], Bd. 2, S. 473)

Luther reformuliert die überlieferte Personchristologie im Horizont der Soteriologie. Ihm geht es bei der Person Jesu Christi nicht um die metaphysische Konstruktion einer Einheit der Person in zwei Naturen, sondern um eine „neue Sprache“ des Glaubens ([14], Bd. 2, S. 99. 101 = [1], Bd. 56, S. 371f.). Grundlegend für die Christusanschauung ist der affectus fidei (Empfindung des Glaubens) und nicht Logik oder Dialektik. Das eigene, neue Selbstverständnis des Glaubens gehört konstitutiv zum christologischen Artikel hinzu. Die Kommunikation der Unaussprechlichkeit des verbum caro factum est (das Wort ward Fleisch) führt zu sprachlichen Bildern, die nicht der Subsumptionslogik des Allgemeinen oder Besonderen gehorchen und damit in sprachlichen Formen die Unaussprechlichkeit der Einheit von Gott und Mensch in Christus bewahren ([213]; [197]; [194]; [35], S. 61; [210], S. 172–202). Darin liegt der zentrale Stellenwert der communicatio idiomatum für das Christusbild Luthers. Sie führt zu gegenüber der Lehrtradition neuen und ungewohnten Aussagen.

4.2 Communicatio Idiomatum – Die neue Sprache des Glaubens

„1. Fides catholica haec est, ut unum dominum Christum confiteamur verum Deum et hominem. 2. Ex hac veritate geminae substantiae et unitate personae sequitur illa, que dicitur, communicatio idiomatum. 3. Ut ea, quae sunt hominis, recte de Deo et e contra, quae Dei sunt, de homine dicantur. 4. Vere dicitur: iste homo creavit mundum et Deus iste est passus, mortuus, sepultas etc.“ ([8], Bd. 2, S. 470 = [1], Bd. 39, 2. Abt., S. 93)

„1. Der (gemein-)christliche Glaube ist dieser, dass wir den einen Herrn Christus als wahren Gott und [wahren] Menschen bekennen. 2. Aus dieser Wahrheit von der zweifachen Substanz und aus der Einheit der Person folgt jene sogenannte wechselseitige Anteilhabe der Eigenschaften, 3. so dass das, was dem Menschen zukommt, mit Recht von Gott, und andererseits das, was Gott zukommt, vom Menschen gesagt wird. 4. Wahrheitsgemäß wird gesagt: Dieser Mensch hat die Welt erschaffen, und: Dieser Gott hat gelitten, ist gestorben und begraben worden, usw.“ ([8], Bd. 2, S. 471)

Die Zwei-Naturen-Lehre bietet keine metaphysische Beschreibung einer Person. Vielmehr artikuliert sich in ihr der Glaube als Einheit von Gott und Mensch. Er provoziert zu einer neuen Sprache und zu ungewohnten sprachlichen Bildern. Deshalb muss von Jesus Christus gesagt werden, dieser Mensch ist Gott, und umgekehrt, Gott ist dieser Mensch. Im Glauben als ein personales Geschehen in der Geschichte werden sowohl Gott als auch der Mensch neu verstanden. Die spezifisch lutherische Sprachlehre der communicatio idiomatum hält die wechselseitige Übertragung der Eigenschaften fest. Als eine theoretische Gegenstandsbeschreibung wären Luthers Christusbild und die den Christusglauben zum Ausdruck bringenden sprachlichen Bilder missverstanden. Wer Jesus Christus in Wahrheit ist, lässt sich nur verstehen, wenn sich der Mensch selbst neu versteht. Deshalb muss Christus so gepredigt werden, „d(aß) mir vn(d) dir / der glaub drauß erwachß vn(d) erhalten werd “ ([7], Bd. 2, S. 285 = [1], Bd. 7, S. 29). Luthers Christusbild hat seine soteriologische Zuspitzung in der Verknüpfung des Verständnisses der Person Christi mit dem Sich-Verstehen des Glaubenden.

87

5. Persona facit opera, non opera personam – Glaube und Werk Luthers Verständnis des Menschen als gerechtfertigter Sünder resultiert aus seiner reformatorischen Entdeckung. In der Disputatio de homine ([1], Bd. 39, 1. Abt., S. 175–177) von 1536 hat er seine Bestimmung des Menschen prägnant zusammengefasst. In der These 32 heißt es: „Paulus Rom. 3. Arbitramur hominem iustificari fide absque operibus, breviter hominis definitionem colligit, dicens, Hominem iustificari fide.“ ([8], Bd. 1, S. 668 = [1], Bd. 39, 1. Abt., S. 176)

„Paulus fasst in Röm 3,28: ,Wir halten dafür, dass der Mensch gerechtfertigt wird durch den Glauben ohne Werke‘ kurz die Definition des Menschen zusammen, indem er sagt: Der Mensch wird durch den Glauben gerechtfertigt.“ ([8], Bd. 1, S. 669; vgl. [221])

Der Mensch wird durch den Glauben gerechtfertigt, so die theologische Definition des Menschen nach Luther, um deren Voraussetzungen und Implikationen es in dem vorliegenden Argumentationsgang gehen wird. In der Anthropologie fokussiert sich sein Verständnis des Glaubens auf die Relation von Person und Werk im Gottesverhältnis. Mit der für Luthers Theologie insgesamt ebenso signifikanten wie grundlegenden Unterscheidung von Gesetz und Evangelium werden zunächst die kategorialen Grundlagen der Anthropologie im Wort Gottes beschrieben. Auf sie baut seine theologische Definition des Menschen auf, welche im zweiten Unterabschnitt erörtert werden muss. Der Mensch wird nicht durch seine Werke gerecht und heil, sondern allein durch den Glauben. Welche Rolle spielt die menschliche Freiheit in der Theologie des Wittenberger Reformators? Seine Antwort scheint eindeutig: Freiheit, so sagt er es in De servo arbitrio, ist ein göttlicher Name und keinesfalls ein menschlicher ([1], Bd. 18, S. 636). Der Behauptung eines gebundenen Willens stellt Luther allerdings die Freiheit eines Christenmenschen gegenüber. Wie sich beides zueinander verhält, ist im dritten Unterabschnitt zu diskutieren. Das Handeln des Menschen ist für das Zustandekommen des Gottesverhältnisses nicht konstitutiv, aber aus dem Glauben – so Luthers Überzeugung – folgen gleichsam unmittelbar gute Werke: Persona facit opera, non opera personam. Dem Verständnis und der Begründung des Handelns des Christen wird abschließend die Aufmerksamkeit zugewendet.

5.1 Gesetz und Evangelium Die grundlegende Bedeutung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium für Glaube und Theologie hat Luther unaufhörlich eingeschärft. „Nahezu die gesamte Schrift und die Erkenntnis der ganzen Theologie hängt in der

5.1 Gesetz und Evangelium

rechten Erkenntnis von Gesetz und Evangelium.“ ([1], Bd. 7, S. 502; vgl. [44], S. 201–214; [30], S. 120–156; [33], S. 117–144; [37], S. 283–294) Das discrimen hat denn auch den Rang einer Fundamentalunterscheidung, und Theologie wird geradezu zur Unterscheidungslehre ([219]; [216]). Mit ihr steht, wie Luther nicht müde wird zu betonen, die Theologie selbst auf dem Spiel, und ihre Beherrschung macht den Theologen aus. „Wer das Evangelium recht von dem Gesetz zu unterscheiden weiß, der danke Gott und darf wissen, dass er ein Theologe ist.“ ([1], Bd. 40, 1. Abt., S. 207) Theologie – so kann man zusammenfassend sagen – ist für den Reformator die Entfaltung der Rechtfertigungsbotschaft, ihrer Voraussetzungen und Konsequenzen. Das begriffliche Instrumentarium, mit dem er den rechtfertigenden Glauben expliziert, repräsentiert die antithetische Unterscheidung und Zuordnung von Gesetz und Evangelium. Mit ihr befindet man sich im innersten Gravitationszentrum der Theologie des Wittenberger Reformators. Worum geht es bei der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium? Zunächst nimmt Luther in seine Fundamentalentscheidung seine theologia crucis auf: Gott handelt wundersam an seinen Heiligen, indem er sein eigentliches Werk stets durch sein fremdes Werk hindurch ausführt. Sodann geht es um die humane Bezugsbasis von Theologie und Glaube, also um die Dimension der Erfahrung sowie die Verklammerung von Theologie und Anthropologie. Der Gebrauch von antithetischen Unterscheidungen ist für die Theologie Luthers insgesamt signifikant. Wer seine Schriften liest, der begegnet einer Fülle von Differenzierungen: Person und Werk, Reich Christi und Reich der Welt, Geist und Buchstabe usw. Die Pointe aller dieser Unterscheidungen liegt nun nicht etwa in einer begrifflichen Distinktion, in einer fein säuberlichen Trennung von Aspekten oder gar in einem Dualismus, sondern in einer ,Dialektik‘, die sich über antithetische Gegensatzpaare aufbaut ([213], S. 182–184; [30], S. 16). So zielt auch das discrimen von lex und evangelium auf eine dialektische Wahrnehmung ihres strittigen Beieinanders ([30], S. 126–128). Weder das ,Gesetz‘ noch das ,Evangelium‘ lassen sich daher ein für allemal fixieren oder gar auf den Begriff bringen. Sie müssen in ihrem dialektischen Beieinander stets neu unterschieden werden. Allein deshalb ist die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium die Kunst, welche zu beherrschen den Theologen ausmacht. Wer hier nicht unterscheidet, der muss „alles mischen, Himmel, Hölle, Leben, Tod, und wird daran leiden, gar nichts von Christus zu wissen“ ([8], Bd. 1, S. 393 = [1], Bd. 18, S. 680). Gesetz und Evangelium haben bei Luther den Rang von theologischen Kategorien. Eine Vorform der Antithetik findet sich in der ersten Psalmenvorlesung ([30], S. 100–119). In ihr differenziert Luther im Anschluss an 2. Kor 3,6 – „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.“ – allerdings zwischen Buchstabe und Geist. „In der heiligen Schrift ist es das Beste, den Geist von dem Buchstaben zu unterscheiden; denn das macht einen wahrhaft zum Theologen.“ ([1], Bd. 55, 1. Abt., S. 4; vgl. [1], Bd. 10, 1. Abt., S. 2) Die von Luther in den Dictata super Psalmos gehandhabte Unterscheidung von Geist und Buchstabe zielt auf das geistliche und innere Verstehen des Bibeltextes. Wer an den Buchstaben hängen bleibt, der bleibt beim Äußeren stehen. Das telos der Schrift ist jedoch die innere Umwandlung des Menschen. In der frühen Differenzierung von Geist und Buchstabe deutet sich

Theologie als Unterscheidungslehre

Geist und Buchstabe

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5. Persona facit opera, non opera personam – Glaube und Werk

Zweierlei Wort Gottes

Gesetz

die spätere von Gesetz und Evangelium bereits an. Ebenso wie der Buchstabe so tötet auch das Gesetz, weil es im Äußeren verbleibt. Der Geist und das Evangelium hingegen machen lebendig, da sie in das Innere des Menschen dringen und das Herz beziehungsweise das Gewissen des Menschen wandeln. Luther belässt es allerdings nicht bei einer einfachen Disjunktion von Innen und Außen. Der auf das Innere zielende Geist nimmt seinen Weg stets über den äußeren Buchstaben. Auch das Gesetz wird als ein Wort des göttlichen Gerichts erst dort verstanden, wo es geistlich erfasst wird. Allein aus der Perspektive des Evangeliums erscheint es als Gericht und Forderung Gottes an den Menschen. Prägnant hat Luther den Unterschied von Gesetz und Evangelium in dem Freiheitstraktat herausgearbeitet. Über den Glauben, der die Seele allein gerecht macht, schreibt er: „Hie ist fleyßsig zu mercken / vnd yhe mit ernst zubehalten / d(aß) allein der glaub on alle werck frum / frey / vn(d) selig machet […] Vnd ist zu wissen / das die gantze heylige schrifft / wirt yn zweyerley wort geteyllet / wilche seyn. Gebot oder gesetz gottis / vnd vorheyschen oder zusagunge. Die gebott / leren vnd schreyben vns fur / mancherley gutte werck aber damit seyn sie noch nit geschehen. Sie weyßen wol / sie helffen aber nit / leren was man thun soll / geben aber keyn sterck dartzu. Daru(m)b seyn sie nur datzu geordnet / das der mensch drynnen sehe sein vnuormu(e)gen zu dem gutten / vnd lerne an yhm selbs vortzweyffeln. […] Wen nu der mensch auß den gebotten sein vnuormu(e)gen gelernet vn(d) empfunden hatt / das yhm nu angst wirt / wie er dem gebott gnug thue. Seyntemal das gebot muß erfullet seyn / oder er muß vordampt seyn. So ist er recht gedemu(e)tigt vnd zu nicht worden / ynn seynen augen / findet nichts yn yhm damit er mu(e)g frum werden. Dan ßo ku(m)pt das ander wort. Die gottlich vorheyschung vnd zusagung / vnd spricht / wiltu alle gepott erfullen / deyner bo(e)ßen begirde vnd sund loß werden / wie die gebott zwyngen vnd foddern. Sihe da / glaub in Christu(m) / yn wilchem ich dir zusag / alle gnad / gerechtickeyt / frid vn(d) freyheyt / glaubstu so hastu / glaubstu nit / so hastu nit.“ ([7], Bd. 2, S. 271. 273 = [1], Bd. 7, S. 23f.) Das Wort Gottes begegnet in der Schrift als „tzweyerley wortt oder predigt“ ([1], Bd. 10, 1. Abt., 2. Hälfte, S. 155; vgl. [1], Bd. 8, S. 103f.; Bd. 18, S. 680): als Forderung und als Zusage. Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium meint freilich keine einfache Verteilung von Forderung und Verheißung auf bestimmte Schriftworte, so als ob das Alte Testament Gesetz und das Neue Testament Verheißung wäre. Vielmehr kann ein und dasselbe Schriftwort sowohl Gesetz als auch Evangelium sein. Es geht bei Luthers Differenzierung um eine tiefer liegende Dimension. In der zitierten Stelle aus dem Freiheitstraktat beschreibt Luther die Funktionen der antithetischen Gestalten des göttlichen Wortes. Das Gesetz soll dem Menschen zweierlei zeigen: zunächst lehrt es ihn, was er tun soll. Darin erschöpft sich jedoch die Funktion des Gesetzes noch nicht. Indem es sich mit der Forderung, das Gute auch innerlich zu verwirklichen, an den Menschen richtet, macht es ihm sodann bewusst, dass er hinter der Forderung Gottes zurückbleiben muss. Das Gesetz ist also auf der einen Seite die göttliche Forderung des ,du sollst‘, und auf der anderen – und das ist die spezifische theologische Funktion, welche Luther mit der lex verbindet – zielt

5.1 Gesetz und Evangelium

es auf die Einsicht des Menschen in sein eigenes Unvermögen, der Forderung nachzukommen. Durch das Gesetz wird die dem Menschen selbst verborgene Sünde offenbar, d.h. durch die göttliche Forderung, das Gute aus reinem Herzen zu tun, kommt es zur Erkenntnis des Menschen als Sünder. Aber auch mit der durch das Gesetz bewirkten Sündenerkenntnis ist dessen Funktion für Luther noch nicht erschöpft. Es offenbart dem sich seiner eigenen sündhaften Selbstbezogenheit inne gewordenen Menschen darüber hinaus auch den Zorn und das Gericht Gottes, unter dem er steht. „Ein zweifaches Übel also offenbart das Gesetz, ein inneres und ein äußeres. Das eine, das wir uns selbst zugefügt haben: die Sünde oder Verderbnis der Natur. Das andere, das Gott zufügt: Zorn, Tod und Fluch.“ ([8], Bd. 2, S. 339 = [1], Bd. 8, S. 104; vgl. [1], Bd. 40, 2. Abt., S. 2f.; [184], S. 107–110) Mit seinem Gesetzesbegriff verklammert der Reformator das Wirken Gottes mit der Selbsterkenntnis im Gewissen des Menschen als ein unter dem göttlichen Zorn stehender Sünder ([1], Bd. 8, S. 106f.). Insofern repräsentiert das Gesetz das fremde Werk Gottes. Im Unterschied zum Gesetz bezeichnet das Evangelium als Wort Gottes eine Zusage oder eine Verheißung ([1], Bd. 8, S. 105f.). Es bezieht sich, wie Luther in der oben zitierten Passage aus dem Freiheitstraktat schreibt, auf den, der unter der Forderung des Gesetzes verzweifelt, der also erkannt hat, dass er das Gesetz innerlich erfüllen soll, dazu jedoch nicht in der Lage ist. Demjenigen, dem sein Sündersein sowie der Zorn Gottes evident geworden ist, spricht das Evangelium die Verheißung der Sündenvergebung durch Christus zu, die er glauben soll. „Alßo geben die zusagung gottis / was die gepott erfoddern / vnd volnbringen / was die gepott heyssen / auff das es allis gottis eygen sey. Gepot vn(d) erfullung / er heysset allein / er erfullet auch alleyn.“ ([7], Bd. 2, S. 273 = [1], Bd. 7, S. 24) Das Evangelium zielt auf den Glauben des Menschen. Auch am Evangelium unterscheidet Luther zwei Aspekte, um das Handeln Gottes mit dem Gewissen zu verbinden. Es predigt, wie er im Antilatomus von 1521 ausführt, zweierlei: „die Gerechtigkeit und Gnade Gottes. Durch die Gerechtigkeit heilt es die Verderbnis der Natur – Gerechtigkeit aber, die Gottes Gabe ist, nämlich der Christusglaube“ ([8], Bd. 2, S. 343 = [1], Bd. 8, S. 105f.). Durch das Evangelium empfängt der Mensch „die Gabe für die Sünde“ und „die Gnade für den

Wort Gottes h hggggggggggggggggggggh Gesetz Evangelium h fremdes Werk Gottes

h eigentliches Werk Gottes

h Sündenerkenntnis / Zorn Gottes

h Gabe für die Sünde / Gabe für den Zorn

h verzweifeltes Gewissen

h ggggggs

fröhliches Gewissen

Evangelium

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92

5. Persona facit opera, non opera personam – Glaube und Werk

Lex naturalis

Glaube als Unterscheidung von Gesetz und Evangelium

Zorn“ ([8], Bd. 2, S. 345 = [1], Bd. 8, S. 106). Das Evangelium, das eigentliche Werk Gottes, bezieht sich auf das Gesetz, das opus alienum Gottes, indem es die Selbsterkenntnis des Menschen als Sünder im Gewissen bestätigt und – zugleich – dem unter dem Zorn Gottes stehenden erschrockenen und verzweifelten Gewissen widerspricht und an seine Stelle die Gnade Gottes setzt. In diesem Übergang wirkt Gott den „Frieden des Herzens“ und macht das „Gewissen fröhlich, sicher und unerschrocken“ ([8], Bd. 2, S. 343 = [1], Bd. 8, S. 106). Bei dem Gesetz denkt Luther an die Forderung Gottes, wie sie etwa in den zehn Geboten des Dekalogs vorliegt. Allerdings beschränkt sich das, was er Gesetz nennt, nicht auf den Dekalog, sondern es bezieht die gesamte Lebenswirklichkeit des Menschen ein. Der Mensch steht immer unter dem Gesetz und seiner Forderung, deren Ursprung Gott ist. Das Gesetz ist – wovon der Reformator ausgeht – jedem Menschen bekannt, weil es ihm ins Herz geschrieben ist. Er greift hier auf den Aspekt des mittelalterlichen Gewissensbegriffs zurück, den die Scholastiker syntheresis nannten, sowie den von der Stoa ausgearbeiteten Gedanken der lex naturalis (natürliches Gesetz), dessen Urheber Gott ist. Der Dekalog Moses wird von Luther als eine geschichtliche Positivierung der lex naturalis verstanden. Deshalb ist er, der „Juden Sachssenspiegel“ ([1], Bd. 18, S. 81), auch für die Christen verbindlich. Das Evangelium ist nur dort als solches erkannt, wo es vom Gesetz unterschieden wird. Eine Unterscheidung ist notwendig, weil beide im Lebensvollzug ununterschieden ineinander liegen, so dass das Evangelium selbst als Forderung (miss-)verstanden wird. Im Interesse an der Reinheit des Evangeliums als Zusage ist es vom Gesetz zu unterscheiden. Andernfalls werde, so Luther, auch die befreiende Botschaft des Evangeliums als eine Forderung verstanden, die der Mensch zu realisieren hat. Was unterscheidet das Wort Gottes als Evangelium von dem Gesetz? Mit dem Evangelium und dem von ihm hervorgebrachten Glauben ist auf der Seite des Menschen die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium verbunden. Das Wissen um den Unterschied von Forderung und Gabe resultiert allein aus der Perspektive des Evangeliums. Sie lässt sich auf Seiten des Menschen so näher beschreiben, dass der Glaubende zwischen der Konstitution seiner Gerechtigkeit durch Gott und deren eigentätiger Realisierung unterscheidet. Luther hat die mit dem Glauben verbundene Differenzierung von Gesetz und Evangelium in dem Sermon über die zweifache Gerechtigkeit von 1519 durch die Unterscheidung von fremder und eigener Gerechtigkeit ausgedrückt. „Secunda iusticia est nostra et propria, non quod nos soli operemur eam, Sed quod cooperemur illi primae et alienae. […] Haec iusticia est opus prioris iusticiae et fructus, atque sequela eiusdem.“ ([8], Bd. 2, S. 72 = [1], Bd. 2, S. 146f.)

„Die zweite Art der Gerechtigkeit ist die unsere und uns eigene. Zwar können wir sie nicht allein zuwege bringen, jedoch insofern mittun, wie wir mit jener ersten, der fremden Gerechtigkeit zusammenwirken. […] Diese Gerechtigkeit ist das Werk der ersten Gerechtigkeit und deren Frucht, ja ihre Konsequenz.“ ([8], Bd. 2, S. 73)

5.1 Gesetz und Evangelium

Der mit dem Wort Gottes als Evangelium verbundene Glaube ist das Wissen um zwei Weisen der Gerechtigkeit: einer fremden und einer eigenen. Während die erste sich auf die Konstitution der menschlichen Person bezieht, zielt die zweite – die eigene Gerechtigkeit – auf die Realisierung der Person in ihren Handlungen. Beide Dimensionen der Gerechtigkeit liegen auf unterschiedlichen Ebenen: Einmal ist die Konstitution der Person im Blick, und ihr ordnet Luther den Glauben zu, und das andere Mal die Realisierung der nun konstituierten Person. Deren Werke richten sich aber nicht mehr auf den Aufbau der Person, sondern auf die Weltgestaltung und haben folglich keine Heilsbedeutung mehr. Der Glaube oder das Evangelium realisiert sich auf Seiten des Menschen durch das Vornehmen der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Vom Evangelium aus und damit im Lichte des discrimen von lex und evangelium kommt es nun aber auch im Gesetz zu einer Unterscheidung [222]. Luther kennt seit 1522 einen doppelten Gebrauch des Gesetzes, einen duplex usus legis ([1], Bd. 10, 1. Abt., 1. Hälfte, S. 449–463, bes. S. 456. 457; Bd. 11, S. 31). Die Unterscheidung zwischen einem bürgerlichen und einem theologischen Gebrauch des Gesetzes, einem usus legis civilis oder auch politicus und einem usus legis theologicus, ist eine solche, die aus der von Gesetz und Evangelium erst resultiert ([222], S. 66).

Duplex usus legis

Der doppelte Gebrauch des Gesetzes – duplex usus legis * usus legis civilis: bürgerlicher Gebrauch des Gesetzes = äußere Gerechtigkeit * usus legis theologicus: theologischer Gebrauch des Gesetzes = Sündenerkenntnis

Der usus legis civilis – der bürgerliche Gebrauch des Gesetzes – bezieht sich auf die politische Ordnung im Staat. Für deren Einhaltung und Durchsetzung ist die Obrigkeit zuständig. Ihr obliegt die Schwertgewalt, und hierzu ist sie, wie Luther mit Paulus (Röm 13) betont, von Gott eingesetzt. Der Reformator ist der Überzeugung, dass das Gesetz in diesem Sinne, ebenso wie die Ordnungen der Welt – Oekonomia (Ehe, Familie, Haushalt) und Politia (Staat, Fürstentum, Kaiserreich) –, die er durchweg patriarchalisch versteht, letztlich auf Gott zurückzuführen sind und jener somit auch in letzter Instanz der Ursprung des Gesetzes in seinem politischen oder bürgerlichen Gebrauch ist. Allerdings zielt das Gesetz in seinem bürgerlichen Gebrauch lediglich auf die äußere Ordnung im Staat. Die Gerechtigkeit, welche Luther mit dem usus politicus legis verbindet, ist eine äußere Gerechtigkeit. Es geht bei der Befolgung der staatlichen Gesetze – mit Immanuel Kant (1724–1804) gesprochen – um die bloße Legalität der Handlungen und nicht um die innere Gesinnung des Handelnden. Die äußere Befolgung der Gesetze ist für das menschliche Zusammenleben unentbehrlich, sie führt jedoch nicht dazu, dass der Mensch vor Gott gerecht wird. Insofern ist die „politische Gerechtigkeit […] gut und lobenswert, obwohl sie vor Gott nicht bestehen kann“. Sie hat als „weltliche Gerechtigkeit […] ihre eigene Ehre und ihren eigenen Lohn in diesem Leben unter den Menschen, aber nicht bei Gott“ ([1], Bd. 39, 1. Abt., S. 459. 441). Das Gesetz in seinem bürgerlichen beziehungsweise politischen Gebrauch dient der Aufrechterhaltung der Ordnung im Staat, und sie führt – co-

Usus legis civilis

Usus legis theologicus

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5. Persona facit opera, non opera personam – Glaube und Werk

ram mundo – zur iustitia civilis (bürgerliche Gerechtigkeit). Der oben bereits beschriebene theologische Gebrauch des Gesetzes, der usus theologicus, unterscheidet sich von dem bürgerlichen. In ihm ist das Gesetz allein dazu da, den Menschen zur Erkenntnis des eigenen Sünderseins zu führen. Hier hat das Gesetz eine überführende Funktion. Es bezieht sich auf das Innere des Menschen und zeigt ihm sein Zurückbleiben hinter der Forderung des Gesetzes. Im Gewissen klagt das Gesetz den Menschen an, erschreckt ihn und führt zur Einsicht, dass er schuldhaft nicht der ist, der er vor Gott sein soll. Durch das Gesetz in seiner theologischen Funktion kommt es zur Erkenntnis des vollkommenen Sünderseins des Menschen vor Gott. Einen dritten Gebrauch des Gesetzes, einen tertius usus legis, für die Glaubenden kennt der Wittenberger Reformator im Unterschied zu Melanchthon und Johannes Calvin (1509–1564) nicht ([222]; [223]). Das Evangelium ist das Ende und die Befreiung vom Gesetz, aber keine neue lex.

5.2 Die Rechtfertigung als Definition des Menschen Die Rechtfertigung des Menschen durch Gott steht im Zentrum der Theologie des Reformators. Deren Grundzüge hat er sich in seiner Auseinandersetzung mit dem überlieferten Verständnis der iustitia Dei zwischen 1513 und 1520 erarbeitet (vgl. oben) ([124], S. 251–288; [224]). Rechtfertigung – iustificatio – ist der Akt Gottes, durch und in dem er den Menschen anerkennt und mit ihm in Gemeinschaft tritt ([232], S. 114f.; [132]; [240]). Sehr eindrücklich hatte Luther den Gehalt seines Verständnisses der Rechtfertigung bereits 1518 in der Heidelberger Disputation dargelegt: „Die Liebe Gottes findet das für sie liebenswerte nicht vor, sondern erschafft es.“ ([8], Bd. 1, S. 61 = [1], Bd. 1, S. 365) In der Rechtfertigungslehre des Reformators geht es um die Neubestimmung des Menschen und darin um die Frage, wie grundlegende, lebenstragende Gewissheit für den Menschen zustande kommt: durch Gott oder den Menschen? Es ist dieser schlechterdings fundamentalen Stellung des Rechtfertigungsgedankens für seine Theologie geschuldet, dass Luther in ihr nicht nur bündig die Definition des Menschen zusammengefasst sieht, sondern auch den Artikel, von dem man in der Auseinandersetzung mit anderen Lehren, insbesondere denen der Altgläubigen, um kein Jota weichen dürfe. „Von diesem Artikel kann man nichts weichen oder nachgeben, es falle Himmel und Erde oder was nicht bleiben will; denn es ,ist kein ander Name, dadurch wir konnen selig werden‘, spricht S. Petrus Act. 4. […] Und auf diesem Artikel stehet alles, das wir wider den Bapst, Teufel und Welt lehren und leben. Darum mussen wir des gar gewiß sein und nicht zweifeln. Sonst ist’s alles verlorn, und behält Bapst und Teufel und alles wider uns den Sieg und Recht.“ ([16], S. 415f.; vgl. [1], Bd. 39, 1. Abt., S. 205)

Der Artikel der iustificatio richtet sich gegen ein Verständnis der Religion, in der das Gottesverhältnis von dem Menschen und seinen Handlungen abhängig gemacht wird. Erst vor diesem Hintergrund gewinnt er sein spezifisches Profil. „Dass wir allein durch den Glauben gerechtfertigt werden,

5.2 Die Rechtfertigung als Definition des Menschen

heißt, dass alle Gerechtigkeit des Gesetzes und der Menschen verdammt wird.“ ([8], Bd. 2, S. 487 = [1], Bd. 39, 2. Abt., S. 237) Sodann ist mit dem Rechtfertigungsglauben eine Kritik an dem mittelalterlichen Glaubensbegriff und seiner Aufspaltung in unterschiedliche Momente verbunden. „Da aber Paulus wortreich dem Glauben die Rechtfertigung zuschreibt, ergibt sich zwingend, dass er nicht über solche Glaubensgestalten (um sie so zu nennen) redet, die man als erworbenen, eingegossenen, ungeformten, geformten, nicht entfalteten, entfalteten, allgemeinen oder besonderen Glauben bezeichnet.“ ([8], Bd. 2, S. 403 = [1], Bd. 39, 1. Abt., S. 45) Der Glaubensakt als solcher ist die von Gott gestiftete Gemeinschaft mit dem Menschen, und sie lässt sich aufgrund ihrer Unbedingtheit weder aufspalten noch quantifizieren. Das innere Gefüge von Luthers Verständnis von Rechtfertigung baut auf die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die hieraus resultierende Differenzierung von zwei Arten der Gerechtigkeit sowie die Unterscheidung von innerem und äußerem Menschen auf. Er unterscheidet die Gerechtigkeit, die der Mensch selbst durch sein Handeln erlangen kann von der, die ihm zugesprochen wird und die ihm unverdient und umsonst zukommt. Die erste Form der Gerechtigkeit bezieht sich auf das eigene Handeln des Menschen, während die zweite eine dem Menschen fremde bezeichnet. Erstere vermag coram mundo vielleicht zu bestehen, aber im Hinblick auf Gott ist sie Todsünde ([1], Bd. 1, S. 357; Bd. 7, S. 33). Hingegen ist Letztere zugleich extra nos und in nos, und nur sie beinhaltet den rechtfertigenden Glauben. „10. Oportet igitur de alia fide quadam eum loqui, quae faciat Christum in nobis efficacem contra mortem, peccatum et legem. 11. Et quae nos non sinat similes esse daemonibus et hominibus descendentibus in infernum, sed similes faciat sanctis Angelis et filiis Dei ascendentibus in coelum. 12. Haec est autem fides apprehensiva (ut dicimus) Christi, pro peccatis nostris morientis, et pro iustitia nostra resurgentis.“ ([8], Bd. 2, S. 402 = [1], Bd. 39, 1. Abt., S. 45)

„10. [Paulus] muss also von einem anderen Glauben sprechen, der Christus in uns zur Wirkung bringt gegen Tod, Sünde und Gesetz, 11. und der nicht den Dämonen und den Menschen, die zur Hölle fahren, gleichen lässt, sondern uns den heiligen Engeln und den Kindern Gottes, die zum Himmel auffahren, gleich macht. 12. Das aber ist (wie wir ihn nennen) der Glaube, der Christus ergreift, der für unsere Sünden stirbt und um unserer Gerechtigkeit willen aufersteht.“ ([8], Bd. 2, S. 403)

Luthers Rechtfertigungslehre legt alles Gewicht auf die Ausschaltung der menschlichen Mitwirkung am Heil. Die leitende Grundvorstellung lautet: Gott spricht den sich als Sünder erkennenden Menschen gerecht. In der Römerbriefvorlesung fasste der Wittenberger Professor sein Verständnis des gerechtfertigten Sünders in der bekannten Doppelbestimmung simul iustus et peccator zusammen. „Denn wenn wir nur in Gottes Urteil gerecht sind, dann nicht in unserem Leben und Wirken. Daher sind wir auch von innen und von uns aus gesehen immer gottlos.“ ([10], Bd. 1, S. 172 = [1], Bd. 56, S. 269; vgl. [227]) Der Gerechtfertigte ist im Urteil Gottes ganz Gerechter und zugleich in sich ganz Sünder. Im rechtfertigenden Glauben wird sich der Sünder als ein solcher verständlich, und darin stimmt er mit dem Urteil Gottes über ihn überein. Er ist gerecht.

Aufbauelemente des Rechtfertigungsglaubens

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5. Persona facit opera, non opera personam – Glaube und Werk Interpretationsprobleme der Rechtfertigungslehre

Propter Christum

Im Mittelpunkt von Luthers Entdeckung der Rechtfertigung des Menschen allein durch Glauben und ohne Werke des Gesetzes steht das Urteil Gottes. So klar seine Aussagen auf den ersten Blick erscheinen mögen, so ist doch deren Explikation – wie die Geschichte der Rechtfertigungslehre im Protestantismus zeigt – mit zahlreichen Problemen konfrontiert [231]. Zunächst kann man fragen, was Gott das Recht zur Gerechtsprechung des Ungerechten gibt? Untergräbt eine solche Anschauung vom Heilshandeln Gottes nicht den Gottesgedanken und die für ihn konstitutive Gerechtigkeit? Schon in der Reformationszeit wurden Versuche unternommen, die mit Luthers Artikel vom rechtfertigenden Glauben verbundenen Antinomien zu rationalisieren. Andreas Osiander (1498–1552) zufolge sieht Gott bei seinem Rechtfertigungsurteil auf Christus, der in dem Glaubenden Gestalt gewinnt und dessen Gerechtigkeit die des Sünders ist. Deshalb kann Gott den für gerecht erklären, der es doch auf keine Weise ist. Auch die altlutherische Orthodoxie hat – Melanchthon folgend – die in Luthers religiösem Grundgedanken liegende Antinomie rationalisiert, indem dessen Christusanschauung gewissermaßen den Rechtsgrund für Gottes Gnadenhandeln abgibt. Die Gerechtsprechung des Sünders erfolgt propter Christum: Seine Erfüllung des Gesetzes und sein stellvertretender Tod am Kreuz für die Sünden der Menschheit werden dem Glaubenden nicht nur zugerechnet (imputare), sie geben Gott auch die Möglichkeit, den Sünder gerecht zu sprechen ([16], S. 56). Die genannte Auffassung kann sich durchaus auf Luther und seine Christologie berufen. „Der wahre Glaube aber sagt: Ich glaube fest daran, dass Gottes Sohn gelitten hat und auferweckt worden ist, aber das alles für mich, für meine Sünden; dessen bin ich gewiss.“ ([8], Bd. 2, S. 405 = [1], Bd. 39, 1. Abt., S. 45) Der Reformator kann allerdings den wesentlichen Gehalt seines Verständnisses der iustificatio auch so darstellen, dass die Christologie mit der Gerechtigkeit Gottes zusammenfällt. So in dem Kleinen Galaterkommentar von 1519. „Sic fit, ut credentibus in nomine domini donentur omnia peccata et iusticia eis imputetur ,propter nomen tuum, domine,‘ quoniam bonum est, non propter meritum ipsorum, quoniam nec ut audirent meruerunt. Iustificatio autem sic corde per fidem, quae est in nomine eius, dat eis deus potestatem filios dei fieri, diffuso mox spiritu sancto in cordibus eorum, qui charitate dilatet eos ac pacatos hilaresque faciat, omnium bonorum operatores, omnium malorum victores, etiam mortis contemptores et inferni. Hic mox cessant omnes leges, omnium legum opera: omnia sunt iam libera, licita, et lex per fidem et charitatem est impleta.“ ([1], Bd. 2, S. 490)

„Also geschieht es, daß denen, die an den Namen des Herrn glauben, alle Sünden vergeben werden und Gerechtigkeit ihnen zugerechnet wird, um deines Namens willen, Herr, denn er ist gut, und nicht um ihrer Verdienste willen, denn sie haben’s nicht einmal verdienet, daß sie hören dürften. Wenn aber das Herz also gerecht worden ist durch den Glauben an seinen Namen, dann gibt Gott ihnen die Macht, Gottes Kinder zu werden, indem er alsbald seinen heiligen Geist in ihre Herzen ergießt, der sie durch die Liebe weit und friedevoll und fröhlich macht, und zu Tätern alles Guten, Überwindern des Übels, ja, auch zu Verächtern des Todes und der Hölle. Hier hören alsbald alle Gesetze und aller Gesetze Werke auf: es ist nun alles frei und erlaubt, und das Gesetz ist erfüllt durch Glaube und Liebe.“ ([18], S. 118f.)

5.2 Die Rechtfertigung als Definition des Menschen

Das Christusbild ist hier der Ausdruck des Rechtfertigungsglaubens und nicht die Bedingung für Gott, den Sünder als gerecht anzuerkennen ([230], Bd. 3, S. 109–129). Eine Deutung der Rechtfertigungslehre im Sinne einer Imputationslehre – die von Christus durch seinen Gehorsam erworbene Gerechtigkeit wird dem Sünder zugerechnet – hebt die Unbedingtheit des Urteils Gottes dadurch auf, dass sie es von einer Voraussetzung abhängig macht. Eine weitere, immer wieder diskutierte Frage entzündet sich an Luthers Aussage, die Rechtfertigung des Menschen bestehe in einem Urteil Gottes. In diesem ist der Mensch gerecht, aber für sich bleibt er Sünder. Der sogenannten forensischen Auffassung der Rechtfertigungslehre zufolge ändert sich im Menschen durch seine Gerechtsprechung durch Gott nichts. Seine Gerechtigkeit besteht allein im Urteil Gottes. Dem gegenüber behauptet die effektive Deutung der Lehre eine durch den Rechtfertigungsakt Gottes herbeigeführte Änderung im Menschen. Die Rechtfertigung des Sünders durch Gott ist der Anfang eines Besserungsprozesses, der bis zum Ende des Lebens währt. Beide Auffassungen sind ungenügend. Sie beruhen auf dem Versuch, Luthers religiöse Anschauung in eine begrifflich distinktive Lehre umzuschmelzen. Der Rechtfertigungsglaube beinhaltet die Erkenntnis sowie das Bekenntnis des eigenen Sünderseins durch den Menschen, und allein darin ist er gerecht. „Denn diese Gerechtigkeit ist nichts andres als die Anrufung des göttlichen Namens; der Name Gottes aber ist Barmherzigkeit, Wahrheit, Gerechtigkeit, Kraft, Weisheit. Und sie ist Anklage des eignen Namens; unser eigner Name aber ist Sünde, Lüge, Eitelkeit, Torheit, gemäß jenem Worte: ,Alle Menschen sind Lügner‘ (Ps 116, 11).“ ([18], S. 118 = [1], Bd. 2, S. 490) An Luthers religiösen Grundgedanken der iustificatio lassen sich drei Aufbauelemente unterscheiden. Zunächst beinhaltet die Rechtfertigung des Sünders eine Anerkennung des Urteils Gottes über den Menschen. Letzterer erkennt Gott an und erklärt ihn für gerecht. Der Rechtsspruch Gottes über den Menschen lautet, er ist ein Sünder. Soweit markiert die Aussage allerdings lediglich den Abstand zwischen Gott und Mensch, und es ist nicht deutlich, inwiefern darin die Rechtfertigung des Sünders sowie die Gemeinschaft von Gott und Mensch beschlossen liegt. Verständlich wird das erst durch den zweiten Aspekt. Die Anerkennung Gottes als gerecht ist nämlich der Ausdruck einer neuen Selbstbeurteilung des Menschen. Indem er sich als Sünder erkennt, stimmt er mit dem Urteil Gottes über ihn überein. Ein Mensch, der sich selbst so beurteilt, wie Gott ihn sieht – als Sünder – kommt zu sich selbst und wird darin wahrhaftig. Deshalb ist seine Einsicht in seine Verfassung – die innere Selbsterkenntnis – die wahre Gerechtigkeit des Menschen. Der sich als Sünder verständlich gewordene Mensch vertraut nicht mehr auf sich selbst und sein Handeln, sondern allein auf Gott. Die hierin liegende komplexe Aneignungsstruktur stellt schließlich drittens der Rechtfertigungsglaube dar. Er ist nach der einen Seite die Selbsterkenntnis des Menschen und nach der anderen das Vertrauen auf Gott und seine Verheißung der Sündenvergebung. Er ist das wahre Gottesverhältnis, und in ihm kommen Gott und Mensch zur Einheit. Im rechtfertigenden Glauben, so wie ihn Luther versteht, geht es um die Erkenntnis Gottes und des Menschen. Da der Mensch in diesem Geschehen zu seiner Wahrheit kommt, repräsentiert die iustificatio die theologische De-

Forensisch oder effektiv

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5. Persona facit opera, non opera personam – Glaube und Werk

finition des Menschen. „Wer [vom Menschen] sagt, er müsse gerechtfertigt werden, der bekräftigt ganz gewiss als wahr, dass er ein Sünder und Ungerechter und daher vor Gott Schuldiger sei, aber durch Gnade zu retten.“ ([8], Bd. 1, S. 669 = [1], Bd. 39, 1. Abt., S. 177)

5.3 Libertas christiana und servum arbitrium

Glaube und christliche Freiheit

Luthers Streitschrift gegen Erasmus von Rotterdam gehört ohne Zweifel zu den bedeutendsten, aber auch umstrittensten Schriften des Reformators, an der sich die Geister scheiden ([183]; [245]; [228]; [182]; [215]). Während die einen in dieser Schrift den reformatorischen Grundgedanken in bedingungsloser Schärfe durchgeführt sehen, argwöhnen andere, der Reformator sei im Eifer des gedanklichen Schlagabtauschs zu weit gegangen. Seine bereits seit 1516 vorgetragene und in De servo arbitrio erneuerte Behauptung der Unfreiheit des menschlichen Willens ([1], Bd. 1, S. 47. 224; Bd. 7, S. 146; Bd. 18, S. 614. 670) scheint einen Determinismus zu propagieren, demzufolge alles in der Welt nach einer ehernen Notwendigkeit geschieht ([1], Bd. 18, S. 614. 670), die der menschlichen Freiheit und Verantwortlichkeit keinen Raum mehr lässt ([229], S. 96–102). Schon Melanchthon sah sich angesichts dieses Dilemmas in den späteren Auflagen seiner Loci communes dazu genötigt, Luthers vehemente Bestreitung der menschlichen Freiheit abzumildern, und die altlutherische Orthodoxie ist darin eher dem großen Humanisten als dem Wittenberger Reformator gefolgt ([246]; [217]). Luther spricht jedoch nicht nur vom unfreien Willen, sondern ebenso von einer libertas christiana. Der Glaubende, der vom Gesetz entbunden ist, der ist frei ([220]; [249]). „Das ist die Christlich freiheit / der eynige glaub / der do macht / nit das wir mu(e)ßsig gahn oder u(e)bell thun mugen / sondern das wir keynis wercks bedurffen zur frumkeyt vnd seligkeyt zu erlangen“ ([7], Bd. 2, S. 273 = [1], Bd. 7, S. 25). Die christliche Freiheit liegt im Gottesverhältnis des Glaubens beschlossen. Der Glaubende ist – wie Luther in seinem Freiheitstraktat schreibt – sowohl vom Gesetz als auch von den Werken frei. Doch wie verhalten sich die Freiheit eines Christenmenschen und die Unfreiheit des Willens ihrerseits zueinander? Stehen sie unverbunden nebeneinander, oder lassen sich systematische Gesichtspunkte für einen inneren Zusammenhang von geknechtetem Willen und der königlichen Freiheit des Christen benennen? In dem Tractatus de libertate christiana schreibt Luther, die Seele werde durch äußere Dinge weder frei noch gut oder böse. „So ists offenbar / das keyn eußerlich ding mag yhn frey / noch frum machen / wie es mag ymmer genennet werden / denn seyn frumkeyt vn(d) freyheyt / widerumb seyn bo(e)ßheyt vnd gefenckniß / seyn nit leyplich noch eußerlich.“ ([7], Bd. 2, S. 267 = [1], Bd. 7, S. 21) Das Handeln des Menschen bleibt äußerlich. Der Traktat vom November 1520, der mit der bekannten Doppelthese von der Freiheit und Knechtschaft des Christenmenschen einsetzt, welcher die Unterscheidung von innerem und äußerem Menschen korrespondiert, entfaltet in seinem ersten Teil das Zustandekommen der christlichen Freiheit ([239]; [238]; [124], S. 164–182; [155]). Die die gesamte Schrift strukturierende

5.3 Libertas christiana und servum arbitrium

Differenzierung von innerem und äußerem Menschen wäre allerdings als anthropologischer Dualismus von Seele und Leib missverstanden. Die Seele – darauf weist Luther ausdrücklich hin – meint den „geystlich / new / ynnerlich“ ([7], Bd. 2, S. 265 = [1], Bd. 7, S. 21) Menschen. Der äußerliche und leibliche Mensch hingegen ist der alte. Letzterem hat der Reformator einen unfreien Willen attestiert. Was versteht der Wittenberger Theologe unter dem Willen, und warum ist er der Meinung, er sei unfrei? In De servo arbitrio vergleicht er den menschlichen Willen in einem bekannten Bild mit einem Lasttier, um das zwei Reiter im Kampf liegen. „Sic humana voluntas in medio posita est, ceu iumentum, si insederit Deus, vult et vadit, quo vult Deus […]. Si insederit Satan, vult et vadit, quo vult Satan, nec est in eius arbitrio, ad utrum sessorem currere aut eum quaerere, sed ipsi sessores certant ob ispsum obtinendum et possidendum.“ ([8], Bd. 1, S. 290 = [1], Bd. 18, S. 635)

Unfreier Wille

„So ist der menschliche Wille in die Mitte gestellt, wie ein Zugtier. Wenn Gott darauf sitzt, will und geht es, wohin Gott will […]. Wenn Satan darauf sitzt, will und geht es, wohin Satan will. Und es liegt nicht an seinem Willensvermögen, zu einem von beiden Reitern zu laufen oder ihn zu suchen. Vielmehr streiten die Reiter selbst darum, es in Besitz zu nehmen und in Besitz zu behalten.“ ([8], Bd. 1, S. 291)

Der menschliche Wille, soviel kann man der zitierten Stelle zunächst entnehmen, ist niemals ohne eine Bestimmung. Er wird entweder von Gott oder dem Satan – wie Luther schreibt – geritten, also bestimmt, wobei es nicht in der Macht des Willens liegt, sich von einem Bestimmungsgrund zum anderen zu wenden. Freiheitstheoretisch besagt Luthers Bild vom menschlichen Willen, um den Gott und Teufel im Streit liegen, dass es keine Indifferenzfreiheit geben könne, die sich ohne Grund zu etwas bestimmt. Der Wille als das innere Personenzentrum des Menschen ist niemals neutral oder gar absolut ([1], Bd. 18, S. 669) und somit in seiner Tätigkeit stets ein bestimmter Wille. Den menschlichen Willen versteht der Reformator als das Vermögen zur Selbstbestimmung. Er ist, von Gott angetrieben, stets tätig und in Bewegung. „Vim igitur voluntatis humanae dici, credo, potentiam vel facultatem vel habilitatem vel aptitudinem volendi, nolendi, eligendi, contemnendi, approbandi, refutandi et si quae sunt aliae voluntatis actiones.“ ([8], Bd. 1, S. 348 = [1], Bd. 18, S. 662f.)

„Ich glaube also, dass du mit ,Kraft des menschlichen Willens‘ eine Möglichkeit oder Fähigkeit bezeichnest oder eine Eignung zu wollen, nicht zu wollen, zu wählen, zu verachten, zuzustimmen, abzulehnen und was immer sonst Handlungen des Willens sind.“ ([8], Bd. 1, S. 349; [1], Bd. 18. S. 669)

Der Wille ist die Kraft und das Vermögen, sich zu einer Handlung zu bestimmen, und er ist in seinen Akten bereits bestimmt ([229], S. 89–96). Von dem sich so auslegenden und sich bestimmenden Willen sagt Luther, er sei unfrei. Es stellt sich freilich sofort die Frage, woran Luthers Behauptung der Unfreiheit des menschlichen Willens ihren Anhalt hat. Zunächst meint der Refor-

Wille als Selbstbestimmung

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5. Persona facit opera, non opera personam – Glaube und Werk

mator mit dem servum arbitrium keinen Zwang oder eine äußerliche Beschränkung der menschlichen Freiheit. Von einem solchen Missverständnis hat er sich sowohl in der Römerbriefvorlesung ([1], Bd. 56, S. 386) als auch in De servo arbitrio entschieden distanziert. „Necessario vero dico, non coacte, sed ut illi dicunt, neccessitate immutabilitatis, non coactionnis, hoc est, homo cum vacat spiritu Dei, non quidem violentia, velut raptus obtorto collo, nolens facit malum, quemadmodum fur aut latro nolens ad paenam ducitur, sed sponte et libenti voluntate facit, Verum hanc libentiam seu voluntatem faciendi, non potest suis viribus omittere, cohercere aut mutare, sed pergit volendo et lubendo, etiam si ad extra cogatur aliud facere per vim, tamen voluntas intus manet aversa, et indignatur cogenti aut resistenti, Non autem indignaretur, si mutaretur, ac volens vim sequeretur.“ ([8], Bd. 1, S. 288 = [1], Bd. 18, S. 634)

„Vielmehr, wie sie sagen, mit einer Notwendigkeit der Unveränderlichkeit, nicht des Zwanges. Das heißt: Wenn der Mensch ohne Heiligen Geist ist, dann handelt er nicht unter Gewalteinfluss – als ob er am Hals gewürgt und weggerissen würde – gegen seinen Willen böse. So wie etwa ein Schurke oder Dieb gegen seinen Willen der Strafe zugeführt wird. Sondern er handelt aus eigenem Antrieb und freiwillig. Diese Freiwilligkeit oder diesen Willen zu handeln aber kann er nicht aus eigenen Kräften unterlassen, zügeln oder ändern, sondern er fährt fort zu wollen und bereitwillig zu sein; sogar wenn er äußerlich mit Gewalt gezwungen wird, etwas anderes zu tun, widersetzt sich dennoch drinnen der Wille und ist widerwillig gegen den, der ihn zwingt oder ihm Widerstand entgegenbringt. Er wäre aber nicht widerwillig, wenn er geändert würde und willig der Gewalt folgte.“ ([8], Bd. 1, S. 289)

Luther hat mit seiner These vom unfreien Willen nichts Äußeres im Blick – solches macht ja weder frei noch unfrei. Es geht ihm um die innere Struktur des Willens, um dessen Verfasstheit. Es steht nämlich nicht in dessen Macht, nicht zu wollen. Folglich kann die Freiheit auch nicht von sich selbst ablassen: Sie muss sich selbst zu etwas bestimmen. Luther fasst diese dem Willen immanente Struktureigenart in dem Begriff einer necessitate immutabilitatis – Notwendigkeit der Unveränderlichkeit – zusammen. Der Wille ist nicht nur stets durch Gott angetrieben, agil, er ist auch durchgängig auf sich selbst bezogen, und zwar notwendigerweise. Mit seiner Lehre vom unfreien Willen hat er auch die Affektbestimmtheit des menschlichen Willens im Blick ([1], Bd. 18, S. 634; vgl. [247]). Der Mensch ist, so könnte man den Gedanken mit Spinoza (1632–1677) zusammenfassen, nicht ,Herr im eigenen Hause‘, da er durchweg von Affekten und Leidenschaften bestimmt wird, stets das Seine sucht und sein affektgeleitetes Handeln im Nachhinein mit vernünftigen Argumenten zu begründen versucht. „Befrage die Erfahrung, wie wenig die zu überzeugen sind, die irgendeiner Sache leidenschaftlich anhängen. Andererseits: Wenn sie davon abgehen, dann gehen sie unter Gewalteinwirkung davon ab oder, weil sie sich von etwas anderem größeren Vorteil versprechen, niemals aber freiwillig.“ ([8], Bd. 1, S. 289. 291 = [1], Bd. 18, S. 634) Es ist der stärkere Affekt, der sich durchsetzt und dem Willen eine andere Richtung gibt, aber nicht der vernünftige Entschluss.

5.3 Libertas christiana und servum arbitrium

Luthers Argumente weisen in einer freiheitstheoretischen Perspektive auf eine in der Selbstbestimmung liegende Struktureigentümlichkeit hin. Die menschliche Freiheit, so sehr sie allein im Akt der Selbstbestimmung wirklich ist, findet sich als eine solche bereits vor und ist folglich als eine zur Selbstbestimmung bestimmte Freiheit anzusprechen. Sie steht unter der Bestimmung, Selbstbestimmung zu sein ([241], S. 224–232). Und sie muss sich auch zu etwas bestimmen, damit sie nicht leer und unbestimmt bleibt. Zu einem Bestimmten wird das Selbst nämlich nur dann, wenn es sich auf etwas bezieht und sich von diesem unterscheidet. Abstrahiert das Selbst allerdings in seinem Selbstverständnis und in seinen freien Akten von seiner Bestimmtheit, so impliziert das die Aufgabe, jene durch sein eigenes Wirken hervorzubringen. Das aber bedeutet, die Person durch das eigene Handeln zu verwirklichen. Diese Aufgabe beinhaltet freilich einen unendlichen Prozess, da das Selbst aufgrund der für es konstitutiven (formalen) Struktur der Selbstbeziehung unbestimmt ist und mit keiner von ihm gesetzten Bestimmung identisch sein kann. Nimmt man die angeführten Aspekte zusammen, dann lässt sich Luthers Behauptung von der Unfreiheit des menschlichen Willens als eine Beschreibung der eigentümlichen Verfasstheit endlicher Selbstbestimmung verstehen ([228]; [184], S. 89–113). Sie setzt sich in ihren Akten schon voraus, ist stets an sich gebunden und muss, um Selbstbestimmung zu sein, sich zu etwas bestimmen. Luthers gegen Erasmus verfochtene Behauptung der Unfreiheit des menschlichen Willens ist weit davon entfernt, die menschliche Selbstbestimmung zu bestreiten ([188], S. 49). Ihr Anliegen liegt eher in einer genauen Beschreibung der komplexen Struktur sowie der Selbstvoraussetzungen der menschlichen Freiheit in ihren Handlungen. Es geht um die Frage, wie wahre menschliche Selbsterkenntnis möglich ist, wenn das Selbstverhältnis des Menschen sowohl von Affekten bestimmt als auch durchgehend auf sich selbst bezogen ist. Die Position von Erasmus, welche den Übergang von der Sünde zur Gnade als einen intendierten Akt vorstellt, greift angesichts der spezifischen Verfasstheit des Menschen und seiner Freiheit – so Luthers Einwand – erheblich zu kurz. Wie kommt es im menschlichen Leben zu einer Erfassung der eigentümlichen Struktur der Freiheit? Luthers Antwort, wie er sie in seinem Freiheitstraktat ausgeführt hat, lautet: allein im Glauben ([1], Bd. 7, S. 23). Der Glaube ist deshalb die wahre Freiheit, weil er das erste Gebot erfüllt. „Hi sichstu aber / auß wilchem grund dem glauben ßouil billich zugeschrieben wirt / das er alle gepott erfullet / vnd on alle andere werck frum macht. Denn du sihest hi / das er das erste gepott erfullet alleine da gepotten wirt / Du solt eynen gott ehren.“ ([7], Bd. 2, S. 277. 279 = [1], Bd. 7, S. 26; vgl. [1], Bd. 6, S. 202–276, bes. S. 211) Im Glauben gibt der Mensch Gott recht, und darin ist er frei und erfüllt das erste Gebot. Das impliziert freilich die Selbsterkenntnis des Menschen als Sünder in der Dialektik von Gesetz und Evangelium. Dazu kann es durch das Handeln des Menschen nicht kommen. Da es im Äußerlichen verbleibt, führt es nicht zur Selbstdurchsichtigkeit des Menschen. Nur das Wort Gottes, im Glauben ergriffen und mit ihm eins geworden ([1], Bd. 7, S. 24), dringt ins Innere des Menschen durch. Er ist die wahre Selbsterkenntnis des Menschen, und d.h., er erkennt Gott als gerecht und wahr an. „Denn gott mag nicht geehrt werden / yhm wird dan / wahrheyt

Innere Struktur der Selbstbestimmung

Glaube und erstes Gebot

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5. Persona facit opera, non opera personam – Glaube und Werk

vnd allis gut zu geschrieben / wie er denn warlich ist / Das thun aber keyn gutte werck / sondern allein der glaube des hertzen.“ ([7], Bd. 2, S. 279 = [1], Bd. 7, S. 26) Gerecht und frei wird der Mensch vor Gott nicht durch sein eigenes Handeln, sondern allein durch den Glauben ([1], Bd. 18, S. 634). Wenn Luther von der Freiheit eines Christenmenschen spricht, dann meint er nicht Autonomie im modernen Sinne. Die königliche Freiheit des Glaubens ist einerseits negativ ein Freisein des Glaubenden von allen (äußeren) Werken, dem Gesetz und der Sünde ([1], Bd. 7, S. 23. 28) und andererseits die Selbsterkenntnis des Menschen als Sünder. Im Fokus der Argumentation steht die religiöse Reflexion von Sünde und Gnade und keine metaphysische Beschreibung des menschlichen Willens ([226], S. 124f.). Die christliche Freiheit ist der Glaube, und er bezieht sich auf den inneren Menschen. Von ihm – dem neuen Menschen – sagt Luther, er sei „eyn freyer herr / u(o)ber alle ding / vnd niemandt vnterthan“ ([7], Bd. 2, S. 265 = [1], Bd. 7, S. 21). Deutlich wird hier auch, warum sich der Glaube als ein Bestimmtsein des Willens durch Gott von dem durch den Satan unterscheiden muss. Vom Teufel bestimmt zu sein, heißt nämlich, die innere Verfasstheit der endlichen Selbstbestimmung ist dem Menschen in seinem Selbstvollzug nicht durchsichtig. Im Blick ist dabei die ,teuflische‘ Struktur des Versuchs, die Bestimmtheit des eigenen Selbst durch das Handeln hervorzubringen, die zu keinem Ende führt. Die libertas christiana zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass sich der Mensch im Gottesverhältnis als endliche Freiheit erfasst. Sie ist eine solche, die darum weiß, sich in jedem ihrer Akte bereits vorauszusetzen. Die mit dem Glauben verbundene endliche Freiheit unterscheidet mithin zwischen ihrer Konstitution durch Gott und ihrer eigenen Realisierung. Durch das eigene Handeln kann das Faktum der Freiheit nicht hervorgebracht werden, es dient allein der Weltgestaltung. Luthers Rede von der Unfreiheit des menschlichen Willens und von der Freiheit des Glaubens geht es nicht um die einfache Alternative von Freiheit oder Notwendigkeit. Insofern wird man sagen können, seine Behauptung eines servum arbitrium hat ihre Pointe gar nicht in einer Bestreitung der menschlichen Freiheit. Sie steht vielmehr im Dienste einer Aufklärung der humanen Selbstbestimmung über sich selbst. Deshalb kann man in Luthers schroffer Betonung des unfreien Willens durchaus eine Freiheitstheorie erblicken, deren Anliegen eine religiöse Reflexion der endlichen Freiheit und ihrer inneren Aufbauelemente darstellt [218].

5.4 Die guten Werke Welchen Stellenwert und welche Funktion hat das ethische Handeln des Menschen in der Theologie Luthers? Anders gefragt: unter welcher ethischen Forderung kann der Glaubende noch stehen, wenn er schon an seinem Glauben genug hat, und wie begründet der Reformator das Handeln des Christen? Das ethische Thema wird von ihm unter dem traditionellen Titel der guten Werke verhandelt ([214]; [225]; [237]).

5.4 Die guten Werke

Grundlegende Schriften Luthers zur Ethik sind: * Von den guten Werken (1520) ([1], Bd. 6, S. 202–276) * Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520) ([1], Bd. 7, S. 3–38) * Thesen für fünf Disputationen über Römer 3,28 (1535–1537) ([1], Bd. 39, 1. Abt., S. 44–53. 82–86. 202–204)

In seinen Schriften hat Luther immer wieder darauf hingewiesen, dass aus dem Glauben die guten Werke gleichsam unmittelbar von selbst folgen würden. So schreibt er in dem Freiheitstraktat: „Sih also fleusset auß dem glauben die lieb vn(d) lust zu gott / vnd ausz der lieb / ein frey / willig / frolich leben(n) dem nehsten zu diene(n) vmbsonst.“ ([7], Bd. 2, S. 299 = [1], Bd. 7, S. 36) Stellen wie diese lassen sich aus dem Werk des Reformators in Fülle zusammentragen. In den späten Disputationsthesen über Röm 3,28 aus den Jahren 1535/37 heißt es, „34. Wir bekennen, dass gute Werke auf den Glauben folgen müssen, vielmehr nicht müssen, sondern ihm von selbst folgen [Sed sponte sequi], so wie ein guter Baum nicht gute Früchte bringen muss, sondern von selbst bringt.“ ([8], Bd. 2, S. 407 = [1], Bd. 39, 1. Abt., S. 46) Aus dem Glauben der gerechtfertigten Person gehen die guten Werke von selbst hervor, also ohne zu müssen, ebenso wie ein guter Baum gute Früchte von selbst hervorbringt. Der Glaube kann – so stellt es Luther vor – gar nicht untätig sein. Als „selbthetter vnd werckmeyster“ ([7], Bd. 2, S. 279 = [1], Bd. 7, S. 26) geht er von selbst ins Handeln über, und aus ihm quellen nur gute Werke. Sie können sich, das ist vor dem Hintergrund von Luthers Glaubensverständnis deutlich, nicht auf das Gottesverhältnis des Menschen beziehen. Für die Rechtfertigung des Menschen haben seine Handlungen keine Bedeutung. Die Person wird nicht durch ihre Werke – seien sie nun gut oder böse – gerecht, da die Seele „keyn eußerlich ding mag […] frey / noch frum machen“ ([7], Bd. 2, S. 267 = [1], Bd. 7, S. 21). „35. Et sicut boni fructus non faciunt arborem bonam, Ita bona opera non iustificiant personam. 36. Sed bona opera fiunt a persona iam ante iustificata per fidem, Sicut fructus boni fiunt ab arbore iam ante bona per naturam.“ ([8], Bd. 2, S. 406 = [1], Bd. 39, 1. Abt., S. 46)

Wichtige Texte

Glaube und gute Werke

35. Und wie gute Früchte nicht den Baum gut machen, so rechtfertigen gute Werke nicht die Person, 36. sondern gute Werke werden von einer Person getan, die schon zuvor durch den Glauben gerechtfertigt ist, so wie gute Früchte von einem Baum kommen, der schon zuvor auf Grund seiner Natur gut ist.“ ([8], Bd. 2, S. 407)

Gute Werke können sich lediglich auf die irdische Daseinsgestaltung des Lebens der Glaubenden beziehen, und zwar als Folge des Rechtfertigungshandelns Gottes. Das setzt das Wissen des Glaubenden darum voraus, dass sich das Gottesverhältnis in keiner Weise der Qualität seines Handelns verdankt. Mit dem Glauben muss das Wissen um den Unterschied von göttlichem und menschlichem Handeln und deren unterschiedliche Zuständigkeitsbereiche verbunden sein. Das menschliche Handeln ist nur dann von der Aufgabe einer Konstitution der Person oder des Gottesverhältnisses entlastet, wenn dem Glaubenden diese Differenz bewusst ist.

Gute Werke als Folge des Glaubens

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5. Persona facit opera, non opera personam – Glaube und Werk

Notwendigkeit der Werke

„Szo merck nu: gegen gott und seyne heyligen darffistu keyn guttis thun, szondern nur gotts holenn, suchen, bitten und empfahen durch den glawben, von yhm. Christus hatts alles fur dich than und außgericht, sund betzallt, gnad, leben unnd selickeytt erworbenn, laß dyr an yhm benugenn, denck nur, das du yhn yhe mehr und mehr ynn dich bringist und solchen glawben sterckist. Darumb alles gutts, das du thun kanst, und deyn gantzes leben richte dahynn, das es gut sey“ ([1], Bd. 10, 1. Abt., 2. Hälfte, S. 40f.). Im Glauben ist dem Menschen seine eigene Konstitution durchsichtig. Sein Handeln bezieht sich auf das Weltverhältnis. Dem bisher Ausgeführten scheint zu widersprechen, dass Luther an einigen Stellen von dem Glauben als einem Werk reden kann. So nennt er in dem Traktat Von den guten Werken von 1520 den Glauben an Christus ein gutes Werk. Er sei das „erste vnd hochste aller edlist gut werck […]. Dan in diesem werck mussen alle werck gan / vnd yrer gutheit einflusz gleich wie ein lehen vo(n) ym empfangen“ ([7], Bd. 2, S. 17 = [1], Bd. 6, S. 204). Unter dem Werk des Glaubens an Christus kann hier freilich kein solches gemeint sein, welches der Mensch selbst hervorbringen könnte. Der Glaube kommt, wie der Reformator im Fortgang der Erörterung unmissverständlich erklärt, „an zweifel […] nit ausz deinen wercke(n) noch vordinst. sondern allein ausz Jesu Christo / vmbsunst vorsproche(n) vnd gebe(n)“ ([7], Bd. 2, S. 29 = [1], Bd. 6, S. 216). Die Redeweise von dem Glauben als einem Werk, wenn auch dem höchsten und schwierigsten, hat der Reformator später aufgrund der ihr anhaftenden Missverständlichkeit fallen gelassen und ihn strikt als ein Werk Gottes bezeichnet ([1], Bd. 6, S. 530). Wenn er vom Glauben als einem guten Werk spricht, dann meint er gerade ein menschliches Nichtwerk, ein solches nämlich, welches Gott allein in uns und ohne uns wirkt. Was sind nun gute Werke, und warum sind sie für den Glaubenden, der ja an und in seinem Glauben schon das ganze Heil im Gottesverhältnis hat, überhaupt notwendig? Die eigentümliche ,Notwendigkeit‘ der guten Werke hat Luther damit begründet, dass der Mensch zum einen ein leib-seelisches und zum anderen ein handelndes Wesen ist.

„Hie wollen wir antworten allen denen / die sich ergern auß den vorigen reden vn(d) pflegen zu sprechen Ey so denn der glaub alle ding ist vnd gilt allein gnugsam frum zumachen. Waru(m)b sein denn die gutten werck gepotten? so wollen wir gutter ding sein / vnd nichts thun. Neyn lieber mensch nicht also. Es were wol / also / wen du allein ein ynnerlich mensch werist / vnd gantz geystlich vnd ynnerlich worden / wilchs nit geschicht biß am Ju(e)ngsten tag. Es ist vn(d) bleybt auff erde(n) nur ein anheben vn(d) zu nehmen / wilchs wirt in yhener welt volnbracht.“ ([7], Bd. 2, S. 285 = [1], Bd. 7, S. 29f.)

Der Mensch ist nicht nur innerer Mensch, Gewissen, sondern auch äußerer, leiblicher, der stets in Sozialbeziehungen lebt und in ihnen handeln muss. Die Notwendigkeit der guten Werke resultiert aus der bleibenden Leibgebundenheit des Menschen in diesem Leben. Der innere Mensch ist zwar frei und Herr über alle Dinge, aber diese Freiheit realisiert sich für den Reformator aufgrund der Leiblichkeit allein in der dienstbaren Knechtschaft am Nächsten. Darin folgt der Christ dem Beispiel Christi, der Knechtsgestalt an-

5.4 Die guten Werke

nahm. Um freilich zum exemplum der zwischenmenschlichen Beziehungen zu werden, muss Christus zuvor als Gabe im Glauben ergriffen werden. Luther unterscheidet im Hinblick auf die Realisierung des Glaubens zwei Dimensionen: den eigenen Leib und die Sozialbeziehungen. In beiden geht es um die Konsequenzen aus dem Rechtfertigungshandeln Gottes auf Seiten des Glaubenden. Für Luther stellt sich die Frage nach dem Umgang mit dem eigenen Leib als Folge seines Glaubensverständnisses. Das Entstehen des eigenen Glaubens ist ein rein innerliches Geschehen, nämlich der durch das Handeln Gottes vermittelte Übergang vom erschrockenen zum fröhlichen Gewissen. Luther war schon sehr früh zu der Überzeugung gelangt, dass das innere Geschehen des Glaubens Konsequenzen im Äußeren zeitigen muss. Bereits die Ablassthesen bezogen die Buße programmatisch auf das gesamte Leben des Christen. Lebensbuße meint nicht nur die Selbstbeurteilung des Menschen als Sünder, sie schafft auch „äußerlich vielfältige Marter des Fleisches“ ([8], Bd. 2, S. 3 = [1], Bd. 1, S. 233). Den Gedanken der Abtötung des Fleisches hat der Reformator in sein Verständnis der guten Werke aufgenommen: Der Glaube äußert sich in einem konstruktiven Umgang mit dem eigenen Leib.

Umgang mit dem eigenen Leib

„Da heben sich nu die werck an / hie muß er nit mu(e)ßsig gehen / da muß furwar der leyb mit fasten / wachen / erbeytten vnd mit aller messiger zucht getrieben / vn(d) geu(e)bt sein / das er dem ynnerlichen menschen vn(d) dem glauben gehorsam vnd gleychformig werde / nit hyndere noch widderstreb / wie sein art ist / wo er nit getzungen wirt.“ ([7], Bd. 2, S. 287 = [1], Bd. 7, S. 30)

Im Hinblick auf den eigenen Leib geht es um eine Entsprechung zwischen dem inneren Menschen – dem Glauben – und dem äußeren, fleischlichen Menschen mit seiner Triebstruktur. Letzteres soll dem inneren Menschen untergeordnet beziehungsweise „gleichförmig“ werden. Die Arbeit am eigenen Leib, wodurch er in Konformität zu dem inneren Menschen gebracht wird, soll nun weder etwas mit Gesetzlichkeit noch mit Zwangscharakter zu tun haben. Luther spricht hier stets von einer Folge des Geschenkcharakters des Glaubens, die der Verantwortung des Einzelnen anheim gestellt ist ([1], Bd. 7, S. 31). Man kann diesen Aspekt von seinem Verständnis der guten Werke eine innerweltliche ethische Qualifizierung der Lebenserhaltung und Lebensführung nennen. Max Weber (1864–1920) beschrieb das Phänomen – freilich mit Blick auf den puritanischen Calvinismus – als Rationalisierung der Lebensführung. Im Unterschied zur mittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit wird dadurch die Lebenserhaltung und, was den wichtigsten Aspekt darstellt, die Arbeit aufgewertet (vgl. unten). Die guten Werke bestehen zunächst in der Herrschaft des inneren Menschen über seinen Leib. Das geschieht durch eine Rationalisierung der Lebensführung: Der Glaubende gibt sich nicht mehr seinen leiblichen Bedürfnissen und Trieben hin, sondern bildet sie entsprechend dem inneren Menschen. Luther verbindet nun den Gedanken der ethischen Durchbildung des eigenen Leibes mit der Sozialdimension, in der jeder Mensch unweigerlich lebt.

Nächstenliebe und Sozialdimension

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5. Persona facit opera, non opera personam – Glaube und Werk

„Denn der mensch lebt nit allein / ynn seynem leybe / sondern auch vnter andernn menschen auff erden¯. Darumb kann er nit on werck sein gegen die selbenn / er muß yhe mit yhn zu reden vnd zu schaffen haben¯ / wie wol yhm der selben werck keyns nodt ist zur frumkeit vnd seligkeyt.“ ([7], Bd. 2, S. 295 = [1], Bd. 7, S. 34)

Selbstlose Hingabe an den Nächsten

Diese Dimension der Realisierung des Glaubens oder der christlichen Freiheit begründet Luther mit dem Umstand, dass der Mensch ein soziales Wesen ist. Auch der Glaubende lebt immer mit anderen Menschen zusammen, welche nicht alle Glaubende sind. Zudem existiert der Einzelne in den Ordnungen der Welt, die Luther als von Gott gestiftete Ordnungen versteht. Sozialbeziehungen können freilich nicht nach dem Muster von Selbsterhaltung und Selbstdurchsetzung gebildet, sondern müssen gestaltet werden durch „reden“ und „schaffen“, in der Sprache der modernen Soziologie: durch Gesellschaft und Wirtschaft [239]. Die Gestaltung der Sozialbeziehungen nach dem Muster des inneren Menschen – die an die Stelle der egoistischen Selbsterhaltung und Selbstdurchsetzung tritt – beschreibt Luther durch den Gedanken der Nächstenliebe, die er wiederum schon sehr früh als eine Konsequenz der Christologie verstanden hat. Im Anschluss an den Philipperhymnus (Phil 2,5–11) deutet er das Leben der Glaubenden in Entsprechung zu Christus, der Knechtsgestalt annahm. Wie Christus soll auch der Glaubende seinem Mitmenschen ein dienstbarer Knecht werden. So lautete der eine Teil der Doppelthese zu Beginn des Freiheitstraktats: Ein Christenmensch ist „eyn dienstpar knecht aller ding vnd yderman vnterthan“ ([7], Bd. 2, S. 265 = [1], Bd. 7, S. 21). Vor diesem Hintergrund ergibt sich als Bestimmung der guten Werke, dass sie selbstlose Werke der Nächstenliebe sind und gleichsam das Bild Christi im zwischenmenschlichen Bereich realisieren. „Et in hoc imitatur exemplum Christi et conformis fit imagini eius. Nam et hoc ipsum Christus requirit, ut sicut ipse omnia fecit pro nobis, non quaerens quae sunt, sed tantummodo quae nostra et in hoc obedientissimus fuit deo patri. Ita vult ut et nos idem exemplum ad proximos exhibeamus.“ ([8], Bd. 2, S. 72 = [1], Bd. 2, S. 147)

„Und darin folgt sie dem Beispiel Christi nach und wird seinem Bild gleichgestaltet. Denn Christus fordert genau das: So wie er selbst alles für uns getan hat, indem er nicht das Seine, sondern nur das Unsere suchte und gerade dadurch Gott dem Vater vollkommen gehorsam war, so gewiss will er, dass auch wir sein Beispiel an den Nächsten verwirklichen.“ ([8], Bd. 2, S. 73)

Gute Werke sind folglich diejenigen, die dem Mitmenschen nutzen: „Eyn gutt werk heyst darumb gutt, das es nutze sey, und wolthu und helffe, dem es geschicht: warumb sollt es tzonst gutt heyssen?“ ([1], Bd. 10, 1. Abt., 2. Hälfte, S. 39) Auch in den nach dem Kriterium der Nächstenliebe gestalteten Handlungen, in denen einer dem anderen zum Christus werden soll, geht es nicht mehr um eine heilsreligiöse Bedeutung. Im Blick ist bei den guten Werken allein die innerweltliche Betätigung. Sie werden vollbracht, um „got zu gefallen“ ([7], Bd. 2, S. 287 = [1], Bd. 7, S. 31), und zielen auf eine Fügung in den Willen Gottes ohne über die endliche Handlungsintention hinausgehen-

5.4 Die guten Werke

de Motive. Die Pflichterfüllung und Sittlichkeit, die freilich an die traditionale Moral und ihre Formen anknüpft, ist der einzige Inhalt des Handelns der Glaubenden. Damit verbindet sich eine Aufwertung der Arbeit und des weltlichen Berufs, wie sie in der katholischen Frömmigkeit nicht möglich ist. Max Weber und Ernst Troeltsch (1865–1923) haben diesen Aspekt von Luthers Ethik zu Beginn des 20. Jahrhunderts als innerweltliche Askese bezeichnet und in ihm die mentalitätsgeschichtlichen Voraussetzungen für die Herausbildung der modernen kapitalistischen Erwerbswirtschaft gesehen ([251]; [93]; [250], S. 442–445). Für Luther kann der Mensch seinen Glauben nur in den Ordnungen der Welt leben, und zwar dort, wo er sich von Gott hingestellt findet. Die katholische Unterscheidung „der christlichen Sittlichkeitsgebote in ,praecepta‘ und ,consilia‘“ wird von Luther und den anderen Reformatoren aufgelöst [275]. Das „einzige Mittel Gott wohlgefällig zu leben“ besteht nicht mehr in einer „Überbietung der innerweltlichen Sittlichkeit durch mönchische Askese, sondern ausschließlich“ in der „Erfüllung der innerweltlichen Pflichten […], wie sie sich aus der Lebensstellung des einzelnen ergeben, die dadurch eben sein ,Beruf‘ wird“ ([251], S. 39). Das Leben des Glaubenden realisiert sich in dienstbarer Knechtschaft und in Nächstenliebe, und diese Ethik der Dienstbarkeit ist eine unmittelbare Folge des Zustandekommens des eigenen Glaubens durch das Handeln Gottes. Am Ende seines Freiheitstraktats hat Luther diesen Zusammenhang prägnant zusammengefasst. Hier heißt es: „Auß dem allenn folget der beschluß / das eyn Christen mensch lebt nit ynn yhm selb / sondern ynn Christo vn(d) seynem nehstenn / ynn Christo durch den glauben / ym nehsten / durch die liebe / durch den glauben feret er vber sich yn gott / auß gott feret er widder vnter sich durch die liebe / vnd bleybt doch ymmer ynn gott vn(d) gottlicher liebe.“ ([7], Bd. 2, S. 305 = [1], Bd. 7, S. 38)

Die libertas christiana besteht im Glauben. Sie realisiert sich aber nicht anders als durch die dienstbare und selbstlose Hingabe an den Nächsten entsprechend dem exemplum Christi, der die Gestalt Gottes verschmähte und Knechtsgestalt annahm. Luthers Begründung und Konstruktion der Ethik folgt insofern bündig aus seinem Glaubensverständnis und seiner Christusanschauung. Sie ist indes mit Schwierigkeiten behaftet. Seine oft wiederholte Aussage von dem engen Zusammenhang von Glaube und Handeln ist alles andere als klar. Darauf wurde auch in der Forschungsliteratur hingewiesen ([251], S. 40 Anm. 43; [250], S. 476–481). „Es ist Luther“, so betont Martin Seils (geb. 1927), „vielleicht nie ganz gelungen, den Zusammenhang von Glauben und Tun, wie er ihn gesehen haben wollte, voll einsichtig zu machen. Vielzitierte Aussagen wie die, es sei ,eyn lebendig, schefftig, thettig, mechtig ding vmb den glawben, das vnmuglich ist, das er nicht on vnterlas solt gutts wircken, …‘ klingen ein wenig immer auch wie Beschwörungsformeln, hinter deren Gehalt die gedankliche Verklammerung etwas zurückgeblieben zu sein scheint.“ ([185], S. 73; vgl. [184], S. 100–105. 111–113) Wie aus dem neuen Ich des Glaubenden die guten Werke sua sponte hervorgehen sollen, bleibt undeutlich. Die Verknüpfung von Glaube und Handeln im Sinne der Nächstenliebe

Probleme von Luthers Ethik

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5. Persona facit opera, non opera personam – Glaube und Werk

ist locker, und sie greift traditionelle Motive auf ([251], S. 40 Anm. 43; [250], S. 476–481). Auch das der Natursphäre entlehnte Bild von dem Baum, der von selbst gute Früchte hervorbringt, bietet für die Ebene des menschlichen Handelns nur sehr wenig Erklärungskraft. Es erreicht gar nicht die Ebene des Geistes und seiner Zwecksetzungen. Weiterhin ist die Lutherische Ethik der Nächstenliebe beziehungsweise der dienstbaren Knechtschaft mit der Frage konfrontiert, wie die Person und ihre christliche Freiheit in der selbstlosen Hingabe an den Nächsten bewahrt werden können. Löst sich die christliche Freiheit nicht selbst auf, wenn sie sich allein in der ethischen Dienstbarkeit realisiert ([230], Bd. 2, S. 200)? Der Reformator versteht die Berufsarbeit als äußeren Ausdruck der Nächstenliebe. Dadurch kommt es zwar zu einer Aufwertung des weltlichen Berufs, aber die Fassung des Berufsgedankens selbst sowie dessen Begründung durch die Vorsehung Gottes ist, worauf bereits Max Weber hingewiesen hat, weltfremd. In einer Anmerkung seiner Schrift Die protestantische Ethik kommentiert Weber Luthers Berufsgedanken lakonisch mit einer Anspielung auf Adam Smith (1723–1790): „Nicht vom Wohlwollen des Fleischers, Bäckers oder Brauers erwarten wir uns unser Mittagessen, sondern von ihrer Rücksicht auf ihren eigenen Vorteil; wir wenden uns nicht an ihre Nächstenliebe, sondern an ihre Selbstsucht, und sprechen ihnen nie von unseren Bedürfnissen, sondern stets nur von ihrem Vorteil.“ ([251], S. 40 Anm. 44)

6. Das Kirchenverständnis In den Schmalkaldischen Artikeln von 1537 schreibt der Reformator, „es weiß gottlob ein Kind von 7 Jahren, was die Kirche sei, nämlich die heiligen Gläubigen und ,die Schäflin, die ihres Hirten Stimme hören‘ [Joh 10,3]; denn also beten die Kinder: ,Ich gläube eine heilige christliche Kirche.‘ Diese Heiligkeit stehet […] im Wort Gottes und rechtem Glauben“ ([16], S. 459f.; vgl. [44], S. 278–331; [26], S. 248–338; [37], S. 294–344; [280]; [35], S. 103–131). Luthers Verständnis der Kirche als Gemeinde, Haufen, Volk Gottes etc. ist eine Folge seines reformatorischen Glaubensverständnisses, welches auf die unmittelbare Präsenz Gottes im Glauben des Einzelnen zielt. Sie kommt allerdings nicht anders zustande als durch die Verkündigung des Wortes Gottes in der Gemeinde. Die öffentliche Verkündigung und damit die Sozialdimension der kirchlichen Gemeinschaft ist somit für die Entstehung des individuellen Glaubens zwar notwendig und unverzichtbar, aber zugleich wird die Sozialdimension mit dem zum Zielkommen des Verkündigungswortes im Glauben des Einzelnen schlicht überflüssig. „Yhr solt euch nicht meyster heyssen auff erden / denn eyner ist ewr meyster / Christus / der meyster leret ym hertze¯ / doch durch das eußerliche wort seyner prediger / die es in die oren treyben / aber Christus treybts in das hertz.“ ([6], Bd. 2, S. 321 = [1], Bd. 10, 2. Abt., S. 23)

Die äußere Verkündigung des göttlichen Wortes ist eine notwendige Bedingung, jedoch keine hinreichende, da der Glaube allein durch das Wirken Gottes als der Heilige Geist im Inneren des Individuums entsteht. Luthers Verständnis der Kirche stellt eine Konsequenz seiner Deutung des Rechtfertigungsglaubens dar. Mit ihr ist eine gegenüber dem römisch-katholischen Kirchenverständnis völlige Neubildung des Kirchengedankens verbunden, dessen Anfänge bis in die erste Psalmenvorlesung zurückreichen ([263], S. 296–298). Das verwundert insofern wenig, als der Reformator sein Verständnis der Kirche in Auseinandersetzung mit der römischen Kirche entwickelte, in der er zunehmend den Hort des Antichristen erblickte. Für den römischen Katholizismus ist die Kirche gleichsam die Verlängerung der Menschwerdung Christi in der Geschichte. Die wahre Kirche fällt so geradezu mit der empirischen Institution zusammen. Im Unterschied zu diesem sakramentalen Verständnis der Kirche als Heilsinstitution wird der Kirchenbegriff von Luther rein funktional festgelegt. Ihre Legitimität bestimmt sich allein aus der Wahrnehmung ihrer Aufgabe: der Verkündigung des Evangeliums und der Verwaltung der Sakramente. Die Confessio Augustana hat den Grundgedanken von Luthers Kirchenverständnis folgendermaßen in Artikel VII zusammengefasst: „Es wird auch gelehret, daß alle Zeit musse ein heilige christliche Kirche sein und bleiben, welche ist die Versammlung aller Glaubigen, bei welchen das Evangeli-

Luthers Umbildung des Kirchenverständnisses

Confessio Augustana

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6. Das Kirchenverständnis

um rein gepredigt und die heiligen Sakrament lauts des Evangelii gereicht werden. Dann dies ist gnug zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirchen, daß da einträchtiglich nach reinem Verstand das Evangelium gepredigt und die Sakrament dem gottlichen Wort gemäß gereicht werden. Und ist nicht not zur wahren Einigkeit der christlichen Kirche, daß allenthalben gleichformige Ceremonien, von den Menschen eingesetzt, gehalten werden, wie Paulus spricht zun Ephesern am 4.: ,Ein Leib, ein Geist, wie ihr berufen seid zu einerlei Hoffnung euers Berufs, ein Herr, ein Glaube, ein Tauf.‘“ ([16], S. 61) Funktion der Kirche

Die Kirche resultiert aus der Funktion der Evangeliumsverkündigung und der Sakramentsverwaltung. Allerdings bedarf gerade die Wahrnehmung dieser Funktion der Schaffung einer Institution. Ohne Ordnungsstrukturen und Reglungen bis hin zu kirchenrechtlichen Festlegungen kann auch die protestantische Kirche nicht ihre Funktion der Evangeliumsverkündigung erfüllen. Deren Ausgestaltung hat freilich keine heilsrelevante oder sakramentale Bedeutung mehr und obliegt pragmatischen Gesichtspunkten, die jederzeit geändert werden können ([1], Bd. 50, S. 649). Obwohl also für das Zustandekommen des Heils nicht konstitutiv, ist dennoch eine institutionelle Form der Kirche notwendig, da die Kommunikation des Wortes Gottes geordnet vorgenommen werden muss. Die funktionale Fassung des Kirchenbegriffs im Unterschied zum sakramentalen Verständnis der Kirche als eine für das Heil geradezu konstitutive Größe, wie im römischen Katholizismus, ist der eine Aspekt, der mit Luthers Neufassung zusammenhängt. Die wahre Kirche – so ein weiterer Aspekt – fällt für ihn auch nicht mehr mit der empirisch institutionellen Kirche zusammen. Aus dem Glaubensverständnis ergibt sich die Differenzierung des Kirchenbegriffs in eine verborgene und eine sichtbare Kirche. Die wahre Kirche ist die Gemeinschaft der Gläubigen, aber sie ist nicht mit der empirischen Kirchenzugehörigkeit identisch. Nicht jeder, der Mitglied einer institutionellen Kirche ist, gehört auch zu den wahren Glaubenden. In seinem Kirchenverständnis verknüpft Luther so unterschiedliche Dimensionen wie äußere und innere, empirische und transzendente oder institutionelle und überinstitutionelle.

Grundlegende Texte

Wichtige Schriften zum Kirchenverständnis * Vom Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig (1520) ([1], Bd. 6, S. 285–324) * Daß eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen (1523) ([1], Bd. 11, S. 408–416) * Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe (1533) ([1], Bd. 38, S. 195–256) * Von den Konziliis und Kirchen (1539) ([1], Bd. 50, S. 509–653) * Wider Hans Worst (1541) ([1], Bd. 51, S. 469–572)

Da Luthers Kirchenverständnis auf seinem Glaubensverständnis aufbaut und der Glaube durch die äußere Kommunikation des Wortes Gottes zustande kommt, empfiehlt es sich, Luthers Ekklesiologie im Ausgang von seinem Schriftverständnis in den Blick zu nehmen. Denn schließlich soll, wie der Reformator unterstrichen hat, die Kirche nichts anderes sein als eine creatura verbi ([1], Bd. 2, S. 430). Im ersten Unterabschnitt ist die Unterscheidung von

6.1 Sichtbare und verborgene Kirche

sichtbarer und verborgener Kirche vor dem Hintergrund der theologia crucis sowie der Lehre von der doppelten Klarheit der Schrift zu rekonstruieren. Der zweite Unterabschnitt ist Luthers Bestimmung der Kirche und ihrer Kennzeichen gewidmet. Zu den Themen, die in der Lehre von der Kirche abgehandelt werden, gehört die Sakramentenlehre. Um Luthers Verständnis der Sakramente, wie er sie in seiner Auseinandersetzung mit der Papstkirche entwickelt hat, wird es im dritten Unterabschnitt gehen. Theologische Überlegungen zum Begriff der Kirche betreffen immer auch deren Unterscheidung vom Staat. Dem Verhältnis von geistlichem und weltlichem Regiment – der sogenannten Zwei-Reiche-Lehre – wird im vierten Unterabschnitt nachgegangen.

6.1 Sichtbare und verborgene Kirche Signifikant für Luthers Verständnis der Kirche ist die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche. Sie wird von ihm bereits in der ersten Psalmenvorlesung von 1513–1515 verwendet ([263], 296–298; [267]). Die Differenzierung war freilich schon vor Luther geläufig. Eingeführt wurde sie von Augustin. Im Zusammenhang mit der Ausarbeitung seiner späten Prädestinationslehre unterscheidet er zwischen der sichtbaren katholischen und einer wahren Kirche der Geistlichen und Bekehrten. Die wahre Kirche ist unsichtbar, und ihre Mitglieder sind an den ewigen Erwählungsratschluss Gottes zurückgebunden. Luthers Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer beziehungsweise verborgener Kirche geht immerhin in den Dictata super Psalterium über die Augustinische Unterscheidung hinaus, indem die unsichtbare Kirche an die Verkündigung des Wortes Gottes gebunden wird und nicht an den Erwählungsratschluss Gottes ([1], Bd. 3, S. 183; Bd. 4, S. 81. 107. 450). Sie ist eine Konsequenz seines reformatorischen Verständnisses des Glaubens: Alle hören zwar das Wort Gottes, aber nicht jedem treibt es Christus ins Herz. Luthers Kirchenbegriff fußt auf seiner Rechtfertigungslehre ([263], S. 298f.). Wie versteht nun Luther die Unterscheidung von sichtbarer und verborgener Kirche, und welche Aufbaumomente gehen in die Differenzierung ein und formen sie zu einem einheitlichen gedanklichen Zusammenhang? In seiner Schrift Von dem Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig von 1520 schreibt er: „Drumb vmb mehres vorstandts vnd der kurtz willenn / wollen wir die zwo kirchen nennen / mit vnterscheydlichen namen. Die erste / die naturlich / grundtlich / wesentlich vnnd warhafftig ist / wollen wir heyssen / ein geystliche ynnerliche Christenheit. Die andere / die gemacht vnd eusserlich ist / wolle wir heyssen ein leypliche / eußerlich Christenheit / nit das wir sie vonn einander scheydenn wollen / sondern zu gleich als wen ich von einem menschen rede / vnd yhn nach der seelen ein geistlichen / nach dem leyp ein leyplichen menschen nenne / oder wie der Apostel pflegt [Röm 7, 22–25] / ynnerlichen vnd eußerlichen menschen zunennen. Also auch / die Christlich vorsamlung / nach der seelen / ein gemeyne in einem glauben eintrechtig / wie wol nach dem leyb / sie nit mag an eine¯ ort vorsamlet werdenn / doch ein iglicher hauff an seinem ort vorsamlet wirt.“ ([6], Bd. 1, S. 335 = [1], Bd. 6, S. 296f.)

Unterscheidung von sichtbarer und verborgener Kirche

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6. Das Kirchenverständnis

Kirchenverständnis und theologia crucis

Ein Jahr zuvor, im 1519 veröffentlichten Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi und von den Bruderschaften kommt Luther auf die genannte Unterscheidung von innerer und äußerer Christenheit zu sprechen, und zwar im Kontext von Ausführungen zum Sakramentsverständnis. Er schreibt hier, seine Neubestimmung des Sakraments zusammenfassend: „Derhalben es auch nutz vnd nott ist / das die lieb vnd gemeynschafft Christi vnnd aller heyligen vorborgen / vnsichtlich vn(d) geystlich gescheh / vn(d) nur / eyn leyplich / eußerlich zeychen / derselben vnß gebe(n) werde / dan wo dieselben lieb / gemeynschafft / vnd beystand offentlich were / wie der mensche(n) zeytlich gemeynschafft / ßo wurden wir da durch nit gesterckt noch geubt / yn die vnsichtlichen vn(d) ewigen guter zu trawen / odder yhr zu begeren“ ([7], Bd. 1, S. 283 = [1], Bd. 2, S. 752f.). Die Differenzierung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche bei Luther steht, was ihre Genese betrifft, im Zusammenhang seines neuen Verständnisses des Glaubens als ein inneres Geschehen, das Gott im Gewissen des Menschen ohne dessen Beteiligung wirkt. Die Grundunterscheidung, welche der Reformator in sein Kirchenverständnis aufgenommen hat, ist die zwischen dem Handeln Gottes und dem des Menschen. Sie steht ebenfalls im Zentrum von Luthers theologia crucis, wie sie der Reformator in seinen frühen Vorlesungen sowie in der Heidelberger Disputation vom April 1518 und in den Ablassresolutionen aus demselben Jahr ausgeführt hat. Man wird deshalb wohl auch in der Vermutung nicht fehlgehen, dass für Luthers Begriffsprägung ,verborgene Kirche‘ (abscondita est Ecclesia), wie sie unter anderem in De servo arbitrio verwendet wird ([8], Bd. 1, S. 322 = [1], Bd. 18, S. 652), die theologia crucis die methodische Basis darstellt. Die Lutherforschung ist, soweit man die Literatur überschauen kann, dem Zusammenhang von Kreuzestheologie und Kirchengedanken bisher noch nicht genügend nachgegangen. In einer engen Beziehung mit der Unterscheidung von verborgener und sichtbarer Kirche steht die von Luther in der Schrift gegen den Leipziger Franziskaner-Mönch Augustin Alfeld (um 1480–1535) von 1520 (vgl. [6], Bd. 1, S. 323) – dem hochberühmten Romanisten zu Leipzig – angeführte Differenzierung von geistlichem und leiblichem oder, wie Luther im Anschluss an Paulus in Röm 7,22–25 sagt, innerem und äußerem Menschen. Auch diese Unterscheidung, die bereits im Zusammenhang mit den guten Werken erörtert wurde, stellt eine Folge der theologia crucis dar. In den Thesen III. und IV. der Heidelberger Disputation, in der Luther das Handeln des Menschen und das Handeln Gottes gegenüberstellt, heißt es in den Erläuterungen der Thesen: „Opera hominum videntur speciosa, sed intus sunt foeda, ut Christus de Pharisaeis Matth. 23. dicit. Videntur enim sibi et aliis bona et pulchra, Sed Deus est, qui non iudicat secundum faciem, sed scrutatur renes et corda. At sine gratia et fide impossibile est mundum haberi cor.“

„Die Werke der Menschen erscheinen schön, aber innerlich sind sie hässlich, wie Christus von den Pharisäern Mt 23 sagt. Denn sie erscheinen ihnen und anderen gut und schön, aber Gott ist es, der nicht nach dem äußeren Anschein urteilt, sondern die Nieren und Her-

6.1 Sichtbare und verborgene Kirche

„Opera Dei esse deformia, patet per illud Esa. 53. Non est ei species neque decor. Et 1. Reg. 2. Dominus mortificat et vivificat, deducit ad inferos et reducit. Hoc sic intelligitur, quod Dominus humiliat et perterrefacit nos Lege et conspectu peccatorum nostrum, ut tam coram hominibus, quam coram nobis videamur esse nihil, stulti, mali imo vere tales sumus. Quod cum agnosscimus atque confitemur, nulla in nobis est species neque decor, sed vivimus in absondito Dei (id est, in nuda fiducia misericordiae eius) in nobis habentes responsum peccati, stulticiae, mortis et inferni.“ ([8], Bd. 1, S. 36. 38 = [1], Bd. 1, S. 356f.)

zen erforscht. Aber ohne Gnade und Glauben ist es unmöglich, ein reines Herz zu haben.“ „Dass Gottes Werke ungestalt sind, ergibt sich durch jenes [Wort aus] Jes 53: ,Er hat keine Gestalt noch Schönheit‘ und 1Sam 2: ,Der Herr tötet und macht lebendig, er führt in die Hölle hinunter und wieder heraus.‘ Dies wird so verstanden, dass der Herr uns demütigt und erschreckt durch das Gesetz und den Anblick unserer Sünden, so dass wir sowohl vor den Menschen als auch vor uns selbst nichts zu sein scheinen, Toren, Böse, ja, wir sind in Wahrheit solche. Wenn wir dies erkennen und bekennen, ist in uns ,keine Gestalt noch Schönheit‘, sondern wir leben im Verborgenen Gottes, das heißt, in nacktem Vertrauen auf seine Barmherzigkeit, während wir in uns das Urteil der Sünde, der Torheit, des Todes und der Hölle haben.“ ([8], Bd. 1, S. 37. 39)

Im Glauben ist der innere Mensch gut, auch wenn er nach außen schlecht erscheint, und er lebt im Verborgenen Gottes. Die Innendimension des Glaubens ist dem äußeren fleischlichen Menschen nicht zugänglich, sondern nur dem Glauben sichtbar, der sich, wie Luther formuliert, auf das Unsichtbare richtet ([1], Bd. 18, S. 633). Die Innerlichkeitsdimension des Glaubens, deren dialektisches Zustandekommen die Kreuzestheologie beschreibt, wird unter dem Gesichtspunkt der verborgenen Kirche zu einer universalen Gemeinschaft der Gewissenseinheit entschränkt ([263], S. 297f.). Auch die Weise, wie Luther die verborgene mit der sichtbaren Kirche verknüpft, fußt auf dem Fundament der theologia crucis. Denn ihrer methodischen Einsicht zufolge ist zwar das Handeln Gottes verborgen, was aber nicht heißen soll, dass es gänzlich entzogen ist. Es ist, um mit Luthers Formel zu reden, unter dem Gegenteil verborgen. Sichtbar ist nur, wie es in dem Abendmahlssermon von 1519 heißt, das leibliche, sichtbare, äußere Zeichen. Ebenso ist nun im Hinblick auf den Kirchenbegriff nur die äußere Gemeinschaft der Glaubenden sichtbar. Die Unterscheidung und Zuordnung von sichtbarer und verborgener Kirche reformuliert auf der Ebene der Gemeinschaft der Glaubenden das aus der theologia crucis resultierende dialektische Verhältnis von innerem und äußerem Menschen. Die genannten beiden Dimensionen stehen nun derart in einem Zusammenhang, dass der Glaubende – wie Luther im Freiheitstraktat schreibt – in diesem Leben stets in einem fleischlichen Leib lebt, den er entsprechend des inneren Menschen gestalten soll. Die Innendimension und die Außendimension lassen sich nicht trennen, obwohl sie auch nicht zusammenfallen können. Von dem äußerlichen Leben eines Menschen kann nicht auf dessen Herz beziehungsweise auf dessen Gesinnung zurück-

Verborgene Kirche

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6. Das Kirchenverständnis

Kirchenverständnis und die Lehre von der doppelten Klarheit der Schrift

Sichtbare Kirche

geschlossen werden ([1], Bd. 6, S. 296). Nur Gott, der Herzenskündiger, der in das Herz des Menschen blickt, kennt die wahren Glaubenden. Einem Menschen ist die Dimension des Gewissens von anderen grundsätzlich unzugänglich. Entsprechend ist auch die verborgene Kirche immer an die sichtbare gebunden, ohne freilich mit ihr einfach identisch zu sein. Luthers Differenzierung von sichtbarer und verborgener Kirche baut auf die aus der theologia crucis entstandene Unterscheidung von innerem und äußerem Menschen auf und ist mit der Schriftlehre verknüpft. Der Glaube resultiert, wie Luther betont, allein aus dem Hören des Evangeliums ([263], S. 304f.). In seinem Schriftverständnis unterscheidet er zwischen der äußeren und der inneren Klarheit der Schrift (vgl. oben). Während die äußere Klarheit sich auf die in dem Wortsinn der Schrift ausdrückende Sachevidenz bezieht, ordnet Luther die innere Klarheit der Schrift der Herzenserkenntnis und damit der Heilsgewissheit zu. Beide Formen der Klarheit der Schrift sind nun derweise aufeinander bezogen, dass der Heilige Geist in seinem Gewissheit schaffenden Handeln stets an das äußere Wort als Vehikel gebunden ist. Die innere und die äußere Klarheit haben allerdings unterschiedliche Geltungsbereiche. Ihnen entsprechen die beiden Dimensionen von Luthers Kirchenbegriff. Die Zuordnung der beiden Klarheiten der Schrift zu seinem differenzierten Kirchenverständnis beschreibt der Reformator in De servo arbitrio folgendermaßen: „Doppelt ist die Klarheit der Schrift […]: Eine ist äußerlich im Amt des Wortes gesetzt, die andere in der Kenntnis des Herzens [in cordis cognitione] gelegen.“ ([8], Bd. 1, S. 239 = [1], Bd. 18, S. 609; vgl. [1], Bd. 18, S. 653) Die äußere Klarheit der Schrift gehört dem Predigtamt zu, also dem Dienst am Wort, und die innere Klarheit der Herzenserkenntnis. Die Geltungsbereiche von äußerer und innerer Klarheit unterscheiden sich: Die äußere Klarheit ist öffentlich, und die innere Klarheit ist nicht öffentlich, da sie den Christen als Privatperson betrifft. Die Herzenserkenntnis ist zwar an die äußere und öffentliche Verkündigung zurückgebunden – die für die Entstehung der Herzenserkenntnis notwendig ist –, aber sie ist nicht hinreichend. Herzenserkenntnis und Heilsgewissheit kommen allein durch ein eigenes Wirken des Heiligen Geistes im Gewissen des Menschen zustande. Die beiden Aspekte der Klarheit der Schrift, deren Zuordnung zum Predigtamt und der Erkenntnis des Herzens, werden von Luther mit der Unterscheidung von sichtbarer und verborgener Kirche zu einem in sich geschlossenen Zusammenhang verzahnt: Die öffentliche Verkündigung der klaren Schrift Gottes repräsentiert die sichtbare Kirche und die in der Herzenserkenntnis beschlossene innere Klarheit die verborgene. Die sichtbare Kirche ist folglich dort, wo das Wort Gottes verkündigt wird, und die verborgene Kirche umfasst diejenigen, bei denen das Wort Gottes durch das innere Wirken des Heiligen Geistes den Glauben hervorbringt. Diese Gemeinschaft der Glaubenden ist die allein wahre Kirche. Sie ist zwar nie ohne die sichtbare Kirche, in der das Wort Gottes verkündigt und die Sakramente verwaltet werden, aber sie fällt auch nicht mit der Institution zusammen.

6.2 Kirche als Gemeinde

6.2 Kirche als Gemeinde Für Luthers Kirchenverständnis ist die Unterscheidung von sichtbarer und verborgener Kirche einfach fundamental. Sowohl seine eigenen Ausführungen zu den inhaltlichen Aspekten seines Neuverständnisses als auch seine Kritik an der Papstkirche bauen auf diese Differenzierung auf. Im Folgenden wird zunächst Luthers Verständnis der Kirche als Gemeinde sowie dessen darauf fußende Kritik an der mittelalterlichen Kirche erörtert und anschließend die notae ecclesiae, die Kennzeichen, an denen die wahre Kirche erkannt werden könne. Der Reformator ist davon überzeugt, dass es sich bei der evangelischen Neugestaltung der Kirche nicht um eine Sekte oder eine Abspaltung von der katholischen Kirche handelt. Den Gedanken einer Sektenbildung hat er stets verworfen ([263], S. 303f.). Ihm geht es um die allein wahre Ekklesia, und er scheut auch nicht davor zurück, der römischen Kirche das Kirchesein abzusprechen. In seinem Gesamtwerk hat der Reformator mehrfach das Wort Kirche im Unterschied zur Schrift, der Klarheit zukommt, ein blindes, undeutliches Wort genannt [272]. In der für seine Ekklesiologie wichtigen späten Schrift Von den Konzilien und Kirchen aus dem Jahre 1539 schreibt er: „Aber dis wort Kirche ist bey uns zumal undeutsch und gibt den sinn oder gedancken nicht, den man aus dem Artickel nehmen mus.“ ([1], Bd. 50, S. 624; vgl. [271]; [262]; [269]) In der zitierten Stelle aus Von den Konzilien und Kirchen drückt sich eine Reserve gegenüber dem Begriff ,Kirche‘ aus, die sich in dem gesamten Werk des Reformators nachweisen lässt. Das Wort ist deshalb für Luther undeutlich, weil es die innere Konstitution der Gemeinde durch das Handeln Gottes und damit die geistliche Dimension des Glaubens nicht zum Ausdruck bringt. In dem Wort verschwindet gleichsam die verborgene Kirche in der sichtbaren, äußeren Institution. In diesem Sinne heißt es bereits in der frühen Schrift Von dem Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig: „Wie wol nw dem wortlein / geystlich / odder kirchen hie gewalt geschicht / das solch eußerlich wesen alßo genandt wirt / ßo es doch allein den glauben betrifft / der in der seele(n) / recht worhafftige / geistliche vnd Christen macht / hat doch der prauch vber hand geno¯men / nit zu kleiner vorfurung vnd yrtumb vieler seelen / die do meynen solchs eusserlich gleyssen / sey der geistliche vnd warhafftige sta(n)d der Christe(n)heit oder kirche(n).“ ([6], Bd. 1, S. 334f. = [1], Bd. 6, S. 296)

Und Luther fügt hier hinzu: „Von disser kirchen / wo sie allein ist / stet nit ein buchstab in der heyligenn schrifft / das sie von got geordenet sey“ ([6], Bd. 1, S. 335 = [1], Bd. 6, S. 296). Der Begriff Kirche bezieht sich für den Reformator viel zu stark auf die äußerliche Dimension der Institution und ihrer Ordnungen und lässt die verborgene Dimension des Glaubens zurücktreten. Aus diesem Grund hat er durchgängig in seinen Schriften statt von Kirche lieber von der Gemeinde gesprochen. „Wolan, hindan gesetzt mancherley schrifften und teilung des worts Kirche, Wollen wir dismal einfeltiglich bey dem Kinderglauben bleiben, der da sagt: Ich gleube eine heilige Christliche Kirche, Gemeinschaft der heiligen. Da deutet der glaube klerlich, was die Kirche sey, nemlich eine gemeinschafft der Heiligen, das ist,

Kirche als Gemeinde

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6. Das Kirchenverständnis

Communio sanctorum

Kritik an der Papstkirche

ein hauffe oder samlung solcher Leute, die Christen und heilig sind, das heisst ein Christlicher heiliger hauffe oder Kirchen“ ([1], Bd. 50, S. 624). Die Gemeinde ist die Versammlung – der Haufen – derer, die das Wort Gottes im Gottesdienst hören und die eine, wie Luther auch sagt, communio sanctorum bilden. Der Begriff communio sanctorum kann sowohl die Gemeinschaft der Heiligen als auch die Gemeinschaft am Heiligen, nämlich am Abendmahl meinen ([37], S. 207). Die Bedeutung Gemeinschaft am Heiligen, die aus der Alten Kirche stammt, hat Luther nie verwendet. Vielmehr versteht er unter der communio sanctorum eine Art Gütergemeinschaft der Gläubigen ([26], S. 255). „Dyße gemeynschafft / steht darynne das alle geystlich guter / Christi vnnd seyner heyligen / mit geteyllet vnd gemeyn werden / dem / der dyß sacrament empfeht / widderumb alle leyden vnd sund / auch gemeyn werden / vnd alßo liebe gegen liebe antzundet wirdt / vnd voreynigt / Vnd das wyr auff der groben synlichen gleychniß bleyben. Wie yn eyner statt / eynem yglichen burger gemeyn wirt / der selben statt / namen / eere / freyheyt / handell / brauch / sitten / hulff / beystand / schutz / vnd der gleychen. widderumb / alle gefar / fewr / wasser / feynd / sterben / scheden / auffsetz vnd der gleychen. Dan(n) wer mit geniessen will / der muß auch mit gelten / vnd lieb mit lieb vorgleychen.“ ([7], Bd. 1, S. 274 = [1], Bd. 2, S. 743) Leitend für Luthers Neuverständnis der Kirche ist der Gedanke der Gemeinde, und sie wird von ihm als eine Gütergemeinschaft entsprechend dem Gedanken der Nächstenliebe aufgefasst. Aus diesem ,Liebeskommunismus‘ der Gläubigen – der Begriff stammt von Heinrich Heine (1797–1856) – hat Luther schon relativ früh jegliche Hierarchie ausgeschlossen. Bereits in der ersten Psalmenvorlesung begegnet der Gedanke als Konsequenz der Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche – ohne freilich schon auf die römische Kirche angewandt zu werden ([1], Bd. 3, S. 179. 204. 347; Bd. 4, S. 224. 267. 324. 353; vgl. [263], S. 305f.). Das geschieht erst mit dem Ablassstreit und der sich in dessen Verlauf verschärfenden Auseinandersetzung mit Rom. Jetzt rücken gegenüber der ersten Psalmenvorlesung sichtbare und unsichtbare Kirche mehr auseinander, und Luther zieht immer schärfer die Folgerung, dass mit dem Evangelium keinerlei Hierarchie oder Herrschergewalt verbunden sein kann ([263], S. 313–317). In den Ablassthesen von 1517 war er sich vollkommen darüber im Klaren: Das Amt des Priesters könne nur darin bestehen, die bereits von Gott gewährte Sündenvergebung auszusprechen und zu bestätigen. Auch der Papst – so formuliert er in These 6 – könne nicht mehr tun ([1], Bd. 1, S. 233). Das Evangelium schließt weder richterliche Gewalt in sich noch lässt sich eine Hierarchie als göttliche Ordnung aus ihm ableiten ([263], S. 211). Hieraus resultieren zwei weitere wichtige Aspekte von Luthers Kirchenverständnis. Zunächst: Wenn sich aus dem Evangelium keine Hierarchie im Sinne einer gleichsam von Gott eingesetzten Ordnung ableiten lässt, dann kann nur Christus und nicht der Papst das Oberhaupt der Kirche sein. „Auß dem allen folget / das die erste Christenheit die allein ist die warhafftige kirch / mag vnnd kann kein heubt auff erden haben / vnnd sie von niemant auff erden / noch Bischoff / noch Bapst regirt mag werden / sondern allein Christus ym hymel ist hie das heubt / vnd regiret allein.“ ([6], Bd. 1, S. 336 = [1], Bd. 6, S. 297)

6.2 Kirche als Gemeinde

Das Haupt der Kirche ist aufgrund ihrer Nicht-Leiblichkeit ([1], Bd. 6, S. 293) nicht der Papst, sondern Christus allein, der in den Herzen der Gläubigen regiert. Freilich ist der Gedanke – Christus ist das Haupt der Kirche – in der christlichen Tradition von Anfang an geläufig. In Luthers Auseinandersetzung mit Rom gewinnt dieser allerdings eine antipäpstliche und romkritische Bedeutung ([37], S. 298). Denn wenn Christus das Haupt der Kirche ist, dann kann es der Papst gerade nicht sein. Damit verbindet sich sodann die Vorstellung des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen. Wenn sich aus dem Evangelium keinerlei Hierarchie ableiten lässt, kann es auch keinerlei sakramentalen Unterschied zwischen Priestern und Laien geben. Der Gedanke des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen bahnt sich in den Dictata super Psalterium als Folge des Zusammenrückens von Wortverkündigung und Kirchenbegriff an. Die romkritischen Konsequenzen werden hier allerdings noch nicht gezogen, sondern erst, als sich der Konflikt mit Rom verschärfte. Die klarste Formulierung des Gedankens findet sich in der wirkungsmächtigsten von Luthers reformatorischen Programmschriften aus dem Jahre 1520, nämlich der Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation: Von des christlichen Standes Besserung. Hier führt Luther aus: „Dan alle Christen / sein warhafftig geystlichs stands / vnnd ist vnter yhn kein vnterscheyd / denn des ampts halben allein. wie Paulus .i. Corint. xii. sagt / das wir alle sampt eyn Corper seinn / doch ein yglich glid sein eygen werck hat / damit es den andern dienet“ ([7], Bd. 2, S. 99 = [1], Bd. 6, S. 407; vgl. [1], Bd. 6, S. 560–567; Bd. 7, S. 28f.). Und ein wenig später folgen dann die bekannten Sätze:

Allgemeines Priestertum aller Gläubigen

„Dan was ausz der tauff krochen ist / das mag sich rumen / das es schon priester Bischoff vnd Bapst geweyhet sey / ob wol nit einem yglichen zympt / solch ampt zu vben. Dan weyl wir alle gleich priester sein / muß sich niemant selb erfur thun / vnd sich vnterwinden / an vnszer bewilligen vnd erwelen / das zuthun / des wir alle gleychen gewalt haben […]. Drumb solt ein priester stand nit anders sein in der Christe(n)heit / dan als ein amptman / weil er am ampt ist / geht er vohr / wo ehr abgesetzt / ist ehr ein bawr odder burger wie die andern.“ ([7], Bd. 2, S. 100 = [1], Bd. 6, S. 408)

Der Priester hat ein Amt in der Gemeinde inne. Dadurch unterscheidet er sich von den Laien jedoch nicht durch eine unverlierbare sakramentale Weihe – character indelebilis (unzerstörbare Eigenschaft). Priester ist man für Luther allein durch die Verkündigung des Wortes Gottes. Das Predigtamt ist ebenso wie das Bischofsamt ein Dienst, der sich allein aus der übernommenen Funktion ergibt. Auch Christus ist um „keyns andern ampts willen / den zu predigen das wort gottis kummen“ ([7], Bd. 2, S. 269 = [1], Bd. 7, S. 22). Die Notwendigkeit des Amtes in der Gemeinde ergibt sich aus dem Umstand, dass die Verkündigung geordnet geschehen muss, wenn anders das Wort Gottes sein Ziel erreichen soll, den Glauben zu wecken. Das ist aber nur dann möglich, wenn nicht alle zugleich reden, wenn also die Gemeinde sich Prediger wählt, die stellvertretend für die Gemeinde die Funktion der Wortverkündigung und der Sakramentsverwaltung übernehmen ([1], Bd. 6, S. 564; vgl. [257]). So sehr Luther freilich den funktionalen Charakter des Predigtamtes betont, so schließt er doch Frauen noch rigoros mit dem Argu-

Priesteramt

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6. Das Kirchenverständnis

Merkmale der Kirche

ment aus, das Evangelium hebe das „natue rlich recht“ nicht auf, „sondern bestetigt“ es „als Gottes ordnung und geschepffe“ ([1], Bd. 50, S. 633). Luthers Verständnis der Kirche als Gemeinde stellt eine Folge seiner Unterscheidung von sichtbarer und verborgener Kirche dar. Die Kritik an der römischen Kirche ist vor allem dadurch motiviert, dass die sichtbare, äußere Kirche an die Stelle der verborgenen Gemeinschaft der Gläubigen tritt. Dadurch werden, wie Luther immer wieder betont, menschliche Traditionen und Menschengesetze mit einer Aura des Sakralen und Göttlichen umkleidet und als ewige und unveränderliche Größen stilisiert. Demgegenüber beharrt der Reformator darauf, dass die sichtbare Kirche, einschließlich der Ämter, eine äußerliche Institution ist, die entsprechend sich wandelnder gesellschaftlicher Lagen veränderbar ist. In dieser Form – auch das ist eine Konsequenz der Unterscheidung von sichtbarer und verborgener Kirche – ist sie allerdings notwendig. Denn das Wirken des Heiligen Geistes in den Herzen der Gläubigen ist an die äußere Verkündigung gebunden. Die Priesterweihe kann dann aber nichts anderes sein, als eine Beauftragung des Verkündigers durch die Gemeinde. „Und insofern ist das Sakrament der Priesterweihe, wenn es überhaupt etwas ist, nichts anderes als ein gewisser Ritus, um jemanden in den kirchlichen Dienst zu berufen. Ferner ist das Priesteramt im eigentlichen Sinne nichts anderes als der Dienst am Wort – am Wort, sage ich, nicht des Gesetzes, sondern des Evangeliums.“ ([8], Bd. 3, S. 357 = [1], Bd. 6, S. 566) Die wahre Kirche ist entsprechend der theologia crucis unter dem Gegenteil verborgen: der sichtbaren Gemeinschaft. Woran erkennt man aber die Kirche? Hierauf gibt die Lehre von den notae ecclesiae, die die wahre Kirche von der falschen unterscheiden, eine Antwort. Sie wurde von Augustin in seiner Auseinandersetzung mit dem Donatismus, einer nordafrikanischen rigoristischen christlichen Sekte [270], entwickelt. Der Bischof von Hippo nennt vier Kennzeichen der wahren Kirche: Einheit (unitas), Heiligkeit (sanctitas), Katholizität (catholicitas) und Apostolizität (apostolicitas). Die vier Merkmale behält auch die mittelalterliche Kirche als grundlegende notae ecclesiae bei. Luther hat an die Unterscheidung verschiedener Kennzeichen angeknüpft, ihnen jedoch vor dem Hintergrund seiner Neubestimmung des Kirchenbegriffs eine andere Deutung gegeben. Infolge seiner Differenzierung von sichtbarer und verborgener Kirche können die von Augustin aufgeführten Kennzeichen der Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität allerdings nicht mehr auf die äußere Kirche bezogen werden: Sie kommen allein der verborgenen Kirche zu, die auch im dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses gemeint ist. „Inn Christus wort ist sie heilig und gewis, Ausser Christus wort ist sie gewis eine jrrige, arme sunderin, doch unverdampt umb Christus willen, an den sie gleubt. e Das will ich gesagt haben widder die halstarrigen rhumer, die jmer plaudern: Die kirche, Die kirche, De kirche, Wissen nicht, weder was kirche, noch heiligkeit der kirchen sey, faren daruber zu und machen die kirche so heilig, das Christus e e druber mus jhr lugener sein, und sein wort gar nichts gelten.“ ([1], Bd. 30, 3. Abt., S. 342)

Äußere Merkmale der Kirche

Die wahre Kirche ist die verborgene, und ihr kommen die Merkmale der Heiligkeit, Einheit, Katholizität und Apostolizität zu. Sie existiert allein als die

6.3 Die Sakramente

Gemeinschaft der Glaubenden in Christi Wort im Verborgenen. Von den Kennzeichen der verborgenen Kirche unterscheidet Luther solche der äußeren sichtbaren Kirche. Er nennt in seinem Werk unterschiedliche notae, deren Zahl einmal größer und einmal kleiner ist. Die grundlegenden äußeren Kennzeichen der Kirche, daran hat der Reformator nie einen Zweifel gelassen, sind jedoch die Verkündigung des Evangeliums und die Austeilung der Sakramente. Schon in der frühen ekklesiologischen Schrift Vom Papsttum zu Rom aus dem Jahre 1520 heißt es: „Die zeichenn / da bey man eußerlich mercken kann / wo die selb kirch in der welt ist / sein die tauff / sacrame(n)t vnd das Euangelium“ ([6], Bd. 1, S. 339 = [1], Bd. 6, S. 301). Wortverkündigung und die beiden Sakramente Taufe und Abendmahl erscheinen in allen Aufzählungen der äußeren Merkmale der Kirche als die fundamentalsten. Denn der Glaube ist für Luther stets an das äußere, sinnlich wahrnehmbare Wort sowie das entsprechend dem Wortverständnis umgebildete Sakramentsverständnis gebunden. Unabhängig von diesen äußeren Zeichen kann der Glaube nicht entstehen, auch wenn er freilich nicht durch die äußere Wortverkündigung allein hervorgebracht wird, sondern durch das innerliche Wirken Gottes. In seinen späten Schriften, etwa Von den Konziliis und Kirchen aus dem Jahre 1539 oder in Wider Hans Worst von 1541 nennt Luther sieben bzw. elf Kennzeichen der äußeren Kirche. Diese sind in Von den Konziliis und Kirchen: 1. das Wort Gottes, 2. das Sakrament der Taufe, 3. das heilige Sakrament des Altars, 4. die Schlüsselgewalt, 5. die Berufung und Ordination von Pfarrern und Bischöfen, 6. das Gebet sowie Lob und Dank gegen Gott und 7. das Erleiden von Kreuz und Anfechtungen ([1], Bd. 50, S. 628–642). Die notae ecclesiae * verborgene Kirche: Einheit (unitas), Heiligkeit (sanctitas), Katholizität (catholicitas) und Apostolizität (apostolicitas) * sichtbare Kirche: Wortverkündigung und die beiden Sakramente Taufe und Abendmahl

6.3 Die Sakramente Luther hat sein Verständnis der Sakramente in Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Sakramentenlehre auf der einen Seite und mit innerprotestantischen Kontrahenten wie den Täufern, den Schwärmern und den oberdeutschen Reformatoren auf der anderen entwickelt und entfaltet ([278]; [281]). Seine Stellungnahme und seine den Sakramenten geltenden Schriften sind folglich durchweg konkreten Anlässen geschuldet. Das gilt bereits für den äußeren Durchbruch der Reformation, die Auseinandersetzung mit dem mittelalterlichen Bußsakrament in den 1517 einsetzenden Ablassstreitigkeiten. Luther hat somit keine in sich zusammenhängende allgemeine Sakramentenlehre ausgeführt, sondern seine eigene Auffassung im Rückgriff auf das Neue Testament dargelegt ([37], S. 318). Die wichtigste sakramententheologische Abhandlung Luthers stellt die im Jahre 1520 erschienene reformatorische Programmschrift De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium (Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche) dar. In ihr

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6. Das Kirchenverständnis

Mittelalterliches Sakramentsverständnis

Augustin

Transsubstantiationslehre

Grundlegende Schriften

untergräbt er geradezu die sakramentalen Grundlagen der mittelalterlichen Kirche und setzt an die Stelle des überkommenen Sakramentsverständnisses eine völlige Neubestimmung, in der sein Glaubensverständnis zu einem scharfen Ausdruck gelangt. Die Siebenzahl der Sakramente – die zuerst bei Petrus Lombardus begegnet ([273], S. 470) – wurde auf dem Konzil von Florenz im Jahre 1439 dogmatisch fixiert. Die sieben Sakramente sind: Taufe, Firmung, Weihe (ordo), Ehe, Eucharistie, Buße und letzte Ölung. Bis dahin hat man dem Sakramentsbegriff vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit zugewendet. Grundlegend für das Sakramentsverständnis der mittelalterlichen Kirche ist Augustin. Er verwendet den Sakramentsbegriff einerseits in einem weiten Sinne für das sinnlich wahrnehmbare Zeichen (signum), das auf eine verborgene geistige, überirdische Wirklichkeit (res divinae) verweist. „Von den Zeichen also, mit denen die Menschen untereinander ihre Wahrnehmungen austauschen, beziehen sich einige auf den Sehsinn und sehr viele auf den Gehörsinn, die wenigsten auf die übrigen Sinne.“ ([253], S. 47f.) Andererseits stehen bei Augustin die heiligen Handlungen von Taufe und Eucharistie im Blickpunkt des Interesses. Der wichtigste Bestandteil des Sakraments ist das Wort, so dass es gleichsam ein sichtbares Wort ist: verbum visibile. „Accedit verbum ad elementum et fit sacramentum“ (Tritt das Wort zum Element, so entsteht das Sakrament.). Das Sakrament konstituiert sich für Augustin durch das Hinzukommen des Wortes zum materiellen Element. Das hohe Mittelalter hat unter dem Einfluss der Aristotelesrezeption dann die Sakramentenlehre weitergebildet, und zwar vor allem unter Aufnahme der aristotelischen Unterscheidung von Substanz und Akzidenz. Die sich hieraus ergebende Transsubstantiationslehre wurde auf dem IV. Laterankonzil 1215 dogmatisch fixiert und als verbindlich erklärt [266]. Sie versucht, die Präsenz Christi in der Eucharistie mittels der aristotelischen Unterscheidung von Substanz und Akzidenz zu erläutern. Die beiden Substanzen Brot und Wein werden während der Konsekration (Wandlung bei der Eucharistie) der Elemente durch den geweihten Priester annihiliert, so dass sich Brot und Wein unter Wahrung ihrer Akzidentien (Aussehen, Geschmack) in die Substanzen Leib und Blut Christi verwandeln. Auf diese Weise wiederholt der Priester in der Messe das Opfer Christi auf Golgatha, allerdings auf eine unblutige Weise. Die Transsubstantiationslehre, die freilich schon vor Luther im späten Mittelalter umstritten war (John Wyclif [1330–1384] und Jan Huss [um 1369–1415]), wurde auf dem Tridentinum 1551 bekräftigt. Der Wittenberger hat die Lehre infolge seines Neuverständnisses der Sakramente einer vernichtenden Kritik unterzogen und in den Abendmahlsstreitigkeiten mit Zwingli und Karlstadt die nicht weniger problematische Ubiquitätslehre an deren Stelle gesetzt. Luthers wichtigste frühe Schriften zu seinem Verständnis der Sakramente sind: * Ein Sermon von dem Sakrament der Buße (1519) ([1], Bd. 2, S. 713–723) * Ein Sermon von dem heiligen hochwürdigen Sakrament der Taufe (1519) ([1], Bd. 2, S. 727–737) * Ein Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi und von den Bruderschaften (1519) ([1], Bd. 2, S. 742–758)

6.3 Die Sakramente

Ein Sermon von dem neuen Testament, d.i. von der heiligen Messe (1520) ([1], Bd. 6, S. 353–378) * De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium (1520) ([1], Bd. 6, S. 497–573) *

In den drei Sermonen aus dem Jahre 1519 hat Luther die Grundgedanken seiner Deutung der Sakramente entworfen, die er dann ein Jahr später in seiner reformatorischen Programmschrift De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium zusammenhängend als Fundamentalkritik an der Papstkirche ausführte. Wichtige Aspekte dieser Schrift, insbesondere im Hinblick auf sein Abendmahlsverständnis, hatte er bereits zuvor, in der ebenfalls 1520 erschienenen Schrift Ein Sermon von dem neuen Testament, d.i. von der heiligen Messe skizziert. Luthers Verständnis der Sakramente resultiert sowohl aus seinem Glaubens- als auch aus seinem Schriftverständnis. Aus der Lehre von der Schrift folgt für die Sakramentslehre, dass von einem geltenden Sakrament nur dann gesprochen werden kann, wenn es von Christus eingesetzt ist. Ihm allein steht es zu, ein Sakrament einzusetzen ([1], Bd. 6, S. 568). Aus dem Schriftbezug leitet sich die Reduktion der Siebenzahl der Sakramente auf zwei ab, nämlich Taufe und Abendmahl. „Daraus ergibt sich, dass es bei strenger Handhabung des Wortgebrauchs nur zwei Sakramente in der Kirche Gottes gibt: Taufe und Brot; denn nur hier sehen wir beides zugleich: von Gott gestiftete Zeichen und die Verheißung der Sündenvergebung.“ ([8], Bd. 3, S. 371 = [1], Bd. 6, S. 572) Nur die Taufe und das Abendmahl sind von Christus eingesetzt und können deshalb als Sakramente in der Kirche gelten. Für die Buße, die Luther 1520 ebenfalls noch als Sakrament aufführt, gilt das, wie er am Ende der Schrift über die babylonische Gefangenschaft der Kirche schreibt, nicht. „Denn dem Bußsakrament, das ich den beiden zugestellt habe, fehlt das sichtbare und von Gott gestiftete Zeichen, und so sagte ich, dass es nichts anderes sei als Weg und Rückkehr zur Taufe.“ (ebd.) Die Einsetzung der Sakramente durch Christus bildet einen grundlegenden Aspekt von Luthers Sakramentsverständnis. Zum Sakrament gehört aber dem Reformator zufolge nicht nur die göttliche Einsetzung beziehungsweise die göttliche Verheißung der Sündenvergebung, sondern ebenso konstitutiv ein sichtbares Zeichen sowie der Glaube. In diesem Sinne hat Luther bereits in dem Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams von 1519 den Begriff des Sakraments bestimmt.

Luthers Umbildung des Sakramentsverständnisses

„Das heylige Sacrament des altars / vn(d) des heyligen waren leychna(m)s Christi / hat auch drey dingk. die ma(n) wissen muß. Das erst ist / das sacrament odder zeychen. Das ander / die bedeutung des selben sacraments / Das dritte / der glaub / der selben beyden / wie dan yn eynem yglichen sacrament / diße drey stuck seyn mußen. Das Sacrament muß eußerlich vnd sichtlich seyn / yn eyner leyplichen form odder gestalt. Die bedeutung / muß ynnerlich vnd geystlich seyn / yn dem geyst des menschen. Der glaub / muß die beyden zusamen zu nutz vnd yn den prauch bringen.“ ([7], Bd. 1, S. 272 = [1], Bd. 2, S. 742)

Das Sakrament umfasst für Luther drei Momente: 1. das Sakrament oder Zeichen, 2. die Bedeutung und 3. den Glauben. Letzterer verknüpft die beiden

Sakrament und Glaube

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6. Das Kirchenverständnis

Dimensionen des äußeren Zeichens und der inneren Bedeutung zu der Einheit eines Gesamtgeschehens, welches sich von dem Vollzug des Glaubens nicht lösen lässt. Hierin darf man die Pointe von Luthers Neubestimmung des Sakraments sehen. Es entsteht als ein solches allein in dem Ereignis des Glaubens und lässt sich, wie es im römischen Sakramentsverständnis der Fall ist, gerade nicht aus ihm herauslösen. Die methodische Grundlagenfunktion der theologia crucis bewährt sich auch bei seinem Sakramentsverständnis. Der Reformator konstruiert den Sakramentsbegriff entsprechend seinem Glaubensverständnis. Wie der Glaube allein durch das äußere Wort zustande kommt, so gehört auch zum Sakrament ein äußeres sinnliches Medium. Es repräsentiert gleichsam die göttliche Verheißung der Sündenvergebung und ist dem Glauben zugeordnet. „Ubi enim est verbum promittentis dei, ibi necessaria est fides acceptantis hominis, ut clarum sit, initium salutis nostrae esse fidem, quae pendeat in verbo promittentis dei, qui citra omne nostrum studium, gratuita et immerita misericordia nos praevenit, et offert promissionis suae verbum.“ ([8], Bd. 3, S. 218 = [1], Bd. 6, S. 514)

Promissio und fides

„Wo nämlich das Wort des verheißenden Gottes ist, da braucht es den Glauben eines Menschen, der die Verheißung annimmt. So dass klar hervortritt, dass der Anfang unserer Seligkeit der Glaube ist, der am Wort des verheißenden Gottes hängt, welcher uns ganz ohne unser Bemühen in frei gewährter und unverdienter Barmherzigkeit zuvorkommt und das Wort seiner Verheißung anbietet.“ ([8], Bd. 3, S. 219)

Die enge Verbindung und Verzahnung von promissio und fides, wie sie Luther seit der Hebräerbriefvorlesung von 1517/18 zunehmend herausgearbeitet hat, wird auch zur Grundlage seines Neuverständnisses der Sakramente. Sie sind in ihrem Kern und wahren Wesen Verheißungen, die allein dem Glauben zugeordnet sind. Nun gehen, wie er betont, die Verheißungen dem Glauben voran und sind ihm vorgeordnet. Allerdings belässt er es nicht bei einer einseitigen Vorordnung des Sakraments. Ohne den individuellen Glauben läuft nämlich das Sakrament beziehungsweise die Verheißung ins Leere. „Jeder kann doch leicht verstehen, dass dieses beides zugleich notwendig ist: die Verheißung und der Glaube. Ohne Verheißung nämlich kann man an nichts glauben. Ohne den Glauben aber ist die Verheißung nutzlos, denn durch ihn wird sie gekräftigt und erfüllt.“ ([8], Bd. 3, S. 225. 227 = [1], Bd. 6, S. 517) Ähnlich wie in der Lehre von der doppelten Klarheit der Schrift kommt auch die Verheißung, obwohl sie dem Glauben wie die äußere Klarheit der Schrift vorgeordnet ist, ohne den Glauben nicht zum Ziel. Ebenso sind auch in seinem Sakramentsverständnis Verheißung und Glaube zwar nicht der Genese, wohl aber der Konstitutionsfunktion nach gleichursprünglich. Ohne den Glauben ist das Sakrament ohne Nutzen. Das gilt für die beiden Sakramente, welche Luther als schriftgemäß anerkennt, nämlich Taufe und Abendmahl. Nur sie sind von Christus eingesetzt, d.h. dass jeweils ein sichtbares sinnliches Zeichen mit einer Verheißung verbunden durch die Schrift bezeugt ist [276].

6.3 Die Sakramente

a) Taufe Luther findet die neutestamentliche Einsetzung der Taufe in dem Taufbefehl Mt 28,19: „Drum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes.“ Diese Stelle verknüpft der Reformator mit Mk 16,16: „Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden.“ Der Kombination beider Stellen entnimmt er den Verheißungscharakter der Taufe und versteht sie als göttliche Zusage der Sündenvergebung. Die promissio ist verbunden mit dem sinnlichen Medium des Wassers. Im Katechismus sagt Luther, die Taufe „ist das wasser ynn Gottes gebot gefasset und mit Gottes wort verbunden“ ([1], Bd. 30, 1. Abt., S. 309 = [16], S. 515). Den übergeordneten Gesichtspunkt der Taufe bildet das göttliche Verheißungswort der Sündenvergebung. Es ist jedoch strikt dem Glauben zugeordnet: nur dem, der dem göttlichen Verheißungswort auch wirklich glaubt, ist die Taufe von Nutzen. „Man kann nämlich nicht glauben, wenn keine Verheißung da ist; und die Verheißung kann sich nicht halten, wenn sie nicht geglaubt wird. Erst wenn beide wechselseitig wirken, verschaffen sie den Sakramenten ihre wahre und ganz sichere Wirksamkeit.“ ([8], Bd. 3, S. 271 = [1], Bd. 6, S. 533; vgl. [1], Bd. 2, S. 733) Die Taufe steht, wie Luther geradezu selbstverständlich mit der Tradition annimmt, am Anfang des christlichen Lebens, aber durch ihre Zuordnung zu dem Glauben ist sie auf das gesamte Leben des Christen bezogen. Dieser Aspekt, der ihre Dauer in den Vordergrund rückt, resultiert aus der Bedeutung der Taufe. Schon in dem frühen Taufsermon von 1519 schreibt Luther: „Die bedeutung ist / eyn seliglich sterbenn der sund / vnd aufferstheung yn gnaden gottis / das der alt mensch / der yn sunden empfangen wirt vnd geporen / do erseufft wirt / vn(d) ein newer mensch erauß geht vnd auff steht / yn gnaden geporen.“ ([7], Bd. 1, S. 260 = [1], Bd. 2, S. 727) Ebenso versteht er in der Schrift über die babylonische Gefangenschaft der Kirche die Taufe als ein Sterben und Auferstehen mit Christus. Ein Verständnis der Taufe als Reinigung von den Sünden ist in seinen Augen viel zu schwach, um deren Gehalt angemessen zum Ausdruck zu bringen. „Quod ergo baptismo tribuitur a peccatis, vere quidem tribuitur, sed lentior et mollior est significatio, quam ut baptismum exprimat, qui potius mortis et resurrectionis symbolum est.“ ([8], Bd. 3, S. 272 = [1], Bd. 6, S. 534)

„Wenn also der Taufe die Sündenabwaschung zugeschrieben wird, so ist das zwar richtig, aber diese Bedeutung ist doch zu wenig treffsicher und zupackend, als dass sie den Sinn der Taufe recht ausdrücken könnte, die doch viel eher das Sinnbild für Tod und Auferstehung ist.“ ([8], Bd. 3, S. 273)

Sie bedeutet vielmehr das Sterben des Sünders und dessen Auferstehung. Dadurch gewinnt Luther die Möglichkeit, die Taufe als einen lebenslangen Prozess zu verstehen, in dem der innere Mensch den äußeren sich gleichgestaltet. Jener Prozess der geistlichen Taufe währt nicht nur das ganze Leben, also so lange, wie der Mensch in einem fleischlichen Körper lebt, sondern er kommt erst im letzten Gericht zur Vollendung ([1], Bd. 6, S. 534; Bd. 2,

Bedeutung der Taufe

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6. Das Kirchenverständnis

S. 728). Die geistliche Taufe realisiert sich im Leben des Glaubenden einerseits im Vertrauen auf die göttliche Zusage und anderseits in der Herrschaft des inneren Menschen über das Fleisch. Die Verheißung ist die übergeordnete Dimension des Sakraments der Taufe, und ihr entspricht allein der Glaube als Vollzug des Einzelnen. Die darin angelegte Hoffnungsdimension gehört konstitutiv zum Glauben hinzu und stellt eine Folge der theologia crucis dar. In sein Verständnis der Taufe hat Luther die Hoffnungsdimension derart aufgenommen, dass der dem Verheißungswort entsprechende Glaube gleichsam gegen den Augenschein bereits das Ganze des christlichen Heils im Gottesverhältnis darlegt. Durch ihre grundlegende Stellung ist die Taufe dem Bußsakrament übergeordnet, und deshalb versteht Luther die Buße als eine Rückkehr zur Taufe und ihrer unverbrüchlichen Verheißung. b) Abendmahl Genauso wie die Taufe bestimmt Luther auch das Sakrament des Abendmahls in der Relation von promissio und fides. Die biblische Einsetzung des Abendmahls in beiderlei Gestalt ist für den Wittenberger Reformator durch die Abendmahlsberichte in den vier Evangelien sowie durch das 11. Kapitel des 1. Korintherbriefs von Paulus belegt. In den Abendmahlsschriften der Jahre 1519 und 1520 liegt der Akzent bei Luther darauf, dass dieses Sakrament von Christus zur Sündenvergebung „für euch“ ([8], Bd. 3, S. 193 = [1], Bd. 6, S. 504) eingesetzt wurde und nicht, wie in der späteren Auseinandersetzung mit Karlstadt und Zwingli, auf dem wörtlichen Verständnis der Einsetzungsworte des Abendmahls: „Das ist mein Leib“. Auch das Sakrament des Abendmahls hat eine triadische Struktur, wobei freilich die Relation von promissio und fides den übergeordneten Rahmen bildet, wie Luther in der Schrift über die babylonische Gefangenschaft der Kirche hervorhebt. „Atque ut maior vis sita est in verbo quam signo, ita maior in testamento quam sacramento, Quia potest homo verbum seu testamentum habere et eo uti, absque signo seu sacramento. Crede, inquit Augustinus et manducasti, Sed cui creditur, nisi verbo promittentis? Ita possum quotidie, immo omni hora, Missam habere, dum quoties voluero, possum verba Christi mihi proponere, et fidem meam in illis alere et roborare. hoc est revera, spiritualiter manducare et bibere.“ ([8], Bd. 3, S. 228 = [1], Bd. 6, S. 518)

Bedeutung des Abendmahls

„Und wie dem Wort größere Kraft innewohnt als dem Zeichen, so wohnt dem Testament größere Kraft inne als dem Sakrament; denn es ist ja möglich, dass ein Mensch das Wort oder das Testament hat und Gebrauch davon macht ohne das Zeichen oder das Sakrament. ,Glaube‘, sagt Augustin, ,und du hast gegessen!‘ Aber worauf richtet sich denn der Glaube, wenn nicht auf das Wort dessen, der die Verheißung ausspricht? Und so kann ich jeden Tag, ja stündlich Messe feiern, indem ich mir, sooft ich möchte, die Worte Christi vor Augen führen und meinen Glauben durch sie nähren und stärken kann. Und das heißt in Wahrheit ,geistlich essen und trinken‘.“ ([8], Bd. 3, S. 229)

Obwohl Zeichen und Sakrament in der zitierten Stelle deutlich hinter das Wort zurücktreten, so ist doch auch das Verheißungswort stets durch das

6.3 Die Sakramente

sinnliche Medium des äußeren Lautes vermittelt. Das von Gott eingesetzte Zeichen oder Sakrament seiner Verheißung ist beim Abendmahl sein Leib und sein Blut in dem Brot und dem Wein ([1], Bd. 6, S. 517f.). Die Zeichen – Brot und Wein – sind jedoch nur in dem die Verheißung der Sündenvergebung ergreifenden Glauben Sakramente und lassen sich aus diesem Geschehenszusammenhang nicht herauslösen. Vor dem Hintergrund seines Verständnisses des Sakraments ist Luther zunächst nicht an der Frage interessiert, wie aus Brot und Wein Leib und Blut Christi werden können, und erklärt diese Frage für religiösen „Vorwitz“. „Ist es denn nötig, Gottes Wirkungsweisen gänzlich zu begreifen?“ ([8], Bd. 3, S. 209 = [1], Bd. 6, S. 510) Vielmehr soll beim Abendmahl der Sünder die ihm zugesagte göttliche Sündenvergebung im Glauben ergreifen. Das schließt freilich die Erkenntnis und Anerkenntnis des eigenen Sünderseins vor Gott ein. Als solcher soll der Mensch die ihm verheißene Sündenvergebung annehmen und darauf vertrauen. So ist der eigene Glaube auch beim Abendmahl die entscheidende Dimension, ohne die die unwandelbare göttliche Verheißung – obwohl sie dem Glauben des Einzelnen vorangeht – ins Leere läuft und nutzlos ist. In den 1520er Jahren kommt es zu einer Umformung seiner frühen Sakramentsanschauung, insbesondere des Abendmahls. Die leibliche Gestalt der Sakramente sowie ihr Gnadenmittelcharakter rücken nun in den Vordergrund. Die wichtigsten Texte zum Verständnis des Abendmahls hat Luther in seiner Auseinandersetzung mit den Schweitzer und Oberdeutschen Reformatoren verfasst.

Weiterbildung der Abendmahlsanschauung in den 1520er Jahren Wichtige Schriften

Vom Anbeten des Sakraments des heiligen Leichnams Christi (1523) ([1], Bd. 11, S. 431–456) * Wider die himmlischen Propheten von den Bildern und Sakrament (1524/25) ([1], Bd. 18, S. 62–125. 134–214) * Daß diese Worte ,das ist mein Leib etc.‘ noch fest stehen (1527) ([1], Bd. 23, S. 64–283) * Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis (1528) ([1], Bd. 26, S. 261–509) *

Luthers Verständnis des Abendmahls zielt auf die leibliche Realpräsenz Christi im Sakrament. „Ist das nu wahr und unwidersprechlich nach dem Glauben, daß die Gottheit in Christo auf Erden wesentlich, persönlich, selbs gegenwärtig ist an soviel Orten, und doch zugleich im Himmel bei dem Vater, so folget daraus, daß er zugleich allenthalben ist, und wesentlich, persönlich Himmel und Erde und alles erfülle mit seiner eigen Natur und Majestät.“ ([18], S. 34 = [1], Bd. 23, S. 138) Die Deutung der vollen leiblichen Gegenwart Christi im Abendmahl durch den Wittenberger Reformator unterscheidet sich sowohl von dem römisch-katholischen Messopferverständnis als auch von Zwingli. Luthers Abendmahlsauffassung stellt eine Konsequenz seiner Christologie dar. Der Lehre von der communicatio idiomatum zufolge hat die menschliche Natur Christi Anteil an der göttlichen. Das hat Konsequenzen für die Lehre vom Abendmahl: Christus ist in den Elementen real präsent. Auch die römisch-katholische Lehre behauptet die reale Gegenwart Christi in der Eucharistie. Sie kommt allerdings allein durch die Vermittlung eines geweihten Priesters zustande. Er wandelt die Elemente in Leib und Blut Christi. Luther hat der altgläubigen Auffassung vehement widersprochen und

Kritik an dem römischkatholischen Verständnis

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6. Das Kirchenverständnis

Kritik an Zwingli

darauf insistiert, dass es das Wort Christi allein sei, welches sich im Abendmahl vergegenwärtigt, und nicht der geweihte Priester, der die Elemente wandelt. Hieraus resultiert das Interesse des Wittenbergers an den Einsetzungsworten – „Das ist mein Leib“ und „Das ist mein Blut“. Sie zielen auf den Glauben des Einzelnen, in dem Christus Gestalt gewinnt. Während Luther mit dem römisch-katholischen Eucharistieverständnis an der Realpräsenz Christi festhält, ortet er in dem Abendmahlsverständnis Zwinglis eine Intellektualisierung und Spiritualisierung. Zwingli und die Oberdeutschen Reformatoren haben – mit Bezug auf die Auffassung des Wittenbergers bis 1520 – das Abendmahl als ein Erinnerungsmahl verstanden. Die Elemente – Brot und Wein – sind nicht Leib und Blut Christi, wohl aber bedeuten sie Letzteres. Hinter ihrer Lehre steht eine Christologie, welche göttliche und menschliche Natur in Christus trennt beziehungsweise die Unterschiede der beiden Naturen hervorhebt. Luther betont demgegenüber die Einheit der Person Jesu Christi. Seine Anschauung führt zu einer neuen Sprache des Glaubens, wenn von Christus die Rede ist (vgl. oben). Die Eigenschaften der menschlichen Natur sind von der göttlichen und die Eigenschaften der göttlichen Natur von der menschlichen auszusagen: Gott ist dieser Mensch, und dieser Mensch ist Gott. Im Abendmahlsverständnis zieht das die Konsequenz nach sich, vom auferstandenen Christus auch seine ganze Menschheit zu behaupten. Sie hat Anteil an dem göttlichen Prädikat der Allpräsenz. „Sie [sc. die Schwarmgeister] bekennen, daß Christus sei zur rechten Hand Gotts, und damit wollen sie gewonnen haben, daß er nicht sei im Abendmahl. […] Wohlan sehet und höret uns zu. Christus’ Leib ist zur Rechten Gotts, das ist bekannt. Die Rechte Gotts ist aber an allen Enden, […] so ist sie gewißlich auch im Brot und Wein über Tische. Wo nun die rechte Hand Gotts ist, da muß Christus Leib und Blut sein. Denn die rechte Hand Gotts ist nicht zerteilet in viel Stücke, sondern ein einiges einfältiges Wesen. […] Wo und was Gotts Rechte ist und heißt, da ist Christus des Menschen Sohn.“ ([18], S. 35 = [1], Bd. 23, S. 138)

Allgegenwart Christi

Die Allgegenwart Christi meint freilich ebenso wenig wie die Gottes einen gegenständlich fixierbaren Ort. Luther unterscheidet in seiner Abendmahlsschrift von 1528 im Anschluss an die spätmittelalterliche Diskussion drei Weisen, „an eim ort zu sein / Localiter odder circumscriptiue / Diffinitiue /Repletiue“ ([7], Bd. 4, S. 87f. = [1], Bd. 26, S. 327). Während die erste Art der Präsenz eine räumliche Anwesenheit eines Gegenstandes meint, zielt die zweite auf eine Gegenwart der Seele im Körper ([37], S. 247f.; [261]; [259], S. 77–79). Der Wittenberger hingegen versteht die Ubiquität des erhöhten menschlichen Leibes Christi repletive. „Zum dritten / ist ein ding an o(e)rten Repletiue / vbernatu(e)rlich / das ist / wenn etwas zugleich gantz vnd gar / an allen o(e)rten ist vnd alle o(e)rte fullet / vnd doch von keinem ort abgemessen vnd begriffen wird nach dem raum des orts / da es ist. Diese weise wird allein Gotte zu geeignet […]. Diese weise ist vber alle mas vber vnser vernunfft vnbegreifflich / vnd mus allein mit dem glauben ym wort behalten werden.“ ([7], Bd. 4, S. 89f. = [1], Bd. 26, S. 329) Das Insistieren auf der leiblichen Ge-

6.4 Geistliches und weltliches Regiment

genwart Christi im Abendmahl – in, mit und unter den Elementen Brot und Wein – stellt eine Konsequenz der lutherischen Christologie dar. Christologie und Glaubensgerechtigkeit stehen in einem engen Zusammenhang. Wie die Glaubensgerechtigkeit als eine Selbstvergegenwärtigung Christi im Glauben des Einzelnen verstanden werden muss, so auch das Abendmahl: in ihm vergegenwärtigt Christus sich selbst in den Elementen Brot und Wein. Luther bezieht nun die beiden Sakramente derart auf das christliche Leben, dass die Taufe dem Anfang und das Abendmahl dem Ende des Lebens zugeordnet wird. „Baptismus autem, quem toti vitae tribuimus. Recte pro omnibus sacramentis satis erit, quibus in vita uti debeamus. Panis autem vere morientium et excedentium sacramentum. Siquidem in eo transitum Christi ex hoc mondo memoramur, ut ipsum imitemur, et sic distribuamus haec duo sacramenta, ut baptismus initio et totius vitae cursui, panis autem termino et morti deputetur.“ ([8], Bd. 3, S. 372 = [1], Bd. 6, S. 572)

„Die Taufe aber, die wir dem ganzen Leben zueignen, wird mit gutem Recht alle Sakramente, die wir im Leben gebrauchen sollen, aufwiegen. Das Brot aber ist ernstlich das Sakrament für die Sterbenden und von der Welt Abschied Nehmenden; wir erinnern uns dabei ja an den Übergang und Abschied Christi aus dieser Welt, um ihm nachzufolgen. Und so sollten wir diese beiden Sakramente so aufteilen, dass die Taufe dem Beginn und dem ganzen Verlauf des Lebens, das Brot jedoch dem Lebensende und dem Tode zugeordnet wird.“ ([8], Bd. 3, S. 373)

Beide Sakramente verweisen nun aber noch dahingehend aufeinander, dass die Taufe ja nichts anderes als das Sterben des Fleisches bedeutet ([1], Bd. 2, S. 728). Insofern markieren beide Sakramente einen inneren Zusammenhang, der das ganze Leben des Christen umgreift. Denn die Bedeutung der Taufe kann nicht anders im Leben des Glaubenden realisiert werden, als dass er von dieser Welt abstirbt. Eben das nimmt Luthers Bestimmung des Abendmahls auf, wenn es dem Abschied von diesem Leben und damit der Vollendung der Taufe zugeordnet wird. Luthers Reformulierung des Sakramentsverständnisses auf der Folie der von ihm vorgenommenen Zuordnung von promissio und fides als ein Wechselverhältnis, in dem das Ganze des christlichen Heils im Gottesverhältnis beschlossen ist, besticht durch ihre eindrucksvolle systematische Geschlossenheit.

6.4 Geistliches und weltliches Regiment Infolge seines neuen, reformatorischen Verständnisses des Glaubens als eine Gabe Gottes hat Luther einen Kirchenbegriff ausgearbeitet, der vollständig mit dem mittelalterlichen Verständnis der Kirche bricht. Die methodische Grundlage von Luthers Kirchenbegriff und der für diesen signifikanten Unterscheidung von sichtbarer und verborgener Kirche bildet die theologia crucis. Die wahren Glaubenden leben in dieser Welt verborgen in Einheit mit Christus, der allein in ihren Herzen regiert. Zwar ist die

Zusammenhang von Taufe und Abendmahl

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6. Das Kirchenverständnis

Wichtige Texte

Politische Ethik der mittelalterlichen Kirche

wahre Kirche verborgen, aber zugleich ist sie auf die sichtbare Gemeinde bezogen, da der Glaube nur durch die Verkündigung des Evangeliums und die Austeilung der Sakramente zustande kommt. Die sichtbare Kirche existiert jedoch immer in der Welt samt ihren politischen Ordnungen und Strukturen. Die Zuordnung und Unterscheidung der Kirche vom weltlichen Regiment hat Luther in einer Reihe von Schriften thematisiert, deren wichtigste die Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation: Von des christlichen Standes Besserung aus dem Jahre 1520 sowie der drei Jahre später publizierte Traktat Von der weltlichen Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei ([1], Bd. 11, S. 245–280) darstellen. Zentrale Aspekte seiner Distinktion von Reich Christi und weltlicher Obrigkeit behandeln auch seine in der Schlosskirche zu Weimar am 24. und 25. Oktober 1522 gehaltenen Predigten ([1], Bd. 10, 3. Abt., S. 371–385; vgl. [1], Bd. 7, S. 36f.). Die in beiden Schriften ausgeführte Unterscheidung von zwei Regimenten oder Reichen hat man im 20. Jahrhundert Zwei-Reiche-Lehre genannt und in ihr einen Grundzug lutherischer Sozialethik erblickt ([260]; [265]; [277]; [258]; [264]). Der Begriff Zwei-Reiche-Lehre stammt von Karl Barth [254]. Um den Grundgedanken der genannten Unterscheidung soll es im Folgenden zum Abschluss der Darstellung von Luthers Kirchenverständnis gehen. Der Wittenberger Theologe hat selbst keine in sich geschlossene politische Ethik ausgearbeitet, wie der Titel Zwei-Reiche-Lehre nahe legt. Er hat sich ausschließlich zu konkreten Situationen geäußert und in diesem Rahmen Reflexionen zum Verhältnis seines innerlichkeitsbezogenen Kirchenverständnisses zu den politischen Strukturen vorgelegt. So reagiert der Reformator mit seiner Obrigkeitsschrift von 1523 auf einen konkreten Anlass, nämlich das von den bayerischen Herzögen und Kurfürst Joachim I. von Brandenburg (1484–1535) und Herzog Georg von Sachsen (1471–1539) am 7. November 1522 erlassene Verbot, seine Übersetzung des Neuen Testaments zu verkaufen und zu kaufen ([274], S. 233–245). Die Unterscheidung von zwei Reichen oder Regimentern geht auf Augustin zurück [268]. In seinem bekannten Werk De civitate Dei aus den Jahren 413–426 differenziert er zwischen einer civitas Dei und einer civitas terrena, dem Reich Gottes und dem Reich der Welt. Mit seinem Werk hat Augustin als erster Theologe das Verhältnis von Kirche und politischer Ordnung reflektiert und die Grundlage für die politische Ethik des Christentums gelegt. Dabei identifiziert er das Gottesreich mit der Kirche und hebt es von der politischen Herrschaft ab. Das politische Denken des Mittelalters hat die augustinische Unterscheidung weitergeführt und in zahllosen Kontroversen die durch das Papsttum repräsentierte civitas Dei dem Kaiser als dem Repräsentanten der civitas terrena übergeordnet ([274], S. 14–155). Luther knüpft an die Tradition der beiden Reiche an, wobei freilich unklar ist, wie weit dessen Kenntnis der politischen und ekklesiologischen Theorien des Mittelalters überhaupt reicht ([37], S. 337; [255], S. 179–188; [279]). Seine Unterscheidung der beiden Regimente stellt eine Konsequenz seines Verständnisses der Kirche dar und verbindet es mit dem Grundgedanken seiner Ethik, seinem Verständnis der guten Werke. Aus der durch die Stichworte ,sichtbare und verborgene Kirche‘ einerseits und ,gute Werke‘ andererseits angedeuteten Problemperspektive der politischen Ethik Luthers

6.4 Geistliches und weltliches Regiment

resultiert eine gegenüber Augustin und der mittelalterlichen Kirche völlig andersartige Zuordnung und Unterscheidung der beiden Reiche, die in einigen ihrer Bestandteile durchaus moderne Aspekte enthält – auch wenn sie beim ihm als solche freilich noch nicht zum Tragen kommen. Mit seiner Differenzierung der beiden Reiche bezieht sich Luther sowohl auf Aussagen der Bibel als auch auf Konsequenzen seines Glaubensverständnisses. Was zunächst die biblischen Stellen betrifft, so ist es vor allem Röm 13,1f.: „Eine jede Seele sei der Gewalt und Obrigkeit untertan; denn es ist keine Gewalt, die nicht von Gott wäre. Die Gewalt aber, die überall besteht, die ist von Gott verordnet. Wer nun der Gewalt widersteht, der widersteht Gottes Ordnung. Wer aber Gottes Ordnung widersteht, der wird für sich selbst die Verdammung erlangen.“ In der zitierten Stelle aus dem Römerbrief wird die politische Ordnung als eine gottgewollte herausgestellt. Den Gedanken einer göttlich gewollten Obrigkeit einschließlich der mit ihr verbundenen Zwangsund Durchsetzungsgewalt entnimmt Luther auch anderen Schriftstellen wie 2. Mose 21,14 und Mt 26,52. Daneben finden sich allerdings auch Aussagen in der Schrift, welche Gewalt und Gewaltanwendung untersagen. So steht in Mt 5,38f.: „Ihr habt gehört, dass den Alten gesagt ist: ,Ein Auge um ein Auge, einen Zahn um einen Zahn.‘ Ich aber sage euch, man soll keinem Übel widerstehen, sondern so dich jemand auf den rechten Backen streicht, dem halte auch den andern dar; und wer mit dir rechten will, dass er dir den Rock nehme, dem laß auch den Mantel dazu; und wer dich eine Meile zu gehen zwingt, mit dem gehe zwei Meilen.“ Andere Stellen, auf die Luther regelmäßig hinweist, in denen eine strikte Gewaltlosigkeit oder der Ausschluss jeglicher Gewalt ausgesagt wird, sind Röm 12,19; Mt 5,44 und 1. Petr 3,9. Die angeführten sich widersprechenden Schriftaussagen werfen die Frage auf, wie sie in einen Zusammenhang gebracht werden können. Wie verhält sich die göttlich legitimierte Gewaltanwendung zu der doch ebenso göttlichen Forderung der strikten Gewaltlosigkeit? Die theologische Tradition hat dieses Problem bis in das hohe Mittelalter so gelöst, dass sie die christlichen Sittlichkeitsgebote in ,praecepta‘ und ,consilia‘ unterschied [275]. Während die praecepta für die große Masse der Christen gelten und eine gewissermaßen ermäßigte Ethik enthielten, galten die verschärften evangelischen Räte (consilia) nur für den besonderen Stand der Vollkommenen, also der Mönche und Nonnen. Sie realisieren stellvertretend für die Menge der Kirchenmitglieder die strengen Anforderungen der Bergpredigt und leben eine strikte Gewaltlosigkeit. Luther kann die sich widersprechenden Schriftaussagen zur Gewalt nicht wie die mittelalterliche Sittlichkeit durch eine bloße Verteilung auf unterschiedliche Stände auflösen. Das ist durch sein Glaubensverständnis, welches keinen besonderen Stand mehr kennt, ausgeschlossen ([1], Bd. 10, 3. Abt., S. 377). Der wahre Glaube und damit die Vollkommenheit liegen im Inneren des Menschen, nämlich allein in der Erkenntnis des Herzens, und nicht in äußerlichen Ständen ([1], Bd. 11, S. 249). Andernfalls wäre der Glaube von den Werken abhängig gemacht. Folglich müssen die Worte Christi für jedermann und allgemein gelten, und zwar sowohl die, die von der göttlichen Legitimität der Gewalt als auch die, die von dem gewaltlosen Ertragen des Leidens und der Gewalt reden.

Biblische Aussagen zu den beiden Regimentern

Luthers Zuordnung der Schriftaussagen

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6. Das Kirchenverständnis

Wie ordnet Luther die sich widersprechenden Haltungen der Schrift zur Obrigkeit und ihrer Gewaltausübung einander zu, und was versteht er unter den beiden Regimentern? In seiner Obrigkeitsschrift erklärt er: „Darumb muß man diese beyde regime(n)t mit vleyß scheyden vn(d) beydes bleybe(n) lassen / Eyns das frum macht / Das ander das eußerlich frid schaffe vnd bo(e)sen wercken weret / keyns is on das ander gnu(o)g yn(n) der wellt / Denn on Christus geystlich regiment / kann niemant frum werde(n) fur got / durchs welltlich regiment / So gehet Christus regiment nicht vber alle menschen / sondern allezeyt ist der Christen am wenigsten vnd sind mitten vnter den vnchristen.“ ([7], Bd. 3, S. 41 = [1], Bd. 11, S. 252) Reich Christi

Weltliches Regiment

Der Reformator unterscheidet zwei Regimenter: ein geistliches und ein weltliches. Das Reich Christi bezieht sich ausschließlich auf die wahren Christen, die mit der verborgenen Kirche identisch sind. Hier herrscht Christus allein, und sein Regiment ist strikt auf die Innerlichkeitsdimension des Glaubens bezogen. Der Christ ist aber nicht nur innerer Mensch, sondern in diesem Leben immer auch äußerer Mensch und lebt in den Ordnungen der Welt. Dieser Dimension ordnet Luther das weltliche Regiment zu. Soweit stellt die Unterscheidung und Zuordnung der beiden Regimenter eine Konsequenz seines Glaubensverständnisses sowie der mit diesem verbundenen Unterscheidung von innerem und äußerem Menschen beziehungsweise in der ekklesiologischen Dimension von verborgener und sichtbarer Kirche dar. Christus regiert im Herzen der Gläubigen, und die Innerlichkeit des Glaubens ist nachdrücklich von der Sphäre des Äußeren – der des Handelns – unterschieden. Allerdings kann es bei der Unterscheidung und also beim Nebeneinander der beiden Größen des geistlichen und des weltlichen Reichs nicht sein Bewenden haben, da der Christ, wie Luther ja zugleich betont, nicht nur innerer Mensch ist, sondern immer in einem Leib und in Sozialbeziehungen lebt. Wäre der Mensch nur innerer Mensch, oder wären alle Menschen Christen, dann würde es freilich der weltlichen Herrschaft und der Schwertgewalt, welche das Recht durchsetzt, nicht bedürfen. Das ist jedoch nicht der Fall, und der Christen sind wenige auf dieser Welt. Sie leben, wie der Wittenberger in der Obrigkeitsschrift sagt, „fern von eynander“ ([7], Bd. 3, S. 40 = [1], Bd. 11, S. 251f.). Beide Reiche muss es Luther zufolge deshalb geben, weil nur die allerwenigsten wahre Christen sind. Das weltliche Regiment und die Schwertgewalt beziehen sich allein auf die Bösen und die Übeltäter, und sie machen stets die Mehrheit aus. Sie müssen durch das äußere Recht und die Schwertgewalt im Zaum gehalten werden. Die Christen hingegen bedürfen weder der Schwertgewalt noch des Rechts. „Darumb ists vnmu(e)glich / das vnter den Christen sollte welltlich schwerd vn(d) recht zu(o) schaffen finden / Syntemal sie viel mehr thun von yhn selbs / denn alle recht vnnd lere foddern mu(e)gen / Gleych wie Paulus sagt 1. Timo 1. Dem gerechte(n) ist keyn gesetz geben / sondern den vngerechten.“ ([7], Bd. 3, S. 38 = [1], Bd. 11, S. 250) Wie Luther schreibt, folgen aus dem Glauben der Christen unmittelbar nur gute Werke. Sie sind wie der gute Baum, der keiner Aufforderung oder Androhung rechtlicher Sanktionen bedarf. Der wahre Christ nimmt aber

6.4 Geistliches und weltliches Regiment

auch alles Unrecht und alles Leiden hin. Leiden, Anfechtung und Verfolgung sind für den Reformator geradezu die paradigmatischen Bedingungen, unter denen der Christ in der Welt lebt. Dieser Gedanke findet sich durchgängig in seiner Beschreibung des christlichen Lebens. So schreibt er in dem frühen Sermon über die zweifache Gerechtigkeit aus dem Jahre 1519, in dem er am Ende auf die Unterscheidung von weltlicher Gewalt und Christenstand zu sprechen kommt: „Alii sunt qui non cupiunt vindictam, immo parati sunt (secundum Euangelium) Tollenti pallium et tunicam dare, et non resistunt ulli malo. Hii sunt filii dei, fratres Christi, haeredes futurorum bonorum.“ ([8], Bd. 2, S. 82 = [1], Bd. 2, S. 151)

„Die anderen sind, die keine Rache begehren, die vielmehr bereit sind, (dem Evangelium gemäß) dem, der den Rock nimmt, auch noch den Mantel zu geben, und sie widerstehen keinem Übel. Das sind die Kinder Gottes, Brüder Christi, die Erben der zukünftigen Güter.“ ([8], Bd. 2, S. 83)

Die wahren Christen, die die wenigsten sind, leben ihre durch Christus erworbene königliche Freiheit so, und nur so, dass sie sich in selbstloser Liebe an den Nächsten hingeben, und zwar ausschließlich ihm zu Dienste und zu Nutze. Genau hier liegt nun der systematische Anknüpfungspunkt für Luther, an dem er geistliches und weltliches Regiment miteinander verzahnt. Für sich selbst soll der Christ alles Unrecht erdulden, und er braucht auch weder das Recht noch die weltliche Gewalt. Aber für seinen Nächsten ist er verantwortlich, und zum Nutzen und Dienst am Nächsten soll auch der Christ zum Schwert greifen und notfalls als Henker tätig sein. Für sich selbst bedarf er dessen freilich nicht, sondern ausschließlich als Liebesdienst am Nächsten. „Da ist das ander stu(e)ck / d(aß) du dem schwerd zu(o) dienen schuldig bist / vn(d) fodern sollt / wo mit du kanst / es sey mit leyb /gu(o)t / ehre / vn(d) seele / Den(n) es ist eyn werck / des du nichts bedarffest / aber gantz nutz vn(d) nott aller wellt vn(d) deynem nehisten. Darumb wenn du sehest / das am henger / bo(e)ttell / richter / herrn / oder fursten mangellt / vn(d) du dich geschickt fundest / solltistu dich datzu erbieten vnd darumb werben / auff das iah die no(e)ttige gewallt nicht veracht vnd matt wu(e)rde oder vntergienge. Denn die wellt kann vnnd mag yhr nicht geratten.“ ([7], Bd. 3, S. 43f. = [1], Bd. 11, S. 254f.)

Luthers Gedanke folgt konsequent aus seinem Glaubensverständnis und der mit ihm verbundenen Unterscheidung von innerem und äußerem Menschen. Die Welt kann nicht mit dem Evangelium regiert werden, und zwar deshalb nicht, weil es sich allein auf die Innendimension des Glaubens bezieht. Da der Glaube nur individuell zustande kommt, so kann er nicht allgemein sein. Deshalb ist die weltliche Gewalt notwendig, welche die Ordnung aufrecht erhält, die Übeltaten der Bösen eindämmt und die Verkündigung der Kirche ermöglicht. An der Ordnung der Welt und ihrer Gestaltung mitzuwirken, ist auch der Christ, der immer in Sozialverhältnissen lebt, zwar nicht um seiner selbst willen, wohl aber um seines Nächsten willen, verpflichtet. Andernfalls würden sich die Menschen in einem gleichsam Hobbe’schen Krieg aller gegen alle vernichten und einer den an-

Glaubensverständnis und die beiden Reiche

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6. Das Kirchenverständnis

deren „fressen“ ([1], Bd. 10, 3. Abt., S. 381). Die Notwendigkeit des Staates und seiner Jurisdiktionsgewalt wird von Luther als Folge des Sündenfalls verstanden ([1], Bd. 11, S. 250). Um die Sünde und ihre boshaften Folgen äußerlich einzudämmen, ist die Obrigkeit in dieser Welt notwendig und von Gott eingesetzt, so dass auch die Schwertgewalt göttlich legitimiert ist. Die politische Ordnung bezieht sich freilich allein auf das äußere Zusammenleben der Menschen. Und hierin darf nun die entscheidende Pointe von Luthers Unterscheidung der beiden Reiche erblickt werden, die geradezu moderne Konsequenzen enthält. Der Christ lebt immer in beiden Reichen. Das Verbindungsglied zwischen ihnen liegt in der notwendigen Leibgebundenheit des Christen und in der christlichen Liebespflicht gegenüber seinem Nächsten. Die dienstbare Knechtschaft gegenüber dem Nächsten, die den Christen womöglich zur Übernahme und Durchführung der Schwertgewalt verpflichtet, gehört allein in die Realisierungsdimension des Glaubens und hat keinen Einfluss auf das Gottesverhältnis. Die Unterscheidung der beiden Reiche resultiert aus der Grunddistinktion von göttlichem und menschlichem Handeln. Das Handeln des Staates und die weltliche Gewalt, so notwendig sie zur Aufrechterhaltung der äußeren Ordnung sind, sind ausschließlich auf die Außendimension bezogen. „Das welltlich regiment hatt gesetz / die sich nicht weytter strecken / denn vber leyb vnd gu(o)tt / vnd was eußerlich ist auff erden. Denn vber die seele kan vnd will Gott niemant lassen regirn / denn sich selbs alleyne. Darumb wo welltlich gewallt sich vermisset / der seelen gesetz zu(o) geben / do greyfft sie Gott ynn seyn regiment / vnd verfuret vn(d) verderbet nur die seelen.“ ([7], Bd. 3, S. 51f. = [1], Bd. 11, S. 262)

Die Dimension der Innerlichkeit – das Gewissen des Menschen – ist der staatlichen Gewalt entzogen. Hier regiert Gott allein. Wo sich die weltliche Gewalt anmaßt, über die Gewissen zu regieren, da maßt sie sich verwerflicher Weise die Stelle Gottes an, die ihr nicht zusteht. Umgekehrt kann freilich auch die Welt nicht durch das geistliche Regiment regiert werden. Es bezieht sich auf die Innendimension des Glaubens. Damit ist in der politischen Ethik, wie sie Luther skizziert, auf der einen Seite der Gewissenfreiheit ihr grundsätzliches Recht eingeräumt und auf der anderen Seite jeder Form von Theokratie und Gesinnungsterror der Riegel vorgeschoben.

7. Die Eschatologie Die Gedanken an Tod und letztes Gericht spielen eine zentrale Rolle im Denken Martin Luthers. Bereits sein Eintritt ins Kloster im Jahre 1505 war durch den Gedanken des letzten Gerichts und die Frage, wie er in ihm bestehen könne, motiviert. Und wenn man Luthers theologia crucis in den Blick nimmt, dann zeigt sich der Hoffnungsaspekt als geradezu konstitutiv für dessen gesamte Theologie. Es verwundert dann auch nicht, wenn aufgrund der Verschränkung von fides und promissio die Hoffnung die wesentliche Dimension seines Glaubensbegriffs repräsentiert. Die Eschatologie stellt damit alles andere als ein Randthema im Werk Luthers dar, sondern sie bildet einen grundlegenden Bestandteil seines theologischen Denkens insgesamt ([284]; [26], S. 339–354; [285], S. 260–285; [37], S. 345–356; [292]). Blickt man in seine Schriften und seine Ausführungen zu dem Thema der letzten Dinge, so muss man zweierlei allerdings festhalten: Zum einen findet sich im Gesamtwerk des Reformators keine ausgeführte Eschatologie. Der Begriff wurde auch erst im 17. Jahrhundert im Anschluss an Sirach 7,36 („in omnia operibus tuis memorare novissimis tua et in aeternum non peccabis“) geprägt als Zusammenfassung der theologisch-dogmatischen Behandlung der letzten Dinge: Tod des Menschen, Auferstehung, letztes Gericht, endgültige Vorsehung. Luther kommt in den unterschiedlichsten Zusammenhängen auf eschatologische Gedanken und die christliche Hoffnung zu sprechen. Hieraus resultieren verschiedene Anmerkungen zum Ende aller Dinge und zum endgültigen Schicksal des Menschen. Zum anderen hat er die ihm überkommenen Lehraussagen zur Eschatologie übernommen. So schreibt er in seinem der Schrift Vom Abendmahl Christi angefügten Bekenntnis von 1528: „Am letzten gleube ich die aufferstehung aller todten am Iu(e)nsten tage / beyde der frumen vnd bo(e)sen / das ein iglicher daselbs empfahe an seinem leibe / wie ers verdienet hat / Vnd also die frumen ewiglich leben mit Christo / vnd die bo(e)sen ewiglich sterben mit dem teuffel vnd seinen engeln / Denn ichs nicht halte mit denen / so da leren / das die teuffel auch werden endlich zur seligkeit komen.“ ([7], Bd. 4, S. 256 = [1], Bd. 26, S. 509; [185])

Luther nimmt in seinem Bekenntnis die überlieferten eschatologischen Aussagen auf, nämlich die Auferstehung der Toten am Jüngsten Tag, das Gericht mit seinem doppelten Ausgang (ewiges Leben und ewige Verdammnis) sowie die Ablehnung der Lehre von der Apokatastasis panton, der Wiederbringung aller. In dieser Form hat er die Inhalte der christlichen Hoffnung sowohl der Schrift als auch der theologischen Lehrtradition entnommen. Die christliche Hoffnung bezieht sich auf eine Zukunft und hat bestimmte Inhalte. Zwar läuft in seinen Schriften der realistisch-objektive Rahmen der überlieferten Vorstellung vom Ende aller Dinge durchgängig mit, aber im Zentrum werden die apokalyptischen Bilder als Bestandteile des christlichen Selbstverständnisses umgeformt, so dass der Wittenberger Reformator die sich in

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7. Die Eschatologie

der Dialektik von Gesetz und Evangelium vollziehende Heilserfahrung schon als das ewige Leben verstehen kann. Zunächst ist unter dem Titel Tod und jüngstes Gericht auf die individuelle Eschatologie einzugehen, also auf das ewige Schicksal des Einzelnen, und im Anschluss daran auf die universale Eschatologie. In der Geschichte des Luthertums stand die individuelle Eschatologie stärker im Blickpunkt des Interesses als die universale.

7.1 Tod und jüngstes Gericht Tod und letztes Gericht spielen als Hintergrund und Grundlage in Luthers Theologie eine entscheidende Rolle. Damit knüpft er an den mittelalterlichen Vorstellungshorizont vom letzten Gericht an. Generell geht es um die Frage, wie der Mensch in ihm vor Gott bestehen könne. Luthers Antwort, die ihm in seiner theologischen Entwicklung immer stärker deutlich wurde, lautet: nicht durch sein Handeln, sondern allein durch den Glauben an Gottes Verheißungswort. Infolge seines neuen Verständnisses des Glaubens formte sich ihm auch die ihm überkommene Lehre von der individuellen Eschatologie um. Luther rekonstruiert sie entsprechend der Struktur seines Glaubensverständnisses. „Wie der Christ im Glauben zugleich in sich und außerhalb seiner selbst in Christus ist und auf genau diese Weise selbst der Ort der Gegenwart Christi ist, so ist er in der Hoffnung zugleich in der Gegenwart und in der Zukunft und ist dabei selbst der Ort der Gegenwart der Zukunft.“ ([292], S. 440) Der Christ lebt als innerer Mensch durch Christus in Gott und als äußerer Mensch in dieser Welt. Dieser Grundstruktur – die eine Konsequenz seiner theologia crucis darstellt – folgen sowohl seine Individual- als auch seine Universaleschatologie. Luther fokussiert die christliche Hoffnung auf den Einzelnen und seinen unvertretbaren Glauben. Prägnant schreibt er gleich zu Beginn der ersten Invokavit-Predigt von 1522: „WJr seindt allsampt zu(o) dem tod gefodert / vnd wirt keyner für den andern sterben. Sonder ein yglicher in eygner person für sich mit dem todt kempffen. In die oren künden wir woll schreyen. Aber ein yglicher mu(o)ß für sich selber geschickt sein in d(er) zeyt des todts / ich würd denn nit bey dir sein / noch du bey mir. Hiejin(n) so muß ein yederman selber die hauptstück so einen Christen belange(n) / wol wissen vnd gerüst sein“ ([7], Bd. 2, S. 530 = [1], Bd. 10, 3. Abt., S. 1f.; vgl. [1], Bd. 10, 2. Abt., S. 23). Tod des Menschen

Den Tod des Menschen versteht der Reformator mit der Lehrtradition als eine Scheidung von Leib und unsterblicher Seele ([1], Bd. 10, 3. Abt., S. 76; vgl. [37], S. 347; [283]). Im Tod des Menschen zerfällt das sündhafte Fleisch. In ihm kommt deshalb die Bedeutung des Sakraments der Taufe zum Ziel. Folglich soll der Christ den Tod in der Hoffnung hinnehmen, endgültig von der Sünde befreit zu werden. Für den Glaubenden ist er keine Strafe mehr. „Also der todt der vorhyn ain straff der sünd was, der ist yetzund ain artzeney der sünd. Also hie ist er gebenedeyt, das geschicht nu, wenn wir willig sterben.“ ([1], Bd. 10, 3. Abt., S. 76; vgl. [282], S. 11–22) Den Tod selbst be-

7.1 Tod und jüngstes Gericht

schreibt der Reformator als einen Schlaf. Die Glaubenden schlafen nach ihrem Tod im „schoß Abraham[s]“ ([1], Bd. 10, 3. Abt., S. 191), wie Luther das Wort Gottes metaphorisch umschreibt, wo ihre Seelen bis zum jüngsten Tag „ynn Christus schoß gefasset und bewahret werden“ ([1], Bd. 10, 3. Abt., S. 192). Die Bösen wiederum sind nach ihrem Tod nicht im Wort Gottes aufbewahrt. Ihre Leiber sind wie die der Gläubigen in der Erde begraben, aber ihr Zustand unterscheidet sich von den Letzteren, wie Luther in seiner Predigt über Lk 16,19 vom 22. Juni 1522 am Beispiel des reichen Mannes ausführt. „Denn des reychen leychnam ist on zweyffel nicht ynn die helle, ßondern ynn die erden begraben. Es muß aber eyn ortt seyn, da die seele seyn kann unnd keyne ruge hatt, der selbe kan nicht leyplich seyn. Darumb achten wyr, dieße helle sey das böße gewissen, das on glawbe und Gottis wort ist, ynn wilchem die seele vergraben ist unnd verfasset biß an iungsten tag, da der mensch mit leyb und seele ynn die rechte leypliche helle verstossen wirtt.“ ([1], Bd. 10, 3. Abt., S. 192)

Die Scheidung vom Wort Gottes sind das böse Gewissen und die Hölle ([1], Bd. 10, 3. Abt., S. 193). Bereits in den Ablassthesen hatte Luther die überlieferten Vorstellungen von Fegefeuer, Hölle und Himmel auf das Gewissen des Menschen bezogen. Auch in den Resolutionen zu den Ablassthesen verzahnte er die überlieferten Jenseitsvorstellungen mit seinem Verständnis des Gewissens. „Viertens: zum mindestens die Strafe des Todes steht allen bevor wie auch die Angst vor dem Tode. Sie ist gewiß die Strafe über alle Strafen und für die meisten schwerer selbst als der Tod – ganz zu schweigen von der Furcht vor dem Jüngsten Gericht und der Hölle, von der Gewissensangst usw.“ ([10], Bd. 2, S. 33 = [1], Bd. 1, S. 534) Hölle, Fegefeuer und Himmel entsprechen dem verzweifelten Gewissen, der sich annähernden Verzweiflung und dem fröhlichen Gewissen ([1], Bd. 1, S. 243 These 16). Luther versteht das Gewissen als den Ort des Jüngsten Gerichts, der Hölle und des ewigen Lebens. Mit dieser Reformulierung der ihm überkommenen eschatologischen Aussagen geht der Wittenberger Theologe weit über die Tradition hinaus und versteht die apokalyptisch-eschatologischen Darlegungen als Beschreibungsformen des Gewissens des Einzelnen in einer Totalitäts- und Unbedingtheitsdimension ([135], S. 135–142; [292], S. 436). Die mittelalterliche Vorstellung vom Fegefeuer hatte der Reformator zunächst noch beibehalten. Er kritisierte allerdings die gängige Praxis der Seelenmessen und Ablässe für die Verstorbenen und erachtete das purgatorium aufgrund fehlender Schriftbelege nicht für einen Glaubensartikel ([1], Bd. 7, S. 149. 451. 453). Später jedoch, in der polemischen Schrift Widerruf vom Fegfeuer ([1], Bd. 30, 2. Abt., S. 367–390) aus dem Jahre 1530 und in den Schmalkaldischen Artikeln von 1536/38, verwirft er die Annahme eines Fegefeuers als Teufelsgespenst und Abgötterei. „Drumb ist Fegfeuer mit allem Gepränge, Gottesdienst und Gewerbe fur ein lauter Teufelsgespenst zu achten; denn es ist auch wider den Häuptartikel, daß allein Christus und nicht Menschenwerk den Seelen helfen soll, ohn daß sonst auch uns nichts von den Toten befohlen noch gepoten ist.“ „Zuletzt rumpelt er [sc. der Papst] auch ins Fegfeuer unter die Toten, erstlich mit Messen- und Vigilienstiften, [zuletzt und] darnach mit dem Ablaß [mit Bullen] und dem

Gewissen, Himmel und Hölle

Kritik an der Fegefeuervorstellung

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7. Die Eschatologie

Gewissen und letztes Gericht

Guldenjahr, und wurden endlich die Seelen so wohlfeil, daß er eine umb ein Schwertgroschen losgab.“ ([16], S. 420. 443) Wenn der Glaube bereits das Ganze des christlichen Heils darstellt und dieses allein in dem Geschehen der Lebensbuße zustande kommt, dann kann die Vorstellung von einem postmortalen Straf- beziehungsweise Läuterungsort, an dem bisher ungesühnte Bußleistungen für lässliche Sündenstrafen abgegolten werden, nur noch eine widersprüchliche Vorstellung sein. Der wahre Glaubende flieht nicht vor der Strafe, die von Gott kommt. Er nimmt sie dankbar hin. „Wahre Reue sucht und liebt die Strafen; der Reichtum der Ablässe aber befreit von ihnen und führt dazu, die Strafen – zumindest bei Gelegenheit – zu hassen.“ ([8], Bd. 2, S. 7 = [1], Bd. 1, S. 235 These 40; vgl. [1], Bd. 1, S. 238 These 94) Wenn aber der Glaubende die Strafe Gottes sucht, so kann er unmöglich wollen, sie werde ihm im purgatorium irgendwie abgekürzt oder erleichtert ([288], S. 166f.). Auch wenn Luther den überkommenen Rahmen der Eschatologie beibehält, so liegt doch der Akzent auf einem Verständnis der individual-eschatologischen Aussagen als Selbstbeurteilungsformen des frommen Subjekts. Seine Deutung des letzten Gerichts folgt ganz seiner innerlichkeitsbezogenen Reformulierung der eschatologischen Gehalte. Eine klassische Deutung des jüngsten Gerichts findet sich in der Römerbriefvorlesung. Bei seiner Erläuterung von Röm 2,15 („Als die das beweisen, des Gesetzes Werk sei geschrieben in ihren Herzen“) kommt er auf die überlieferten Vorstellungen zu sprechen. Hier schreibt er: „Ideo et Deus secundum easdem omnes Iudicabit et reuelabit intima nostra, ita vt introrsum et intimius fugiendi non sit locus. Sed necessario nuda erunt omnibus et aperta, Vt si diceret Deus: Ecce ego te non Iudico, Sed tuo de te Iudicio assentior et confirmo, cum aliter tuipse de te non possis Iudicare, ideo neque ego. Ergo tuis testibus cogitationibus et conscientia dignus es Vel celo vel inferno.“ ([1], Bd. 56, S. 203f.)

„So wird auch Gott alle Menschen nach diesen ihren innersten Gedanken richten, wird unser Innerstes enthüllen, so, dass es keine Möglichkeit mehr gibt, sich nach innen in noch geheimere Schlupfwinkel zu flüchten; sondern es wird unausweichlich vor aller Augen entblößt und offen daliegen, wie wenn Gott sagen wollte: Siehe, ich richte dich nicht, sondern ich stimme nur deinem Urteil über dich selber zu und bekräftige es. Weil du anders über dich selbst nicht urteilen kannst, darum kann’s auch ich nicht tun. Also verdienst du nach dem Zeugnis deiner eigenen Gedanken und deines Gewissens entweder den Himmel oder die Hölle.“ ([14], Bd. 1, S. 115)

Der Gedanke des letzten Gerichts wird, wie die zitierte Stelle unterstreicht, aller Äußerlichkeit, wie sie in der mittelalterlichen Frömmigkeit ihren Ausdruck fand, entkleidet und strikt auf die Innendimension des Gewissens bezogen [232]. Das letzte Gericht symbolisiert für Luther die vollständige Selbsterkenntnis des Menschen, und Gottes Urteil über den Einzelnen ist im Grund nichts anderes als seine Zustimmung zu dem, was jeder Mensch selbst erkennt, wenn die innersten Beweggründe seines Handelns ihm offen zutage liegen.

7.2 Das Ende aller Dinge

7.2 Das Ende aller Dinge Nicht nur der Einzelne geht dem Ende entgegen, sondern auch die gesamte Welt ([35], S. 132–149); [293], S. 166–215). Gott wird sie „zustoren“ ([6], Bd. 7, S. 307 = [1], Bd. 36, S. 571). Apokalyptische Endzeitdeutungen durchziehen das ganze Werk Luthers, auch wenn deren Stellenwert für sein Selbstverständnis in der Forschung umstritten ist. Unzweifelhaft ist, dass er immer wieder die überlieferte Figur der nahenden Endzeit zur Gegenwartsdeutung herangezogen hat ([282], S. 30). Das jüngste Gericht steht unmittelbar bevor ([1], Bd. 36, S. 304; vgl. [293], S. 157–159; [287], S. 178). In der Entstehung des Glaubens in der Dialektik von Gesetz und Evangelium ereignet es sich schon in diesem Leben, aber vollständig wird die Sünde erst am jüngsten Tag vertilgt ([1], Bd. 2, S. 749; Bd. 7, S. 30). „Hoc regnum, quod iam absconditum, ist eben, quod postea erit“ (Dieses Reich, das schon verborgen da ist, ist dasselbe, welches hernach sein wird) ([6], Bd. 7, S. 306 = [1], Bd. 36, S. 569; vgl. [282], S. 14–17). Die wahre Kirche ist in der Welt verborgen und dem Leiden sowie der Anfechtung ausgesetzt. Dem zum Gericht wiederkehrenden Christus geht nach dem 2. Thessalonicherbrief (2. Thess 2,3f.) die Herrschaft des Antichristen voran. Seine Merkmale bestehen in der Erhebung über Gott und sein Wort ([1], Bd. 18, S. 685; vgl. [174], S. 279–281), die auf dessen Ersetzung durch menschliche Lehren und Satzungen zielt. Seit 1519 erblickte der Reformator den genannten Grundzug des Antichristen im römischen Papsttum ([1], Bd. 2, S. 429f.). Es setze – so der immer wiederkehrende Tenor seiner Aussagen – aus purem Machtinteresse menschliche Lehren an die Stelle des Wortes Gottes und maße sich verwerflicher Weise an, die einzig legitime Instanz der rechten Schriftauslegung zu sein. „Dies Stuck zeigt gewaltiglich, daß er [sc. der Papst] der rechte Endechrist oder Widerchrist sei, der sich uber und wider Christum gesetzt und erhohet, weil er will die Christen nicht lassen selig sein ohn seine Gewalt, welche doch nichts ist, von Gott nicht geordent noch geboten. Das heißt eigentlich, ,uber Gott und wider Gott sich setzen‘, wie S. Paulus sagt. [Nein] Solchs tut dennoch der Turke noch Tatter nicht, wie große Feinde sie der Christen sind, sondern lassen gläuben an Christum, wer da will, und nehmen leiblichen Zins und Gehorsam von den Christen.“ ([16], S. 430f.; vgl. [1], Bd. 53, S. 394)

Der Reformator identifizierte allerdings nicht nur das römische Papsttum mit dem der Wiederkunft Christi vorangehenden Antichristen, sondern mitunter auch die seit den 1520er Jahren in Richtung Wien vorrückenden Türken. „Der Papst ist der Geist des Antichrist, und der Türke ist das Fleisch des Antichrist. Sie helfen einander [beim] Töten, dieser leiblich mit dem Schwert, jener durch die Leute und geistlich.“ ([2], [6], Bd. 8, S. 43 = Bd. 1, S. 135 [Nr. 330]; vgl. [290]; [289]) Luther kann freilich auch in den Türken das Strafgericht Gottes erblicken und sich gegen einen Kreuzzug gegen sie wenden, so in seiner Schrift Vermahnung zum Gebet wider die Türken ([1], Bd. 51, S. 585–625). Wenn mit der akuter werdenden Bedrohung des christlichen Abendlandes durch die Türken wirklich das Ende der Welt naht, dann macht ein Krieg gegen sie nur wenig Sinn. Mit dem Ende der Welt kommt

Papsttum und Antichrist

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7. Die Eschatologie

Ende der Welt

auch das des osmanischen Reichs. Wiewohl der Wittenberger Theologe davon überzeugt war, dass diese Welt – ebenso wie das Fleisch des Menschen – vergehen muss, so hat er sich stets dagegen gewandt, den Zeitpunkt des Endes der Welt zu bestimmen. Wäre damit doch die Perspektive religiöser Selbstbeurteilung verlassen. Vielmehr soll der Christ gerade auch angesichts seiner Leiden in dieser Welt darauf vertrauen, dass Gottes fremdes Werk zu seinem eigentlichen Werk hinführen wird. „Die tausend jar mue ssen anfahen, da dis Buch [sc. die Offenbarung Johannes] ist gemacht, denn der Tue rck ist aller erst nach tausend jaren komen, In des sind die Christen blieben, vnd haben regiert, on des Teuffels dank. Aber nu wil der Tue rck dem Bapst zu hue lffe komen, vnd die Christen ausrotten, weil nichts helffen wil.“ ([3], Bd. 7, S. 469) Das Erscheinen des Antichristen ist das Zeichen der unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft Christi und des damit verbundenen Endes der Welt. „Nos expectamus eius adventum, quando veniet, et nos resurgemus cum ipso. ,Darnach.‘ Ubi hoc factum, ubi resurrecturus, est ende. Da hin zeigt als scriptura, quod sol auffhoren das weltlich leben, der leidige Teufel cum suo regimine und als weltlich regiment und als geistliche empter. Et sol das geschehen, quod deus vult herr sein, et nos filii, et eius regnum anfahen, et nunquam finem habebit, quia jhens leben non sic ordinatur ut dis, ut Christum.“ ([6], Bd. 7, S. 305 = [1], Bd. 36, S. 568)

„Wir erwarten seine Wiederkunft, wann er kommen wird und wir mit ihm auferstehen werden. Darnach das Ende. Wo das geschehen ist, wo er wiederkommt, ist das Ende. Dahin zeigt alle Schrift, daß aufhören soll das weltliche Leben, der leidige Teufel mit seinem Regiment, und alles weltliche Regiment, und alle geistliche Ämter. Und soll das geschehen, daß Gott will Herr sein und wir seine Kinder sind, und sein Reich wird anfahen und nimmermehr ein Ende haben, denn jenes Leben ist anders geordnet denn dies, wie Christus (Matth 22,30) sagt.“ ([18], S. 265; vgl. [293], S. 152–170)

Die Welt vergeht und mit ihr ihre politischen und geistlichen Ordnungen. Wenn Christus am Ende dem Vater sein Reich übergibt (1. Kor 15,24), dann wird – so deutet es der Reformator – er den „fidem beseit thun et suos stellen coram patre und setzen aperte in regnum, ut deum et Christum videant in sua maiestate an verbo, fide, auffs aller clerst“ (Glauben beiseit tun und die Seinen stellen vor Gott und offen ins Reich setzen, daß sie Gott und Christus sehen in seiner Majestät, ohn’ Wort und Glaube, aufs Allerklarste) ([6], Bd. 7, S. 306f. = [1], Bd. 36, S. 570; dt. Übers. nach [18], S. 266). Auch Luthers universale Eschatologie setzt dessen theologia crucis als methodische Grundlage voraus. Der Glaube richtet sich nicht nur auf das Verborgene, sondern er lebt auch aus dem Verborgenen. So ist ebenso wie die christliche Existenz auch die Welt eingespannt zwischen Gegenwart und Zukunft. Die mit dem Glauben verbundene Hoffnungsstruktur – die aus dem extra nos und dem in nos resultiert – erweitert sich auf diese Weise vom Glauben des Einzelnen zu einer Totaldimension, welche die Erwartung einer neuen Kreatur einschließt.

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Personenregister Aland, Kurt 16f. Albrecht II., Markgraf von Brandenburg 29, 40 Alfeld, Augustin, eigentl. Augustin aus Alfeld 112 Althaus, Paul 9, 17 Amsdorf(f), Nikolaus von 14 Anselm von Canterbury 78 Aristoteles 26, 37, 64, 120 Arnoldi, Bartholomäus von (aus) Usingen 21 Augustinus 11, 28, 36f., 78f., 111, 118, 120, 128f. Barth, Hans Martin 17 Barth, Karl 12–14, 128 Barth, Ulrich 67f. Beutel, Albrecht 16f. Beyer, Michael 15 Biel, Gabriel 21 Bizer, Ernst 13, 24, 28 Borcherdt, Hans Heinrich 16 Bornkamm, Heinrich 12 Bornkamm, Karin 16 Brecht, Martin 10 Cajetan, Thomas, Kardinal 30, 51 Calvin, Johannes 94 Cassianus, Johannes 31 Cicero, Marcus Tullius 57 Clemen, Otto 15 Clemens VI., Papst 40

Härle, Wilfried 15 Harnack, Adolf von 66 Harnack, Theodosius 9, 11 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 8, 10 Heine, Heinrich 116 Heutleb, Leonard 23 Hirsch, Emanuel 9f., 12, 28, 58, 65 Hobbes, Thomas 131 Hofmann, Johann Christian Konrad von 11 Holl, Karl 10–14, 28 Hugo von St. Cher 40 Huss, Jan 120 Hutten, Ulrich von 56 Iserloh, Erwin 13 Iwand, Hans-Joachim 66 Joachim I. Nestor, Kurfürst von Brandenburg 128 Johannes Duns Scotus 19–21, 44 Jonas, Justus 14, 56 Julius II., Papst 40 Kant, Immanuel 93 Karl V., deutscher Kaiser 30 Karlstadt, Andreas, eigentl. A. Bodenstein 23, 55, 57, 120, 124 Korsch, Dietrich 17

Ebeling, Gerhard 13f., 16f. Eck, Johannes 30 Erasmus, Desiderius, von Rotterdam 32, 56–58, 72, 74, 98, 101 Erikson, Erik H. 18

Lang, Johannes 37 Leo X., Papst 40, 55f. Lessing, Gotthold Ephraim 11 Loewenich, Walter von 66f. Lohse, Bernhard 10, 17 Lortz, Joseph 13 Luder, Hans 18f., 21–24 Luder, Margarete, geb. Lindemann 18f. Lyser, Georg 23

Faber Stapulensis, Jacobus 32 Ficker, Johannes 12 Franck, Sebastian 8 Friedrich III., der Weise, Kurfürst von Sachsen 24, 30

Marcion 59 Melanchthon (Schwarzerdt), Philipp 14, 36, 55f., 94, 96, 98 Miltitz, Karl von 30 Müntzer, Thomas 55

Georg der Bärtige, Herzog von Sachsen 128 Gogarten, Friedrich 9 Grisar, Hartmann 13 Günther, Franz 37

Natin, Johannes 23

Delius, Hans-Ulrich 15 Denifle, Friedrich Heinrich Suso 13

Osiander, Andreas 96 Otto, Rudolf 60

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Personenregister Paulus, Apostel 20, 25f., 28, 41, 45–48, 63, 73, 88, 93, 95, 110, 112, 117, 124, 130, 137 Pesch, Otto Hermann 13 Petrus Abaelard 39 Petrus, Apostel 50, 94 Petrus Lombardus 23, 31, 41, 78, 120 Platon 19 Reuchlin, Johannes 32 Ritschl, Albrecht 11, 14, 54, 59, 66, 72 Ritschl, Otto 59 Rörer, Georg 14 Rückert, Hanns 12 Schilling, Johannes 15 Schwarz, Reinhard 17 Seeberg, Erich 9 Seeberg, Reinhold 58 Seils, Martin 107 Semler, Johann Salomo 11 Smith, Adam 108

Spalatin(us), Georg 24 Spinoza, Baruch de 100 Staupitz, Johann von 14, 23–26, 28f., 78 Tempier, Stephan 20 Tetzel, Johannes 30 Thomas von Aquin 19f. Troeltsch, Ernst 8, 10f., 107 Trutfetter, Jodokus 21 Vergil 57 Vogelsang, Erich 12, 66 Wartenberg, Günther 15 Weber, Max 105, 107f. Wilhelm von Ockham 19–21, 44 Wimpina, Konrad 30 Wyclif, John 56, 120 Zwingli, Ulrich 55, 57, 84, 120, 124–126

Sachregister Abendmahl 54, 119–122, 124–127 – Abendmahlstreitigkeiten 55, 57, 79, 84, 120, 125f. – siehe auch Sakramentenlehre – Transsubstantiationslehre 120 Ablass 39–41 – Ablassstreit 29f., 38, 47f., 116, 119, 135 Akzeptationstheorie siehe Gnade Alleinwirksamkeit Gottes siehe Gottesanschauung Luthers Allgemeines Priestertum aller Gläubigen 54, 117 Altprotestantismus 11, 14 Altprotestantismus – Neuprotestantismus (Troeltsch) 8 ,apokatastasis panton‘ siehe Eschatologie ,ars moriendi‘ 80 Buße 38–44 – als wahre Einsicht in das vollkommene Sündersein vor Gott 10, 24, 29, 38, 40–44, 47, 51f., 58, 61, 68f., 77f. – spätmittelalterliches Bußsakrament 18, 22, 29, 38–41, 43f., 47, 119 Christologie 77–87 – christologisches Dogma 59, 78–80, 82–87 – Christus als sacramentum und exemplum 79–82 – ,communicatio idiomatum‘ 82, 86f. – Einheit von Gott und konkretem Menschen in Jesus Christus 84–87, 126 – Ubiquitätslehre 57, 120, 126f. ,communio sanctorum‘ 116 ,concupiscentia‘ siehe Sünde Demutstheologie Luthers 13, 43, 48, 66 ,deus revelatus‘ – ,deus absconditus‘ siehe Gottesanschauung Luthers ,devotio moderna‘ 19 Ekklesiologie 109–132 – Funktion der Kirche 53, 109f. – Kirche als Gemeinde 109, 115f., 118 – ,notae ecclesiae‘ 111, 115, 118f. – sakramentaler – funktionaler Kirchenbegriff 109f. – sichtbare – verborgene Kirche 110–116, 118, 127f., 130 – Zwei-Reiche-Lehre 111, 127–132

Eschatologie 133–138 – ,apokatastasis panto‘ 133 – individuelle Eschatologie 134–136 – Fegefeuer 39, 135f. – universale Eschatologie 134, 137f. Ethik 102–108 – Interpretationsprobleme 107f. – Nächstenliebe 105f., 108 – politische Ethik 127–132 – Umgang mit dem eigenen Leib 105 Fegefeuer siehe Eschatologie ,fides historica‘ – ,fides apprehensiva‘ 82 ,fides‘ – ,promissio‘ siehe Glaube Freiheit 98–102 – libertas christiana 54f., 98, 101f., 107 – Unfreiheit des menschlichen Willens 37, 56, 73f., 88, 98–102 Geist – Buchstabe 89f. Gerechtigkeit – fremde – eigene Gerechtigkeit 92f., 95 Gerechtigkeit Gottes (,iustitia dei‘) 13, 18, 24–29, 47–51, 53, 56, 59, 62, 94 – ,iustitia activa‘ – ,iustitia passiva‘ 26f. Gesetz – ,tertius usus legis‘ 94 – ,usus legis civilis‘ – ,usus legis theologicus‘ 93f. Gesetz – Evangelium 35, 51, 88–94, 101, 134, 137 Gewissen 44–47 – als Ort der Wahrheit und der Gottesbegegnung 44–47, 50–52, 62 – als Ort des jüngsten Gerichts 46f., 49, 51, 62, 133–136 – Luthers Religion als Gewissensreligion (Holl) 12f. – mittelalterliches Gewissensverständnis 45f., 92 Glaube 25, 27, 41, 47–55, 58, 60–65, 69, 72, 74–78, 81–87, 92f., 98f., 101–104, 109f., 112f., 115, 119–122, 126, 129–132, 134, 138 – ,fides‘ – ,promissio‘ 50, 122–124, 127, 133 – Gewissheit des Glaubens 27, 35f., 43, 50f., 58, 60–65, 67, 74–76, 94, 114 – Glaube – Werke 88, 90, 94–96, 102f., 129 – mittelalterlicher Glaubensbegriff 95 Gnade 38, 43, 47–50, 56, 58, 60, 62, 80f., 91f., 96, 102, 125 – Akzeptationstheorie 20f., 44 – mittelalterliche Gnadenlehre 19–21, 38–40, 44

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Sachregister Gottesanschauung Luthers 58–76 – Alleinwirksamkeit Gottes 56, 63f., 72, 74 – Antinomie: Zorn – Barmherzigkeit Gottes 62 – ,deus revelatus‘ – ,deus absconditus‘ 58–60, 66, 72–76 – Gotteserkenntnis als wahre Selbsterkenntnis des Menschen 60–63 Hl. Schrift 30–37 – als einzige Norm theologischer Aussagen 23, 29–31, 33, 51f., 121 – doppelte Klarheit der Schrift 33–36, 111, 114, 122 – ,sensus historicus‘ als Grundsinn der Bibel 33f. – vierfacher Schriftsinn 31–34 Humanismus 19, 36 Letztes Gericht siehe Gewissen ,lex naturalis‘ 92 Lutherforschung 11–14 Mensch – innerer Mensch – äußerer Mensch 95, 98f., 104–106, 112–114, 124, 130f., 134 Nominalismus 19–21, 58f., 76 – ,potentia dei absoluta‘ – ,potentia dei ordinata‘ 20, 59, 76 Person – Werke 88f., 101–104 ,potentia dei absoluta‘ – ,potentia dei ordinata‘ siehe Nominalismus Prädestination 75, 111 Psalmen – christologische Deutung der Psalmen 32 Rechtfertigungslehre 12f., 35, 49f., 64, 66, 74f., 78, 88f., 94–98, 103, 105, 109, 111 – Interpretationsprobleme 96

– Rechtfertigungsurteil: forensisch – effektiv 97 Reformation – Reformationsdeutung 8 – reformatorischer Durchbruch Luthers 8f., 12f., 18, 24–29 Sakramentenlehre 119–127 – leibliche Realpräsenz Christi im Sakrament 57, 125f. – mittelalterliche Sakramentenlehre 22, 119f. – Sakramente als Verheißungen 122 – Taufe als Sterben und Auferstehung des Sünders 123f., 127, 134 Satisfaktionslehre 78 ,sensus historicus‘ siehe Hl. Schrift Sünde – als widergöttliche Selbstbehauptung 41f., 44 – ,concupiscentia‘ 41f. – Erbsünden – Aktualsünden 41f. – lässliche Sünden – Totsünden 39, 41f. Taufe siehe Sakramente ,theologia crucis‘ 10, 51, 60, 63, 65–72, 75, 77, 79–82, 89, 91f., 111–114, 118, 122, 124, 127, 133f., 138 ,thesaurus ecclesiae‘ 40 Transsubstantiationslehre siehe Abendmahl Trinität 59 Ubiquitätslehre siehe Christologie ,via moderna‘ – ,via antiqua‘ 19f. Wittenberger Universitätsreform 14, 36f. Zwei-Naturen-Lehre (alte Kirche) siehe christologisches Dogma Zwei-Reiche-Lehre siehe Ekklesiologie