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German Pages 345 [348] Year 2000
de Gruyter Studienbuch
Svend Andersen
Einführung in die Ethik Übersetzt aus dem Dänischen von Ingrid Oberborbeck
w DE
G
Walter de Gruyter • Berlin • New York 2000
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche
Bibliothek
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CIP-Einheitsaufnahme
Andersen, Svend: Einführung in die Ethik / Svend Andersen. Übers, aus dem Dan. von Ingrid Oberborbeck. — Berlin ; New York : de Gruyter, 2000 (De-Gruyter-Studienbuch) Einheitssacht.: Som dig selv < d t . > ISBN 3-11-015073-5
© Copyright 2000 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Diskettenkonvertierung: Readymade, Berlin Druck: Karl Gerike, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer G m b H , Berlin Einbandgestaltung: Hansbernd Lindemann, Berlin
Zum Gedenken an Knud E. Logstrup
Vorwort Die erste dänische Auflage dieses Buches ist 1993 erschienen. Der primäre Anlass war der Wunsch, fiir das Studium der (evangelischen) Theologie eine geeignete Einführung in die Ethik anzubieten. Gleichzeitig sollte das Buch ein allgemeines Hintergrundwissen für all diejenigen bereitstellen, die sich für die gegenwärtige Ethikdebatte interessieren. Als Lehrbuch ist der Text in erster Linie auf dänische Verhältnisse zugeschnitten, d.h. er dient als Grundlage eines obligatorischen Ethikkurses im ersten Teil des theologischen Studiums. Meine Erfahrungen als Gastprofessor an der theologischen Fakultät der Universität Kiel im Sommersemester 1994 haben mir jedoch gezeigt, dass ein Buch dieser Art auch für deutsche Theologiestudenten von Nutzen sein kann. Es dürfte beispielsweise als Begleitlektüre einer Hauptvorlesung zur Ethik gute Dienste leisten können. Das Buch ist kein Lehrbuch im engen Sinne einer „theologischen Ethik". Gerade in der Ethik kann es sich kein Theologe leisten, sich nur innerhalb der Grenzen seines eigenen Faches zu bewegen. Es ist vielmehr notwendig, sich auch mit der Moralphilosophie als theoretischem Ausdruck einer säkularen Ethik auseinanderzusetzen. Das Buch versucht deshalb, in gleichem Maße in die theologische wie in die philosophische Ethik einzuführen. Es wäre übrigens zu hoffen, dass die einen oder anderen Philosophen oder Philosophinnen eine ähnliche Verpflichtung fühlen, sich über theologische Ethik als Vertreterin christlicher Moral informieren zu lassen. Der Text baut auf der zweiten dänischen Auflage auf, in der das Kapitel über Schleiermacher und Kierkegaard hinzugefügt wurde. Das abschließende Kapitel ist jedoch für diese deutsche Ausgabe neu geschrieben worden. Der Ursprung des Textes im skandinavischen Raum wird sich kaum verleugnen lassen. Dies mag eine stärkere Einbeziehung angelsächsi-
VIII
Vorwort
scher Literatur bewirkt haben, als das sonst in deutschen theologischen Lehrbüchern üblich ist. In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass ich mich bei Literaturangaben und Zitaten der angelsächsischen Vorgehensweise angeschlossen habe. Bei dem Verfassen und Ubersetzen des Buches habe ich von vielen Seiten wertvolle Hilfe bekommen. Besonderer Dank gilt meiner Frau Ingrid Oberborbeck, die an der ersten Version der Ubersetzung mitgearbeitet hat. Für die Verbesserung der Übersetzung danke ich Birte Asmuß, Aarhus. Bei der Auffindung deutschsprachiger Literatur hat der Leiter der theologischen Bibliothek der Universität Kiel, Herr Rolf Langfeldt, unschätzbare Hilfe geleistet. Viele Kollegen haben sich kritisch-konstruktiv zum Inhalt des Buches geäußert, wobei ich besonders Jaana Hallamaa, Helsinki, und Kees van Kooten Niekerk, Aarhus, hervorheben möchte. Schließlich gilt den beteiligten Mitarbeitern des Verlages mein herzlicher Dank. Auch bei diesem Buch gilt selbstverständlich, dass Mängel nur dem Verfasser anzulasten sind. Aarhus., im Mai 2000
Svend Andersen
Inhaltsverzeichnis Vorwort
V
Kapitel 1. Was ist Ethik?
1
1.1 1.2 1.3
1 5
Ethik als kritische Reflexion Die ethische Bewertung und ihre Gegenstände Normen und die verschiedenen Formen ethischer Reflexion 1.4 Ethik, Anthropologie und Metaphysik 1.5 Theologische und philosophische Ethik 1.6 Ethische Theorien in der Geschichte Literatur zu Kapitel 1
7 10 14 15 16
Kapitel 2. Die Ethik im klassisch-griechischen Denken
19
2.1 Das „vor-ethische" Denken 2.2 Die Sophisten und Sokrates 2.3 Piaton 2.4 Aristoteles 2.5 Die Stoa (und Epikur) Literatur zu Kapitel 2
20 21 22 26 40 45
Kapitel 3. Biblische Ethik
47
3.1 3.2 3.3
47 49 60 62 68 74 75
Was ist biblische Ethik? Alttestamentliche Ethik Neutestamentliche Ethik 3.3.1 Die Ethik in der Verkündigung Jesu 3.3.2 Ethik bei Paulus 3.4 Zusammenfassend über biblische Ethik Literatur zu Kapitel 3
X
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 4. Die Ethik in der Synthese zwischen biblischem und griechischem Denken
76
4.1 Die „Hellenisierung" des Christentums 4.2 Ethische Themen der frühen Kirche 4.3 Die lex naturalis bei Thomas von Aquin Literatur zu Kapitel 4
77 79 83 93
Kapitel 5. Die Ethik Luthers
95
5.1 5.2 5.3 5.4
Gottesverhältnis und Ethik. Das Gesetz Gesetz und Evangelium Glaube und Werke Das weltliche Regiment und der politische Gebrauch des Gesetzes 5.5 Die lex naturalis 5.6 Das Problem des dritten Gebrauches des Gesetzes 5.7 Die Unfreiheit des Willens 5.8 Die lex naturalis bei Melanchthon 5.9 Max Webers These über den Kapitalismus und die protestantische Ethik Literatur zu Kapitel 5
97 101 103
....
105 108 110 112 113 116 119
Kapitel 6. Ethik und Moderne
121
6.1 Zwei Motive der Renaissance 6.2 Vertragstheorien (Hobbes und Rousseau) 6.3 Moralisches Gefühl (Hume) Literatur zu Kapitel 6
122 127 134 140
Kapitel 7. Die Ethik Kants
141
7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6
143 145 147 150 152 155
Die Vertragstheorie bei Kant Kritik der praktischen Vernunft Der kategorische Imperativ Der Mensch als Zweck Liebe und Achtung Achtung und moralisches Gefühl
Inhaltsverzeichnis
XI
7.7 Ethik und Religion 7.8 Die Kritik Hegels an Kants Ethik Literatur zu Kapitel 7
156 158 160
Kapitel 8. Liberalismus und Utilitarismus
162
8.1 Ökonomischer Liberalismus 8.2 Sozialethischer Liberalismus 8.3 Utilitarismus Literatur zu Kapitel 8
162 168 171 176
Kapitel 9. Subjektivität und Ethik
178
9.1 Schleiermacher 9.2 Kierkegaard Literatur zu Kapitel 9
178 190 203
Kapitel 10. Ethik-Kritik
204
10.1 Nietzsches Auseinandersetzung mit der Sklavenmoral . . 10.2 Freuds Psychoanalyse als Ethik-Kritik 10.3 Darwin und die moderne Soziobiologie 10.4 Die Herausforderung der Ethik-Kritik Literatur zu Kapitel 10
204 210 214 220 221
Kapitel 11. Philosophische Ethik im 20. Jahrhundert
222
11.1 Intuitionismus (Moore und Scheeler) 11.2 Emotivismus (Ayer) 11.3 Theorien der ethischen Rationalität 11.3.1 Präskriptivismus (Hare) 11.3.2 Diskursethik (Habermas) 11.3.3 Theorie der Gerechtigkeit (Rawls) 11.4 Kritik der ethischen Rationalität 11.5 Ethik der Interdependenz Literatur zu Kapitel 11
222 226 228 228 232 236 239 246 256
XII
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 12. Theologische Ethik im 20. Jahrhundert
258
12.1 Ethik der Schöpfungsordnungen (Althaus) 12.2 Dialektisch-theologische Offenbarungsethik (Barth) . . . 12.3 Dialektisch-theologische Ordnungsethik (Brunner) . . . . 12.4 Dänische Schöpfungsethik (Logstrup) 12.5 Protestantische Ethik in den USA 12.6 Katholische Moraltheologie 12.7 Neuere Tendenzen in der theologischen Ethik Literatur zu Kapitel 12
259 262 267 272 279 284 294 304
Kapitel 13. Abschließende Übersicht
307
13.1 Grundpositionen theologischer Ethik 13.2 Grundprobleme philosophischer Ethik 13.3 Theologische und philosophische Ethik Literatur zu Kapitel 13
307 310 319 322
Personenregister Sachregister
323 326
Kapitel 1. Was ist Ethik? 1.1 Ethik als kritische Reflexion In diesem Kapitel wird der Versuch gemacht einzukreisen, was unter Ethik zu verstehen ist. Es bietet sich an, zu diesem Zweck vom Wort selbst auszugehen. Die Bezeichnung „Ethik" leitet sich her vom griechischen Adjektiv ethikos, das abgeleitet ist von ethos: „gewöhnlicher Wohnort", „Gewohnheit", „Brauch". Als Name für eine philosophische Beschäftigung wird sie zuerst von Aristoteles (384-322) verwendet. Deshalb wollen wir von Aristoteles' Aussagen über Ethik ausgehen und versuchen, auf diesem Hintergrund unsere eigene vorläufige Bestimmung des Begriffes zu finden. Über Sokrates sagt Aristoteles: (Er) behandelte ethische Fragen (ta ethika), nicht die Natur in ihrer Ganzheit; und bei den ethischen Fragen suchte er als erster nach dem Allgemeinen und nach Definitionen. (Metaphysik, 9 8 7 b, l). 1
Zwei Dinge sind hier wichtig: (i) Seine Beschäftigung mit Sitte und Brauch unterschied Sokrates von den frühen griechischen Denkern, den so genannten Naturphilosophen (z.B. Thaies und Heraklit), deren primäres Thema die Natur in ihrer Ganzheit, also der Kosmos war, (ii) Sokrates begnügte sich nicht damit herauszufinden, was das Gute in jedem einzelnen Fall ist, sondern fragte nach dem Guten im Allgemeinen, indem er es reflektierend untersuchte. Uber eben diesen Grundbegriff der Ethik, das Gute, sagt Aristoteles selbst, dass er in der politischen Wissenschaft zu behandeln sei. Und weiter: In der Auffassung der Begriffe Moralität und Gerechtigkeit (ta kala kai ta dikaia) gibt es große Uneinigkeit. Manchmal werden sie als bloße Konventionen (nomo monon) angesehen ohne reale Existenz in der Natur der
1
Zur Art der Verweise auf Aristoteles' Werke siehe nächstes Kapitel S. 26.
2
Was ist Ethik? Dinge (physei). Die gleiche Unsicherheit knüpft: sich an den Begriff des Guten (tagatha), da es oft vorkommt, dass gute Dinge schlechte Konsequenzen haben. (Nikomachische Ethik, 1094 b, 14-18).
Man kann das, was Aristoteles hier sagt, auf folgende Weise umschreiben. Unter Ethos im Sinne von Gewohnheit soll das verstanden werden, was Menschen tun, weil es als das Richtige oder Gute angesehen wird. Jedoch kann Unsicherheit und Diskussion darüber entstehen, was das Richtige bzw. Gute ist. Und wenn eine solche Unsicherheit entsteht, erheben sich eine Reihe fundamentaler Fragen: Ist das Gute mit der Beschaffenheit und Natur der Wirklichkeit selbst gegeben oder beruht es auf einem menschlichen Beschluss bzw. einer Vereinbarung? Es ist anscheinend diese grundlegende Unsicherheit über die menschliche Handlungsweise, die wiederum den Hintergrund für die Ethik als theoretisches, philosophisches Unternehmen bildet. W i r können nun von Aristoteles' Überlegungen her folgende vorläufige Bestimmung geben: Ethik ist eine kritische Reflexion über unsere Vorstellungen von der richtigen oder guten 2 menschlichen Handlungsweise bzw. Lebensführung. Eine solche Reflexion liegt anscheinend besonders nahe, wenn nicht mehr selbstverständlich ist, was gut ist.3 W e n n Aristoteles recht hat in der Annahme, dass Ethik als kritische Reflexion besonders dann notwendig wird, wenn die Auffassung des-
2
3
Die Formulierung erweckt den Eindruck, als hätten „richtig" und „gut" immer dieselbe Bedeutung. Das kann auch der Fall sein, ist es jedoch nicht ohne weiteres. Wie wir sehen werden, ist „gut" ein sehr komplexer Begriff. Nur eine seiner Bedeutungen entspricht der von „richtig" und zwar etwa im Sinne von „mit einer ethischen Vorstellung übereinstimmend". Bei anderen Bedeutungen von „gut" ist gerade der Gegensatz zu „richtig" entscheidend. Es wird manchmal versucht, „Ethik" so zu definieren, dass der Begriff sich klar von „Moral" unterscheidet. Dafür gibt es keine sprachliche Grundlage, da das Wort „Moral" aus dem lateinischen „mos" stammt, das mit „ethos" der Bedeutung nach stark verwandt ist: Auch „mos" bedeutet „Gewohnheit", „Verhalten" u.ä. (vgl. „O tempora, o mores"). Die technische Bezeichnung philosophia moralis ist von M. Tullius Cicero (106-43 v. Chr.) eingeführt worden. Ich gehe in diesem Buch davon aus, dass es keinen präzisen Unterschied gibt zwischen den Begriffen „Ethik" und „Moral".
Ethik als kritische Reflexion
3
sen, was gut und böse ist, nicht mehr zweifelsfrei feststeht, dann ist es für uns heute nahe liegend, den Begriff der Ethik in Zusammenhang mit der aktuellen Gesellschaftsdebatte über Ethik zu betrachten. Ethik wurde ja in diesen Jahren zu einem zentralen Thema in der öffentlichen Debatte, und zwar nicht nur in Europa, sondern mehr oder weniger in der ganzen Welt. Diese „Hochkonjunktur" verdankt die Ethik besonders der Entwicklung innerhalb der medizinischen Wissenschaft und der so genannten biomedizinischen Technologie. Es lässt sich feststellen, dass diese Diskussion genau die Fragen aufwirft, die Aristoteles nennt: Ist das Gute von Natur aus gegeben, oder beruht es auf menschlicher Annahme und Vereinbarung? Die Ethikdebatte ist Ausdruck dafür, dass wir durch die biomedizinische Entwicklung gezwungen werden, uns darauf zu besinnen, was gut und was nicht gut ist. Zunächst richtet sich dies auf konkrete Fragen über Gut und Böse. Sie können jedoch nicht zufrieden stellend beantwortet werden, wenn wir uns nicht auch darauf besinnen, was die Grundlage ist für die Aussage, etwas sei gut oder etwas anderes sei nicht gut oder böse bzw. falsch. Dafür, dass die biomedizinische Entwicklung für die ethischen Überlegungen die genannten Folgen hat, gibt es mehrere Gründe. Erstens bedeuten die neue wissenschaftliche Einsicht und die entspre-
chende Technologie neue Möglichkeiten menschlichen Handelns. Damit wird der Mensch vor Entscheidungen gestellt, ftir die die ethische Tradition (der „Brauch") keine Anweisungen enthält. Das mögen einige Beispiele veranschaulichen: An einer schwangeren 37-jährigen Frau wird eine Fruchtwasseroder Plazenta-Untersuchung vorgenommen. Sie zeigt eine Chromosomabweichung des Embryos, „Trisomie 21" oder auch „Mongolismus" genannt. Nun stehen die Frau und der Vater vor der Wahl: Soll eine Abtreibung vorgenommen werden, oder setzen sie ein behindertes Kind in die Welt? Diese Art des präzisen Wissens um die Eigenschaften eines ungeborenen Kindes und die ethische Wahl, die dieses Wissen beinhaltet, waren einfach unbekannt für Menschen früherer Epochen. Eine andere Frau hat Probleme damit, Kinder zu bekommen: Es können in ihrem Körper Eier reifen, sie ist jedoch auf Grund einer Krankheit in der Gebärmutter nicht imstande, die Schwangerschaft
4
Was ist Ethik?
durchzuführen. Sie und ihr Mann wünschen sich jedoch ein Kind, dessen biologische Eltern sie sind. Sie unterziehen sich deshalb einer so genannten In-vitro-Fertilisation („Retortenbefruchtung"). Das befruchtete Ei wird in eine andere Frau eingepflanzt, die das Kind austrägt und es nach der Geburt den Eltern übergibt. Auch diese Handlung, eine so genannte Leihmutterschaft, die durch die biotechnologische Entwicklung möglich gemacht wurde, ist neu im Verhältnis zu Möglichkeiten früherer Zeiten. Sie wirft unter anderem eine rein rechtliche Fragestellung auf: Wer ist die Mutter des Kindes, die Frau von der das Ei stammt, oder die Frau, die das Kind geboren hat? Der biologische Begriff der Mutterschaft ist hier aufgeteilt, indem man sowohl von einer genetischen als auch von einer gebärenden Mutter sprechen kann. — Soviel zur Veranschaulichung dessen, was die medizinische Wissenschaft und die biotechnologische Entwicklung an neuen Formen menschlichen Handelns mit sich bringen. Diese Entwicklung und die Debatte, die ihr gefolgt ist, gibt uns zweitens ein klares Bild einiger entscheidender Merkmale einer modernen Gesellschaft wie der dänischen oder der deutschen. Unsere moderne Gesellschaft ist: -
säkularisiert. Christentum und Religion prägen nicht mehr wie in früheren Zeiten eine selbstverständliche, allgemeingültige, umfassende Lebensauffassung, die auch die Einstellung zu ethischen Fragen bestimmt; — pluralistisch: Der frühere Platz des Christentums wird von einer Mannigfaltigkeit verschiedener Lebensauffassungen eingenommen, z.B. von diversen „Ismen" wie Humanismus, Sozialismus, Naturalismus, Materialismus, Atheismus. Als Folge gibt es verschiedene und oft einander widerstreitende Auffassungen davon, was ethisch gut und böse ist. Es scheint jedoch nicht möglich, sich mit dem Pluralismus abzufinden. Viele Menschen reagieren unmittelbar auf die biomedizinische Entwicklung mit Aussagen wie: „Wir können diese Entwicklung nicht ungestört weiter laufen lassen. Einige ihrer Möglichkeiten wollen wir nicht. Wir müssen Grenzen setzen für das, was zulässig ist!" Eine ähnliche Auffassung müssen Politiker in mehreren europäischen Ländern
Die ethische Bewertung und ihre Gegenstände
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gehabt haben, als sie während der letzten Jahre verschiedene Formen von Ethikkommissionen eingerichtet haben. So wurde vom dänischen Parlament 1987 die Gründung eines „Ethischen Rates" beschlossen. Damit gaben die Politiker zu erkennen, dass die Nutzung der medizinischen Wissenschaft und der biotechnologischen Möglichkeiten durch politische und rechtliche Rahmen begrenzt werden sollte. Das heißt, man geht davon aus, dass es Grenzen für das Zulässige geben muss, die durch Gesetze bestimmt sind und die für alle Bürger gelten. Die biomedizinische Entwicklung zwingt uns sozusagen dazu, den Pluralismus in Frage zu stellen. Aber gibt es eine gemeinsame ethische Grundlage, von der aus wir uns orientieren können, wenn wir die technologische Entwicklung in einer säkularisierten Gesellschaft steuern wollen? Das ist eine der grundlegenden Fragen, um die es in der Gesellschafitsdebatte geht. Es wird somit deutlich, dass die konkrete und aktuelle Ethikdebatte eng mit ethischer Reflexion und Überlegung zusammenhängt. Das Gesagte gilt nicht nur für die Debatte über die biomedizinische Technologie. Die ethische Fragestellung ergibt sich genauso grundlegend, wenn Menschen mit verschiedenen moralischen Normen zusammenleben sollen. Wenn verschiedene Kulturen zusammentreffen, stoßen unterschiedliche Normen aufeinander. Auch die Debatte über Emigranten- und Flüchtlingspolitik ist deshalb eine Ethikdebatte. Die häufige Erwähnung von Ethik in den Medien darf natürlich nicht zu der Auffassung verleiten, dass Ethik in erster Linie ein öffentliches Anliegen ist, das mit den großen Problemen der Gesellschaft zusammenhängt. Ethik drängt sich auch in banaleren Zusammenhängen auf. Kann ich mir erlauben, mein Kind eine Stunde später als verabredet vom Kindergarten abzuholen? Habe ich eine Studentin verletzt, als ich mit ihr ihre Examensarbeit besprach?
1.2 Die ethische Bewertung und ihre Gegenstände Wie die genannten Beispiele zeigen, kommen unsere Vorstellungen von der rechten Handlungsweise und von Gut und Böse oft in der Sprache zum Ausdruck. Das Ethische äußert sich in bewertenden
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Was ist Ethik?
Wendungen wie „Was du getan hast, war gut (großzügig, verwerflich, bösartig, rücksichtslos usw.)". Bewertende Sätze werden jedoch auch in anderen Zusammenhängen als in ethischen angewandt. Zum Beispiel können wir sagen: „Van Goghs Sonnenblumenbild ist ein gutes Gemälde". Normalerweise unterscheidet man zwischen solchen wertenden Sätzen oder Werturteilen auf der einen Seite und beschreibenden (deskriptiven) Sätzen auf der anderen. Ein beschreibender Satz könnte zum Beispiel lauten: „Van Goghs Sonnenblumenbild wurde im Jahre 1890 gemalt". Bei deskriptiven Sätzen spielt der Begrif'{Wahrheit eine entscheidende Rolle. So kann der Sinn des angeführten Satzes auf folgende Weise wiedergegeben werden: „Es ist wahr, dass van Goghs Bild...". Mit deskriptiven Sätzen ist also normalerweise ein Wahrheitsanspruch verbunden. Das bedeutet jedoch, dass wir ihnen intersubjektive Gültigkeit zuerkennen. Ein Satz, der wahr ist, ist nicht nur wahr für mich, sondern wenn er wahr ist, ist er wahr für alle.4 Es liegt nahe, den Unterschied zwischen deskriptiven und wertenden Sätzen so zu bestimmen, dass mit den letztgenannten kein Wahrheitsanspruch verbunden ist. Die Frage ist dann, ob bei wertenden Sätzen von einer anderen Form der intersubjektiven Gültigkeit gesprochen werden kann. Davon gehen wir offenbar bei ethisch bewertenden Sätzen aus. Wenn wir sagen: „Er benahm sich verwerflich", setzen wir durch den Sprachgebrauch voraus, dass wir in unserer Beurteilung recht haben. In der sprachlichen Äußerung der Bewertung liegt auch die Möglichkeit, dass wir, falls wir uns irren, darüber belehrt werden können, worin unser Fehler besteht. Uber diese Fragen herrscht allerdings in der ethischen Theorie keine Einigkeit. Etwas vereinfacht kann man sagen, dass die ethische Beurteilung die Form „X ist gut/böse" hat. Es können dann an der Stelle des „X" verschiedene sprachliche Ausdrücke eingesetzt werden. Damit zeigt sich, dass wir verschiedene Dinge zum Gegenstand ethischer Bewertung machen können. Die wichtigsten können schematisch auf folgende Weise dargestellt werden: 4
Man kann allerdings oft die Wendung hören „Das ist für mich wahr". Hier wird entweder das Wort „wahr" in einer sich selbst widersprechenden Weise benutzt, oder es wird in einem anderen Sinn verwendet als in dem mit den deskriptiven Sätzen verknüpften.
Normen und die verschiedenen Formen ethischer Reflexion
Formulierung der ethischen
Bewertung
„Einen anderen Menschen zu töten, ist böse' ,Der Diktator des Balkans ist böse' .Hilfsbereitschaft ist gut" ,Die Ehe ist gut"
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Gegenstand der Bewertung Handlung Person Eigenschaft Institution
1.3 Normen und die verschiedenen Formen ethischer Reflexion Es scheint so zu sein, dass wir ethische Bewertungen auf der Grundlage von Normen vornehmen, d.h. Regeln des Typus „Du sollst immer die Wahrheit sagen". Welchen Status haben solche Normen? Woher stammen sie? Was ist die Grundlage ihrer Gültigkeit? Hier stoßen wir wieder an Aristoteles' Frage, ob das Gute nomo oder pbysei bestimmt ist: Sind die ethischen Normen durch die Wirklichkeit selbst gegeben — eine im Voraus bestehende Bedingung menschlichen Lebens oder haben Menschen sie zu einem Zeitpunkt beschlossen, so dass sie immer wieder geändert werden können? Kurz gesagt: Worauf gründen sich unsere ethischen Bewertungen? Der Anlass für diese Fragen, nämlich unsere Unterscheidung zwischen deskriptiven und bewertenden Sätzen, ist ein guter Ausgangspunkt, um einige gängige Unterscheidungen zwischen verschiedenen Formen ethischer Reflexion vorzustellen: Deskriptive Ethik beschreibt, nach welchen Normen eine gegebene Gruppe von Menschen de facto lebt oder sich orientiert. Als Beispiel kann genannt werden: „Mitglieder der katholischen Kirche betrachten Abtreibung nach pränataler Diagnostik als falsch". Man kann auch von deskriptiver Ethik reden, wenn Sozialwissenschaftler die moralische Einstellung größerer Bevölkerungsgruppen durch Umfragen u.ä. untersuchen. Metaethik 'vsx. eine Form ethischer Reflexion, die wie die deskriptive Ethik keine Stellung bezieht. Sie umfasst die Analyse der grundlegenden Begriffe, die in ethische Bewertungen eingehen, wie „gut", „sollte", „Norm" usw. Eine andere Hauptfrage der Metaethik betrifft die Möglichkeit der vernünftigen Begründung ethischer Urteile. Die letztere Fragestellung soll etwas näher erläutert werden. Wenn man Ethik grundsätzlich als Handeln auf Grund von Normen betrachtet, kann
8
W a s ist Ethik?
man sagen, die Begründung der Richtigkeit einer Handlung bestehe im Verweis auf die befolgte Norm, etwa die schon genannte „Man soll immer die Wahrheit sagen". Fragt man weiter nach der Begründung der Norm, kann man auf eine höhere, d.h. allgemeinere Norm verweisen und letzten Endes auf ein ethisches Prinzip. So ließe sich die genannte Norm dadurch begründen, dass sie unter das Prinzip „Man soll keinem anderen Menschen Schaden zufügen" eingeordnet werden kann. Diesem Gedankengang folgend kann man das ethische Begründen folgendermaßen schematisch darstellen: Man darf keinem anderen Menschen Schaden zufügen. Lügen ist ein Zufügen von Schaden. Man soll immer die Wahrheit sagen. Wenn ich NN p sage, lüge ich. Ich darf NN nicht p sagen.5 Deontische Logik (von „to deon" — Pflicht, Schuldigkeit) ist eine Untersuchung der logischen Beziehungen, die zwischen ethischen Sätzen bestehen können. Sie ist im Grunde eine tiefergreifende Untersuchung besonderer Fragen der Metaethik. Man kann z.B. die Norm „Man soll immer die Wahrheit sagen" logisch so analysieren, dass ein „normativer Operator" es ist geboten (O: obligatorisch) mit dem Satz dass alle die Wahrheit sagen verbunden wird. Er lässt sich daher formalisiert als 5
Die angeführte praktische Begründung hat anscheinend dieselbe Struktur wie die in den Naturwissenschaften übliche. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Alle materiellen Körper weiten sich bei Erwärmen aus. Die Bretter des Fußbodens sind erwärmt worden. Die Bretter des Fußbodens haben sich ausgeweitet. Da eine solche Begründung eine vernünftige Tätigkeit ist, scheint die aufgezeigte Parallelität das Vorliegen sowohl einer theoretischen wie einer praktischen Vernunft zu bezeugen. — Ich habe das Vorhergehende hypothetisch formuliert, weil es eine der Fragen der Metaethik ist, ob Begründungen ethischer Urteile tatsächlich diese Struktur haben, ja ob sie sich überhaupt rational begründen lassen. Zu den Fragen der Metaethik siehe im Übrigen Frankena 1973, Kapitel 6.
N o r m e n und die verschiedenen Formen ethischer Reflexion
9
,,0(A)" wiedergeben. Der Satz „alle sagen die Wahrheit" lässt sich anhand der so genannten Prädikatenlogik weiter analysieren und formalisieren: x(Fx) („für alle x gilt: x sagt die Wahrheit"). Die Struktur der Norm „Man soll immer die Wahrheit sagen" lässt sich also so darstellen: xO(Ax). Auf der Grundlage einer solchen Formalisierung können dann logische Beziehungen zwischen normativen Sätzen untersucht werden.6 Normative Ethik ist im Unterschied zu den beiden vorhergehenden eine Form der ethischen Überlegung, die eine Stellungnahme beinhaltet, etwa in Gestalt einer Verteidigung oder eines Abweisens von bestimmten Normen. Zum Beispiel kann folgende Überlegung normativ genannt werden: „Es ist verwerflich, nach einer pränatalen Diagnostik abzutreiben, denn es ist eine Übertretung der fundamentalen Norm, dass man einen anderen Menschen nicht töten darf'. Eine Position der normativen Ethik kann sich jedoch letzten Endes nicht mit der Behauptung von Normen begnügen, sondern muss auch darlegen, worin die Gültigkeit dieser Normen begründet ist. Wenn sie diesen umfassenden Charakter hat, kann man die normative Ethik eine ethische Theorie nennen. Prinzipielle Ethik ist - wie der Ausdruck schon sagt — eine Überlegung über das Grundlegende, Fundamentale in der Ethik. Es ist beispielsweise eine prinzipielle ethische Frage, ob alle Normen auf eine einzige Grundnorm bzw. ein Prinzip zurückgeführt werden können. Eine solche Grundnorm könnte das Gebot der Nächstenliebe oder die so genannte Goldene Regel sein („Was du wünschst, das andere dir tun, das tue du auch anderen"). Eine weitere prinzipiell-ethische Frage ist, ob die Goldene Regel als Norm denselben Sinn hat wie das Gebot „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst". Materialethik hingegen ist eine Untersuchung konkreter ethischer Fragen. Als Beispiel können wir das bereits Genannte anfuhren: pränatale Diagnostik mit nachfolgender Abtreibung. Die Materialethik
6
Näheres zur deontischen Logik findet sich z.B. in Kutschera 1973. Neben dem normativen Operator „ O " rechnet Kutschera mit „V" (es ist verboten,...) und „E" (es ist erlaubt, ...).
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Was ist Ethik?
wird oft in verschiedene Bereiche unterteilt, wie etwa medizinische Ethik (bzw. Bioethik), Sexualethik, Arbeitsethik, Wirtschaftsethik, politische Ethik usw. Ein moderner Ausläufer der Materialethik wird im Englischen „applied ethics" genannt. Neue Bereiche innerhalb dieser „angewandten Ethik" sind „business ethics" und „Computer ethics". Eine materialethische Untersuchung muss nicht notwendigerweise normativ sein. Man kann sehr wohl untersuchen, welche grundlegenden ethischen Begriffe mit einem konkreten Problem verbunden sind bzw. welche grundlegenden Normen sich auf ein konkretes Problem beziehen lassen, ohne eine ethische Bewertung vorzunehmen. Individualethik beschäftigt sich mit ethischen Fragen, die sich für den einzelnen Menschen erheben: Was sollte ich in dieser oder jener Situation tun? Was ist für mich die rechte Art und Weise, mein Leben zu fuhren? Die individualethischen Fragen sind primär an die nahen Beziehungen zwischen Menschen im Bereich der Familie und der Freundschaft gebunden. Jedoch können sie auch im Verhältnis zu „Professionellen" (Sozialarbeitern, Therapeuten, Ärzten, Pastoren) entstehen. Sozialethik beschäftigt sich hingegen mit ethischen Fragen, die sich zwischen Menschen innerhalb größerer Gemeinschaften ergeben. Um wieder eines der aktuellen Beispiele zu nennen: Wie sollte sich die Gesellschaft gegenüber Immigranten verhalten? Diese Frage kann natürlich nicht vollständig getrennt werden von der Frage: „Wie sollte ich mich gegenüber Immigranten verhalten?" Sie ist jedoch eine andere Frage, übrigens eine materialethische. Die Sozialethik beinhaltet jedoch auch prinzipiell-ethische Probleme wie z.B. das Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und individueller Freiheit.
1.4 Ethik, Anthropologie und Metaphysik Zu den von der aktuellen Debatte hervorgerufenen Fragen gehört diejenige, ob das Gebiet der Ethik mit den Problemen der verschiedenen menschlichen Lebensbereiche ausgeschöpft ist. Hat Ethik nur mit Gut und Böse im Verhältnis zwischen Menschen untereinander zu tun? Oder haben wir Menschen auch ein ethisches Verhältnis zu an-
Ethik, Anthropologie und Metaphysik
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deren Lebewesen oder Dingen? Zum Beispiel zu Tieren und überhaupt zur nicht-menschlichen Natur, hierunter zu unserer Umwelt? Die Frage, inwieweit wir Menschen ein ethisches Verhältnis zur übrigen Natur haben, wirft eine noch grundlegendere Frage auf: Was für ein Wesen ist der Mensch eigentlich? Was unterscheidet uns z.B. von den (übrigen) höheren Tieren? Die traditionelle europäische Ethik kann anthropozentrisch (Menschen-zentriert) genannt werden, indem sie in der Regel den Gedanken enthält, dass es einen entscheidenden Unterschied gibt zwischen dem Menschen und der übrigen Natur. In dieser scharfen Unterscheidung liegt eine bestimmte Auffassung des Menschen, eine bestimmte Anthropologie oder ein bestimmtes Menschenbild. Eine ethische Auffassung wird letzten Endes immer zusammenhängen mit oder begründet sein in einer bestimmten Auffassung dessen, was und wer der Mensch ist. Dass es sich so verhält, sehen wir, wenn wir fiir einen Augenblick zurückkehren zu der Frage danach, welches der Gegenstand der ethischen Beurteilung ist. Unter diesen Gegenständen fanden wir sowohl Handlungen als auch Personen. Bei näherer Überlegung wird deutlich, dass es einen engen Zusammenhang zwischen genau diesen beiden Begriffen gibt. Eine Handlung hat ein Subjekt und dieses Subjekt — der Handelnde oder Agierende — ist eine Person. Es knüpfen sich bestimmte andere Begriffe an den Begriff des Handlungssubjektes. Auf diese Begriffe werden wir später eingehen, sie seien jedoch schon hier kurz genannt. Um einer Person eine Handlung zuzuschreiben, muss eine Intention, d.h. eine Form von Absicht vorliegen. Wir können es auch so ausdrücken, dass jemand mit einer Handlung immer etwas vorhat. Führe ich zum Beispiel die Handlung aus, mit meinem Auto eine bestimmte Strecke zu fahren, kann das darin begründet sein, dass ich intendiere, nach Ärhus zur Universität zu kommen, um dort eine Vorlesung über Ethik zu halten. An eine Handlung knüpft sich außerdem eine Motivation. Das kennen wir aus der rechtlichen Terminologie und aus dem Kriminalfilm: Die Polizei und das Gericht versuchen herauszufinden, was das Motiv für ein Verbrechen war. Die Angabe des Motivs ist die Antwort auf die Frage: „ Warum hat N N dieses und jenes getan?" Es ist wichtig, dieses „Warum" des Motivs zu unterscheiden von dem, was man das
Was ist Ethik?
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„Warum" der Ursache bzw. der Kausalerklärung nennen könnte. Auf die Frage „Warum tötete N N seine Frau?" kann ich ja antworten: „Er war zutiefst deprimiert und hatte den ganzen Tag ununterbrochen getrunken". Damit gebe ich eine kausale Erklärung, im Prinzip in gleicher Weise, wie wenn ich das Tropfen des Wasserhahnes mit einer verschlissenen Dichtung erkläre. Wenn ich jedoch einen Vorgang ausschließlich kausal erkläre, betrachte ich ihn nicht als eine Handlung. Ein weiterer Begriff, der in Zusammenhang mit Handlung gehört, ist Konsequenz. Die Konsequenzen einer Handlung sind die Folgen, die sich aus ihr ergeben. In diesem Zusammenhang kann man sehr wohl den Begriff der Ursache anwenden und sagen, dass Konsequenzen die Begebenheiten sind, deren Ursache eine Handlung ist. Die Konsequenzen davon, dass N N seine Frau tötete, können zum Beispiel sein, dass seine mutterlosen Kinder zur Sozialfürsorge gebracht werden und in einer schwierigen sozialen Umwelt aufwachsen werden. Die Begriffe, die sich an das Phänomen Handlung knüpfen, können schematisch auf folgende Weise veranschaulicht werden: Intention Subjekt
Handlung
—> Konsequenz
Motiv Es wird sich später zeigen, dass es hinsichtlich der Grundlagen der Ethik eine wichtige Trennungslinie gibt zwischen Theorien, die entscheidendes Gewicht auf die Motivation einer Person und auf die Handlung selbst legen - und Theorien, die die Wichtigkeit der Konsequenzen der Handlung betonen. Doch zurück zu den Problemen in Bezug auf das Menschenbild, die Anthropologie, die sich an den Begriff der Person als Handlungssubjekt knüpft. Wir haben erörtert, dass eine Person Gegenstand ethischer Bewertung sein kann. Wir können zum Beispiel einer Person Vorwürfe machen über das, was sie getan hat. Wir sagen dann, dass wir die Person zur Rechenschaft oder Verantwortung ziehen. Doch scheint das vorauszusetzen, dass das Subjekt der Handlung eine Person mit freiem Willen ist. Hätte es denn Sinn, eine Person zur Verantwortung zu ziehen, wenn sie keine freie Entscheidung hatte bzw. keine Möglichkeit, anders zu handeln?
Ethik, Anthropologie und Metaphysik
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Wir stehen hier vor einem der klassischen Probleme innerhalb der Anthropologie, sowohl der theologischen als auch der philosophischen. Traditionell unterscheidet man zwischen zwei widerstreitenden Auffassungen: dem Determinismus, der die Unfreiheit oder Vorausbestimmtheit oder Gebundenheit des Willens behauptet - und dem Indeterminismus, der dagegen die Freiheit des Willens verficht. Dieses Problem soll hier nicht weiter verfolgt werden. Vorläufig soll es nur anschaulich machen, wie unlöslich eine ethische Grundposition verknüpft ist mit einer anthropologischen Auffassung oder einem Menschenbild. Das Problem vom Menschenbild der Ethik kann formuliert werden in der Frage, ob wir, wenn wir ethisch handeln, in Wirklichkeit die Menschen sind, die wir zu sein glauben. Wir glauben, dass wir freie, verantwortliche Subjekte sind. Der Determinismus behauptet, dass wir in Wirklichkeit nicht frei und verantwortlich sind, dass wir also einer Illusion unterliegen. Für diesen Gedankengang können verschiedene Ausformungen gefunden werden. Er kann psychologisch begründet werden: Was du als verantwortliches Liebesverhältnis zu einem anderen Menschen ansiehst, ist in Wirklichkeit eine Auswirkung deiner kindlichen Abhängigkeit von Vater und Mutter. Oder er kann biologisch begründet werden: Was du als eine verantwortliche Handlung der Nächstenliebe interpretierst, ist in Wirklichkeit eine Folge einer biologisch-genetischen Gesetzmäßigkeit. Auf diese beiden Gedankengänge gehen wir im Kapitel 10 näher ein. Die letztgenannten Überlegungen zeigen, wie die ethische Menschenauffassung in ein umfassenderes Verständnis der Wirklichkeit eingeht. Man kann hier von einer Deutung der Wirklichkeit reden, oder auch den traditionellen Ausdruck Metaphysik gebrauchen. „Metaphysik" ist die Bezeichnung für die philosophische Untersuchung der grundlegendsten Begriffe und Zusammenhänge, die die Wirklichkeit in ihrer Ganzheit prägen. Wenn ich beispielsweise behaupte, dass der Mensch einen freien Willen hat, habe ich damit gesagt, dass nicht alles in der Natur - von der der Mensch ein Teil ist - einer strengen gesetzmäßigen Vorherbestimmung unterworfen ist. Und wenn ich umgekehrt behaupte, dass alles, was wirklich ist, aus Stoff oder Materie besteht, habe ich damit gesagt, dass der Mensch keine immaterielle Seele haben kann. Beide Behauptungen sind metaphysische Aussagen.
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Was ist Ethik?
Und letztlich gibt es keine ethische Theorie ohne metaphysische Voraussetzungen.
1.5 Theologische und philosophische
Ethik
Der Zusammenhang zwischen ethischer Grundauffassung, Anthropologie und Metaphysik leitet über zur Frage, was der Unterschied zwischen theologischer und philosophischer Ethik ist. Auf beide können wir unsere Beschreibung der Ethik als kritische Reflexion über die Vorstellungen von Gut und Böse anwenden. Und sowohl in der Theologie als auch in der Philosophie finden wir die verschiedenen Formen der kritischen Reflexion, die wir erwähnt haben (normative, deskriptive, prinzipielle Ethik usw.). Aber natürlich gibt es einen Unterschied zwischen den Reflexionen der theologischen und der philosophischen Ethik. Es wird die Meinung vertreten, der wesentlichste Unterschied bestehe darin, dass die theologische Ethik von einer im Voraus gegebenen Auffassung vom rechten menschlichen Handeln ausgeht, nämlich derjenigen, die in der Bibel, in kirchlichen Bekenntnissen oder anderen autoritativen Dokumenten enthalten ist. Diese Sichtweise geht, anders formuliert, davon aus, dass die Theologie von vornherein daran gebunden ist, eine bestimmte normative Ethik zu verfechten. Das ist jedoch bestenfalls eine Vereinfachung. Diese Sichtweise setzt ja unter anderem voraus, dass feststeht, welche Auffassung vom rechten Handeln verfochten werden soll. Demgegenüber kann behauptet werden, dass es für die Reflexion der theologischen Ethik ein bestimmtes Hauptthema gibt. Wir können es auf folgende Weise formulieren: Theologische Ethik ist die kritische Reflexion über diejenige Auffassung vom rechten menschlichen Handeln, die dem christlichen Glauben innewohnt.
Im Unterschied dazu ist philosophische Ethik nicht durch eine solche vorgegebene Aufgabe gebunden. Sie ist in ihrer Kritik prinzipiell radikaler, als es die Theologie sein kann. Letzten Endes kann in der Philosophie gar nicht vorausgesetzt werden, dass es Sinn macht, zwischen richtigem und falschem menschlichen Handeln zu unterscheiden. Wir
Ethische Theorien in der Geschichte
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können deshalb versuchsweise ihre grundlegende Aufgabe folgendermaßen formulieren: Philosophische Ethik ist eine kritische Reflexion über die Frage, ob es Sinn macht, zwischen guter bzw. richtiger und böser bzw. falscher menschlicher Handlungsweise zu unterscheiden.
Trotz dieses Unterschiedes ist es wichtig sich vor Augen zu halten, dass die theologische Ethik die philosophische berücksichtigen muss. Die philosophische Reflexion stellt diejenige Grundlage der Ethik, welche das Thema der Theologie ist, in Frage. Die Philosophie spiegelt damit die Tatsache wider, dass wir in einer Kultur leben, in der auch nichtreligiöse und antireligiöse Deutungen der Wirklichkeit und des Menschenlebens möglich sind. Es gehört zur Aufgabe der Theologie, diese Herausforderung anzunehmen und zu fragen, ob eine Begründung der Ethik aus dem christlichen Glauben heraus vereinbar ist mit der kritischen Analyse der Philosophie. Als theologische Disziplin stellt die Ethik - zusammen mit der Religionsphilosophie - einen Teil der systematischen Theologie dar. Ihr drittes Fach ist die Dogmatik, die Untersuchung der christlichen Glaubenslehre. Es ist selbstverständlich, dass die theologische Ethik nicht vollkommen von der Dogmatik getrennt werden kann. Wenn die theologische Ethik das Verhältnis zwischen christlichem Glauben und menschlichem Handeln untersucht, dann muss sie sich einen Begriff davon machen, was christlicher Glaube ist. Es ist die Aufgabe der Dogmatik, einen solchen Begriff herzustellen. Die Unterscheidung zwischen Ethik und Dogmatik ist also Ausdruck einer theologischen Arbeitsteilung. 7
1.6 Ethische Theorien in der Geschichte Dieses Buch ist sowohl eine Einfuhrung in theologische als auch in philosophische Ethik. Wie schon angedeutet, gehören diese beiden 7
Die Bemerkungen zur Einordnung der Ethik innerhalb der systematischen Theologie sind Ausdruck der in Dänemark und den übrigen skandinavischen Ländern üblichen Einteilung.
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Was ist Ethik?
Formen der ethischen Reflexion untrennbar zusammen - jedenfalls vom theologischen Gesichtspunkt aus gesehen. Dass es sich so verhält, wird deutlich, wenn man sich mit ethischen Theorien von einem historischen Blickwinkel aus beschäftigt. Ich habe mich deshalb entschieden, die Darstellung historisch aufzubauen. Das darf nicht als Ausdruck der Meinung verstanden werden, man könne Begriffe, Theorien und Zusammenhänge nur von ihren historischen Voraussetzungen her verstehen. Ich bin kein Anhänger des Dogmas, dass unser Verständnis und unser Denken vollständig bestimmt sind von der Tradition, in der wir stehen. Auf der anderen Seite meine ich nicht, dass die ethische Reflexion sich damit begnügen kann, Analyse von Begriffen und Argumentationsformen zu sein. Für die Theologie ist das unmöglich, da der christliche Glaube einen historischen Ausgangspunkt hat. Im dänischen Zusammenhang ist die Frage nach den Konsequenzen des christlichen Glaubens für das menschliche Handeln geschichtlich auf konkrete Weise definiert, da wir in einem Land leben, das mehr als 450 Jahre hindurch von einem evangelisch-lutherischen Verständnis des Christentums geprägt wurde. Darauf muss die theologische Ethik natürlich Rücksicht nehmen. Diese Tatsache ist für die Auswahl des in den folgenden Kapiteln dargestellten Stoffes mitbestimmend gewesen. Die Auswahl will zum Nachdenken anregen über die Frage: Kann auf lutherischer Grundlage eine Ethik formuliert werden, die sich auf dem Niveau der Bedingungen für das Denken am Anfang des 21. Jahrhunderts befindet? Literatur zu Kapitel 1 Die Literaturangaben am Ende der einzelnen Kapitel enthalten normalerweise die im jeweiligen Kapitel erwähnten Werke neben Vorschlägen zur weiteren Lektüre. Dieses erste Literaturverzeichnis umfasst jedoch allgemeine Werke zur Ethik, und zwar sowohl der theologischen als auch der philosophischen. Es kann daher vorkommen, dass hier auftretende Werke auch in späteren Kapiteln erwähnt werden.
Handbücher Herz, A„ Korff, W „ RendtorfF, T„ Ringeling, H. (Hrsg.)(1993): Handbuch der christlichen Ethik. Aktualisierte Neuausgabe. Freiburg, Basel, Wien.
Literatur zu Kapitel 1
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Was ist Ethik?
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Kapitel 2. Die Ethik im klassisch-griechischen Denken Oft wird die Behauptung aufgestellt, dass die europäische Kultur und Gedankenwelt ihre wichtigsten Quellen an zwei Orten hat, nämlich in den biblischen Schriften (und dem Christentum, welches daraus hervorging) sowie im klassischen griechischen Denken. Zumindest in der Theologie gibt es verschiedene Auffassungen davon, wie diese beiden Denktraditionen sich zueinander verhalten. Ein Mal werden sie als absolute Gegensätze, ein anderes Mal sowohl als übereinstimmend als auch verschieden voneinander betrachtet. Zweifellos hat jedoch auch das neuere und neueste Nachdenken über ethische Probleme in hohem Maße seine Voraussetzungen sowohl im klassisch-griechischen als auch im biblischen Denken. Wenn man die ethischen Problemstellungen der heutigen Zeit verstehen will, ist es deshalb notwendig, sich mit den Grundzügen der Ethik im klassisch-griechischen Denken und der biblischen Ethik vertraut zu machen. In diesem und dem folgenden Kapitel soll versucht werden, die Voraussetzungen dafür zu geben. „Klassisch-griechisches Denken" ist ein weiter Begriff. Erstens deckt „klassisch" einen sehr langen Zeitraum ab. Man betrachtet normalerweise Thaies (ca. 640-545 v.Chr.) als den ersten griechischen Philosophen; und man kann mit einem gewissen Recht sagen, dass klassische griechische Philosophie andauert bis hin zu den späten Stoikern, die bis etwa 200 n.Chr. gewirkt haben. Das ergibt einen Zeitraum von etwa 850 Jahren! Zweitens ist es unklar, was unter „Denken" zu verstehen ist. Es kann sich sowohl auf die eigentliche Philosophie als auch auf Literatur wie Homers epische Dichtung und die Dramen von Aischylos, Euripides und Sophokles beziehen. Gerade die letztgenannten behandeln ja ausdrücklich ethische Probleme. Im klassisch-griechischen Denken finden wir sehr verschiedene Formen ethischer Reflexion. Im Folgenden nehme ich eine Begrenzung vor, indem ich mich überwiegend mit der ethischen Reflexion innerhalb der griechischen Philosophie beschäftige. Eine weitere Be-
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Die Ethik im klassisch-griechischen Denken
grenzung liegt darin, dass ich mich auf die großen Gestalten der griechischen Philosophie konzentriere, nämlich Piaton und Aristoteles, mit klarem Hauptgewicht auf dem Letztgenannten. Daneben gibt es jedoch eine weitere Form von antiker Philosophie, die auf die spätere ethische Reflexion entscheidenden Einfluss gehabt hat, nämlich die Stoa. Auch auf sie müssen wir deshalb näher eingehen.
2.1 Das „ vor-ethische " Denken Wie schon erwähnt kommen unsere ethischen Urteile in der Sprache zum Ausdruck. Generell gilt, dass wir nicht über ethische Problemstellungen nachdenken können, ohne auf die eine oder andere Weise die Sprache als Ausgangspunkt zu nehmen. Hier stoßen wir jedoch auf Probleme. Erstens auf das allgemein bekannte, dass Wörter in einer Sprache (wie Altgriechisch) selten, wenn überhaupt, genau den Wörtern einer anderen Sprache entsprechen. Wir können also streng genommen niemals sicher sein, wie ethische Schlüsselbegriffe wie „agathos" oder „arete" zu übersetzen sind. Allein aus diesem Grunde sind die klassischen philosophischen Texte wie auch alle anderen klassischen Texte Gegenstand ständiger Neudeutung. 1 Und zweitens kommt hinzu, dass die ethischen Ausdrücke wie „gut" oder „Tugend" auch eine nicht-ethische oder vor-ethische Bedeutung haben. Das gilt auch für die beiden griechischen Wörter, die wir auf diese Weise übersetzen. Ursprünglich scheinen sie keine spezifisch ethische Bedeutung zu haben. Agathos, „gut" kann ja ganz einfach so etwas wie „gut funktionierend" bedeuten. Und die Bedeutung von arete entspricht ursprünglich etwa der von „Tüchtigkeit". Das lässt sich z.B. bei Homer sehen. Der „gute" und „tugendhafte" Mann ist der erfolgreiche und starke Adlige und Krieger; der Kraftvol1
Es ist deshalb letzten Endes äußerst problematisch, mit Größen wie „die Philosophie Piatons", „die Ethik des Aristoteles" usw. zu operieren. Obwohl man sie im Lehrbuch nachschlagen kann, muss man sich klarmachen, dass es von ihnen keine endgültige Version gibt. Die Interpretation dessen, was ein Philosoph gedacht hat, ist nie abgeschlossen.
Die Sophisten und Sokrates
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le, der hervorragende Eigenschaften für eine reiche Lebensentfaltung mitbringt. 2 Doch gerade bei Homer kann man sehen, wie die ethische Problemstellung dabei ist, sich den Weg zu bahnen. Im 24. Gesang der Ilias wird geschildert, wie Achilles, der soeben Hektor getötet hat, um Patroklos zu rächen, die Leiche seines Widersachers rund um das Grab des Patroklos schleppt. Apollo beobachtet die Szene mit den anderen Göttern und sagt: „... wie ein Bergleu denkt er nur W i l d h e i t . . . So ist erbarmungslos der Peleid; auch selber die Scham nicht kennet er" (Verse 41-45). 3 Es wird hier der Gedanke angedeutet, dass ein Mensch sich nicht immer von seinen Leidenschaften mitreißen lassen sollte. Im Unterschied zu Tieren kann der Mensch seine Leidenschaften und Affekte beherrschen. Scham bedeutet sich zu beherrschen und Zurückhaltung zu zeigen aus Respekt vor einem anderen Wesen. 4
2.2 Die Sophisten und Sokrates Das Wirken der Sophisten ist ein wichtiger Hintergrund für Piatons und Aristoteles' ethische Theorien. Mit „Sophisten" bezeichnet man eine Gruppe von Philosophen, die offenbar professionelle Lehrer waren im Gebrauch der Sprache als Mittel, sich durch Überredung anderer Einfluss zu verschaffen. Als heutige Parallele dazu könnten vielleicht Werbe- und Marketingfachleute genannt werden, die u.a. Politikern Kurse geben, um sie zu schlagkräftigeren Kommunikatoren zu machen. Unsere Auffassung von den Sophisten ist in hohem Grade von dem Bild geprägt, das Piaton von ihnen in verschiedenen Dialogen 2
3 4
Wir stoßen hier wieder auf die im ersten Kapitel erwähnte Komplexität der Bedeutung von „gut". Die nicht-ethische Bedeutung, von der jetzt die Rede ist, kennen wir auch aus gegenwärtigen Sprachen. So bedeutet der Satz „Er ist ein guter Fußballer", dass jemand in einer bestimmten Sportart talentiert ist. Es ist keine ethische Aussage. Ich verdanke den Hinweis auf diese Stelle der Darstellung der griechischen Ethik in Pfiirtner 1988 (siehe S. 17f.). Der Respekt vor dem Verstorbenen ist ein Motiv, das auch in einem anderen klassischen Text von großer ethischer Relevanz vorkommt, nämlich in der Antigone des Sophokles.
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Die Ethik im klassisch-griechischen Denken
zeichnet; diese tragen oft die Namen berühmter Sophisten (z.B. Protagons und Gorgias). Zu diesem Bild gehört, dass ein Sophist, gerade weil es um Beeinflussung und Überredung geht, nicht mit einem objektiven und allgemeingültigen Maßstab für gut und richtig rechnet. Sophisten sind mit anderen Worten Skeptiker: Sie behaupten, dass es ein objektives Wissen und einen allgemeingültigen ethischen Maßstab nicht gibt. Man kann sie auch ethische Relativisten nennen: Die Auffassung des einen über Gut und Böse kann genau so gut sein wie die des anderen. Die Sophisten sind ein gutes Beispiel dafür, dass wichtige heutige Positionen der Ethik sozusagen schon in der Antike ausprobiert worden sind. In diesem Falle sind es also der ethische Skeptizismus und Relativismus. Sokrates (etwa 470-399 v.Chr.) kennen wir ebenfalls primär durch Piatons Schilderungen (er war ja ein Schüler des Sokrates). In seinen Dialogen erscheint das Bild von einem Weisen, bei dem Leben und Denken eng zusammenhängen. Sokrates spricht davon, was das Gute ist, aber vor allem setzt er seine Auffassung in die Praxis um. Das hat Piaton eingehend in den Schriften geschildert, die von Sokrates' Verurteilung und Tod berichten. Wir sehen hier das Ideal des weisen, ethischen Menschen, der das Angebot der Freunde zur Fluchthilfe, um sich der Strafe zu entziehen, ausschlägt. Er akzeptiert sein Urteil und fühlt es als seine Pflicht, die Gesetze einzuhalten. Die Ruhe, mit der er seinem eigenen Tod entgegensieht, ist ein gutes Beispiel für die Besonnenheit, die griechischer Denkweise zufolge einer der wesentlichen Bestandteile der rechten Lebensführung ist. (Siehe den Dialog Phaidori).
2.3 Piaton
(428-348)
Im ersten Kapitel habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass eine ethische Grundposition immer mit einer metaphysischen und einer anthropologischen Denkweise zusammenhängt. Das ist vielleicht besonders deutlich bei den großen antiken Philosophen, und nicht zuletzt bei Piaton. Was die Metaphysik betrifft, d.h. die Auffassung über die grundlegenden Merkmale der gesamten Wirklichkeit, kommt sie bei Piaton in dem berühmten Höhlengleichnis im Dialog Der Staat zum Aus-
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druck.5 Die gefesselten Gefangenen, die nur Schattenbilder der Holzfiguren an den Höhlenwänden sehen können, symbolisieren gewöhnliche Menschen, die die sinnlich erfahrbare Welt in Zeit und Raum als wirklich betrachten. Entsprechend symbolisieren die Sonne und der von ihr erhellte Bereich die Welt der Ideen, von der man nur durch mühsames Sich-Abwenden von der sinnlich erfahrbaren Welt Kenntnis erlangt. Es hat den Anschein, dass Piaton einen metaphysischen und ontologischen6 Dualismus verficht: Die gesamte Wirklichkeit besteht aus zwei ganz verschiedenen Seinsformen, nämlich den Phänomenen (sinnlichen Erscheinungen) und den Ideen bzw. Formen/ Diesem metaphysischen Dualismus entspricht, so scheint es wiederum, ein anthropologischer Dualismus. Der Mensch besteht grundlegend aus zwei Wirklichkeitsformen: Leib und Seele. Das kommt in 5
6 7
Ich gebe hier ein sehr vereinfachtes Bild von der Metaphysik Piatons und sehe ganz davon ab, dass sie eine Entwicklung durchlaufen hat, die sich in den verschiedenen Dialogen widerspiegelt. Ontologisch = das Seiende (was es gibt) betreffend. Von to on: „das Seiende". Der schon erwähnte Moralphilosoph A. Maclntyre (dessen Platon-Deutung ich hier folge) unterscheidet zwischen einem logischen und einem religiösen Motiv in Piatons Ideenlehre. Logisch könne man die Ideenlehre folgendermaßen verstehen. Einige sprachliche Ausdrücke, die Prädikate (wie „gut" und „tapfer") sind generell in dem Sinne, dass sie zur Beschreibung einer Anzahl verschiedener Dinge bzw. Personen benutzt werden können (in Unterschied zu Namen wie „Sokrates", die singular sind: Sie bezeichnen eine einzige Person). Das, was die Anwendbarkeit desselben Wortes (etwa „tapfer") auf viele Personen ermöglicht, ist seine Bedeutung. Ein Wort hat ja bei jeder Verwendung dieselbe Bedeutung. Was aber ist die Bedeutung eines Wortes? Das ist die Frage, die Piaton sich nach Maclntyre gestellt und mit seiner Ideenlehre beantwortet hat. Seine Antwort lautet: Die Bedeutung des Wortes „tapfer" ist das Tapfere als solches, die Tapferkeit. Im Unterschied zur konkreten tapferen Person ist diese Tapferkeit nichts Wahrnehmbares und Veränderliches. Es ist, so Piaton, ein „eidos", eine Idee oder Form, die einer transzendenten Welt angehört. Das religiöse Motiv kommt in Piatons Bewertung der Ideenwelt im Vergleich zur Sinneswelt zum Ausdruck: Die Ideenwelt ist die eigentliche Wirklichkeit und ist daher von höherem Rang als die Welt des Empirischen. Sie ist unveränderbar und unvergänglich. Daher ist sie Ziel des menschlichen Strebens. (Vgl. Maclntyre 1984, Kapitel 4 bis 6, besonders S. 54-56.).
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D i e Ethik im klassisch-griechischen Denken
den Beweisen für die Unsterblichkeit der Seele zum Ausdruck, die wir im Faidon finden. Diesen Argumenten zufolge ist der T o d gleichbedeutend damit, dass die unvergängliche Seele von dem vergänglichen Leib befreit wird und weiterlebt. Es gibt natürlich einen engen Zusammenhang zwischen Metaphysik und Anthropologie. Die Seele des Menschen hat an der Ideenwelt Anteil; nur dehalb kann diese vom Menschen erkannt werden. Entsprechend muss die Seele - wie die Welt der Ideen - von höherem Rang sein als die Leiblichkeit. Der Grundgedanke in Piatons Ethik kann als Variation eines Grundmotivs der griechischen Ethik überhaupt bezeichnet werden: Der Mensch kann mit Hilfe seiner Vernunft die unvernünftigen (irrationalen) Neigungen, Triebe, Leidenschaften usw. beherrschen, die seine Handlungen beeinflussen. Dieses Motiv entfaltet Piaton im Dialog Der Staat, der von einem der ethischen Grundbegriffe des griechischen Denkens, der Gerechtigkeit, handelt. Einleitend stellt einer der Gesprächsteilnehmer, Thrasymachos, die These auf, dass Gerechtigkeit das ist, was dem Starken nützt. Demgegenüber ist es Sokrates' Aufgabe, das wahre Wesen der Gerechtigkeit zu finden. N u n wird der Begriff Gerechtigkeit sowohl auf den einzelnen Menschen als auch auf einen ganzen Stadtstaat, eine Polis, angewendet. Es muss ja in der Tat eine Ubereinstimmung geben zwischen den Eigenschaften von Einzelmenschen und denen von Staaten, da Staaten nichts anderes sind als Gemeinschaften von Einzelmenschen. Der Staat ist also eine Art vergrößerte Ausgabe des einzelnen Menschen. Deshalb ist es vernünftig, mit einer Untersuchung dessen, was Gerechtigkeit auf der Staatsebene ist, zu beginnen. Eine solche Untersuchung lässt sich am besten durchführen, indem man die Entstehung des Staates rekonstruiert und sieht, auf welche Weise sich das Problem der Gerechtigkeit ergibt. Die grundlegende Funktion des Staates ist es, den Menschen das gemeinsame Lösen von Aufgaben zu ermöglichen, wie z.B. die Erfüllung ihrer elementaren Bedürfnisse. Deshalb ist es notwendig, dass Menschen Dinge produzieren und verkaufen, die in dieser Hinsicht notwendig sind. D a sich die Menschen aber nicht in ihrer Bedürfnisbefriedigung begrenzen können, werden Staaten expandieren und Kriege unvermeidlich. Es sind folglich Bürger nötig, deren Aufgabe es ist, den Staat nach außen hin zu verteidigen. Ein Staat braucht also in
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jedem Fall zwei Gruppen von Mitgliedern: Gewerbetreibende und Wächter. Die Gewerbetreibenden werden Menschen sein, deren Begierde (epithymia) vorherrscht, während es bei den Bewachern die Kühnheit (thymos) sein wird. Diese beiden Gruppen können jedoch nicht die Gesellschaft leiten. Es muss eine dritte Art Menschen geben, nämlich di e. Philosophen, die von Weisheit erfüllt sind und zwischen Ideen und den Phänomenen, die nur an den Ideen teilhaben, unterscheiden können. Die Weisheit (sophia) ist die Tugend der Herrscher-Philosophen. Entsprechend gehört der Mut (andreia) zu den Wächtern und die Besonnenheit (sophrosyne) zu den Gewerbetreibenden. Was ist nun Gerechtigkeit? Sie besteht darin, ... dass jeder, wie er Einer ist, auch nur das Seinige tut und sich nicht in vielerlei mischt! (433c).
Eine gerechte Gesellschaft ist also dort gegeben, wo die Mitglieder jedes Standes die jeweilige standesgemäße Aufgabe lösen. In einer solchen Gesellschaft werden Ordnung und Harmonie herrschen. Nun ist der Staat wie gesagt ein vergrößertes Bild des einzelnen Menschen und seiner Seele. Diese muss somit als ihre drei grundlegenden Elemente Begierde, Kühnheit und Vernunft enthalten. Die Gerechtigkeit besteht bei dem einzelnen Menschen darin, dass jeder Teil der Seele seine Funktion erfüllt. Das bedeutet konkret, dass die Vernunft über die Kühnheit herrschen muss, und beide gemeinsam über die Begierde. Gerechtigkeit ist diejenige Tugend, die das rechte Zusammenspiel der beiden anderen - Mut und Besonnenheit - bewirkt. Es gibt jedoch auch eine Tugend, die der Entfaltung der Vernunft entspricht, und das ist wie gesagt die Weisheit. Weisheit beruht darauf, dass die Vernunft ihren höchsten Gegenstand, nämlich die Idee des Guten, erkennt. Von ihr benutzt Piaton im 5. Buch des Staates das Bild der Sonne, die Ursache sowohl für das Sehen als auch für das Gesehene ist. Auf gleiche Weise ist die Idee des Guten Ursprung sowohl des Denkens als auch des Gedachten. Das Gute in diesem Sinne kann nicht als ethischer Begriff aufgefasst werden. Bei Piaton steht aber die Idee des Guten in Zusammenhang mit der Frage nach Beschaffenheit und Erkennbarkeit der Wirklich-
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Die Ethik im klassisch-griechischen Denken
keit. Und dieser Frage ist die ethische Frage nach der rechten Lebensweise des Menschen untergeordnet. Man kann zusammenfassend sagen, dass Piatons Ethik davon geprägt ist, dass er ein philosophischer Verfechter eines objektiven Idealismus ist. „Idealismus" beinhaltet, dass die Realität von Ideen (unsinnliche, der Vernunft zugängliche Größen) behauptet wird. Objektiv ist Piatons Idealismus, weil Ideen seiner Auffassung zufolge eine vom Menschen unabhängige Realität haben. 8 Die Grundlage der Ethik wird also von einer objektiven, transzendenten Wirklichkeit gebildet, zu der der Mensch durch seine Vernunft Zugang hat, und aus der heraus er seine Handlungen ableiten kann.
2.4 Aristoteles Zunächst einige wenige Daten über das Leben und die Schriften des Aristoteles. Er wurde 384 v. Chr. in der Stadt Stageira auf der Chalkidiki-Halbinsel in Thrakien geboren; deshalb wird er mitunter als der „Stagirit" bezeichnet. Er kam nach Athen, wo er sich der von Piaton errichteten Akademie anschloss und Piatons Schüler wurde. Zwischen 343 und 335 war er Lehrer des mazedonischen Königssohnes Alexander (später „Der Große"). Er starb 322. Aristoteles' Schriften können in vier Gruppen eingeteilt werden: 1) Logik und Wissenschaftstheorie (Organon), 2) Naturgeschichte bzw. Naturphilosophie, 3) Metaphysik, 4) Ethik. Normalerweise geschieht das Hinweisen auf seine Schriften nach der Ausgabe von Immanuel Becker aus dem Jahre 1830. Diese bestand aus 1462 großen Seiten mit je zwei Spalten. Ein Hinweis wie 1032 b, 15 bedeutet also: Seite 1032, rechte Spalte, Zeile 15 in der BeckerAusgabe. Weitaus die meisten anderen Ausgaben und Übersetzungen haben diese Zahl am Rande. In vier Schriften stellt Aristoteles seine Ethik dar: die Nikomachische Ethik (an Nikomachos), die Eudemische Ethik, (an Eudemos), Magna Moralia und die Politik.
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Einem subjektiven Idealismus begegnen wir bei Philosophen, die Ideen als mentale Größen auffassen, d.h. im Bewusstsein vorkommende Größen wie etwa Sinnesdaten, Gefühle, Vorstellungen u.a. Einen solchen Idealismus vertreten z.B. David Hume und Immanuel Kant. (Vgl. die Kapitel 7 und 8).
Aristoteles
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Das Gute Aristoteles beginnt seine Überlegungen in der Nikomachischen Ethik (Ethica Nicomachea: EN) damit, den Begriff des Guten (t'agathon) zu betrachten. Das Gute, sagt er, ist das, wonach alles strebt. Dies ist so zu verstehen, dass alles nach einem Ziel strebt; und das von jedem Wesen Angestrebte ist das Gute für dieses Wesen. Schon diese einleitende Bestimmung verrät, dass auch bei Aristoteles die ethische Theorie eng mit metaphysischen Annahmen zusammenhängt. Ein Grundzug aller Wirklichkeit ist nach Aristoteles das teleologische Ausgerichtetsein: Alles ist seiner eigenen Seinsart zufolge darauf angelegt, ein Ziel (telos) anzustreben. Das gilt für die so genannten leblosen Dinge: Ein Stein z.B. strebt danach, sich an seinem „natürlichen Ort", nämlich dem Zentrum der Erde, aufzuhalten. Folglich sucht er so nahe wie möglich an diesen Ort zu kommen, er fällt zur Erde. Dasselbe gilt für die Lebewesen, bei denen wir deutlich einen anderen Grundzug beobachten können: Lebensentfaltung bedeutet Verwirklichung (energein) von etwas, was das Lebewesen als Möglichkeit oder Potenzialität (dynamis) in sich hat. Dafür sei ein oft angeführtes Beispiel genannt: Eine Eichel ist potenziell (dynamei) eine Eiche; sie strebt deshalb danach, es wirklich zu werden. So weit ist „das Gute" ein nicht-ethischer Begriff. Was ist das Gute des Menschen, d.h. wonach strebt der Mensch seiner Natur zufolge? Er strebt, so Aristoteles, vielen Dingen nach. Aber es muss ein höchstes Gut geben als äußerstes Ziel menschlichen Strebens. Dieses Ziel definiert er auf folgende Weise: Das Gute des Menschen ist die Verwirklichung der Fähigkeiten der Seele in Übereinstimmung mit der Tugend (to anthropinon agathon psyches energeia kat areten. EN 1098 a, 17 f.).
Es liegt ein Zweifaches in Aristoteles' Begriff vom Guten. Dieses spiegelt sich auch in der Bedeutung des deutschen Wortes „gut" wider. Wir können z.B. sagen: „Es wäre gut für dich, Ferien zu machen"; hier ist das Gute ein wünschenswerter Zustand, den anzustreben passend wäre. Oder wir können sagen: „Du spielst gut Klavier"; hier ist das Gute eine Art, die menschlichen Fähigkeiten zu entfalten. Anscheinend sagt Aristoteles also mit seiner Definition des menschlichen Guten: Es ist gut für den Menschen, seine Fähigkeiten auf eine bestimmte Weise zu entfalten.
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Die Ethik im klassisch-griechischen Denken
Menschenbild Um die aristotelische Definition des Guten zu verstehen, muss näher geklärt werden, welches die Fähigkeiten der menschlichen Seele sind. Und um das zu beantworten, sind Kenntnisse der Anthropologie Aristoteles', seines Menschenbildes, nötig. Hierbei scheint es nun, als vertrete er wie Piaton einen Dualismus, indem er zwischen Vernunft und anderen seelischen Fähigkeiten unterscheidet. Das ist jedoch ein Irrtum: Aristoteles hat gerade kein dualistisches Menschenbild. Ein entscheidender Punkt in seiner Kritik an Piaton ist im Gegenteil, dem Dualismus zu widersprechen. Aristoteles sieht — als der Naturbeobachter, der er ist - den Menschen im Zusammenhang mit der übrigen Natur. Das bedeutet konkret, dass der Mensch mit Tieren und Pflanzen Gemeinsamkeiten hat. Wie alles Lebende haben wir Menschen eine Seele (psyche). Die Seele ist nämlich das, was den Organismus überhaupt zu etwas Lebendigem macht. (De Anima 412 b,5f.). Genauer gesagt hat die Seele des Menschen die beiden folgenden Fähigkeiten, die sie mit anderem Lebendem gemeinsam hat: — das Vegetative (threptike psyche = die Fähigkeit, Nahrung aufzunehmen, zu wachsen und sich zu vermehren), das wir mit Tieren und Pflanzen gemein haben; — das Sinnliche (aisthetike psyche), das wir mit den Tieren gemein haben. Darüber hinaus hat die Seele des Menschen eine spezifische Fähigkeit, die sich bei anderen Lebewesen nicht findet: — die Vernunft (nous/theoretike psyche).9 9
Eben weil der Mensch nach Aristoteles Aspekte seiner Psyche mit anderen Lebewesen gemeinsam hat, kann er nicht als über die nicht-menschliche Natur erhaben betrachtet werden. Der Mensch ist zwar kraft seiner Vernunftseele ein besonderes Wesen, aber eben ein besonderes Lebewesen-, ein zoon logon echon. Die Anthropologie des Aristoteles ist Teil einer Naturauffassung, die hierarchisch genannt werden kann. Die Natur wird als eine Stufenfolge von Lebensformen mit immer höheren Eigenschaften gesehen. Nach Aristoteles hat es diese Lebensformen immer gegeben. Es bedeutete deshalb einen radikalen Bruch mit der aristotelischen Naturauffassung, als Charles Darwin seine Theorie über die Entwicklung der Arten vorlegte. (Vgl. unten Kapitel 10).
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Die besondere Vernünftigkeit des Menschen ist nun gerade die Voraussetzung dafür, dass er seine Fähigkeiten gut (oder weniger gut) entfalten bzw. sein Lebengwi leben kann. Dieser Zusammenhang wird deutlich, wenn wir näher betrachten, was Aristoteles über den Begriff der Handlung sagt. Ein Lebewesen ist aktiv, weil es sinnlich wahrnimmt. Zur sinnlichen Wahrnehmung gehören nämlich Lust (hedone) und Schmerz (lype) und damit die Fähigkeit, etwas anzustreben (dynamis orektikos). Diese Fähigkeit äußert sich z.B. im Begehren, dem Anstreben des Lustvollen. Zur Fähigkeit des Strebens gehören der Mut (thymos) und der Wille (boulesis). Damit ist angedeutet, auf welche Weise die sinnliche Seele nach Aristoteles auch die menschliche Tätigkeit antreiben kann. (Siehe De anima, 2. Buch). Menschliche Tätigkeit ist jedoch nicht nur in der Sinnlichkeit begründet. Auch die Vernunft kann sie antreiben, genauer gesagt die praktische Vernunft (nous praktikos). Es ist dies die Vernunft, die ein Ziel (telos) ausdenkt und dieses Ziel zur Ursache oder zum Grund (arke) einer Handlung machen kann. Ich kann mir z.B. das Ziel setzen, immer gesund zu essen. Wenn ich weiß, ob eine vorliegende Nahrung gesund ist, weiß ich, ob ich sie zu mir nehmen soll oder nicht, ich kann also durch Uberlegen zu einem praktischen Ergebnis kommen. Es gibt nach Aristoteles eine Strukturgleichheit zwischen der theoretischen und der praktischen Vernunft. In beiden Fällen zieht die Vernunft Schlüsse in Form von Syllogismen. Ein klassisches Beispiel eines theoretischen Syllogismus ist: Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Also: Sokrates ist sterblich. Entsprechend gibt es einen praktischen Syllogismus, für den Aristoteles selbst das folgende Beispiel gibt: Alle Formen der trockenen Nahrung sind für alle Menschen gut. Ich bin ein Mensch. Dieses Brot ist trockene Nahrung. Also: Es ist gut fiir mich, dieses Brot zu essen. (EN 1 l47a,6-9).
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Die praktische Vernunft schließt von einem Guten, einer Zielsetzung, auf ihre Verwirklichung in Form einer konkreten Handlung. Wir werden zu dieser Problemstellung zurückkehren, wenn wir zu Aristoteles' Lehre von den Tugenden kommen. Es ist hier die Rede von einer charakteristischen menschlichen Form des Strebens nach dem Guten, nämlich dem Streben nach demjenigen, was sich durch Handlung (Tun) verwirklicht (to praktikon agathon). Aristoteles verwendet hierfür den Ausdruck praxis, und damit meint er die Form menschlicher Tätigkeit, die ethisch relevant ist. Eine andere Form von Tätigkeit ist diepoiesis, das Hervorbringen oder Produzieren von etwas. Die Poiesis hat ein Ergebnis, weshalb typische Beispiele von ihr die Tätigkeiten von Handwerkern und Künstlern sind. Diese beiden Formen des Produzierens sind übrigens bei Aristoteles nicht klar getrennt. Sowohl im Handwerk als auch in der Kunst bezeichnet er die Fähigkeit zum Produzieren als techne. Praxis ist demgegenüber kein Hervorbringen, sondern z.B. Verwirklichung der Tugenden. Bevor wir jedoch auf sie näher eingehen, müssen noch einige Bestimmungen aus der Handlungstheorie Aristoteles' erwähnt werden. Damit es Sinn macht, eine Person für das, was sie getan hat, zu loben oder zu tadeln, muss von einer freiwilligen (hekon) Handlung die Rede sein. Und damit eine Handlung freiwillig genannt werden kann, muss nach Aristoteles zweierlei gegeben sein: Die Ursache muss in der agierenden Person liegen, und diese muss wissen, was sie tut. So kann man mir z.B. weder vorwerfen, Majestätsbeleidigung geübt zu haben, wenn jemand mich gezwungen hat, einen Schmähbrief an Königin Margrethe II zu schreiben, noch wenn ich eine Dame beschimpfe ohne zu wissen, dass sie die Königin Dänemarks ist. Die Tugenden Der gute Lebensvollzug ist nun genauer gesehen die Verwirklichung der Vernunft. Diese hat nach Aristoteles zwei Formen. Zum einen kann sich die Vernunft zu demjenigen Teil der nicht-vernünftigen Seele verhalten, der für Vernunft zugänglich ist. Und zum anderen kann sich die Vernunft selbst in einer guten Weise entfalten. Dies ist die Grundlage des aristotelischen Begriffs der Tugend, und entsprechend der erwähnten Unterscheidung fallen die Tugenden in zwei Gruppen: die moralische und die intellektuelle.
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Um zu verstehen, wie Aristoteles den Begriff der Tugend auffasst, können wir zunächst einige Beispiele moralischer Tugenden nennen: Mut, Mäßigung, Großzügigkeit, Freundlichkeit, Wahrhaftigkeit. Wir würden wohl heute von Charaktereigenschaften sprechen, die wir bei einigen Menschen beobachten können. Aristoteles tut das gewissermaßen auch, nur hebt er hervor, dass die Tugenden uns Menschen nicht von Natur aus gegeben sind. Sie sind keine angeborenen Anlagen (dynameis), die nur darauf warten, verwirklicht zu werden. Auch sind die Tugenden nicht einfach Gefühle (pathe). Sie gehören hingegen der Kategorie hexis an: Sie sind etwas, was man als Fähigkeiten besitzt, die durch Gewohnheit (ethos) und Erziehung eingeübt werden. Ein Grundzug der Tugenden ist nun, dass sie auf zwei Weisen entstellt werden können, nämlich durch Übertreibung oder Mangel bzw. Defekt. Mut z.B. kann entweder in Tollkühnheit (zuviel) oder Feigheit (zuwenig) entstellt werden. Anders ausgedrückt: Die Tugend ist die Fähigkeit, die Mitte zu treffen zwischen zuviel und zuwenig eines gegebenen Faktors. Dieser Faktor kann z.B. ein Impuls der sinnlichen Seele sein, im Falle des Mutes etwa ein unmittelbarer Drang zum Tätigsein. Die Definition der Tugend lautet bei Aristoteles: Die Tugend ist eine Fähigkeit, dasjenige zu wählen (hexis proairetike), was für uns die Mitte ist, bestimmt durch die Vernunft. (EN 1 1 0 6 b, 36).
Eine der von Aristoteles genannten moralischen Tugenden ist die Großzügigkeit (eleutheriotes). Der Faktor, auf den bezogen sie die Mitte ist, ist Geben und Nehmen dessen, was in Geld gemessen werden kann. Die entsprechende Übertreibung ist das Verschwenderischsein, während der Mangel Geiz ist. Der Großzügige gibt gern und ohne an seinen eigenen Vorteil zu denken; er gibt, weil es ganz einfach angenehm ist, eine Tugend auszuüben. Vielleicht, so meint Aristoteles, sind die Großzügigen die am meisten Geschätzten, weil sie anderen helfen und nützen. Edelmut (megalopsychia) ist die Mitte bezogen auf Ehre, indem der Edle große Anforderungen an Ehre stellt. Da aber Ehre Tugend und moralische Güte (kalokagathia) voraussetzt, richtet der Edle in Wirklichkeit die Forderungen an sich selbst. Er ist nicht nachtragend, sondern kann von den Untaten absehen, die andere gegen ihn began-
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gen haben. Die Gegensätze zum Edelmut sind Geistlosigkeit und Kleinlichkeit. Es gibt nach Aristoteles auch eine auf geistvolle Unterhaltung bezogene Tugend, nämlich Schlagfertigkeit oder Witz. Der Schlagfertige kann wohl necken, aber er zügelt sich, so dass er es vermeidet, andere zu verletzen. Die Extreme dazu sind der Bajazzo und der Langweilige. In manchen Fällen macht Aristoteles auf zwei Gegensätze aufmerksam, ohne die entsprechende Tugend benennen zu können. Das gilt z.B. für den Gegensatz zwischen Gefallsucht und Querulantentum. Die rechte Mitte zwischen beiden hat jedoch viel Ähnlichkeit mit der Freundschaft, denn ein guter Freund ist imstande, mir zum richtigen Zeitpunkt zu widersprechen. Gerechtigkeit Die moralische Tugend, die Aristoteles am eingehendsten behandelt, ist die Gerechtigkeit. Er macht darauf aufmerksam, dass unter Gerechtigkeit vielerlei verstanden werden kann. Erstens kann Gerechtigkeit die zusammenfassende Bezeichnung aller Tugenden sein; in dem Falle bedeutet Gerechtigkeit ganz einfach, anderen Gutes zu tun. Zweitens kann Gerechtigkeit eine bestimmte Tugend bedeuten, welche die Mitte trifft in Bezug auf Faktoren wie Ehre, Geld oder Sicherheit. Die Gerechtigkeit in diesem engeren Sinne gibt es wiederum in zwei Formen, die jedoch beide durch den Begriff Gleichheit definiert sind. Die eine Form hat man später verteilende (distributive) Gerechtigkeit genannt. Sie bezieht sich auf Ehre, Besitz und andere teilbare Güter, welche Bürgern in gleichen oder ungleichen „Portionen" gegeben werden können. Die Mitte der verteilenden Gerechtigkeit ist Gleichheit im Sinne der so genannten geometrischen Proportionalität (z.B. 2:4 = 3:6). Nach Aristoteles wäre es zum Beispiel gerecht, wenn größeren Fähigkeiten größerer politischer Einfluss folgte. Die andere Form der Gerechtigkeit nennt man seither ausgleichende (kommutative) Gerechtigkeit. Sie bezieht sich auf Situationen, in denen eine Partei einer anderen Schaden zugefügt hat. Hier ist die Mitte Gleichheit im Sinne der so genannten arithmetischen Proportionalität (z.B. 3-1 = 7-5). Ein einfaches Beispiel: Ein Kind „leiht" sich ein Fünfmarkstück aus dem Portemonnaie der Mutter, die dann das Taschengeld beim nächsten Mal um den entsprechenden Betrag kürzt.
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Gerechtigkeit in der umfassenden Bedeutung charakterisiert Aristoteles folgendermaßen: Gerechtigkeit ist diejenige Eigenschaft, kraft derer man von jemandem sagen kann, er praktiziere Gerechtigkeit überlegt, und er gebe beim Verteilen von Dingen zwischen sich und anderen oder zwischen zwei anderen nicht sich selbst zu viel des Guten und dem anderen zu wenig, oder zu wenig des Üblen sich selbst und zu viel d e m anderen, sondern jedem das proportional Gleiche. Entsprechend wenn man zwischen zwei anderen Personen verteilt. ( E N 1134a, 1-7).
Das durchgängige Thema bei den verschiedenen Formen der Gerechtigkeit ist, dass gerecht ist, jedem das zu geben, was ihm/ihr zukommt. Freundschaft/Liebe Ein Phänomen, das Aristoteles zufolge sehr eng mit der Gerechtigkeit zusammenhängt, nennt er philia. Das Wort wird oft mit „Freundschaft" übersetzt, seine Bedeutung ist jedoch sehr viel weiter und umfasst u.a. viele Formen der Liebe. Der Einfachheit halber werde ich jedoch im Folgenden vorwiegend den Ausdruck „Freundschaft" verwenden. Wie wir gesehen haben, erwähnt Aristoteles die Freundschaft in Zusammenhang mit den moralischen Tugenden. Er eröffnet denn auch seine umfassende Analyse mit der Feststellung, die Freundschaft sei eine Tugend. Es wird jedoch schnell deutlich, dass es um ein Phänomen geht, das nicht ohne weiteres der Definition der Tugend als der Mitte zwischen zwei Extremen entspricht. Nach Aristoteles müssen drei Bedingungen erfüllt sein, damit eine Beziehung zwischen Menschen Freundschaft genannt werden kann. Sie müssen (i) füreinander Wohlwollen (eunoia) fühlen; (ii) sich des gegenseitigen Wohlwollens bewusst sein; (iii) für das Wohlwollen eine Ursache haben. Als Ursache des Wohlwollens - und damit Begründung einer Freundschaft — können drei Dinge dienen: das Nützliche, das Angenehme oder das Gute. Nach Aristoteles kann ich mich also mit jemandem befreunden, weil es mir nützt (vielleicht ist er/sie reich), weil es angenehm ist (er/sie ist charmant und klug), oder weil wir beide gute, tugendhafte Menschen sind. Ein zusätzlicher Unterschied, der verschiedene Arten der Freundschaft definiert, ist, ob sie zwischen gleichen oder ungleichen Parteien besteht.
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Aristoteles verschwendet nicht viele Worte auf die im Nutzen bzw. im Angenehmen begründete Freundschaft. In diesen Fällen wird die Freundschaft nicht auf Grund dessen gesucht, was der Andere ist, sondern auf Grund dessen, was er hat. Solche Freundschaften können auch zwischen Guten und Bösen bestehen und ebenso unter Bösen. Die rechte Form der Freundschaft ist diejenige, die unter guten und tugendhaften Menschen besteht. In diesem Fall wünscht man dem Freund das Gute um seiner selbst willen. Diese Freundschaft besteht in ihrer reinsten Form zwischen gleichgestellten Personen, z.B. zwischen freien männlichen Mitgliedern eines „Klubs" (hetairaia). Es kann jedoch eine solche Freundschaft der Güte auch dann geben, wenn die eine Partei der anderen überlegen ist, wie etwa bei den Beziehungen Vater — Sohn, Älterer - Jüngerer, Mann — Frau, Herrscher — Untertan. Einige dieser Freundschaften sind naturgegeben, indem sie in biologischen Faktoren wie der Sexualität gründen. Letzteres gilt selbstverständlich für die Beziehung zwischen Mann und Frau. Ihr Zusammenleben dient der Fortpflanzung und der Herbeischaffung des Lebensbedarfes. Die Freundschaft zwischen Ehepartnern kann daher nach Aristoteles auf Nutzen oder auf dem Angenehmen basieren. Sie kann aber auch eine echte, auf Tugend beruhende Freundschaft sein. Zu den in der Sexualität begründeten Freundschaften gehört auch das Verhältnis von Eltern und Kindern. Da die Parteien eine unterschiedliche Stellung innerhalb der Beziehung einnehmen, ist auch ihre Art Freundschaft zu zeigen verschieden. Eltern lieben ihre Kinder wie Teile ihrer selbst, aber auch wie eine Form des Besitzes. Kinder hingegen lieben ihre Eltern als Ursprung ihres Daseins — oder richtiger: So lieben sie ihren Vater. Aristoteles hat eine Auffassung von der Fortpflanzung, die beinhaltet, dass es streng genommen nur der Vater ist, der zur Entstehung eines Kindes beiträgt! Er kann daher sagen, dass die Liebe zum Vater die grundlegendste Form der Freundschaft innerhalb der Familienbeziehungen ist. Andererseits hebt er jedoch die Mutterliebe als die stärkere hervor, weil das Bestehen der elterlichen Beziehung hier sicherer sei und das Verhältnis zum Kind länger dauere. Wie erwähnt meint Aristoteles, die Freundschaft zwischen Kindern und Eltern — und zwischen Artgenossen - sei naturgegeben (physei). Sie ist
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deshalb ein universeller Zug, den man überall findet, wo einem Menschen begegnen. Wie gesagt gibt es nach Aristoteles einen engen Zusammenhang zwischen Freundschaft und Gerechtigkeit: Wo Freundschaft herrscht, ist Gerechtigkeit eine Selbstverständlichkeit, und umgekehrt enthält die höchste Form der Gerechtigkeit ein Element der Freundschaft. Warum gibt es diesen Zusammenhang? Weil bei der Freundschaft wie im Falle der Gerechtigkeit Gleichheit von grundlegender Bedeutung ist. Das veranschaulicht Aristoteles durch das Zitieren einer Redensart: „Freundschaft ist Gleichheit" (philotes he isotes). Dass in einer Freundschaft: Gleichheit herrscht, kann mehrerlei bedeuten. Es kann bedeuten, dass Freunde an der Beziehung „gleich viel haben": Die Freundschaft ist durch Gegenseitigkeit gekennzeichnet. Das ist bei der auf Nutzen oder dem Angenehmen basierenden Freundschaft am deutlichsten. Wenn hingegen ein Verhältnis des Uber- bzw. Untergeordnetseins besteht, können die Parteien nicht im strengen Sinne gleich viel leisten; hier muss die Gleichheit darin bestehen, dass der Einzelne seiner Position entsprechend zurückgibt. Eigentliche Gleichheit gibt es nur, wenn die Befreundeten wirklich gleich sind, d.h. wenn die Freundschaft auf Güte basiert. Die Freundschaft mit einem guten Menschen ist für mich ein Gut, aber die Freundschaft mit mir ist für den anderen ein genauso großes Gut. Freundschaft ist jedoch nicht nur eine Beziehung zu anderen; sie ist nach Aristoteles auch ein Verhältnis zu sich selbst. Er behauptet, dass die Äußerungen der Freundschaft, die wir dem anderen (ho pelas) zeigen, von denjenigen abgeleitet sind, die wir uns selbst zeigen (ta philika pros heauton). In dem Kontext, in dem er diese Behauptung zu begründen sucht, bestimmt er die Freundschaft ein wenig anders als ursprünglich. Er sagt jetzt, zweierlei würde für die Freundschaft gelten: Ein Freund (i) wünscht und fördert das Gute eines anderen um dessen selbst willen, (ii) wünscht das Dasein des anderen und seine Aufrechterhaltung um des anderen willen. Aber genau diese beiden Züge bestimmen auch das Verhältnis des Einzelnen - zumindest des Rechtschaffenen - zu sich selbst: (i) er wünscht das eigene Gute im Sinne der Verwirklichung des besten Teiles seiner selbst; (ii) er wünscht, sein eigenes Leben aufrechtzuerhalten, insbesondere das Leben der vernünftigen Seele. Das aber bedeutet, dass der Gute sich in
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der gleichen Weise zu seinen Freunden verhält wie zu sich selbst; ein Freund ist wie ein anderes Selbst (ho philos allos autos). Ist es aber zulässig, sich selbst zu lieben (philein heauton)? Eine nähere Untersuchung zeigt, so Aristoteles, dass ein Mensch in zwei ganz verschiedenen Bedeutungen selbstliebend sein kann. Der Ausdruck (philauton) kann einmal negativ verwendet werden, und zwar von dem schlechten Menschen, der immer sich selbst am meisten berücksichtigt, normalerweise indem er sich den größeren Teil von Geld, Ehre und leiblichen Vergnügen vorbehält. Ein solcher Mensch ist schlecht, weil er sich der Begierde, der Leidenschaft und überhaupt dem Unvernünftigen (alogon tes psyches) hingibt. Seine Eigenliebe ist eng damit verbunden, dass er nicht die Mitte der Tugend trifft, sondern sich ins Extrem der Übertreibung bewegt. Ganz anders steht es um den Menschen, der sich bemüht, andere in der Entfaltung der Tugenden zu überragen. Er lässt die Vernunft (nous) sein Leben beherrschen und liebt sich selbst als Vernunftswesen. Eine solche Eigenliebe hat nichts Verwerfliches; im Gegenteil, sie ist, wie wir gesehen haben, Teil der höchsten Form der Freundschaft. Nach Aristoteles ist Gegenseitigkeit ein entscheidender Zug an der Freundschaft. In diesem Punkt unterscheidet sie sich von zwei verwandten Phänomenen, nämlich dem Wohlwollen und dem Wohltun. Wohlwollen (eunoia) heißt, dass man einem anderen Gutes wünscht, ohne Gegenleistung zu erwarten. Im Unterschied zur Freundschaft kann Wohlwollen sich spontan äußern, und man kann Fremden gegenüber wohlwollend sein. Auch Wohltun (euergesia) ist eine einseitige Äußerung. Der Wohltäter hat Gefallen (agapao) an dem Empfänger der Wohltat, obwohl er keine Gegenleistung erwarten kann. Diese Asymmetrie erfordert eine Erklärung, und eine solche ist nach Aristoteles, dass der Wohltäter durch sein Handeln eine höhere Form des Lebens- und Seinsvollzugs erfährt. Wie schon erwähnt, kann es Freundschaft auch in einer Beziehung geben, die durch Uber- und Untergeordnetsein geprägt ist. Wie steht es aber mit der Beziehung zwischen Herr und Sklave? Aristoteles hat zweierlei dazu zu sagen. Erstens: Es kann in diesem Fall nicht von Freundschaft die Rede sein, denn die beiden haben nichts gemeinsam; ein Sklave ist in keiner Weise ein Partner, denn er ist nichts als ein beseeltes Gerät (empsychon organon). Aber zweitens: Obwohl man
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mit einem Sklaven als Sklaven keine Freundschaft haben kann, kann man mit ihm als Menschen befreundet sein. Denn Freundschaft ist im Verhältnis zu jedem Menschen möglich. Die intellektuellen Tugenden. Phronesis. Die moralischen Tugenden haben, wie oben gesagt, mit der rechten Verwirklichung der nicht-vernünftigen Seele zu tun. Bei den intellektuellen Tugenden geht es hingegen um die rechte Verwirklichung der vernünftigen Seele. Wir haben gesehen, dass Aristoteles zwischen theoretischer und praktischer Vernunft unterscheidet. Dieser Unterschied bedeutet, dass es zwei Sorten intellektueller Tugenden gibt. Die erste hängt mit dem zusammen, was Aristoteles den berechnenden Teil (logistikon) der Vernunftsseele nennt. Er ist der Praxis zugeordnet, denn Praxis setzt Überlegung (boulesis) voraus, und diese ist eine Form der Berechnung. Die Tugend, die in der optimalen Verwirklichung der berechnenden oder praktischen Vernunft besteht, nennt Aristoteles phronesis - ein sehr schwer zu übersetzender Ausdruck. Wie wir bereits gesehen haben, ist die Vernunft dadurch am rechten Handeln beteiligt, dass sie die Ziele des Handelns festlegt und erschließt, in welcher Weise diese Ziele in den konkreten Situationen realisiert werden können. Es ist diese Fähigkeit, in der konkreten Situation die rechte Handlung zu finden, die Aristoteles phronesis nennt. Phronesis ist sowohl ein Wissen darum, was das gute Leben (eu zen) allgemein ist, als auch die Fähigkeit herauszufinden, wie hier und jetzt das Gute verwirklicht werden kann. Die konkrete Handlung ist eben nicht etwas Allgemeines, sondern im Gegenteil etwas Einzigartiges bzw. Partikuläres. Das Einzigartige kann aber nach Aristoteles nicht mit den Mitteln der Wissenschaft (episteme) erkannt werden, sondern es erfordert ein besonderes Vermögen, und dieses Vermögen ist im Falle des Handelns die phronesis.10 Somit ist phronesis ein Wissen um das Partikuläre, um Einzeltatsachen. Ein solches Wissen setzt Er10 Ins Lateinische ist phronesis mit prutientia übersetzt worden, was man wiederum auf Deutsch mit „Klugheit" wiedergibt. Wenn man an das ursprüngliche phronesis denkt, wäre „Urteilskraft" besser. Dieser Ausdruck ist in der Philosophie Kants genau die Fähigkeit, das Einzelne dem Allgemeinen unterzuordnen.
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fahrung (empeiria) voraus, weshalb ein gewisses Alter erreicht werden muss, bevor ein Mensch phrortimos sein kann. Ein mit phronesis verwandter Begriff ist synesis (Einsicht). Der Unterschied zwischen beiden Begriffen besteht darin, dass synesis die Fähigkeit ist, eine Sache zu beurteilen (kritike), während phronesis dazu befähigt zu entscheiden, welche Handlung der Beurteilung folgen sollte. Wenn von einer ethischen Beurteilung die Rede ist, hat synesis also den Charakter der moralischen Einsicht und kommt demjenigen sehr nahe, was wir normalerweise unter Gewissen verstehen. Obwohl Phronesis zur vernünftigen Seele gehört, ist sie nicht von den moralischen Tugenden getrennt. Phronesis ist im Gegenteil auch erforderlich um entscheiden zu können, wie Gerechtigkeit, Mut usw. in der konkreten Situation praktiziert werden sollen. Aristoteles kann deshalb sagen, dass derjenige, der die intellektuelle Tugend phronesis besitzt, alle moralischen Tugenden besitzt. Ethik und Politik In seinem Loblied auf die Freundschaft hebt Aristoteles hervor, sie sei das Band, welches eine polis zusammenhalte. Der Grund hierfür ist, dass Freundschaft mit Gemeinschaft (koinonia) unlöslich zusammenhängt. Gemeinschaften sind die schon erwähnten natürlichen Beziehungen Mann — Frau und Eltern - Kinder, die innerhalb des Haushalts (oikia) vorkommen. Gemeinschaften können jedoch auch andere Grundlagen haben, wie etwa das gemeinsame Bewältigen von Aufgaben; Aristoteles nennt als Beispiele hierfür die Gemeinschaften von Soldaten und Schiffsleuten. Für alle Gemeinschaften gilt, dass sie in den umfassenden Zusammenhang, die polis (den Stadtstaat), eingehen. Die polis ist ein Zusammenschluss von Dörfern, die wiederum jeweils Zusammenschlüsse von Haushalten sind.11 Die polis ist gewis11 Aristoteles überlegt sich, ob es Grenzen dafür gibt, wie klein und wie groß eine polis sein kann. Er kommt zu dem Ergebnis, dass eine Gruppe von weniger als zehn Menschen noch keine polis ausmacht, und dass mehr als 1 0 0 . 0 0 0 nicht mehr eine polis genannt werden können. - Es ist wichtig sich klarzumachen, dass die Gesellschaft, welche den historischen Kontext von Aristoteles' Überlegungen zum Verhältnis von Ethik und Politik ausmacht, von der Größenordnung her einer kleineren Großstadt entspricht. Der moderne Staat und seine spezifischen Probleme liegen außerhalb von Aristoteles' Horizont von der Weltgesellschaft ganz zu schweigen.
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sermaßen — wie der Haushalt — eine natürliche Gemeinschaft, denn der Mensch ist laut einer der aristotelischen Definitionen ein soziales Lebewesen (zoon politikon). Die polis ist dazu da, die Ziele aller Bürger zu fördern, weshalb das Ziel der Gesetzgeber das gemeinsame Gute ist. Die polis ist als Gemeinschaft von einer besonderen Form der Freundschaft geprägt: von der Eintracht oder dem Gemeinschaftsgefühl (homonoia). Diese Freundschaft herrscht in einem Staat, dessen Bürger gemeinsame Interessen haben, dieselbe Politik wählen und in Gemeinschaft Entschlüsse fassen. Da das Ziel der Gesetzgebung einer polis das gemeinsame Gute ist, ist zur Erstellung guter Gesetze eine besondere Form der phronesis erforderlich (phronesis nomothetike). Gesetze sind Zwangsmittel, die genau wie die Erziehung dazu dienen, die Tugenden als gute Angewohnheiten zu festigen. In der Rhetorik unterscheidet Aristoteles zwischen verschiedenen Arten von Gesetzen. Einmal gibt es besondere Gesetze, d.h. die geschriebenen oder ungeschriebenen Regeln, die jedes einzelne Volk für seine eigene polis festsetzt. Es gibt aber auch ein allgemeines Gesetz (nomos koinos), das in der Natur begründet (kata physin) und daher für alle Menschen gemeinsam ist. Aristoteles weist in diesem Zusammenhang auf die Antigone des Sophokles hin, die von einem Gesetz spricht, das „weder von heute noch von gestern stammt, sondern ewig lebt" (1373b, 4fF.). Er formuliert damit die wichtige Unterscheidung zwischen dem natürlichen Gesetz und den positiven Gesetzen-, eine Unterscheidung, die bis heute Gegenstand ethischer Überlegungen ist.
Das höchste Glück: Theoria und Weisheit Von der berechnenden Vernunftsseele ist eine weitere zu unterscheiden: die wissenschaftliche (epistemonikon). Unter Wissenschaft versteht Aristoteles die Einsicht in Dinge, die sich nicht verändern, sondern ewig und notwendig sind wie etwa die Himmelskörper und die Gottheit. Wissenschaftliche Einsicht in diesem Sinne nennt er auch theoria, und die intellektuelle Tugend, welche die optimale Verwirklichung der theoria darstellt, ist die sophia, die Weisheit. Sie ist die höchste der Tugenden, weil sie die höchste Form menschlichen Lebensvollzugs ist. Folglich muss die Erlangung der Weisheit die höchste Gestalt des „Glücks", der eudaimonia, sein. W i r wollen kurz sehen, wie das zusammenhängt.
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Im letzten Buch der Nikomachischen Ethik fuhrt Aristoteles eine ganze Reihe von Argumenten dafür an, dass die theoria die höchste Form menschlicher Entfaltung ist und dass die Weisheit daher das höchste Gut des Menschen, seine eudaimonia, sein muss. Theoria ist deshalb die höchstrangige Tätigkeit, weil sie sich auf die höchsten Gegenstände, die es gibt, richtet: das Ewige und das Unveränderliche. Sie ist auch die am eindeutigsten in sich selbst ruhende (autarkes) Tätigkeit, und sie kann vom Einzelnen allein ausgeübt werden. Außerdem wird die Ausübung der theoria um ihrer selbst willen gesucht; es gibt keinen höheren Zweck, dem sie untergeordnet sein könnte. Alle genannten Züge der theoria können dahingehend zusammengefasst werden, dass sie die Verwirklichung des Göttlichen im Menschen ist. In seiner Darstellung der Gottheit im 12. Buch der Metaphysik zeigt Aristoteles, dass die ihr angemessene Tätigkeit das reine Denken sein muss. Die Fähigkeit des Menschen zur theoria ist daher Ausdruck seiner Teilhabe am Göttlichen. Das zeigt sich auch darin, dass die Vernunft, die dieses Denken ausübt, ein unsterbliches Element enthält.12 Dass die theoria die höchste Form menschlichen Lebensvollzugs ist, bedeutet, dass sie die Verwirklichung dessen ist, was wir im höchsten Grade selbst sind. Das Leben in der theoria ist „das, was von Natur am meisten für jeden eigentümlich ist" (to oikeion hekasto te physei, EN 1178a, 5ff.).
2.5 Die Stoa (und Epikur) Zunächst einige allgemeine Daten zur Stoa als philosophische Richtung. M a n unterscheidet üblicherweise zwischen drei Phasen ihrer Entwicklung: 1) Die ältere Stoa, vertreten durch u.a. Zenon von Kition (334-262; er unterrichtete in einem Säulenhof „stoa poikile", daher der Name) — Cleanthes von Assos (304-233) - Chrysippos von Soloi (281-208). 2) Die mittlere Stoa, vertreten durch u.a. Panaitios von Rhodos (180-110), der dabei mitwirkte, die stoische 12 In der Schrift De anima unterscheidet Aristoteles in einer berühmten und schwierigen Passage zwischen zwei Aspekten des nous: dem passiven (pathetikos) und dem aktiven (poietikos). Anscheinend geht er davon aus, dass die aktive Vernunft unsterblich sei.
Die Stoa (und Epikur) Gedankenwelt in die römische Kultur hineinzuführen. 3) Die treten durch Lucius Annaeus Seneca (5 v. C h r . - 6 5 n. Chr.) 1 3 5 ) - Marcus Aurelius ( 1 2 1 - 1 8 0 ) .
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späte Stoa verEpictetos (50-
Metaphysisch vertreten die Stoiker einen Monismus, d.h. eine Lehre, die der gesamten Wirklichkeit letzten Endes die gleiche Beschaffenheit zuspricht. Es handelt sich um einen raffinierten Materialismus, der behauptet, dass alles, auch die Seele des Menschen, stofflicher Art sei. Die Grundlage von allem ist die Weltvernunft (logos13), auch sie ist stofflicher Natur; sie ist mit dem Feuer identisch, das alles durchdringt. Der Kosmos durchläuft eine unendliche Reihe von Epochen, von denen jede in einem Weltbrand endet, in dem alles vernichtet wird, um wieder neu zu entstehen - wonach der kosmische Verlauf sich jeweils wiederholt. Der Mensch hat an dieser kosmischen Vernunft teil. Als Summe der stoischen Ethik wird oft der Grundsatz zitiert, der Mensch solle mit der Natur in Ubereinstimmung leben. Ursprünglich ist der Gedanke der gewesen, dass man „übereinstimmend" (homologoumenos) leben soll, d.h. nach einem logos, der mit sich selbst übereinstimmt. Es gilt mit anderen Worten, Zusammenhang und Einheit in die Lebensführung zu bringen. Später ist dann „mit der Natur" (te physei) hinzugefugt worden, da ja die Natur des Menschen der logos bzw. seine Teilhabe an ihm ist. So kommt jedoch auch der neue Gedanke hinzu, dass der Mensch mit derjenigen Natur übereinstimmen soll, die er mit den Tieren gemeinsam hat. Übereinstimmend zu leben ist das Gute. Bei den Stoikern geschieht eine Verschiebung im Inhalt dieses Begriffes. Sie zeigt sich im Ausdruck monon to kalon agathon, dessen Bedeutung oberflächlich gesehen „nur das Gute ist das Gute" ist. Jedoch hat agathon hier die ursprüngliche Bedeutung - entsprechend der Wendung „es ist gut für 13 Die Übersetzung von logos mit „Vernunft" ist in Wirklichkeit recht problematisch. Das W o r t kommt vom Verb legein, das zwei Grundbedeutungen hat: „sammeln" bzw. „lesen" - und „sagen" bzw. „reden". Logos vereint somit Fähigkeiten wie Sammeln, Zusammenzählen, Berechnen, Überblick haben, zusammenhängende Rede fuhren. - Der logos der Stoa nimmt in vielerlei Hinsicht den Platz ein, den bei Aristoteles der nous hat. (Vgl. Pohlenz 1948, 34).
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dich, dass . . . " - , während kalon das moralisch Richtige bedeutet. Der Ausdruck besagt also, dass nur das moralisch Richtige für einen Menschen gut ist. Das kann auch so formuliert werden, dass die einzige Quelle zur eudaimonia die Tugend im Sinne der moralisch richtigen Lebensführung ist. Die Änderung im Begriff vom Guten bedeutet, dass jetzt ein klarer Gegensatz besteht zwischen der guten Handlung (katorthoma) und der falschen bzw. bösen (hamartema). Alles, was sich außerhalb dieses Gegensatzes befindet, ist gleichgültig (adiaphoron). Das gilt sowohl für „positive" Größen wie Leben, Gesundheit, Ehre und Besitz - als auch für „negative" wie Tod, Krankheit oder Armut. Der Gegensatz beinhaltet, dass nur zwei Menschentypen ethisch gesehen interessant sind: der Weise, das Ideal stoischer Ethik — und der Tor. Der konkrete Ausgangspunkt des ethischen Denkens ist in der Stoa nicht wie bei Aristoteles die Gemeinschaft innerhalb der polis, sondern der einzelne Mensch. Das zeigt sich an dem wichtigen Begriff oikeiosis, d.h. Aneignung im ursprünglichen Sinn von sich zu eigen machen.14 Was ein jeder Mensch sich zu allererst aneignen soll, ist er selbst. Das geschieht, wenn der Einzelne selbst sich um die Aufrechterhaltung des Lebens bemüht. Im Gegensatz zur Pflanze, für die von der Natur gesorgt wird, muss das Tier selbst einen Einsatz leisten, um sein Dasein zu bewahren, und diese Bedingung gilt auch für den Menschen. Wir haben gesehen, dass der Begriff to oikeion auch in der Ethik des Aristoteles eine Rolle spielt. Wenn aber die Stoiker die Sorge des Einzelnen um sich selbst zu einem Grundphänomen machen, fuhren sie ein neues Motiv in das ethische Denken ein. Es wird später eine wesentliche Bedeutung erhalten. Im Gedanken der oikeiosis liegt nicht eine Verteidigung des Egoismus, denn dem Einzelnen liegt auch an anderen Menschen. Zunächst sind dies die eigenen Nachkommen und Nahestehende. Aber letzten Endes sind es alle Vernunftwesen, mit denen der Einzelne ja verwandt ist. Durch die Vernunft ist der Mensch über die Tiere erhaben, womit eine grundlegende Gleichheit unter allen Menschen ge-
14 Das W o r t kommt von oikeios: das, was dem Hause zugehört, das Vertrauliche, das Nahestehende.
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schaffen ist. Auch dies ist die Ausarbeitung eines Gedankens, der sich schon bei Aristoteles findet. Sowohl in seiner Auffassung von der Gerechtigkeit als auch in der von der Freundschaft war ja der Gedanke der Gleichheit enthalten. Die Stoiker fugen jedoch eine entscheidende Dimension hinzu, indem sie behaupten, alle Menschen seien tatsächlich — letzten Endes —gleich. Damit haben sie einen Gedanken formuliert, der teils im biblischen Menschenbild eine auffallende Parallele hat, teils - mit dieser biblischen Parallele zusammen - ein entscheidender Faktor bei der Herausbildung des europäischen Humanismus gewesen ist.15 Mit dem Gedanken der Gleichheit werden alle äußeren Unterschiede zwischen Menschen in Frage gestellt, wie etwa der zwischen Grieche und Barbar oder zwischen Herr und Sklave. Von Natur aus kann kein Mensch ein Sklave sein. Für den Stoiker ist die äußere Abschaffung der Sklaverei allerdings nicht besonders wichtig, denn die eigentliche Sklaverei ist die innere Unfreiheit des Menschen. Eines der Merkmale, das wir normalerweise mit der Stoa verbinden, ist ja gerade die innere „stoische Ruhe" und das Ideal der apatheia, der „Apathie". Zu dem „übereinstimmenden" Leben gehört es, die Triebe (horme) unter der Kontrolle des logos zu halten. Gelingt das nicht, entsteht eine zügellose Bewegung in der Seele, wie wenn ein Vogel aufgescheucht losfliegt. Das widerspricht der menschlichen Natur. Der Trieb zeigt sich konkret in den pathe xs, den Leidenschaften oder Affekten. In der Stoa werden vier Hauptaffekte angenommen: Lust (hedone), Schmerz (lype), Wunsch (epithymia) und Furcht (phobos). Die Affekte sind krankhafte Zustände der Seele, von denen sich der Weise befreien muss, so dass nur noch eine Art mentaler Narbe übrig bleibt. Dieser Zustand ist die Apatheia. So sollte der Weise kein Mitleid zeigen, denn diese baut ja auf der fälschlichen Annahme auf, ein anderer Mensch könne tatsächlich leiden. Allgemein legen die Affekte die Illusion nahe, es gäbe außer dem ethisch Guten und Bösen noch etwas Gutes (Lustvolles, Erwünschtes) oder
15 Ich kehre zu diesem stoischen Motiv im Kapitel 6 zurück. 16 Pathos (vom Verb paskein) enthält drei Bedeutungen: Gegenstand einer Einwirkung (passiv) sein - leiden - im Affekt handeln.
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Die Ethik im klassisch-griechischen Denken
Böses (Schmerzhaftes, Furchtbares).17 Das Ideal der Apathie bedeutet nicht, dass überhaupt keine Gefühle berechtigt sind. Im Gegenteil, die Stoa kennt den Begriff der eupatheia, der „guten Gefühle". Zu ihnen zählen die Gefühle den eigenen Kindern, dem Ehepartner und den Freunden gegenüber sowie die Freude am Besitz des wahrhaft Guten, der Tugend. Es wurde erwähnt, dass die stoische Ethik nicht im selben Maße wie die des Aristoteles das Leben der polis zur Voraussetzung hat. Das prägt natürlich auch das Gesellschafts- und Staatsverständnis. Der Staat wird in der Stoa nicht als eine Gemeinschaft angesehen, die um des guten Lebens willen da ist. Vielmehr ist er primär eine Masse von Menschen, die am selben Ort leben und von einem Gesetz gesteuert werden müssen. In der stoischen Gesellschaftstheorie tritt mit anderen Worten ein rechtliches Moment in den Vordergrund. Es wird daran festgehalten, dass die soziale Tugend die Gerechtigkeit ist, also das Bestreben, jedem das Seine zu geben.18 Die Gerechtigkeit ist dabei nicht eine Tugend, die der Mensch erfunden oder angenommen hat, sondern sie gründet sich in der Natur. Das gilt insgesamt fiir das Gesetz, das die Gesellschaft regelt. Chrysippos werden folgende Äußerungen zugeschrieben: Das Gesetz ist König über Alles, über göttliche und menschliche Dinge. Es muss die Autorität sein, die bestimmt, was sittlich schön und was hässlich ist, muss Herr sein und Führer für die von Natur zur staatlichen Gemeinschaft veranlagten Wesen, und demzufolge die Richtschnur geben für das, was gerecht und ungerecht ist, indem es befiehlt, was getan werden soll, und verbietet, was nicht getan werden darf. (Zitiert nach Pohlenz 1948, 132). 17 Es gibt laut stoischem Gedankengang keinen Grund, dem Tode gegenüber Schmerz zu fühlen, weder im Falle des eigenen Todes noch desjenigen eines anderen, denn der Tod ist kein eigentliches Übel. Daher gilt der Selbstmord auch als eine derjenigen Handlungen, die ethisch neutral sind. Für einige Stoiker, z.B. Seneca, ist der Tod allerdings geradezu ein möglicher Weg in die Freiheit. 18 Diese Formel der Gerechtigkeit hat ihre klassische Prägung bei dem römischen Juristen Ulpian (gest. 228) bekommen: iustitia est firma et constans voluntas suum cuique tribuere („Gerechtigkeit ist der feste und dauernde Wille, einem jeden das zu leisten, was ihm zukommt"). — Das so genannte römische Recht ist generell durch die stoische Ethik beeinflusst.
Die Stoa (und Epikur)
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W i r begegnen hier noch einem der zentralen Elemente, welche das ethische Denken Europas der Stoa verdankt, dem Gedanken vom natürlichen Gesetz. Wir kehren hierzu in Kapitel 4 zurück.
Epikur Ein spätgriechischer Ethiker, der es verdient neben den Stoikern erwähnt zu werden, ist Epikur (341-270). In der späteren Literatur begegnen wir ihm oft in der Gestalt eines Schimpfwortes: „Epikureismus" bedeutet dann so etwas wie Sinnlichkeits- und Lustanbetung. Hinter diesem Klischee verbirgt sich Epikurs Auffassung, nach der das Gute als das Erreichen der hedone bestimmt ist. Dieses Wort lässt sich zwar mit „Lust" übersetzen, aber die Frage ist, was genauer unter Lust zu verstehen ist. Lust ist bei Epikur offenbar nicht ohne weiteres mit „Fleischeslust", sinnlicher Befriedigung also, gleichbedeutend. Sie kann auch das umfassen, was wir „geistige Tätigkeiten" nennen würden. Auch das Wort hedone ist in den späteren ethischen Sprachgebrauch eingegangen. Mit „Hedonismus" ist die Auffassung gemeint, das Gute (d.h. das, wonach der Mensch streben sollte) sei mit der Erreichung der Lust gleichbedeutend. Heutzutage würde man eher von Bedürfnisbefriedigung sprechen. Auf jeden Fall hat diese Auffassung davon, worum es in der Ethik letztlich geht, auch in der Gegenwart ihre Anhänger. Entsprechend seiner Definition vom Guten als dem Lustbringenden bestimmt Epikur das Böse bzw. das Übel als das Schmerzverursachende. Die größten Schmerzen sind nach seiner Auffassung: Furcht vor dem Eingreifen dämonischer Mächte in den Alltag, Sorge um ein Leben nach dem Tode und Sorge um die Zügellosigkeit der eigenen Begierde sowie Depression als Folge von Leiden.
Literatur zu Kapitel 2 Quellen Aristoteles: The Nicomachean Ethics with an English Translation by H. Rackham. London 1982. Aristoteles: The »Art« ofRhetoric with an English Translation by J.H. Freese. London 1982.
Aristoteles: Ort the Soul, Parva Naturalia, On Breath with an English Translation by W.S. Helt. London 1964.
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Die Ethik im klassisch-griechischen Denken
Die Stoa. Kommentierte Werkausgabe. Übersetzt und herausgegeben von Wolfgang Weinkauf. Augsburg 1994. Piaton: Politeia. Sämtliche Werke in zehn Bänden Griechisch und Deutsch. Nach der Übersetzung Friedrich Schleiermachers, erg. d. Übers. V. F. Susemihl u.a. Hrsg. v. K. Hülser. Bd V. Frankfurt/M. 1991. Sekundärliteratur Engberg-Pedersen, T. (1991): The Stoic Theory of Oikeiosis. Ärhus. Groenbech. V. (1965): Griechische Geistegeschichte. 1. Die Adelszeit. Reinbek. Groenbech, V. (1967): Griechische Geistesgeschichte. 2. Götter und Menschen. Reinbek. Maclntyre, A. (1984): Geschichte der Ethik im Überblick. Vom Zeitalter Homers bis zum 20. Jahrhundert. Meisenheim. Ross, D. (1964): Aristotle. London. Pohlenz, M. (1948): Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. Göttingen. Sandbach, F.H. (1989): The Stoics. Second Edition. Bristol.
Kapitel 3. Biblische Ethik 3.1 Was ist biblische Ethik? Biblische Ethik ist diejenige Auffassung von rechtem und falschem menschlichen Handeln, die in den biblischen Schriften zum Ausdruck kommt. Diese Bestimmung ist ziemlich einleuchtend, aber trotzdem problematisch und zwar in mehrerlei Hinsicht. Die Bestimmung unterstellt, es gebe eine Auffassung vom rechten/falschen, bzw. guten/ bösen menschlichen Handeln in den biblischen Schriften. Das ist natürlich nicht der Fall. „Die biblischen Schriften" ist ein sehr umfassender Begriff, der eine große Anzahl von Texten von sehr unterschiedlichem Alter und mit sehr unterschiedlichem Charakter abdeckt. Die Schriften der Bibel werden bekanntlich in Altes Testament (AT) und Neues Testament ( N T ) eingeteilt. Diese Einteilung ist Ausdruck eines christlich-theologischen Gesichtspunktes. Doch die Schriften, die wir als ,Altes Testament" bezeichnen, haben auch für die Juden den Charakter einer heiligen Schrift. Auch für den jüdischen Glauben haben diese Schriften eine ethische Funktion, d.h. sie enthalten Aussagen, die für eine heutige jüdische Lebensführung als normativ (verpflichtend, anleitend) betrachtet werden. 1 Dieselben Texte unterliegen einer anderen Interpretation, wenn Christen sie als ,Altes Testament" bezeichnen. Die bloße Gegenüberstellung von alt und neu zeigt an, dass der Inhalt der alttestamentlichen Schriften erst im rechten Licht erscheint, wenn sie vom N T her betrachtet werden. Obwohl das A T in einem christlich-theologischen Zusammenhang in der genannten Art betrachtet wird, ist es eine legitime und sogar notwendige Aufgabe den Versuch zu machen, die Gedankengänge der verschiedenen alttestamentlichen Texte von ihren eigenen Vorausset-
1
Über jüdische Ethik, siehe z.B. Fohrer 1985, insbesondere die Kapitel 1 und 9.
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Biblische Ethik
zungen her zu verstehen. Das ist die Aufgabe, die sich Disziplinen wie israelitische Religionsgeschichte und Theologie des Alten Testamentes stellen. Im Zusammenhang der Letzteren wird daher von einer alttestamentlichen Ethik gesprochen; sie versucht die folgende Frage zu beantworten: Gibt es in den alttestamentlichen Texten eine zusammenhängende Auffassung von den Konsequenzen, die der Gottesglaube für rechtes und falsches menschliches Handeln und für die gute menschliche Lebensführung hat?
Um an die in Kapitel 1 eingeführten Begriffe anzuknüpfen, können wir sagen, dass man bei der Untersuchung der alttestamentlichen Ethik zunächst deskriptiv vorgehen sollte. Das heißt, man beschränkt sich darauf zu fragen, welche Auffassung vom rechten menschlichen Handeln in den einzelnen Texten zum Ausdruck kommt. O b diese Auffassung gegenwärtige Gültigkeit (Normativität) beanspruchen kann, ist eine andere Frage. Deskriptiv vorgehen heißt u.a., dass man sowohl die Unterschiedlichkeit der Texte als auch ihre unterschiedlichen historischen und sozialen Voraussetzungen berücksichtigt. Aus der vorhergehenden Überlegung folgt, dass bei der Arbeit an der alttestamentlichen Ethik die folgenden zwei extremen Standpunkte vermieden werden sollten: -
-
der Standpunkt des Fundamentalismus: jede einzelne Vorschrift im AT wird im buchstäblichen Sinn als gegenwärtig verbindlich aufgefasst; der Standpunkt des (religions)geschichtlichen Relativismus: die Vorschriften im AT sind nur von historischem Interesse als Teil der studierten alttestamentlichen Religion und Kultur.
Der relativistische Standpunkt ist aus theologischen Gründen unbefriedigend. Alttestamentliche Ethik muss nämlich letzten Endes mit der neutestamentlichen Ethik im Zusammenhang gesehen werden, deren Fragestellung ganz parallel zu derjenigen der Ethik des AT folgendermaßen formuliert werden kann: Gibt es im N T eine zusammenhängende Auffassung von den Konsequenzen, die der christliche Glaube für rechtes und falsches menschliches Handeln und für die gute menschliche Lebensführung hat?
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Diese Frage kann nicht ohne Berücksichtigung der alttestamentlichen Ethik beantwortet werden. Die Frage der biblischen Ethik ist nun eben, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen den Auffassungen im AT und im NT über die Konsequenzen des Glaubens für richtiges bzw. falsches menschliches Handeln. Letzten Endes ist der relativistische Standpunkt deshalb unbefriedigend, weil man theologisch nicht mit der deskriptiven Betrachtung auskommt. Es muss die normative Frage gestellt werden: Welche gegenwärtige Gültigkeit kann vom christlichen Glauben her die biblische Ethik, d.h. die in den biblischen Texten ausgedrückte Auffassung von richtigem menschlichen Handeln und guter Lebensführung beanspruchen?
Der Fundamentalismus ist eine mögliche Antwort auf diese Frage. Allgemein lässt sich sagen, dass die Antwort von dem jeweiligen Verständnis des Christentums bzw. der jeweiligen theologischen Position abhängen wird. Biblische Ethik ist daher ein immer wiederkehrendes und unumgängliches Thema, wenn man die Geschichte der theologischen Ethik und seine gegenwärtigen Fragestellungen untersucht. 3.2
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Es soll hier nicht der Versuch gemacht werden, eine umfassende Darstellung der Ethik des AT zu geben. Wir müssen uns darauf beschränken, einige ausgewählte Texte des AT zu betrachten, die verschiedene Typen ethischer Vorschriften und Normen enthalten. Am Schluss werde ich versuchen, einige Züge der alttestamentlichen Ethik zu formulieren, die vielleicht als vorherrschend und grundlegend aufgefasst werden können. Einleitend mag es nützlich sein daran zu erinnern, wie unterschiedlich die geschichtlich-sozialen Verhältnisse sind, die die Texte des AT widerspiegeln. Sehr grob lassen sich folgende geschichtliche Perioden und Zeitpunkte mit den entsprechenden sozialen Verhältnissen aufzählen: — die Zeit der Patriarchen: Halbnomaden sind als Großfamilien organisiert;
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— Niederlassung in Palästina: Großfamilien und Stammesverbände werden sesshaft; — Staatsbildung: Urbanisierung, soziale Unterschiede nehmen zu; — Eroberung des Nordreiches 722/21 v. Chr. und Judas 587: die Oberschichten werden exiliert. Der Dekalog („Die zehn Gebote") Beim Lesen des AT ist augenfällig, dass es eine Unmenge konkreter Vorschriften enthält. Einige erinnern an Paragraphen des Zivilrechts: „Wenn jemand von seinem Nächsten [ein Tier] leiht und es kommt zu Schaden oder stirbt, wenn der Besitzer nicht dabei ist, so soll er's ersetzen" (2. Mose 22,13). Andere sind detaillierte Vorschriften über erlaubte und verbotene Formen der sexuellen Praxis. Angeblich gibt es im AT insgesamt 613 solcher konkreten Vorschriften. Einige von diesen Vorschriften scheinen jedoch einen deutlicher hervortretenden Platz als andere einzunehmen, z.B. diese: Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Agyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. (...) Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mißbrauchen. (...) Gedenke des Sabbattages, daß du ihn heiligest. (...) Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren. (...) Du sollst nicht töten. Du sollst nicht ehebrechen. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Rind, Esel, noch alles, was dein Nächster hat. (2. Mose 2 0 , 2 . 3 . 6 a . 8 . 1 2 a . l 3 - 1 7 ) .
Wenn man traditionellerweise von den zehn Geboten spricht, liegt das darin begründet, dass hier eine Reihe von Sätzen formuliert sind, die den Charakter von Imperativen oder Vorschriften bzw. Verboten haben („Du sollst nicht ... !" - „Gedenke ...!" - „Ehre ...!"). Es stellen sich hier zwei Fragen: Wer spricht diese Vorschriften aus und wem werden sie gesagt? Die zweite Frage kann die Frage nach dem ethischen Subjekt genannt werden, d.h. nach demjenigen, der die vorgeschriebenen Handlungen ausüben bzw. die verbotenen unterlassen soll.
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Im Hinblick auf diese Fragestellung scheint nach dem dritten Gebot ein Subjektwechsel stattzufinden. Vom ersten bis zum dritten Gebot bezieht sich „du" auf Israel, d.h. das ganze Volk, aber danach ist es naheliegender, den einzelnen Israeliten oder besser das einzelne Familienoberhaupt als das ethische Subjekt anzusehen. An dieser Stelle des Textes lässt sich auch ein Wechsel im Inhalt des Geforderten feststellen. Die vorhergehenden Gebote betreffen das Verhältnis zu Jahwe, sie sind religiösen Charakters. Die folgenden Gebote beziehen sich hingegen auf das Verhältnis zwischen Menschen-, sie sind im gewöhnlichen Sinn ethische Gebote oder Normen. Wenn man gerade diese Vorschriften (4. bis 10. Gebot) gesammelt und sie an den Anfang der Proklamation Jahwes auf dem Sinai gestellt hat, kann das damit zusammenhängen, dass sie eine grundlegende Funktion haben. Wir können sagen, dass es sich um diejenigen Regeln handelt, die Menschen notwendigerweise einhalten müssen, um in einer Gemeinschaft zusammen leben zu können. Man könnte so weit gehen zu sagen, dass Menschen sich diese sieben Gebote selbst denken können! Diese grundlegenden ethischen Normen allgemeinmenschlichen Charakters erhalten jedoch einen neuen Status und eine neue Begründung dadurch, dass sie in ihrem jetzigen Kontext platziert sind. Sie liegen dadurch auf derselben Linie wie die ersten drei Gebote, die das exklusive Verhältnis zwischen Jahwe und seinem Volk Israel ausdrücken. Es ist dieses Gottesverhältnis, das auch die folgenden Gebote begründet. Entscheidend für die theologische Deutung dieser grundlegenden Normen ist die Art und Weise, wie Jahwe sich selbst identifiziert: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Agyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe." Der Gott, der hinter diesen ethischen Normen steht, ist derjenige, der Israel von dem Sklavendasein befreit hat. Damit steht die Sinai-Offenbarung in Zusammenhang mit dem Gedanken des Bundes wie aus dem vorhergehenden Kapitel hervorgeht: „Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern ..." (2. Mose 19,5. Vgl. 1. Mose 9; 15; 17). Der Gedanke des Bundes fasst mehrere entscheidende Aspekte des alttestamentlichen Gottesbildes zusammen: — Der Gott Israels, Jahwe, ist ein persönlicher Gott; er ist keine unpersönliche kosmische Seinsmacht, sondern ein lebendiges Wesen,
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das — gerade durch Errichten des Bundes - ein persönliches Verhältnis zu Menschen aufbaut. — Jahwe handelt in der Geschichte-, er ist derjenige, der hinter allen entscheidenden Ereignissen steht, welche die Geschichte Israels konstituieren: die Befreiung aus Ägypten, die Einnahme Kana'ans, die Siege in den vielen Kriegen, aber auch die Exilierung. Es ist dieses persönliche Verhältnis zwischen Jahwe und Israel, welches nach alttestamentlichem Gedankengang auch der Ethik zugrunde liegt. Die katholische Moraltheologin Annette Soete, durch die meine Darstellung angeregt ist, macht darauf aufmerksam, dass der Bund (berit) im AT nicht Ausdruck eines gegenseitigen oder ebenbürtigen Verhältnisses zwischen zwei Parteien ist. Die Initiative zum Bund liegt ganz auf der Seite Jahwes; er erlegt sich selbst eine Verpflichtung auf, indem er sich gerade an das Volk Israel bindet. Durch das Errichten des Bundes erlegt er gleichzeitig Israel eine Verpflichtung auf, die an den Bund geknüpften Gebote zu halten. Es ist wichtig zu sehen, dass die Errichtung des Bundes den Charakter einer Heilshandlung hat: Jahwe befreit und bewahrt damit das Volk und verheißt ihm ein gutes Leben: „... auf daß du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird" (2. Mos 20,12). Dieses Grundmotiv alttestamentlicher Ethik fasst Soete folgendermaßen zusammen: Ethik in Israel ist grundlegend Bindung an die dialogisch-tathafte Beziehung zwischen dem exemplarischen Gottesvolk und dem den Dialog geschenkhaft eröffnenden und bewahrenden offenbaren Gott, der sich selbst J H W H nennt, der sich in der Geschichte seinem Namen gemäß erweist und in immer neuer Zuwendung dynamisch sich selbst als Kontinuum des Vertrauens setzt, als Grund allen Sollens. (Soete 1987, 82).
Die hier formulierten Vorschriften erhalten durch ihre Platzierung den Charakter einer Zusammenfassung des ganzen alttestamentlichen Gesetzes, der Tora.2 Es kann also gesagt werden, dass das Gesetz - der Inbegriff der ethischen Vorschriften oder Normen — seine letzte Begründung in Jahwes Errichtung des Bundes mit Israel hat.
2
Von dem hebräischen Verb jhr = lehren, unterrichten. Das Substantiv bedeutet also eigentlich „Belehrung".
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Das Motiv der Liebe Die einzelnen Gebote scheinen als absolute Bestimmungen festzustehen, von ausnahmsloser Geltung zu sein und deshalb keiner weiteren Erklärung bedürftig. Das ist jedoch nicht der Fall. So ist das Tötungsverbot offensichtlich nicht als absolutes Verbot des Beendens von Menschenleben zu verstehen. Das im Text benutzte Verb umfasst nicht das Töten im Krieg und die Todesstrafe. Auch wird einem absoluten Tötungsverbot durch 2. Mose 21.23-25 widersprochen: „Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Wunde um Wunde".3 Die eben zitierte Bestimmung ist viel detaillierter und spezifischer als das Tötungsverbot. Solche Vorschriften, von denen es im AT sehr viele gibt, nennt man kasuistisch: sie drücken nicht eine allgemeine Norm aus, sondern eine solche, die unter ganz bestimmten Umständen gilt (casus = Fall). Andere Beispiele für kasuistische Präzisierungen eines der Gebote des Dekalogs finden sich im Kapitel 18 im 3. Buch Mose, das eine Reihe von Verboten gegen bestimmte Formen sexueller Praxis zwischen bestimmten Personen enthält. Man kann also diese Verbote als Spezifizierungen des 5. Gebotes sehen. In der Einleitung des Kapitels wird festgestellt, dass die Israeliten sich nicht verhalten dürfen wie die Menschen Ägyptens und Kana'ans. Damit wird angedeutet, welche Funktion einige der alttestamentlichen Moralnormen haben: Sie dienen der Abgrenzung Israels von den Kulturen, mit denen es in Berührung kam. Es ist zu vermuten, dass die verbotenen Formen des Sexualverhaltens innerhalb der beiden genannten Kulturen praktiziert worden sind. Gerade wegen dieser historisch und sozial bedingten Zusammenhänge wirken die meisten der genannten Verbote äußerst fremdartig. Eines von ihnen hat jedoch eine gewisse Aktualität behalten: D u sollst nicht bei einem M a n n liegen wie bei einer Frau; es ist ein Greuel. (3. Mose 1 8 , 2 2 ) .
Die Tatsache, dass diese Stelle immer wieder benutzt wird, um Homosexualität zu missbilligen, ist ein gutes Beispiel für die Fragestellung, 3
Diese bekannten Formulierungen sind Ausdruck des sogenannten ius des Rechts der Vergeltung.
talionis-,
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in welcher Weise Verbote des AT heute normative Geltung haben können. Zwischen den kasuistischen Vorschriften findet sich jedoch auch eine Formulierung, die vielleicht eher unter den Geboten des Dekalogs zu erwarten wäre: Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines
Volkes. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. (3. Mos 19,18). Es geht aus der Formulierung hervor, dass „deinen Nächsten" als eine Art Wiederholung von „Kinder deines Volkes" verstanden werden soll. Der Nächste, den zu lieben dem Israeliten hier geboten wird, ist also nicht ein jeder Mensch, sondern jeder Angehörige seines Volkes. Es handelt sich m.a.W. hier um ein partikularistisches Gebot, d.h. eines, das nur innerhalb einer bestimmten Gruppe Geltung hat. Was heißt es nun, seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben? Das wird in folgender Bestimmung deutlich: Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. (3. Mose 19,33f.).
„Wie dich selbst" bedeutet offenbar zweierlei. Erstens bedeutet es „wie deine eigenen", und zweitens „wie du selbst behandelt worden bist". Letztere Bedeutung kommt wohl im folgenden Text noch deutlicher zum Tragen: Denn der Herr, euer Gott, ist der Gott aller Götter und der Herr über alle Herren, der große Gott, der Mächtige und der Schreckliche, der die Person nicht ansieht und kein Geschenk nimmt und schafft Recht den Waisen und Witwen und hat die Fremdlinge lieb, dass er ihnen Speise und Kleider gibt. Darum sollt ihr auch die Fremdlinge lieben; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. (5- Mose 10,17-19).
Es wird hier einigermaßen deutlich, was es heißt, dass die Befreiungstat Jahwes an Israel Grundlage der Ethik ist. Diese Tat ist Ausdruck der Liebe, also davon, dass Israel Gutes getan wurde. Und genau die Tatsache, dass Israel Gegenstand einer göttlichen Liebestat gewesen ist, dient als Begründung dafür, dass Israel selbst Liebe üben soll, und zwar sowohl an den Volksgenossen als auch an den Fremden. Es scheint
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sich also so zu verhalten, dass der charakteristische biblische Gedanke, den anderen wie sich selbst zu lieben, im folgenden Sinne verstanden werden muss: Liebe wie du selbst geliebt worden bist! „Darum sollt ihr auch die Fremdlinge lieben": Wir haben es hier also mit einem Grundmotiv biblischer Ethik zu tun, das man natürlicherweise als Motiv der Liebe bezeichnen kann. Es beinhaltet, dass du demjenigen Gutes tun sollst, der dessen bedarf. Die Begründung dieser Forderung lautet: Du warst selbst bedürftig, und da ist dir Gutes getan worden. Es ist bemerkenswert, dass wir es mit einem Motiv zu tun haben, das an den Zusammenhang zwischen Selbstverhältnis und Wohltun gegen andere erinnert, der den Kern der aristotelischen Analyse der Freundschaft ausmacht. (Vgl. o. S. 35f.). Es ist aber auch deutlich, dass zwischen beiden ethischen Ansätzen Unterschiede bestehen. Zu ihnen kehren wir bei der Zusammenfassung der Grundzüge biblischer Ethik am Ende dieses Kapitels zurück. Das Motiv der Gerechtigkeit Im zuletzt zitierten Text aus dem AT drückt sich nicht nur das Motiv der Liebe aus. Es ist auch von Gott die Rede, der nicht die Person ansieht, und der „den Waisen und Witwen Recht schafft". Wir können diesen Gedanken das Motiv der Gerechtigkeit nennen: Menschen, die sich in einer sozial schwachen Position befinden, dürfen bei Gericht nicht schlechter gestellt sein als andere. In diesem Sinne muss Gleichheit herrschen. Die Forderung nach Gerechtigkeit ist ähnlich wie das Liebesgebot begründet: Gott behandelt die Menschen, ohne einen Unterschied zu machen — deshalb sollen die Menschen, die Gegenstand seines Handelns sind, andere Menschen entsprechend behandeln. Das Motiv der Gerechtigkeit spielt bei einigen der Propheten eine hervorragende Rolle. Als Beispiel sei das 5. Kapitel des Buches Jesaja genannt. Es ist deutlich, dass wir es hier mit einem ganz anderen literarischen Genre zu tun haben als beim Pentateuch (den Mosebüchern). Während z.B. der Dekalog eine systematische Aulzählung von Vorschriften und Verboten ist, die in einen narrativen, erzählenden, Rahmen eingefügt ist, ist die prophetische Verkündigung des ethischen Gerichts in eine poetische Sprache eingebunden. Das Kapitel wird mit einem Bilde, einem Gleichnis eingeleitet: Der Weinberg, der
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edle Trauben hervorbringen sollte, aber wilde gibt, ist ein Bild für Israel. Wo Jahwe Gerechtigkeit und Gesetzestreue erwartet hat, wird Gesetzlosigkeit und Ungerechtigkeit aufgezeigt: „Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei über Schlechtigkeit" (V. 7). Das ethische Denken wird hier als soziale Kritik geltend gemacht, die sich gegen übertriebenen Grundbesitz sowie die sich hieraus ergebenden sozialen Schranken richtet (V. 8), gegen luxuriöse und ausschweifende Lebensführung (V. 12) und Korruption (V. 23). Das positive Gegenstück zu dieser ethischen Verurteilung kann man z.B. in Jesaja 1,17 finden: „helft den Unterdrückten, schaffet den Waisen Recht, führet der Witwen Sache!" - Zusammenfassend gesagt verurteilt der Prophet, dass der Unterschied zwischen Gut und Böse, der durch Jahwes Gesetz gegeben ist, auf den Kopf gestellt wird. Und er warnt vor den Konsequenzen: dem Gericht und der Strafe Jahwes. Eine ähnliche Tendenz findet sich im 5. Kapitel des Buches Arnos. Auch hier wird eine Kritik vorgetragen, die sich gegen ungerechtes Urteilen und Unwahrhaftigkeit (V. 10), sowie gegen das Ausnutzen der sozial Schwachen (V. 11 und 12) richtet. Der zentrale Begriff ist Gerechtigkeit: Zusammenfassend wird gesagt, es seien Recht und Gerechtigkeit, die missachtet würden (V. 7). Positiv heißt es: „Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach" (V. 24). Ein anderer wichtiger Gedanke ist, dass aus der Wohltätigkeit gute Konsequenzen folgen: „Suchet das Gute und nicht das Böse, auf dass ihr leben könnt ..." (V. 14). Schließlich ist zu bemerken, dass der hinter der Forderung nach Gerechtigkeit stehende Jahwe als Schöpfer angerufen wird (V. 8f.). Das gibt der Drohung, dass der Tag des Herrn, des Gerichtes kommen wird, ein besonderes Gewicht (V. 18-20). In der prophetischen Ethik steht somit der Gedanke der Gerechtigkeit (sedaka) an zentraler Stelle. Was beinhaltet aber der alttestamentliche Begriff der Gerechtigkeit? Wir stehen mit dieser Frage vor einem grundsätzlichen Problem bei dem Verstehen von Texten, die Gedankengänge einer fremden und vergangenen Kultur ausdrücken. Dasselbe deutsche Wort „Gerechtigkeit" wird als Übersetzung des griechischen dikaiosyne und des hebräischen sedaka benutzt. Es wäre jedoch ein gravierender Irrtum anzunehmen, diese beiden Wörter würden
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mehr oder weniger dasselbe bedeuten. Das ist schon aus dem Grunde ausgeschlossen, weil es im AT nicht andeutungsweise eine Theorie der Gerechtigkeit gibt, die etwa mit derjenigen des Aristoteles vergleichbar wäre. Man muss sich also hüten, den aristotelischen Begriff der Gerechtigkeit in den Text des AT hinein zu lesen. Bei der Interpretation gibt es zunächst keine andere Möglichkeit als zu untersuchen, für welche Handlungen und Situationen die hebräischen Ausdrücke für „Gerechtigkeit" und „Ungerechtigkeit" verwendet werden. Das wäre eine sehr umfassende Untersuchung; hier müssen Andeutungen genügen. Es ist deutlich, dass im AT zwischen menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit unterschieden wird. Menschliche Gerechtigkeit ihrerseits kann offensichtlich zweierlei bedeuten. Einmal kann es um die Gerechtigkeit gehen, die bei Rechtsprozessen zwischen Menschen geltend gemacht wird, etwa wenn „im Tor" verhandelt wird. Zu solchen Prozessen kommt es, wenn ein Gut, das jemandem, dem es zukommt Leben oder Besitztum - , abgestritten wird. Dass der Gerechtigkeit hier Genüge geschieht, bedeutet, dass der ursprüngliche Zustand wieder hergestellt wird (vgl. Soete 1987, 146). Das erinnert an den aristotelischen Begriff der kommutativen Gerechtigkeit. Ahnlich könnte man sagen, dass der alttestamentliche Gedanke, dass die Gerechtigkeit über das Ansehen der Person erhaben sein soll (dass die Schwachen nicht benachteiligt werden dürfen) mit dem aristotelischen Begriff der distributiven Gerechtigkeit verwandt ist. Zum anderen - und dies ist der prägnantere Gedanke - bedeutet menschliche Gerechtigkeit, dass ein Mensch in Übereinstimmung mit dem Gesetz Gottes lebt-, „Wohl dem, der den Herrn fürchtet, der große Freude hat an seinen Geboten! Sein Geschlecht wird gewaltig sein im Lande (...) ihre Gerechtigkeit bleibt ewiglich." (Ps 112,1-3). Bei dem Propheten Hesekiel wird ein Mann geschildert, der alle konkreten Gebote einhält: Er verkehrt nicht sexuell mit einer „unreinen" Frau, er gibt dem Hungernden zu essen, er nimmt beim Geldverleihen keine Zinsen usw. Von ihm wird zusammenfassend gesagt: „[Wer] nach meinen Gesetzen lebt und meine Gebote hält, dass er danach tut: das ist ein Gerechter ..." (Hes 18,9). Hier ist Gerechtigkeit also ganz einfach der Inbegriff des rechten Handelns (vgl. Zimmerli 1978,124). Wenn im AT von Jahwes Gerechtigkeit die Rede ist, ist dasjenige Handeln gemeint, welches der Gemeinschaft mit dem Volk Israels
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entspricht, die er durch den Bund errichtet hat. Soete formuliert das folgendermaßen: So kann Gerechtigkeit Gottes nicht als bloßes Gerichtshandeln gesehen werden, vielmehr ist es das „Eintreten Gottes fiir die Menschengruppe, der er verbunden ist". (Soete 1987, 128).
Bedenken wir die charakteristische alttestamentliche Art, die Ethik zu begründen, müssen wir vermuten, dass ein Zusammenhang zwischen der göttlichen und der menschlichen Gerechtigkeit besteht. So heißt es denn auch von dem Schuldlosen, Reinen und Wahrhaftigen: „Der wird den Segen vom Herrn empfangen und Gerechtigkeit von dem Gott seines Heils" (Ps 24,5). Es muss diese dem Menschen widerfahrende Gerechtigkeit Gottes sein, die die Grundlage dafür ist, dass Menschen sich untereinander Gerechtigkeit erweisen können. In der Erzählung vom kinderlosen Paar Sara und Abraham verspricht Gott ihnen zahlreiche Nachkommen, worauf es heißt: „Abram glaubte dem Herrn, und das rechnete er ihm zur Gerechtigkeit" (1. Mose 15,6). Dieser Satz wird entscheidende Bedeutung bekommen für die Ausformung des Gedankens der Gerechtigkeit im NT. Zusammenfassend über die Ethik des Alten Testaments In der ethischen Theorie bzw. der prinzipiellen Ethik unterscheidet man traditionell zwischen zwei grundlegend verschiedenen Typen des ethischen Denkens: der teleologischen und der deontologischen Ethik. Die erste Bezeichnung ist vom Griechischen „telos" (= Ziel, Zweck) abgeleitet. Teleologische Ethik geht also davon aus, dass das Entscheidende der Ethik das Streben des Menschen nach dem Erreichen des Zieles sei, welches als das gute Leben betrachtet wird. Eine solche teleologische Denkweise finden wir in der aristotelischen Ethik und in der klassischen griechischen Ethik allgemein. Die zweite Bezeichnung stammt vom Griechischen „to deon" (= das Erforderte, Schuldigkeit, Pflicht). Hier geht es also um die Auffassung, dass das Entscheidende der Ethik ist, verpflichtet zu sein, einem Anspruch zu begegnen. Aus diesem Grund wird heutzutage dieser Typus auch Pflichtethik genannt. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung wird deutlich, dass die Ethik des AT eine starke deontologische Prägung hat. Man kann
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den Sachverhalt so ausdrücken, dass für die Darstellung der Ethik im AT eine menschliche Grunderfahrung als Modell dient, nämlich die Erfahrung, dass die persönliche Begegnung zwischen Menschen eine Verpflichtung und eine Verantwortung beinhaltet. Einer Person begegnen bedeutet, dass man zur Rechenschaft gezogen werden kann für das, was man tut oder nicht tut. Von dieser menschlichen Grunderfahrung aus hat das alte Israel offensichtlich seine Beziehung zu Gott geschildert: Jahwe ist ein persönliches Gegenüber, und er tritt in ein verpflichtendes Verhältnis zu seinem auserwählten Volk durch den Bundesschluss. Auf Seiten Israels liegt das Verpflichtende in dem einzuhaltenden Gesetz. Es wäre falsch zu sagen, dem Gesetz solle um seiner selbst willen gehorcht werden. Grundlage sowohl des Bundes als auch des Gesetzes ist die Güte Jahwes: Er befreit und rettet Israel und stellt ihm ein erfülltes Leben in Aussicht. Und gerade weil das Volk und seine einzelnen Mitglieder Gegenstand dieser befreienden Güte wurden, können und müssen sie selbst anderen Menschen Güte erweisen. Das scheint das Grundmotiv der alttestamentlichen Ethik zu sein. Ihr deontologischer Zug gründet im Heilshandeln Gottes.4 Die letzte Begründung der Ethik des AT ist im Schöpfungsglauben zu finden. Der Gedanke der Schöpfung weitet die Perspektive des alttestamentlichen Glaubens aus und sprengt den ursprünglichen Partikularismus, so dass nun nicht mehr nur die Rede von Israel und dem Verhältnis zu seinem Gott Jahwe ist. Der Schöpfer ist vielmehr der 4
In der ethischen Literatur wird die Ethik des A T oft als Beispiel dessen angeführt, was „Theorie des göttlichen Befehles" (Divine Command Theory) genannt wird. Diese deontologische „Theorie" besagt, ... dass eine Handlung oder eine Art von Handlungen richtig oder falsch ist, dann und nur dann, wenn und weil sie von Gott befohlen oder verboten ist. Das, was mit anderen Worten letzten Endes eine Handlung richtig oder fälsch macht, ist, dass sie von Gott befohlen oder verboten ist, und sonst nichts. (Frankena 1973, 28. Meine Übersetzung). Vor dem Hintergrund der bis jetzt besprochenen Texte kann bezweifelt werden, ob diese Charakterisierung der Ethik des A T gerecht wird. - In ähnlicher Weise ordnet E. Tugendhat „christliche Moral" dem „traditionalistischen Moralkonzept" zu. Ihre Begründungsressourcen seien folgendermaßen begrenzt: Die Tradition selbst, das W o r t Gottes ist der letzte Grund, der nicht mehr hinterfragbar ist. (Tugendhat 1993, 66).
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Gott aller Völker und letzten Endes des ganzen Universums, „des Himmels und der Erde". Man kann die ethische Bedeutung des Schöpfungsglaubens darin sehen, dass das Schaffen die grundlegendste gute Handlung Gottes ist. Teil der Schöpfertätigkeit ist, dass derMensch als Ebenbild Gottes geschaffen wird (1. Mose 1,27). Das bedeutet, dass der Mensch ein Wesen ist, das in ein persönliches Verhältnis zu Gott treten kann. Somit ist die Gottebenbildlichkeit die Voraussetzung dafür, dass Gott mit den Menschen seinen Bund errichten und sie ausdrücklich zu ethisch verantwortlichen Partnern machen kann. Doch, um das nochmals zu betonen, die Grundlage des ethisch verpflichtenden Charakters des Bundes und des Gesetzes ist die Schöpfung selbst als ein grundlegendes Gut - das erfüllte Leben umfassend - welches Gott seinem auserwählten Volk verheißt.5
3.3 Neutestamentliche Ethik Auch die Bezeichnung „Ethik des Neuen Testaments" ist fragwürdig. Wie im Falle der „Ethik des Alten Testaments" wird hier vorgetäuscht, es gebe eine Auffassung von dem Zusammenhang zwischen christlichem Glauben und rechtem menschlichen Handeln im NT. Das ist natürlich nicht der Fall, und zwar schon deswegen nicht, weil es im N T etliche Auffassungen davon gibt, was überhaupt christlicher Glau5
Durch den Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen gibt der alttestamentliche Schöpfungsbericht offensichtlich dem Menschen eine Sonderstellung innerhalb der geschaffenen Welt. Das ist in der gegenwärtigen ökologischen Debatte als Grundlage einer Kritik an dem biblischen Menschenund Naturverständnis benutzt geworden. Besonders hat man sich an den Worten gestoßen, der Mensch solle sich die Erde Untertan machen und über sie herrschen (1. Mose 1,28). Zu dieser Kritik ist Mehreres zu sagen. Erstens ist mit dem Hervorgehobenen nicht alles über die Stellung des Menschen gesagt, denn aus dem Schöpfungsgedanken folgt auch, dass der Mensch mit der übrigen Kreatur verbunden ist. Zweitens lässt sich kaum bestreiten, dass der Mensch tatsächlich eine Sonderstellung einnimmt, z.B. dadurch, dass er ein der Verantwortung fähiges Wesen, ein ethisches Subjekt, ist. Man kann daher nicht verleugnen, dass die Beziehung zwischen dem Menschen und der übrigen Natur asymmetrisch ist: Der Mensch ist für die übrigen Lebewesen und die Natur insgesamt verantwortlich - das Umgekehrte kann nicht sinnvoll behauptet werden.
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be heißt. Das hängt damit zusammen, dass auch die Schriften des N T Texte verschiedener Gattungen sind. Sie spiegeln eine geschichtliche Entwicklung wider, die sich allerdings nicht über einen so langen Zeitraum erstreckt wie die des AT. Als die wichtigsten Gegebenheiten des Geschichtsverlaufes hinter den neutestamentlichen Texten können genannt werden: -
das Leben Jesu, seine Verkündigung und sein Tod das Zusammenfinden der Jünger um den auferstandenen Christus die Bildung der ersten Gemeinden von Christusgläubigen.
Ein entscheidender Unterschied, der hier beachtet werden muss, ist derjenige zwischem dem historischen Jesus, d.h. dem Menschen Jesus von Nazareth — und dem Glauben, dass dieser Mensch Christus, Sohn Gottes, sei. Die neutestamentlichen Texte sind sämtlich im Lichte des Christusglaubens entstanden und ihre Verfasser drücken jeweils ihre Auffassung davon aus, was dieser Glaube beinhaltet. Sie haben m.a. W. jeweils ihre eigene Theologie, so dass man zwischen den Theologien der synoptischen Evangelien 6 , des Johannes und des Paulus unterscheidet — um die wichtigsten zu nennen. Hinter den verschiedenen Texten, besonders der synoptischen Evangelien, zeichnet sich jedoch ein Bild des Menschen Jesus, seiner religiösen Verkündigung, seines irdischen Lebens und seines Todes ab. Der Christusglaube lässt sich als Deutung des historischen Jesus und seines Wirkens verstehen. Dabei soll der Ausdruck „Deutung" nicht besagen, dass der Christusglaube dem tatsächlichen Leben Jesu und seiner Bedeutung etwa widerspräche. Der Ausdruck „Deutung" soll lediglich besagen, dass dieses Leben an sich keinen „Beweis" enthält, dass Jesus der Christus bzw. Sohn Gottes war. Gäbe es einen solchen „Beweis", wäre es unverständlich, dass es einigen Menschen, etwa den jüdischen Machthabern, überhaupt möglich war, das Auftreten Jesu anders zu deuten, nämlich als Gotteslästerung. Es ist in der Theologie umstritten, wie man das Verhältnis zwischen dem historischen Jesus und der Christus-Verkündigung der ersten Gemeinde beurteilen soll. Die folgende Darstellung beruht zu 6
D i e synoptischen Evangelien sind die drei Evangelienschriften, die Matthäus, Markus und Lukas zugeschrieben werden.
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einem gewissen Grad auf der Auffassung, dass es immer Teil der theologischen Aufgabe ist, die Frage zu stellen: Welche Umstände im Leben des historischen Jesus, in seiner Verkündigung und seinem Tod haben bewirkt, dass seine Jünger ihn nach seinem Tod als den Christus ansahen? Auch bei der neutestamentlichen Ethik ist es nicht möglich, eine nur annähernd umfassende Darstellung zu geben. Ich konzentriere mich auf zwei entscheidende Beispiele: die Ethik des historischen (synoptischen) Jesus und diejenige des Paulus. Beide werden auf der Grundlage einer begrenzten Textauswahl vorgestellt. 3.3.1 Die Ethik in der Verkündigung Jesu Es kann, wie schon angedeutet, kaum bezweifelt werden, dass die so genannten synoptischen Evangelien - Matthäus, Markus und Lukas den besten Eindruck von der Verkündigung Jesu und seines menschlichen Schicksals geben. Andererseits leuchtet aber auch ein, dass die Berichte der drei Evangelisten alles andere als objektive „Reportagen" über Stationen im Leben Jesu sind. Ihre Darstellungen sind bestimmt vom Leben in den Gemeinden von Christusgläubigen, in denen die Geschichten von Jesus lebendig gehalten wurden. Im Folgenden sollen einige der wichtigsten ethischen Motive aus den Aussagen beschrieben werden, die die Evangelisten dem provokanten jüdischen Wanderprediger Jesus von Nazareth zuschreiben. Wichtigste Textgrundlage ist die so genannte Bergpredigt, die Kapitel 5 bis 7 des Matthäusevangeliums. Eschatologie und Ethik Vor der Bergpredigt hat Matthäus einen Satz platziert, der als Überschrift des gesamten Wirkens Jesu dient: „Seit dieser Zeit fing Jesus an zu predigen: ,Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!'" (Mat 4,17). Der Satz fasst zusammen, was man Jesu eschatologische Botschaft nennt.7 Die ethischen Forderungen, von denen in 7
Ta eschata (gr.) = die letzten Dinge. Der Kern der eschatologischen Botschaft Jesu ist etwa dieser: Jetzt ist die Zeit gekommen, in der Gott endgültig in die Geschichte eingreift. Von den Menschen wird daher gefordert, umzukehren und sich auf die Nähe des Gottes- bzw. Himmelreiches einzustellen.
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der Verkündigung Jesu die Rede ist, sind mit Verweis auf das Hereinbrechen des Gottesreiches gestellt. Die Ethik Jesu ist eine eschatologische Ethik. Die Tätigkeit Gottes ist in der Verkündigung Jesu - wie im AT als Heilstat dargestellt. Das geht aus den so genannten Seligpreisungen (Mat 5,1-12) hervor: Die Menschen, welche Gegenstand göttlichen Handelns sind, sind „selig", d.h. überaus glücklich. Die Seligpreisungen sind mit einem Ausdruck W . Schräges „bedingungslose Heilszusage(n)" (Schräge 1987, 25). Obwohl sie aber bedingungslos sind, sagen sie doch etwas darüber aus, welche Menschen oder welche menschliche Einstellung sozusagen empfänglich ist für das Handeln Gottes beim Nahen des Reiches. Das sind die „geistlich Armen", die Leidtragenden, diejenigen, denen „dürstet nach der Gerechtigkeit". Das heißt: Denen, die unter den Verhältnissen der damaligen Zeit religiös und gesellschaftlich-sozial zu kurz gekommen sind, weil sie nichts haben, und die aufgrund ihrer Bedürftigkeit allein auf G o t t angewiesen sind, denen widerfährt durch Jesu Zusage die Gottesherrschaft als Heil. (Schräge a.a.O.).
Der ethische Aspekt der Verkündigung Jesu besteht nun genauer gesagt darin, dass er unter Hinweis auf das anbrechende Gottesreich einen Einstellungs- bzw. Gesinnungswandel fordert, sowie ein entsprechendes Handeln. Bei Jesus ist es also die Nähe des Gottesreiches, welche die ethische Normativität begründet. Er sagt, populär ausgedrückt: „Gott handelt jetzt an Euch gut - deshalb sollt Ihr auf diese Weise handeln!". Um nochmals Schräge zu zitieren: Die zugleich ein- noch ausstehende Gottesherrschaft motiviert und provoziert die Menschen zu einem Handeln, das dieser Gottesherrschaft entspricht. (A.a.O., 26). Es ist diskutiert worden, ob Jesus eine „präsentische Eschatologie" predige, d.h. lehre, dass das Gottesreich schon gegenwärtig sei (vgl. z.B. Mat 12,28: „... so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen") - oder eine „futurische", d.h. lehre, dass das Reich ein zukünftiges sei (vgl. die Rede vom Kommen des Menschensohnes Mat 25,31-46). Die Wahrheit könnte in der Mitte liegen: Das Reich Gottes ist dabei einzubrechen, es ist schon wirksam - aber nicht endgültig.
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Der Zusammenhang zwischen der eschatologischen Verkündigung und der Ethik Jesu kommt in Mat 6,25-34 deutlich zum Ausdruck. Jesus knüpft hier an einen Grundzug menschlichen Daseins an: Wir machen uns Sorgen um die elementaren Lebensbedürfnisse wie Essen und Kleidung. Er legt seinen Zuhörern nahe, diesen Sorgen keinen Raum zu geben. Auch Tiere und Pflanzen machen sich diese Sorge nicht; und Gott, der Schöpfer aller Dinge, sichert ihnen doch ihre Lebensgrundlage. „Das Reich Gottes suchen" heißt also anscheinend, volles Vertrauen zu haben, dass Gott dem Einzelnen das gibt, dessen er bedarf. Welche Konsequenzen ergeben sich aber aus dem Sich-Einstellen auf die Nähe des Reiches Gottes für das Handeln und den Umgang mit anderen Menschen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns kurz Jesu Stellung zum alttestamentlichen Gesetz vergegenwärtigen. Die Stellung Jesu zum Gesetz Es zeichnet sich kein eindeutiges Bild von der Stellung Jesu zum Gesetz ab. Nach Mat 5,17ff. sagt er, er sei nicht gekommen, um das Gesetz aufzulösen, sondern um es zu „erfüllen". Es solle „im Himmelreich groß heißen", wer allen Geboten des Gesetzes gehorche. Entsprechend sagt Jesus zum reichen Jüngling, wenn er „zum Leben eingehen" wolle, müsse er alle Gebote halten, deren Zusammenfassung der Dekalog offenbar darstellt. Allerdings sagt er auch, das Einhalten des Gesetzes sei nicht ausreichend, wenn man „vollkommen" sein und „einen Schatz im Himmel" haben wolle: Dann müsse man seinen ganzen Besitz verkaufen und den Ertrag den Armen schenken (Mat 19,l6ff.). — Eine andere Auffassung vom Gesetz scheint im Wort Mat 11,13 ausgedrückt zu werden: „... alle Propheten und das Gesetz haben geweissagt bis Johannes". Das kann so verstanden werden, dass das Gesetz nur bis zum Erscheinen Johannes des Täufers gültig gewesen ist. Zweifellos ist auf alle Fälle, dass Jesus beansprucht, etwas Neues über das Gesetz zu sagen. Das zeigt sich deutlich in den sogenannten Antithesen der Bergpredigt („Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist ... — Ich aber sage euch ..."), wo Jesus offensichtlich die Rahmen der im damaligen Judentum gängigen Gesetzesinterpretation sprengt. Ein Rabbiner konnte Forderungen nur in Form einer Tora-Auslegung aussprechen, d.h. mit einem Schriftwort als Begründung. So geht Je-
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sus auch an einigen Stellen vor. Er spricht jedoch auch Forderungen aus, die er ausschließlich mit einem Verweis auf sich selbst begründet. Das ist beispielsweise in Mat 5,38f. der Fall, wo er das ius talionis durch die Forderung, die andere Backe hinzuhalten, ersetzt - mit der einzigen Begründung „Ich sage euch". Die Antithesen drücken damit den provozierenden Gesichtspunkt aus, dass Jesus auf gleicher Ebene mit demjenigen steht, der Israel das Gesetz gegeben hat: Moses. Ja, die Provokation ist noch größer, denn der bei der Gesetzesoffenbarung auf dem Sinai Redende ist ja Gott selber. Letzten Endes stellt sich also Jesus auf die Ebene Gottes, er nimmt sich die Befugnis heraus, im Namen Gottes zu reden. Jesus ist damit nicht nur ein Verkündiger, der von Gott und seinem Willen redet - wie z.B. die Propheten, die Gottes Wort zitieren („so sagt der Herr") - , sondern er nimmt das Wort Gottes in seinen eigenen Mund; er spricht im Namen des hereinbrechenden Gottesreiches. Dieser entscheidende Zug der Verkündigung Jesu kommt zum Ausdruck in der oft wiederholten Wendung der Evangelisten „er lehrte sie mit Vollmacht ..." (Mat 7,29). Es ist uns aber noch immer nicht gelungen, endgültig Klarheit darüber zu gewinnen, welche Stellung Jesus zum Gesetz einnimmt. Das wird sich ändern, wenn wir untersuchen, welches die menschliche Handlungsweise ist, die Jesus unter Hinweis auf das Gottesreich fordert. Das Gebot der Nächstenliebe Wie wir gesehen haben, ist die Forderung nach Nächstenliebe im AT eine unter vielen Forderungen (3. Mose 19,18). Ähnlich verhält es sich anscheinend bei der Antwort Jesu an den reichen Jüngling. Hier erscheint diese Forderung neben einer Reihe der Gebote des Dekalogs (Mat 19,18fF.). Jedoch kann man feststellen, dass das Gebot der Nächstenliebe hier eine besondere Stellung einnimmt. Die hervorragende Bedeutung des Gebotes der Nächstenliebe kommt allerdings erst mit der Formulierung des so genannten doppelten Liebesgebotes eindeutig zum Tragen: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinem Verstand. (...) Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. (Mat 22,37-39).
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Von dem Gebot, seinen Nächsten zu lieben, wird gesagt, es sei dem Gebot, Gott von ganzem Herzen zu lieben „gleich". Und: „An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten" (V. 40). Jesu Formulierung der Ethik in Form des doppelten Liebesgebotes stimmt an einem entscheidenden Punkt mit dem überein, was wir bei der Ethik des AT feststellen konnten: Es ist das Verhältnis zu Gott, das diejenige ethische Normativität begründet, welche im Verhältnis zu anderen Menschen gilt. Es gibt aber auch einen wichtigen Unterschied: Während die Beziehungen unter Menschen im AT durch eine Vielfalt von Vorschriften geregelt sind - allerdings mit der zweiten Tafel des Dekalogs als Konzentrat — sind sie bei Jesus einer einzigen Forderung unterstellt, der Forderung nach Nächstenliebe. Der Doppelcharakter von Jesu Stellung zum Gesetz - Kontrast und Erfüllung kann daher so verstanden werden, dass Jesus diejenige Forderung Gottes geltend macht, welche das Gesetz eigentlich enthält (Nächstenliebe). Dabei widerspricht er dem Gesetzesverständnis im Judentum seiner Zeit (und wohl im AT). Was Nächstenliebe genau gesehen heißt, geht nicht zuletzt aus der Erzählung vom barmherzigen Samariter (Luk 10,25-37) hervor. Sie veranschaulicht beispielhaft, dass die geforderte Handlung in der Hilfe fiir einen anderen Menschen besteht, der sich in einer Situation befindet, wo er der Hilfe bedarf. Der Samariter wird von Lukas als ho poiesas to eleos charakterisiert, wobei letzteres Wort sowohl mit „Mitleid" als auch mit „Barmherzigkeit" übersetzt werden kann. Man könnte sagen, dass Nächstenliebe sowohl darin besteht, Mitleid zu haben als auch, Barmherzigkeit zu üben; Nächstenliebe ist mit anderen Worten zugleich eine Gesinnung und eine Tätigkeit. Der Wortwechsel zwischen Jesus und dem Schriftgelehrten, der als Rahmen der Erzählung dient, hat einen eigentümlichen Zug. Der Schriftgelehrte fragt Jesus, was er tun solle, um „das ewige Leben zu erben". Jesus verweist auf das Gesetz, das der Schriftgelehrte im doppelten Liebesgebot zusammenfasst, einschließlich des „du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst". Die Erzählung wird veranlasst durch die Frage des Mannes „Wer ist denn mein Nächster?" Das müssen wir wohl im Sinne von „An wem soll ich handeln?" verstehen. Am Schluss der Erzählung fragt Jesus sein Gegenüber „Wer, meinst du, ist dem zum Nächsten geworden, der unter die Räuber gefallen
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war?" Jetzt ist der Nächste der Samariter, d.h. der Handelnde! Es könnte sein, dass Jesus durch diese verwirrende Umkehrung verdeutlicht, wie die charakteristische Wendung des Liebesgebotes „wie dich selbst" zu verstehen ist: Ein Mensch kann wissen, wer sein Nächster ist — d.h. wem er Gutes tun soll - , wenn er weiß, was es heißt, selbst einen Menschen nötig zu haben, der ihm Gutes tut. Wenn diese Interpretation haltbar ist, enthält die Antwort Jesu dieselbe Hauptaussage wie die so genannte Goldene Regel: Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut ihnen auch! (Mat 7,12).
Auch hier fugt Jesus hinzu: „Denn das ist das ganze Gesetz und die Propheten". Die Goldene Regel fasst also das Gesetz in derselben Weise zusammen wie das Gebot der Nächstenliebe. Allerdings stellt sich dann die Frage, ob die Goldene Regel genau dieselbe ethische Forderung ausdrückt wie das eigentliche Liebesgebot. Zu dieser Frage kehren wir später zurück, aber an dieser Stelle kann schon Folgendes gesagt werden: Wenn von einer Gegenseitigkeit (Reziprozität) im Zusammenhang des Gebotes der Nächstenliebe und der Goldenen Regel gesprochen werden kann, besteht sie nicht darin, dass der Einzelne eine berechnende Haltung einnimmt („Wenn ich gegen andere Barmherzigkeit zeige, werden sie es wohl auch mir gegenüber tun, wenn ich derer b e d a r f ) . Hinter einer solchen Einstellung kann auch Egoismus stecken. Bei den beiden zusammenfassenden Forderungen Jesu geht es eher um die folgende Einstellung: „Ich weiß von meiner eigenen Erwartung der Fürsorge, worin die Fürsorge für den anderen besteht". Von dem Verhältnis Jesu zum Gesetz pflegt man zu sagen, es bestehe in einer Radikalisierung seiner Gebote, d.h. einer Verschärfung seiner Forderungen. Genau das zeigen einige der Antithesen: „Du sollst nicht töten" - „du sollst nicht mit deinem Bruder zürnen" (Mat 5,21f.); „du sollst nicht ehebrechen" - „du sollst eine Frau nicht ansehen und sie begehren" (5,27f.). Die Radikalisierung besteht u.a. in einer Betonung der Gesinnung, nicht nur die äußere Handlung ist entscheidend, sondern die Einstellung zum anderen Menschen. Andere Formulierungen legen die Vermutung nahe, dass die Radikalisierung auch in der Unerfüllbarkeit der von Jesus geäußerten ethischen
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Forderungen besteht. Das ließe sich etwa vom antithetischen Gebot der Feindesliebe behaupten (Mat 5,43-45). Zumindest zeigt dieses Gebot, dass der Begriff des „Nächsten" verglichen mit dem AT radikal erweitert ist.
3.3.2 Ethik bei Paulus Die in Jesu Verkündigung enthaltenen Forderungen haben nicht die Funktion von moralischen Normen für eine Gesellschaft. Was immer man von dem historischen Jesus meinen mag, so hat er sicher nicht beabsichtigt, die Grundlage für eine gesellschaftlichen Reform zu legen. Seiner verbalen Auseinandersetzung mit den Normen des AT und des Judentums entspricht eine konkrete Auseinandersetzung mit der stabilen Lebensform, die diese Normen widerspiegeln. Jesus von Nazareth ist ein radikaler Wanderprediger gewesen, der nicht die soziale Ordnung bestätigt hat, sondern der ihr im Gegenteil die Menschen entrissen hat. Schon die ersten Christus-Gläubigen haben jedoch die „asoziale" Lebensform aufgegeben, um sich in Gemeinschaften zu etablieren, die das Einhalten von Normen erforderten. Das können wir den Briefen entnehmen, die Paulus an die von ihm gegründeten Gemeinden schrieb. Wenn wir sie lesen, müssen wir uns klarmachen, wer die Adressaten sind. In unserem Zusammenhang reicht es anzumerken, dass es Menschen sind, die sich auf Grund ihrer Taufe als Christen bekannt haben; sie leben in der Erwartung des baldigen Endes der Welt und der Wiederkunft Christi; sie leben (u.a. aus genau diesem Grund) weitgehend von der sie umgebenden Welt und ihren Institutionen getrennt: Sie stellen eine Randgruppe der Gesellschaft dar. Als übergeordneter Gesichtspunkt lässt sich von der Ethik des Paulus — also seiner Auffassung vom rechten menschlichen Handeln — feststellen, dass sie christologisch begründet ist. Das heißt, dass der Glaube, der Mensch Jesus von Nazareth sei der Christus, der Sohn Gottes, bestimmend für das rechte menschliche Handeln ist.
Gottes Heilshandeln in Jesus Christus In seinem ersten Brief an die Gemeinde in Korinth fasst Paulus zusammen, was für ihn der Kern des christlichen Evangeliums ist: Chri-
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stus ist fiir unsere Sünden gestorben; er ist am dritten Tag auferstanden; er wurde von Petrus und den Jüngern gesehen, später von anderen und zuletzt von Paulus selbst (1. Kor 15,3-8). Es ist wichtig, dass Paulus von „Christus" und nicht von „Jesus" spricht: gemeint ist nicht die historische Person, sondern der erwartete Messias, der Sohn Gottes. Entscheidend ist die Bestimmung „für unsere Sünden': Der Tod Jesu ist für Paulus eine Handlung Gottes, durch die er die Menschen von ihrem Gebundensein, ihrem Sklaventum unter der Sünde befreit. Jesu Leben, Tod und Auferstehung waren mit anderen Worten eine Heilstat Gottes — das ist Paulus' Deutung dessen, was historisch mit Jesus von Nazareth geschehen ist. Als Bezeichnung dieser entscheidenden Heilstat wird oft der Ausdruck „Christusgeschehen" benutzt. Dass der Mensch errettet oder befreit wird, drückt Paulus auch mit der zentralen Formulierung aus, der Mensch werde aus Glauben gerechtfertigt. Das heißt: Der Mensch wird gerecht - er erfüllt den Willen Gottes und entpricht der Bestimmung seines Lebens - , nicht durch eigene Leistung, sondern dadurch, dass er glaubend Gottes Heilstat in Christus als Geschenk annimmt. Die Bedeutung des Gesetzes Der Gegensatz zur Rechtfertigung aus Glauben ist die Rechtfertigung durch Werke des Gesetzes. Unter Gesetz versteht Paulus offensichtlich das ganze alttestamentliche Gesetz oder vielleicht sogar (wie es Rudolf Bultmann formuliert hat) das ganze AT. Das Bemühen, durch das Gesetz gerechtfertigt zu werden, besteht in dem Wunsch, dem Gesetz Gottes gemäß zu leben durch Gehorsam gegen das vom Gesetz Geforderte, d.h. durch Befolgen seines „du sollst!". Das ist jedoch dem Menschen unmöglich, weil er ein Sünder ist. Das „du sollst" des Gesetzes bringt die Sündhaftigkeit an den Tag und bindet damit den Menschen noch fester an die Sünde. Der Versuch, das Gesetz einzuhalten, offenbart nur, dass man der Strafe anheim gefallen ist, und so fuhrt das Gesetz letzten Endes in den Tod. Der Kreuzestod Jesu ist eine Strafe für die Übertretung des Gesetzes. Da aber Jesus sich keiner Übertretung schuldig gemacht hat, hat die Strafe an ihm stellvertretenden Charakter. Durch seine Bestrafung ist das Gesetz außer Kraft gesetzt. Glauben heißt, sich den stellvertretenden Tod Christi anzueignen, mit Christus „der Sünde sterben" (Rom 6, 11).
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Das neue Leben Die Anthropologie des Paulus ist durch eine Spannung zwischen dem alten Dasein unter dem Gesetz und dem neuen Dasein im Glauben gekennzeichnet. Er drückt diese Spannung u.a. durch die Begriffe Fleisch (sarx) und Geist (pneuma) aus. Man kann geradezu sagen, dass der Mensch nach Paulus gespalten ist, was insbesondere für den Menschen als ethisches Subjekt gilt: „das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich" (Rom 7,19). 8 An Christus glauben heißt, mit der Möglichkeit beschenkt zu werden, auf eine völlig neue Weise zu leben; der Glaube verwandelt das Dasein eines Menschen. Das neue Leben ist wie schon angedeutet durch Befreiung (vom Gesetz) gekennzeichnet, d.h. durch Freiheit (eleutheria). Weiter ist es ein Leben im Geiste, der mit dem Glauben empfangen wird. Das geschieht konkret bei der Taufe (vgl. Rom 6). Es ist der Geist, der den Menschen treibt, das heißt, sein Leben und seine Handlungen bestimmt. Dieses Leben im Geiste ist „durch die Liebe tätig (Gal 5,6). Es ist natürlich von der Liebe zum Nächsten die Rede, die - wie bei Jesus - die Erfüllung des Gesetzes ist (Gal 5,13-15; Rom 13,8-10). Das heißt, dass das von dem Gesetz nach seiner Intention Geforderte nur auf der Grundlage der Heilstat Christi, die im Glauben angenommen wird, verwirklicht werden kann. Die Auffassung der Nächstenliebe bei Jesus und Paulus basiert somit auf derselben grundlegenden Behauptung: Das Gesetz wird durch die Liebe zum Nächsten erfüllt. Aber die Voraussetzung dafiir, dass ein Mensch seinen Nächsten lieben kann, ist bei beiden verschieden: — bei Jesus-. „Das Reich Gottes ist nah; deshalb kannst du deinen Nächsten lieben!" — bei Paulus: „Christus ist für unsere Sünden gestorben; glaube das, so kannst du Nächstenliebe üben!" Man kann sich fragen, ob der Begriff vom Nächsten bei Paulus derselbe ist wie bei Jesus. Manches deutet daraufhin, dass der Begriff wieder 8
Es besteht hier der denkbar größte Kontrast zu Aristoteles' Auffassung, dass der Mensch am meisten er selbst ist, wenn er die theoria entfaltet (vgl. oben S. 40). D i e Verwirklichung des Guten ist nach Aristoteles letzten Endes unproblematisch. Der anthropologische Kontrast zwischen ihm und Paulus beruht auf dem Begriff der Sünde.
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eingeengt worden ist. Es scheint, als sei Nächstenliebe bei Paulus vorwiegend Liebe innerhalb der Gemeinde. Bevor wir das etwas genauer betrachten, soll ein Motiv erwähnt werden, das der christologischen Begründung der Ethik gewissermaßen zuwiderläuft. Schöpfitng und Natur Es gibt bei Paulus, insbesondere am Anfang des Römerbriefes, Formulierungen, die als Ansätze zur späteren Lehre vom so genannten natürlichen Gesetz (lex naturalis; dazu oben S. 44f.) gedeutet werden können. So heißt es: „Denn, wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur tun, was das Gesetz fordert (...) zeigen [sie] damit, daß in ihr Herz geschrieben ist, was das Gesetz fordert" (Rom 2,14f.). Vom ersten Kapitel her (V. 14) ist zu vermuten, dass der Grund dafür, dass die Heiden ein Wissen um das Gesetz haben, ihr Geschaffensein ist. Gott hat alle Menschen geschaffen, einschließlich der Heiden (derjenigen, die nicht an ihn als Schöpfer glauben); deshalb hat das mit der Schöpfung gegebene Gesetz für alle Menschen Geltung. Die Wendung, dass die Heiden „von Natur" tun, was das Gesetz fordert, erinnert an den stoischen Gedanken, das Gute bestehe im Leben in Übereinstimmung mit der Natur. Ähnliches gilt für den Sprachgebrauch, mit dem Paulus die Homosexualität verurteilt: Sowohl Frauen als auch Männer vertauschten den „natürlichen Verkehr" (physike kresis) und täten „widernatürliche" Dinge (para physin). (Vgl. Rom 1,27 und 1. Tim l,9f.). 9 Es ist allerdings eine Ausnahme, dass Paulus, wenn er sich zu konkreten Fragen der Lebensführung äußert, auf das Natürliche verweist. Konkrete Gemeindeethik Die Briefe des Paulus sind nicht theologische Abhandlungen oder Lehrbücher, die die Begründung der Ethik systematisch behandeln. Sie sind vielmehr Gelegenheitsschriften, die u.a. konkrete Konflikte in
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Die hier angeführten Stellen werden in manchen kirchlichen Kreisen mit der schon erwähnten Stelle 3. Mos 19,18 zusammen als Grundlage einer Distanzierung zu homosexueller Praxis benutzt. Auffälligerweise argumentiert Paulus nicht spezifisch christlich in dieser Sache; er weist nicht auf den Christusglauben hin, sondern eben auf die „Natur".
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den einzelnen Gemeinden kommentieren und zu lösen suchen. In der Gemeinde in Galatien hat es offensichtlich Mitglieder gegeben, die der Meinung waren, sie seien als Christen verpflichtet, das jüdische Gesetz einzuhalten. In Korinth war eher die entgegengesetzte Auffassung vertreten: Eben weil Christus die Gläubigen von den Auflagen des Gesetzes befreit habe, sei ihnen alles erlaubt. Die konkreten Ermahnungen des Paulus — seine so genannte Paränese — spiegelt die schon erwähnte Tatsache wider, dass die christlichen Gemeinden sich als neue Formen der Gemeinschaft (koinonia) innerhalb des römischen Reiches etablieren. Die Gläubigen, an die sich Paulus wendet, befinden sich in einer Art Zwischenposition. Einerseits leben sie aus einer Verkündigung von einem Menschen heraus, der alle sozialen Bindungen in Frage stellt; und sie erwarten selbst die Aufhebung aller sozialen Bindungen bei der Wiederkunft Christi. Andererseits stellen die Christen faktisch eine soziale Gemeinschaft dar und leben in einem wohlgeordneten Staat. Was die Beziehung zur umgebenden Gesellschaft betrifft, erwartet Paulus, dass die Gläubigen in manchen Punkten eine abweichende Lebensführung zeigen. In den so genannten Lasterkatalogen zählt er diverse Handlungen auf, die nicht innerhalb der Gemeinde vorkommen sollten, wie beispielsweise „Unzucht" und „Unreinheit" (Kol 3,5). Es ist zu vermuten, dass seine Ermahnungen gerade deshalb erforderlich waren, weil die verbotenen Handlungen in der umgebenden Kultur verbreitet waren. Die Christen sind jedoch nach ihrem eigenen Verständnis nicht ein Element, das die Sicherheit des Staates bedroht. In einer berühmten Passage des Römerbriefes ermahnt Paulus, alle sollen sich der Regierungsgewalt unterordnen. Die Begründung lautet, die staatliche Gewalt komme „von Gott", ihre Macht zum Strafen sei Gottes Mittel zur Bekämpfung menschlicher Bosheit (Rom 13,1-7). Wir sehen hier andeutungsweise eine Staatsauffassung, die radikal von derjenigen des Aristoteles abweicht und die die Auffassung der Beziehung von christlichem Glauben und Politik in der Geschichte der Theologie entscheidend beeinflusst hat. Eine der Aufgaben des Staates ist es, das Recht zu handhaben. Paulus schärft jedoch seinen Adressaten ein, Christen unter sich sollten nicht von dem Rechtswesen der Obrigkeit Gebrauch machen. Ein Christ solle lieber Unrecht leiden als gegen einen Glau-
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bensgenossen einen Prozess fuhren. Das Vorkommen eines Prozesses sei ja ein Ausdruck dafür, dass eine der Parteien ungerecht gehandelt habe, und das widerspreche dem Glauben: „Oder wisst ihr nicht, dass Ungerechte [adikoi] das Reich Gottes nicht erben werden?" (1. Kor 6,9). Die Christen, an die Paulus sich wendet, sind also nicht ohne weiteres in die koinonia der polis integriert, um mit Aristoteles zu reden. Einige der Gemeinschaftsformen, die Aristoteles erwähnt, finden wir aber bei Paulus wieder. Eine besondere Form seiner Ermahnungen sind die so genannten Haustafeln, in denen er sich über genau diejenigen Beziehungen äußert, die nach Aristoteles zum Haushalt gehören: Mann - Frau, Vater — Kinder, Herr — Sklave. Bei manchen ist Paulus besonders wegen seiner Äußerungen über Frauen in Verruf geraten: Sie sollen „in der Gemeindeversammlung schweigen" (1. Kor 14,34) und „einer Frau gestatte ich nicht, dass sie lehrt" (1. Tim 2,12). Das sind konkrete Beispiele dafür, wie Frauen sich unterordnen sollen (1. Kor 14,34). Wie wir bei Aristoteles gesehen haben, ist das jedoch ein selbstverständlicher Gedanke in der antiken Gesellschaft. Das Besondere bei Paulus ist die Art seiner Begründung dieses Untergeordnetseins: „der Mann aber ist das Haupt der Frau"; die Frau ist das niedrigste Glied der Rangordnung Gott - Christus - Mann - Frau (1. Kor 11,3). Es muss allerdings betont werden, dass die Stellung des Paulus zur Über- und Unterordnung, die die grundlegenden Relationen zwischen Menschen prägen, nicht eindeutig ist. In der soeben zitierten Passage sagt er auch „denn wie die Frau vom Mann, so kommt auch der Mann durch die Frau" (1. Kor 11,12). Und es gibt Stellen, wo sich Paulus anscheinend radikal mit dem Gedanken von Rangunterschieden zwischen Menschen auseinandersetzt: Hier ist nicht J u d e noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Herr, hier ist nicht M a n n noch Frau; denn ihr seid alle einer in Christus Jesus. (Gal
3,28).
„Hier" soll heißen: unter den Gläubigen. Geht Paulus auf der einen Seite von den Unterschieden zwischen Menschen aus, so betont er auf der anderen Seite auch, dass auf Grund der Gemeinschaft um denselben Retter eine fundamentale Gleichheit unter den Christen herrscht.
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Biblische Ethik
Grundsätzlich lassen sich die Ermahnungen des Paulus als Aufforderungen verstehen, die Nächstenliebe konkret zu verwirklichen, zu der der Mensch als Konsequenz des Glaubens an Gottes Heilstat in Christus getrieben wird. Wie angedeutet, hat es den Anschein, dass Paulus in erster Linie an die Gemeinde als Wirkungsfeld der Nächstenliebe denkt.
3.4 Zusammenfassend über biblische Ethik Als Abschluss dieses Kapitels kehre ich kurz zu der Frage zurück, ob von einem durchgängigen Merkmal in der biblischen Ethik geredet werden kann, wenn wir die Entwicklung vom AT bis Paulus betrachten. Bei Paulus findet sich ein viel diskutiertes Motiv, der so genannte Zusammenhang von Indikativ und Imperativ. Die Ausdrücke beziehen sich darauf, dass Paulus an vielen Stellen zwischen einer Feststellung (wie etwa „Christus hat uns befreit") und einer Aufforderung desselben Inhalts („So laßt uns denn frei sein!") wechselt. Man kann dieses Motiv als Ausdruck des Zusammenhanges zwischen Gottes Heilshandeln und dem dadurch ermöglichten neuen menschlichen Handeln interpretieren. Das Indikativ-Imperativ-Motiv bei Paulus kann damit als Variation dessen angesehen werden, was man das durchgehende Motiv biblischer Ethik nennen könnte: Der letzte Grund derjenigen Normativität, der menschliches Handeln unterstellt ist, ist das rettende Handeln Gottes in der Geschichte. Es gibt jedoch innerhalb der Bibel verschiedene Auffassungen davon, worin dieses rettende Handeln besteht: — Im AT ist das rettende Handeln an die konkrete Geschichte des Volkes geknüpft. — Beim Jesus der Synoptiker liegt Gottes rettendes Handeln in dem Schon-Gegenwärtigsein seines Reiches. — Bei Paulus ist Gottes rettendes Handeln an das Christusgeschehen geknüpft.
Literatur zu Kapitel 3
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Kapitel 4. Die Ethik in der Synthese zwischen biblischem und griechischem Denken Im vorhergehenden Kapitel habe ich mich bemüht zu zeigen, dass es keine eindeutige Antwort auf die Frage gibt, was biblische Ethik sei. Wenn man daher in einem gegenwärtigen Zusammenhang Bibelstellen als Begründung für eine ethische Stellungnahme benutzen möchte, erfordert das eine genauere Überlegung. Es gibt aber noch einen anderen Grund, weshalb man nicht ohne weiteres auf die Bibel verweisen kann, um einen ethischen Standpunkt zu rechtfertigen. Zwischen den Entstehungssituationen der biblischen Texte und unserer heutigen Lage hat es eine Entwicklung von ein bis zwei Jahrtausenden gegeben. In der dazwischen liegenden Geschichte hat „biblische Ethik" einen Einfluss auf das europäische Denken ausgeübt. Um einen Ausdruck aus der Hermeneutik zu benutzen: Die biblische Ethik hat eine Wirkungsgeschichte durchlaufen.1 Die Wirkungsgeschichte beeinflusst ihrerseits die Art, wie wir die biblischen Texte und die in ihnen enthaltenen ethischen Gesichtspunkte verstehen. Zur gegenwärtigen theologischen Arbeit gehört eine Besinnung auf die Wirkungsgeschichte der biblischen Ethik. Erst wenn man zu einem gewissen Grade mit der Art vertraut ist, wie die biblische Ethik die Ideengeschichte Europas beeinflusst hat, ist man imstande, sich mit der Frage, wie die Schriften der Bibel (vielleicht) zur Begründung einer heutigen ethischen Stellungnahme dienen können, kritisch auseinanderzusetzen. 1
„Hermeneutik" bedeutet ursprünglich die Kunst der Auslegung und ist als solche traditionell eine Disziplin sowohl innerhalb der Theologie als auch der Rechtswissenschaft. Die Bezeichnung wird jedoch vor allem von einer philosophischen Position benutzt, derzufolge Verstehen und Interpretation ein Grundzug der Wirklichkeitserfassung des Menschen ist. Die philosophische Hermeneutik ist ein Ausläufer der Existenzphilosophie. Ihr prominentester Vertreter ist Hans-Georg Gadamer (geb. 1900), der in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode den Begriff „Wirkungsgeschichte" einführt.
Die „Hellenisierung" des Christentums
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4.1 Die „Hellenisierung" des Christentums Ein erster und entscheidender Schritt der Wirkungsgeschichte des biblischen Denkens ist das, was man die Synthese von biblischem und antikem griechischen Denken nennt. Man spricht hier auch von der „Hellenisierung des Christentums". Wenn von „Denken" die Rede ist, darf das nicht so verstanden werden, als geschehe mit dem Christentum nur etwas auf der Ebene der Ideen. Was in den ersten Jahrhunderten nach dem Tode Jesu - der Zeit der alten Kirche - geschieht, ist vielmehr eine Umwandlung des Christentums auf einer ganzen Reihe von Ebenen. Versuchsweise kann man folgende Unterscheidung vornehmen: -
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Die Ebene der Frömmigkeit. Zu einem gewissen Zeitpunkt geschieht eine entscheidende Änderung im Verständnis des Christentums, nämlich dass die Naherwartung in den Hintergrund tritt. Damit bekommt die Unterscheidung zwischen „dieser Welt" und der „künftigen Welt", die ursprünglich eine kosmisch-geschichtliche Bedeutung hatte, einen kosmisch-individuellen Sinn: Die „kommende Welt" ist der Ort, zu dem die Seele des Einzelnen nach dem Tode geführt wird. Die politisch-soziale Ebene. Während die Urgemeinde sozial eine Randgruppe war und die Christen im römischen Reich lange Verfolgungen ausgesetzt waren, geschieht eine immer stärkere Integration der Kirche in die umgebende Gesellschaft. Schließlich wird das Christentum Staatsreligion des Imperium romanum, beginnend mit dem Edikt Konstantins des Großen im Jahr 313 und abgeschlossen mit dem Status des Katholizismus als einziger anerkannter Religion unter Justinian I. im 6. Jahrhundert. Die theologisch-philosophische Ebene. Die ersten christlichen Theologen, die so genannten Kirchenväter, werden mit der Frage konfrontiert, wie sich die christliche Glaubenslehre zu demjenigen (ursprünglich antiken) philosophischen Denken verhält, das die umgebende intellektuelle Welt prägt.
Verweilen wir einen Moment bei der Synthesenbildung auf der zuletzt genannten Ebene. Wie einleitend in Kapitel 2 erwähnt wurde, gibt es in der Theologie sehr unterschiedliche Beurteilungen der „Hellenisie-
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In der Synthese zwischen biblischem und griechischem Denken
rung des Christentums". Dass sie eine Tatsache ist, kann allerdings nicht bezweifelt werden. Eine der berühmtesten Darstellungen gibt Adolf von Harwick in seinem „Lehrbuch der Dogmengeschichte" (Erste Ausgabe 1885). Ich nehme seine Darstellung als Ausgangspunkt für eine Erläuterung dessen, was mit der Rede von der Hellenisierung gemeint ist. Adolf von Harnack zufolge fiihren die so genannten Apologeten2 eine entscheidende Veränderung herbei. Sie verteidigen das Christentum und die Christen dem Kaiser gegenüber mit dem Argument, die Christen sollten denselben Schutz genießen wie die Philosophen, weil das Christentum in Wirklichkeit eine Philosophie sei. Von Harnack fasst den Gesichtspunkt der Apologeten folgendermaßen zusammen: ... Das Christenthum ist Philosophie, weil es einen rationalen Inhalt hat, weil es über die Fragen einen befriedigenden und allgemein verständlichen Aufschluss bringt, um die sich alle wahrhaften Philosophen bemüht haben ... (Von Harnack 1964, 505).
Den Gegensatz, von dem hier anscheinend die Rede ist, formuliert von Harnack an anderer Stelle so: Diese Dogmen (...) sind von den Apologeten nicht vom Standpunkt der christlichen Gemeinde aus, die die Einführung in das Reich Gottes erwartet, festgestellt, sondern auf Grund der Betrachtung der Welt einerseits (...), der sittlichen Art des Menschen andererseits gewonnen. (A.a.O., 529).
Dieser historische Versuch einer Synthese von Christentum und Philosophie stellt die systematische Frage nach der Vereinbarkeit oder Spannung im Verhältnis zwischen der biblischen Rede von Gott, der sich in der Geschichte des Volkes Israel und schließlich in Jesus von Nazareth offenbart — und demjenigen Gottesgedanken, der sich durch rationale Untersuchung der Beschaffenheit der gegebenen Wirklichkeit (des Kosmos) ergibt. Oder, wie es der französische Denker Blaise Pascal (1623-1662) formuliert hat: Es geht um das Verhältnis zwischen dem Gott der Philosophen und dem Gott Abrahams, Isaaks
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Apologia = Verteidigung. In der Theologie bedeutet Apologie Verteidigung des christlichen Glaubens.
Ethische T h e m e n der frühen Kirche
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und Jakobs. In unserem Zusammenhang begnügen wir uns damit, einige wenige Elemente der Synthesenbildung zu betrachten, die für die Geschichte des ethischen Denkens wichtig sind.
4.2 Ethische Themen der frühen Kirche In der Theologie der ersten Jahrhunderte werden einige der grundlegenden Gedankenmotive ausgeformt, die christliches Denken seither geprägt haben. Es sollen hier einige von ihnen genannt werden und zwar unsystematisch und unvollständig.3 Bei Aurelius Augustinus (354-430) finden wir die Vorstellung, dass das Leben des Christen ein immer währender Kampf bzw. Krieg ist. Der Christ ist ein Soldat, der gegen den Satan und die bösen Engel kämpft und schließlich durch Christus zum Siege geführt wird. Das Bild gilt jedem Christen, aber der Mönch und der Märtyrer entsprechen dem Ideal am ehesten. Augustin fuhrt eine Unterscheidung ein, die für das mittelalterliche Verständnis rechten menschlichen Handelns und rechter Lebensführung bedeutsam sein wird. Er unterscheidet zwischen für alle Christen verbindlichen Geboten bzw. Vorschriften einerseits {praecepta), und „evangelischen Ratschlägen" (consilia) andererseits, die nur für diejenigen verpflichtend sind, die die christliche Vollkommenheit anstreben (wie etwa Mönche). Augustin betrachtet die Ehe als eine grundlegende Form menschlicher Gemeinschaft. Sie hat ihre eigene Heiligkeit und ist im natürlichen Gesetz begründet. Sie hat die Funktion, das Menschengeschlecht weiterzufuhren, aber auch die natürliche Gemeinschaft zwischen Mann und Frau zu verwirklichen. Die Ehe setzt Treue voraus und zwar sowohl auf Seiten der Frau als auch des Mannes. Allerdings schätzt Augustin das Zölibat noch höher als die Ehe, da es hier nur eine Form der Hingabe gibt, die zu Gott. — Einen anderen Aspekt der frühen 3
Ein klassisches Werk, das sich kritisch zur Synthesenbildung im Bereich der Ethik verhält, ist die Untersuchung Anders Nygrens über die in den beiden Kulturen unterschiedlichen Begriffe von Liebe (Eros — Agape). (Vgl. Nygren 1955).
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christlichen Beurteilung von Ehe und Zölibat finden wir bei Johannes Chrysostomos (347-407). Auch er schätzt das Zölibat höher ein als die Ehe, und zwar mit der Begründung, der Ehelose könne sich sowohl leiblich als geistig Christus weihen und so das Leben der Engel vorwegnehmen. Hier deutet sich an, dass das christliche Denken einen anthropologischen Dualismus übernommen hat mit dem Ergebnis, dass die Leiblichkeit — nicht zuletzt die Sexualität - im Verhältnis zum Seelisch-Geistigen abgewertet wird. Das Ideal der christlichen Lebensführung hat m.a.W. eine Dimension der Askese. Johannes Chrysostomos scheint der Erste zu sein, der sich grundsätzlich mit dem Phänomen der Arbeit auseinandersetzt. Er schätzt sie positiv ein, weil sie notwendig sei als Grundlage der Hilfe an anderen. Einen verwandten Gesichtspunkt äußert Clemens von Alexandrien (gest. um 200) in Bezug auf Reichtum. Er hält es für zulässig, dass ein Christ reich ist, vorausgesetzt der Reichtum dient dem Nächsten.4 Es gibt noch eine einflussreiche christlich-ethische Stellungnahme, die von Augustin begründet wird, und zwar die Verurteilung des Selbstmordes. Während die Stoiker wie angedeutet das Recht des Einzelnen auf den Freitod anerkennen, ist Augustin der Uberzeugung, diese Handlung widerspreche dem Dekalog, da sie ja das Töten eines Menschen beinhalte. Zur Eigenart christlicher Ethik in der alten Kirche gehört, dass der Gedanke der Nächstenliebe einen konkreten Ausdruck gewinnt, nicht zuletzt durch das Klosterwesen. So umfasste das praktische Wirken innerhalb des Mönchtums Krankenpflege (Einrichtung von Spitälern), Armenfiirsorge (Asyle) und Unterricht (Schulen). Im Laufe des 4. Jahrhunderts bekommt die Kirche auch auf die staatliche Gesetzgebung Einfluss, z.B. hinsichtlich des Schutzes von Menschenleben, mit dem oft ziemlich leichtfertig umgegangen wurde. Gleichzeitig übernahm die Kirche direkt einige bürgerliche Rechtsfunktionen, z.B. in Zusammenhang mit der Ehe. (Vgl. hierzu Moeller 1987, 91). 4
Die Betrachtungen des Clemens über Reichtum sind mit denjenigen des Seneca in der Schrift De beata vita verglichen worden. Seneca bedenkt den Einwand, es sei mit dem Ideal des stoischen Weisen unvereinbar, im Wohlstand zu leben. Er weist ihn mit der Begründung ab, das Entscheidende sei, dass man sich nicht durch den Reichtum in seinem Seelenfrieden stören lasse.
Ethische Themen der frühen Kirche
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Wir bewegen uns hier auf der politisch-sozialen Ebene (vgl. o.). Man kann zusammenfassend sagen, dass der Gedanke der Nächstenliebe sich in den Institutionen verkörpert hat, die immer mehr durch die Kirche geprägt wurden. In dieser Weise hat christliche Ethik von den frühesten Jahren an sozusagen eine konkrete soziale Wirkungsgeschichte gehabt. Die umwandelnde Wirkung der Kirche auf die antike Gesellschaft auf der politisch-sozialen Ebene entspricht einer Änderung der ethischen Theorie, womit wir uns auf der theologisch-philosophischen Ebene befinden. Diese Änderung setzt früh ein, da sie ja gewissermaßen schon bei Paulus beginnt. Ihr erster systematischer Ausdruck findet sich jedoch bei Augustin. Eine Voraussetzung Augustins ist das Grundschema der Ethik des antiken Denkens. Sehr vereinfacht kann das folgendermaßen dargestellt werden: Jeder Mensch strebt nach dem Guten; die Verwirklichung des Guten geschieht durch die Tugenden; sie sind Ausdruck dafür, dass der vernünftige Teil des Menschen über den Triebteil herrscht; der Mensch ist mit dem herrschenden Teil seiner selbst befreundet bzw. liebt ihn und kann diese Freundschaft/Liebe auf andere Menschen ausdehnen. - Augustin macht den Versuch zu zeigen, dass dieser ethische Gedankengang erst auf der Grundlage des christlichen Glaubens zu seinem Recht kommt. Fangen wir mit der Eigenliebe an. Die Eigenliebe in ihrer negativen Form, die von Aristoteles analysiert wurde (vgl. oben S. 35), muss nach Augustin als Sünde gedeutet werden. Die Eigenliebe (amor sui) hängt nämlich mit dem Hochmut (superbia) zusammen, durch den der Mensch sich von seinem wahren Gut, Gott, abwendet und versucht, sich selbst zur Lebensgrundlage zu machen. Der Hochmut ist Ausdruck einer Verkehrung des Willens durch die Sünde. Und das Gerichtetsein des Willens ist entscheidend dafür, ob die Gefühle und Handlungen eines Menschen gut oder böse sind. Den rechten Willen hat ein Mensch, wenn er sich Gott unterwirft. Als Vernunftwesen ist der Mensch so geschaffen, dass es ihm dienlich ist, sich Gott zu unterwerfen, während es nachteilig ist, seinem eigenen Willen zu folgen. Sich Gott zu unterwerfen heißt aber, seinem Gesetz mit den beiden Hauptgeboten der Liebe zu Gott und der Nächstenliebe zu gehorchen. Im Erfüllen dieser Gebote und im Zeigen der
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Nächstenliebe (caritas) kann ein Mensch auch sich selbst in der rechten Weise lieben (se ipsum diligere). Um die im doppelten Liebesgebot implizierte Beziehung zwischen Gott, dem Nächsten und dem Einzelnen selbst zu bestimmen, entwirft Augustin einen ziemlich komplizierten Begriff der Liebe, auf den ich hier nicht in Einzelheiten eingehen kann. 5 Es scheint mir jedoch wichtig, dass Augustin den Gedanken einer naturgegebenen Eigenliebe6 anerkennen kann — allerdings mit dem Akzent darauf, dass sie durch diejenige Eigenliebe berichtigt werden muss, die in der Liebe zu Gott gründet. Der komplexe Begriff der Liebe bei Augustin kann als sein Versuch gesehen werden, den Sinn der charakteristischen Wendung „wie dich selbst" des biblischen Gebotes der Nächstenliebe auszulegen. Dieser Versuch ist eine gute Veranschaulichung der Synthese, mit der wir uns in diesem Kapitel beschäftigen. O'Donovan macht darauf aufmerksam, dass bei Augustin vor allem zwei Motive vereint werden: der antike Gedanke vom Zusammenhang zwischen Freundschaft und Eigenliebe - und ein neutestamentlicher Gedanke, der am deutlichsten von Johannes formuliert ist: „Laßt uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt." (1. Joh 4,19). O'Donovan schlägt vor, man müsse zwischen zwei „Thesen" über die in der christlichen Nächstenliebe enthaltene Gegenseitigkeit unterscheiden: (i) Nächstenliebe setzt ein Bewusstsein davon, geliebt zu sein, voraus; (ii) Nächstenliebe setzt einen Wunsch voraus, geliebt zu werden. Augustin behaupte beide Thesen. (Vgl. O'Donovan 1980, 125). Nur wenn ein Mensch seine Liebe auf Gott richtet und sich ihm unterwirft, kann er nach Augustin tugendhaft sein.7 Es ist also die Liebe, die das Wesen aller Tugenden ausmacht. Beispielsweise kann 5 6
7
Ich verweise auf O'Donovan 1980, auf den sich meine Darstellung weitgehend stützt. O'Donovan macht darauf aufmerksam, dass die Bezeichnung bei Augustin für diese Eigenliebe, conciliare sibi, eine Ubersetzung des griechischen oikeiousthai ist, das in der stoischen Ethik von Bedeutung ist. (Vgl. oben S. 42). Die Übernahme des Tugendbegriffes der griechischen Ethik durch die frühe christliche Theologie hat zum Ergebnis gehabt, dass neben den vier klassischen Tugenden Gerechtigkeit, Mut, Besonnenheit und Weisheit (vgl. oben S. 25) mit drei „theologischen Tugenden" gerechnet wurde: Glaube, Liebe und Hoffnung.
Die lex naturalis bei Thomas von Aquin
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Gerechtigkeit nur dann ausgeübt werden, wenn Menschen sich Gott unterordnen. Ein Mensch, der das nicht tut, beraubt sich selbst Gott, dem er gehört, und kann folglich nicht gerecht sein. Denn Gerechtigkeit heißt ja laut klassischer Definition, jedem das Seine zu geben. Eine Gesellschaft, in der Menschen sich Gott unterordnen, so dass ihre Vernunft bzw. ihre Seele den Leib beherrscht, ist ein Staat Gottes (civitas Dei). Wo Menschen hingegen auf Grund falscher Willensausrichtung wähnen, sie könnten aus eigener Kraft die Tugenden ausüben, besteht der irdische Staat (civitas terrena). Im Gottesstaat herrscht die rechte Liebe zu Gott, im irdischen der falsche amor sui. (Vgl. De civitate dei, Buch XIX). Wir sehen hier andeutungsweise, wie die Umformung der Ethik des klassischen Denkens durch Augustin eine neue Auffassung des Politischen mit sich führt.
4.3 Die lex naturalis bei Thomas von Aquin Als Abschluss dieses Kapitels wollen wir uns einen der wichtigsten ethischen Begriffe vergegenwärtigen, der aus der Synthese zwischen antikem und biblischem Denken resultiert, nämlich denjenigen der lex naturalis, des natürlichen Gesetzes. Frühere Ansätze Der Hellenisierung des Christentums ist eine entsprechende Hellenisierungdes Judentums vorangegangen. Die wichtigste Gestalt in diesem Zusammenhang ist Philo von Alexandria (ca. 25 v. Chr. bis 50 n. Chr.). Philo ist sowohl durch Piaton als auch durch die Stoa beeinflusst, und er versucht ihr Denken mit den heiligen Schriften der Juden (dem ,Alten Testament") in Ubereinstimmung zu bringen. Er findet in diesen Schriften Vorbilder jüdischer Gesetzesfrömmigkeit, z.B. die Patriarchen, die seiner Meinung nach dem ungeschriebenen Gesetz gehorchen, das Gott in die Natur niedergelegt hat. Auf diese Weise vereint Philo ein griechisches bzw. hellenistisches und ein alttestamentliches Motiv: — Den Gedanken von der den Kosmos durchdringenden Gesetzes- und Vernunftmäßigkeit, der der Mensch in seiner Lebensführung folgen kann und soll (Stoa).
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-
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Den Gedanken von dem Gott, der den Bund mit Israel errichtet ihm das Gesetz auferlegt (AT).
und
Das ungeschriebene Gesetz der Natur ist nach Philo am besten im Dekalog ausgedrückt, dessen Gebote folglich allen Menschen als vernünftige Zusammenfassung ethischer Vorschriften zugemutet werden können. Philos Versuch die Tora-Frömmigkeit und stoisches Naturrechtsdenken zu vereinen ist in einer neueren Darstellung folgendermaßen beschrieben worden: Weise und gut zu sein heißt wie bei den Stoikern „der Natur folgen". Bei Philo heißt es aber auch, Gott nahe zu kommen - die durch ihn im Universum geschaffene Ordnung aufzufassen, danach mit den herrschenden und schöpferischen Kräften Gottes, letzten Endes mit der Vernunft Gottes übereinstimmend zu denken, um schließlich, jenseits rationaler Auffassung, mit ihm als dem Einen, der ist, vereint zu werden. (Meeks 1986, 83. Meine Übersetzung.).
Im christlichen Kontext findet sich das Motiv der lex naturalis schon bei den Apologeten. So fasst Justin (gest. um 165) den präexistenten Christus sowohl als logos als auch als nomos auf. Dank der logoi spermatokoi (ausgestreuten Samenkörnern des Logos) war es möglich, dass in der Zeit vor Christus mit ihm im Einklang stehende Gesetze erlassen wurden. Auch spätere christliche Theologen wie die schon erwähnten Clemens von Alexandria und Johannes Chrysostomos formulieren den Gedanken von der lex naturalis. Bevor ich auf seine Ausformung bei Thomas von Aquin eingehe, sollen kurz einige entscheidende Begriffe genannt werden, die Augustin einführt. In Zusammenhang mit dem Schöpfungsgedanken benutzt Augustin den Begriff lex aeterna, das ewige Gesetz, das mit dem göttlichen Gesetz (lex divina) identisch ist, d.h. mit der göttlichen Weisheit, durch die alles geschaffen ist und die die gesamte Schöpfung lenkt. Der Gedanke vom Gesetz ist jedoch bei Augustin nicht ausschließlich schöpfungstheologisch ausgeformt. Die Inkarnation bewirkt nach seiner Auffassung, dass die lex divina in der Person Christi zum Ausdruck kommt und dem Menschen offenbar wird. Das Gesetzesverständnis bekommt hier also einen christologischen Aspekt, so dass christliche Lebensführung den Charakter der Nachfolge (imitatio Christi) bekommt.
Die lex naturalis bei Thomas von Aquin
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Thomas von Aquin Einige wenige Daten über Thomas: Er wurde im Jahre 1224 oder 1225 auf einer Burg in der Nähe der Stadt Aquino zwischen Rom und Neapel geboren. (Im Englischen wird er sehr oft „Aquinas" genannt, auf Deutsch manchmal „der Aquinate"). Nachdem er als Kind dem Benediktinerkloster Monte Cassino überlassen worden war, trat er als Erwachsener in den Dominikanerorden ein. Er studierte in Paris Theologie und lehrte später dort. Er starb im Jahre 1274. Etwas vereinfachend kann man sagen, dass Augustin die Synthesenbildung von Christentum und Piatonismus vertritt, während das Denken des Thomas eine Vereinigung von Christentum und der Philosophie des Aristoteles darstellt. Der Hintergrund dafür muss u.a. in der Art der Überlieferung der aristotelischen Schriften gesucht werden. In der lateinischen Welt wurde Aristoteles primär durch Boethius (480-524) vermittelt, jedoch handelte es sich hier nur um einige der Schriften zur Logik. Aristoteles war aber auch in der arabischen und jüdischen Welt bekannt, und von hier sind - u.a. über Spanien - lateinische Übersetzungen seiner übrigen Schriften (darunter diejenigen zur Ethik) nach Westeuropa gedrungen. Das führte zu einem starken aristotelischen Einfluss an den Universitäten, seit Mitte des 13. Jahrhunderts auch an den theologischen Fakultäten. 8 Die Schriften des Thomas umfassen (a) Kommentare zu Texten der Bibel, (b) kleinere Abhandlungen über bestimmte Themen und (c) systematische Werke. Zu den letzteren gehören als wichtigste Summa contra Gentiles (125864) und Summa Theologiae (1265 angefangen, unvollendet). Beide Summen sind systematische und umfassende Darstellungen der christlichen Glaubenslehre. Die Summa Theologiae (ST) besteht aus drei Teilen, von denen der zweite wiederum in zwei zerfällt: Prima secundae (11,1) und Secunda secundae (II,II). Die Argumentation des Werkes ist streng systematisch aufgebaut. Es besteht aus einer Reihe von quaestiones, die wiederum in mehrere articuli eingeteilt sind. Jeder Artikel enthält einleitend eine These und eine Gegenthese (sed contra), wonach die eigentliche Analyse und Argumentation des Thomas (responsio) folgt. Es wird im Folgenden auf die ST verwiesen durch Angabe des Teiles (z.B. 1,11), der quaestio (z.B. qu. 90) und des Artikels (z.B. 5). Die Summa contra Gentiles (SG) ist einfacher aufgebaut. Sie besteht aus vier Büchern (das zweite zerfällt in zwei), die in Kapitel eingeteilt sind. Es 8
Die Lehre des Aristoteles hat innerhalb der Kirche nicht nur Anhänger gefunden. So hat der Bischof von Paris, Etienne Tempier, im Jahre 1277 219 Lehrmeinungen des Aristoteles verurteilt. Thomas soll etwa 20 von ihnen vertreten haben.
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wird auf die S G verwiesen durch Angabe von Buch und Kapitel (z.B. III,
100).
Aristoteles hatte bezüglich des Verhältnisses zwischen Vater und Kindern als entscheidendes Merkmal hervorgehoben, dass letztere ihre Existenz dem Vater verdanken (vgl. oben S. 34). Diesen Gedanken wendet T h o m a s auf die biblische Vorstellung von Gott als Schöpfer an. Gott ist der, der allem, was es gibt, das Sein gegeben hat. Er ist deshalb der Herr über alle Dinge, das heißt, alles ist seinem Willen untergeordnet. Was nun einem Willensbeschluss zufolge hervorgebracht ist, ist von dem Hervorbringer auf ein Ziel hin geordnet. Der Wille ist nämlich seinem Wesen nach auf ein Ziel bzw. auf ein G u t ausgerichtet. Letzten Endes hat jedoch ein schaffendes Wesen sich selbst als Ziel. Wenn Menschen z.B. etwas herstellen, tun sie es um ihres eigenen Nutzens willen. Dasselbe ist bei Gott der Fall, und daher muss das Ziel seines schöpferischen Willens er selbst sein. D a er die schöpferische Ursache von allem ist, ist er auch das eine Ziel, auf das hin alles geschaffen und geordnet ist. T h o m a s übernimmt seine Definition des Guten von Aristoteles: B o n u m est quod omnia appetitunt ( S G 111,17). Aber wie man sieht, ordnet er die aristotelische Teleologie in den biblischen Gedanken von Gott als dem Schöpfer aller Dinge ein. Das Geschaffene ist verschiedenartig und die Geschöpfe streben daher in verschiedener Weise ihr Ziel an. Die vernunftlosen Geschöpfe streben kraft einer Neigung (inclinatio), welche ihnen auf unveränderliche Weise mit ihrer Natur gegeben ist. Der Mensch hingegen hat als Vernunftwesen die Fähigkeit, in den Plan Gottes Einsicht zu haben und seine Lebensführung in Ubereinstimmung mit ihm zu gestalten. 9 Hiermit sind die Grundbestimmungen der thomistischen Ethik gegeben. Ein deutlicher Ausdruck für das Bemühen des Thomas, die aristotelische Ethik für die Darstellung des biblischen Ethos zu nutzen, ist die Tatsache, dass er dem Begriff Gesetz (lex) einen hervorragenden Platz einräumt. Alle Geschöpfe sind der Herrschaft Gottes (regimen) 9
Das vernunftbestimmte Streben des Menschen (appetitus intellectualis) ist dasselbe wie sein Wille. Ein auf der Grundlage eines Vernunfturteils gefasster Entschluss ist eine Manifestation der menschlichen Willensfreiheit (liberum arbitrium).
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untergeordnet, und das heißt, dass das ganze Universum eine Art Gesellschaft: oder Gemeinschaft (communitas) ausmacht. Ein Vernunftwesen wird eine solche Gemeinschaft durch ein Gesetz lenken. Die lenkende Aufrechterhaltung der geschaffenen Welt geschieht daher durch dasjenige Gesetz, das der göttlichen Vernunft entspringt, und somit außerhalb der Zeit, d.h. eine lex aeterno, ist. Der besondere Status des Menschen als vernünftiges Geschöpf beinhaltet nun, dass er an dem ewigen göttlichen Gesetz teilhat. Und so kann Thomas den grundlegenden Begriff der lex naturalis definieren: . . . diese Teilnahme am ewigen Gesetz im vernunftbegabten Geschöpf wird natürliches Gesetz genannt. (Participatio legis aetemae in rationali creatura lex naturalis dicitur. S T 11,1 qu. 91,2).
Es folgt aus der teleologischen Denkweise des Thomas, dass ein Gesetz bei ihm ein rationaler Plan bzw. eine Regel für ein bestimmtes Verfahren ist. Ein Gesetz ist eine Anweisung dafür, wie man ein gegebenes Ziel erreicht. Die lex aeterna ist Ausdruck des Schöpfungsplanes Gottes, und entsprechend ist das natürliche Gesetz die Vorschrift dafiir, wie der Mensch sein durch die Schöpfung bestimmtes Ziel erreicht. Thomas' Gedanke vom natürlichen Gesetz besagt, dass der Mensch auf Grund seiner Natur bzw. seines Wesens eine Kenntnis des Guten besitzt. Auch hier knüpft Thomas an Aristoteles an, indem er zwischen dem angeborenen Wissen um die grundlegenden ethischen Prinzipien (synderesis) und dem Gewissen (conscientia) als der Fähigkeit zum Umsetzen dieses Wissens in einer konkreten Handlungssituation unterscheidet (ST 11,1 qu. 94,1). Es ist die Vernunftbegabung, die den Menschen befähigt, nach dem natürlichen Gesetz zu handeln. Nach Thomas gibt es somit neben der theoretischen eine praktische Vernunft, und zwischen beiden besteht eine strukturelle Gleichheit. Der grundlegendste Ausgangspunkt der Vernunfttätigkeit ist die Einsicht in einige wenige Grundbegriffe und einleuchtende Prinzipien. 10 Grundbegriff der theoretischen Vernunft ist esse (Sein); von ihm gilt als Prinzip der so genannte Widerspruchsatz: Man kann von demselben nicht zugleich dasselbe 10 „Principium" ist die lateinische Übersetzung des griechischen arche = .Anfang" im Sinne vom Ausgangspunkt einer vernünftigen Gedankenfolge.
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behaupten und verneinen. Wenn ich sage „Der Briefkasten ist gelb und der Briefkasten ist nicht gelb" übertrete ich diese grundlegende Bedingung, die Sprache sinnvoll auf das Gegebene (das Seiende) zu beziehen. - Der Grundbegriff der praktischen Vernunft ist bonum (das Gute). Das durch ihn geltende Grundprinzip folgt aus der schon zitierten Definition des Guten (bonum est quod omnia appetunt); es lautet: Das Gute muss gesucht und verwirklicht werden - das Böse soll vermieden werden. Die Parallele zwischen theoretischer und praktischer Vernunft gilt auch für das Ziehen von Schlüssen. Wie Aristoteles meint Thomas, ein Schluss käme dadurch zustande, dass man sich von einem allgemeinen zu einem individuellen Satz bewegt. Es gibt aber einen wichtigen Unterschied zwischen dem theoretischen und dem praktischen Schlussfolgern. Die theoretische Vernunft kann das erschließen, was notwendigerweise der Fall ist (wenn alle Hunde Wirbeltiere sind und Fiffi ein Hund ist, dann ist Fiffi notwendigerweise ein Wirbeltier). Praktische Vernunft kann sich nicht in derselben Weise notwendig vom Allgemeinen zum Einzelnen bewegen. Das Einzelne ist in diesem Fall diejenige Handlung, die in der gegebenen Situation ausgeübt werden soll, und menschliche Handlungen gehören zum Gebiet des Kontingenten bzw. Zufälligen. Thomas veranschaulicht das mit einem klassischen Beispiel. Es ist eine allgemeine ethische Regel, dass man zurückgeben soll, was ein anderer einem zum Aufbewahren anvertraut hat. Aus dieser Regel kann ich jedoch nicht schließen, dass ich in jeder Situation das Anvertraute zurückzugeben habe. Wenn es um eine Waffe geht und Grund zur Annahme besteht, dass der andere sie gegen Menschen anwenden wird, muss die Regel eben nicht eingehalten werden. Eine konkrete Handlungssituation ist nach Thomas durch besondere Umstände gekennzeichnet (conditiones particulares), welche gegebenenfalls bewirken können, dass man gegen eine allgemeine Norm handeln muss. Die streng schließende (deduktive) praktische Vernunft hat somit ihre Grenzen. (Vgl. S T 11,1 qu. 94,4)."
11 Thomas' Darlegung der Struktur der praktischen Vernunft kann als klassische Position zu wichtigen Fragen der Metaethik aufgefasst werden. Einmal vertritt er einen sog. Kognitivismus, wenn er behauptet, es liege dem ethischen Handeln ein Erkennen des Guten zu Grunde. Zum anderen betrachtet er die
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Was ist der Inhalt des natürlichen Gesetzes? Wir sind bereits auf seine grundlegendste Vorschrift gestoßen: „Das Gute soll gesucht und ausgeführt werden — das Böse soll vermieden werden". Konkretere Vorschriften ergeben sich, wenn der Mensch seine Vernunft zur Entdeckung seines eigenen Guten benutzt, d.h. desjenigen, wonach er seiner Natur nach strebt. In diesem Zusammenhang zeigt sich wieder, wie sehr Thomas aristotelisch denkt. Sein Menschenbild entspricht weitgehend der „geschichteten" Anthropologie des Aristoteles. Entsprechend den verschiedenen Schichten oder Ebenen innerhalb der Natur des Menschen enthält das natürliche Gesetz Thomas zufolge verschiedene Vorschriften. Auf der elementarsten Ebene hat der Mensch ein Streben mit allen anderen Wesen gemeinsam, nämlich das Streben nach Erhaltung des eigenen Daseins (conservatio sui esse). Folglich schreibt das natürliche Gesetz vor, man solle sich diejenigen Dinge beschaffen, die zur Bewahrung des Lebens notwendig sind. Sodann hat der Mensch Neigungen, die allen Tieren gemeinsam sind. Das natürliche Gesetz schreibt daher dem Menschen vor, was es alle Tiere lehrt: Dass man mit Mitgliedern des anderen Geschlechts Umgang haben soll und dass man seine Abkömmlinge zu pflegen hat. Schließlich hat der Mensch ganz eigene Neigungen, weil er ein Vernunftwesen ist. Die Vernunft lässt uns z.B. nach wahrer Gotteserkenntnis und nach Gemeinschaftsleben streben. Folglich enthält das natürliche Gesetz Vorschriften darüber, dass Unwissenheit zu vermeiden ist und dass man nicht diejenigen kränken soll, mit denen man zusammenlebt. Wie sich zeigt, sind die Vorschriften des natürlichen Gesetzes nicht alle gleich grundlegend. Zu den grundlegendsten scheint Thomas diejenige zu rechnen, dass man anderen Aicht Schaden zufügen soll (ST 11,1 qu. 94,5). Und offensichtlich schließt er sich der Auffassung Gratians an, dass das natürliche Gesetz in gewisser Weise in der Goldenen Regel zusammengefasst sei (ST 11,1 qu. 94,4). Richtigkeit einer H a n d l u n g als rational begründbar, da die H a n d l u n g aus einem Vernunftprinzip ableitbar ist. N a c h T h o m a s ist sogar eine „Letztbegründung" möglich, indem es ein oberstes und selbstevidentes Prinzip der Ethik gibt.
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Der Begriff „natürliches Gesetz" besagt, dass einige Formen des Handelns entweder mit der Natur übereinstimmen oder ihr widerstreiten. Zu den Letzteren gehört nach Thomas z.B. die homosexuelle Praxis, indem sie den allen Tieren gemeinsamen Neigungen widerspricht. Demgegenüber stimmt heterosexuelles Geschlechtsleben mit der Natur überein. Ein Handeln oder eine Lebensform kann aber auch in dem Sinne mit der Natur übereinstimmen, dass die Natur sozusagen kein Verbot gegen sie enthält. So ist es mit dem natürlichen Gesetz vereinbar, nackt zu sein, denn die Natur hat dem Menschen keine Kleider gegeben. Auch stimmt es mit der Natur überein, gemeinsamen Besitz zu haben, weil die Natur den Menschen nicht auf Privateigentum festlegt. (Vgl. S T 11,1 qu. 94,6). — Die erwähnten Überlegungen zeigen, dass die lex naturalis bei Thomas nicht aus einem endgültig festgelegten System von Vorschriften besteht.12 Seine Auffassung gibt somit Raum dafür, dass Menschen hinsichtlich ihres Verständnisses dessen, was das natürliche Gesetz vorschreibt, klüger werden. Wie schon erwähnt, ist das höchste Gut (summum bonum) nach Thomas Gott selbst. Das höchste Ziel menschlichen Strebens ist daher, sich mit ihm zu vereinigen. Es ist diese Vereinigung, welche das Gesetz bezweckt, und da eine der Formen der Vereinigung die Liebe ist, hat das Gesetz als oberstes Gebot die Liebe des Menschen zu Gott. Wenn wir aber jemanden lieben, so Thomas, dann lieben wir auch alle die, die mit dem Geliebten vereinigt sind. Folglich ist die Liebe zu anderen Menschen unlöslich mit der Liebe zu Gott verknüpft, so dass auch die Nächstenliebe in das höchste Gebot des Gesetzes eingeht. Das ist Thomas' Interpretation des doppelten Gebotes der Liebe. (SG III, 116 u. 117). Wir kennen seiner Meinung nach die Forderung nach Nächstenliebe vom natürlichen Gesetz. Dass es für den Menschen natürlich ist, Liebe (dilectio) zu zeigen, können wir daran sehen, dass wir einen natürlichen Impuls zum Helfen haben, wenn ein anderer dessen bedarf,
12 Der englische Philosophiegeschichtier F. Copleston drückt den Sachverhalt so aus, die lex naturalis enthalte diejenigen Vorschriften, die sich ergeben, wenn der Mensch über die naturgegebenen Formen des Strebens nachdenkt. Der Gedanke der lex naturalis sei deshalb mit der Behauptung der Selbstständigkeit der menschlichen Vernunft vereinbar. (Vgl. Copleston 1955, 222).
Die lex naturalis bei Thomas von Aquin
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sogar wenn es ein Fremder ist. Die gute Lebensführung, die das Gesetz fordert, liegt vor, wenn der Mensch die Tugenden ausübt. Da das höchste Gebot dasjenige nach Liebe ist, ist die größte Tugend die Caritas. Der Erwerb dieser Tugend setzt allerdings göttliche Hilfe voraus. Dass Liebe ein natürliches Phänomen ist, hängt damit zusammen, dass der Mensch ein soziales Wesen ist. Menschen sind in Gemeinschaften zusammengeschlossen, um ihre Ziele zu erreichen. Die beste Grundlage eines solchen Zusammenschlusses ist die gegenseitige Liebe. Liebe ist somit eine soziale Tugend und ist als solche mit der Gerechtigkeit eng verbunden. Gerechtigkeit heißt nach Thomas, dass jedem das Seine gegeben wird (unicuique quod suum est redditur. SG III, 128). Wenn Gerechtigkeit ausgeübt wird, herrscht in einer Gesellschaft Frieden, und diesen zu sichern ist die vornehmste Aufgabe eines Staates. Andere seiner Aufgaben sind, die Untertanen zum guten Handeln anzuregen und das für das Leben Notwendige zu sichern. Die Aufgabe des Staates ist somit nach Thomas vor allem eine positive: Er soll Güter beschützen — also nicht nur Böses verhindern. Oder mit der Formulierung Coplestons: Aufgabe des Staates ist es, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass erfülltes Menschenleben gelebt werden kann. (Copleston 1955, 239). Der Mensch kann sich kraft seiner natürlichen Fähigkeiten Wille und Vernunft seinem höchsten Ziel, der Vereinigung mit Gott, nähern. Das Erreichen des Zieles, der seligen Schau Gottes (visio beatifica), des eigentlichen Glücks des Menschen, liegt jedoch jenseits der Natur. Theologisch gesehen ist die Ethik nach Thomas daher nicht mit der lex naturalis erschöpft. Er rechnet noch mit zweierlei Gesetzen, die das Leben des Gläubigen lenken. Die erste ist die lex divina, das Gesetz, das Gott in den biblischen Schriften, sowohl dem AT wie dem NT, mitgeteilt hat. Inhaltlich ist dieses Gesetz teilweise mit der lex naturalis identisch. Die lex divina ist aber u.a. deshalb notwendig, weil die menschliche Beurteilung ethischer Fragen auf der Grundlage der lex naturalis oft unsicher ist. Die lex divina umfasst jedoch auch denjenigen Teil des ethischen Handelns, der in der Gnade gründet. Diesen Aspekt des Gesetzes nennt Thomas lex nova im Unterschied zur lex veta. Mit lex nova meint er das, was Paulus das „Gesetz Christi" nennt; es geht also hier um ein Handeln, das dem Heil durch Christus entspringt. Die dem neuen Gesetz entsprechende Liebe ist von der
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Liebe des natürlichen Gesetzes verschieden: sie ist „unseren Herzen durch die Gnade Christi eingegossen" (in cordibus nostri infunditur per gratiam Christi; ST 11,1, qu. 91). Erst diese von außen eingegossene Caritas ermöglicht es dem Gläubigen, Gott und den Nächsten vollgültig zu lieben. Diese eigentlich christliche Liebe ist nicht nur vom Gesetz gefordert, sondern verwirklicht sich im Gläubigen als Tugend. Die Caritas ist der Inbegriff aller Tugenden. Um sein Ziel, die Vereinigung mit Gott, zu erreichen, bedarf der Mensch somit göttlichen Beistandes in der Form der Gnade. Und, wie eine berühmte thomistische Sentenz besagt, die Gnade zerstört nicht die Natur, sondern vollendet sie. Nach Thomas ist die Natur des Menschen nicht total durch die Sünde verdorben, sondern diese ist eher ein störendes Element für das Bestreben des Menschen, sich auf Gott auszurichten. Wenn ein Mensch am Bewusstsein des Gerichtetseins auf Gott festhält, das Anstreben des Zieles jedoch vernachlässigt, liegt lässliche Sünde vor. Ist jedoch sogar das Gerichtetsein auf Gott verschwunden, ist von Todsünde die Rede.13 Die gerechte Bestrafung der Todsünde ist, dass der Mensch sein Ziel, das selige Schauen Gottes, nicht erreicht. Im Werk des Thomas liegt die erste systematische Darstellung einer theologischen Ethik vor. Sie ist später die Grundlage der offiziellen Morallehre der katholischen Kirche geworden (vgl. Kap. 12, S. 284ff.). Zusammenfassend über die Lehre von der lex naturalis Mit dem Gedanken von der lex naturalis ist ein Thema von grundlegender Bedeutung in das ethische Denken Europas eingeführt worden. 14 Seine Konsequenzen betreffen sowohl die philosophische als auch die theologische Ethik. 13 Schon in der frühen Kirche wurde die Lehre von den drei Todsünden Mord, Unzucht und Abfall ausgeformt. 14 Es sollte an dieser Stelle erwähnt werden, dass in dem hier besprochenen Zeitraum zwei wichtige Kodifizierungen von Gesetzen stattfinden. (1) Im 6. Jahrhundert fuhrt der Kaiser Justinian den so genannten Corpus iuris civilis ein, eine Zusammenfassung des römischen Rechtes unter einem stoisch geprägten Gesichtswinkel. (2) Um 1140 verfasst Gratian die Decreta sive Concordia discordantiaum canonum, eine erste Sammlung des kirchlichen bzw. kanonischen Rechtes. Sie wird oft kurz Dekret Gratians genannt und Thomas verweist oft auf sie.
Die lex naturalis bei Thomas von Aquin
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Philosophisch bedeutet der Gedanke vom natürlichen Gesetz, dass ethische Normen in der Natur des Menschen gründen, so wie sie nun einmal gegeben ist. Das heißt, dass die grundlegendsten ethischen Vorschriften allgemeingültig, unabänderlich und rational einsehbar sind. Theologisch bedeutet der Gedanke, dass die grundlegenden ethischen Normen mit der Schöpfung des Menschen gegeben sind. Was Gott vom Menschen als Geschöpf fordert, fordert er von allen, und es ist mit Hilfe der Vernunft einzusehen. Der Gedanke von der lex naturalis bedeutet also anscheinend, dass der Mensch einsehen kann, was grundlegend gut ist — ob er an Gott glaubt oder nicht. Dann ergeben sich aber zwei entscheidende Fragen: 1) Ist die durch das Geschaffensein bedingte Fähigkeit, das Gute zu erkennen, nicht durch die Sünde beeinflusst? 2) Ist christliche Ethik mit den Forderungen des natürlichen Gesetzes erschöpft - oder gibt es auch noch eine christologisch begründete Ethik? Der Gedanke vom natürlichen Gesetz ist ein klassisches Beispiel dafiir, wie zwischen philosophischer und theologischer Ethik ein Zusammenhang etabliert werden kann. Literatur zu Kapitel 4 Quellen Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat. I-II. Vollst. Ausgabe eingel. u. übertr. v. W.Thimme. Zürich 1955. Thomas von Aquin: Summae contra gentiles libri quattuor. Summe gegen die Heiden. Band 1-5. Darmstadt 1974-96. St Thomas Aquinas: Summa Theologice. Volume 28. Latin text. English translation, Introduction, Notes, Appendices & Glossary. Th.Gilby O.P. Blackfriars, Cambridge. London, New York 1966. Thomas von Aquin: Das Gesetz. Komm. v. O.H.Pesch. Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe der Summa Theologica. 13. Band. Heidelberg, Köln 1977. Sekundärliteratur Copleston, F. (1955). Aquinas. London. von Harnack, A. (1964): Lehrbuch der Dogmengeschichte. Erster Band: Die Entstehung des kirchlichen Dogmas. Darmstadt. Maclntyre, A. (1988): Whose Justice? Which Rationality? London.
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Meeks, W. (1986): The Moral World of the First Christians. London. Meeks, W.A. (1993): The Origins of Christian Morality. The First Two Centuries. New Haven, London. Nygren, A. (1955): Eros und Agape: Gestaltwandlungen der christlichen Liehe. Gütersloh. O'Donovan, O. (1980): The Problem of Self Love in St. Augustine. London. Osborn, E. (1976): Ethical Patterns in Early Christian Thought. Cambridge.
Kapitel 5. Die Ethik Luthers Die Ethik des Thomas von Aquin ist Teil eines Gedankengebäudes, in welchem das irdische Menschenleben sich zwanglos in dasjenige übernatürliche Dasein einfugt, von dem die christliche Gnadenlehre handelt. In seiner Gesellschaftstheorie behauptet Thomas, die Kirche sei als Institution dem weltlichen Staat übergeordnet. In diesem Punkt spiegelt sein Denken die tatsächliche Stellung des Christentums im Hochmittelalter wider. Die Entwicklung hatte gewissermaßen ihren Höhepunkt erreicht: Was als sozial verstoßene Gruppierung im römischen Reich angefangen hatte, war schließlich zum wichtigsten Machtfaktor geworden und zwar sowohl geistig als auch politisch. Das Oberhaupt der Kirche, der Papst, erhob den Anspruch, dem Kaiser, dem politischen Führer des geeinten Europas, übergeordnet zu sein. Die Reformation bedeutet, dass wieder ein entscheidender Bruch bezüglich der Position des Christentums eintritt. Sie ist ein Versuch, zu einem authentischeren Verständnis des christlichen Glaubens zurückzufinden, aber sie wird von äußeren - politischen und sozialen Umwälzungen begleitet. Die katholische Kirche verliert dabei zu einem wesentlichen Teil ihre äußere Machtposition, indem große Teile des gesellschaftlichen Lebens säkularisiert werden. Die Situation bewirkt, dass es sowohl innere als auch äußere Erfordernisse gibt, die Frage nach den Konsequenzen des Glaubens für menschliches Handeln neu zu durchdenken. Die inneren Erfordernisse ergeben sich aus dem neuen Verständnis des Glaubens, die äußeren aus dem neuen kirchlichen und sozialen Kontext, in dem sich der Gläubige befindet. Martin Luther ( 1 4 8 3 - 1 5 4 6 ) ist der Urheber derjenigen Form des Protestantismus, der in den nordischen Ländern und Teilen Deutschlands übernommen wurde, der evangelisch-lutherischen. Eine andere wichtige Richtung des Protestantismus, die reformierte, wurde von den beiden Reformatoren der Schweiz, Huldrich Zwingli ( 1 4 8 4 - 1 5 3 1 ) und Jean Calvin ( 1 5 0 9 - 1 5 6 4 ) , begründet. Schließlich erhielt England seine besondere Form des Protestantismus, den Anglikanismus. Auf all das kann hier nicht einge-
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Die Ethik Luthers
gangen werden, sondern es soll ausschließlich um diejenigen Teile von Luthers reformatorischem Verständnis des Christentums gehen, die den Charakter einer theologischen Ethik haben. Die Schriften Luthers sind von unterschiedlichem Charakter. Einige sind das Ergebnis seiner Tätigkeit als Lehrer der Theologie, vor allem Kommentare zu Schriften der Bibel. Viele sind Beiträge über aktuelle kirchliche und gesellschaftliche Fragestellungen. Ebenso gibt es theologische Streitschriften. U n d schließlich gibt es seine Übersetzung der ganzen Bibel mit Einleitungen. - Die Standardausgabe ist die so genannte Weimarer Ausgabe: D.Martin Luthers Werke, kritische Gesamtausgabe, die ab 1 8 8 3 erschienen ist. Es wird auf sie unter der Abkürzung WA und mit Angabe der Band- und Seitenzahl (ggf. auch Zeilennummer) verwiesen. Die meisten anderen Ausgaben und Ubersetzungen geben auch die WA-Seitenzahl an.
Luthers Verständnis des christlichen Glaubens ist bekanntlich stark durch das Neue Testament (NT) beeinflusst, nicht zuletzt durch die Rechtfertigungslehre des Paulus. Es liegt deshalb auf der Hand, dass die Ethik Luthers in höchstem Maße an die biblische Ethik anknüpft. Es mag daher am Platze sein, ganz kurz an die im Kapitel 3 dargestellten Grundzüge biblischer Ethik zu erinnern. Von der biblischen Ethik insgesamt kann man sagen: Die (ethischen) Ansprüche, mit denen Menschen konfrontiert werden, sind in Gottes Handeln am Menschen begründet. Biblische Ethik beinhaltet mit anderen Worten, dass der Mensch als ethisches Subjekt sich immer zu zwei anderen Parteien verhält: zu Gott und zu anderen MenschenMan kann dies die Doppelrelation des ethischen Subjekts nennen. Die ethische Entscheidung und das ethische Handeln sind nach biblischem Verständnis immer auch ein sich Entscheiden und ein Handeln Gott gegenüber. In der Verkündigung Jesu kommt dieser Sachverhalt in der Hervorhebung des doppelten Liebesgebotes zum Ausdruck. Wenden wir uns der christologisch begründeten Ethik des NT zu, tritt eine neue Problematik in den Vordergrund. Von der im Christusglauben der Urgemeinde begründeten Ethik her handelt Gott in zweifacher Weise am Menschen: als Schöpfer aller Menschen und als der, welcher den Gläubigen die Gnade in Christus schenkt. Nach neutesta1
Es ist in der Sprache heutiger Ethik üblich, das Wesen, zu dem das ethische Subjekt sich handelnd verhält, das ethische Objekt zu nennen. Bei der Lektüre englischsprachiger Literatur besteht dabei eine Gefahr des Missverständnisses, da „ethical subject" normalerweise „ethisches Objekt" bedeutet.
Gottesverhältnis und Ethik. Das Gesetz
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mentlichem Gedankengang ist der Mensch somit in der Weise in eine Doppelrelation (zu Gott und zu anderen Menschen) gestellt, dass die Relation zu Gott wiederum ein Zweifaches beinhaltet (Schöpfung Rettung). Außerdem gilt, dass sich der Mensch, indem er sich zu Gott verhält, gleichzeitig zu sich selbst bzw. zu seinem eigenen Leben verhält. An Gott zu glauben bedeutet mit anderen Worten auch, sein eigenes Leben in einer bestimmten Weise aufzufassen. Alles in allem können wir die neutestamentliche Auffassung des ethischen Subjektes folgendermaßen schematisch darstellen: Schöpfung Gott . Rettung
I Ethisches Subjekt
Der andere
Sich selbst Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch in Zusammenhang mit der Schöpfang kann als einseitig bezeichnet werden, da das Geschaffensein eine Realität ist, unabhängig davon, ob der Mensch daran glaubt oder nicht. Demgegenüber ist das Verhältnis der Rettung (bzw. der Rechtfertigung) wechselseitig in dem Sinn, dass das Heil nur dann für einen Menschen eine Realität ist, wenn es im Glauben angenommen wird. Ein möglicher Einstieg in die Ethik Luthers ist seine Auffassung der zweifachen Struktur, welche die Beziehung des Menschen zu Gott kennzeichnet.
5.1 Gottesverhältnis und Ethik. Das Gesetz Luthers Einschätzung der entscheidenden Bedeutung des Gottesverhältnisses für die Ethik kommt in seiner Auslegung des ersten Gebotes und des ersten Glaubensartikels zum Ausdruck, wie wir sie etwa im Großen Katechismus finden. An Gott als Schöpfer glauben heißt nach Luther zu glauben, dass es Gott ist, der einem das Leben als dem Menschen, der man ist, gegeben hat: ... leib/ seele und leben/ geliedmaße klein und gros/ alle synne/ vernunfft und verstand. (WA 30/1 183f.).
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Die Ethik Luthers
Als Schöpfer hat Gott weiter alle diejenigen Güter gegeben, die zum Leben gehören (wie etwa Ehepartner und Kinder) und seinem Erhalten dienen (Nahrung, Kleidung, die Erde mit ihren Pflanzen und Tieren). Dass all dies geschaffen ist, heißt, dass der Mensch es weder sich selbst geben, noch sein Bestehen sichern kann. Als Schöpfer ist Gott somit auch derjenige, der das Geschaffene erhält, und zwar folgendermaßen: ... aus lauter liebe und gute/ durch uns unverdienet/ als ein freundlicher vater/ der für uns sorget. (184).
Schaffen und Erhalten werden somit von Luther als die grundlegende gute Handlung Gottes am Menschen dargestellt. Ja, Gott ist geradezu derjenige, von dem alles Gute kommt, er ist ein ewiger quellbrun .../ der sich mit eitel gute ubergeusset/ und von dem alles was gut ist und heisset/ ausfleusst. (136).
Gott ist ganz einfach „das einige ewige Gut" (134). Obwohl hier von dem Verhältnis zu den Menschen von Seiten Gottes des Schöpfers die Rede ist - d.h. von einer Beziehung, die alle Menschen umfasst - , sind Luthers Formulierungen von der Güte Gottes vom Glauben her gesprochen. Glaube heißt nämlich geradezu anerkennen, dass Gott derjenige ist, dem man alles Gute verdankt und von dem man alles Gute erwarten kann. Gottesglaube heißt, ihn mit dem Herzen zu ergreifen und sich an ihn zu halten. Deshalb umfasst der Glaube auch Liebe, Lob und Dank für die Gaben der Schöpfung. Diese Einstellung des Glaubens sind wir nach Luther Gott als Antwort auf das GeschafFensein schuldig. Luthers Ausdrucksweise zeigt, dass er ganz anders denkt als Thomas von Aquin. Scheinbar sagen die beiden allerdings dasselbe, nämlich Gott sei das einzige oder höchste Gut. Der Sinn des Gesagten ist jedoch völlig verschieden. Thomas hält an der aristotelischen Bedeutung von „gut" fest, die - wie wir gesehen haben — derjenigen entspricht, die wir von Wendungen wie „du bist gut zum ..." und „es ist gut für dich" kennen. Was Luther mit Gutsein meint, entspricht dagegen sehr viel eher einer Wendung wie „du bist gut zu mir". Der Unterschied kann etwas vereinfacht folgendermaßen ausgedrückt werden. Bei Aristoteles wird das Gute als nicht-personale Kategorie bestimmt: Das Gute ist, was für ein gegebenes Wesen gut ist, und wonach dieses
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strebt. Dieser nicht-personale Begriff des Guten wird von Thomas auf die Beziehung des Menschen zu Gott übertragen. Bei Luther wird die Güte Gottes hingegen als etwas durch und durch Persönliches dargestellt. Güte ist hier nicht ein angestrebtes „Etwas", sondern sie ist diejenige Liebe und Fürsorge, die ein persönliches Wesen von einem anderen empfängt. Das zentrale Bild Luthers für die Güte Gottes ist die fürsorgliche Liebe eines Vaters. Schon daran zeigt sich seine biblische Orientierung, denn es handelt sich ja dabei um die Grundmetapher der Bibel ftir das Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Da Luther solcherart die Schöpfung als personale Beziehung darstellt, ist klar, dass sie eine ethische Grundbeziehung implizieren muss. Gegenstand der schöpferischen Güte zu sein fuhrt dazu, dass der Mensch Gott etwas schuldig und damit verpflichtet ist: Es gibt etwas, was mit Recht vom Menschen erwartet werden kann.2 Der enge Zusammenhang von Schöpfung und Verpflichtetsein kommt bei Luther darin zum Ausdruck, dass seine Auslegung des ersten Glaubensartikels (von der Schöpfung) mit seiner Auslegung des ersten Gebotes („Du sollst nicht andere Götter haben") ganz parallel läuft. Das Gesetz ist nämlich der Ausdruck desjenigen Schuldig- und Verpflichtetseins, das den Menschen allein dank seines Geschaffenseins prägt. An den Begriff des Gesetzes sind eine Reihe von Luthers zentralen Lehrstücken geknüpft, wie etwa die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium und die eines zweifachen Gebrauchs des Gesetzes. Beide Unterscheidungen hängen mit der so genannten ZweiReiche-Lehre zusammen, an die sich wiederum seine Auffassung vom natürlichen Gesetz knüpft. Bevor auf diese verschiedenen Aspekte der Lehre Luthers vom Gesetz eingegangen wird, ist es notwendig, etwas 2
Der Begriff der Schuld, den wir kurz eingeführt haben, kann mindestens zweierlei bedeuten. (1) Wir können jemandem etwas schuldig sein oder unsere Schuldigkeit tun: Der Einzelne ist in einer solchen Position anderen gegenüber so gestellt, dass diese berechtigterweise etwas Bestimmtes von ihm erwarten. (2) Wir können auch sagen, dass jemand an etwas schuld ist: Schuldigsein bedeutet hier Ursache eines Sachverhaltes zu sein, vorwiegend eines negativen. - Es ist Schuld im letzten Sinn, die mit „Schuldgefühlen" und schlechtem Gewissen verbunden sein kann. Wenn Luther von dem Schuldigsein des Menschen gegenüber Gott dem Schöpfer spricht, ist jedoch von Schuld im erstgenannten Sinn die Rede.
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näher auf seine Bestimmung des Begriffes Gesetz selbst einzugehen. Zu diesem Zweck eignet sich als Ausgangspunkt die Vorrede zum Römerbriefin Luthers Ubersetzung der Bibel. Luther geht hier auf den Inhalt des paulinischen Briefes ein und es kann davon ausgegangen werden, dass er sich die dargestellte Auffassung selbst zu eigen macht. Zu allererst muss nach Luther zwischen menschlichem Gesetz und Gesetz Gottes unterschieden werden. Das menschliche Gesetz ist eine Lehre darüber, was getan und was unterlassen werden soll. Entscheidend ist, dass dieses Gesetz durch rein äußerliche Handlungen erfüllt werden kann, d.h. ohne Beteiligtsein des Herzens. Wenn Gott hingegen nach seinem Gesetz urteilt, ist gerade der „Grund des Herzens" entscheidend: W o n u n nicht ist freie lust zum guten/ da ist des hertzen grund nicht am gesetz Gottes. ... das Gesetz foddert ... ein frey/ willig/ lustig hertz. (Luther 1976, 2265).
Im Unterschied zwischen menschlichem und göttlichem Gesetz ist also ein Gegensatz enthalten zwischen zwei Weisen, auf welche Menschen ein Gesetz erfüllen können: — durch äußeres Einhalten von Vorschriften, was aus Furcht vor Strafe oder Wunsch nach Belohnung, auf jeden Fall also mit Unlust und aus Zwang, geschieht; - als Handeln aus freier Lust und Liebe zum Gesetz. Der Gegensatz liegt in der Motivation, die geforderten Handlungen auszuführen (aus Furcht vor Strafe — aus Liebe). Dem entspricht ein Gegensatz in der Gesinnung (Unlust - Lust). Diesen Aspekt am Verhältnis des Menschen zum Gesetz, der mit der „Einstellung des Herzens" zu tun hat, nennt Luther das geistige Verhältnis zum Gesetz. Diesen Ausdruck könnte man etwa so erläutern, dass er auf diejenige Grundeinstellung zielt, die ein Mensch seinem eigenen Leben und damit zugleich Gott gegenüber einnimmt. Die Grundforderung des Gesetzes Gottes ist somit, dass der Mensch die Gesetzeshandlungen mit Freude ausführt. 3 3
Man kann fragen, ob Luthers Darstellung von Gottes Gesetz nicht problematisch ist: Ist es nicht geradezu ein Widerspruch, von einem Menschen zu fordern, dass er etwas aus Freude und freiwillig tue? Dieser scheinbare Wider-
Gesetz und Evangelium
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Die Begründung dieser Grundforderung liegt darin, dass Gott als Schöpfer dem Menschen das Leben und die Voraussetzungen seiner Erhaltung geschenkt hat. Der Anspruch, den Gottes Gesetz erhebt, ist, dass der Mensch seine Schuldigkeit tut, d.h. sich über die Schöpfungsgaben Gottes freut und fortan in sein gütiges Bewahren vertraut. In dieser Grundeinstellung des Menschen besteht der Glaube an Gott, d.h. die Anerkennung dessen, was er ist. Das ist in der Tat die Einstellung, die das erste Gebot des Dekalogs fordert.
5.2 Gesetz und Evangelium Nun hat der Mensch diese Grundeinstellung nicht von vornherein, sondern er richtet im Gegenteil die Zuversicht, die Gott gelten sollte, auf alles mögliche andere und letzten Endes auf sich selbst. Der Mensch lebt somit nicht in Übereinstimmung mit dem vom Gesetz Gottes Erwarteten; darin besteht seine Sündhaftigkeit. Sünde ist nach Luther nicht ein störendes Element, sondern ein durchgreifendes Verdorbensein der menschlichen Natur. Genau das ist der Grund, weshalb das Gesetz als eine unerfüllbare Forderung erscheint. Dieser Charakter des Gesetzes ist mit der einen seiner beiden Funktionen verbunden, dem so genannten zweiten Gebrauch bzw. dem usus theologicus: Das Gesetz weist den Menschen daraufhin, dass er sein Vertrauen nicht auf Gott setzt und dass er nicht aus eigener Kraft seine Schuldigkeit tun kann. In dieser Funktion lässt das Gesetz Gott als alles andere denn als liebevollen Vater erscheinen. Das Licht des Gesetzes offenbart im Gegenteil, so Luther, Gott als den zornigen Gott, als ein verzehrendes Feuer (WA 40/1, 485). Aus eigener Kraft kann der Mensch rein äußerlich tun, was das Gesetz fordert („des Gesetzes Werk tun"), aber Gott erwartet etwas anderes, nämlich, dass der Mensch das Gesetz erfüllt, d.h.: ... mit lust und liebe seine werck thun/ und frey on des Gesetzes zwang göttlich und wol leben/ als were kein Gesetze oder straffe. (Luther 1976, 2256). Spruch ist zweifellos ein Grundzug biblischer und christlicher Ethik. Vielleicht kann man den Sachverhalt so ausdrücken, dass das Gesetz Gottes, wie Luther es schildert, nicht so sehr eine Forderung ist, sondern eher eine Erwartung.
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Die Ethik Luthers
Da das Gesetz Gottes also die Liebe und Freude des Herzens erwartet, wird kein Mensch durch äußere Gesetzestreue Gott gegenüber gerecht
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In seiner theologischen Funktion fuhrt das Gesetz somit den Menschen zur Einsicht in die eigene Sünde und macht ihn damit bereit für das Evangelium und dessen Zuspruch der Vergebung. Die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium ist eine zwischen zwei ganz verschiedenen Weisen, auf die das Wort Gottes an den Menschen ergeht. Mit „Wort Gottes" meint Luther nicht einfach den geschriebenen Text der Bibel, sondern die biblischen Worte aufgefasst als Anrede des Menschen durch Gott. Als Gesetz ist diese Anrede Vorschrift und Forderung, als Evangelium ist sie jedoch Verheißung und Zusage. Inhaltlich lautet Gottes Anrede: wiltu alle gepot erfüllen ... Sihe da/ glaub an Christum/ in wilchem ich dir zusag/ alle gnad/ gerechtickeyt/ frid und freyheyt/ glaubstu so hastu/ glaubstu nit/ so hastu nit. (WA 7,24).
Christus ist der, der durch sein Leiden und seinen Tod Gott, stellvertretend für alle Menschen, Gerechtigkeit erweist. Der Glaube an Christus ist daher die einzige Möglichkeit des Menschen, bei Gott als gerecht zu gelten. Hat ein Mensch diesen Glauben, so hat er das erste Gebot und damit in Wirklichkeit alle Gebote eingehalten, und er hat sie wohlgemerkt so eingehalten, wie es gedacht war: mit Freude. Der Glaube befreit damit den Menschen von den Geboten des Gesetzes, d.h. von den Forderungen, die er versucht zu erfüllen, um sich vor Gott zu rechtfertigen.5 4
5
Dass der Mensch Gott gegenüber (coram Deo) gerecht ist, heißt nach Luther, dass er Gott Gerechtigkeit erweist, d.h. ihn als den, der er ist, anerkennt: als den, dem der Mensch sein Leben und alles Gute schuldet. „Gerechtigkeit" hat also nicht einen besonders „vornehmen" Sinn, wenn von der Gerechtigkeit Gottes, der Rechtfertigung usw. die Rede ist. Luther beruft sich im Gegenteil ausdrücklich auf den gängigen rechtlichen Begriff von Gerechtigkeit, der besagt, jemand sei gerecht, wenn er jedem das Seine gebe: „... iustum esse, qui reddit unicuicque quod suum est" (WA 40/1, 361). Die Differenzierung von Gottes Wort in Gesetz und Evangelium, der Luther so große Bedeutung beimisst, kann man durch den Begriff Sprechakt (speech act) der modernen Sprachphilosophie ausdrücken. Ein Sprechakt oder ein Performativ ist eine Handlung, die ich dadurch ausführe, dass ich eine sprachliche Äußerung mache. Bekannte Beispiele sind das Geben eines Versprechens, das Vor-
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5.3 Glaube und Werke Kraft der Rechtfertigung allein aus Glauben ist der Mensch davon befreit, besondere Leistungen zu erbringen, um seine Schuldigkeit Gott gegenüber zu tun. Die Freiheit eines Christenmenschen bedeutet jedoch nicht, dass er von jedem Handeln befreit ist. Das ist aus vielen Gründen unmöglich. Zum einen ist die Wirklichkeit so gestaltet, dass wir nicht alleine leben, sondern mit anderen Menschen zusammen, mit denen wir kommunizieren und umgehen müssen (vgl. WA 7,34). Zum anderen ist der Mensch von Natur aus ein Wesen, dass nicht einen Augenblick dasein kann, ohne tätig zu sein: „das leben rüget nymmer/ wie wir sehen" (WA 6, 212). Drittens ist der Glaube keine theoretische Einstellung, die vom Handeln getrennt werden könnte, sondern er ist in sich tätig. Auch das kommt klar zum Ausdruck in der Vorrede zum Römerbrief. O es ist ein lebendig/ schefftig/ thettig/ mechtig ding vmb den glauben/ Das unmüglich ist/ das er nicht on unterlass solte guts wircken. Er fraget auch nicht/ ob gute werck zu thun sind/ sondern ehe man fraget/ hat er sie gethan/ und ist imer im thun. (Luther 1976, 2258).
Der Glaube an Christus, die Aneignung seiner Heilstat bedeutet eine Verwandlung des Menschen als ethisches Subjekt, und zwar eine Verwandlung, die ihn befähigt, das Gesetz so zu erfüllen, wie es gemeint ist: ... Glaube ... machet uns gantz ander Menschen von hertzen/ mut/ sinn/ vnd allen krefften/ vnd bringet den heiligen Geist mit sich. (Luther 1976, 2258).
Die Verwandlung ruft die Lust hervor, das vom Gesetz Erwartete zu tun: Denn durch den glauben wird der Mensch on sünde/ vnd gewinnet lust zu gottes geboten. (2259). bringen einer Bitte und das Erlassen eines Verbotes. Wenn Luther sagt, das Gesetz sei Gottes Wort als Gebot, das Evangelium Gottes Wort als Zuspruch, unterscheidet er zwischen zwei ganz verschiedenen Sprechakten. Entscheidend ist, dass diese Sprechakte persönlich sind: Sie müssen als von Gott an mich gerichtet aufgefasst werden. Sie sind kein anonymer Text wie ein Kochrezept oder eine Spielregel. - Zu dem Persönlichen am Gottesverhältnis gehört, dass der Glaube ein Vertrauten auf Gott ist, das mit Freude und Dankbarkeit verbunden ist, also mit Gefühlen, die zu einer persönlichen Beziehung gehören.
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Es ist dieses Verhältnis, das Luther mit dem Bild vom guten Baum (dem Glauben), der gute Früchte (gute Werke) trägt, ausdrückt. Mit einer modernen Formulierung: Der Glaube drückt sich spontan in Handlungen aus. Worin bestehen diese Handlungen? Sie bestehen darin, das zu tun, was einem anderen Menschen nützlich und notwendig ist, was für ihn gut ist. Mit anderen Worten: Die Handlungen werden von der Nächstenliebe bestimmt. In seiner Darstellung der Grundlage der Nächstenliebe kommt Luthers biblischer Gedankengang schön zum Ausdruck: Darumb wie uns gott hat durch Christum umbsonst geholffen/ alsso sollen wir/ durch den leyp/ und seyne werck/ nit anders den dem nehsten helffen. ( W A 6,36). 6
Die Grundlage dafiir, dass der Gläubige anderen Gutes tun kann, ist, dass Gott ihm Gutes getan hat. Er kann sein Augenmerk ganz von sich weg richten auf die Bedürfnisse des Nächsten. Er muss nicht aus den Handlungen profitieren, denn was er selbst braucht — die Rechtfertigung - , hat er ja bereits empfangen. In diesem Sinne ist die Nächstenliebe selbstlos. Der Mensch muss somit erst gerechtfertigt werden, bevor er gerechte Handlungen tun kann. An diesem zentralen Punkt setzt sich Luther mit der theologischen Ethik der Scholastiker auseinander, was man z.B. in der Vorlesung über den Römerbrief (1515/16) sehen kann. Die Scholastiker wirken als Verführer, so Luther, wenn sie lehren, dass ein Mensch sich durch Werke auf die Gnade vorbereiten kann.7 In diesem Zusammenhang richtet Luther auch eine Kritik gegen Aristoteles. So heißt es in der Auslegung von Rom 1 , 1 6 - 1 7 (von der Gerechtigkeit Gottes): Sie heißt Gottes Gerechtigkeit im Unterschied zur Menschengerechtigkeit, welche aus den W e r k e n kommt. W i e es Aristoteles im 3. Buche seiner Ethik deutlich beschreibt, folgt nach seiner Anschauung die Gerechtig-
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In der Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen sagt Luther, das Verhältnis zu Gott sei ein inneres und geistiges, während das handelnde Verhältnis zum Nächsten ein äußeres und leibliches sei. Obwohl Luther nicht Thomas von Aquin nennt, ist es klar, dass auch er durch die Kritik getroffen wird.
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keit aus den W e r k e n und k o m m t aus ihnen. Anders bei Gott: hier geht sie den W e r k e n voran und die W e r k e erwachsen aus ihr. 8
5.4 Das weltliche Regiment und der politische Gebrauch des Gesetzes Der Glaube ist nach Luther eine freie Äußerung, die nicht zu erzwingen ist. Er ist auch eine Äußerung, die jeder selbst tun muss, da niemand für andere glauben kann. Mit diesen Bestimmungen nähert sich Luther Begriffen der Moderne wie Freiheit und Authentizität (selbst für sein Tun einzustehen). Man könnte sich dann vorstellen, dass die Nächstenliebe, in der sich der Glaube ausdrückt, zur Bildung einer Gesellschaft von freien Menschen führen könnte. Das kann sie nach Luther auch — aber nur, wenn diese Menschen wirklich Gläubige sind. Solche Christen würden eine Gemeinschaft ausmachen, in der alle gleich sind und in gleichem Maße Recht, Gewalt, Gut und Ehre besitzen. In einer solchen christlichen Gemeinschaft bestünde streng genommen kein Bedarf an Obrigkeit (vgl. die so genannte Obrigkeitsschrift, WA 11, 270f.). Nun sind die Menschen jedoch nicht alle gläubig, und die es sind, sind es nicht im gleichen Maße. In der Schrift Von den guten Werken macht Luther dies klar, indem er vier Kategorien von Menschen unterscheidet: 1. Die Gläubigen, die alle Werke in der Freiheit vom Gesetz tun. 2. Diejenigen, die die Freiheit missbrauchen zur Faulheit und als „urlaub zum sündigen"; sie müssen mit dem Gesetz ermahnt werden. 8
Et dicitur ad differentiam Iustidie hominum, que ex operibus fit. Sicut Aristoteles 3. Ethicorum manifeste determinat, secundum quem Iustitia sequitur et fit ex actibus. Sed secundum Deum precedit opera et opera fiunt ex ipsa. ( W A 56, 172). Es ist wichtig sich klarzumachen, worin Luther sich von Aristoteles distanziert und worin er das nicht tut. W o v o n er Abstand nimmt, ist die im aristotelischen Begriff der Tugend enthaltene Auffassung der Bedingungen für gutes menschliches Handeln. Hingegen nimmt er nicht von dem Begriff der Gerechtigkeit des Aristoteles Abstand. W i r haben ja im Gegenteil gesehen, dass Luther den gängigen - durch Aristoteles inspirierten - Begriff des suum cuique benutzt, um seine eigene Lehre von der Rechtfertigung auszudrücken.
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3. Die Bösen, die immer sündigen werden und die durch Gesetze, ggf. durch das weltliche Schwert, gezwungen werden müssen. 4. Die Kindlichen, im Glauben Unvollkommenen, die man mit allerhand äußeren Mitteln und Zeremonien locken muss. (Vgl. WA 6, 213f.). Da die Welt der Menschen nun einmal so aussieht, wäre es naiv zu meinen, sie könne auf der Grundlage der christlichen Freiheit eingerichtet werden. Die Welt lässt sich nicht, so Luther, mit dem Evangelium regieren, weil sie von Menschen der dritten Kategorie geprägt ist. Wo es den Glauben nicht gibt, wo also die Sünde uneingeschränkt herrscht, ist es notwendig, dass das Gesetz mit einer Forderung nach äußerer Einhaltung geltend gemacht wird. Hier ist vom usus politicus bzw. civilis legis die Rede (dem ersten Gebrauch des Gesetzes), der eng mit der weltlichen Obrigkeit zusammenhängt. Weltliche Obrigkeit, d.h. das Innehaben politischer Macht, beinhaltet nämlich die Befugnis, das Gesetz mit Gewalt handzuhaben. Um zu verstehen, wie Christen in der Welt leben können, muss man nach Luther zwischen zwei Regimenten unterscheiden. Das Wort „Regiment" kennen wir von der Rede des Thomas davon, dass Gott ein „regimen", eine Herrschaft über seine Schöpfung, ausübt. Luther meint mit seiner Unterscheidung, dass Gott diese Herrschaft auf zwei ganz verschiedene Weisen ausübt. Das geistige Regiment hat als Ort das innere Verhältnis des Menschen zu Gott. Hier herrscht Gott durch Christus und das Evangelium von ihm mit dem Ergebnis, dass die Sünde durch den Glauben im Menschenherzen bekämpft wird. Das weltliche Regiment hat als Ort das äußere Leben der Menschen untereinander. Gott herrscht hier durch die Obrigkeit und durch das Gesetz in dessen politischer Funktion. Ein Teil der obrigkeitlichen Aufgabe besteht wie schon erwähnt darin, Macht auszuüben — das Schwert zu benutzen —, um das Gesetz zu handhaben, z.B. durch Bestrafung von Gesetzesbrechern. Im weltlichen Bereich wird die Sünde eigentlich nicht bekämpft, sondern mit Gewalt niedergehalten. Das weltliche Regiment ist jedoch auch ein Aspekt von Gottes Bewahrung des Geschaffenen, und so nennt Luther unter den zur Schöpfung gehörenden Gütern „gut regiment/ fride/ Sicherheit" (WA 30/1, 184).
Weltliches Regiment und der politische Gebrauch des Gesetzes 107 Der Stand der Fürsten ist, wie alles, was zur staatlichen bzw. politischen Obrigkeit gehört, eine Ordnung, durch die Gott die geschaffene Welt aufrechterhält. Eine weitere Ordnung ist die Ehe mit dem dazugehörenden Verhältnis von Eltern und Kindern und sogar einschließlich des Verhältnisses des Hausvaters zu seinem Gesinde. Die bei Luther entscheidenden sozialen Größen sind somit dieselben wie die schon von Aristoteles genannten: die oikonomia (die Hausgemeinschaft, einschließlich dessen, was man heute private Unternehmen nennen würde) und diepolitia (der Staat als Bereich politischer Machtausübung). Dass diese Ordnungen von Gott im Zuge seines bewahrenden Wirkens eingesetzt sind, bedeutet, dass sie als Ordnungen nicht durch die Sünde geprägt sind. Es ist daher notwendig, eine Unterscheidung zu machen zwischen der Ordnung als solcher (wir würden heute von Institution, sozialer Rolle u.ä. reden) und den Personen, die in den Ordnungen leben. Obwohl die Personen Sünder sind, kann sich ihre Sünde und Bosheit nicht total lebenszerstörend auswirken. Das wird durch die Ordnungen verhindert. Wie soll ein Christ sich zur weltlichen Obrigkeit stellen? Luther hat hierzu drei Dinge zu sagen, (i) Da die Obrigkeit Teil der Schöpfungsordnung Gottes ist, soll der Christ sie respektieren und unterstützen. (ii) Der Christ soll sich der Obrigkeit unterordnen und darf nur dann Ungehorsam zeigen, wenn sie in Glaubenssachen Zwang ausübt oder zu sündigen Handlungen zwingen will, (iii) Der Christ soll bereit sein, Amter im Bereich des Weltlichen auszuüben, gegebenenfalls das Amt des Fürsten. Luthers grundsätzliche Auffassung von der Tätigkeit des Christen innerhalb des Weltlichen ist, dass sie von der Nächstenliebe geleitet sein solle. Der Einsatz des Christen soll mit anderen Worten ein Versuch sein, die Nächstenliebe in politisch-soziale Praxis umzusetzen. Was das heißt, wird u.a. in Luthers Beschreibung des gläubigen Fürsten deutlich. Dieser betrachtet nicht sein Land und dessen Einwohner als einen Besitz, den er für eigene Zwecke ausnutzen könnte, sondern er ist ganz und gar darauf bedacht, wie er seinen Untertanen nutzen kann. Er, der Fürst, ist um des Landes und seiner Menschen willen da. Die Begründung hierfür ist dieselbe wie die, die für jede echte Nächstenliebe gilt: Christus, so soll der Fürst nach Luther denken, hat meinetwegen auf seine Macht und Ehre verzichtet —
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Also will ich auch thun/ nicht an meynen unterthanen das meyne suchen/ sondern das yhre/ unnd will yhn auch also dienen mit meynem ampt/ sie schützen und verteydigen/ und alleyn dahyn regirn/ das sie gut und nutz davon haben/ und nicht ich. ( W A 1 1 , 2 7 3 ) .
5.5 Die lex naturalis Luther kennt aus guten Gründen nicht die Einteilung in gesetzgebende, ausführende und Recht sprechende Gewalt, die eine demokratische Staatsordnung kennzeichnet. Und so geht er davon aus, dass ein Fürst auch rechtliche Entscheidungen treffen muss. Im Zuge seiner Empfehlungen darüber, wie sich ein Fürst in dieser Rolle verhalten solle, erwähnt Luther den Begriff der lex naturalis. Er geht von einem konkreten Beispiel aus: Zwei Parteien führen einen Prozess, weil der eine sich unrechtmäßig das Eigentum des anderen angeeignet hat. In diesem Zusammenhang unterscheidet Luther zwischen drei Arten des Rechts: (i) Menschliches Recht, das in diesem Fall gnadenlos Ersatz fordert, (ii) Das Recht der Liebe, welches auf die Möglichkeiten des Angeklagten, Ersatz zu leisten, Rücksicht nimmt, (iii) Das Recht der Natur, welches dasselbe lehrt, was die Liebe tut. Die Übereinstimmung zwischen den Punkten (ii) und (iii) bedeutet, dass ein Fürst, der mit Hilfe seiner Vernunft das Recht der Natur findet, dasselbe Urteil fällen wird wie ein christlicher Fürst, der aus Liebe urteilt. Wie also ist das Verhältnis zwischen der rechtlich-politisch praktizierten Liebe und dem natürlichen Recht? Wir müssen sehen, was Luther an anderer Stelle zu dieser Frage zu sagen hat. Er geht recht ausführlich auf das Verhältnis zwischen der lex naturalis und dem Gesetz des Moses in der Schrift Wider die himmlischen Propheten ein.9 Luther ist kurz gesagt der Auffassung, dass alle Bestimmungen der alttestamentlichen Gesetze im Dekalog zusammengefasst 9
Es handelt sich um eine Streitschrift, mit der sich Luther gegen seinen ehemaligen reformatorischen Mitstreiter Andreas Karlstadt wendet. Zwischen ihnen herrscht über zwei Punkte Uneinigkeit: das Bilderverbot und die Auffassung vom Abendmahl. Da Karlstadt seine bilderstürmerische Position mit dem Bilderverbot 2. Mos 2 0 , 4 begründet, ist Luther veranlasst, die Gültigkeit des Mose-Gesetzes allgemein zu diskutieren.
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sind. Seine Begründung dafür, dass die zehn Gebote überhaupt noch Geltung beanspruchen können, lautet: Darumb, das die natürlichen gesetze nyrgent so feyn, und ordentlich sind verfasset als ynn Mose, Drumb nympt man billich das exempel von Mose. (WA 18, 81).
Wenn Jesus in der Bergpredigt das alttestamentliche Gesetz in der Goldenen Regel zusammenfasse ist das nach Luther gerade darin begründet, dass das Gesetz Moses' als Ausdruck des natürlichen Gesetzes aufgefasst werden muss: Auch Christus Matth. 7 selbst fasst alle propheten und gesetze ynn dis naturliche gesetze: 'Was yhr wollet, das euch die leutte thun sollen, das thut yhr auch yhnen. (WA 18, 80).
Dass die Goldene Regel als Zusammenfassung des natürlichen Gesetzes anzusehen sei, wird von Luther auch in der Obrigkeitsschrift betont. Diese Bedeutung kommt jedoch nicht nur der Goldenen Regel zu; mit Verweis auf Paulus sagt Luther: ... da er alle gepot Mosi ynn die liebe fasset, wilche auch naturlich das natur gesetz leret: ,liebe deinen nehisten wie dich selbst'. ( W A 18, ebd.).
Manches deutet somit darauf hin, dass man nach Luthers Auffassung die folgende Gleichung aufstellen kann: Dekalog = Gebot der Nächstenliebe = Goldene Regel = lex naturalis
Wie ist diese Identifikation zu verstehen? Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass wir zwischen zwei Formen der Nächstenliebe unterscheiden müssen: der Nächstenliebe als Frucht des Glaubens und der Nächstenliebe als Zusammenfassung der lex naturalis. Die erste Form gehört mit Luthers Ausdrucksweise zum Geistigen, die letzte zum Weltlichen. Wenn Luther vom natürlichen Gesetz spricht, hat er sozusagen das Geistige, die Frage nach dem rechten Verhältnis des Menschen zu Gott, in Klammern gesetzt, und die Sachlage muss etwa die folgende sein: Wenn der Christ versucht, die Nächstenliebe im politisch-sozialen Bereich zu verwirklichen, wird er zu denselben Handlungen veranlasst, wie ein Mensch, der auf der Grundlage seiner natürlichen Vernunft versucht, der Goldenen Regel zu gehorchen. Innerhalb
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des Weltlichen muss es deshalb Christen und Nichtchristen möglich sein, über die rechte Handlungsweise Einigkeit zu erzielen. Es wäre somit eine Vereinfachung der so genannten Zwei-ReicheLehre Luthers, wenn man meinen würde, die einzige Alternative zur christlichen Nächstenliebe sei die brutale Handhabung des Gesetzes mit Zwang. Nicht erst als Christ, sondern schon als Geschaffener ist der Mensch imstande, aus seiner natürlichen Vernunft heraus recht zu handeln. Das kann auch so ausgedrückt werden, dass auch der natürliche Mensch ein Gewissen hat, welches das Gesetz erkennen kann, weil es in jedes Menschen Herz geschrieben ist. Das Gewissen bewirkt, dass ein Mensch das Gesetz „bey sich selbst ... finden und fulen" kann (WA 18, 80). Im Lichte des Begriffs vom natürlichen Gesetz haben die Vorschriften des AT im Grunde nach Luther jeglichen Sonderstatus verloren. Was im AT für einen Christen gültig und verpflichtend ist, sind diejenigen Vorschriften, die das natürliche Gesetz ausdrücken, d.h. die im Dekalog enthaltenen. Die Vorschriften, die es darüber hinaus im AT gibt, sind als das positive Gesetz der Juden zu verstehen, als ihr „Sachsenspiegel". Genauso wenig wie dieser für Menschen in Frankreich geltendes Gesetz sei, könnten die betreffenden Regeln des AT für Sachsen verpflichtend sein (vgl. WA 18, 81). Luthers Meinung nach ist es jedoch nicht ausreichend, den Dekalog im Lichte des natürlichen Gesetzes zu sehen.
5.6 Das Problem des dritten Gebrauches des Gesetzes Uber eine christliche Ethik macht Luther somit anscheinend die grundsätzliche Aussage, dass die guten Werke - das rechte Handeln - spontan aus dem Glauben erfolgen. Aus Glauben tut der Christ, was das Gesetz fordert, jedoch ohne Gesetz, wobei vom Gesetz offensichtlich nicht mehr zu sagen ist, als was in der Lehre vom zweifachen Gebrauch enthalten ist. Luther vertritt mit anderen Worten nicht die so genannte Lehre vom dritten Gebrauch des Gesetzes, vom „usus in renatis" (in den Wiedergeborenen). Diese Lehre wurde von der späteren lutherischen Theologie verfochten, der so genannten Orthodoxie. Der Gedankengang läuft kurz gesagt darauf hinaus, dass, obwohl der Christ
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vom Gesetz als Heilsmittel befreit ist, das Gesetz doch wegen der dauernden Realität der Sünde notwendig sei. Das Gesetz solle sowohl den Gläubigen an seine Sündhaftigkeit und an die Notwendigkeit der Vergebung erinnern als auch Norm für das christliche Leben sein. Obwohl Luther eine solche Lehre vom tertius usus legis nicht vertritt, ist er der Meinung, dass Menschen auch nach der Rechtfertigung einer Unterweisung im Gesetz bedürfen.10 Das Gesetz solle jedoch nun nicht als richtend erscheinen, sondern als milde Ermahnung, welche den Gläubigen zum Kampf gegen die Reste der Sünde und zu guten Werken ermuntern solle. Dass Luther dieser Auffassung ist, geht klar aus seiner Unterscheidung zwischen den vier Kategorien von Menschen hervor (vgl. die Kategorie 2, S. 105). Es ist vor diesem Hintergrund verständlich, dass Luther an verschiedenen Stellen, z.B. im Großen Kathechismus, die zehn Gebote ausfuhrlich auslegt. Dass er sie überhaupt in einem Katechismus einer Belehrung für Christen — behandelt, zeigt, dass er dem Gesetz eine Rolle im Leben des Gläubigen zuerkennt. Im Folgenden werden einige der Grundgedanken in Luthers Auslegung kurz und stichwortartig erwähnt. Zunächst verwendet Luther eine Systematik, die man nicht ohne weiteres dem alttestamentlichen Text entnehmen kann. Er fasst (i) die drei ersten Gebote so auf, dass sie vom Verhältnis des Menschen zu Gott (der einen Seite der doppelten Relation des ethischen Subjektes) handeln; er bezieht (ii) das 4. Gebot auf das Verhältnis zur Obrigkeit-, er betrachtet (iii) die übrigen Gebote als Regeln für das Verhältnis des Einzelnen zu seinem Nächsten. Schon die Auffassung, das 4. Gebot („Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren") beinhalte auch das Verhältnis zur Obrigkeit, zeigt, dass Luther sich nicht an die buchstäbliche Bedeutung der Gebote hält, sondern dass er eine Interpretation aus seiner eigenen Zeit und Situation heraus vornimmt. Das Gleiche trifft auf seine Auslegung des 8. Gebotes zu. Während das 7. Gebot („Du sollst nicht stehlen") nach Luther den Besitz des Nächsten beschützen will, bezieht sich das 8. Gebot auf ein anderes Gut des Nächsten, nämlich seine Ehre und seinen guten Ruf. Den Ruf eines anderen könne man mit seinem Munde, d.h. durch Erwähnen entweder verletzen oder schützen. Luther begründet die Forderung, 10 Zum Problem des tertius usus legis vgl. Haikola 1981.
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den Mund zum Schutz des Nächsten zu benutzen, durch einen Verweis auf das Gebot der Nächstenliebe, wie es in der Goldenen Regel zusammengefasst ist. Nun sagt das Gebot tatsächlich „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten"; dem Wortlaut nach verbietet es also nur die falsche rechtliche Aussage über einen anderen. Luther interpretiert aber produktiv, indem er von seiner Erfahrung, seiner Phantasie und den Lebensumständen seiner Zeit her versucht einzukreisen, welche Gestalt der Nächstenliebe durch dieses Gebot artikuliert wird. Dadurch erweitert er den Bereich des Gebotes, so dass es nun all die Arten betrifft, wie Menschen durch ihr Erwähnen anderer deren Leben beeinflussen können. Diese Beobachtung muss zu dem Ergebnis führen, dass Luther die Bedeutung des Dekalogs relativiert, und zwar sowohl vom christlichen Glauben als auch von der lex naturalis her. Die einzelnen Gebote des Dekalogs sind seiner Meinung nach gültig in dem Sinne, dass man von ihnen ausgehend konkretisieren kann, wie die Nächstenliebe als Frucht des Glaubens sich in Handlungen äußern kann. Außerdem weisen die Gebote auf die schöpfungserhaltenden Ordnungen (wie Obrigkeit und Ehe), welche die Rahmen für die Handlungen der Nächstenliebe bilden. Auf jeden Fall können wir feststellen, dass es bei Luther keine Grundlage für die Behauptung gibt, jedes einzelne der zehn Gebote habe in der buchstäblichen alttestamentlichen Form absolute Gültigkeit für einen heutigen Menschen.
5.7 Die Unfreiheit des Willens Eines der Werke, die Luther als seine wichtigsten betrachtet hat, ist einem für die Ethik bedeutsamen metaphysischen Problem, demjenigen der Willensfreiheit gewidmet: De servo arbitrio. Es handelt sich um eine Streitschrift gegen den humanistischen Katholiken Erasmus von Rotterdam (1466-1536), der den Streit mit einer Schrift eröffnet hatte, in der er behauptete, der Mensch habe einen freien Willen im Sinne einer „Fähigkeit, sich zu der von Gott angebotenen Gnade hinzuwenden bzw. sich von ihr wegzuwenden". Es gibt innerhalb der Argumentation Luthers gegen Erasmus viele Ebenen, und es muss vor Vereinfachungen gewarnt werden. Es lassen
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sich jedoch versuchsweise zwei Aspekte seiner Behauptung von der Unfreiheit, bzw. des Gebundenseins des Willens herausheben: (1) Freiheit des Willens ist nach Luther mit Macht gleichbedeutend. Der Streit geht deshalb darum, zu welcher Leistung der Wille des Menschen die Macht hat. An diesem Punkt betont Luther unerbittlich, dass der Mensch nicht frei ist, sich der Gnade hinzuwenden. Das wäre mit Werkgerechtigkeit gleichbedeutend. Die gläubige Annahme der Gnade setzt eine Verwandlung der Grundeinstellung des Menschen voraus, die er selbst nicht leisten kann. Nicht der Mensch handelt, wenn er zum Glauben gelangt, sondern Gott. Auch vor der Verwandlung des Glaubens ist ein Mensch nicht frei, sondern er ist einer anderen Macht unterworfen, und zwar dem Satan. In diesem Zusammenhang benutzt Luther sein berühmtes Bild vom Menschen als einem Lasttier, das entweder von Gott oder vom Satan geritten wird. (2) Der Streit handelt auch vom Phänomen des Willens. Auch abgesehen von der Frage nach Gnade und Heil ist es nach Luther widersprüchlich, von einem freien Willen zu reden. Ein Wille ist per definitionem unfrei. Wenn man nämlich etwas will, hat man sich ja gerade darauf festgelegt, man ist von dem Gewollten gebunden. Die Willensfreiheit, von der Erasmus redet, wäre, so Luther, eine Freiheit, wollen zu wollen! Luther vertritt mit anderen Worten eine deterministische Anthropologie. Theologisch kommt er der Lehre von der Prädestination sehr nahe, d.h. dem Gedanken, dass Gott im Voraus bestimmt hat, wer gerettet und wer verloren sein wird."
5.8 Die lex naturalis bei Melanchthon Einer der engsten Mitarbeiter Luthers war Philipp Melanchthon (14971560), der 1518 als Lehrer der klassischen Philologie nach Wittenberg 11 In diesem Zusammenhang findet sich Luthers berühmte Unterscheidung (dem verkündigten und offenbaren zwischen dem Dens praedicatus/revelatus Gott) und dem Deus absconditus (dem verborgenen Gott). Auf der Grundlage von Gottes Offenbarung in Christus glaubt ein Christ an die Gerechtigkeit Gottes - obwohl Gott im Voraus einige Menschen zur ewigen Verdammnis bestimmt hat. Die Gründe dafür, dass diese Wahl tatsächlich gerecht ist, sind jedoch auch dem Gläubigen verborgen.
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gekommen war. Schon 1521 gab er eine systematische Darstellung des evangelischen Verständnisses vom christlichen Glauben unter dem Titel Loci communes rerum theologicarum heraus. Dieses Werk, das vielfach, und zwar mit etwas verändertem theologischen Inhalt, aufgelegt wurde, hat die weitere Entwicklung des Luthertums stark beeinflusst. Es soll hier kurz Melanchthons Auffassung vom natürlichen Gesetz in den Loci dargestellt werden. Melanchthons Definition des natürlichen Gesetzes lautet: Est itaque lex naturae sententia communis, cur omnes homines pariter adentimur atque adeo quam deus insculpsit cuiusque animo, ad formandos mores acommodata. (Das Naturgesetz ist deshalb ein allen gemeinsames Wissen, dem wir in gleicher Weise, alle Menschen, zustimmen — und zwar in dem Maße, wie Gott es in das Herz eines jeden eingemeißelt hat mit dem Ziel, die Moral auszuformen. Melanchthon 1997, 100f.).
Melanchthon begnügt sich nicht damit, wie Paulus Gott als Urheber des natürlichen Gesetzes anzusehen. Er versteht vielmehr die Kenntnis des Gesetzes und damit die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, als Ausdruck der Gottebenbildlichkeit des Menschen. In die Seele eingeschrieben sei ein Wissen um allgemeine Prinzipien, so dass das Bewusstsein von dem Gesetz der menschlichen Vernunft zugerechnet werden müsse. Wie Aristoteles und Thomas von Aquin nimmt Melanchthon eine Parallele zwischen theoretischer und praktischer Vernunft an. Letztere ist die Fähigkeit, Regeln für menschliches Handeln aus allgemeinen Prinzipien und Vernunftschlüssen (Syllogismen) her zu formulieren. Melanchthon unterscheidet sich allerdings in einem wichtigen Punkt von Thomas: Wie er betont, rechnet er nicht die natürlichen Angewohnheiten (habitus), die wir mit den Tieren gemeinsam haben, wie etwa die Fortpflanzung, der lex naturalis zu. Diese Angewohnheiten beruhten nämlich auf allen Lebewesen eingepflanzten natürlichen Affekten. Bei Melanchthon wird somit deutlich, dass das „Natürliche" der lex naturalis nicht in etwas Biologischem besteht, sondern an die dem Menschen mit der Erschaffung gegebene Vernunft geknüpft ist. Melanchthon zählt die verschiedenen natürlichen Gesetze (capita) verschieden auf. Die folgende Zusammenfassung vermittelt jedoch einen guten Eindruck seiner Auffassung:
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I. Ehre Gott! II. Weil wir in eine bestimmte Lebensgemeinschaft, in die alle einbezogen sind, hineingeboren werden, füge niemandem Schaden zu, sondern hilf jedem ohne Unterschied aus Pflicht und Schuldigkeit! III. Wenn es [auch] unmöglich ist, dass gar keinem ein Schaden zugefugt wird, so soll man doch darauf hinwirken, dass sehr wenige Schaden erleiden, indem die beseitigt werden, die den öffentlichen Frieden stören, und hierfür sollen obrigkeitliche Behörden [eingerichtet] und Strafen für die Rechtsbrecher angeordnet werden. IV. Die Güter sollen um des öffentlichen Friedens geteilt werden. Im übrigen sollen die einen den Mangel der anderen abhelfen durch Verträge. (Vgl. Melanchthon 1997, 109). Das zweite Gesetz, das Verbot anderen Schaden zuzufügen, ist somit darin begründet, dass Menschen von Geburt an in eine Gemeinschaft miteinander hineingezwungen sind. Das ist die Grundlage der Vorschrift, dass Menschen sich lieben (amare) und einander Wohlwollen (benevolentia) zeigen sollen, zumindest in der beherrschten Form, dass man sich nicht gegenseitig Schaden zufügt. Als Konkretisierungen dieser Vorschrift nennt Melanchthon die Verbote gegen das Stehlen und das Töten. Das Letztere gilt allerdings nicht ohne Einschränkung, wie das dritte Gesetz zeigt. Wenn ein Verbrecher die Gemeinschaft bedroht, zählt deren Wohl mehr als sein Leben und er muss beseitigt werden. Was die Eigentumsverhältnisse betrifft, legt das natürliche Gesetz im Grunde nahe, dass Gemeinschaftsmitglieder wie Freunde alles gemeinsam teilen. Dies ist jedoch nach Melanchthon wegen der Sünde und der Begierde unmöglich. Die Regel über den gemeinsamen Besitz muss daher von der Vorschrift des Nichtschadens her modifiziert werden. Das Ergebnis hiervon ist, wie das vierte Gesetz zeigt, dass es Gemeinschaftsbesitz nur so weit geben soll, wie es der öffentliche Frieden und die Wohlfahrt der vielen (salus multitudinis) erlauben. Es ist notwendig, die Güter auf der Grundlage von Vertragsschließung u.ä. zu verteilen. Sowohl das Prinzip des Nichtschadens als auch das des Respekts vor dem Eigentum anderer sind nach Melanchthon Ausdruck der
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Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit gebietet uns nämlich, die Schwachen zu schützen und Schädiger zu beseitigen. Außerdem gebietet die Gerechtigkeit in der Form des Prinzips „suum cuique tribuere", dass niemand sich das Eigentum eines anderen aneignen darf. (Vgl. Melanchthon 1978, 350ff.). Die zuletzt zitierte Überlegung ist bei Melanchthon an das 8. Gebot geknüpft. Eine genauere Untersuchung würde seiner Meinung nach zeigen, dass die Vorschriften des natürlichen Gesetzes im Allgemeinen dem Dekalog entsprechen. Das führt zur Frage, warum Gott denn die zehn Gebote offenbart hat, wo doch alle Menschen kraft ihrer Vernunft die Gebote in der Gestalt der natürlichen Gesetze kennen. Die Antwort hierauf ist zweifach: Einmal ist die menschliche Vernunft durch die Sünde geschwächt und irregeleitet worden. Zum anderen hat Gott zeigen wollen, dass er der Urheber desjenigen natürlichen Lichtes (lumen naturae) ist, das im Bewusstsein von der lex naturalis zum Ausdruck kommt. Die Überlegungen Melanchthons zeigen, wie seine Rückkehr zur aristotelischen Philosophie ihn zur Übernahme vieler Elemente der Lehre vom natürlichen Gesetz bei Thomas von Aquin bewegt. Das vernünftige ethische Denken erhält damit den Charakter eines deduktiven Herleitens von Handlungsnormen aus einer Reihe von Prinzipien. Im Unterschied hierzu betont Luther, wie wir gesehen haben, die Freiheit der natürlichen Vernunft. Er rechnet der praktischen Vernunft nur ein „Prinzip" zu, nämlich die Goldene Regel, die eine Fähigkeit voraussetzt, die richtige Handlung in der konkreten Situation zu wählen.12
5.9 Max Webers These über den Kapitalismus und die protestantische Ethik Der deutsche Soziologe Max Weber (1864-1920) ist unter anderem wegen einer Reihe von Abhandlungen berühmt geworden, in denen er 12 Es wird oft hervorgehoben, dass Melanchthon offensichtlich ein geringeres Vertrauen in das spontane Hervorbrechen der guten Werke hat und dass das durch seine Beobachtungen während seiner Visitation der ersten lutherischen
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eine bemerkenswerte These über den Zusammenhang zwischen dem Protestantismus und dem Entstehen einer kapitalistischen Wirtschaft in Europa vorgestellt hat. Die These muss im Kontext einer umfassenderenden Einschätzung Webers von der europäischen („okzidentalen") Zivilisationsform gesehen werden. Er meint, dass die westliche Zivilisation seit Beginn der Neuzeit eine Entwicklung durchgemacht hat, die durch Rationalisierung gekennzeichnet ist. Rationalisierung heißt einmal, dass ursprünglich zusammengehörende Lebensbereiche von einander getrennt (differenziert) werden. Weber rechnet mit drei Hauptbereichen, die getrennt werden: die Gesellschaft, die Kultur und die Persönlichkeit des Einzelnen. Innerhalb dieser Bereiche geschieht wiederum eine Differenzierung, z.B. wird innerhalb der Gesellschaft der zentral gesteuerte Staat sowohl vom Wirtschaftsbereich als auch von dem formalisierten Recht getrennt. Innerhalb der Kultur trennt sich die Naturwissenschaft als eigenständige Tätigkeit, gekennzeichnet durch mathematische Berechnung und experimentelle Beobachtung. Genau dieses Kennzeichen der Naturwissenschaft ist Beispiel des zweiten Aspektes, den Weber der Rationalisierung beimisst: Rationalisierung beinhaltet ein Verfahren, das sich durch Vorausberechenbarkeit, Wiederholbarkeit, Planung und Herrschaft auszeichnet. — Typische Beispiele der Rationalisierung in beiden Bedeutungen sind die bürokratische Staatsverwaltung und die Buchführung der Wirtschaft. Einer der ausdifferenzierten Zivilisationsbereiche ist somit die Wirtschaft. Sie entwickelt sich nach Weber in der Neuzeit zur „schicksalsvollsten Macht unseres modernen Lebens: dem Kapitalismus" (Weber 1975, 12). Er definiert den Kapitalismus folgendermaßen: Ein „kapitalistischer" Wirtschaftsakt soll uns heißen zunächst ein solcher, der auf Erwartung von Gewinn durch Ausnützung von Tausch-G\anczn ruht: auf (formell) friedlichen Erwerbschancen also. (Weber 1975, 13).
Als entscheidendes Element des modernen europäischen Kapitalismus nennt Weber die Ot%amsitr\xngfreierArbeit (im Gegensatz etwa zum Sklaventum). Gemeinden verursacht worden sein könnte. Aus dem gleichen Grund finden wir schon bei Melanchthon die Lehre vom tertius usus legis.
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Diesen modernen Kapitalismus, dessen Rationalität u.a. im Phänomen der Buchhaltung zum Ausdruck kommt, sieht Weber nun in engem Zusammenhang mit derjenigen Lebensführung, die im Protestantismus als Ideal dargestellt wird. Er denkt dabei nicht so sehr an das Luthertum, sondern eher an den Calvinismus und verschiedene calvinistisch inspirierte Sektenbildungen. In ihnen wird das weltliche Leben hoch bewertet, und zwar gerade in einer Weise, die als rational bezeichnet werden kann: Die Lebensführung ist geplant asketisch, aber geschäftstüchtig. Erfolg im Bereich des Materiellen wird als Ausdruck dafür gesehen, dass ein Mensch zu den von Gott Auserwählten gehört. Was die Ethik Luthers betrifft, hebt Weber nur einen einzelnen Aspekt an ihr hervor, nämlich Luthers Bestimmung des Begriffes Beruf PYLs handelt sich um eine Ubersetzung des lateinischen vocatio, das in der katholischen Theologie ausschließlich die geistliche Lebensweise bezeichnet, während Luther ausdrücklich das zur Übersetzung gewählte „Beruf' für die weltliche Arbeit benutzt. Diese Änderung hängt mit Luthers Verwerfung der katholischen Unterscheidung zwischen denjenigen Geboten zusammen, die „nur" praecepta, und denjenigen, die an die Vollkommenen gerichtete consilia evangelica seien. Luthers neue Auffassung beinhaltet, dass gerade die weltliche Arbeit einen gottgewollten Status erhält, womit eine ganz andere Motivation gegeben ist, weltliche Tätigkeit auszuüben im Vergleich mit dem Gedanken, sie sei minderwertig im Vergleich zum geistlichen Leben. 13 Weber versucht zu zeigen, wie Luthers neue Bedeutungsbestimmung von „Beruf' sich in seiner Bibelübersetzung niederschlägt. Es sind zwei ganz verschiedene Begriffe, die er mit diesem deutschen W o r t wiedergibt: (i) das griechische klesis in der Bedeutung Berufung zum ewigen Heil (vgl. 1. Kor 1,26; Eph 1,18; 4,1; 4,4); (ii) das hebräische mel'aka in Jesus Sirach 11,20; die Stelle lautet in Luthers Übersetzung: „Bleibe in Gottes Wort/ vnd vbe dich drinnen/ vnd beharre in deinem Beruff/ vnd las dich nicht jrren/ wie die Gottlosen nach Gut trachten". Nach Weber bezeichnet das hebräische W o r t hier jegliche Art der Berufsarbeit; seine Bedeutung ist also im Gegensatz zum paulinischen klesis eine profane. Weber macht darauf aufmerksam, dass man nur in protestantischen Ländern mit neuen Bibelübersetzungen ein W o r t findet, das wie „Beruf' sich von einer geistlichen in eine weltliche Bedeutung verwandelt hat. Als Beispiele nennt er niederländisch „beroep", englisch „calling", dänisch „kald" und schwedisch „kallelse". Zu dieser Problematik Weber 1975, 9 7 - 1 0 6 .
Max Webers These über den Kapitalismus
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Weber macht ausdrücklich darauf aufmerksam, dass er keine Wertung der protestantischen Ethik vornimmt. Mit der Terminologie des ersten Kapitels können wir sagen, dass seine Untersuchung den Charakter einer deskriptiven Ethik hat. Man kann natürlich diskutieren, ob seine Beschreibung der protestantischen Ethik und seine These über ihren Zusammenhang mit dem Kapitalismus zutreffen. Hingegen steht nicht zur Diskussion, dass es sich um eine sehr einflussreiche These handelt, deren Bedeutung schon dadurch gegeben ist, dass sie die Beziehung zwischen Christentum und Wirtschaft thematisiert.
Literatur zu Kapitel 5 Quellen Luther, M. (1935): Vorlesung über den Römerbrief 1515/16. München. Luther, M. (1976): Die gantze Heilige Schrifß Deudsch. (Wittenberg 1545). Darmstadt. Luther, M.: Ein Sendbrief an den Papst Leo X. Von der Freiheit eines Christenmenschen. (WA 7). Luther, M.: Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei. (WA 11). Luther, M.: Wider die himmlischen Propheten, 1. Teil. (WA 18). Luther, M.: Der große Katechismus. (WA 30). Luther, M.: In epistoli S. Pauli ad Galatas Commentarius ex praelectione D. Martini Lutheri (1531) collectus 1535. (WA 40/I-II). Luther, M.: Von den guten Werken. (WA 6). Luther, M.: De servo arbitrio. (WA 18). Melanchthon, P. (1997): Loci communes 1521. Lateinisch-Deutsch. Ubers. v. H.G.Pöhlmann. 2. Aufl. Gütersloh. Melanchthon deutsch. Band 1-2. Hg. v. M.Beyer, S.Rhein, G.Wartenberg. Leipzig 1997. Melanchthons Werke. IL Band, 1. Teil. Loci communes von 1521. Locipraecipui theologici von 1559. Bearbeitet von H.Engelland, fortgeführt von R.Stupperich. Gütersloh 1978. Philipp Melanchthon's Werke, in einer auf den allgemeinen Gebrauch geordneten Auswahl. Herausgegeben von Dr. Friedrich August Koethe. Dritter Theil. Leipzig 1829. Sekundärliteratur Althaus, P. (1965): Die Ethik Martin Luthers. Gütersloh.
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Bloomquist, K., Stumme, J.R. (eds.) (1998): The Promise of Lutheran Ethics. Minneapolis. Braaten, C.E., Jenson, R.W. (eds.) 1998: Union with Christ. The New Finnish Interpretation of Luther. Cambridge. Ebeling, G. (1964): Luther. Einführung in sein Denken. Tiibingen. Haikola, L. (1981): Usus Legis. Helsinki. Raunio, A. (1993): Summe des christlichen Lebens. Die »Goldene Regel« als Gesetz der Liebe in der Theologie Martin Luthers. Helsinki. Weber, M. (1975): Die protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung. Hamburg. Wingren, G. (1960): Luthers lära om kallelsen. Malmö.
Kapitel 6. Ethik und Moderne Luther verursachte die entscheidende Spaltung der Kirche und fugt sich damit in den Kontext anderer tiefgreifender Brüche desselben Zeitraumes ein, die sowohl die äußeren Lebensbedingungen als auch die Wirklichkeitsdeutung betreffen. Der Umbruch, der in der Periode von ca. 1450 bis 1600 zu beobachten ist, wird verschieden benannt, etwa: Renaissance, Humanismus, Moderne. Es ist hier nicht der Ort, eine nähere Beschreibung dieser Phänomene zu geben, sondern wir müssen uns damit begnügen, das grundlegende Gedankenmotiv der verschiedenen Bewegungen zu nennen: Der Mensch versteht sich primär als ein Individuum und er formt selbst in Freiheit sein Dasein. In diesem Motiv ist eine Reihe von Themen enthalten, welche auch die Ethik (vor allem die philosophische) der folgenden Jahrhunderte prägen, und deren Einfluss bis zum heutigen Tag anhält. Durch die Moderne wird ernsthaft diejenige Synthese in Frage gestellt, welche die alte Kirche und das Mittelalter geprägt hat. Es besteht nämlich eine Spannung zwischen -
dem Grundmotiv biblischer Ethik: der Doppelrelation des ethischen Subjektes und der durch sie bedingten Abhängigkeit des Menschen von Gott (vgl. oben S. 97)
und - dem modernen Gedanken vom Menschen als dem souveränen Gestalter seines eigenen Daseins. In diesem Kapitel sollen drei Aspekte der Konsequenz der Moderne für die Ethik besprochen werden. Zunächst werden zwei Gedankengänge in der Philosophie der Renaissance beschrieben; danach die Theorie, nach der Normen auf Vertragsabschlüssen unter Menschen beruht, und schließlich die Theorie über die Begründung der Ethik im moralischen Gefühl.
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Ethik und Moderne
6.1 Zwei Motive der Renaissance In seiner klassischen Darstellung der italienischen Renaissance schildert Jakob Burckhardt (1818-1897) den Unterschied zwischen der Lebensauffassung des Mittelalters und derjenigen der Renaissance, indem er zwei Seiten des Bewusstseins unterscheidet: diejenige, die sich der Welt und diejenige, die sich dem eigenen Inneren des Menschen zuwendet. Im Mittelalter sind beide Seiten wie von einem gemeinsamen Schleier verhüllt, indem der Mensch sich nur als eine Form des Allgemeinen (z.B. der Familie) auffasste. Die Entstehung der Renaissance, zuerst in Italien, bewirkt, dass dieser Schleier weggezogen wird: ... es erwacht eine objektive Betrachtung und Behandlung des Staates und der sämtlichen Dinge dieser Welt überhaupt; daneben aber erhebt sich mit voller Macht das Subjektive, der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches. (Burckhardt 1966, 123).
Diese beiden Motive, sowohl die Hervorhebung des Menschen als Individuum als auch die objektive Betrachtung der Welt in der Gestalt des Staates, sind Thema der beiden Renaissanceschriften, die wir nun betrachten wollen. Die Würde des Menschen (Pico della Mirandola) Wie im 2. Kapitel erwähnt, ist eines der wichtigen Motive, die die Stoa in die Ethik einführt, der Gedanke von der Würde des Menschen (vgl. oben S. 42f.). Nun soll die Behandlung der Wiederaufnahme dieses Motivs in der Moderne betrachtet werden, und als Ausgangspunkt dafür werde ich kurz darstellen, wie Marcus Tullius Cicero (106-43 v. Chr.) als stoisch beeinflusster Denker dieses Motiv ausformt. In der Schrift De ofßciis (Von den Pflichten) geht Cicero mehrmals auf den Unterschied zwischen dem Menschen und anderen Lebewesen ein. Von allen lebenden Wesen gilt, dass die Natur sie mit einem Selbsterhaltungs- und einem Fortpflanzungsinstinkt ausgerüstet hat. Den Menschen zeichnet darüber hinaus die Vernunft aus, und damit u.a. die Fähigkeit, Zusammenhänge der Dinge und des Lebens zu erkennen. Und es ist die Vernunft, die die Menschen zu einer umfassenden Sprach- und Lebensgemeinschaft verbindet. (De officiis, Buch 1,4).
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Der Mensch befindet sich also im Vergleich zu den übrigen Wesen in einer erhabenen Position, welche ihm Würde oder Wert verleiht: Die menschliche Natur hat eine „excellentia et dignitas". Und in dieser Hinsicht sind Menschen gleich. Die Würde macht den gemeinsamen Charakter der Menschen, ihre persona communis, aus. Daneben steht der individuelle Charakter jedes Menschen. In dieser Hinsicht sind Menschen natürlich äußerst verschieden, sowohl körperlich als auch geistig. Da also alle Menschen teilhaben an der Erhabenheit und Würde, sollte jedem Achtung (reverentia) erwiesen werden: W i r müssen daher unseren Mitmenschen, und zwar nicht nur den guten, sondern auch allen anderen mit Achtung begegnen. (Buch I, 28). 1
Einer der italienischen Gelehrten, die sich u.a. an der platonischen Akademie in Florenz die neue Denkweise aneignen, ist Pico della Mirandola (1463-94). Er ist sowohl von den griechischen Philosophen als auch von der scholastischen Theologie und der jüdischen Kabbala beeinflusst.2 Um zu zeigen, dass diese Denktraditionen vereint werden konnten, veröffentlichte er im Jahre i486 seine 900 Thesen. Er erwartete, dass die Thesen diskutiert werden würden und verfasste zu diesem Zweck eine Rede: Oratio de hominis dignitate, die als repräsentative Darstellung der Anthropologie der Renaissancephilosophie aufgefasst wird. Die Rede (die niemals gehalten wurde) ist vor allem eine Befürwortung philosophischer und theologischer Studien. Sie wird jedoch mit einer Lobpreisung des Menschen eingeleitet; die wichtigsten Gedankengänge sind die folgenden. Nichts ist bewundernswürdiger als der Mensch. Warum ist das so, welches ist der Vorzug der menschlichen Natur? Der Mensch nimmt in der Schöpfung eine besondere Stellung ein. Gott erschafft den Menschen zu allerletzt und wünscht, dass er etwas Besonderes sein 1
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Cicero erwähnt in den genannten Passagen nicht, dass die Vernunft, die jedem Menschen Würde gibt, verwandt ist mit der universellen Vernunft (logos), die den Kosmos durchdringt. Kabbala ist eine besondere Form des jüdischen Denkens, die Elemente von Mystik und spekulative Theorien über das Universum und die Erschaffung des Menschen enthält.
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soll. Er gibt jedoch den Menschen keine spezifische Natur wie den übrigen Geschöpfen — der Mensch solle vielmehr „an allem Anteil habe[n], was jedem einzelnen Geschöpf nur für sich selbst zuteil geworden war" (Pico della Mirandola 1997, 7). Die Natur des Menschen ist also unbestimmt, seine Lebensentfaltung ist nicht präzise festgelegt. Der Mensch hat mit anderen Worten eine besondere Freiheit. Pico lässt den Schöpfer sagen: Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine bestimmen. (A.a.O., 9).
Der Grund für die Unbestimmtheit des menschlichen Wesens, ist, dass der Mensch gewissermaßen alles ist: Das menschliche Individuum spiegelt das ganze Universum wider, weil es imstande ist, es zu erkennen. Jeder einzelne Mensch ist ein Mikrokosmos. Pico schließt sich der dreiteiligen Anthropologie an, die wir bei Aristoteles fanden (siehe oben S. 28f.). Das Entscheidende ist jedoch, dass der Mensch sich zu den vegetativen, sinnlichen und intellektuellen Eigenschaften in ihm frei verhalten kann. In seiner Unabhängigkeit ist der Mensch beinahe Gott gleich: Und wenn er unzufrieden ist mit jedem Lose der Geschöpfe und sich zurückzieht in den Mittelpunkt des eigenen einheitlichen Wesens, wird er mit Gott zu einem Geist vereint im einsamen Dunkel des Vaters, der über alle Dinge gesetzt ist, alle Geschöpfe übertreffen. (A.a.O., 11).
In einer anderen Schrift Heptaplus (einer Reflexion über die sieben Tage der Schöpfung) hebt Pico hervor, dass der Mensch als Mikrokosmos nicht nur teilhat an allem, sondern alles beherrscht. Die menschliche Natur kann besonders stolz sein auf die Tatsache, dass keine erschaffene Substanz abweist, ihm zu dienen. Die Erde, die Elemente und die Tiere sind gewillt, sich ihm zu unterwerfen ... (Pico della Mirandola 1977, 78).
Der dänische Übersetzer und Herausgeber Jorgen Juul Nielsen fasst Picos Menschenauffassung auf folgende Weise zusammen: W i e Gott befindet sich der Mensch als eine selbstständige Welt — weder sterblich noch unsterblich, weder irdisch noch himmlisch - außerhalb des
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Kosmos „als sein eigener Skulpteur und Künstler", damit er „in Freiheit und Ehre" die Form realisieren kann, die ihm die höchste ist. (Pico della Mirandola 1 9 8 9 , 2 9 . Meine Übersetzung).
Damit verleiht Pico dem entscheidenden Merkmal der Moderne Ausdruck, dass der Mensch beim Deuten seiner eigenen Situation aus einem vorgegebenen Zusammenhang ausbricht.3 Im vormodernen Denken kann dieser vorgegebene Zusammenhang auf verschiedene Weise bestimmt werden: als Natur und Kosmos (griechische Philosophie) oder als Gottes alles bestimmendes Handeln (Luther). Bei Pico ist deutlich, dass Würde und Selbstbestimmung des Menschen zusammenhängen: Die Einzigartigkeit des Menschen - die Grundlage für seine Würde - besteht gerade darin, dass er selbst die Freiheithat, sein Leben zu formen. Das Denken der Renaissance knüpft an die Würde des Menschen den Begriff humanitas: „Die innere Haltung und Bildung, die moralischen und ethischen Gesetze, die der menschlichen Natur entsprechen". (A.a.O., 28. Meine Übersetzung). In der Oratio zieht Pico keine ethischen Konsequenzen aus seinem Menschenbild. Aber er formuliert den Gedanken, der später zu einem grundlegenden ethischen Prinzip umgeformt wird: das Gebot der Achtung vor der Würde oder dem Wert jedes einzelnen Menschen. Die Spielregeln der Macht (Machiavelli) Der Hintergrund für Niccolö Machiavellis (1469-1527) politisches Schrifttum sind die Kriege des 15. Jahrhunderts zwischen den kleinen italienischen Stadtstaaten, unter ihnen die Vatikanstadt. In der Schrift II Principe („Der Fürst", verfasst 1513-14, hrsg. 1532) stellt er Regeln dafür auf, wie ein Fürst die Macht über einen Staat gewinnt und wie er sie bewahrt.4 Hier sollen nur einige Beispiele seiner Überlegungen wiedergegeben werden. 3
4
Die Elemente in Picos Bestimmung des Menschen sind nicht neu. Es sind vor allem drei: (i) Aristoteles' Lehre von der Vernunft des Menschen, die alle Dinge in sich enthalten muss, um sie erkennen zu können (kurz erwähnt o. S.40); (ii) die scholastische Lehre davon, dass Gottes Vernunft alle Dinge in sich enthält; (iii) die biblische Lehre vom Menschen als Ebenbild Gottes. In einem anderen politischen Werk Discorsi sopra La prima deca di Tito Livio (Gespräche über Titus Livius' erstes Jahrzehnt) beschreibt Machiavelli andere Staatsformen als das Fürstentum, z.B. die Republik.
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Es ist wichtig, die allgemeine Regel zu kennen, dass derjenige, der einem anderen zur Macht verhilft, selbst zugrunde geht. Dies trifft zu für die Verhältnisse des Fürsten nach außen hin, zu anderen Machthabern. Weiterhin gilt es, den Unterschied zu kennen zwischen dem Regieren als Alleinherrscher, wie man es in der Türkei kennt, und dem Regieren durch örtliche Fürsten. Ein Land mit der erstgenannten Regierungsform ist schwer zu erobern, jedoch leicht zu behalten (hat man erst einmal das ursprüngliche Fürstengeschlecht ausgerottet). Bei einem Land mit der letztgenannten Regierungsform verhält es sich umgekehrt. Zur Bewahrung der Macht nach außen ist die Kriegskunst im Übrigen die wichtigste Kunst, die ein Fürst beherrschen sollte. Im Hinblick auf die Erhaltung der Macht nach innen und damit das Verhältnis zu den Untergebenen gilt z.B., dass ein Fürst nicht davor zurückschrecken darf, grausam zu sein. Jedoch muss er von der Grausamkeit richtig Gebrauch machen: Wird sie durch eine einzige Tat vollzogen, ist sie schnell vergessen. Umgekehrt steht es um die Wohltaten: Sie sollten in regelmäßigen Abständen erwiesen werden. Außerdem sollte der Fürst als freigebig gelten. Im Übrigen sollte er den Anschein erwecken, dass er die Eigenschaften besitzt, die vom Volk geschätzt werden. Er sollte sich beispielsweise fromm, treu, menschlich, gottesfurchtig und ehrlich verhalten. In einer gegebenen Situation sollte der Fürst jedoch imstande sein, seine Zuverlässigkeit aufzugeben und ein Meister der Verstellung und Falschheit zu sein. Machiavelli erwähnt den Gedanken, dass die politische Macht von Gott gegeben ist. Im „Fürsten" spielt dieser Gedanke jedoch keine Rolle. Der entscheidende Gesichtspunkt ist, dass politische Macht von jedem einzelnen Fürsten erkämpft und verteidigt wird. Es gilt, dafür die Regeln zu kennen, und diese Regeln sind ethisch neutral. Machiavellis Überlegungen sind losgelöst von Vorstellungen wie denen des Thomas, dass die Gesellschaft dazu da ist, das natur- oder schöpfungsgegebene Gute für den Menschen zu sichern - oder denen von Luther, dass der Fürst die Macht in Übereinstimmung mit der Nächstenliebe oder der Goldenen Regel anwenden soll. Diesen beiden genannten Vorstellungen zufolge ist die Ausübung politischer Macht ethischen Normen untergeordnet, die wiederum eine theologische Begründung haben. Bei Machiavelli ist es anscheinend umgekehrt. Das kommt in seiner Sicht der Tugenden zum Aus-
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druck. Der Fürst soll sich nicht die Tugenden aneignen, die zu der Rolle gehören, die er in der gesellschaftlichen Gemeinschaft hat. Nein, er soll sich der Tugenden bedienen: Er soll dafür sorgen, dass es den Anschein hat, er habe die von den Untergebenen geschätzten Tugenden. In Wirklichkeit soll er die Eigenschaften haben, die notwendig sind, um seine Machtposition zu erlangen und zu bewahren. „Tugend" (virtù) bedeutet also in Wirklichkeit die Fähigkeit des politischen Führers, den Staat zu bilden und aufrechtzuerhalten.5
6.2
Vertragstheorien (Hobbes und Rousseau)
Im 16. Jahrhundert wurde Machiavellis Beschreibung der amoralischen Machtregeln als Schlüssel zum Verständnis der eigenen Zeit gesehen. Die politischen Unruhen in Europa, u.a. die Religionskriege nach der Reformation, führten zur Skepsis darüber, ob moralische Pflichten überhaupt Anspruch auf Gültigkeit erheben können. Gerade zu dieser Zeit entstand eine neue Form der Naturwissenschaft und sie wurde als ein Mittel zur Uberwindung des Skeptizismus betrachtet. René Descartes (1596-1650) zeigte auf, dass das Ich durch Besinnung auf sich selbst eine zweifelsfreie Grundlage für rationales Erkennen finden kann (Cogito, ergo sum). In der Ethik und in der Gesellschaftstheorie geht man einen ähnlichen Weg: Man findet in der Selbsterhaltung ein Grundphänomen, auf dem eine neue Theorie aufgebaut werden kann.6 In diesen Bahnen denken Michel de Montaigne (1533-1592) in£wÄ«(1580-88) und Hugo Grotius{ 1583-1645) in De jure belli ac pacis (1625). Wie wir gesehen haben, ist es nicht neu, der menschlichen Selbsterhaltung entscheidende Bedeutung bei-
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Kenner von Machiavelli machen darauf aufmerksam, dass er zu Unrecht den Ruf hat, eine rein zynische Machtpolitik zu verteidigen. Er versuche im „Fürsten" lediglich die Mechanismen und Spielregeln der Macht zu beschreiben. Das schließt nicht aus, dass Macht auch für ihn letzten Endes einem ethischen Ziel untergeordnet ist. Der deutsche Philosoph Dieter Henrich hat die Auffassung vertreten, dass es gerade das Hervorheben der Selbsterhaltung als Grundbegriff ist, welches die Philosophie der Moderne kennzeichnet, vgl. Henrich 1976.
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zumessen. Das Neue — Moderne — besteht darin, dass die Selbsterhaltung zum Grundbegriff des Denkens gemacht wird. Unter den Denkern des genannten Problemkreises wollen wir auf Thomas Hobbes (1588-1679) näher eingehen. In seiner berühmtesten Schrift Leviathan (1651) formt er den Begriff der lex naturalis neu aus, wobei er den Begriff Vertrag einfuhrt. Nach der Auffassung von Hobbes sind alle Menschen von Natur aus hinsichtlich körperlicher Stärke und Geistesfähigkeiten gleich, und zwar in dem Sinne, dass jeder jeden umbringen kann. Jeder Mensch hat als höchstes Ziel die Bewahrung seiner eigenen Existenz, also die Selbsterhaltung. Ursprünglich jedoch, im vorsozialen Naturzustand, sind die Menschen einander feindlich in der Verfolgung dieses Ziels. Der Naturzustand ist ein Krieg aller gegen alle. (Hobbes 1970, 115).
Dieser Krieg kann nicht ungerecht oder böse genannt werden, denn dies würde nur Sinn machen, wenn ein Gesetz gilt, das von einer alles umfassenden Macht gehandhabt wird. Das ist im Naturzustand nicht der Fall. Doch die Menschen haben die Möglichkeit, aus diesem beklagenswerten Zustand, in den die Natur sie gebracht hat, herauszukommen. Dazu haben sie zwei Hilfsmittel, die Gefühle (passions) und die Vernunft. Die Gefühle, von denen hier die Rede ist, sind die Furcht vor dem Tod und das Bedürfnis nach allem, was für die Aufrechterhaltung des Lebens notwendig ist. Was die Vernunft betrifft, besteht ihr Beitrag darin, die Menschen fähig zu machen, sich über „Artikel" des Friedens zu einigen. Diese Artikel sind es, die man nach Hobbes normalerweise Laws of Nature nennt. Er glaubt, drei fundamentale natürliche Gesetze nachweisen zu können. Bei ihrer Formulierung macht er von dem BegriffÄrc/tf (right) Gebrauch. 7 Er definiert ihn als Freiheit, etwas zu tun oder zu lassen. 7
Das Wort „Recht" kann auf Deutsch mindestens zwei verschiedene Bedeutungen haben. Einmal kann es der Inbegriff für die Gesetzgebung („Rechtszustand") sein, zum anderen werden mit dem Wort einzelne Rechte im Sinne von Ansprüchen (z.B. die Menschenrechte) bezeichnet. Bei Hobbes ist von Recht im letzteren Sinn die Rede.
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Damit unterscheidet sich Recht von Gesetz, denn dieses bedeutet ein Gebunden- oder Verpflichtetsein zum Tun oder Lassen. Hobbes legt großen Wert auf diese Unterscheidung: Folglich sind Recht und Gesetz ebenso unterschieden wie Freiheit und Verbindlichkeit . . . (a.a.O., 118f.).
Mit dieser Definition fuhrt Hobbes in Wirklichkeit einen ganz neuen Begriff in die ethische Theorie ein, nämlich eben den Begriff Recht} Mit der Natur des Menschen folgt ein fundamentales natürliches Recht: Jeder hat die Freiheit, seine eigene Natur mit Hilfe seiner Macht zu bewahren, d.h. seine eigene Existenz auf gewünschte Weise aufrechtzuerhalten. Und das ist dasselbe wie die Freiheit oder das Recht zur Verteidigung seiner selbst mit allen Mitteln. Aber durch den Gebrauch der Vernunft muss der Mensch auf der Grundlage dieses Rechts zum 1. fundamentalen natürlichen Gesetz kommen: ... suche Frieden, solange nur Hoffnung darauf besteht... (a.a.O., 119).
Aus diesem folgt das 2. fiindamentale Gesetz: . . . sobald seine Ruhe und Selbsterhaltung gesichert ist, muss auch jeder von seinem Rechte auf alles - vorausgesetzt, dass andere dazu auch bereit sind - abgeben und mit der Freiheit zufrieden sein, die er den übrigen eingeräumt wissen will. (Ebd.).
Das Gesetz fordert, dass man auf sein Recht verzichtet. Und hat man das einmal getan, so ist man verpflichtet, an dem Willensakt festzuhalten, mit dem man auf das Recht verzichtet hat. Die Anerkennung dieser Pflicht ist jedoch im Eigeninteresse begründet, denn von jedem „voluntary act" gilt, dass es sein Zweck ist, das Gute fiir sich seihst zu erreichen. Die gegenseitige Übertragung von Rechten wird Vertrag („pact", „covenant") genannt. In Verbindung mit dem Begriff Vertrag hebt Hobbes hervor, dass man „covenants" nicht mit wilden Tieren („brüte beasts") abschließen kann: Sie können unsere Sprache nicht verstehen! Mit anderen Worten: Tiere können keine ethischen Subjekte sein 8
Tuck macht darauf aufmerksam, dass es im Griechischen und Lateinischen keinen Ausdruck gibt, der dem Begriff „right", also „Recht (auf)" entspricht (Tuck 1989,58).
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(darüber, ob sie ethische Objekte sein können, sagt Hobbes an dieser Stelle nichts). Für das Abschließen von Verträgen gilt das 3. Gesetz: ... vertragliche Abkommen müssen erfüllt werden ... (a.a.O., 129).
In diesem Gesetz liegt die Begründung der Gerechtigkeit; sie ist nämlich der konstante Wille, jedem das Seine zu geben. Hobbes hält also ganz einfach an dem gängigen Begriff von Gerechtigkeit iSssuum cuique tribuere fest. Doch seiner Theorie zufolge ist Gerechtigkeit in Wirklichkeit eine Vernunftregel, die letztlich besagt, dass es verboten ist, etwas zu tun, was das eigene Leben bedroht. Hobbes hält an einem traditionellen Gedankengang fest: Das natürliche Gesetz kann in der Goldenen Regel zusammengefasst werden. Das gilt seiner Meinung nach deutlich für das 2. Gesetz: Und eben das lehren auch die Worte des Evangeliums: „Was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch"-, sowie die des allgemein bekannten Sprichwortes: „ Was andere dir nicht tun sollen, tue ihnen auch
nicht?' (a.a.O., 119f.).
Obwohl Menschen mit Hilfe ihrer Vernunft das Zweckmäßige beim Einhalten des Vertrages und der fundamentalen Gesetze erkennen können, ist das nach Hobbes noch keine Garantie dafür, dass sie tatsächlich eingehalten werden. Um das zu sichern, ist Macht erforderlich: Gesetze und Verträge können an und für sich den Zustand des Krieges aller gegen alle nicht aufheben; denn sie bestehen in Worten, und bloße Worte können keine Furcht erregen; daher fördern sie die Sicherheit der Menschen allein und ohne Hilfe der Waffe nicht. (A.a.O., 151).
Um eine alles umfassende Macht zu etablieren, die fähig ist, die Gesetze zu handhaben, muss einem Mann oder einer Versammlung alle Macht übertragen werden, so dass ein Wille entstehen kann. Jeder muss sagen: Ich übergebe mein Recht, mich selbst zu beherrschen, diesem Menschen oder dieser Gesellschaft unter der Bedingung, daß du ebenfalls dein Recht über dich ihm oder ihr abtrittst. (A.a.O., 155).
Damit etabliert sich der Staat, der ein Ungeheuer sein kann wie das Meerwesen Leviathan im Alten Testament:
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Auf diese Weise werden alle einzelnen eine Person und heißen Staat oder Gemeinwesen. So entsteht der große Leviathan oder, wenn man lieber will, der sterbliche Gott, dem wir unter dem ewigen Gott allein Frieden und Schutz zu verdanken haben. (Ebd.). Bei Hobbes sehen wir, wie die Moderne sich in einer ethischen Theorie ausformt, die sowohl im Verhältnis zur Antike als auch zu den verschiedenen Formen christlicher Gedankengänge neu ist. Der Mensch ist im Ausgangspunkt ein freies Individuum, ausgestattet mit Rechten, primär mit dem Recht, das eigene Überleben zu sichern. Ethische und soziale Normen sind nichts, dem die Menschen durch die Naturordnung 9 oder durch Gottes Schöpferwillen unterworfen sind. Normen sind vielmehr deshalb bindend, weil die Menschen sich ihnen durch eigenen Vernunftbeschluss unterworfen haben. 10 Das ist der Grundgedanke in der Vertragstheorie bzw. dem Kontraktualismus. Das Neue bei Hobbes kommt auch darin zum Ausdruck, dass die Goldene Regel eine ganz neue Bedeutung erhält. Während sie bei Luther die weltliche Parallele zur eigentlichen Nächstenliebe ist, gilt sie bei Hobbes als Ausdruck der Vernunft des Eigeninteresses: Ich nehme auf die anderen Rücksicht, weil es mir selbst am meisten dient.
9
Wenn Hobbes trotzdem von „law of nature" spricht, spiegelt das eine gewisse Unklarheit seines Naturbegriff wider. Von Natur aus ist der Mensch mit dem Recht ausgestattet, für sein Überleben zu kämpfen. Aber die Natur zwingt den Menschen dazu, seine Freiheit zu gebrauchen, um einen Gesellschaftsvertrag einzugehen. 10 Von den Einwänden, die gegen Hobbes erhoben werden können, soll einer genannt werden, der von Alasdair Maclntyre vorgebracht wurde. Hobbes begehe mit seiner Theorie in Wirklichkeit einen elementaren logischen Fehler. Er setzt nämlich voraus, was er erklären will. Er will erklären, warum die Menschen Normen für ihr gemeinsames Leben einhalten. Seine Erklärung dafür lautet, dass es auf dem Eingehen eines Vertrages beruht. Das ist jedoch ein Widerspruch in sich: Aber jeder Austausch von Worten zwischen Menschen, gleich ob geschrieben oder gesprochen, den man angemessenerweise als Vertrag oder Übereinkunft oder Versprechen charakterisieren kann, kann so nur charakterisiert werden kraft der Existenz einer allgemein anerkannten Regel, gemäß der der Gebrauch der Ordnung der in Frage stehenden Wörter von beiden Parteien als eine ¿/«¿¿«¿¿Ordnung von Wörtern verstanden wird. (Maclntyre 1984,130).
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Bei einem der Denker der Aufklärung, Jean-Jacques Rousseau (17121778) finden wir eine Weiterentwicklung der Theorie, dass soziale Normen in einem ursprünglichen Vertrag begründet sind. Bei Hobbes fuhrt der Abschluss des Vertrages mit sich, dass die einzelnen Individuen eine Einschränkung ihrer Freiheit akzeptieren. Rousseaus Grundidee in der Schrift Du Contrat social (1762) ist, dass zwischen der Freiheit des Einzelnen und dem Einordnen unter eine Gemeinschaft kein Widerspruch besteht. Bei Aristoteles fanden wir den Gedanken, dass die polis eine natürliche Ordnung in dem Sinne ist, dass sie eine Erweiterung der natürlichen Gemeinschaft, der Familie und des Haushalts darstellt. Rousseau erkennt ebenfalls die Familie als eine natürliche Gemeinschaft an, sie ist nach ihm aber die einzige. Die Gemeinschaft der Gesellschaft setzt voraus, dass ein Bruch in der Familie geschieht, dass sich nämlich die Kinder vom Vater befreien. Erst durch die Befreiung werden die Menschen zu dem, was sie eigentlich von Natur aus sind, nämlich frei. Rousseau ist mit Hobbes darin einig, dass das oberste Gesetz der Freiheit darin besteht, dass es jedem um seine Selbsterhaltung geht. Diese primäre Sorg^schuldetjeder sich selbst {se doit à lui-même). Erwachsen zu werden will sagen, dass man selbst beurteilen kann, welches die rechten Mittel zur Selbsterhaltung sind. Man wird sein eigener Herr.u Aber wenn Freiheit gleichbedeutend ist mit einem Bruch mit der natürlichen Gemeinschaft, ist dann eine Gesellschaft von freien Menschen überhaupt möglich? Eine Gesellschaft, in der die Individuen auf ihre Freiheit verzichten, ist keine legitime Gesellschaft. Das würde nämlich das Aufgeben der Rechte voraussetzen, die jeder als Mensch hat (droits de l'humanité). Auf der anderen Seite ist sich Rousseau mit Hobbes darin einig, dass die Menschheit vor einen „point of no return" gestellt worden ist. Es wurde ein Punkt in der Entwicklung erreicht, an dem der äußere Druck so groß war, dass die Menschheit zugrunde gegangen wäre, wenn sie nicht ihre Daseinsform (manière d'être) geändert hätte. Die Menschen waren gezwungen, die individuelle Le11 Mit diesen Überlegungen im 2. Kapitel des 1. Buches formuliert Rousseau einen fundamentalen Gegensatz in der modernen Ethik, nämlich den Gegensatz zwischen Patemalismus (das Recht des Vaters und des Übergeordneten zu entscheiden, was den Untergeordneten am besten dient) und Selbstbestimmung.
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bensform aufzugeben — wie konnte das geschehen, ohne dass damit die Freiheit verloren ging? Das fundamentale Problem der Gesellschaftsbildung lautet also: Finde eine F o r m des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch ein jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor. (Rousseau 1977,17).
Die Lösung des Problems ist das Eingehen des sozialen Vertrages. Der kann auf folgende Weise beschrieben werden: Gemeinsam stellen wir alle, jeder von uns, seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens; und wir nehmen, als Körper 1 2 , jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf. (18).
Durch Zusammenschluss wird eine neue Ganzheit geschaffen, ein „corps politique". Wenn sie aktiv handelnd auftritt, wird sie von den Mitgliedern „Souverän" genannt. Die Mitglieder als Ganzheit werden Volk (peuple) genannt. Als Einzelmitglieder haben sie per Definition eine Doppelrolle: (i) als Teilhaber an der Macht (membre du Souverain) werden sie Bürger (citoyens) genannt; (ii) als den gemeinsamen Gesetzen Unterworfene werden sie Untertanen (sujets) genannt. Da diese Gesellschaftsordnung darauf beruht, dass alle Bürger sich in voller Freiheit untergeordnet haben, ist es nicht möglich, dass die Staatsmacht Interessen hat, die den Interessen des Einzelnen zuwider laufen. Der Gesellschaftsvertrag umfasst implizit ein Übereinkommen darüber, dass derjenige, der sich dem gemeinsamen Willen nicht unterordnet, dem Zwang der Ganzheit ausgesetzt wird. Doch das ist im Grunde kein Zwang, denn es bedeutet nichts anderes, als dass man gezwungen wird, frei zu sein.13 12 „Corps" bedeutet hier „Ganzheit" oder „Zusammenschluss", wie wir es im Fremdwort „Korps" kennen. 13 Ein Gedankengang wie dieser hat bewirkt, dass Rousseau von einigen als ein Theoretiker des Totalitarismus betrachtet wird. Der Ubersetzer und Herausgeber Hans Brockard führt zur Illustration dieser Auffassung folgende Äußerung an: ... der Träumer [gehört] in die nicht abreißende Kette jener Schwärmer, die das Gottesreich auf Erden etablieren wollen. Sie beginnt mit Joachim von
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Die charakteristische Doppelrolle, die der Einzelne in der Gesellschaft: hat (citoyen - sujet), beruht in letzter Instanz darauf, dass der Einzelne sozusagen mit sich selbst einen Vertrag geschlossen hat (19). Dieser „Vertrag" ist im Wesen der Freiheit selbst enthalten: Gehorsam gegen das selbstgegebene Gesetz ist Freiheit. (23).
Rousseau merkt hier an, dass es nicht seine Aufgabe sei, die philosophische Bedeutung des Wortes „Freiheit" darzustellen. Damit hat er sozusagen den Ball weitergegeben an denjenigen Philosophen, der vor allen anderen die ethische Theorie der Moderne ausgeformt hat, nämlich Immanuel Kant. Bevor wir auf ihn eingehen, wollen wir jedoch eine ganz andere Reaktion auf Hobbes' Vertragsdenken erwähnen. 6.3 Moralisches Gefiihl
(Hume)
Der schottische Philosoph David Hume lebte von 1711 bis 1776. Aus seiner Biographie sei hier nur erwähnt, dass er so großzügig war, Rousseau bei sich aufzunehmen, als dieser auf der Flucht war. Der Verfolgungswahn seines Gastes machte das Zusammensein für Hume allerdings unerträglich! Die ethisch relevanten Hauptwerke Humes sind: A Treatise of Human Nature
(1738) und An Enquiry concerning the Principles ofMorals (1752). Hume bestreitet, dass die Moral - d.h. der Unterschied zwischen Gut und Böse, unser Bewusstsein von diesem Unterschied und unsere Beurteilung von Handlungen im Verhältnis zu diesem Unterschied — in der Vernunft begründet ist. Seine Ablehnung verläuft in einer recht komplizierten Argumentation, innerhalb derer man jedoch zwischen den folgenden drei Aspekten unterscheiden kann: (1) Die Vernunft ist passiv; (2) die Funktion der Vernunft ist, Wahrheit zu erkennen; (3) die Vernunft verhält sich zur objektiven Wirklichkeit. Diese Aspekte sollen ein wenig vertieft werden. (1) Dass die Vernunft passiv ist, will sagen, dass sie keinen direkten Einfluss auf unsere Handlungen haben kann, weder verursachend noch motivierend. Dagegen kann die Vernunft indirekt mit Handlungen Fiore ... und führt über ... Marxens klassenlose Gesellschaft in den Terror des Bolschewismus ... zu Hitlers Diktatur. (225).
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zu tun haben. Wünsche oder Bedürfnisse bringen uns zum Handeln. Ich kann z.B. Lust haben, etwas Süßes zu essen, und diese Lust wird natürlich einen Handlungsverlauf verursachen, der der Erfüllung dieser Lust dient. Die Vernunft kann nun Hume zufolge derart ins Bild kommen, dass sie mir verdeutlichen kann, dass es tatsächlich etwas einen Gegenstand - gibt, der meine Lust befriedigen kann. Zum Beispiel kann ich mit Hilfe der Vernunft darauf aufmerksam werden (es kann mir einfallen), dass eine Tafel Schokolade in der Schublade liegt. Oder die Vernunft kann Mittel finden, die zur Befriedigung der Lust dienen. Wenn z.B. nichts Süßes im Hause ist, weiß ich, dass ich zum Kiosk gehen und Schokolade kaufen kann. Aber das Verhältnis der Vernunft zur Handlung ist in diesen Fällen eben nur indirekt: Die Vernunftüberlegungen machen nur Sinn unter der Voraussetzung, dass ich motiviert bin, etwas zu unternehmen, und diese Motivation kann die Vernunft nicht hervorrufen. Sie beruht auf anderen Dingen wie Wunsch, Lust, Bedürfnis usw. (2) Diese Passivität der Vernunft hängt für Hume damit zusammen, dass die Vernunft die Fähigkeit ist, Wahrheit zu erkennen. Er schließt sich der Auffassung von Wahrheit an, die man Korrespondenztheorie nennt: Wahrheit ist das Verhältnis zwischen (a.) unseren Vorstellungen, Gedanken oder Sätzen und (b.) der Wirklichkeit. Genauer gesagt stimmen a. und b. überein. Von Wahrheit (oder Unwahrheit) kann nun Hume zufolge in zwei Zusammenhängen die Rede sein: Wahrheit und Irrtum aber besteht in der Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung entweder mit den wirklichen Beziehungen der Vorstellungen oder mit dem wirklichen Dasein und den Tatsachen. (Hume 1973, 198). 14
14 Was Hume hier im Blickfeld hat, könnte man moderner den Unterschied zwischen logischen Wahrheiten und Tatsachenwahrheiten nennen. Wenn ich sage: „Alle Junggesellen sind unverheiratet", drücke ich eine logische Wahrheit aus: Ich sage eigentlich nichts über die Wirklichkeit aus, sondern über das logische Verhältnis zwischen „Junggeselle" und „unverheiratet". Das Verhältnis besteht darin, dass ein Mann notwendigerweise auch unverheiratet ist, wenn er Junggeselle ist. Eine Tatsachenwahrheit - eine, die die Wirklichkeit betrifft - spreche ich dagegen aus, wenn ich sage: „Mein Nachbar zur rechten ist Junggeselle".
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Wahrheit besteht also fiir Hume in einer Übereinstimmung, entweder mit Begriffs- bzw. Ideen-Relationen oder mit Tatsachen. Warum aber kann das Begriffspaar Wahrheit/Falschheit - und damit die Vernunft nicht auf moralische Phänomene angewandt werden? Hume antwortet: Nun sind augenscheinlich unsere Affekte, unsere Wollungen und unsere Handlungen einer solchen Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung nicht fähig; sie sind ursprüngliche Tatsachen und Wirklichkeiten, in sich selbst vollendet, ohne Hinweis auf andere Affekte, Wollungen und Handlungen. (Ebd.).
Der entscheidende Punkt liegt also darin, dass bei diesen Phänomenen (die fiir Hume offenbar fundamental sind), nämlich Leidenschaften, Willensäußerungen und Handlungen, nicht die Relation vorliegt, die vorhanden sein muss, damit die Rede von Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung, also Wahrheit, sein kann. Diese Phänomene sind „vollständig in sich selbst". Humes Überlegung wird sofort den Einwand hervorrufen, dass Moral nicht nur eine Frage von Leidenschaften, Willen und Handlung ist - sondern ebensosehr davon, wie man sich beurteilend zu Leidenschaften, Willensäußerungen und Handlungen verhält. Hume berücksichtigt sehr wohl das Beurteilen und Bewerten unserer eigenen Handlungen und der anderer. Das wird im dritten Punkt seiner Argumentation deutlich. (3) Wir nehmen zwar eine Bewertung von Handlungen vor, doch kann sie nicht mit der Beurteilung gleichgestellt werden, die die Vernunft vornimmt, wenn sie Wahrheit entdeckt. Die moralische Bewertung ist nämlich subjektiv: Sie liegt in Euch selbst, nicht in dem Gegenstand. Erklärt Ihr eine Handlung oder einen Charakter für lasterhaft, so meint Ihr [damit] nichts anderes, als dass Ihr zufolge der Beschaffenheit Eurer Natur ein unmittelbares Bewusstsein oder Gefühl des Tadels bei der Betrachtung dieser Handlung oder dieses Charakters habt. (A.a.O., 2 1 1 ) .
Da die moralische Beurteilung also Hume zufolge in einem rein subjektiven Gefühl besteht, kann man von ihr nicht sagen, dass sie mit etwas Wirklichem übereinstimmt. Also kann nicht von Wahrheit die Rede sein. Und folglich kann die Vernunft nicht in die moralische Beurteilung einbezogen sein.
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Im Anschluss an diese Argumentation stellt Hume eine berühmt gewordene Überlegung an. Er sagt, dass er in allen Werken über Moral, die er gelesen hat, beobachtet hat, dass der jeweilige Verfasser nach der „gewöhnlichen Art des Raisonnierens" vorgegangen ist. Er beweist, dass es einen Gott gibt, beschreibt Beobachtungen menschlicher Verhältnisse usw. Doch plötzlich geschieht es: ... daß mir anstatt der üblichen Verbindungen von Worten mit „ist" und „ist nicht" kein Satz mehr begegnet, in dem nicht ein „sollte" oder „sollte nicht" sich fände. (...) Dies sollte und sollte nicht drückt eine neue Beziehung oder Behauptung aus, muß also notwendigerweise beachtet und erklärt werden. Gleichzeitig muß ein Grund angegeben werden für etwas, das sonst ganz unbegreiflich scheint, nämlich dafür, wie diese neue Beziehung zurückgeführt werden kann auf andere, die von ihr ganz verschieden sind. (Ebd.).
Hume macht hier auf zwei wichtige Dinge aufmerksam, (i) Es besteht ein Wesensunterschied zwischen deskriptiven Aussagen und normativen oderpräskriptiven Aussagen. Die erstgenannten beschreiben tatsächliche Verhältnisse („Jeden Tag sterben 40.000 Kinder"). Die letztgenannten sagen, wie man handeln sollte („Es muss etwas getan werden, um die Kindersterblichkeit zu senken"), (ii) Es scheint nicht möglich zu sein, vom Deskriptiven auf das Präskriptive zu schließen: von dem, was der Fall ist, darauf, was getan werden sollte. Dieses Problem hat seitdem viele Ethiker beschäftigt, und wir werden im Kapitel 11 zu ihm zurückkehren. Wir müssen nun näher auf Humes Theorie vom moralischen Gefühl eingehen. Der Versuch, die Ethik in einem moral sentiment zu begründen, ist in sich selbst nicht originell. Er wird von anderen britischen Philosophen der Zeit unternommen, z.B. Shaftesbury (Anthony Ashley, 1671 -1713) undFrances Hutcheson (1694-1747). Ihre gemeinsame Absicht ist die Widerlegung der Hobbes'schen These, die Ethik sei im Egoismus begründet. Hume vergleicht das moralische Gefühl mit dem ästhetischen. Wenn wir etwas schön finden — ein Gebäude oder eine Skulptur z.B. ist das in der Form und ihren Proportionen begründet. Diese lassen sich rein geometrisch darstellen, aber eine solche Darstellung ruft nicht an sich das ästhetische Gefühl hervor, sondern
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Ethik und Moderne . . . erst danach gelangen wir zu einem Gefühl des Gefallens oder Missfallens, je nach der Natur des Gegenstandes und der Beschaffenheit der Sinnesorgane. (Hume 1984, 222).
Genauso wie mit der ästhetischen Beurteilung verhält es sich mit der ethischen. Eine Beschreibung der objektiven Umstände eines Verbrechens — z.B. in einer der Reden Ciceros — kann noch so detailliert und eingehend sein: Der Redner mag auf der einen Seite Wut, Überheblichkeit und Barbarei schildern; auf der anderen Sanftmut, Leiden, Kummer und Unschuld. Aber wenn du nicht fühlst, wie infolge dieses Zusammentreffens von Umständen in dir Entrüstung und Mitleid aufsteigen, würdest du ihn vergeblich fragen, worin das Verbrechen oder die Schandtat bestehe ... (a.a.O., 223f.).
Wir kennen das Argument: Tatsachen zu beschreiben ist das Anliegen der Vernunft; das Gefühl ist notwendig, damit wir uns ethisch zu dem Beschriebenen verhalten, d.h. es als gut oder böse beurteilen. Wenn Hume das moralische Gefiihl subjektiv nennt, soll subjektiv als Gegensatz zu objektiv verstanden werden, welches wiederum als „zur äußeren, physischen Welt gehörend" verstanden werden soll. Dagegen betrachtet Hume das moralische Gefiihl nicht als etwas individuelles und privates. Er behauptet - aus der Erfahrung —, dass Menschen von Natur aus mit einem gemeinsamen Gefühl von „humanity" ausgerüstet sind, d.h., ... daß ein gewisses, egal wie geringes Maß an Wohlwollen in unserem, Herzen wohnt, ein Funke Freundschaft für die Menschheit ... (a.a.O., 199).
Hume geht also davon aus, dass dieses Gefiihl „common to all mankind" ist und dass wir es nicht nur bestimmten Menschen entgegenbringen, sondern allen: die Gefühle der Humanität „comprehend all human creatures". Wie kann Hume behaupten, dass ein Gefühl universell sein kann? Wir wollen eine etwas längere, zentrale Passage ansehen: Wenn jemand einen anderen seinen Feind, seinen Rivalen, seinen Widersacher, seinen Gegner nennt, so meint man, dass er die Sprache der Selbstliebe spricht und dass er Gefühle ausdrückt, die ihm eigen sind und die
Moralisches Gefühl (Hume)
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auf seinen besonderen Umständen und seiner besonderen Lage beruhen. Aber wenn er irgend jemanden als lasterhaft, hassenswert und verdorben bezeichnet, dann spricht er eine andere Sprache und drückt Gefühle aus, von denen er erwartet, dass alle seine Zuhörer darin mit ihm übereinstimmen. Er muss daher in diesem Fall von seiner privaten und besonderen Situation absehen und einen Standpunkt wählen, den er mit anderen gemeinsam hat; er muss auf ein allgemeines Prinzip der menschlichen Natur einwirken und eine Saite anschlagen, die bei allen Menschen harmonisch widerklingt. (A.a.O., 200f.).
Zwei Dinge sind bemerkenswert. Erstens: Hume geht davon aus, dass die ethische Einstellung mit dem Anlegen eines allgemeingültigen, unparteiischen Blickwinkels (Universalismus) identisch ist. Zweitens: Er unterscheidet zwischen zwei grundverschiedenen Arten von Gefühlen: (i) private und partikulare Gefühle, die immer Ausdruck für Eigenliebe sind; (ii) universelle Gefühle, die Ausdruck fiir Humanität/ Wohlwollen sind. Es wäre ein naheliegender Einwand gegen Hume, dass eine Handlung, die einem Gefühl entspringt, immer (vielleicht verdeckt) selbstsüchtigist. Zu diesem „egoistischen System der Moral" (selfish system of morals) sagt Hume, dass die Freude einer Person an sich selbst nicht notwendigerweise ethisch disqualifizierend ist. Es kann sich sehr wohl so verhalten, dass wir aus einem primären Gefühl von „Wohlwollen" (benevolence) anderen gegenüber gut handeln und dass wir dabei ein sekundäres Gefühl von „Freude an uns selbst" (self-enjoyment) haben. Eine solche Handlung kann nicht selbstsüchtig genannt werden, denn das Motiv der Handlung ist nicht Rücksicht auf sich selbst. (A.a.O., 228 u. 235). Humes Theorie umfasst auch die Sozialethik. Umgesetzt in größere gesellschaftliche Zusammenhänge beinhaltet das Gefiihl des Wohlwollens: ... eine[r] beständige[n] Bevorzugung des größeren Glücks. (A.a.O., 209).
Mit dieser Formulierung nimmt Hume die Grundformel der utilitaristischen Ethik vorweg, auf die wir in Kapitel 8 eingehen.
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Ethik und Moderne
Literatur zu Kapitel 6 Quellen Cicero: De officiis/Vompflichtgemäßen Handeln. Ubers., komment. U. hrsg. v. H. Gunermann. Stuttgart 1992. Hobbes, T. (1983): Leviathan. Edited and abridged with an introduction by John Plamenatz. Glasgow. Hobbes, Th. (1970): Leviathan. Erster und Zweiter Teil. Übers, v. J.P.Mayer. Nachw. v. M. Diesselhorst. Stuttgart. Hume, D. (1978): A Treatise of Human Nature. Edited by L.A. Selby-Bigge. Second Edition. Oxford. Hume, D. (1973): Ein Traktat über die menschliche Natur. Deutsch m. Anm. u. Register v. Th. Lipps. M. e. Einf. neu hrsg. v. R. Brandt. (Buch II u. III). Hamburg. Hume, D. (1983): An Enquiry concering the Principles ofMorals. Edited by D.J.B. Schneewind. Indianapolis. Hume, D. (1984): Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral. Ubers, u. Hrsg. v. G. Streminger. Stuttgart. Machiavelli, N. (1977): Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsfiihrung. Deutsche Gesamtausgabe. Übers., eingel. u. erl. v. R. Zorn. Stuttgart. Machiavelli, N. (1990): Der Fürst. Frankfurt. Pico della Mirandola (1977): Heptaplus or Discourse on the Seven Days of Creation. Transl. w. an Intr. and Gloss. By J.B. McGaw, New York. Pico della Mirandola (1989): Om menneskets vosrdighed. Oversat med indledningog noter afJorgen Juul Nielsen (Rencessancestudier, VI). Kebenhavn. Pico della Mirandola (1997): De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen. Lateinisch/Deutsch. Aus der Textgrundlage der Edition princeps hrsg. u. übers, v. G. von der Gönna. Stuttgart. Rousseau, J.-J. (1989): Du contrat social (Collection Texte et Contexte). Paris. Rousseau, J.-J. (1977): Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. In Zusammenarbeit mit E. Pietzcker neu übersetzt und herausgegeben von Hans Brockard. Stuttgart. Sekundärliteratur Burckhardt, J. (1966): Die Kultur der Renaissance in Italien. Hrsg. v. W. Goetz. Stuttgart. Henrich, D. (1976): »Die Grundstruktur der modernen Philosophie«, in: H. Ebeling (red.), Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne. Frankfurt. Starobinski, J. (1989):Rousseau. Eine Weltvon Widerständen. München, Wien. Tuck, R. (1989): Hobbes. Oxford.
Kapitel 7. Die Ethik Kants Dass Immanuel Kant (1724-1804) der Philosoph ist, der am tiefgreifendsten die Problematik der Moderne durchdenkt, kommt sowohl in seiner Theorie der Erkenntnis als auch in seiner ethischen Theorie zum Ausdruck. Obwohl es hier um Letztere geht, soll einleitend ganz kurz an einige Grundzüge der kantischen Erkenntnistheorie erinnert werden. Kant war sich bewusst, dass er eine neue Auffassung vom menschlichen Subjekt und seiner Stellung zur erkennbaren Welt artikuliert hat. Er gebraucht selbst in diesem Zusammenhang den Ausdruck kopernikanische Wende für seine Theorie. Damit meint er Folgendes. Dem aristotelischen Weltbild zufolge sieht ein menschlicher Beobachter die Bewegungen der Himmelskörper so, wie sie sich faktisch im Verhältnis zur Erde bewegen. Nach dem neuen Weltbild des Kopernikus sind hingegen die am Himmel beobachtbaren Bewegungen ein Ergebnis dessen, dass die Erde - und damit die Menschen als Beobachter - sich bewegen. Mit Kants Auffassung vom Erkennen verhält es sich ähnlich: Die Erkenntnis des Menschen ist nicht ein „Ablesen" der im Voraus gegebenen Beschaffenheit der Wirklichkeit, sondern die erkannten Beschaffenheiten der Wirklichkeit sind umgekehrt durch Eigenschaften des erkennenden Subjektes bedingt. Derselbe Sachverhalt kommt in der Bezeichnung Transzendentalphilosophie zum Ausdruck. Er besagt, dass die grundlegendsten Begriffe, die wir auf die Wirklichkeit anwenden - die Kategorien 1 - nicht von der sinnlich bedingten Erfahrung abgeleitet sind (aposteriori), sondern dass sie a priorisch sind, d.h. vom menschlichen Subjekt hervorgebracht. Sie gehören nicht einer transzendenten Ideenwelt an, die der Mensch kraft seiner Vernunft erschauen könnte (Piatonismus), 1
In der mittelalterlichen Philosophie, z.B. bei T h o m a s , werden diese Begriffe „Tranzendentalien" genannt. Z u ihnen gehören ens und bonum. Vgl. oben S. 87f.
142
D i e Ethik Kants
sondern die Grundbegriffe sind eben von dem Subjekt geschaffen, das mit ihrer Hilfe die erkennbare Wirklichkeit strukturiert. Kant unterscheidet zwischen zwei Arten der a priorischen Erkenntniselemente: einerseits Raum und Zeit, die er als reine Formen der Anschauung betrachtet, d.h. der Sinnlichkeit angehörend; andererseits die Kategorien, die als reine Begriffe Produkte des Verstandes sind. Das entscheidende Argument in Kants Erkenntniskritik ist die so genannte transzendentale Deduktion, d.h. der Erweis, dass die reinen Erkenntniselemente tatsächlich eine gültige Erkenntnis der sinnlichen Welt begründen. Der Grundbegriff dieses Argumentes ist das Selbstbewusstsein bzw. das Ich. Um eine Identität des Ichs angesichts der immer wechselnden Sinnesdaten aufrechterhalten zu können, muss ich diese Daten in meinem Bewusstsein nach a priorischen Regeln (den Kategorien) verknüpfen. Diese Tätigkeit des Subjektes ist die Grundlage dafür, dass allgemeingültige und notwendige Erkenntnis zustande kommen kann. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnistheorie gibt Kant seine besondere Definition des Begriffes Natur. Die Natur kann bei ihm nicht eine vorgegebene Wirklichkeit sein, sondern sie ist der Inbegriff der Erscheinungen, d.h. der Wirklichkeit, wie sie dem Subjekt mit seinen Erkenntnisformen erscheint. Wir müssen uns zwar denken, dass den Erscheinungen ein „Ding an sich" entspricht; erkennen können wir es jedoch nicht. Die a priorischen Formen der Erkenntnis haben somit nur für die sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit Geltung. Ein Erkennen des Transzendenten ist unmöglich; alle Versuche es zustande zu bringen, sind ein Widerspruch in sich.2 Neben Sinnlichkeit und Verstand gibt es jedoch nach Kant noch ein drittes Erkenntnisvermögen, nämlich die Vernunft, Während die Sinne Anschauungen bilden und der Verstand Begriffe, sind die Erkenntniselemente der Vernunft Ideen, d.h. Vorstellungen von den drei angeblichen Grundgegebenheiten Gott, Welt und unsterbliche Seele. Im Gegensatz zu den Kategorien haben die Ideen nach Kant nur eine regulative Funktion: Wir können nicht 2
Eine Konsequenz aus diesem Gedankengang ist, dass die traditionellen Beweise für das Dasein Gottes nicht haltbar sind. Nach Kant ist überhaupt der Versuch, theologische Aussagen durch die theoretische (erkennende) Vernunft zu begründen, äußerst problematisch.
Die Vertragstheorie bei Kant
143
beweisen, dass es eine ihnen entsprechende Wirklichkeit gibt, aber sie dienen unserer Erforschung der wahrnehmbaren Wirklichkeit als Zielvorstellungen. Obwohl Kant den Begriff Vernunft völlig anders als etwa Thomas von Aquin definiert 3 , folgt er diesem in dem einen Punkt, dass er sowohl eine theoretische als auch eine praktische Vernunft annimmt. Letztere ist diejenige Vernunft, welche die Grundlage menschlichen Handelns bilden kann. Um sie geht es in Kants Ethik. Die Standardausgabe von Kants Werken ist die so genannte Akademieaus-
gabe: Kant's gesammelte Schriften. Herausgegeben von der preußischen Akademie der Wissenschaften (Berlin 1902 ff.). Normalerweise wird auf Kants Schriften durch Angabe der Seitenzahlen der ersten Ausgaben verwiesen. Ein vor die Seitenzahl gestelltes A bezeichnet die erste Ausgabe, ein B die zweite; diese Seitenzahlen sind in den meisten neueren Ausgaben angegeben. Kants wichtigste Schriften zur Ethik sind: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785; verkürzt GMS), Kritik der praktischen Vernunft (1788; verk. KpV) und Die Metaphysik der Sitten (1797; verk. MS).
7.1
Die Vertragstheorie
bei
Kant
Als Einstieg in Kants Ethik seien einige Überlegungen genannt, die er in bezug auf die Fragestellung bei Hobbes und Rousseau4 anstellt. 3
4
Es muss betont werden, dass Kant den Begriff Vernunft nicht ganz konsequent benutzt. Manchmal unterscheidet er Vernunft und Verstand; an anderen Stellen umfasst die Vernunft den Verstand und beide stehen zur Sinnlichkeit im Gegensatz. Es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Kenntnisnahme der Schriften Rousseaus einen entscheidenden Einfluss auf Kants reife, so genannte kritische philosophische Position ausgeübt hat. 1762 hat Kant den £mile erworben, und er war so von der Lektüre ergriffen, dass er mehrere Tage ununterbrochen las, obwohl er dafür seinen täglichen, genau eingeplanten Spaziergang in Königsberg opfern musste. Über die Anregung durch Rousseau sagt Kant selbst: Ich fühle den gantzen Durst nach Erkenntnis (...) Es war eine Zeit da ich glaubte dieses allein könnte die Ehre der Menschheit machen u. ich verachtete den Pöbel der von nichts weis. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendende Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren ... (Zitiert nach Gulyga 1981, 58).
144
Die Ethik Kants
In der kleinen Schrift Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht fiir die Praxis berührt Kant die Frage nach den Grundlagen der rechtmäßigen Gesetzgebung in einer Gesellschaft. Wie Rousseau sagt er, dass das Grundgesetz, das einen allgemeinen Volkswillen herbeiführt, ursprünglicher Vertrag genannt werde (Gemeinspruch, 150f.). Jedoch stellt Kant völlig klar, dass der Gedanke vom Vertrag nicht im buchstäblichen historischen Sinne verstanden werden darf. Man solle sich den Vertrag nicht als geschichtliche Tatsache vorstellen, sondern als „bloße Idee der Vernunft". Die Bedeutung dieser Idee sei, ... jedem Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volks haben entspringen können, und jeden Untertan, so fem er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmet habe. Denn das ist der Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes. (A.a.O., 153, vgl. 159).
Damit hat Kant einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, den Gedanken vom Vertrag plausibel zu machen. Den von ihm verwendeten Ausdruck „Idee der Vernunft" könnte man heute vielleicht mit „Gedankenexperiment" umschreiben, und die Auffassung wäre diese: Das Kriterium dafür, ob eine rechtliche Norm gültig ist, erweist sich darin, dass alle (durch sie Betroffenen) sie durch Vertragabschluss anerkennen könnten. Wie Hobbes definiert Kant weiter Recht als Einschränkung von Freiheit, aber er fordert mit Rousseau, dass die Freiheit des Einzelnen durch den Vertrag gewahrt werden muss. Die Einschränkung, von der hier die Rede ist, besteht darin, dass die Freiheit jedes Einzelnen mit der Freiheit jedes anderen übereinstimmen muss. Die aus dem so verstandenen Vertrag resultierenden Gesetze erscheinen dem Einzelnen als Zwang, was nach Kant nur unter einer Voraussetzung legitim ist: ... weil die Vernunft selbst es so will, und zwar die reine a priori gesetzgebende Vernunft, die auf keinen empirischen Zweck... Rücksicht nimmt ... (a.a.O., 145).
Im Übrigen behauptet Kant - als Kritik an Hobbes — dass das Staatsoberhaupt (der Souverän) ebenso Pflichten gegenüber den Untertanen hat wie diese ihm gegenüber.
Kritik der praktischen Vernunft
145
In jeder Gesellschaft muss es einen Gehorsam gegen die Gesetze geben, obwohl diese Zwang bedeuten; es muss aber ... zugleich ein Geist der Freiheit sein, da jeder, in dem was allgemeine Menschenpflicht betrifft, durch Vernunft überzeugt zu sein verlangt, damit er nicht mit sich selbst in Widerspruch gerate. (A.a.O., 163).
Die beiden letzten Zitate zeigen, wie Kant das zentrale Problem der Vertragstheorie Rousseaus zu lösen versucht: Wie kann ich mich dem gemeinsamen Willen unterwerfen und doch meine volle Freiheit bewahren? Kants Antwort lautet wie zitiert: „Die Vernunft selbst will es so"; das heißt, die praktische Vernunft ist so beschaffen, dass das einzelne Subjekt genau dadurch seine Freiheit bezeugt, dass es sich selbst ein allgemeingültiges Gesetz auferlegt. Das ist der Kern von Kants ethischer Theorie im engeren Sinne.
7.2 Kritik der praktischen Vernunft Zu den Voraussetzungen von Kants Überlegungen gehört es, dass es zu seiner Zeit mehrere ganz verschiedene, sich widersprechende Vorschläge zu ethischen Theorien gegeben hat. Hobbes, Rousseau und Hume veranschaulichen das. Eine solche Situation ist nach Kant ganz unhaltbar. Wenn es eine echte ethische Verpflichtung geben soll, dann darf keine Unklarheit darüber herrschen, worin eine solche Verpflichtung begründet ist. Aus eben diesem Grunde ist eine philosophische Untersuchung über die Grundlagen der Ethik notwendig. Eine solche Untersuchung nennt Kant Kritik derpraktischen Vernunft bzw. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Beide Formulierungen zeigen, dass Kant sich der Ethik in derselben Weise nähert wie der Frage nach der Gültigkeit der Erkenntnis. Er fragt, ob es einen Beitrag der reinen Vernunft zur Ethik gibt, d.h. ob in der Ethik Elemente enthalten sind, die nicht der Erfahrung entstammen. Der Beitrag der Philosophie zur Ethik besteht nach Kant nicht darin, neue ethische Normen aufzustellen. Das ist deshalb nicht notwendig, weil es im Grunde keinen Zweifel darüber gibt, was moralisch gut ist, und worin unsere Pflicht besteht. Zweifel gibt es hingegen darüber, wie die Pflicht zu begründen ist.
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Die Ethik Kants
Kant kann deshalb davon ausgehen, was er die „gemeine sittliche Vernunfterkenntnis" nennt, d.h. das Wissen um das Richtige, welches man bei allen Menschen voraussetzen kann. Mit einem modernen Ausdruck könnte man vielleicht sagen, dass Kant von allgemeinen moralischen Intuitionen ausgeht. Diese Intuitionen beinhalten nach Kant, dass das Einzige, was recht besehen unmodifiziert gut genannt werden kann, ein guter Wille ist. Die Begründung dieser Behauptung ergibt sich aus einer kritischen Betrachtung anderer Dinge, die vielleicht auch als ethisch gut aufzufassen wären. Da gibt es z.B. Charaktereigenschaften wie Mut, Entschlossenheit und Zuverlässigkeit; sie sind nicht uneingeschränkt gut, denn sie können auch dem Bösen dienen (ein Folterknecht kann äußerst zuverlässig sein). Entscheidend dafür, ob diese Eigenschaften zum Guten oder zum Bösen fuhren, ist nach Kant eben der dahinter stehende Wille.5 In gleicher Weise verhält es sich mit dem, was Kant „Glücksgaben" nennt: Macht, Reichtum, Ehre, Gesundheit. Ein Mensch ist nicht gut, nur weil er mit diesen Gütern beschenkt ist; ob ein glücklicher Mensch gut ist, entscheidet wiederum dessen Wille. Zur intuitiven Auffassung gehört weiter, dass die Güte des Willens nicht auf seiner Leistung beruht. Selbst ein Mensch, der äußerlich sehr wenig leistet, kann im ethischen Sinne uneingeschränkt gut sein. Dies ist so, weil nicht die Ergebnisse zählen, sondern einzig und allein der Wille. Bei genauerer Untersuchung zeigt sich nun, dass der gute Wille in nichts anderem besteht als dem Handeln aus Pflicht. Der Gegensatz hierzu ist ein Handeln aus Lust oder aus Neigung. Kant veranschaulicht diesen Unterschied an der allgemein anerkannten Pflicht anderen zu helfen, wenn man kann. Wenn man nun anderen hilft, weil man freundlich und hilfsbereit veranlagt und somit von der Not anderer betroffen ist, handelt man nicht aus Pflicht, obwohl man das durch die Pflicht Gebotene tut, d.h. pflichtgemäß handelt. Das beste Beispiel eines Menschen, der aus Pflicht handelt, wäre nach Kant jemand, der überhaupt nicht durch die Leiden anderer betroffen
5
Wir haben es hier mit einem Kant'schen Argument gegen eine Ethik der Tugenden zu tun.
Der kategorische Imperativ
147
wäre, der aber trotzdem helfen würde, weil er sich dazu verpflichtet wüsste.
7.3 Der kategorische Imperativ Wie sind diese allgemeinen ethischen Intuitionen nun philosophisch zu analysieren? Da es offenbar der Wille ist, dem wir unmodifiziert Güte zusprechen, ist das Phänomen des Willens genauer zu untersuchen. Halten wir an der Pflicht zu helfen als Beispiel fest, können wir den auf sie bezogenen Willen in zweifacher Art beschreiben. Ich kann jemandem helfen wollen (i) um etwas zu erreichen, d.h. um eines Zweckes willen, etwa um Bewunderung zu ernten, oder (ii) weil ich es mir zur Regel gemacht habe, dass ich immer Menschen helfe, wenn sie Hilfe benötigen. Zweck und Regel sind offenbar zwei Elemente, die notwendig in den Begriff einer gewollten Handlung eingehen. Dieses Ergebnis zeigt schon, dass Kant den Willen als durch die Vernunft bestimmt ansieht; es ist nämlich die Vernunft, die uns in den Stand versetzt, unseren Handlungen Zwecke zu geben und Regeln zu befolgen. Wenn aber der gute Wille dasselbe ist wie ein Handeln aus Pflicht, müssen wir auch das Phänomen der Pflicht genauer untersuchen. Seine Pflicht tun heißt, einer Forderung zu entsprechen. Die Pflicht ist also durch den Charakter des Imperativen gekennzeichnet. Kant zeigt nun, dass wir in verschiedener Weise auf Grund von Imperativen handeln können. Es gibt zunächst hypothetische Imperative, d.h. Forderungen der Form „wenn - dann": Wenn du das und das erreichen willst, musst du so und so handeln. Diese Imperative teilt Kant wiederum in zwei Gruppen ein. Zur ersten gehören technische Imperative und ihnen entsprechen Regeln der Geschicklichkeit. Sie haben ihre Voraussetzung in den Naturwissenschaften, deren Einsichten in vielen Fällen in Technik umgesetzt werden, so wie etwa chemisches Wissen zur Herstellung von Medikamenten benutzt werden kann. Regeln der Geschicklichkeit sind eben Anweisungen dafür, wie man ein technisches Ziel erreicht: Wenn du ein Präparat mit der Wirkung x auf den Patienten herstellen willst, musst du die Stoffe v, z und y mischen. Solche Regeln
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Die Ethik Kants
sind nach Kant ethisch neutral; ein Giftmischer mit Mordabsichten kann ihnen genauso gut folgen wie ein Arzt. Die zweite Form hypothetischer Imperative nennt Kant pragmatische6 Imperative und ihnen entsprechen Ratschläge der Klugheit. Ihre Voraussetzung ist, dass alle Menschen faktisch nach Glückseligkeit im Sinne von Bedürfnisbefriedigung bzw. Wunscherfüllung streben. „Klugheit" ist die Übersetzung des lateinischen „prudentia", das wiederum eine Wiedergabe des griechischen „phronesis" ist. Glückseligkeit entspricht der eudaimonia, und somit beschreibt Kant hier in gewisser Weise die klassisch-griechische (und die thomistische) Ethik. Nur ist nach seiner Meinung überhaupt nicht von Ethik die Rede! Die Ethik drückt sich nämlich nach Kant in einem ganz anderen Typus von Imperativen aus, dem von ihm so genannten kategorischen. Der kategorische Imperativ gebietet unbedingt, d.h. ohne ein „wenn". Falls es einen solchen Imperativ gibt, muss seine Gültigkeit unabhängig von allen Zwecken, nach denen wir handeln, feststehen. Da nun die Regel — neben dem Zweck - das andere entscheidende Element einer Handlung ist, muss das Kategorische des ethischen Imperativs mit der Art zu tun haben, wie wir nach Regeln handeln. Normalerweise folgen wir beim Handeln, so Kant, Maximen, d.h. Regeln, die jeder Einzelne jeweils für sich zu Normen macht. Das kann z.B. die Norm sein „Ich will immer anderen Hilfe leisten, wo ich kann". Ein unbedingter Imperativ kann sich nun nach Kant nicht darauf beziehen, was unsere Handlungsregeln beinhalten, sondern nur darauf, welche Form sie haben müssen. Der Imperativ kann nicht eine unserer Maximen sein — etwa diejenige, die wir als die bedeutungsvollste betrachten - , sondern er muss eine Forderung an die Form unserer Maximen sein. So kommt Kant zu dem Ergebnis, dass der kategorische Imperativ folgendermaßen lauten muss: Handle nur nach derjenigen Maxime, [von der] 7 du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde. ( G M S , A 52). 6
7
Kant benutzt den Ausdruck „pragmatisch" etwas anders als heute üblich. Er weist darauf hin, dass man Verhaltensregeln, die ein Staat aus Rücksicht auf das allgemeine Wohl trifft, „pragmatisch" nennt. In gleichem Sinne sagt er, eine Schilderung der Vergangenheit sei pragmatisch, wenn sie die Leser klüger mache, d.h. sie belehre, wie sie zu eigenem Vorteil handeln sollten. Ich folge hier der in der Akademieausgabe vorgeschlagenen Lesart.
Der kategorische Imperativ
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Der kategorische Imperativ schreibt nicht einfach vor, dass ich anderen helfen soll. Er sagt, dass ich anderen deshalb helfen soll, weil ich wollen kann, dass die Maxime „Ich will immer anderen Hilfe leisten" eine für alle Menschen verbindliche Vorschrift sei. Ich habe versucht anzudeuten, wie Kant Schritt ftir Schritt zur Formulierung des kategorischen Imperativs gelangt. Wir müssen jetzt fragen, was sich eigentlich hinter der sehr abstrakt erscheinenden Formel verbirgt. Kants Antwort auf diese Frage lautet: die Freiheit des Menschen. Wenn ich etwas nur deshalb tue, weil die Regel, nach der ich handle (die Maxime), allgemeine Geltung haben kann, handle ich ausschließlich auf Grund der Vernunft. Allgemeingültigkeit ist nämlich nach Kant neben der Notwendigkeit das wesentlichste Kennzeichen einer Vernunftleistung. Wenn ich aber ausschließlich auf der Grundlage der Vernunft handle, bin ich in meinem Handeln frei. Jedes andere Handeln ist durch sinnliche oder leibliche Regungen wie Wünsche und Begierden bedingt, also durch Neigungen. Aber solcherart bedingte Handlungen sind Teil des allgemeinen kausalen Zusammenhanges der Natur, und der Mensch als ihr Subjekt ist nicht frei. Unser Bewusstsein vom kategorischen Imperativ ist somit ein Zeugnis davon, dass wir auf eine andere Weise handeln können als angetrieben durch Neigungen. Dann ist aber der Mensch nicht nur ein Naturwesen, das den deterministischen Kausalketten der Natur unterworfen ist. Hier bekommt der kantische Naturbegriff seine ethische Bedeutung. Kants Theorie der Erkenntnis beinhaltet wie erwähnt, dass die Natur Inbegriff der Erscheinungen ist. Wenn aber etwas Erscheinung ist, können wir uns zumindest denken, dass ihm ein „Ding an sich" entspricht. Der kategorische Imperativ — das Moralgesetz zeigt, dass es im Falle des Menschen nicht nur ein bloßer Gedanke ist, denn das „du sollst" des Imperativs setzt ein „du kannst" voraus, d.h.: Du bist ein freies Wesen und gehörst folglich auch der intelligiblen Welt an.8 8
Die Form der Realität, die dem „Ding an sich" zukommt, nennt Kant „intelligibel", weil sie nur der Vernunft und nicht dem Vermögen des empirischen Erkennens zugänglich ist. Dasselbe liegt in seinem Ausdruck „Noumenon": das nur dem nous Zugängliche.
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Die Ethik Kants
Kant drückt den Sachverhalt auch so aus, dass der kategorische Imperativ die Realität der praktischen Vernunft bezeugt. Dieses Faktum ist flir ihn letzten Endes rätselhaft, und dieses Rätselhafte ist im Grunde der eigentliche Kern seiner Ethik. Ihr Grundmotiv ist die Verwunderung des Menschen darüber, dass er nicht nur ein sinnliches Naturwesen ist, sondern auch ein freies Vernunftwesen. Die Freiheit äußert sich darin, dass wir nach einem Gesetz - dem Imperativ - handeln können, das wir uns selbst auferlegt haben. Wir sehen, dass Kant diejenige philosophische Analyse des Begriffs der Freiheit gegeben hat, nach der Rousseau suchte.
7.4 Der Mensch als Zweck Wie soll der Mensch nun konkret dem kategorischen Imperativ folgen? Hier entstehen offensichtlich Schwierigkeiten, denn der kategorische Imperativ gibt ja gerade keine konkreten Handlungsanweisungen. Genau dieser Sachverhalt hat einen der wichtigsten Einwände gegen Kants Ethik hervorgerufen, nämlich dass sieformalistisch sei: Ihr Grundprinzip sei rein formal und enthalte keine inhaltlichen Anweisungen. Andere interpretieren Kant dahingehend, dass es ihm um Universalisierbarkeit gehe, d.h. dass der kategorische Imperativ ein Kriterium höherer Ordnung sei, nach dem wir unsere konkreten Handlungsimpulse zu prüfen hätten. Kant nennt in der Tat eine Reihe von Beispielen, die scheinbar in diese Richtung weisen. Wenn ich z.B. versucht bin, dieses eine Mal zu lügen, obwohl ich im Grunde vom Lügen Abstand nehme, bringt mich der Imperativ dazu, mich eines Besseren zu besinnen. Er zwingt mich nämlich, die Frage zu stellen: Kannst du wirklich wollen, dass jeder in einer entsprechenden Situation löge? Wahrscheinlich komme ich zu dem Ergebnis, dass man dann niemandem mehr vertrauen könnte. Es kann jedoch nicht Kants eigentliche Meinung sein, der kategorische Imperativ habe nur die Funktion eines solchen Kriteriums. Wenn nämlich die Ethik letzten Endes ausschließlich auf ein Prinzip der Universalisierbarkeit hinausläuft, gäbe es kein moralisches Argument gegen eine Person, die fortwährend löge mit der Begründung, dass sie nichts dagegen hätte, wenn alle anderen dasselbe täten.
Der Mensch als Zweck
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Bei genauerer Betrachtung des kantischen Gedankengangs zeigt sich, dass auch der Formalismus-Einwand nicht zutrifft. Der kategorische Imperativ tritt nämlich nicht nur in der bis jetzt besprochenen Form auf, die wir die Universalisierungs-Formel nennen können. In seiner weiteren Überlegung kehrt Kant zu der Eigenschaft der vernünftig gewollten Handlung, immer auf einen Zweck gerichtet zu sein, zurück. Wir haben gesehen, dass die Handlung, soll sie im strengen Sinne ethisch sein, nicht vom Zweck bestimmt oder motiviert sein darf. Dies gilt wohlgemerkt, wenn es sich um Zwecke dreht, die der Einzelne mehr oder weniger willkürlich auswählt. Als Beispiel kann der schon genannte Fall dienen, dass ich einem anderen Menschen Hilfe leiste mit dem Zweck, als ein wahrer Wohltäter dazustehen. Nun ist es aber denkbar, dass es etwas gibt, was nicht durch unsere willkürliche Wahl zum Zweck gemacht wird, sondern die Beschaffenheit eines Zweckes an sich hat. In diesem Fall müsste jeder es zum Zweck seiner Handlungen machen, und dieser Zweck würde per definitionem mit der im Imperativ enthaltenen Forderung nach Allgemeinheit übereinstimmen. Nun gibt es nach Kant tatsächlich ein solches „Etwas", nämlich den Menschen selbst als Vernunftwesen. Als solches ist der Mensch eine Person, d.h. ein Wesen, das nicht als ein Mittel zur Erreichung von etwas anderem behandelt werden kann. Im Unterschied hierzu ist eine Sache etwas, was nur als Mittel existiert, indem es nur dadurch einen Wert hat, dass jemand es für etwas benutzt. Anders ausgedrückt: Eine Person hat Würde und nicht einen Preis. Wenn es für etwas einen Preis gibt, kann das Betreffende immer durch ein anderes ersetzt werden, das denselben Preis hat. Das Dasein des Menschen hat somit nach Kant eine solche Beschaffenheit, dass es nicht zu einem Mittel reduziert werden kann, sondern es ist immer ein Zweck an sich. Dann muss aber die Anerkennung des Menschen als Zweck an sich per definitionem mit dem kategorischen Imperativ übereinstimmen, ja dieser kann geradezu folgendermaßen formuliert werden: Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest. (GMS, A 66f.).
Kant ist davon überzeugt, dass dies nicht ein neuer Imperativ, sondern lediglich eine andere Formulierung des einen kategorischen Impera-
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Die Ethik Kants
tivs ist. Wir können sie die Zweck-Formel nennen; sie ist mit einem technischen Ausdruck mit der Universalisierungs-Formel äquivalent. Der Grund, weshalb Kant dieser Auffassung sein kann, ist klar: Beide Formulierungen drücken den Charakter des Menschen als freies Vernunftwesen aus. Wenn wir aber die Zweck-Formel berücksichtigen, ist der kategorische Imperativ schon wesentlich weniger formalistisch. Die Forderung, dass wir einen Menschen immer auch als Zweck an sich behandeln müssen, impliziert ja einige ganz konkrete Verbote. So widerspricht ihr etwa jede Verdinglichung und Instrumentalisierung von Menschen wie etwa die Sklaverei.
7.5 Liebe und Achtung Wenn wir die Frage stellen, was Kants Ethik darüber sagt, wie wir konkret handeln sollen, müssen wir uns vor allem klarmachen, dass wir keine erschöpfende Antwort aus der „Grundlegung" oder der „Kritik der praktischen Vernunft" erwarten dürfen. In diesen Schriften will Kant ja gerade untersuchen, auf welcher Grundlage wir intuitiv eine Reihe von Pflichten anerkennen. Wie sich erwiesen hat, ist diese Grundlage nach Kant der Charakter des Menschen als freies Vernunftwesen. Weil er ein solches ist, verhält sich der Mensch zu sich selbst, und in diesem Selbstverhältnis ist die Tatsache des Verpflichtetseins begründet: Der Mensch (...) seiner Persönlichkeit nach, d.i. als mit innerer Freiheit begabtes Wesen (homo noumenon) gedacht, ist ein der Verpflichtung fähiges Wesen und zwar gegen sich selbst (die Menschheit in seiner Person) betrachtet ... (MS, A 65).
Das Zitat stammt aus der Metaphysik der Sitten, in der Kant seine vernunft-kritischen Untersuchungen anwendet, um diejenigen konkreten Pflichten aufzuzählen, die sich aus dem kategorischen Imperativ ergeben. Um den Übergang von der Kritik der praktischen Vernunft zur konkreten Tugendlehre zu verstehen, müssen wir wieder bedenken, dass eine Handlung nach Kant immer auf einen Zweck hin ausgerichtet ist. Wenn wir es mit konkreten Handlungen zu tun ha-
Liebe und Achtung
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ben, müssen wir immer den Zweck berücksichtigen, der mit der Handlung verfolgt wird. Ethik handelt nach Kant von genau denjenigen Zwecken, die zu verfolgen wir verpflichtet sind. Der kategorische Imperativ muss deshalb noch einmal formuliert werden, so dass der Begriff des Zwecks in einer neuen Weise in ihn eingeht: Handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann. (MS, A 30).
Bei der weiteren Darlegung geht Kant wie immer streng systematisch zu Werke, so dass er z.B. zwischen Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere Menschen unterscheidet. Die Pflichten gegen sich selbst können in der Forderung zusammengefasst werden, sich als Vernunftwesen zu respektieren und sich nicht zu einem bloßen Spiel der Neigungen zu degradieren und sich damit zu einer Sache zu machen. Konkret heißt das nach Kant, dass etwa Selbstmord ethisch unstatthaft ist, wobei seine Begründung nicht die traditionell christliche ist, nach der Selbstmord gegen ein göttliches Verbot verstößt. Kants Begründung lautet vielmehr, Selbstmord ist eine Herabwürdigung der Menschheit in der eigenen Person bzw. eine Zerstörung seiner selbst als ethisches Subjekt. Die vornehmsten Pflichten gegen andere nennt Kant Liebespflichten, wobei er unter „Liebe" „tätiges Wohlwollen" versteht. Liebe in diesem Sinn ist immer mit Achtung vor dem anderen Menschen verbunden. Es ist einleuchtend, dass wir nach Kant eine grundlegende Pflicht haben, jedem Menschen Achtung zu erweisen; genau das ist ja der Inhalt des kategorischen Imperativs nach der Zweck-Formel. Warum müssen wir aber anderen Wohlwollen zeigen? In Kants eigener Ausdrucksweise lautet diese Frage: Warum müssen wir das Glück anderer Menschen zum Zweck unseres eigenen Handelns machen? Wir müssen das, so Kant, weil wir selbst unser Glück zum Zweck des Handelns anderer machen: Ich will jedes anderen Wohlwollen (benevolentiam) gegen mich; ich soll also auch gegen jeden anderen wohlwollend sein. (MS, A 120).
Wir sehen hier, dass Kant die Goldene Regel als Ausdruck für die Pflicht, anderen Gutes zu tun, betrachtet, und der weitere Zusammenhang (den ich nicht zitiert habe) zeigt, dass er der Regel denselben
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Die Ethik Kants
Inhalt zumisst wie dem Gebot der Nächstenliebe. Die Begründung dieser Pflicht kann natürlich nur im kategorischen Imperativ liegen, d.h. sie muss beinhalten: „Alle müssen allen Gutes tun". Nur in diesem Fall ist sie streng universell, wobei sie auch die Pflicht sich selbst zu lieben, umfasst. Wir können die Frage nicht näher diskutieren, ob Kants Begründung der Goldenen Regel überzeugend ist. Es soll aber durch ein Zitat gezeigt werden, wie nach Kant Wohltun immer mit Achtung verbunden sein sollte: So werden wir gegen einen Armen wohltätig zu sein uns für verpflichtet erkennen; aber, weil diese Gunst doch auch Abhängigkeit seines Wohls von meinem Großmut enthält, die doch den anderen erniedrigt, so ist es Pflicht, dem Empfänger durch ein Betragen, welches diese Wohltätigkeit entweder als bloße Schuldigkeit oder geringen Liebesdienst vorstellt, die Demütigung zu ersparen und ihm seine Achtung für sich selbst zu erhalten. (MS, A 117).
Das Grundmotiv der kantischen Ethik ist, wie wir gesehen haben, der Mensch als freies Vernunftwesen. Es ist deshalb verständlich, dass diese Ethik anthropozentrisch ist, d.h. dass es in ihr nur Pflichten gegenüber anderen Menschen gibt, wohingegen Pflichten gegenüber nichtmenschlichen Wesen nicht vorkommen. Dieser heute oft kritisierte Sachverhalt bedeutet nicht, dass etwa Tiere und die Natur allgemein nach Kant ethisch völlig bedeutungslos wären. Obwohl er keine Pflichten gegenüber solchen Wesen annimmt, spricht er von Pflichten „in Ansehung anderer Wesen". Solche Pflichten sind jedoch letzten Endes Pflichten gegenüber Menschen. Wenn wir z.B. mit einem Tier, das für Schmerz verursachende Experimente benutzt wird, Mitleid haben, fördert das nach Kant unsere moralische Beziehung zu anderen Menschen. Und wenn wir gegen die Zerstörung der leblosen Natur reagieren, drücken wir eine für die Moralität förderliche „Stimmung" aus, nämlich ein Gefühl der Liebe, das nicht von dem Nutzen des Gegenstandes abhängt. (Vgl. MS,A 107f.).
Achtung und moralisches Gefühl
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7.6 Achtung und moralisches Geflihl Die gerade erwähnten Bemerkungen über Gefühle dürfen nicht so verstanden werden, dass Kant sich der Theorie des „moral sense" anschließt. Er nimmt im Gegenteil von ihr Abstand, und zwar mit der Begründung, dass ethisches Verpflichtetsein immer Notwendigkeit impliziert („du sollst" = „es ist notwendig, dass ..."). Notwendigkeit kann aber nicht von etwas Empirischem, Erfahrbarem wie einem Gefiihl abgeleitet werden. Kant distanziert sich somit von der Theorie des „moral sense" als einer Theorie über die Begründung der Ethik. Dagegen bestreitet er natürlich nicht, dass Gefühle relevant, ja geradezu unentbehrlich in der Ethik sind. Als moralisches Wesen hat jeder Mensch ein Gefühl der Lust, wenn seine Handlungen mit den Gesetzen der Pflicht übereinstimmen. (Vgl. MS, A 35f.). Hinzu kommt, dass nach Kant an das Grundfaktum, dass der Mensch allein aus seiner Vernunft handeln kann, ein Gefühl geknüpft ist, nämlich das Gefühl der Achtung. Diese ist, so Kant, einzigartig, weil sie ein intellektuelles Gefühl ist, da sie ja nicht durch sinnliche Einwirkung verursacht ist, sondern allein durch das Sich-Melden des Moralgesetzes. Gegenstand des Gefühls der Achtung ist in Wirklichkeit der Mensch selbst; die Achtung drückt unser Verhältnis zu dem Intelligiblen in uns aus. Kants Beschreibung der Achtung zeigt, dass bei ihm - wie bei Pico della Mirandola - ein enger Zusammenhang besteht zwischen der Selbstbestimmung (Autonomie) und der Würde des Menschen. Der Mensch hat eine Würde und ist ein Zweck an sich, weil ex ein Vernunftwesen ist, das zur ethischen Selbstbestimmung fähig ist. Diesen Zusammenhang formuliert Kant unmissverständlich: Nun ist Moralität die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann ... Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat. (GMS, A 77).
Dieser Gedanke vom selbstbestimmenden Menschen, der Würde hat und Zweck an sich ist, habe ich oben das Grundmotiv der Moderne genannt. Kant verleiht ihm die vielleicht schönste Zusammenfassung in dem berühmten Schluss der Kritik der praktischen Vernunfr.
156
Die Ethik Kants Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: D e r b e s t i r n t e H i m m e l ü b e r m i r , u n d d a s m o r a l i s c h e G e s e t z i n m i r . (KpV, A 288).
Dass die Würde des Menschen - wiederum wie bei Pico - darin besteht, dass er über die übrige Natur erhaben ist, wird in folgender Passage deutlich: [Das moralische Gesetz] erhebt... meinen Wert, als einer I n t e l l i g e n z , unendlich, durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart ... (A 289).
7.7 Ethik und Religion Der Grundbegriff in Kants Ethik ist, wie mehrmals erwähnt, Autonomie, die Fähigkeit des Menschen, nach Gesetzen zu handeln, die er sich selbst auferlegt hat. Aus diesem Grund ist die kantische Auffassung mit einer religiösen Begründung der Ethik ganz unvereinbar. Eine Pflicht damit zu begründen, sie sei den Menschen von Gott auferlegt worden, ist ganz im Gegenteil mit Heteronomie, d.h. Fremdbestimmung gleichbedeutend. So macht Kants Ethik unumgänglich das Problem deutlich, das im vorigen Kapitel genannt wurde: Ist es überhaupt möglich, den modernen Gedanken vom autonomen Menschen mit der christlichen Grundauffassung zu vereinen, dass ethisches Verpflichtetsein im Gottesverhältnis begründet ist? Bei der Beantwortung dieser Frage im kantischen Kontext muss man sich klarmachen, dass Kant, obwohl er eine religiöse Begründung der Ethik abweist, dennoch einen engen Zusammenhang zwischen Ethik und Religion behauptet. Dieser Zusammenhang zeigt sich bei ihm auf verschiedene Weise. Zum Ersten ist da seine berühmte (und für die Theologie einflussreiche) Lehre vom Postulat des Daseins Gottes. Der Ausgangspunkt dieser Lehre ist die Frage nach dem Stellenwert des Glücks innerhalb der Ethik. Wie wir gesehen haben, ist Kants Ethik nicht eudaimonistisch: Das ethisch Gute kann auf keinen Fall einfach darin bestehen, das Glück zu suchen. Zwar erkennt Kant Regeln zum Erreichen
Ethik und Religion
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des Glücks an, aber sie haben nach ihm nur den Status von hypothetischen Imperativen (vgl. oben S. 148). Das heißt jedoch nicht, dass Kant das Glück sozusagen ethisch disqualifiziert; das Glück ist im Gegenteil einer der Zwecke, zu dessen Erstreben wir verpflichtet sind. Entscheidend ist allerdings — und das liegt schon in der Formulierung des letzten Satzes —, dass das Suchen des Glücks dem Gehorsam gegen den kategorischen Imperativ (der Moralität) untergeordnet sein soll. Letzten Endes ist aber die Vereinigung von Moralität und Glück das äußerste Ziel des ethischen Lebens, das höchste Gut. Diese als höchstes Gut angestrebte Vereinigung muss wohlgemerkt darin bestehen, dass das Glück der Moralität folgt. Nun zeigt unsere Erfahrung jedoch, dass eine solche Vereinigung nicht notwendigerweise eintrifft - vielleicht ist sogar eher das Gegenteil der Fall: Das Glück ist launisch und wird oft eher dem Rücksichtslosen als dem Pflichterfüllenden zuteil. Wenn wir deshalb glauben sollen, dass Moralität und Glück vereinbar sind - u n d darauf beruht der Zusammenhang unseres ethischen Denkens - , müssen wir annehmen, dass es ein höchstes Wesen gibt, das den Weltlauf beherrscht und zwar nach moralischen Gesetzen. Das „Postulat" vom Dasein Gottes ist somit eine von den Bedingungen der Ethik her notwendige Annahme; das Wort bedeutet bei Kant nicht wie in manchen heutigen Sprachen eine willkürliche Behauptung. (Vgl. KpV, A 223-237). Zweitens ist ein Zusammenhang zwischen Ethik und Religion in Kants Definition von Religion gegeben: Religion ist ... das Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote. (Religion, A 215).
Die Auffassung unserer Pflichten als göttliche Gebote fugt der Ethik nichts hinzu; wir kennen ja diese Pflichten in jedem Fall, da sie uns von unserer eigenen Vernunft auferlegt sind. Man könnte den Sachverhalt so ausdrücken, dass Kant die Religion und den Gottesglauben als mit der Fähigkeit des Menschen, ethisch zu handeln, identisch deutet. Dass er das tut, ist nicht überraschend, denn das Menschenbild, auf dem seine Ethik aufbaut — der Gedanke vom Menschen als intelligiblem Wesen — ist letzten Endes ein religiöser Gedanke. Drittens betrachtet Kant das Christentum als höchste Religion, gerade weil es mehr als jede andere eine Moralreligion ist. In der Schrift
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Die Ethik Kants
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunfi deutet Kant denn auch die zentralen Lehrsätze des christlichen Glaubens von seiner eigenen ethischen Theorie her. Er fiigt jedoch hier der Theorie einen wichtigen Begriff hinzu, nämlich denjenigen vom radikalen Bösen. Der Mensch zeige von Natur aus, so sagt er nun, einen unerklärlichen „Hang" zum Bösen, d.h. dazu, nicht dem kategorischen Imperativ gemäß zu handeln. Vor dem Hintergrund dieses Begriffes spricht Kant von Heil und Rechtfertigung, wobei allerdings der das Heil bringende Christus nichts anderes ist, als die in der menschlichen Vernunft enthaltene moralische Vollkommenheit. Man kann somit sagen, dass Kant das Problem der Beziehung zwischen christlicher Ethik und Moderne mit der Aussage zu lösen sucht, das Christentum sei gerade diejenige Religion, die am deutlichsten die Ethik der Autonomie ausdrücke.
7.8 Die Kritik Hegels an Kants Ethik Wie schon angedeutet, lässt sich in Zweifel ziehen, ob es Kant gelungen ist, die Pflicht anderen zu helfen, aus seiner ethischen Theorie her zu begründen. Der Sachverhalt könnte damit zusammenhängen, dass das Menschenbild bzw. die Anthropologie der Kantischen Ethik stark individualistisch ist. Wie wir gesehen haben, ist ein Grundbegriff dieser Anthropologie die Beziehung des Menschen zu sich selbst, also eine Form des Selbstbewusstseins. Nach der Meinung G. W.F. Hegels (1770-1831) macht dies zugleich die Stärke und die Schwäche der Kantischen Ethik aus. Hegel kann sich einerseits Kants Hervorhebung der Pflicht anschließen: ... indem ich [die Pflicht] tue, bin ich bei mir selbst und frei. Es ist das Verdienst und der hohe Standpunkt der Kantischen Philosophie im Praktischen gewesen, diese Bedeutung der Pflicht hervorgehoben zu haben. (Grundlinien § 133).
Mit seiner Analyse des Willens und dessen Verpflichtetseins hat Kant das freie, selbstbewusste Individuum überzeugend dargestellt. Seine Bestimmung des Willens ist jedoch andererseits nach Hegel völlig formalistisch: Es können keine konkreten Pflichten aus ihr abgeleitet werden.
Die Kritik Hegels an Kants Ethik
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Der Hintergrund von Hegels Kritik an Kant besteht darin, dass er grundlegend anders über den Menschen denkt als Kant. Hegel zufolge hat Kant darin recht, dass er das Selbstbewusstsein als entscheidendes Charakteristikum des Menschen hervorhebt. Nach Kant ist aber, so Hegel, der selbstbewusste Mensch ein isoliertes Individuum, und das sei eine Fiktion. Das Besondere am Menschen ist seiner Meinung nach gerade, dass er sich nur dadurch seiner selbst bewusst sein kann, dass er sich zu etwas von ihm ganz Verschiedenem verhält. Ein deutlicher Ausdruck dieses Sachverhaltes ist, dass das Selbstbewusstsein des Einzelnen die Anerkennung von Seiten eines anderen voraussetzt: „Das Selbstbewußtsein i s t . . . nur als ein Anerkanntes" (Phänomenologie IV.A.). Anerkannt werden beinhaltet jedoch, dass der Einzelne in gewisser Weise mit dem anderen eins wird und sich selbst mit dessen Augen sieht. In der Anerkennung erhält der Einzelne seine Identität durch Identifikation mit einem anderen. Das Phänomen des Anerkennens ist damit Ausdruck einer Struktur, die nach Hegel eine jede Form der Wirklichkeit kennzeichnet: die Identität von Identität und Differenz. Diese Struktur ist es, die Hegel Geist nennt. Der Geist hat Hegel zufolge verschiedene Erscheinungsformen: Während er im einzelnen Individuum subjektiver Geist ist, hat er in den unterschiedlichen Formen menschlicher Gemeinschaft den Charakter des objektiven Geistes. Was Hegel zufolge in der Ethik Kants fehlt, ist die Einsicht, dass es für das Leben des Einzelnen wesentlich ist, Gemeinschaften mit anderen anzugehören. In Hegels Ausdrucksweise: Kant hat die Moralität ausgezeichnet dargestellt, es mangelt ihm aber an Sinn für die Sittlichkeit. Diese definiert Hegel in folgender Weise: Die Sittlichkeit ist . . . der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit. (Grundlinien § 142).
Bei Kant könnte es scheinen, als gäbe es den „Begriff der Freiheit" nur für den einzelnen, aus Pflicht handelnden Menschen. Freiheit muss aber auch, so sagt Hegel hier, zur „vorhandenen Welt" werden, d.h. sie muss in derjenigen sozialen Welt eine Realität sein, in der der Einzelne lebt. Die Freiheit soll sozusagen dadurch Fleisch und Blut erhalten, dass sie in den sozialen Ordnungen verkörpert ist, in denen sich das Dasein der Menschen entfaltet. Nach Hegel gibt es primär drei sol-
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Die Ethik Kants
eher Ordnungen: die Familie, die bürgerliche Gesellschaft und den Staat. In der Familie zeigt sich die Sittlichkeit darin, dass die Liebe eine Einheit stiftet zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft. Die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft beinhaltet ihrerseits, dass mehrere Familien sich von einander abgrenzen. Im Zuge dieser Entwicklung wird der einzelne Mensch ein Individuum, das ein nur äußerliches Verhältnis zu anderen hat. Die vollendete Form der Sittlichkeit ist schließlich der Staat; in ihm gibt es eine konkrete Ubereinstimmung zwischen dem Willen des Einzelnen und dem Allgemeinen. Hier komme die Freiheit zu ihrem höchsten Recht. (Vgl. Grundlinien § 257). Hegels Begriff der Sittlichkeit und sein Hervorheben des Staates kann als Versuch gesehen werden, die traditionellen Formen der Gemeinschaft (oikia, polis) unter den Bedingungen der Moderne zu verteidigen. Man muss jedoch die kritische Frage stellen, ob es ihm besser als Rousseau gelungen ist zu zeigen, wie die Freiheit des Einzelnen mit den allgemeinen Gesellschaftsinteressen vereinbar ist. Nichtsdestoweniger ist es das unbestreitbare Verdienst Hegels aufgezeigt zu haben, dass das Dasein als Einzelmensch unlöslich mit der Beziehung zu anderen zusammenhängt. Somit ist in seiner Unterscheidung zwischen „Moralität" und „Sittlichkeit" eine bedeutsame Problematik enthalten. Literatur zu Kapitel 7 Quellen G.W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Herausg. von J. Hoffmeister. (Philosophische Bibliothek). Hamburg 1952. [Phänomenologie] G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Werke Bd. 7. Frankfurt/M. 1986. Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 1785 (A), 1786 (B). [GMS] Kant, I.: Kritik der praktischen Vernunft. 1788 (A) [KpV] Kant, I.: Die Metaphysik der Sitten. 1797 (A), 1798 (B) [MS] Kant, I.: Uber den Gemeinspruch: Das magin der Theorie richtigsein, taugt aber nicht für die Praxis. 1793 (A) [Gemeinspruch] Kant, I.: Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft. 1793 (A), 1794 (B) [Religion]
Literatur zu Kapitel 7
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Sekundärliteratur Beck, L.W. (1974): Kants „Kritik der praktischen Vernunft". Ein Kommentar. Ins Deutsche übers, v. K.-H.Ilting. München. Bukdahl, J.K. (1986): Dialektische Einheit. Eine Vergegenwärtigung der Philosophie Hegels. Leiden. Gulyga, A. (1981): Immanuel Kant. Frankfurt. Höffe, O. (1996): Immanuel Kant. München. Paton, H.J. (1962): Der kategorische Imperativ. Eine Untersuchung über Kants Moralphilosophie. Berlin. Sullivan, R.J. (1989): Immanuel Kant's Moral Theory. Cambridge.
Kapitel 8. Liberalismus und Utilitarismus Normalerweise nennt man die Theorie von Immanuel Kant nicht „Liberalismus", obwohl Freiheit sein Grundbegriff ist. Mit Liberalismus werden eher verschiedene Denkarten bezeichnet, die vor allem in England entstanden. Liberalismus ist einer der wichtigsten sozialethischen Begriffe unserer Zeit, nicht zuletzt nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Staaten. Wir werden uns in diesem Kapitel mit klassischen Formen des Liberalismus beschäftigen. Außerdem werden wir auf die andere klassische ethische Theorie eingehen, die in England entwickelt wurde, auf den Utilitarismus.
8.1 Ökonomischer
Liberalismus
Die Freiheit, die der Liberalismus verteidigt, kann verschiedene Formen haben, deren wichtigsten die ökonomische und die politische Freiheit sind. Auch flir die Ethik ist die Verteidigung der ökonomischen Freiheit relevant, und deshalb werden wir mit ihrer klassischen Ausformung bei Adam Smith Bekanntschaft machen. Es ist jedoch ratsam, kurz einen anderen Gründer des Liberalismus zu nennen, nämlich John Locke (1632-1704). Locke kann als Verbindungsglied zwischen Hobbes und Adam Smith betrachtet werden. Sein wesentlichster Beitrag zum Liberalismus ist wohl das gedankliche Verbinden von individueller Freiheit und Eigentumsrecht. Bei Hobbes fanden wir Ansätze zu demjenigen Begriff von Freiheit, der den Liberalismus definiert. Ihm zufolge haben die Menschen im Naturzustand die Freiheit, ihr Uberleben mit allen Mitteln zu sichern. Wir können das konkrete Freiheit nennen, im Unterschied zu Kants transzendentalphilosophischem Begriff von Freiheit. Locke versucht, eine Gesellschafts- und Staatstheorie zu begründen, indem er wie Hobbes von einem Naturzustand ausgeht. Im Unterschied zu
Ökonomischer Liberalismus
163
Hobbes hat er jedoch eine biblische Grundlage für die Schilderung des Naturzustandes. 1 Eine der traditionellen Fragen der christlichen Ethik lautet, ob nicht gemeinschaftliches Eigentum die beste Übereinstimmung mit der Schöpfungsordnung darstellt. W i r sahen, wie Thomas von Aquin das Problem benennt. Bei Locke ist es der Ausgangspunkt für die Ausformung der Theorie vom privaten Eigentumsrecht. Nach Locke sind alle Menschen im Naturzustand frei und gleich und von der Aufrechterhaltung des Lebens erfüllt. Dazu hat der Schöpfer „den Menschenkindern die Erde gegeben" (Psalm 115,16). Aber bedeutet das nicht, dass die Erde und all ihre Güter (Pflanzen, Tiere, Land) allen gemeinsam gehören? Widerspricht das Privateigentum nicht dem Naturzustand? Nein, sagt Locke, ganz im Gegenteil. Er nennt zwei Argumente: (i) Gott hat den Menschen die Erde zum Gebrauch gegeben; aber wir können nichts benutzen, ohne es zuerst zu besitzen sogar der wilde Indianer muss, wenn er eine Frucht pflückt, sie zuerst zu einem Teil seiner selbst machen, auf den niemand anders ein Recht hat, er muss sie zu seinem Eigentum machen (Locke 1977, § 26). (ii) Jeder Mensch ist mit einem Eigentum erschaffen, nämlich mit seiner eigenen Person und seinem Körper. Deshalb hat jeder auch das Recht, das Resultat seiner Hände Arbeit zu besitzen. Ein Mensch kann die Schöpfung nicht ausnutzen, ohne seine eigene Arbeitskraft einzusetzen und damit etwas zu schaffen, was ihm gehört. Es ist also die Arbeit, die einen Teil der gemeinsamen Natur in etwas verwandelt, worauf der Mensch ein „persönliches Recht" hat. (§ 28). Das private Eigentumsrecht gilt schon im Naturzustand. Aber Locke meint wie Hobbes, dass die Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt eingesehen haben, dass sie eine „civil society" schaffen und einen Teil ihrer Macht einem Staat oder einer Regierung übertragen müssen. Aber ein rechtmäßiger Staat kann Locke zufolge niemals absolutistisch sein. Denn eine der vornehmsten Aufgaben des Staates ist es, das Recht des Individuums auf privates Eigentum zu schützen. Damit formuliert Locke die klassische Problemstellung des Liberalismus: die Begrenzung der Staatsmacht aus Rücksicht auf den Schutz der individuellen Rechte. 1
Locke ist von dem Theologen Richard Hooker ( 1 5 5 4 - 1 6 0 0 ) und seinem
Werk The Laws of Ecclesiastical
Policy beeinflusst.
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Liberalismus und Utilitarismus
A d a m Smith ( 1 7 2 3 - 1 7 9 0 ) beginnt seine Karriere als Universitätslehrer: 1751 wird er Professor für Logik in Glasgow und 1752 Professor für Moralphilosophie am gleichen Ort. Neben seiner berühmtesten Schrift The Wealth of
Nations schrieb er noch ein Hauptwerk:^ Theory of Moral Sentiments (1752). In seinen Vorlesungen beschäftigt er sich außer mit Ethik u n d Ökonomie hauptsächlich mit natürlicher Theologie und Jura.
Smith steht in freundschaftlichem Verhältnis sowohl zu Hume als auch zu Hutcheson. Als Ethiker gehört er denn auch zu den Befürwortern der Moral-Sense-Theorie. Er schließt sich also dem Standpunkt an, dass die Auffassung von Gut und Böse nicht auf der Vernunft, sondern auf „immediate sense and feeling" beruht. Er weist jedoch die Existenz eines „moral sense" als eines besonderen, von anderen getrennten Gefühls ab. Und in einem wichtigen Punkt kritisiert er Hutcheson: Dieser behauptet, dass Eigenliebe niemals eine Tugend sein kann. Smiths gegensätzlicher Gesichtspunkt verkörpert eine der Thesen in Wealth of Nations, die aus einem ethischen Blickwinkel interessant sind. Im Folgenden will ich einige wichtige Gedankengänge aus diesem Werk nennen, und zwar aus dem 1. Buch (Kap. 1 und 2) und aus dem 4. Buch (Kapitel 2). Obwohl Smith Moralphilosoph ist, versucht sein Buch zu erklären, wodurch materieller Wohlstand (opulence) in einer Gesellschaft verursacht wird. Wie aus dem 1. Kapitel hervorgeht, betrachtet er Arbeitsteilung als eine der wichtigsten Ursachen: Sie erhöht die Produktivität des einzelnen Arbeiters.2 In engem Zusammenhang mit der 2
Arbeitsteilung bedeutet nach Smith, dass die Herstellung eines Gegenstandes, die im traditionellen Handwerk in einem Prozess von einem Mann ausgeführt wurde, nun aufgeteilt wird in eine Reihe spezialisierter Teilprozesse, von denen jeder einem einzelnen Mann überlassen wird. Eine gute Illustration dafür ist seine Schilderung der Nadelmanufaktur. Die Arbeitsteilung ist im Übrigen ein gutes Beispiel für die Rationalisierung, die Max Weber zufolge ein Grundzug der modernen europäischen Zivilisation ist. (Vgl. oben S. 117). Smiths Schilderung der Manufakturarbeit veranschaulicht auch, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse sich im Verhältnis zu Luthers Voraussetzungen drastisch geändert haben. Luther geht von einer statischen Gesellschaft mit festen sozialen Rollen („Beruf') aus, wo Smith eine dynamische Entwicklung schildert, die wesentliche Veränderungen z.B. in der Art der Arbeit mit sich fuhrt.
Ökonomischer Liberalismus
165
Arbeitsteilung hebt Smith die Rolle der Maschinen hervor: Er lebt in einer Epoche, in der die Technik beginnt, die Lebensbedingungen grundlegend zu prägen. Smith stimmt mit den Vertrags-Theoretikern in dem einen Punkt überein, dass er versucht, bestimmte Merkmale, die er in der (zivilisierten) Gesellschaft vorfindet, aus der menschlichen Natur zu erklären. Wiederum ist zu bedenken, dass er einen einzelnen Aspekt der gesellschaftlichen Wirklichkeit erklären will: den ökonomischen. Darum hebt er auch nur ein einzelnes Merkmal der menschlichen Natur hervor: ... d[en] Hang zu tauschen, zu handeln und eine Sache gegen eine andere auszuwechseln. (Smith 1923/1, 17).
Diese Fähigkeit hängt für Smith mit der „Fähigkeit zu denken und zu sprechen" zusammen (sie ist eine Form des kommunikativen Handelns). Sie impliziert die Begriffe Eigentum und Tausch. „Dies ist mein, jenes dein; ich bin willens, dies für jenes zu geben" (a.a.O., 17f.).
Die Ubereinstimmung mit Hobbes und Rousseau kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass Smith das Handeln als eine Form von Vfr/ragyschließung betrachtet. Für ein besseres Verständnis von Smiths Auffassung des ökonomischen Lebens ist folgende Überlegung entscheidend: ... der Mensch (...) braucht fortwährend die Hilfe seiner Mitmenschen, und er würde diese vergeblich von ihrem Wohlwollen allein erwarten. Er wird viel eher zum Ziele kommen, wenn er ihre Eigenliebe zu seinen Gunsten interessieren und ihnen zeigen kann, dass sie selbst Vorteil davon haben, wenn sie fiir ihn tun, was er von ihnen haben will. Wer einem anderen einen Handel anträgt, macht ihm den folgenden Vorschlag: Gib
mir, was ich will, und du sollst haben, was du willst, — das ist der Sinn jedes
derartigen Anerbietens; und so erhalten wir voneinander den bei weitem größeren Teil der guten Dienste, die wir benötigen. (A.a.O., 18. Meine Hervorh.).
Der hervorgehobene Satz zieht die Aufmerksamkeit auf sich, da er an die Goldene Regel erinnert. Die Ubereinstimmung ist jedoch nicht vollständig. Die Goldene Regel ist eine Regel dafür, wie ich gegenüber
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Liberalismus und Utilitarismus
anderen handeln soll. Smiths Satz hingegen ist eine begründete Forderung an andere. Die Begründung besteht im Versprechen der Gegenleistung. Man könnte also sagen, dass Smith hier eine Regel für die gegenseitige Berücksichtigung des Eigennutzes formuliert (Der eine Dienst ist den anderen wert). Der wichtigste Gedankengang bei Smith - von einem ethischen Blickwinkel aus gesehen — ist jedoch der, den er durch die Metapher von der unsichtbaren Hand ausdrückt. Nochmals müssen wir den ökonomischen Zusammenhang berücksichtigen, aus dem heraus er im IV. Buch dieses Bild benutzt. Das Thema, welches er behandelt, ist das jährliche Einkommen der Gesellschaft, das nach Smith mit der jährlichen Produktion gleichgesetzt werden kann. Da der einzelne ökonomische Akteur aus Eigeninteresse (Profit) zur Erhöhung der nationalen Produktion beiträgt, trägt er damit automatisch zum gemeinsamen ökonomischen Wohlstand in der Gesellschaft bei. Die entscheidenden Formulierungen lauten: Allerdings strebt er in der Regel nicht danach, das allgemeine Wohl zu fördern, und weiß auch nicht, um wieviel er es fördert (...) [er] verfolgt ... lediglich seinen eigenen Gewinn und wird in diesem wie in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, einen Zweck zu fördern, den er in keiner Weise beabsichtigt hatte. (Smith 1923/11, 235).
Die entscheidende Beobachtung ist, dass der ökonomische Akteur ein Handlungsziel (seinen Ertrag zu erhöhen) intendiert (beabsichtigt), und dass sich außerdem ein anderes, unbeabsichtigtes Resultat einstellt, nämlich der Anstieg des gesellschaftlichen Wohlstandes zum Besten aller (the public interest). Zunächst ist es wichtig sich klarzumachen, dass Smith damit ein fundamentales Merkmal menschlicher Handlungen in einer komplexen Gesellschaft hervorhebt. Karen I. Vaughn gibt folgende Darstellung der Theorie der „unsichtbaren Hand". Sie macht zunächst darauf aufmerksam, dass Smith - wie Hobbes — versucht, die Einsichten der modernen Naturwissenschaft auf das Gesellschaftsleben anzuwenden. Wo Hobbes von Galilei beeinflusst ist, ist bei Smith von einer Inspiration durch Newton die Rede. Bei ihm werden die Eigenschaften eines physikalischen Systems (z.B. die Bewegungen der Planeten) durch wenige Prinzipien der Bewegung erklärt (Newtons Gesetze, u.a. das
Ökonomischer Liberalismus
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Gravitationsgesetz). Bei Smith ist Eigenliebe (self-love) „the principle of motion" in der Gesellschaft. Die Theorie selbst ist in drei logischen Schritten aufgebaut: (1) Menschliche Handlungen haben oft unvorhersehbare Konsequenzen für die Handelnden. Das ist nichts Neues, das haben Menschen immer gewusst (man denke z.B. an die griechischen Tragödien). (2) Das Resultat aller unintendierten Konsequenzen ist eine Ordnung 3 , die verständlich ist für das menschliche Bewusstsein, und die so erscheint, als ob sie von einem intelligenten Planer hervorgebracht wurde. (3) Die übergeordnete Ordnung ist für die Teilnehmer auf eine Weise nützlich (beneficial), die sie nicht beabsichtigt hatten, die sie aber nichtsdestotrotz als wünschenswert ansehen. Diese Darstellung von Smiths Gedankengang veranlasst uns, unser Schema vom ethischen Subjekt auf folgende Weise zu modifizieren: intendiertes Subjekt
Handlung
Ziel
(nicht-intendierte) —>
Konsequenz
Es liegt nahe zu sagen, dass der Mensch nur für die Handlungen verantwortlich gemacht werden kann, die er intendiert: Kann man für unvorhergesehene Konsequenzen der eigenen Handlungen ethisch zur Verantwortung gezogen werden? Wenn nun tatsächlich nicht-intendierte Folgen Einfluss auf die Lebensbedingungen der Menschen bekommen, wer ist dann für sie verantwortlich?
3
Das, was Vaughn Ordnung nennt, entspricht etwa dem, was man in der modernen Gesellschaftstheorie oft „System" nennt: ein umfassender Zusammenhang mit eigener Entwicklungsdynamik, die teilweise unabhängig ist von den Intentionen der einzelnen Akteure. So kann die moderne Gesellschaft als ein komplexer Zusammenhang einer Menge von Subsystemen gesehen werden. Smith analysiert das ökonomische System. Man spricht außerdem z.B. vom politischen System, vom administrativen System, vom Gesundheitssystem usw. Eine besondere Größe, der viele auch Systemcharakter zusprechen, ist die Technologie.
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Liberalismus und Utilitarismus
Es erheben sich eine ganze Reihe von Fragen an die Theorie von Adam Smith, vor allem zu deren dritter Stufe.4 Zum einen kann man fragen, ob das Resultat der freien Marktwirtschaft wirklich zum Besten aller ist: Garantiert sie aus sich selbst heraus eine gerechte Verteilung der Güter in der Gesellschaft? Oder, anders gesagt: Gibt es nicht einen Konflikt zwischen einem marktwirtschaftlichen und einem ethischen Gesichtspunkt? Zum anderen muss man heutzutage darauf aufmerksam machen, dass das Wachstum, welches die freie Marktwirtschaft gemeinsam mit der industriellen und technologischen Entwicklung beinhaltet, vielfältige Formen von Naturzerstörung mit sich geführt hat. Es könnte also auch ein Konflikt zwischen einem ökonomischen und einem ökologischen Gesichtspunkt bestehen.5
8.2 Sozialethischer
Liberalismus
In seiner Schrift On Liberty (1859) erwähnt John Stuart Mill (18061873) die Lehre vom freien Handel und bemerkt, dass sie auf gleicher Ebene liege wie sein eigenes Anliegen, „das Prinzip der persönlichen Freiheit" („the principle of individual liberty", vgl. Mill 1945, 239). Im Weiteren vergleicht er das ethische Prinzip der Freiheit des Individuums mit dem politischen Recht der freien Meinungsäußerung und der Redefreiheit. Die Gesellschaft muss das Recht jedes Bürgers, frei zu denken und sich zu äußern, respektieren, ebenso das Recht des Einzelnen, seine eigene Lebensführung zu wählen und zu gestalten. Zum Menschsein gehört nämlich Freiheit in der Gestalt der Möglichkeit, sein Leben so zu leben, wie man es selbst für richtig hält. Ein
4
5
Dasselbe gilt für die zweite Stufe. Viele werden heute einwenden, dass einige der Systeme, die die moderne Wirklichkeit prägen, nicht so wirken, als seien sie von einem intelligenten Planer erdacht; sie sind vielmehr undurchschaubar und unkontrollierbar. Im Verhältnis z.B. zu Luther repräsentiert Smith eine säkularisierte Auffassung der Gesellschaft. W o Luther die gesellschaftlichen Ordnungen als Mittel betrachtet, die Gott einsetzt, um dem durch die Sünde bedingten Egoismus zu begegnen, sind die Ordnungen der Gesellschaft für Smith dagegen Resultat von Egoismus und Eigeninteresse.
Sozialethischer Liberalismus
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Mensch entfaltet nicht automatisch seine Fähigkeiten; menschliche Lebensentfaltung setzt vielmehr voraus, dass wir wählen, wie wir leben wollen und welchem Menschenideal wir zu entsprechen streben. Die beste menschliche Lebensführung ist nicht von vornherein gegeben, sie kann nur die beste genannt werden, soweit der einzelne Mensch sie gewählt hat. Da Menschen verschieden sind, sollte in einer Gesellschaft Platz fiir viele verschiedene Lebensformen sein. Nur dadurch kann von „fair play" und einer gerechten Verteilung des Glücks die Rede sein. Menschliches Glück setzt nämlich voraus, dass man sein Leben selbst gewählt hat. Der Einzelne soll „souverän" sein, also über den Teil des Lebens, der ihn selbst betrifft, verfügen. Andere Menschen können die Lebensform des Einzelnen primitiv oder minderwertig finden. Aber der Einzelne muss sich nicht gegenüber anderen verantworten; sie haben kein Recht dazu, ihm seine Lebensweise vorzuwerfen, geschweige denn ihm auf Grund dieser Sanktionen aufzuerlegen: Aber weder eine einzelne Person noch eine Personenzahl hat die Vollmacht, einem anderen reifen Menschen vorzuschreiben, daß er zu seinem Heil etwas anderes mit seinem Leben anfangen solle, als was er selbst fiir richtig hält. (Mill 1945, 214).
Es gibt jedoch eine Grenze der Freiheit, und die ist dort gezogen, wo die Lebensentfaltung des Einzelnen schädlich für andere ist. Aber ist es überhaupt möglich, zwischen dem Gebiet der Freiheit und dem sozialen Bereich zu unterscheiden? Kein Mensch ist ja ein völlig isoliertes Wesen, und auch das, was scheinbar nur den Einzelnen angeht, kann andere beeinflussen. Trotz dieser unbezweifelbaren Tatsachen gibt es jedoch ein Kriterium dafür, wann der Einfluss auf andere ethisch verwerflich ist, nämlich wenn sie dadurch Schaden erleiden. Die Freiheit des Individuums, seine eigene Lebensführung zu wählen, gilt auch, wenn mehrere Individuen sich zusammenschließen. Die Umgebung hat kein Recht, sich darin einzumischen, solange es anderen nicht schadet. Es ist auch zulässig, andere zu beeinflussen, um einen bestimmten Lebensstil zu wählen. Jedoch entsteht ein Problem, wenn man geradezu aus dieser Beeinflussung profitiert. Wie Mill es ausdrückt: Hurerei und Glücksspiel muss die Gesellschaft tolerieren, aber kann sie Zuhälterei und Spielhöllen zulassen? Mill gibt keine Antwort,
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Liberalismus und Utilitarismus
denn diese Beispiele liegen, wie er sagt, genau auf der Grenze zwischen der Privatssphäre des Individuums und der Schädigung anderer. Jedoch ist der Sachverhalt völlig klar in dem Fall, wo eine Verabredung zwischen zwei Individuuen darauf hinaus läuft, dass der eine sich zum Sklaven des anderen macht: Das Prinzip der Freiheit kann nicht den Sinn haben, dass es ihm freistehen soll, nicht frei zu sein. Es heißt nicht Freiheit, jemandem zu erlauben, sich seiner Freiheit zu entäußern. (A.a.O., 248).
Hier ist die Rede vom Missbrauch des Freiheitsprinzips. Das gilt auch für die Fälle, in denen ein Mensch sich die Freiheit nimmt, für andere zu tun, was ihm selbst gefällt, unter Berufung darauf, dass die Anliegen der anderen auch seine sind. Diesen Missbrauch des Freiheitsprinzips sieht Mill primär in der Familie. „Die despotische Macht der Männer über ihre Frauen" ist ein Beispiel dafiir. Sie muss gebrochen werden, indem Frauen dieselben Rechte bekommen, über ihr Leben zu bestimmen, wie Männer. In Bezug auf die Kinder ist es komplizierter. Es ist nach Mill eine der verantwortungsvollsten Handlungen überhaupt, die Ursache der Existenz eines anderen Menschen zu sein, indem man ein Kind in die Welt setzt. Tut man es, ohne die Möglichkeit zu haben, sowohl materiell als auch geistig für das Kind zu sorgen, begeht man ein Verbrechen sowohl gegenüber dem Kind als auch der Gesellschaft. Die Gesellschaft hat ein klares Recht dazu einzugreifen. Das ist keine Einschränkung der Freiheit des Vaters, sondern Vorbeugung einer schädlichen Handlung. Besonders die Ausbildungsmöglichkeiten der Kinder liegen Mill am Herzen. Das liegt in der Grundidee des Freiheitsprinzips selbst begründet. Nur differenzierte Ausbildungsangebote geben Möglichkeiten für verschiedenartige selbstgewählte Lebensformen. Mills Liberalismus erinnert auf vielfältige Weise an die Ethik des Aristoteles. Das Ideal des Menschen ist die Entfaltung seiner höchsten Fähigkeiten („higher faculties"), und diese sind durch seine Natur gegeben („the ideal perfection of human nature"). Trotzdem wird an mehreren Punkten deutlich, dass Mills Denken eine demokratische Industriegesellschaft zum Kontext hat und nicht eine antike Polis. Als erster und wichtigster Punkt gilt: Das gute bzw. gelungene Menschenleben ist das vom Einzelnen selbst gewählte. Zum Zweiten: Es gibt
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mehrere unterschiedliche, ggf. sich widerstreitende Lebensweisen. Zum Dritten: Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass die vom Einzelnen gewählte Lebensführung mit der allgemeinen Auffassung in der Gesellschaft übereinstimmt. Gerade dies ist Mills Hauptproblem: Die Wahl der Lebensweise ist ein Recht, für das der Einzelne kämpfen muss. Mill legt Wert darauf, das Missverständnis zu umgehen, dass die Betonung der Rechte des Individuums gleichbedeutend ist mit der Verteidigung einer selbstsüchtigen Gleichgültigkeit gegenüber anderen. Wie Kant unterscheidet er zwischen Pflichten gegenüber sich selbst und gegenüber anderen. Das Freiheitsprinzip hängt mit dem Erstgenannten zusammen. Was das Letztgenannte angeht, macht er sich zum Fürsprecher für eine „disinterested benevolence". Wir werden nun sehen, was er damit meint.
8.3
Utilitarismus
Wie wir sahen, hat schon Hume vom „größten" Glück gesprochen. Mit dieser Ausdrucksweise nimmt er das zentrale Motiv des Utilitarismus vorweg. Hume spricht obendrein wörtlich von „Utility". Ich werde im Folgenden Grundzüge der ethischen Theorie des Utilitarismus darstellen, ausgehend von John Stuart Mill. Er ist jedoch nicht der Erste, der die Theorie formuliert hat. Als Begründer betrachtet man normalerweise Jeremy Bentham (1748-1832), ein Freund des Vaters von John Stuart Mill, James Mill. Die Urheber des Utilitarismus waren soziale Reformer, die für Verbesserungen der Lebensumstände derer kämpften, die sozusagen Opfer der negativen (von Smith nicht vorausgesehenen) Wirkungen des Industrialismus geworden waren. In der Schrift Utilitarianism (1863) formuliert Mill das ethische Grundprinzip des Utilitarismus („Utility, or the Greatest Happiness Principle") auf folgende Weise: ... Handlungen [sind] in dem Maße moralisch richtig ..., als sie die Tendenz haben, Glück zu befördern, und insoweit moralisch falsch, als sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück zu bewirken. Unter .Glück' [happiness] ist dabei Lust [pleasure] und das Freisein von Unlust [pain], unter .Unglück' [unhappiness] Unlust und das Fehlen von Lust verstanden. (Mill 1976, 13).
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Der ethische Unterschied zwischen Gut und Böse, der der Beurteilung von Handlungen zu Grunde liegt, wird also von Mill durch den Gegensatz von Glück (= Wohlbehagen) und Unglück (= Schmerz) definiert. Ethisch entscheidend ist nicht der Charakter der Handlung in sich selbst; worauf es ankommt, ist vielmehr, ob sie bei der Förderung (tend to promote) von Glück mitwirkt. Mit anderen Worten sind es die Konsequenzen der Handlung, die entscheidend sind für die ethische Beurteilung. Man kann also den Utilitarismus eine eudämonistische Konsequenzethik nennen. Es fehlt uns noch ein entscheidender Bestandteil der Theorie des Utilitarismus: ... die N o r m des Utilitarismus ist nicht das größte Glück des Handelnden selbst, sondern das größte Glück insgesamt ... (a.a.O., 20).
Dieser Gedanke von der größten Summe des Glücks kommt in der populären Wiedergabe des Grundprinzipes des Utilitarismus zum Ausdruck: „Du sollst so handeln, dass sich das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl von Menschen ergibt!" Der Utilitarismus ist also nicht eine Ethik des Egoismus und der Eigenliebe, und Mill behauptet nicht, dass das Resultat automatisch das größtmögliche Glück für die größte Anzahl bedeutet, wenn jeder Einzelne das größtmögliche Glück für sich selbst anstrebt. Er setzt keine unsichtbare Hand der Ethik voraus!6 Es ist entscheidend für Mills Utilitarismus, dass das Handlungsmotiv oder die Gesinnung irrelevant ist dafür, ob die Handlung gut oder böse ist. Man muss, wie er sagt, scharf unterscheiden zwischen 6
Das Prinzip von der Maximierung des Glücks beinhaltet, dass es sich auf „all mankind" erstrecken soll. Doch interessanterweise fiigt Mill hinzu: ... und nicht nur für sie, sondern, soweit es die Umstände erlauben, für die gesamte fühlende Natur. (A.a.O., 21). Wo Hobbes unterstreicht, dass „beasts" nicht ethische Subjekte sein können (siehe oben S. 129f.), deutet Mill an, dass sie ethische Objekte sein können, also Wesen, für die der Mensch ethische Verantwortung trägt. Die utilitaristische Begründung für diese Ausweitung besteht darin, dass Tiere, weil sie fühlen können, auch Schmerzen empfinden und leiden können. - In diesem Zusammenhang ist es möglicherweise relevant zu bemerken, dass im Jahre 1822 eine „Royal Society for the Prevention of Cruelty to Animals" errichtet wurde, das Vorbild für den Tierschutz in anderen Ländern.
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„Handlungsregel" (rule of action) und „Handlungsmotiv" (motive of it) (a.a.O., 32): ... das Motiv [hat] zwar sehr viel mit dem moralischen Wert des Handelnden, aber nichts mit der moralischen Richtigkeit der Handlung zu tun ... (ebd.).
Man kann sagen, dass Mill mit seiner Theorie versucht, ein Prinzip zu formulieren, das Individualethik mit Sozialethik vereint: Das Prinzip gilt sowohl für die Handlung des Einzelnen in nahen Beziehungen, wo nur wenige andere von seiner Handlung berührt sind, als auch z.B. für den Politiker, dessen Beschlüsse Konsequenzen für das Leben einer großen Anzahl von Menschen haben. Und Mill unterstreicht, dass es zur Ausnahme gehört, ein „public benefactor" zu sein, d.h. dass man wirklich wesentlich zum Allgemeinwohl beitragen kann. Weitaus die meisten Handlungen werden aus Rücksicht auf das Glück einer überschaubaren Gruppe gesteuert (siehe S. 32). Damit hat Mill implizit einem wesentlichen Einwand gegen den Gedanken von der Glückmaximierung vorgegriffen: Wie kann ich in einer Handlungssituation wissen, wie viele Menschen von der Handlung betroffen werden? Mill sagt: Nimm Rücksicht auf das, was du überschauen kannst! Eine andere Schwierigkeit des Utilitarismus liegt darin, was man eigentlich näher unter Glück und Wohlbehagen — die die Richtigkeit einer Handlung definierenden Begriffe - verstehen soll. Mill geht auf den Einwand ein, der Utilitarismus sei „a doctrine worthy only of swines": Er definiere das Glück als Zufriedenstellung tierischer Gelüste! Gegen diesen Einwand macht er geltend, dass es sowohl Quantität- als auch Qualitätsunterschiede des Glücks gibt. Vergnügen bedeutet nicht nur Zufriedenstellung sinnlicher Bedürfnisse, sondern der Mensch hat höhere Möglichkeiten der Lebensentfaltung, die die Grundlage für entsprechend höhere Formen von Vergnügen bilden: die Natur zu studieren, sich mit Kunst und Geschichte zu beschäftigen usw. Wer aber hat die Befugnis zur Entscheidung darüber, was eine höhere Form von Vergnügen ist? Das hat nach Mill derjenige, der die verschiedenen Formen von Vergnügen erlebt hat und die einen höher einschätzt als die anderen. In Verbindung mit den höheren Möglichkeiten des Glücks gebraucht Mill den Ausdruck „dignity", aber er sagt bezeichnenderweise,
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dass der Mensch durch die höheren Fähigkeiten einen „sense of dignity" erhält und dass dieser ein Teil des Vergnügens ist. Es ist also nicht wie bei Kant die Rede davon, dass die Würde des Menschen einen absoluten ethischen Imperativ begründet („Du sollst einen Menschen niemals ausschließlich als Mittel benutzen!"). Mill deutet jedoch an, dass es eine Grenze gibt für die Anwendung des utilitaristischen Prinzips. Bei seiner Hervorhebung, dass man nur Rücksicht nehmen muss auf die, welche direkt von einer gegebenen Handlung berührt werden, fugt er hinzu, jeder müsse sich davon überzeugen, ... daß er durch sein Wohltun nicht die Rechte, d.h. die berechtigten und gesetzlich legitimierten Erwartungen anderer verletzt. (A.a.O., 33. Meine Hervorh.).
Die Frage ist allerdings: Welche Rechte haben andere im Verhältnis zu meinen Bestrebungen, das maximale Glück herbeizufuhren? Ist es nur das Recht, glücklich zu werden? In diesem Falle ist nicht die Rede von einer Begrenzung des utilitaristischen Prinzips, sondern nur von einer Präzisierung. In der Schrift On Liberty beantwortet Mill in gewisser Weise selbst einige dieser Fragen. Die Grenze für das Bestreben, andere glücklich zu machen, wird ja dadurch definiert, dass sie selbst das Recht haben, ihre Lebensform zu wählen, soweit es nur sie selbst angeht. Für Mill hängen die ethischen Theorien der beiden Schriften also zusammen. Doch ist es nicht notwendigerweise immer der Fall, dass sozialethischer Liberalismus und Utilitarismus miteinander übereinstimmen.7 Mill über die christliche Ethik In seinem Versuch, den Utilitarismus gegen verschiedene Angriffe zu verteidigen, macht Mill geltend, dass dieser mit dem Gebot der Näch7
Es ist vermutlich der schwerwiegendste Einwand gegen den Utilitarismus, dass dessen Prinzip von der Maximierung des Glücks als ethisches Grundprinzip nicht alleine stehen kann. Maclntyre nennt folgende Beispiele: Was fängt der Utilitarismus mit der Möglichkeit an, dass die Mehrzahl einer Bevölkerung glücklich ist durch den Totschlag von Juden? Oder was, wenn 10 aus einer Gruppe von 12 Personen glücklich sind durch das Foltern der beiden übrigen? Ein Abstandnehmen von solchen Handlungen setzt voraus, dass man ein anderes ethisches Prinzip als dasjenige des Utilitarismus zu Grunde legt. (Vgl. Maclntyre 1984, 218f.).
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stenliebe übereinstimmt. Er tut dies in Zusammenhang mit seiner schon erwähnten Hervorhebung, dass es nicht auf das eigene Glück des Handelnden ankommt: ... das Glück, das den utilitaristischen Maßstab des moralisch richtigen Handelns darstellt, [ist] nicht das Glück des Handelnden selbst, sondern das Glück aller Betroffenen ... Der Utilitarismus fordert von jedem Handelnden, zwischen seinem eigenen Glück und dem der andern mit ebenso strenger Unparteilichkeit zu entscheiden wie ein unbeteiligter und wohlwollender Zuschauer. In der goldenen Regel, die Jesus von Nazareth aufgestellt hat, finden wir den Geist der Nützlichkeit vollendet ausgesprochen. Die Forderungen, sich dem andern gegenüber so zu verhalten, wie man möchte, daß er sich einem gegenüber verhält, und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, stellen die utilitaristische Moral in ihrer höchsten Vollkommenheit dar. (A.a.O., 30). Diese Auffassung erinnert in einem Punkt an diejenige Kants: Das Gebot der Nächstenliebe fordert in idealer, vollkommener Form dasselbe wie die philosophische Ethik, die hier vorgestellt wird. Mill sagt also nicht, dass es keinen Unterschied gäbe zwischen seiner eigenen Schrift und Jesu ethischer Verkündigung. Er betrachtet den Utilitarismus als Mittel, „sich diesem Ideal so weit wie möglich anzunähern" (ebd.). Konkret nennt er zwei Arten, auf welche der Utilitarismus sich dem Ideal der Nächstenliebe nähern kann: (i) durch die Errichtung von Gesetzen und sozialen Verhältnissen, so dass eine Übereinstimmung zwischen dem Glück des Einzelnen und dem Interesse der Ganzheit erreicht wird; (ii) Ausbildung und Meinungsbildung sollen bei jedem Einzelnen einen Sinn für den Zusammenhang zwischen dem eigenen Glück und dem Guten für die Ganzheit hervorrufen. 8 8
Hier zeigt sich Mill als sozialer Reformer. Man kann sagen, dass für ihn der Utilitarismus das Mittel ist, mit dem die Nächstenliebe und ihr Vollkommenheitsideal am besten in praktizierbare Sozialethik umsetzbar sind. Zum sozial-reformerischen gehört bei Mill auch sein Fortschrittsglaube. Er ist davon überzeugt, dass die Armut, unter der die Menschen leben, abgeschafft werden kann, u.a. mit Hilfe von Ausbildung und Wissenschaft. Die folgende Passage gibt einen guten Eindruck des Optimismus, der an den Utilitarismus geknüpft ist: Armut, insoweit sie Leiden bedeutet, kann durch kluge Vorkehrungen seitens der Gesellschaft sowie durch Voraussicht und Vernunft seitens der
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Einer der Einwände, zu denen Mill Stellung nimmt, ist der, dass der Utilitarismus eine gottlose Doktrin sei. Dazu sagt er, diese Frage hänge davon ab, welche Gottesauffassung man hat - genauer gesagt, wie man das Verhältnis zwischen Gott und dem Begriff des Guten betrachtet. Mill nennt drei Möglichkeiten: (i) Gott hat seine Geschöpfe hervorgebracht mit dem Ziel, dass sie glücklich werden; ist das wahr, dann ist der Utilitarismus religiöser als jede andere ethische Lehre, (ii) Das oberste Moralgesetz ist Gottes offenbarter Wille; dem kann sich der Utilitarist ausgezeichnet anschließen in der Annahme, Gott sei gut, denn dann fordert er eben „Utility in a supreme degree". (iii) Gott hat keine präzise ethische Vorschrift offenbart, aber die Offenbarung beinhaltet, dass die Menschen einen Geist bekommen haben, so dass jeder von ihnen herausfinden kann, was die rechte Handlungsweise ist; in diesem Fall ist eine ethische Theorie nötig, die deuten kann, was Gottes Wille ist, und zu diesem Ziel ist der Utilitarismus so gut wie jede andere ethische Auffassung. (A.a.O., 37f.). Was man auch von diesen Überlegungen halten mag, so zeigen sie meiner Meinung nach, dass es unberechtigt wäre zu behaupten, der Utilitarismus John Stuart Mills widerspräche grundsätzlich der Ethik der christlichen Nächstenliebe. Literatur zu Kapitel 8 Quellen
Locke, J. ( 1 9 8 0 ) : Second Treatise of Government. Edited with an Introduction, by C.B. Macpherson. Indianapolis. Locke, J. ( 1 9 7 7 ) : Zwei Abhandlungen über die Regierung. Ubers, v. H.J. H o f f mann. Hrsg. u. eingel. v. W . Euchner. Frankfurt. Mill, J.S. ( 1 9 8 5 ) : Utilitarianism. Ed. M a r y W a r n o c k . Glasgow. Mill, J.S. ( 1 9 7 6 ) : Der Utilitarismus. Übers., A n m . u. Nachw. v. D. Birnbacher. Stuttgart.
Individuen gänzlich aus der Welt geschafft werden. Selbst jener hartnäckigste Widersacher, die Krankheit, läßt sich durch körperliche und geistige Erziehung und durch Maßnahmen zur Bekämpfung schädlicher Einwirkungen auf ein Minimum reduzieren; und das Fortschreiten der Wissenschaften verspricht für die Zukunft einen noch eindeutigeren Sieg über diesen schrecklichen Feind. (A.a.O., 26f.).
Literatur zu Kapitel 8 Mill, J.S. (1945): Über die Freiheit, Grarowsky. Zürich.
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Übers, u. m. Einl. u. Komm. hrsg. v. A.
Smith, A. (1994): An Inquiry Into the Wealth of Nations. Ed. with an Intr., Notes, Marginal Summary, and Eni. Index by E. Cannan. New York.
Smith, A. (1923). Eine Untersuchung über Natur und Wesen des Volkswohlstandes. Bd. I-II. Jena.
Sekundärliteratur Maclntyre, A. (1984): Geschichte der Ethik im Überblick. Vom Zeitalter Homers bis zum 20. Jahrhundert. Meisenheim. Vaughn, K.I. (1987): »Invisible hand«, in: The New Palgrave.
Economics, vol. 2. London.
A Dictionary
of
Kapitel 9. Subjektivität und Ethik In Deutschland hat die Philosophie Kants eine äußerst produktive Entwicklung in Gang gesetzt. Die maßgebliche Richtung, die daraus resultierte, nennt man „Deutscher Idealismus". Seine wichtigsten Vertreter sind Fichte, Schelling und Hegel, auf die jedoch hier nicht näher eingegangen werden soll, mit Ausnahme dessen, was über Hegel in Kapitel 7 gesagt wurde. Es soll nur daran erinnert werden, welcher Grundgedanke bei Kant eine so große Wirkung gehabt hat. Es war der Gedanke, dass das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, präziser gesagt das Selbstbewusstsein, dasjenige Grundphänomen ist, von dem aus alle anderen Phänomene — sowohl in der Erkenntnis als auch in der Ethik - verstanden werden müssen. Da ein enger Zusammenhang zwischen dem Selbstbewusstsein und der Tatsache besteht, dass der Mensch ein Subjekt ist, können wir auch sagen, dass es die Subjektphilosophie Kants gewesen ist, die die Entwicklung in Gang gesetzt hat. Der deutsche Idealismus war eng mit der Romantik als philosophischer und ästhetischer Richtung verbunden. In dem fruchtbaren Feld zwischen Kant, dem deutschen Idealismus und der Romantik finden wir zwei Denker, die als Philosophen und Theologen zugleich bedeutsam waren: Friedrich D.E. Schleiermacher (1768-1834) und Seren Kierkegaard (1813-1855). Sie tragen beide zum philosophischen Subjektdenken bei und geben dem Subjektbegriff einen entscheidenden Stellenwert in ihrer Theologie. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf ihre Ethik.
9.1
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Es ist Schleiermacher (Schi.) nicht gelungen, seine beiden theologischen Hauptwerke, Uber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799) und Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen
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Kirche im Zusammenhange dargestellt (CG, 1 8 2 1 - 2 2 ) durch die Herausgabe seiner Ethik zu ergänzen. Die wichtigsten Quellen zur Kenntnis seiner philosophischen und theologischen Ethik sind daher Entwürfe ftir seine Vorlesungen in Halle ( 1 8 0 4 - 1 8 0 6 ) und an der neuen Universität in Berlin (von 1810).
Schl.s Ethik, sowohl die theologische als auch die philosophische, kann als Versuch betrachtet werden, die klassische Auffassung, d.h. jeweils diejenige der griechischen Philosophie und des Neuen Testamentes, unter den Bedingungen seiner Gegenwart darzustellen, so wie diese in der idealistischen Philosophie mit ihrem Hervorheben des menschlichen Subjektes formuliert wurde. Dass das Subjektdenken eine entscheidende Rolle im Denken Schl.s spielt, kann man an seiner berühmten Bestimmung des Gefühls der Frömmigkeit sehen, ... daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind. (CG §4).
Das religiöse Gefühl der Abhängigkeit ist eine Form des menschlichen Selbstbewusstseins. Einer seiner Grundzüge ist, dass wir uns zwei Aspekten unserer selbst bewusst sind: Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit. Aber noch fundamentaler ist das Bewusstsein der Abhängigkeit von etwas, was Ursprung sowohl unserer Empfänglichkeit als auch unserer Selbsttätigkeit ist (Gott). Die Frömmigkeit ist nun nicht ein Gefiihl des Menschen als isoliertes Individuum, sondern im Gegenteil durch den zusätzlichen Grundzug geprägt, dass der Mensch nach Gemeinschaft mit anderen strebt. In unserem Bewusstsein unterscheiden wir weiter zwischen Wissen und Wollen. Wie Kant betrachtet Schi. Wissen als ein Zusammenspiel der Vernunft bzw. des Intellekts und der organisch bedingten Sinneswahrnehmung. Die letzte Voraussetzung von Wissen ist, dass diese beiden Elemente übereinstimmen, ja dass zwischen ihnen Identität besteht. Dass dies der Fall ist, wissen wir von unserem Selbstbewusstsein, welches gerade ein Bewusstsein davon ist, dass wir eine Einheit des Leiblich-Organischen und der Vernunft sind. Wissen im Sinne von wahrer Erkenntnis setzt weiter voraus, dass eine Übereinstimmung besteht zwischen Vernunft und Sinneswahrnehmung einerseits und der Wirklichlichkeit bzw. dem Sein, wie Schi, es nennt, andererseits. Auch für das Bestehen dieser Ubereinstimmung ist der
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Mensch selbst das Zeugnis: „Wir selbst sind Sein und Denken, das denkende Sein und das seiende Denken" (Schleiermacher 1976, 210). Man kann diesen Sachverhalt auch so ausdrücken, dass der Mensch Wissender und Gewusstes zugleich ist. Als solcher ist er ein geistiges Wesen. Auch die Natur ist eine Einheit von Wissen und Gewusstem, aber im Unterschied zum Menschen ist sie diese Einheit in gegenständlicher Weise. Diese grundlegende Beziehung von Vernunft, bzw. Geist und Natur ist der Hintergrund von Schl.s Verständnis von Ethik: Alles ethische Wissen ... ist Ausdruck des immer schon angefangenen, aber nie vollendeten Naturwerdens der Vernunft. (Schleiermacher 1990, 210).
Die Vernunft ist eben auch bei Schi, nicht nur Wissen, sondern auch ein Handeln, ein Bestreben, die ganze Natur, einschließlich der leiblich-seelischen Natur des Menschen zu durchdringen. Die Vernunft ist nach ihm nicht nur etwas, was den Menschen im Unterschied zur Natur auszeichnet. Im Gegenteil zeigt ja der besondere Charakter des Menschen als geistiges und leibliches Wesen, dass die Vernunft in der Natur wirksam ist. Und der Mensch ist ein Beispiel dafür, dass die Vernunft in der Natur durch das Hervorbringen von organischen Gebilden tätig ist. Die philosophische Grundlage von Schl.s Ethik ist somit der aristotelische Gedanke von der Formung des Irrationalen durch die Vernunft, allerdings mit den Begriffen des deutschen Idealismus ausgedrückt. Theologisch knüpft Schi, bei der Auffassung des Paulus an, dass christliche Ethik in der Wirksamkeit des heiligen Geistes im einzelnen Christen und in der Gemeinschaft der Gläubigen besteht. Die Verbindung der beiden Formen der Ethik ist nach Schi, darin begründet, dass der heilige Geist eine Umformung der allgemeinen Menschenvernunft bewirkt. Philosophische Ethik Schi, hat sowohl in Halle als auch in Berlin Vorlesungen über philosophische Ethik gehalten. Es liegen sowohl Entwürfe von seiner eigenen Hand als auch Hörernachschriften vor. Die folgende Darstellung stützt sich auf die Entwürfe für Berliner Vorlesungen über verschiedene Teile der philosophischen Ethik, publiziert in Schleiermacher 1990.
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In seinen Vorlesungen über philosophische Ethik teilt Schi, diese in drei Abteilungen ein: Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre. Der grundlegende Gegensatz zwischen Gut und Böse ist dadurch bestimmt, ob die Vernunft die Natur durchdringt oder nicht. Ein Gut ist somit eine bestimmte Form der Einheit von Vernunft und Natur. Ethik bzw. Sittlichkeit ist nach Schi, ein Prozess, bei dem die Natur immer mehr von der Vernunft durchdrungen wird. In diesem Prozess ist der einzelne Mensch ein entscheidendes Glied. Der Mensch ist eine Persönlichkeit, d.h. ein einzelnes, selbstbewusstes Individuum, das auch als Vernunftwesen „für-sich-gesetzt", aber zugleich „in-Gemeinschaft-gesetzt" ist. Der in der Glaubenslehre hervorgehobene Doppelcharakter des Selbstbewusstseins — Empfänglichkeit, Tätigkeit - äußert sich derart, dass die Vernunft zwei Funktionen in Bezug auf die Natur ausübt: Erkennen und Organisieren (aktiv Formen). Schi, kann somit innerhalb des sittlichen Prozesses einen Unterschied machen zwischen den beiden Vernunftfunktionen, die ein Mensch jeweils als Einzelperson und als Mitglied einer Gemeinschaft ausübt. Er hat damit ein Mittel, die Grundzüge des Lebens von Menschen miteinander zu beschreiben, oder, etwas moderner ausgedrückt: Er verfugt über die Grundlage einer Gesellschaftstheorie. So zeigt sich nach Schi, die organisierende Funktion der Vernunft in der Bearbeitung und Verwertung der äußeren Natur. Als Einzelne eignen sich die Menschen das Ergebnis dieser Verwertung als Eigentum an. Da jedoch die Vernunft bei allen die gleiche ist, erkennen sich alle als Mitglieder einer Gemeinschaft an. Das befähigt sie, miteinander zu verhandeln, Vereinbarungen zu treffen und ein Rechtssystem einzurichten. Das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft prägt auch die erkennende Vernunftfiinktion. Erkenntnis ist kein rein individuelles Anliegen, sondern das Erkannte wird anderen mitgeteilt. Das Mittel hierfür ist die Sprache, die selbst die Einheit von Vernunft und Natur bezeugt, indem sie aus Bedeutung tragenden materiellen Zeichen besteht. Die Sprache ist jedoch nicht nur ein Mittel, Erkenntnisse mitzuteilen, sondern auch, Gefühle auszudrücken. Im Falle, dass das ausgedrückte Gefühl sich nicht an eine einzelne Persönlichkeit richtet, sondern an die allumfassende Vernunft, haben wir es mit Religion zu tun. Jeder konkrete Fall von Bearbeitung der Natur durch die Vernunft ist laut Schl.s Definition ein Gut. In seiner Güterlehre hebt er jedoch
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besonders die Formen menschlicher Gemeinschaft als Güter hervor, welche von den verschiedenen Vernunftfunktionen hervorgebracht sind und innerhalb derer sich die Vernunft auch entfaltet. Es ist fxir Schi, undenkbar, dass man den einzelnen Menschen als isoliertes Individuum auffassen könnte. Einen Menschen gibt es nur, weil zuvor zwei andere Menschen verschiedenen Geschlechtes existierten, und auch der Einzelne selbst ist in seinem Selbstbewusstsein als Geschlechtswesen geprägt. Die Geschlechtlichkeit ist Grundlage dafür, dass zwei Menschen in besonderer Weise eine Einheit des Bewusstseins erfahren können. Dies ist für Schi, die Grundlage der Ehe, die eben als vernunftbestimmte, also sittliche Ausformung der natürlichen Sexualität anzusehen ist. Als unsittlich betrachtet Schi, sowohl ein Sexualleben ohne Bezug auf das Erzeugen von Kindern als auch homosexuellen Geschlechtsverkehr. Die vernunftbestimmte Formung der Äußerungen der Geschlechtsdifferenzierung liegt der Familie, bzw. der Hausgemeinschaft zu Grunde, zu dem Schi, nicht nur die Kinder sondern auch das „Gesinde" zählt. Eine umfassendere Gemeinschaft macht das Volk aus, das aus einer gewissen Menge von Familien besteht, die von anderen abgegrenzt sind und ein nationales Gepräge haben. Das Volk wiederum ist Grundlage einer dritten Gemeinschaftsform, nämlich des Staates. Ein Staat kann nach Schi, nicht auf einem Vertrag beruhen, weil dieser nicht die Kraft hätte, den nötigen Zusammenhalt zu schaffen. Wenn nicht der Zusammenschluss auf der nationalen Eigentümlichkeit ruht, wird der Staat zur reinen „Criminalanstalt". Er hat allerdings auch die Funktion, mit seiner Gesetzgebung und seinem Rechtssystem den Rahmen für Eigentumsverhältnisse, Arbeitsteilung und Wirtschaft abzugeben. Das Charakteristische des Staates als Gemeinschaft ist, dass er auf dem Gegensatz von Obrigkeit und Untertan beruht, deren Verhältnis in einer Verfassung festgelegt sein sollte. Ihre Funktion ist u.a., den Einfluss der Obrigkeit auf den Einzelnen zu begrenzen. Das geschieht durch Gewährung der bürgerlichen Freiheit, als deren wichtigste Gestalt die „Heiligkeit" des Hauses gilt.1 1
Sowohl Schl.s Hervorhebung des Z u s a m m e n h a n g e s von Nationalität und Staat als auch die liberalen Elemente seiner Staatsauffassung lassen sich vor dem Hintergrund seines eigenen politischen Engagements verstehen. Er war
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Auch das menschliche Erkenntnisvermögen bildet die Grundlage einer eigenen Gemeinschaft, nämlich der wissenschaftlichen. Ahnliches gilt für die Religion, die ihrem Wesen nach kirchenstiftend ist. Und schließlich hebt Schi, diefreie Geselligkeit As eine besondere Form menschlicher Gemeinschaft hervor. Die Güterlehre Schl.s ist in mindestens zwei Punkten bemerkenswert. Einmal ist sie eines der ersten Beispiele dafür, dass die Ethik als Reflexion über das rechte menschliche Verhalten sozialwissenschaftlich vorgehen muss, indem sie diejenigen gesellschaftlichen Rahmen einbezieht, innerhalb derer Menschen tatsächlich leben. Zum anderen sehen wir in Schl.s Darstellung einen Reflex der tiefgreifenden Änderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse, verglichen etwa mit der Zeit Luthers. Wir werden unten sehen, welche Konsequenzen das auch für die theologische Ethik hat. Schi, benutzt den traditionellen Ausdruck höchstes Gut, meint damit aber die gesamte auf die Natur gerichtete Vernunfttätigkeit, so wie sie sich innerhalb der genannten Gemeinschaftsformen entfaltet. Die Güterlehre hängt so engstens mit der Tugendlehre zusammen, denn die Tugenden bezeugen die Tätigkeit der Vernunft im einzelnen Menschen, so dass er zur Hervorbringung der Güter beitragen kann. Bei seiner Bestimmung des Tugendbegriffes knüpft Schi, an Aristoteles an, aber während dieser die Tugend als hexis auffasst (vgl. oben S. 31), trennt Schi, an ihr zwei Aspekte: Gesinnung und Fertigkeit. Kombiniert man diese Einteilung mit dem Doppelcharakter der menschlichen Subjektivität — empfänglich/erkennend, darstellend —, ergeben sich vier Grundtugenden: Weisheit (Gesinnung beim Erkennen), Liebe (Gesinnung beim Darstellen), Besonnenheit (Erkennen als Fertigkeit) und Beharrlichkeit (Darstellen als Fertigkeit). Was die Liebe betrifft, ist sie eine Gesinnungstugend, welche die Einstellung der Menschen zueinander innerhalb der verschiedenen Gemeinschaften prägt, z.B. in Form von Liebe zu den Eltern, zum anderen Geschlecht oder zum Vaterland. Diese Formen der Liebe hängen mit der Eigenliebe zusammen, aber wenn diese fähig ist, die teils aktiv an der nationalen Erweckung beteiligt, die Deutschland während der Napoleonischen Zeit prägten, teils gehörte er zu denjenigen Kreisen, die in Preußen politische Reformen forderten.
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anderen Formen in sich aufzunehmen, kann sie nicht als unsittlich angesehen werden. Schi, unterscheidet weiter zwischen der freien Liebe zum Nächsten in der Ehe oder der Freundschaft, und der gebundenen, die sich im Politischen als Gerechtigkeit im Sinne von „Gemeingeist und Unparteilichkeit" äußert (Schleiermacher 1990, 148). Der dritte Grundbegriff der philosophischen Ethik Schl.s, Pflicht — das Imperativische also spielt eine geringere Rolle, was man u.a. als Ausdruck seiner Distanzierung von Kant sehen kann. Die Pflicht hängt bei Schi, mit dem Willensaspekt der Ethik zusammen; sie geht also von einem Appell aus, die Tugenden und das „sittliche Sein" (a.a.O., 304) zu verwirklichen. Genau wie die Tugend ist die Pflicht dem einzelnen Menschen zugeordnet, aber im Gegensatz zur Tugend hebt sie gewissermaßen den Unterschied zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft hervor. Die Pflicht ist ja ein Ausdruck dafür, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, dass der Einzelne immer der Gemeinschaft angehört. So lautet eine der vier von Schi, aufgezählten Grundpflichten: „Tritt in die gleiche Gemeinschaft, so dass du dadurch zugleich in derselben aneignest" (a.a.O., 305). Die drei übrigen Grundpflichten sind die Berufipflicht, die Gewissenspflicht und die Liebespflicht („Knüpfe individuelle Gemeinschaft", a.a.O., 324). Theologische Ethik Die Textgrundlage der theologischen Ethik Schl.s ist etwas anders als diejenige der philosophischen. Schi, hatte selbst den Wunsch, die theologische Ethik zu veröffentlichen und beauftragte einen Bekannten, Ludwig Jonas, mit der Herausgabe. Das Ergebnis war Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (Schleiermacher 1843). Wie aus dem Untertitel hervorgeht, besteht sie sowohl aus eigenen Manuskripten Schl.s als auch aus Hörernachschriften. Eine verlässlichere Ausgabe liegt von der Einleitung der christlichen Sittenlehre vor (Schleiermacher 1983). Von der christlichen Sittenlehre in ihrem Unterschied zur rationalen (philosophischen) gilt: Sie will ... gar nicht die Aufgabe des Handelns auf eine allgemein gültige Weise lösen, sondern nur zeigen, wie in der christlichen Kirche dem Geiste derselben gemäß gehandelt wird. Sie ist also die Sittenlehre einer besondern Gemeinschaft. (Schleiermacher 1983, 29).
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Alle menschlichen Handlungen gehen, wie wir schon wissen, von einer Form des Selbstbewusstseins aus. Nach der zitierten Bestimmung beschäftigt sich die theologische Ethik mit denjenigen Handlungen, die vom christlichen Frömmigkeitsgefühl, oder, wie Schi, es auch formuliert, vom christlichen Geist bzw. dem christlichen Prinzip ausgehen. Dieses Prinzip ist nichts anderes als der Kern des christlichen Glaubens selbst: „Das Factum der Erlösung durch Christum" (a.a.O., 26). Das Leben eines Christen besteht darin, den Willen Gottes auszuführen, aber dieser Wille zeigt sich uns nicht primär als Forderung, sondern wohnt dem Gläubigen zufolge der Gemeinschaft mit Christus inne. Schi, drückt dies auch mit Hilfe der paulinischen Wendung aus, die Kraft des Heiligen Geistes sei in den Gläubigen wirksam. Auch als Christ ist der Mensch ein Gemeinschaftswesen und das heißt, dass sich das Christenleben im Rahmen der Kirche entfaltet. Und genau auf Grund dieses kirchlichen Charakters muss Schi, den Unterschied zwischen der katholischen und der protestantischen Auffassung christlicher Ethik betonen. Laut katholischer Auffassung, so Schi., ist die Kirche eine Gemeinschaft mit „Obrigkeit" und „Untertanen"; hier heiße Ethik daher in erster Linie Gehorsam der Laien gegen die Kirche. Im Protestantismus ist die Kirche hingegen die Gemeinschaft, in der Gleichheit des Gehorsams gegen Christus herrscht. Es ist deutlich, dass bei Schi, die protestantische Ethik mit dem Denken der Moderne übereinstimmt. Es kann, so betont er, einem Christen nichts geboten werden, als was er als Einzelner sich selbst gebiete (a.a.O., 36). Das göttliche Wort, welches die Kraft des Geistes vermittelt, spreche sowohl die Empfänglichkeit als auch die Selbsttätigkeit des Menschen an („aus dem Worte sei selbstthätig", a.a.O., 81). Und aus protestantischer Sicht könne christliche Ethik in dem Satz „Handle niemals, ohne zuvor dein durch die Schrift bestimmtes Gewissen zu fragen" (a.a.O., 87) zusammengefasst werden. Es kann nicht überraschen, dass Schi, die Liebe als Inbegriff christlicher Ehtik auffasst, aber seiner Betonung der kirchlichen Gemeinschaft entsprechend nennt er sie Bruderliebe (a.a.O., 104). Wie die allgemeine ist die christliche Ethik aus einer Perspektive der Entwicklung aufgefasst; letzten Endes haben alle christlichen Handlungen die völlige Ausbreitung des Reiches Gottes zum Ziel.
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Auch bei der näheren Entfaltung der theologischen Ethik liegt der Ausgangspunkt Schl.s im Begriff der Handlung. Eine Handlung geht wie gesagt vom menschlichen Subjekt aus, und dieses ist allgemein durch eine Spannung zwischen Vernunft und leiblicher Natur gekennzeichnet. Unter den Voraussetzungen des christlichen Glaubens hat sich die Spannung in das Verhältnis von Geist und Fleisch verwandelt. Wenn in diesem Verhältnis Harmonie herrscht, ruft das ein Gefühl der Lust hervor, welches seinerseits ein Handeln veranlasst, das Schi, verbreitend nennt (es ist die von Harmonie geprägte Gemeinschaft, die sich verbreitet). Besteht hingegen ein Gegensatz, indem das „Fleisch" gegen den Geist Widerstand leistet, entsteht eine Unlust, die durch korrigierendes Handeln überwunden wird. Der fundamentale Widerstand ist die Sünde und das dieser entsprechende korrigierende Handeln ist die Erlösertat Christi. Die beiden bis jetzt erwähnten Formen des Handelns sind wirksam in dem Sinne, dass sie innerhalb der Beziehung zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft etwas ausrichten. Ihnen gegenüber steht, was Schi, das darstellende Handeln nennt. Es geht wie das verbreitende aus der Harmonie zwischen Fleisch und Geist hervor, aber wohlgemerkt der vollkommenen Harmonie, d.h. der vorweggenommenen Seligkeit. Diese Bewusstseinsform bewirkt nichts in der Welt, sondern ist ein reiner Ausdruck der menschlichen Natur bzw. eine bloße Äußerung des Selbstbewusstseins. Die durchgehende Frage der theologischen Ethik Schl.s ist, wie die christliche Lebensführung mit ihrem Ausgangspunkt in der Kirche sich zum Leben innerhalb der anderen menschlichen Gemeinschaften verhält. Während die Kirche selbstverständlich direkt durch das Christentum hervorgebracht ist, haben die übrigen Gemeinschaftsformen zu ihm verschiedenartige Beziehungen. So ist die Ehe zwar kein Produkt des Christentums, aber doch entscheidend von ihm geprägt. Demgegenüber hat es den Staat und die allgemeine Geselligkeit vor und unabhängig von der Entstehung des Christentums immer schon gegeben. Im Folgenden sollen einige der Gesichtspunkte Schl.s vom Leben des Christen in den verschiedenen Gemeinschaften seine theologische Ethik veranschaulichen. Die politische Ordnung, der Staat, kann als Ergebnis eines verbreitenden Handelns angesehen werden, das immer darin besteht, eine Gemeinschaft weiterzuführen durch Festhalten und Einbeziehen von
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Einzelnen. Das verbreitende Handeln richtet sich daher auf bestimmte Eigenschaften von Personen, nämlich Gesinnung und Talent. Da der Staat wie schon erwähnt das Volk bzw. die Nation voraussetzt, knüpft seine Weiterführung an die Gesinnung der Vaterlandsliebe an. Das Christentum bestätigt nach Schi, diese Gesinnung; sie stärke den Sinn für die „politische Idee", auch innerhalb der Kirche (Schleiermacher 1843, 246). Schi, kann diese Auffassung durch Hinweis auf Rom 13 begründen, ein Text, der auch entscheidend ist für Luthers Lehre von der weltlichen Obrigkeit als einer von Gott eingerichteten Ordnung. Entsprechend sagt Schi., der Staat und seine bürgerlichen Gesetze seien vom Christen als „ein göttliches Institut" anzusehen (a.a.O., 253). Gerade das Gesetz ist jedoch ein Ausdruck daflir, dass es auch im bürgerlichen Bereich ein korrigierendes Handeln geben muss. So betrachtet Schi, die Strafe als ein Wiedererrichten der Herrschaft der allgemeinen Vernunft, wenn ein Einzelner sich vergangen hat. Wie aber soll sich der Christ zum Phänomen der Strafe stellen? Das ist eine klassische Frage, die der theologischen Ethik durch die Worte Jesu in der Bergpredigt, sich nicht dem Bösen zu widersetzen (Mat 5,39), gestellt ist. Schi, fasst Strafe nicht als Vergeltung auf, sondern als Drohung, die die Menschen vom falschen Handeln abhalten soll. Da der Einzelne das Gesetz vor einer Übertretung kennt, ist die folgende Sanktion im Grunde eine Strafe, die er sich selbst zufügt. Daher darf eine Strafe nie ein Böses beinhalten, das der Einzelne sich nicht selbst zufügen dürfte. Aus diesem Grund muss Schi, von einer bestimmten Strafe Abstand nehmen: „die Todesstrafe [sollte] in christlichen Staaten gar nicht vorkommen" (a.a.O., 248). Ist ein Christ berechtigt, das bürgerliche Rechtssystem anzurufen und andere anzuzeigen, auch in eigener Sache? Wie wir gesehen haben, beantwortet Luther diese Frage mit einem Nein. Schi, hingegen meint, ein Christ habe nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, auch in diesem Fall das Rechtssystem zu nutzen. Seine Begründung ist, dass der Einzelne ja nie nur Privatperson ist, sondern immer auch Glied der Gemeinschaft, so dass die ihm zugefügte Verletzung in gleichem Maße gegen das Gemeinwesen gerichtet ist. Wenn er daher beispielsweise das Strafrecht bemüht, geschieht das im Dienste der Gemeinschaft. Hinzu kommt, dass die Bereitschaft, Unrecht zu dul-
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den, wäre sie verbreitet, die Stabilität der bürgerlichen Gesellschaft bedrohen würde. Nun kann ein korrigierendes Handeln auch die entgegengesetzte Richtung haben, d.h. vom Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft, da auch in dieser Missstände vorkommen können. Im Fall der Kirche geschah das beispielsweise durch die Reformation. Aber auch im Staate kann diese Form des korrigierenden Handelns notwendig sein, z.B. wenn Korruption vorkommt. Auch Schl.s eigene Kritik an der Todesstrafe kann als Beispiel dienen. Er betont denn auch, dass sie nicht als revolutionärer Vorschlag aufgefasst werden dürfe. Eine eigentliche Revolution im Sinne einer gewaltsamen Veränderung der politischen Verhältnisse kann von einem Christen nie befürwortet werden. Die einzige ihm zur Verfügung stehende Möglichkeit ist, seinen Verbesserungsvorschlag in einer freien Diskussion vorzutragen. Ganz allgemein ist es Schl.s Auffassung, dass die christliche Ethik den Staat immer mehr prägen und umformen sollte. Der Staat solle „vom christlichen Prinzip aus konstruiert" werden; geschehe das nicht, würden das Christentum und seine Kirche „eine particularistische Anstalt" verbleiben (a.a.O., 334). Die Ehe und die Hausgemeinschaft sind, wie schon erwähnt, nach Schi. Teil sowohl der bürgerlichen als auch der kirchlichen Sphäre. In letzterer Hinsicht müssen sowohl das Geschlechtsleben als auch die Ehe als Teil des verbreitenden Handelns der Kirche betrachtet werden. Im Gegensatz zur Situation des Urchristentums wird die Kirche heutzutage dadurch verbreitet, dass neue Kinder in sie hineingeboren werden. Aus christlicher Sicht ist deshalb die Ehe „heilig als eine göttliche Ordnung zur Erhaltung des Stoffes für den göttlichen Geist" (a.a.O., 345). Das bedeutet weiter, dass „Erzeugung und Erziehung" unlöslich zusammengehören, was nach Schi, ein Argument für die monogame Ehe ist. Die Erziehung der Kinder ist nämlich eine Aufgabe, für die beide Eltern eine gleiche Verantwortung haben, was bei der Beteiligung mehrerer Mütter nicht möglich ist. Die Einstellung des Christen zum Geschlechtsleben soll jedoch von einer weiteren Form des Handelns geprägt sein: der darstellenden. Wie erwähnt liegt solches Handeln dann vor, wenn weder Lust noch Unlust eine Wirksamkeit auslösen, sondern wenn das Wesen des Menschen als geistig-leibliche Einheit sich im Äußeren manifestiert,
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z.B. in der Rede. Ein solches darstellendes Handeln ist nun die Grundlage dessen, was Schi, christliche Tugenden nennt. Diese Tugenden sind immer die Reaktion auf eine Beeinflussung, die sich nicht zu einer sinnlichen Lust oder Unlust entwickelt. Auf dem Gebiet der Erotik muss der Christ etwa die Tugend der Keuschheit zeigen. Sie äußert sich, wenn ein Mensch in einer solchen Weise beeinflusst wird etwa durch die Anwesenheit eines anderen Menschen dass Lust und Begierde hervorgerufen würden, wäre nicht die Sinnlichkeit durch den Geist beherrscht. Bei dem Unkeuschen könnte eine solche emotionale Reaktion nur durch Selbstbeherrschung unterdrückt werden. So weit kann es jedoch bei dem Keuschen gar nicht kommen. Nicht weil er unbeeinflussbar wäre, das wäre Gefühllosigkeit (Apathie), sondern weil seine Gesinnung das Aufkommen des Lustgefühls einfach gar nicht zulässt. Nach Schi, müssen Jesu Worte in der Bergpredigt vom Ansehen und Begehren einer Frau (Mat 5,28) im Sinne der Keuschheit verstanden werden. Ihr Sinn könne nicht sein: „Deines Nächsten Weib soll dir gar nicht Wohlgefallen" (a.a.O., 609). Die christliche Tugend der Keuschheit hat nämlich nichts mit Askese zu tun, und Schi, distanziert sich ausdrücklich von dem Versuch, durch völlige Trennung der Geschlechter die sexuelle Lust zu unterdrücken. Weitere christliche Tugenden sind Geduld und Langmut. Sie sind für das Verhalten des Christen im allgemeinen sozialen bzw. geselligen Leben wichtig. So heißt Langmut etwa, sich nicht von einer Beleidigung zur Erwiderung reizen zu lassen. Der Langmütige wird die Beleidigung als Ausdruck der moralischen Unvollkommenheit des anderen ansehen und höchstens versuchen, ihn zur Einsicht in sein Vergehen zu bewegen. Vergeltung wird der Christ nicht üben, und schon gar nicht in Form eines Zweikampfes.2 Ais Arten des darstellenden Handelns sind alle christlichen Tugenden Gestalten der brüderlichen Liebe, d.h. der Liebe unter denen,
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Man kann sagen, dass Schi, mit seiner Beschreibung der Langmütigkeit denselben Aspekt des christlichen Handelns trifft wie denjenigen, den Luther meint, wenn er sagt, der Christ dürfe die weltliche Obrigkeit nicht bei erlittenem Unrecht beanspruchen. Es besteht jedoch ein charakteristischer Unterschied: Bei Schi, darf der Verzicht nicht im politisch-rechtlichen Bereich stattfinden, sondern er wird in das „zivile" soziale Leben versetzt.
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die gleich sind, weil sie von demselben Geist ergriffen sind. Obwohl dieser Geist derjenige der christlichen Gemeinschaft ist, ist er nicht auf diese eingeschränkt. Der Christ weiß nämlich, dass das ganze Menschengeschlecht dem göttlichen Geiste angehört. Genau deshalb ist das darstellende Handeln auch Ausgangspunkt für das verbreitende und korrigierende, und damit Grundlage des ganzen „Projektes" der christlichen Sitte: das Menschenleben in allen seinen Formen zu christianisieren. 9.2
Kierkegaard
Mit dem Werk Kierkegaards (Kie.) lässt sich bekanntermaßen recht schwer umgehen. Er hat während seines kurzen Lebens eine große Anzahl Schriften verfasst und veröffentlicht. Jedoch muss man äußerst vorsichtig sein, Kierkegaard selbst die in diesen Schriften dargestellten Auffassungen zuzuschreiben. Oft tritt er als Autor nicht selbst, sondern unter einem von etlichen Pseudonymen auf. Einige der Schriften hat er jedoch unter eigenem Namen veröffentlicht, und sie haben vorwiegend christlichen Charakter. Es wird deshalb zwischen dem Pseudonymen und dem erbaulichen Teil des Werkes unterschieden. Auch macht es Kierkegaards Form schwierig, ihn zu lesen. Er schreibt nicht wie etwa Kant und Schleiermacher - akademische Texte, sondern benutzt viele verschiedene literarische Gattungen wie beispielsweise Aphorismus und Brief. Die erbaulichen Schriften sind vorwiegend als „christliche Reden" ausgeformt. Auf Grund des hier angedeuteten Sachverhaltes ist es sehr problematisch, von der Ethik Kierkegaards zu reden. Das Folgende ist ein Versuch, einige Hauptlinien aufzuzeigen. Die Darstellung baut auf drei Schriften auf: Entweder-Oder, Furcht und Zittern und Der Liebe Tun. ,Allgemeine" Ethik Mit gewissem Recht kann gesagt werden, dass Kierkegaard in der Schrift Entweder-Oder eine allgemeine Ethik darstellt. Gerade bei Entweder-Oder (1843) hat Kierkegaard die Frage nach dem Urheber in einer raffinierten Weise kompliziert gemacht. Als Herausgeber figuriert ein Victor Eremita. Er erzählt einleitend, er habe
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die Papiere, die er nun veröffentliche, in einem alten Schreibtisch gefunden, den er einmal gekauft habe. Es hätten zwei Gruppen von Papieren vorgelegen, von zwei verschiedenen Personen verfasst: dem Ästhetiker, bzw. A, und Assessor Vilhelm, bzw. B. Die beiden kennten sich, denn die Papiere des B seien an A geschriebene Briefe. Wer die beiden seien, wisse Eremita nicht. Im Übrigen macht er darauf aufmerksam, dass er selbst weder Schriftsteller noch Literat sei. Als Hintergrund der allgemein-ethischen Überlegungen, die Assessor Vilhelm im Abschnitt „Das Gleichgewicht zwischen dem Aesthetischen und dem Ethischen in der Herausarbeitung der Persönlichkeit" macht, mag es nützlich sein, sich nochmals einige Grundzüge der Ethik Kants zu vergegenwärtigen. Kants Ethik bezeugt ihre Zugehörigkeit zur Moderne dadurch, dass die Darstellung der ethischen Normen, Pflichten usw. von einer Reflexion über das menschliche Subjekt begleitet wird. Man kann daher im Grunde bei Kant zwischen zwei Bedeutungen von „Ethik" unterscheiden: (1) Ethik als Theorie der Subjektivität und (2) Ethik als Untersuchung über Handlungsnormen u. dgl. Was (1) betrifft, beschäftigt sich die Ethik für Kant (wie im Kapitel 7 dargestellt) grundsätzlich mit der Frage, ob der Mensch ein freies Vernunftwesen ist. Nach Kants Meinung kann der Mensch nur ein ethisches Subjekt sein, wenn eine anthropologische Dualität behauptet werden kann: Einerseits ist der Mensch ein Naturwesen, dessen Verhalten ein Teil von kausal determinierten Prozessen ist. Konkret zeigt sich das darin, dass menschliches Verhalten durch sinnlich bedingte Antriebe (Neigungen) bestimmt wird. Als Naturwesen hat der Mensch deshalb den Status einer Erscheinung. Rein begrifflich ist es dann aber — andererseits — möglich, den Menschen auch als „Ding an sich", als einer intelligiblen Welt angehörig zu denken. Als solcher ist der Mensch vernünftig und zu freiem Handeln fähig, und es ist eben diese Intelligibilität des Menschen, sein Status als Noumenon-Charakter, welcher sich ethisch in der Gestalt des kategorischen Imperativs manifestiert. Das ethische „du sollst" des Imperativs ist also eine Bezeugung dessen, was der Mensch eigentlich ist. Betrachten wir das Ethische in der Bedeutung (2), ist es bei Kant im kategorischen Imperativ als Grundnorm bzw. Grundprinzip zusammengefasst. Sein Inhalt ist eine Forderung nach Universalisierung, und
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in diesem Sinne ist die Ethik nach Kant das Allgemeine: Ethisch richtig ist, was für jeden richtig ist. Das Vorgehen Kierkegaards3 unterscheidet sich nun von demjenigen Kants darin, dass er das Ethische durch das Gegenüberstellen zweier Menschentypen einkreist. Diese Typen nennt er einige Male „Stadien", sonst schildert er sie in der Gestalt dessen, was er Lebensanschauungen nennt. Die beiden Typen erscheinen im Rahmen der schon erwähnten literarischen Fiktion: Es ist der Ethiker, der sich in der Form des Briefes an seinen Freund, den Ästhetiker, wendet. Der Moralphilosoph A. Maclntyre sieht Kie.s Gegenüberstellung des Ästhetikers und des Ethikers als eine Konkretisierung von Kants Unterscheidung zwischen der ethischen Handlung (aus Pflicht) und der Handlung aus Neigung. Kie. zeigt den Gegensatz an der Art auf, wie die beiden sich zu einem Entweder-Oder verhalten, d.h. zu zwei Handlungsmöglichkeiten, die sich gegenseitig ausschließen. Für den Ästhetiker ist ein Entweder-Oder Ausdruck der Indifferenz-, Du kannst das eine tun oder du kannst das andere tun, es ist gleichgültig: „entweder du heiratest oder du heiratest nicht, du bereust beides" (Kierkegaard 1957, 41). Aber gerade dadurch verliert er sich in den Differenzen, den vielen verschiedenen konkreten Lebensmöglichkeiten. Das Sich verlieren ist buchstäblich aufzufassen: Der Ästhetiker kann sich streng genommen nicht zu sich selbst verhalten, denn er hat keine Identität. Er ist nichts. Es besteht somit ein Zusammenhang zwischen dem Sich-zu-einem-Entweder-Oder-Verhalten und dem Sich-zu-sich-Verhalten. Das ist das Grundthema der Schrift und das ist (u.a.) der Sinn des Ausdrucks „Herausarbeitung der Persönlichkeit". Für den Ethiker drückt das Entweder-Oder eben einen Unterschied aus, und zwar einen absoluten. Der Ethiker erkennt die Wahl an. Auf grundlegender Ebene gilt die Wahl jedoch nicht einer konkreten Alternative, etwa zwischen zwei Handlungsmöglichkeiten in einer gegebenen Situation. Die grundsätzliche Wahl beinhaltet das Anerkennen der Tatsache, dass es einen absoluten Unterschied gibt. Die
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Der Einfachheit halber nenne ich den Autor des „Gleichgewicht ..." Kierkegaard und nicht Assessor Vilhelm.
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Wahl besteht nicht zwischen einer Möglichkeit, die „gut" ist, und einer, die „böse" ist, sondern die Wahl ist das Anerkennen, das „Setzen" des absoluten Unterschiedes von Gut und Böse selbst. In dieser Wahl liegt eine Dialektik. Die Formulierungen Kie.s können so verstanden werden, als ob er dem menschlichen Subjekt zutraut, eigenmächtig den ethischen Unterschied zwischen Gut und Böse hervorzubringen. In dem Falle wäre der Unterschied jedoch ein Ergebnis der Willkürlichkeit, des Subjektivismus, und damit gerade nicht absolut. Der Mensch bringt nicht den Unterschied von Gut und Böse hervor; dieser besteht unabhängig vom Menschen. Aber andererseits kann er nicht ein Unterschied für den Menschen sein, wenn dieser ihn sich nicht aneignet bzw. ihn wählt. Durch die Wahl des absoluten Unterschiedes von Gut und Böse wählt ein Mensch gleichzeitig sich selbst. Dass ich mich einem absoluten Entweder-Oder gegenübergestellt sehe, zeigt, dass ich mehr bin als die konkreten Affekte, Triebe, Neigungen usw., die meine Handlungen steuern können. Ich bin etwas, was ewige Gültigkeit besitzt, eine Persönlichkeit. Ich bin Geist. Im absoluten Sinne zu wählen heißt, zu sich zu kommen in der Bedeutung, gerade dieses Wesen zu sein, und zwar mit ewiger Gültigkeit. Sich selbst zu wählen hat bei Kie. einen unüberhörbaren religiösen Ton, auch wenn er philosophisch über die Ethik redet. So betont er, dass der Mensch wohl sieb selbst wähle, jedoch nicht sich selbst erschaffe. Die Wahl ist nicht ein Sich-selbst-Hervorbringen, sondern sie bedeutet im Gegenteil, dass der Mensch sich selbst von der „ewigen Macht" empfängt. Da das Wählen seiner selbst Ausdruck dafür ist, dass der Mensch etwas anderes ist als seine konkrete psychische Bestimmtheit, beinhaltet die Wahl eine Distanz zum Unmittelbaren und Konkreten. Das ist jedoch nur die eine Seite der Wahl. Die andere Seite besteht darin, dass die Wahl auch eine Wahl gerade des konkreten Selbst ist. Die ethische Lebensanschauung, von der hier die Rede ist, ist nicht Askese; sie bedeutet nicht das Abweisen oder Verdrängen derjenigen konkreten Lebensmöglichkeiten, die der Ästhetiker verwirklicht. Das Ethische bedeutet allerdings, dass der Einzelne sich anders zum Konkreten verhält. Er übernimmt sein konkretes Selbst im Lichte des absoluten Entweder-Oders und seiner eigenen ewigen Gültigkeit.
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In diesem Zusammenhang erscheint das Ethische im gängigeren Sinne. Kie. bestimmt — anscheinend in guter Übereinstimmung mit Kant — das Ethische als das Allgemeine. Für ihn ist jedoch nicht die Universalisierung das Entscheidende. Der Zusammenhang zwischen ethischer Rationalität und dem Ethischen als dem Allgemeinen scheint bei Kie. verschwunden zu sein. Die Bestimmung des Ethischen als des Allgemeinen bedeutet hingegen, dass die ethische Lebensweise durch eine Spannung gekennzeichnet ist: Der Einzelne muss gleichzeitig er selbst als dieses bestimmte Individuum sein - und gerade als Individuum, das Allgemeine realisieren. Ethisch gesehen bedeutet Allgemeinheit, dass ich als ethisches Subjekt in den entscheidenden Merkmalen wie alle anderen bin. An dieser grundsätzlichen Bedeutung von Allgemeinheit hält Kie. fest, wenn er das Ethische als das Allgemeine bezeichnet. In gewisser Weise übernimmt er auch das Charakteristische des kantischen Begriffes der Autonomie. Bei Kant bedeutet Autonomie wie erwähnt, dass ich einem Imperativ gehorche, den ich mir — als Vertreter der menschlichen Vernunft - selbst auferlegt habe. Einem Imperativ aus irgendeinem anderen Grunde zu gehorchen hat mit Ethik nichts zu tun. Genauso verhält es sich bei Kie.: Ich soll das Allgemeine realisieren, wie alle anderen sein; aber. Ich muss es als ich selbst tun, als mein „eigener Redakteur" (a.a.O., 277). Was ist denn laut Kie. das Allgemeine konkret? Es ist, in die „Ordnung der Dinge" hineinzutreten. Man könnte hier (wie bei Schleiermacher) Assoziationen in Richtung auf den Begriff Schöpfungsordung bekommen. Das ließe sich auch mit der Tatsache vereinen, dass Kie. drei grundlegende Beispiele des Allgemeinen nennt: die Arbeit, die Ehe und die Freundschaft. Von der Arbeit sagt er, die Würde des Menschen und seine Vollkommenheit in Vergleich zu allen anderen Wesen bestehe darin, dass er für sich selbst sorgen muss. Die Arbeit hängt mit dem Beruf zusammen, und von diesem heißt es, er sei das Allgemeine in allen Differenzen. Das muss so etwas bedeuten wie: Arbeit ist eine Pflicht für jeden, aber sie wird ausgeführt von mir, der ich mich in gewissen Merkmalen von allen anderen unterscheide (differiere. S. Anm. 4). Entsprechend ist die Erfüllung der Pflicht, in der Ehe zu leben, ein Realisieren des Allgemeinen. Sie bedeutet, „dem Unterscheiden-
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den4 den Ausdruck des Allgemeinen" zu geben (a.a.O., 324). Das Unterscheidende bzw. die Differenz ist hier wieder dasjenige, worin ich mich von allen anderen unterscheide. Indem ich heirate, vereinige ich aber das an mir Einzigartige mit dem Allgemeinen. Es ist diese Vereinigung mit dem Individuellen und Uniken, die verhindert, dass das Allgemeine trivial wird. Die Wahl des Ich enthält eine „intensive Kraft", welche der Ehe ihre Schönheit verleiht. Das Gewicht liegt somit bei Kie. auf der Beziehung des Einzelnen, sowohl zu sich selbst als auch zu den verschiedenen Formen des Verpflichtetseins anderen gegenüber, in denen sich das Allgemeine manifestiert. Anders ausgedrückt: Der Schwerpunkt der Ethik des „Gleichgewichtes" liegt nicht in der äußeren Handlung, sondern in der inneren Tat. Das Innere - „das Bewusstsein, als Einzelner der Absolute zu sein" - ist es, was der Handlung ihren „sittlichen Gehalt" gibt. Es ist dieser Sachverhalt, welcher der wesentlichen Gleichheit aller Menschen zu Grunde liegt. Eine der Konsequenzen dieser Verinnerlichung des Ethischen ist offenbar, dass die soziale Ordnung als gegebene hingenommen wird: das Bewusstsein, als Einzelner das Absolute zu sein, „wird ihn bewahren vor allem revolutionären Radikalismus" (a.a.O., 283). Und: ich „hasse ... das ganze widerwärtige Gerede von der Emanzipation der Frau" (a.a.O., 332). Im Gegensatz zu Kant zieht Kie. keine sozialen und politischen Konzequenzen aus seiner Ethik der Authentizität.
Suspension des Ethischen Auch Furcht und Zittern ist eine pseudonyme Schrift vom Jahre 1843; ihr Autor heißt Johannes de Silentio. Anders als Eremita ist er nicht nur Herausgeber, sondern tritt auch in der Rolle des „Dichters" und „Redners" auf. Genauer gesagt gehört er zu den Dichtern, die Heldengestalten preisen. In diesem Falle ist der Held allerdings eine recht untypische Gestalt, nämlich der alttestamentliche Patriarch Abraham. Kie.s Ausgangspunkt ist die Hegeische Auffassung vom Christentum, die auch in Kopenhagen dominierend war. Nach dieser Auffassung, so Kie., besteht kein Gegensatz zwischen Glauben und Denken, 4
„Das Unterscheidende" ist die Übersetzung des von Kie. selbst benutzten Ausdrucks „die Differenz" (differensen).
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da die höchste Form der Religion gerade der Begriff und die Philosophie seien. Als Gegenposition behauptet Kie., es könne nicht begriffen werden, „wie man in ihn [den Glauben] hinein kommt, oder wie er in einen hinein kommt" (Kierkegaard 1950, 5). Ein Glaubender zu sein ist nicht eine Sache der Wissenschaft, sondern eine der Leidenschaft. Genau das will Kie. an dem Beispiel Abrahams zeigen. Er, d.h. Johannes de Silentio, will Abraham als Helden des Glaubens preisen. Und er will es wohlgemerkt gerade als Dichter und Redner tun; er beansprucht nicht, selbst ein Gläubiger zu sein, sondern schildert den Glauben als Außenstehender. Was Abraham zum Helden des Glaubens macht, sind zwei Züge seiner Beziehung zum Sohn Isaak: dass er entgegen aller Aussichten am Glauben, dass Gott ihm einen Sohn schenken werde, festhält —, und dass er bereit ist, seinen Sohn auf Gottes Befehl hin zu opfern. Letzteres zeigt, dass zwischen dem Glauben bzw. dem Religiösen und dem Ethischen ein Gegensatz besteht, denn ethisch gesehen ist die Handlung, zu der Abraham bereit ist, Mord. Abrahams Glaube ist nicht eine Sache des Denkens, sondern er ist von Angst und Verzweiflung - „Furcht und Zittern" - erfüllt. Er ist von etwas geprägt, was dem Denken eher fehlen sollte, nämlich Selbstwiderspruch. Abraham liebt seinen Sohn, aber er ist bereit, dem Befehl Gottes zu gehorchen und ihn zu opfern. Und trotzdem bleibt ihm der Glaube daran, Gott werde ihn Isaak behalten lassen. Ein solcher Glaube lässt das Denken hinter sich, er ist ein Glaube „Kraft des Absurden" bzw. er ist auf ein Paradox bezogen. Genauer gesehen beinhaltet der Glaube eine „Doppelbewegung": Einerseits eine unendliche Resignation in Bezug auf die konkrete, zeitliche Lebenserfüllung (die Liebe zum Sohn), andererseits eine Rückkehr und Bestätigung gerade des konkreten Lebens. Um klarzumachen, was in dieser Doppelbewegung des Glaubens enthalten ist, vergleicht Kie. sie mit derjenigen Bewegung, zu der ein Mensch auch ohne Glauben imstande ist, und die er die „Bewegung der Unendlichkeit" nennt. Diese Bewegung ist die der Resignation, beispielsweise des Verzichts auf einen Geliebten. Ein solcher Verzicht ist ein Sich-Distanzieren zu dem konkreten Leben, und er wird eine Bewegung der Unendlichkeit indem die Beziehung zum Geliebten in eine ewige Liebe verwandelt wird, in die Liebe zum „ewigen Wesen".
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Durch diese Bewegung wird sich der Einzelne seiner ewigen Gültigkeit bewusst und er bewahrt seine Identität. Wie man sieht, entspricht die Bewegung der Unendlichkeit dem, was Kie. in Entweder-Oder die Wahl seiner selbst nennt. So betont er denn auch, die Bewegung der Resignation sei mit dem Ethischen vereinbar. Die Resignation kann tragisch sein, wie es bei Agamemnon im Drama des Euripides der Fall ist, der gezwungen wird, seine Tochter Iphigenia zu opfern. Der „tragische Held" verbleibt aber im Bereich des Ethischen. Wohl wird er durch die Resignation zum Einzelnen, doch versöhnt er sich auch mit dem Allgemeinen, indem der Verzicht in der Einhaltung einer Pflicht gründet, die schwerwiegender ist als die der Vaterliebe: die Pflicht gegenüber der Gemeinschaft. Der Glaube beinhaltet nun wie gesagt eine „Doppelbewegung". Er setzt die unendliche Bewegung der Resignation voraus, hält aber paradoxerweise am konkreten Leben fest, auf das er verzichtet hat: ... es ist groß, das Ewige zu ergreifen, doch es ist größer, das Zeitliche festzuhalten, nachdem man es aufgegeben hat. (A.a.O., 16).
Im Gegensatz zur Resignation und dem Tragischen verbleibt der Glaube nicht im Ethischen bzw. dem Allgemeinen. Der Glaube ist „dies Paradox, daß der Einzelne höher ist als das Allgemeine" (a.a.O., 58). Der Glaube beinhaltet eine „teleologische Suspension" des Ethischen im Unterschied zum Tragischen, wo eine bestimmte Pflicht um einer höheren Pflicht willen suspendiert wird. Der Glaube ist demgegenüber die grundsätzliche Aufhebung des Ethischen. Ethisch gesehen war Abraham verpflichtet, seinen Sohn zu lieben; diese Pflicht wird auf Grund der Pflicht, Gott zu gehorchen, suspendiert. Die letztere Pflicht ist nicht eine höhere ethische Pflicht, sonderne eine Sprengung des Ethischen. Kie. drückt das so aus, dass sich der Einzelne in der Pflichtbeziehung zu Gott absolut zum Absoluten verhalte, während das Ethische zum Relativen „herabgesetzt" sei. Das bedeutet nicht, dass der Glaube die Ethik schlichtweg aufhebt. Aber es bedeutet, dass auf Grund des Paradoxen, das die Beziehung zu Gott prägt, auch das Ethische einen paradoxen Ausdruck erhält. Das heißt, dass ... Liebe zu Gott den Glaubensritter dahin bringen kann, seiner Liebe zum Nächsten einen Ausdruck zu geben, der dem, was ethisch gesprochen Pflicht ist, widerspricht. (A.a.O., 77).
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Wie man sieht, ist es das Thema des doppelten Liebesgebotes, das Kie. hier anschlägt. Nächstenliebe Der Liebe Tun (Kjerlighedens Gjerninger) ist 1847 unter Kie.s eigenem Namen erschienen. Der Untertitel lautet Etliche christliche Erwägungen in Form von Reden. Es handelt sich nicht um eine systematische Untersuchung der christlichen Nächstenliebe. Kie. greift vielmehr verschiedene Aspekte der Nächstenliebe heraus, indem er in den insgesamt 14 Reden von neutestamentlichen Texten ausgeht, und zwar sowohl in den Evangelien als auch in den Briefen des Paulus, z.B. dem so genannten „Hohenlied der Liebe", 1 Kor 13. Kie. hält an der traditionellen christlichen Auffassung der Ethik fest, dass die Handlungen der Nächstenliebe - der Liebe Tun - in der Beziehung des Gläubigen zu Gott begründet seien. Die Liebe eines Menschen gründet in der Liebe Gottes (Kierkegaard 1966, 12). Die Liebe Gottes zum Menschen ist nicht Eigenliebe, sondern eine Hingabe, die Liebe sucht, d.h. Gott will, dass der Mensch die gleiche Liebe haben möge wie er selbst. Das gilt auch für Christus: Er ist in die Welt gekommen und hat sich allen hingegeben, auf dass sie ihm in aufopfernder Liebe gleichen mögen (a.a.O., 292). Aber welcher Art ist die Liebe, hinsichtlich derer die Menschen Gott gleichen sollen? Das geht nach Kie. aus dem Gebot „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst" hervor, das Kie. zum Gegenstand einer der Reden macht. Dass wir unseren Nächsten lieben sollen wie uns selbst, deutet Kie. (wie Luther) so, dass der Mensch als Ausgangspunkt sich selbst liebt. Der Sinn des Gebotes ist jedoch nicht, dass diese Eigenliebe auf andere gerichtet werden soll, ggf. durch Universalisieren, wie es Kant fordert. Nein, der Sinn ist, so Kie., dass uns die Selbstliebe „entwunden" werden muss (a.a.O., 21). Die vom Gebot vorausgesetzte Selbstliebe gibt es beispielsweise in Formen, die nach allgemeiner Auffassung als Liebe gelten, nämlich Freundschaft und Minne 5 , erotische Liebe. Sie seien Ausdruck der „Leidenschaft der Vorliebe". Uber diese allgemein menschliche Liebe fällt Kie. dieses zusammenfassende Urteil: 5
So die Übersetzung in der hier benutzten Ausgabe des dänischen „elskov" (erotisch bedingte Liebe).
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Was die Welt unter dem Namen „Liebe" ehrt und liebt, ist Gesellung in Selbstliebe. (A.a.O., 133).
Die Nächstenliebe ist also keine natürliche Erweiterung der Selbstliebe, im Gegenteil: Soll ein Mensch seinen Nächsten lieben können wie sich selbst, muss eine „Veränderung einer Ewigkeit" an der Selbstliebe stattfinden (a.a.O., 22). Der Sinn des Gebotes ist somit nach Kie.: „Du sollst dich selbst lieben, ebenso wie du den Nächsten liebst, wenn du ihn liebst als dich selbst" (a.a.O., 27). Dass mit der Nächstenliebe ein „du sollst" verbunden ist, dass sie also Pflicht ist, zeigt gerade, dass sie etwas ganz anderes ist als die Selbstliebe, welche ihr Anknüpfungspunkt ist. Die Veränderung, die mit der Selbstliebe geschehen soll, besteht darin, dass ihr entsagt wird und dass sie durch Selbstverleugnung ersetzt wird. Das ist unerlässlich, wenn der Mensch sich in seiner Beziehung zu Gott betrachtet, denn zwischen Gott und Mensch gibt es einen unendlichen Abstand, so dass der Mensch vor Gott nichts ist (a.a.O., 114). Die Voraussetzung dafür, dass ein Mensch seinen Nächsten lieben kann, ist demnach, dass er sich selbst im Lichte der Gottesbeziehung betrachtet, d.h. sich seiner Selbstliebe entsagt. In gewisser Weise ist dieses - das Verhältnis des Einzelnen zu sich selbst - das alles Entscheidende an der Nächstenliebe. Kie. betont nämlich, dass ein Mensch Entsagung zeigen kann, ohne sich überhaupt zu einem konkreten Nächsten zu verhalten. Es ist möglich, wie er es zugespitzt formuliert, auf einer einsamen Insel Nächstenliebe zu zeigen (a.a.O., 25). Das heißt natürlich nicht, dass es im Zusammenhang der Nächstenliebe untergeordnet ist, dass ein anderer Mensch jemandes Nächster ist. Im Gegenteil, so behauptet Kie., ist es nur im Lichte des christlichen Verständnisses von Liebe möglich zu wissen, dass es einen Nächsten gibt. Es ist nämlich ein jeder Mensch der Nächste, d.h. mit dem Begriff „Nächster" ist eine Vorstellung von Gleichheit verbunden. Es ist hier nicht von dem kantischen Gedanken die Rede, alle Menschen seien wegen ihres Charakters als Vernunftwesen gleich. Das Christentum betrachtet laut Kie. Menschen nicht deshalb als gleich, weil sie bestimmte Eigenschaften besäßen, sondern ausschließlich auf Grund ihres Verhältnisses zu Gott. Anders als die natürliche Liebe, die den Geliebten vorzieht und somit andere ausschließt, sieht die christ-
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liehe Liebe Menschen im Lichte der „Gleichheit des Ewigen" (a.a.O., 51). Das Christentum behauptet . . . die gleiche Verwandtschaft jedes einzelnen mit G o t t und sein Verhältnis zu G o t t in Christo; weil die christliche Lehre sich gleichermaßen an jeden einzelnen wendet ... (a.a.O., 79).
Kie. kann den Inhalt der Nächstenliebe folgendermaßen zusammenfassen: D e n Nächsten lieben heißt, wesentlich unbedingt gleichermaßen für jeden Menschen dazusein, während man in seiner irdischen Verschiedenheit verbleibt, die einem angewiesen ist. (A.a.O., 94).
Wir haben jetzt gesehen, wie Kie. den christlichen Gedanken neu formuliert, die gläubige Beziehung zu Gott, die Liebe zu ihm, drücke sich in der Liebe zum Nächsten aus. Worauf läuft nun die Nächstenliebe genauer gesehen nach Kie. hinaus? Worin besteht der Liebe Tun konkret? Bei der Beantwortung dieser Frage mag es nützlich sein, einen in ethischen Theorien oft benutzten Begriff aufzugreifen, nämlich denjenigen des Wohltuns (beneficentia). Wir haben beispielsweise gesehen, wie Luther die guten Werke als Wohltun am Nächsten beschreibt, d.h. als das Tun dessen, was für den Nächsten gut ist. Luther spricht überwiegend von denjenigen Wohltaten, die innerhalb des Weltlichen zu Hause sind, und die wir folglich weltliches Wohltun nennen können. Damit ist jedes Herbeiführen dessen gemeint, was gut ist für den Nächsten im konkreten äußeren und zeitlichen Sinne (z.B. die konkrete Hilfe, wie sie im Gleichnis vom barmherzigen Samariter dargestellt ist). Bei Kie. ist es indessen notwendig, eine andere Art des Wohltuns einzuführen, das wir das religiöse nennen können, denn er gibt auch diese Beschreibung der Nächstenliebe: ... sich selbst zu lieben ... heißt G o t t zu lieben, und ... geliebtwerden heißt, daß ein anderer Mensch einem dazu hilft, G o t t zu lieben ... (a.a.O., 121).
Die Nächstenliebe erwirkt nach dieser Bestimmung kein Gutes für den Nächsten im äußeren Sinne, sondern, dass der Nächste ein rechtes Verhältnis zu Gott bekommt. Aber genau bei dieser Form der Nächstenliebe tritt der Widerstreit zwischen dem Christentum und der
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„Welt" hervor. Was die Welt unter Liebe versteht, ist, so haben wir gehört, Selbstliebe. Das zeigt sich u.a. daran, dass weltliche Liebe — Freundschaft und Minne — der Vorstellung des Geliebten von der Liebe entspricht. Demgemäß erntet der Liebende fiir seine Liebe Dank. Gott zu lieben heißt demgegenüber Selbstverleugnung, also das Gegenteil der weltlichen Liebe. Deshalb kann die Hilfe dazu, Gott zu lieben, nur als das Gegenteil von Liebe aufgenommen werden, d.h. als Hass. Anders ausgedrückt: Diese Form der Liebe muss vom Nächsten notwendig missverstanden werden. Dies gilt allerdings nur dann, wenn der Nächste aus einem weltlichen Verständnis der Liebe und nicht aus einem christlichen heraus lebt (a.a.O., 120f.). Derjenige, der in diesem Sinne Nächstenliebe zeigt, muss also das Missverständnis mit in Kauf nehmen und bereit sein, als Lohn für seine Liebe vom Geliebten gehasst zu werden (a.a.O., 145). Diesem Missverständnis wird der Christ übrigens auch in der „christlichen Welt" begegnen (a.a.O., 222). Kie. deutet hier diejenige Kritik an der etablierten Kirche an, die später in eine offene Auseinandersetzung ausbrach. Obwohl die eben erwähnte Form der Nächstenliebe — dem Nächsten helfen, Gott zu lieben - ohne Zweifel bei Kie. an ganz zentraler Stelle steht, ist es wichtig zu sehen, dass er offenbar auch weltliches Wohltun zur Nächstenliebe zählt. Er kann z.B. von der Nächstenliebe als das Lieben „des andern Eigene(n)" reden (a.a.O., 298). Neben „eigenes" spricht er auch von „Eigentümlichkeit" und „das ihm eigene". Es ist also hier von einer Liebe die Rede, die sich zu der Individualität des anderen — seinem Genau-der-sein-der-er-ist —, und zwar in Respekt, verhält. Die Eigentümlichkeit eines Menschen entspringt wie alles Bedeutsame seiner Beziehung zu Gott. Sie gibt dem Einzelnen Mut, vor Gott er selbst zu sein. Eigentümlichkeit ist etwas ganz anderes als Eigentum. Sie ist eine Gabe Gottes, die Gabe des bloßen Daseins. Mit einer Eigentümlichkeit geschaffen zu sein, heißt, dass jeder Einzelne Gott gegenüber nicht zu nichts wird. Eigentümlichkeit vor Gott ist nicht Kleinlichkeit (a.a.O., 298ff.). Wir können feststellen, dass Kie. die Beziehung des Einzelnen zu Gott durchaus dialektisch bestimmt: Der Einzelne ist sowohl ein Nichts als auch kein Nichts Gott gegenüber. Dass jeder seine Eigentümlichkeit hat, bedeutet, dass es eines jeden Ziel sein muss, sein eigener zu werden, d.h. „er selbst zu werden, frei,
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Subjektivität und Ethik
unabhängig". Einem Menschen dazu zu verhelfen, ist die „größte Wohltat" (a.a.O., 302). Diese Form der Hilfe ist offenbar ein weltliches Wohltun, es ist in der Tat naheliegend, sie als Kie.s Version des kantischen Gedankens der Achtung aufzufassen. Es ist jedoch nicht von einer rein weltlichen Handlung die Rede. Die Eigenständigkeit, zu der dem Einzelnen verholfen werden soll, ist ihm nämlich nur durch die Hilfe Gottes möglich. Es stellt sich deshalb die Frage, ob diese Form des Wohltuns von derjenigen Liebe verschieden ist, die dem Nächsten hilft, Gott zu lieben. Auch das Annehmen der Hilfe zur Selbstwerdung ist aber problematisch. Man ist ja gerade nicht frei und selbstständig, sondern abhängig, wenn die Freiheit und Selbstständigkeit durch Hilfe eines anderen erreicht worden ist. Diese Form der hilfeleistenden Nächstenliebe muss deshalb verborgen und vom Empfänger ungewürdigt sein. Abschließend sollen zwei von Kie. beschriebene Taten der Liebe genannt werden, die anscheinend weltlichen Charakter haben. Die eine ist die Barmherzigkeit, also die Wohltat, die Jesus im Gleichnis darstellt. Es ist klar, dass Barmherzigkeit nach Kie. mit Geben zu tun hat, jedoch ist die äußere Handlung bei ihm nicht das Entscheidende. Er geht sogar so weit zu behaupten, derjenige, der nichts zu geben habe, zeige im hervorragenden Sinne Barmherzigkeit. Diese bestehe nämlich nicht darin, den Armen Hunderttausende oder einen halben Schilling zu geben, sondern entscheidend sei, „ a u f welche Weise man gibt" (a.a.O., 360). Damit bestätigt Kie. seine einleitende Bestimmung der Nächstenliebe: Entscheidend ist, auf welche Weise die Tat ausgeübt wird (a.a.O., 16). Nächstenliebe wird somit nicht durch die äußere bzw. konkrete Handlung konstituiert, sondern durch die Einstellung des handelnden Subjektes zu Gott. Diesen Gesichtspunkt treibt Kie. auf die Spitze mit seinem letzten Beispiel einer Tat der Liebe, die er auch als eine der „größten Wohltaten" benennt: „eines Verstorbenen zu gedenken"'. Dieses Tun stellt für Kie. die Nächstenliebe in ihrer uneigennützigsten Gestalt dar, weil es hier die Möglichkeit nicht gibt, dass die Tat in Wirklichkeit durch den Wunsch nach Gegenleistung motiviert sei. Hier gibt es den Nächsten ja nicht mehr. (A.a.O., 378ff.). Man kann die Ethik Kie.s derart verstehen, dass er an ein bestimmtes Element der lutherischen Ethik anknüpft und es betont, nämlich
Literatur zu Kapitel 9
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den Charakter der Nächstenliebe als spezifisch christliche Handlungsmöglichkeit. Diese ist im Gottesglauben des Einzelnen begründet, und sie unterscheidet sich darin von allgemein menschlichen Handlungsmöglichkeiten, dass sie Selbstverleugnung und Leiden beinhaltet. Hingegen scheint Kie. das andere Element der lutherischen Ethik aufgegeben zu haben: Den Gedanken vom natürlichen Gesetz und seiner teilweisen Übereinstimmung mit der christlichen Nächstenliebe. Kie. betont ja gerade den Gegensatz, ja den Widerspruch zwischen dem christlichen Glauben und dem, was die „Welt" unter Liebe versteht.
Literatur zu Kapitel 9 Quellen Kierkegaard, S. (1957): Entweder-Oder. Ein Lebensfragment herausgegeben von Viktor Eremita. (Gesammelte Werke. Bd. 3). Düsseldorf. Kierkegaard, S. (1950)\Furcht und Zittern. (Gesammelte Werke, Bd. 4). Düsseldorf.
Kierkegaard, S. (1966): Der Liebe Tun. Etliche christliche Erwägungen in Form von Reden. (Gesammelte Werke, Bd. 19). Düsseldorf.
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Schleiermacher, F.D.E. (1843): Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aus Schleiermacher's handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen herausgegeben von L. Jonas. Berlin. Schleiermacher, F. (1976): Dialektik. Im Auftrage der preußischen Akademie der Wissenschaften auf Grund bisher unveröffentlichen Materials herausgegeben von R. Odebrecht. Darmstadt.
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(Winterse-
mester 1826/27). Nach größtenteils unveröffentlichten Hörernachschriften herausgegeben und eingeleitet von Hermann Peiter. Stuttgart. Schleiermacher, F.D.E. (1990): Ethik (1812/13) mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre. Auf der Grundlage der Ausgabe von O. Braun herausgegeben und eingeleitet von Hans-Joachim Birkner. Hamburg.
Sekundärliteratur Maclntyre, A. (1995): Der Verlust der Tugend. Frankfurt/M.
Moxter, M. (1992): Güterbegriff und Handlungstheorie. Eine Studie zur Ethik F. Schleiermachers. Kampen.
Kapitel 10. Ethik-Kritik Dieses Kapitel handelt von dem, was man Ethik-Kritik nennen kann. Der Ausdruck soll als Analogie zu „Religionskritik" verstanden werden, und es sind zum Teil dieselben Denker, die man mit diesen beiden Begriffen verbindet, unter anderem Nietzsche und Freud. Um deutlich zu machen, was mit dem Begriff gemeint ist, wählen wir als Ausgangspunkt Kants und Mills ethische Theorien. Gewissermaßen nehmen beide komplementäre Grundpositionen innerhalb der Ethik der Moderne ein: Der eine vertritt eine deontologische (pflichtethische) Theorie, der andere eine teleologische (konsequenzethische). Obwohl sie gegensätzlich sind, haben sie doch auch Grundzüge gemeinsam: (i) sie verstehen sich selbst als mit der christlichen Ethik vereinbar; man kann sagen, dass sie die eigentliche Nächstenliebe säkularisieren, indem sie sie in Wohlwollen bzw. Wohltun (beneficence) verwandeln; (ii) sie setzen voraus, dass der Mensch als ethisches Subjekt ein freies, rationales, verantwortliches Wesen ist. Unter Ethik-Kritik kann man nun die Auffassung verstehen, die diese beiden Voraussetzungen radikal in Frage stellt. Sie ist sowohl ein Angriff auf die Ethik der christlichen Nächstenliebe (sei sie säkularisiert oder nicht) als auch auf die Behauptung, dass der Mensch einer Illusion unterliegt, wenn er sich selbst als autonomes ethisches Subjekt auffasst.
10.1 Nietzsches Auseinandersetzung mit der Sklavenmoral Vom Pastorensohn Friedrich Nietzsche (1844-1900) sollen nur die allerwichtigsten Daten angeführt werden. 1869 wird er Professor in klassischer Philologie in Basel (bis 1879). Einer der ersten, die die Bedeutung seines Werkes hervorheben, ist der dänische Literat Georg Brandes, der 1888 über „den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche" Vorlesungen hält. 1889 bricht Nietzsche psychisch zusammen.
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Nietzsches Kritik der Moral kommt in vielen seiner Schriften vor. Im Folgenden halte ich mich im Großen und Ganzen an Zur Genealogie der Moral (1887). Das Buch besteht aus drei Teilen, die wiederum eingeteilt sind in kleinere nummerierte Abschnitte. Auf sie wird hingewiesen mit Angabe von Teil und Abschnitt (z.B. III, 15).
In der Schrift Zur Genealogie der Moral betont Nietzsche ausdrücklich das Anliegen der Ethik-Kritik. Er schildert in der Einleitung, was geschieht, wenn man die Mitleids-Moral (die christliche) genauer untersucht: ... eine Möglichkeit fasst ihn wie ein Schwindel, jede Art Misstrauen, Argwohn, Furcht springt hervor, der Glaube an die Moral, an alle Moral wankt - endlich wird eine neue Forderung laut. Sprechen wir sie aus, diese neue Forderung, wir haben eine Kritik der moralischen Werte nötig,
der Wert dieser Werte ist selbst erst einmal in Frage zu stellen ... (Vorrede, 6).
Implizit benutzt Nietzsche hier eines der Schlagworte, die man so oft mit seinem Denken verbindet: „Umwertung aller Werte". Sie ist nach seiner Auffassung notwendig, weil die Werte, die die platonisch-christliche westliche Kultur prägten, selbst entstanden sind durch das Aufden-Kopf-stellen des rechten Zustandes der Dinge. Ethik-Kritik ist ein Teil dieser umfassenden Auseinandersetzung mit den Werten. Um zu verstehen, was Nietzsche meint, gehen wir von den verschiedenen Bedeutungen aus, die das Wort „gut" haben kann. Der Einfachheit halber können wir zwischen zwei Bedeutungen unterscheiden: (i) „gut" bedeutet tüchtig und der Gegensatz ist dann „schlecht"; (ii) „gut" bedeutet ethisch richtig und der Gegensatz ist „böse" oder „falsch". Für Nietzsche ist „gut" in beiden Bedeutungen Ausdruck dafür, dass der Mensch ein Wesen ist, das die Welt in Werten misst und die Wirklichkeit mit einem „Werte-setzenden Blick" betrachtet (1,10). Dass die christliche Moral durch eine Umkehrung der Werte entstanden ist, bedeutet Folgendes. Die grundlegende Wertebestimmung besteht darin, dass der Mensch „Ja" sagt zu sich selbst und sein Leben unverdorben und ungezwungen entfaltet. Als seinen Gegensatz wird dieser Mensch das schwache und weniger lebenstaugliche Leben sehen, und er wird diesem mit Nachsicht begegnen. Das Ursprüngliche ist also der Gegensatz gut-schlecht. Er prägt die „Moral" der Lebenstauglichen, der „Vornehmen", der Aristokraten.
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Ethik-Kritik
Wenn aber die Wirklichkeit aus der Sicht der Schwachen gesehen wird, geschieht eine andere Festlegung der Werte. Die Schwachen erleben die Vornehmen als die Überlegenen und sich selbst als die Ohnmächtigen. Sie können deshalb nicht ohne weiteres „Ja" sagen zu ihrem Leben. Ihr primäres Werturteil ist, dass die Starken „böse" sind, und als Gegensatz hierzu können sie sich selbst als „gut" betrachten. Das bedeutet aber, dass die Grundlage dieser Moral alle die Gefühle sind, die die Ohnmacht der Unterdrückten ausdrücken und die Nietzsche mit dem Ausdruck Ressentiment zusammenfasst. Damit ist klar, warum Nietzsche von der Genealogie der Moral spricht, also von ihrer Entstehungsgeschichte: Er betrachtet die moralischen Gefühle als Resultat eines Prozesses. Damit aber bekommt seine Analyse den Charakter der Enthüllung: All die positiven Gefühle in der gängigen christlichen Moral - Hilfsbereitschaft, Selbstlosigkeit, Liebe usw. - sind in Wirklichkeit getarnte Rachsucht. Wie konnte diese Umkehrung stattfinden? Nietzsche gibt eine Erklärung, die einer kulturgeschichtlichen Hypothese ähnelt, die man jedoch nicht allzu buchstäblich auffassen sollte. Die schwachen Menschen bekamen einst den Staat von den starken aufgezwungen, die zu der Zeit „wilde Horden" waren. Nietzsche nimmt ironisch Abstand von dem Gedanken, dass die Gesellschaftsbildung durch einen Vertrag erfolgt sei. Sie beruht im Gegenteil auf einem gewalttätigen Übergriff. Staatsbildung bedeutet, dass der freie Drang der Schwachen zur Selbstentfaltung und ihre nach außen gerichtete Tätigkeit unterdrückt werden. Deshalb können sie nicht anders, als diesen Drang gegen sich selbst zu richten. Die gesunde Lust, andere zu peinigen, wird zur krankhaften Lust, sich selbst zu misshandeln. Der stärkste Ausdruck von Selbstpeinigung ist das schlechte Gewissen. Damit wird das Altruistische als moralische Kategorie geschaffen, z.B. in Form von Uneigennutz, Selbstaufopferung und Selbstverleugnung. Die Moral, mit der wir hier zu tun haben, ist also die der unterdrückten Sklaven. Sie zeigt sich am deutlichsten in der Unterscheidung der Priester zwischen Rein und Unrein, die in Wirklichkeit Grundformen der Umwertung der aristokratischen Wertauffassung sind. Das beste geschichtliche Beispiel dafür, dass die Priester die Ohnmächtigen repräsentieren, findet sich nach Nietzsche bei den Juden. Sie seien das priesterliche Volk,
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das sich an seinen Feinden und Überwältigern zuletzt nur durch eine radikale Umwertung von deren Werten, also durch einen Akt der geistigen Rache Genugtuung zu schaffen wußte. (1,7).
Mit den Juden beginnt der Sklavenaufitand in der Moral, und er kulminiert mit Jesus von Nazareth. Die Liebe, die er predigt, ist die raffinierteste Ausgabe der Rachsucht der Schwachen. Er bringt ja gerade die Liebe und die Erlösung zu den Armen, den Kranken, den Sündern - also den Sklaven. Im Christentum kulminiert der Selbsthass in Form des absoluten Schuldgefühls. Aber die Sklaven probten den Aufstand, ihre Moral hat gesiegt und sie prägt noch immer die europäische Kultur. Die christliche Liebesmoral entspringt dem Selbsthass, und deshalb ist diese Kultur von Menschenverachtung geprägt. Der Mensch lebt wie ein krankes Tier, das sich sowohl ekelt als auch Mitleid mit sich selbst hat. Das beste Bild von der gegenwärtigen Kultur ist das Bild eines Krankenhauses, in dem sich die Priester der Kranken annehmen, mit dem Ergebnis, dass sie weiter krank bleiben. Diese Kultur, die Nietzsche um sich herum sieht, ist eine nihilistische Kultur. Nihilismus ist nämlich dasjenige Nein-Sagen zum Menschen und zum Leben, für welches die christliche Moral Ausdruck ist. Obwohl Nietzsche starke Worte über das Christentum und die Kultur der Zeit ausspricht, bringt er eigentlich keinen Vorwurf zum Ausdruck. Es ist sein Anliegen herauszufinden, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Seine Erklärung finden wir z.B. in seiner Analyse der konkreten Manifestationen der angeblichen Nächstenliebe, d.h. der Wohltätigkeit, des Gebens, Helfens, Lobens und Tröstens. Durch das Ausüben dieser Taten erlangt der Mensch die Freude des Freudemachens. Man erlebt das Glück durch die „kleine Überlegenheit", die an alle Wohltätigkeit geknüpft ist. Wir haben gesehen, dass man nach Kant diese Freude dämpfen soll (s.o. S. 154). Aber diese Freude ist fiLir Nietzsche die Hauptsache. Wenn die Priester dem Menschen vorschreiben, diese Formen der Nächstenliebe zu zeigen, schreiben sie ihnen in Wirklichkeit vor ... eine Erregung des stärksten, lebensbejahendsten Triebes, wenn auch nur in der vorsichtigsten Dosierung - des Willens zur Macht. (111,18).
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„Wille zur Macht" ist der Grundbegriff in Nietzsches spätem Denken. Der Wille zur Macht ist keine Eigenschaft, die einige Menschen haben und andere nicht. Er ist das Wesen des Menschen selbst, ja der grundlegende Zug jeder Form von Wirklichkeit. Der Wille zur Macht ist als Nietzsches Antwort auf Hegels „Geist" charakterisiert worden. 1 Aber das bedeutet, dass es der Wille zur Macht ist, der sich sowohl in der Lebensentfaltung der Vornehmen als auch im Ressentiment der Sklaven äußert. Der Wille zur Macht ist im buchstäblichen Sinne amoralisch. Er ist ursprünglicher als der moralische Wertunterschied — „jenseits von Gut und Böse". Er ist es, der hinter der Wert-Setzung des Menschen liegt, denn Wert ist das, was die Macht der Lebensentfaltung vergrößert. Obwohl Nietzsche also keinen Vorwurf gegen die christliche Moral richten kann (was ja die Begriffe „gut" und „böse" voraussetzen würde), kann er sie als eine schwache Manifestation des Willens zur Macht auffassen. Er drückt deshalb die Erwartung aus, dass die Vornehmen ihre jetzigen oder zukünftigen Nachfolger in Gestalt der „freien Geister" oder geradezu als des .Antichristen" oder des „Antinihilisten" erwarten können. Aber eine eigentliche Alternative zur christlichen Kultur sieht er in seiner Gegenwart nicht. Eine säkulare Ethik wie der Utilitarismus ist es nicht: Ein „Nutz-Kalkulieren" und dessen berechnende Klugheit haben nichts gemeinsam mit dem Pathos der Vornehmheit (1,2). Auch die scheinbar atheistische Wissenschaft ist keine Alternative zur Lebensverleugnung des Christentums; auch sie gehört noch zur kranken Kultur. Das gilt auch für die Philosophie. In ihrem abstrakten Denken kommt das Lebensfeindliche zum Ausdruck. Das zeigt sich an Kants Begriff vom Intelligiblen oder in der Idee vom „reinen" Erkenntnissubjekt, das ganz unabhängig von Willen, Zeit und Schmerzen ist. Ein solches Subjekt ist wie ein Auge ohne Richtung. Und das ist natürlich eine Illusion: Ein Auge sieht von einem bestimmten Ort aus und in eine bestimmte Richtung; es sieht Dinge in einer Perspektive. Und dasselbe gilt fiir jede Form von Erkenntnis. Davon versucht die Philosophie abzusehen. Aber dadurch versucht sie, die aktiven und deutenden Kräfte des Menschen zu unterdrücken. Letzten
1
Kaufmann 1982, 216.
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Endes will sie den Willen eliminieren, aber das bedeutet, den „Intellekt zu kastrieren" (111,12). Nietzsches Kritik zielt nicht auf eine Moralreform, sondern geht tiefer. Er behauptet nicht nur, dass der Inhalt und die Begriffe der christlichen Moral in Ressentiments gründen, sondern dass die Voraussetzungen des Menschenbildes in der europäischen Ethik selbst illusorisch sind. Zu diesen Voraussetzungen gehört, dass der Mensch ein freies Subjekt ist und für seine Handlungen verantwortlich gemacht werden kann. Diesen Gedanken von einem freien ethischen Subjekt betrachtet Nietzsche als eine Konstruktion, die auf zwei Dingen beruht: (i) den Irrtümern des Denkens, wie sie sich in versteinerter Form in der Sprache ausdrücken; sprachlich unterscheiden wir ja eben zwischen Subjekt und Handlung („ich/ zeigte Mitleid" usw.); (ii) der Strategie der Sklaven gegenüber den Vornehmen; indem sie ihnen eine konstruierte Freiheit zuschreiben, können sie sie für ihre Lebensentfaltung verantwortlich machen. Aber die Unterscheidung zwischen Subjekt und Handlung ist eben Nietzsche zufolge eine Illusion. In der eigentlichen (guten) Lebensentfaltung ist der Handelnde eins mit seiner Handlung, die Person geht in der Lebensentfaltung auf: „das Tun ist alles" (1,13). Der Glaube an das ethische Ich und den freien Willen ist also eine illusorische Konstruktion — in diesem Sinne ist Nietzsche Determinist. 2 Die Radikalität in Nietzsches Kritik liegt darin, dass er nicht nur den konkreten Inhalt der christlichen Moral angreift — den Gedanken der Nächstenliebe z.B. - sondern die philosophische und theologische Denkform selbst, die die ethische Theorie seit der Antike mehr oder weniger unverändert geprägt hat. Diese Denkform ist für Nietzsche Ausdruck einer lebensverleugnenden Metaphysik. Der eigentliche Feh2
Nietzsche hat im Zusammenhang mit der so genannten „dekonstruktivistischen" Philosophie (wieder) eine gewisse Aktualität erlangt. Dieses eigentümliche Wort verdanken wir teilweise Martin Heidegger, der behauptet, dass das Denken seit Piaton sich fundamentaler Irrtümer schuldig gemacht hat, indem es das Sein mit dem Seienden verwechselt hat (siehe näher Kap. 11, S. 246f.). Die Aufgabe der Philosophie sei es deshalb, die Denkkonstruktionen der traditionellen Philosophie zu „destruieren". Obwohl Nietzsche den Ausdruck nicht gebraucht, kann man gewiss mit Recht sagen, dass auch er eine Destruktion des traditionellen Denkens fordert. Uber Dekonstruktion, siehe Norris 1982.
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Ethik-Kritik
ler der Philosophen ist: „Sie glauben noch an die Wahrheit" (111,24). Aber Wahrheit ist nicht ein absoluter, objektiver Begriff. Sie ist Auswirkung eines „Willens zur Wahrheit", also eine Konstruktion der Vorstellung von Wahrheit, die der Machtwille vornimmt. Diesen Willen zur Wahrheit hat das Christentum in seinem ethischen Ideal von Wahrhaftigkeit gezüchtet. Aber gerade deshalb wird die christliche Moral sich selbst zerstören. Denn obwohl es die Wahrheit nicht gibt, wird der Wille zur Wahrheit uns zu der Einsicht bringen, dass die christliche Moral ein Produkt eines wertesetzenden Willens ist.
10.2 Freuds Psychoanalyse als Ethik-Kritik Sigmund Freud (1856-1939) ist u.a. wegen seiner Rede von den drei Kränkungen des Menschen berühmt geworden: derjenigen durch Kopernikus (wir befinden uns nicht im Zentrum des Universums), Darwin (wir sind nicht über die Tiere erhaben) - und die Psychoanalyse (wir sind - als Bewusstseinswesen - nicht Herr im eigenen Haus). Viele der Gedankengänge Nietzsches sind als Vorwegnahme von Freuds Psychoanalyse betrachtet worden. Es gibt natürlich entscheidende äußerliche Unterschiede: Freud war Arzt und entwickelte die Psychoanalyse als eine Theorie zur Grundlage der Behandlung von Geisteskranken. Die Psychoanalyse enthält jedoch eine ethik-kritische Dimension, die ich andeuten werde, indem ich die Grundideen nenne, wie sie Freud im Abriß der Psychoanalyse (1938) darstellt. Um zu verstehen, wie das psychische Leben des Menschen sozusagen funktioniert und wie es sich in krankhaften Formen äußern kann, hat Freud ein Modell der Psyche entwickelt, eine Vorstellung von den Kräften und Faktoren, die unserem Seelenleben zu Grunde liegen. Dieses Modell beinhaltet, in aller Kürze gesagt, dass vor allem drei Instanzen in der Psyche wirksam sind: (1) ein „Es", (2) ein „Ich" und (3) ein „Uber-Ich". (1) Das „Es" des Menschen ist der Teil der Psyche, in dem die angeborenen und körperlich bedingten Kräfte zu Hause sind. Eine solche Kraft ist z.B. der Sexualtrieb. (2) Das „Ich" ist diejenige Instanz der Psyche, die sozusagen das Verhältnis des Individuums zu seiner Umwelt steuert. Das bedeutet,
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dass unser „Ich" u.a. eine kontrollierende Funktion über das „ E s " u n d sein Triebleben ausüben muss, d.h. es muss entscheiden, welche Triebe zu welchem Zeitpunkt befriedigt werden. Bekanntlich schreiben Freud u n d die spätere Psychoanalyse der Entwicklung des Kindes entscheidende Bedeutung ftir das spätere Seelenleben der Person zu. U n d für das K i n d gilt, dass sein eigenes „Ich" nicht alleine das Triebleben reguliert. A m A n f a n g sind es im Gegenteil primär Personen im Umkreis des Kindes - in der Regel die Eltern - die bestimmen, was das K i n d darf u n d nicht darf. U n d das heißt mit Freuds Worten: Welche Triebe ihm zufriedenzustellen erlaubt sind und welche nicht. Diesem Einfluss der Eltern kann sich die Person niemals entziehen. Es geschieht nämlich nach Freud eine „Internalisierung", u n d das K i n d macht die Kontrollinstanz seiner Eltern zu seiner eigenen. (3) D a d u r c h entsteht der dritte psychische Faktor, das „Über-Ich". D a m i t bezeichnet Freud also eine aus der Umwelt ü b e r n o m m e n e Kontrollinstanz, die das „Ich" in seiner Regulierung der Triebforderungen, die v o m „ E s " ausgehen, stützt. Infolge dieses Modells hängt die psychische Entwicklung des Menschen - u n d seine eventuellen seelischen Leiden — also in h o h e m G r a d e davon ab, wie sich das Z u sammenspiel zwischen d e m mitgebrachten Triebleben des Kindes u n d der „ Z e n s u r " der Eltern geformt hat. Freuds Theorie hat nicht nur Bedeutung ftir die Entwicklung der Psychoanalyse, sondern z.B. auch für das Verständnis davon, was Ethik ist. Freud glaubte nämlich, ausgehend von seinem Modell der Psyche auch die menschliche Kultur beschreiben zu können. N a c h seiner Auffassung beruht Kultur im G r u n d e g e n o m m e n auf zwei Faktoren: auf der Nutzung der Natur durch den Menschen mit d e m Ziel, Güter zur Befriedigung von Trieben u n d Bedürfnissen hervorzubringen - u n d auf der sozialen Organisation der Menschen zum Zweck der Verteilung der der N a t u r abgerungenen Güter. D a s Kulturleben spielt sich also teils im Verhältnis zur Natur, teils im geordneten Verhältnis zwischen M e n s c h e n ab. U n d in beiden Relationen ist nach Freud Triebverzicht erforderlich: D i e N a t u r ist nicht nur eine freigebiges Wesen, das den Menschen Güter zur Verfüg u n g stellt; sie ist gleichzeitig eine bedrohliche und grausame Macht, die d e m Menschen Leiden, Krankheit und T o d zufugt. U n d andererseits: D i e sozialen O r d n u n g e n bewirken nicht nur, dass Menschen
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Ethik-Kritik
zusammen arbeiten können, um Güter hervorzubringen. Ein einigermaßen stabiles Gesellschaftsleben setzt voraus, dass sie auf die Befriedigung fundamentaler angeborener Triebe, wie z.B. die Lust zu töten, verzichten. Die Kultur ist also auf keine Weise eine „natürliche" Gegebenheit. Im Grunde ist der einzelne Mensch Freud zufolge ein Feind der Kultur. Sowohl Freuds Modell der Psyche als auch seine Kulturtheorie haben Konsequenzen fiir die Ethik. Das Modell der Psyche stellt den Gedanken vom Menschen als autonomes Subjekt in Frage: Was ich selbst als einen freien Entschluss auffasse, kann in Wirklichkeit eine Folge eines psychischen Mechanismus sein, den ich selbst nicht durchschauen kann.3 Man kann es auch so ausdrücken, dass die psychoanalytische Theorie einen ganz neuen Typus von Handlungen einfuhrt. Man hat im Verlauf der Geschichte der Ethik zwischen eigentlichen, bewussten und intendierten Handlungen auf der einen Seite und unkontrollierbaren Triebäußerungen auf der anderen Seite unterschieden. Die Psychoanalyse operiert mit Begriffen wie Verdrängung, Projektion u. dergl. Diese können unbewusste Handlungen genannt werden. Es sind Handlungen in dem Sinne, dass ein Mensch — vielleicht durch Psychoanalyse oder andere Therapie — zu der Erkenntnis kommen kann, dass er ihr Subjekt ist. Das wirft eine ganz neue Art ethischer Fragen auf: Ist der Einzelne ethisch verpflichtet, zur Einsicht über solche unbewussten Handlungen zu gelangen?
Entwicklungspsychologie und Ethik Nicht nur die Psychoanalyse, sondern auch verschiedene Formen der Psychologie bedeuteten neue Möglichkeiten, sich den Problemen der Ethik zu nähern. Wir werden jetzt kurz darauf eingehen, auf welche Weise man moralisches Denken und Urteilen in Untersuchungen der psychischen Entwicklung von Personen einbezogen hat. Damit bewegen wir uns außerhalb der Ethik-Kritik.4 3
4
Es muss allerdings auch erwähnt werden, dass Freud ein Mittel zur Verfugung stellt, das die Autonomie des Subjektes wiederherstellen kann, nämlich die Psychoanalyse. Eher als der Ethik-Kritik kann man die Moralpsychologie der deskriptiven Ethik zuordnen, vgl. Kap. 1. S. 7.
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Einer der Begründer der Entwicklungspsychologie, der Schweizer Jean Piaget (1896-1980), legte Ende der 40er Jahre eine Theorie über die Moralentwicklung des Kindes auf der Grundlage von empirischen Untersuchungen vor. Er kam zu dem Ergebnis, dass das Kind im Laufe seiner Entwicklung zwei ganz verschiedene Einstellungen zu Moralnormen (und zu Regeln im Allgemeinen) entwickelt. Die bloße Verpflichtung zur Norm entsteht, wenn das Kind Anweisungen von einer Person erhält, vor der es Respekt hat. Zunächst folgt es den Normen auf eine Weise, die Piaget heteronom nennt: Die Norm ist von außen gegeben und wird als absolut gültig aufgefasst. Aber etwa im Alter von 9-10 Jahren findet sich eine andere Einstellung ein, die Piaget Autonomie nennt. Nun werden die Normen nicht nur deshalb befolgt, weil andere sie aufgestellt haben, sondern auf der Grundlage gegenseitiger Achtung. Normen werden als Grundlage für die Zusammenarbeit von Menschen erlebt. Wenn Piaget Recht hat, ist es naheliegend zu schließen, dass die so genannte autoritäre Erziehung nur dem Erleben des kleinen Kindes entspricht, während die Erziehung des größeren Kindes von Zusammenarbeit und dem Eingehen von Verabredungen geprägt sein sollte. Im Übrigen macht Piaget darauf aufmerksam, dass die gegenseitige Achtung, die eine Voraussetzung dafür ist, auf diese Art zusammenarbeiten zu können, auf etwas Elementarem aufbaut, nämlich dem, was Piaget „Bedürfnis nach gegenseitiger Zuneigung" nennt (Piaget 1981, 199). Eine Weiterentwicklung der Ideen Piagets finden wir bei dem amerikanischen Psychologen Lawrence Kohlberg. Er bezieht die gesamte persönliche Entwicklung, auch die des Erwachsenen, ein. Auf der Grundlage seiner Untersuchungen unterscheidet er zwischen 6 Entwicklungsstufen des moralischen Denkens. Die 6 Stufen sind geprägt von einer ständig weiterentwickelten Fähigkeit, einen Begriff wie Gerechtigkeit zu gebrauchen, unabhängig von den konkreten Beziehungen, in denen sich die Personen befinden. Die ersten Stufen sind geprägt vom Akzeptieren der bestehenden sozialen Normen, die obersten Stufen sind durch die Fähigkeit gekennzeichnet, ethische Prinzipien auf neue Problemstellungen anzuwenden. 5 5
Über Kohlbergs Theorien siehe z.B. Reiter-Theil 1988, 155-175.
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Ethik-Kritik
10.3 Darwin und die moderne
Soziobiologie
Obwohl Nietzsche in keiner Weise Darwinist genannt werden kann er kritisierte geradezu auch diesen Ismus — ist sein Gedankengang nicht unbeeinflusst von der Erschütterung, die die biologische Evolutionstheorie für das traditionelle Menschenbild bedeutet hat. Ich werde im Folgenden die Hauptzüge von Charles Darwins (1809-1882) Evolutionstheorie umreißen, um vor diesem Hintergrund etwas näher auf die Auffassungen von Ethik in der modernen Biologie einzugehen. Die verschiedenen lebenden Arten können Darwins Theorie zufolge nicht auf einmal entstanden (erschaffen worden) sein, sondern müssen sich alle aus einfacheren („primitiveren") Formen entwickelt haben. Diese biologische Entwicklung — von der man jetzt annimmt, dass sie etwa 4 Milliarden Jahre gedauert hat - beruht auf drei Faktoren: 1. Es treten Änderungen in den Erbanlagen der Organismen (Mutationen) auf. Das bewirkt 2. Variation in den Anpassungs- und Uberlebensmöglichkeiten. 3. Selektion: Auswahl der anpassungsfähigsten Individuen. Diese Theorie bewirkt wie gesagt eine entscheidende Wende in der Anthropologie. Der Gedanke der Humanität, der Würde des Menschen, ist, wie wir sahen, traditionell an die Vorstellung geknüpft, dass der Mensch über alle anderen lebenden Wesen, über die Tiere, erhaben ist (vgl. Cicero, Pico, Kant). Jetzt wird der Mensch in den Zusammenhang mit den anderen Tieren eingefugt: „Der Mensch stammt von den Affen ab". Diese Betrachtungsweise ist die alles dominierende innerhalb der wissenschaftlichen Biologie. Und man muss sie heute vermutlich auch als allgemein anerkannt unter Laien betrachten. Sie gehört mit anderen Worten zum Weltbild und zur Lebensauffassung, an der sich die meisten Menschen in der westlichen Welt orientieren. Darwins Theorie enthält jedoch ein ethisches Paradox: Wenn der Kampf um das Überleben und „survival of the fittest" zur Natur des Menschen gehören, wie kann es dann Nächstenliebe und Selbstlosigkeit geben? Das ethische Paradox wurde in der modernen biologischen Forschung aufgegriffen. Sie hält am Grundgedanken der Evolutionstheorie fest, hat ihn aber natürlich in vielen Einzelheiten erweitert. Als
Darwin und die moderne Soziobiologie
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Ergebnis einer entscheidenden Neuentdeckung weiß man heute, was Erbanlagen überhaupt sind. Die Gene sind Teile (Sequenzen von Basen) eines riesigen DNS-Moleküls, die alle Organismen in ihren Zellen enthalten, und die die Lebensprozesse steuern. Sowohl Evolutionstheorie als auch Genetik sind auf diese Weise für die moderne biologische Anthropologie bedeutsam. In der folgenden Skizzierung einiger Auffassungen von Ethik in der heutigen Biologie beziehe ich mich auf einen Artikel des deutschen Anthropologen Christian Vogel. „Evolution und Moral". Gerade das Verständnis der genetischen Mechanismen bringt die moderne Biologie in die Lage, eine Lösung für das ethische Paradox des Darwinismus vorzuschlagen.6 Nach Darwin ist es das „Ziel" der Evolution, so gut angepassteIndividuen wie möglich hervorzubringen. Vogel nennt die Eigenschaft solcher Individuen „Darwin-Fitness". In der modernen Biologie wird jedoch angenommen, dass die entscheidende Einheit in der Evolution nicht das Individuum, sondern die Gene sind: Das „Ziel" ist die optimale Ausbreitung eines Gen-Bestandes. Man spricht in diesem Zusammenhang von „inklusiver Fitness": Die Geeignetheit und Angepasstheit von Individuen zeigt sich in deren Fähigkeit, ihre Gene zu reproduzieren, und Reproduktion umfasst (inkludiert) mehr als das einzelne Individuum. Vogel formuliert den entscheidenden Mechanismus der Evolution auf folgende Weise: ... die natürliche Selektion [wird] automatisch solche Allele [Gene] favorisieren ..., die ihre „Träger'-Organismen so agieren lassen, als ob sie eine rationale Kosten-Nutzen-Bilanzierung richtig durchgeführt hätten, wie immer dieses „als ob" auch zustande gekommen sein mag. (Vogel 1986, 472).
Einfach formuliert: Wenn der einzelne Organismus ein Verhalten zeigt, das die Ausbreitung seiner Gene fördert, wird er von der Selektion 6
Man sollte es nicht versäumen, hier an einen wichtigen Gedankengang zu erinnern, der sich zwischen Darwin und der modernen Soziobiologie eine Zeitlang geltend gemacht hat: den so genannten Sozialdarwinismus. Er ist der Versuch, die Evolutionstheorie direkt in eine Sozialethik umzusetzen. Der Gedankengang ist vereinfacht dieser: Die Evolutionstheorie zeigt uns, dass das Grundgesetz des Lebens den Sieg des Stärkeren im Überlebenskampf beinhaltet. Diesem Grundgesetz sollten wir auch bei der Einrichtung unserer Gesellschaft folgen. - Als der wichtigste Vertreter des Sozialdarwinismus wird üblicherweise der englische Philosoph Herbert Spencer (1820-1903) genannt.
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Ethik-Kritik
bevorzugt. Von dieser Grundannahme aus meint man, nicht nur Tierverhalten ganz allgemein, sondern auch soziale Handlungen von Menschen verstehen zu können. Den Zweig der Biologie, der sich mit dieser Problemstellung beschäftigt, nennt man heute Soziobiologie. Zu ihrem Gegenstandsbereich gehören auch ethische Normen, die ja zum Steuern des menschlichen „Verhaltens" beitragen. Die Soziobiologie hat also in gewisser Weise dasselbe Anliegen wie Nietzsche: die Genealogie der Moral aufzuzeigen. Der Gedanke, dass das Verhalten, welches die Weiterfuhrung eines Genbestandes fördert, in der Evolution belohnt wird, fuhrt zum Verständnis von zwei Formen des „selbstlosen" Verhaltens, nämlich (1) „kin selection" und (2) „reziprokem Altruismus". .Altruismus" bedeutet in diesem Zusammenhang ganz einfach ein Verhalten, das anderen nützt ohne offensichtlichen Vorteil für das agierende Individuum selbst. (1) Der Begriff „kin selection" (Verwandtschaftsselektion) besagt, dass es biologisch zweckmäßig ist, Individuen zu helfen, mit denen man Gene gemeinsam hat, d.h. Verwandten. Man verwendet in diesem Zusammenhang die Bezeichnung „Nepotismus", was ja im normalen Sprachgebrauch Favorisierung von Verwandten bedeutet. Kin selection bedeutet nicht, dass das Individuum seinen Verwandten bewusst eine positive Sonderbehandlung gibt, sondern es entwickeln sich auf der Grundlage der Evolutionsmechanismen Handlungsmuster, bei denen die Bevorzugung der genetisch Nahestehenden das eigentliche Ziel ist. (2) Unter reziprokem Altruismus versteht man helfendes Verhalten anderen gegenüber, das zur Folge hat, dass man selbst Hilfe von anderen bekommt („Ifyou Scratch my back, I'll Scratch yours"). Hier muss der Empfänger der Hilfe kein genetisch Verwandter sein; denn unabhängig von den Verwandtschaftsverhältnissen verbessern sich die Chancen des Agierenden, seine Gene auszubreiten. Vogel zieht aus diesen elementaren soziobiologischen Überlegungen den vorläufigen Schluss, dass sich auf der genetischen Basis durch die natürliche Selektion kein Altruismus entwickeln kann, der sich auf gleiche Weise an alle Artverwandten richtet (eine universelle „Nächstenliebe"). Man könne im Gegenteil das folgende „Gebot" für die genetisch bedingte „Moral" formulieren:
Darwin und die moderne Soziobiologie
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„ H i l f deinen Verwandten nach Maßgabe ihrer jeweiligen genealogischen Verwandtschaftsnähe zu dir, jedoch im Zweifelsfalle allen weniger als dir selbst (und deinen leiblichen Kindern)". (A.a.O., 4 7 3 ) .
Dieses Gebot fasst nach Vogel das grundlegende Prinzip vom „genetischen Eigennutzen" zusammen. Es herrscht offensichtlich kein Zweifel daran, dass viele soziale Normen der soziobiologischen Beschreibung entsprechen. Besonders in einfacheren Gesellschaften — aber nicht nur da — kommt es ja vor, dass Familienmitglieder in besonderem Maße Hilfsbereitschaft, Unterstützung usw. genießen.7 Andererseits kann aber auch nicht angezweifelt werden, dass es ethische Normen gibt, die nicht ohne weiteres unter das Prinzip des genetischen Eigennutzes eingeordnet werden können. Das gilt natürlich par excellence für das christliche Gebot der Nächstenliebe und der Feindesliebe. Solche Normen, die anscheinend das völlig selbstlose Handeln fordern, sind für die Soziobiologie eine Herausforderung. Man hat versucht, eine Erklärung für das Vorkommen solcher Normen zu geben. Zum Beispiel wurde die Hypothese aufgestellt, dass es (genetisch) vorteilhaft ist, ethische Normen zu unterstützen, die andere dazu bringen, sich etwas moralischer zu verhalten als man selbst (dann helfen sie mir mehr, und ich komme dabei besser weg!). Eine andere Theorie ist die, dass es von einem Selektionsgesichtspunkt aus vorteilhaft ist, als moralisch ehrenwert zu gelten. Vogel zitiert einen Kollegen (Jan Wind) mit der folgenden Formulierung dieses Standpunktes: the most altruistic humans are likely to have the most selfish genes (a.a.O. 479). 8
Hier stoßen wir auf das ethik-kritische Moment der Soziobiologie: Die Evolution hat Menschen so selektiert, dass der faktische eigen7 8
Man könnte etwa an die Normen in den ältesten Traditionen der alttestamentlichen Texte denken, vgl. Kapitel 3. Man ist versucht zu sagen, dass die Auffassung Adam Smiths hier auf den Kopf gestellt wird. Während ihm zufolge die eigennützige Handlung in Wirklichkeit anderen dient, meinen die hier genannten Biologen, dass die selbstlose Handlung in Wirklichkeit (genetisch) eigennützig ist. Die „unsichtbare Hand" der Genetik!
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Ethik-Kritik
nützige Mechanismus für uns unbewusst bleibt. Wir wissen selbst nicht, dass wir eigennützig handeln, wenn wir glauben, aus Nächstenliebe zu handeln: Wir unterliegen einer Illusion. Und im Gegensatz zu Nietzsche und Freud können die Soziobiologen hinzufügen: Diese Illusion ist notwendig! Vogel selbst ist kein extremer, reduktionistischer Soziobiologe. Das kommt unter anderem darin zum Ausdruck, dass er die genetischen Mechanismen nicht als das Einzige betrachtet, was das menschliche Handeln bestimmt. Er rechnet mit drei Quellen ftir die Moral: 1. das biogenetische Potential; d.h. das Verhaltensmuster, das direkt durch die biologisch-genetische Entwicklung entstanden ist; 2. das tradigenetische Potential; d.h.die Fähigkeit, sozial zu handeln, die man lernen und weitergeben kann (Tradition). Die Regeln, von denen hier die Rede ist, sind jedoch unbewusst entstanden und sie dienen einem evolutionären „Ziel"; 3. das rationale Potential; die dünne Schicht von Regeln, die bewusst beschlossen und modifiziert werden, um einem bestimmten Ziel zu dienen. Durch die Annahme der dritten Kategorie öffnet Vogel also anscheinend die Möglichkeit für eine Ethik, die nicht aus biologischgenetischen Hypothesen allein erklärt werden kann. Doch ist eine Rücksichtnahme auf die Biologie nach seiner Ansicht für das Verständnis jeder Form von Ethik notwendig. Aus zwei Gründen: (i) Die Biologie kann dazu beitragen, den Ursprung dessen, was er „moral universals" nennt, zu erklären; damit meint er die Moralregeln, die sich an die konstanten biologischen Phänomene wie sexuelle Beziehungen, Verwandtschaft, Partnerschaft, Zusammenarbeit, Teilen, Tauschen, Gegenseitigkeit, Eigentum, Ranghierarchien usw. knüpfen. (ii) Wenn in einer Gesellschaft beschlossen wird, bestimmten Normen zu folgen, kann die Biologie daran mitwirken zu sichern, dass die Normen eingehalten werden (durch Erziehung usw.) und dass ungewünschte Nebenwirkungen vermieden werden. 9
9
Obwohl es überraschend klingen mag, kann man Luther zur Illustration dieses Gebrauchs der Biologie heranziehen. In seiner Kritik des Zölibates führt er an, dass es notwendigerweise zu Unzucht führt, weil es gegen die Natur streitet. Er wendet sein Wissen von der biologischen Natur des Menschen an!
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Vogel hält jedoch daran fest, dass jede F o r m von Ethik eine egoistische K o m p o n e n t e hat: Wenn jede Form von „Egoismus" (vom biologischen „Gen-Egoismus" bis zum subtilsten „sittlichen Perfektions-Egoismus") als nicht-moralisch zu gelten hätte, dann - so furchte ich - wäre moralisches Verhalten in praxi wohl kaum existent, es bliebe weitgehend Fiktion und Stoff von Märchen und Mythen, zur Nachahmung anderen empfohlen, und ehest von Heuchlern (wiederum aus eigennützigen Motiven!) für sich selbst reklamiert. (A.a.O., 494 f.). Er erwähnt z.B., dass der Utilitarismus von einer biologischen Betrachtung aus als eine subtile Ausdrucksform des Eigennutzes, und die Goldene Regel als reflektierter eigennütziger Altruismus gesehen werden muss; als ein verfeinerter „reziproker Altruismus". U n d er hält auch an d e m fest, was man das biologische Illusionsargument nennen könnte: Bewusst oder (wohl noch häufiger) unbewusst maskieren wir vor uns selbst und vor anderen den eigennützigen Kern unseres Handelns mit selbstlosen Motiven und Zielen. (A.a.O., 496). U n d er fasst seine Auffassung in folgender Aussage, die sich wie ein impliziter K o m m e n t a r z u m Gedanken der christlichen Nächstenliebe anhört, zusammen: Dass unsere biogenetische Evolution uns nicht als universelle Menschenfreunde geschaffen hat, dürfte ... verständlich sein: natürliche Selektion ist dazu ganz untauglich, denn jedes sich unterschiedslos zu allen Artgenossen in gleicher Weise altruistisch verhaltende Individuum wäre in der biogenetischen Konkurrenz hoffnungslos unterlegen. Selektion produziert zwangsläufig differentielles Investment von Unterstützung, Hilfeleistung und Kooperation. (A.a.O., 500). Vogel beendet seine Übersicht über die heutige, recht desillusionierende Analyse der Ethik vonseiten der Biologie mit einer charakteristischen Kehrtwendung. Er erinnert an dic globalen Probleme, denen die Menschheit sich gegenübergestellt sieht: Bevölkerungszuwachs, Naturzerstörung, Klimaveränderungen usw. Diese Krisenphänomene erscheinen aus einem evolutionsbiologischen Blickwinkel in folgender Weise:
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Zum ersten Mal in der Geschichte des Lebens brach mit dem modernen Menschen eine Ökosystem-Komponente aus allen koevolutiven „Selbstkontrollen" der Ökosysteme aus. (A.a.O., 501). Um der Herausforderung der neuen Probleme zu begegnen, sind nach Vogel solche Eigenschaften erforderlich wie — Selbstkontrolle der eigenen Überlegenheit des Menschen — Selbstbegrenzung — umfassende Verantwortlichkeit gegenüber den Mitgeschöpfen. Aber: Dafiir gibt es keine biologischen Evolutionsmechanismen. (A.a.O., 502).
In Vogels Darstellung endet die Soziobiologie damit ebenfalls in ihrer eigenen Version eines ethischen Paradoxes: Von einer biologischen Betrachtungsweise aus muss jede Form menschlicher Ethik sich verstehen als einem evolutionären Ziel dienend, doch die biologische Evolution hat den Menschen in eine einzigartige Situation gebracht, die eine Form ethischer Verantwortlichkeit fordert, für die es keine evolutionäre Grundlage gibt.
10.4 Die Herausforderung der Ethik-Kritik Es ist nicht möglich, an dieser Stelle in Einzelheiten auf die Herausfordungen einzugehen, die die verschiedenen Formen von Ethik-Kritik für die ethische Reflexion enthalten, sowohl derjenigen der Theologie als auch der Philosophie. Ich begrenze mich auf einige Punkte: 1. Sowohl die Theologie als auch die Philosophie sehen sich mit der Behauptung konfrontiert, die traditionelle Vorstellung vom ethischen Subjekt sei illusorisch. 2. Jeder Versuch, den Gedanken vom natürlichen Gesetz festzuhalten, muss heute einem wissenschaftlich (biologisch) präzisierten Begriff der Natur Rechnung tragen.10 10 Das biologische Wissen kann ganz konkret die Argumentation früherer Zeiten von „dem Natürlichen" in Frage stellen. Zum Beispiel sahen wir, wie Thomas von Aquin die Homosexualität als etwas der Natur Widerstreitendes betrachtet. Wenn aber die Biologie zeigen kann, dass Homosexualität bei Tieren vorkommt oder eine genetische Grundlage hat, dann ist es äußerst schwierig, an Thomas' Argument festzuhalten. Uber beides sind Vermutungen angestellt worden.
Literatur zu Kapitel 10
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3. Der Gedanke der Theologie von der Verwandlung des ethischen Subjekts (Sünde - Erlösung) hat durch die Psychoanalyse und andere Formen von Psychotherapie Konkurrenz bekommen. 4. Die Theologie steht der Behauptung gegenüber, dass das Christentum eine lebensfeindliche, triebverdrängende Moral verficht (das Erbe Nietzsches und Freuds). 5. Teile der Ethik-Kritik sind in das allgemeine öffentliche Bewusstsein eingegangen: Sowohl die Biologie als auch die Psychoanalyse (Psychologie) beinhalten Vorstellungen darüber, was für Menschen „natürlich" ist. Diese Vorstellungen sind in die verschiedenen Lebensauffassungen eingegangen, die eine ganz konkrete Moral-Kritik mit sich fuhren, z.B. im Bereich der Erziehung und der Sexualmoral. Bezeichnenderweise spricht man sowohl von „freier" Sexualität als auch von „freier" Erziehung. Damit ist eine Auseinandersetzung mit einer traditionellen, unterdrückenden Moral angedeutet, die man oft — und nicht immer zu Unrecht — mit der christlichen Moral identifiziert hat. Literatur zu Kapitel
10
Darwin, Ch. (1988): Uber die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um 's Dasein. Nach der engl. Ausg. wiederh. durchg. v. J.V. Carus. Hrsg., eingel. u. m. e. Auswahlbibliographie vers. v. G.H. Müller. Darmstadt.
Freud, S. (1965): Abriss der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt/M.
Kaufmann, W. (1982): Nietzsche. Philosoph — Psychologe — Antichrist. Aus dem Amer. übers, v. J. Salaquarda. Darmstadt.
Kohlberg, L. (1981): The philosophy ofmoral development: moral stages and the idea of justice. San Francisco. Nietzsche, F. (1966): Zur Genealogie der Moral (= Werke in sechs Bänden, hrsg. von K. Schlechta, bd. IV). München. Norris, C. (1982): Deconstruction: Theory and Practice. London, New York.
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ganze Mensch. Aspekte einer pragmatischen Rössner. München.
Anthropologie,
hrsg. von H.
Kapitel 11. Philosophische Ethik im 20. Jahrhundert Der Hintergrund der Philosophie des 20. Jahrhunderts kann stichwortartig auf folgende Weise umrissen werden. Mit dem Tode Hegels (1831) brechen die großen Systembildungen in der Philosophie zusammen. Der Hegelianismus hat jedoch einen materialistischen Ausläufer (u.a. L. Feuerbach), und hier ist Karl Marx einzuordnen. Nach dem Zusammenbruch des deutschen Idealismus geschieht in Deutschland eine Rückkehr zu Kant in der Gestalt des so genannten Neu-Kantianismus. Er ist u.a. ein Versuch, auf die Herausforderung der Naturwissenschaft: einzugehen und sie philosophisch zu reflektieren. (H. Cohen, H. Rickert, P. Natorp). Der Einfluss der Naturwissenschaft auf die Philosophie zeigt sich auch in A. Comtes Lancierung des Positivismus. Neben Nietzsche ist Kierkegaard der große anti-systematische Einzelgänger im 19. Jahrhundert. Keiner von ihnen erreicht jedoch entscheidenden Einfluss in seinem eigenen Jahrhundert. Am Ende des vorigen Jahrhunderts geschieht ein entscheidender philosophischer Umbruch mit logischen und mathematischen Problemen als Ausgangspunkt, personifiziert durch G. Frege und E. Husserl. Sie können als Urheber der beiden maßgeblichen Richtungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts betrachtet werden, nämlich der analytischen Philosophie und der Phänomenologie.
11.1 Intuitionismus
(Moore und Scheeler)
Der in Cambridge wirkende Philosoph G. E. Moore (1873-1958) bringt mit seinem Buch Principia Ethica (1903) die metaethische Diskussion1 in Gang. 1
Über den Begriff Metaethik siehe Kap. 1, S. 7f.
Intuitionismus (Moore und Scheeler)
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Moore gehört zu dem Kreis von Philosophen, die zu dem erwähnten Umbruch in England beitragen. Dazu zählte auch B. Russell, der wie Frege die logisch-mathematischen Probleme aufgreift und zusammen mit A. N. Whitehead das bahnbrechende Werk Principia Mathematica schreibt. Einer der Schüler von Russell ist der Österreicher Ludwig Wittgenstein.
Nach Moores Auffassung soll sich die philosophische Ethik mit drei Fragen beschäftigen: (i) Was bedeutet das Wort „gut"? (ii) Welche Dinge sind in sich selbst gut? (iii) Wie können wir das Gute verwirklichen? Das erscheint nicht besonders Aufsehen erregend, aber neu ist, dass Moore den Begriff bzw. das Wort „gut" selbst genau untersucht. Dadurch wird er ein Wegbereiter der sprachanalytischen Philosophie. Moores ethische Theorie wendet sich polemisch gegen den im 19. Jahrhundert geformten Naturalismus. Der Naturalismus steht für die Behauptung, dass der Mensch ein Glied der Natur ist und dass keine anderen Begriffe und Annahmen zur Beschreibung des menschlichen Daseins nötig sind als die in einer (wissenschaftlichen) Naturbeschreibung enthaltenen. Der Naturalismus schließt eine Ethik nicht aus, führt aber die ethischen Begriffe zurück auf die natürliche Ausrüstung des Menschen. Dies kann auf verschiedene Weise geschehen, u.a. indem man sich an den menschlichen Bedürfnissen orientiert. So kann man sagen, dass das ethisch Richtige oder Gute das ist, was zum Wohlbehagen durch Bedürfnisbefriedigung führt. Moore weist nun den ethischen Naturalismus durch eine Analyse des Begriffes „gut" zurück. Wie wir gesehen haben, definiert der Naturalismus „gut" durch z.B. „Wohlbehagen". Und gerade diese Form der Definition kritisiert Moore — wohlgemerkt nicht aus ethischen, sondern aus logischen Gründen. Sein Einwand lautet, dass „das, was Wohlbehagen bringt", keine erschöpfende Definition des Guten sein kann, da es immer Sinn macht zu fragen: „Ist die Handlung, die Wohlbehagen bringt, nun auch ethisch gut?" Eine solche Frage wäre sinnlos, wenn „das Gute" definitorisch dasselbe bedeuten würde wie „das, was Wohlbehagen bringt". Der Naturalismus begeht also Moore zufolge durch das Definieren von „gut" auf diese Weise einen Fehler, den er den naturalistischen Fehlschluss nennt. Worin besteht der Fehler? Unter anderem darin, dass man überhaupt versucht, den Begriff „gut" zu definieren.
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Philosophische Ethik im 20. Jahrhundert
Bei genauerer Betrachtung zeigt sich nämlich, dass „gut" zu den Eigenschaften gehört, die sich nicht definieren lassen. Das Gleiche gilt fur Farbennamen: „Gelb" kann auch nicht definiert werden. Der Grund dafür ist der Umstand, dass diese Eigenschaften nicht zusammengesetzt, sondern einfach sind, so dass wir sie nicht definieren können durch Aufzählen der Bestandteile, aus denen sie zusammengesetzt sind. Moore schließt aus dieser Überlegung, dass „gut" eine nicht-zusammengesetzte (einfache) Eigenschaft ist, jedoch nicht wie „gelb" eine empirische oder natürliche, sondern eine nicht-natürliche Eigenschaft. Als Beispiel einer naturalistischen Ethik nennt Moore Mills Utilitarismus. Mill begeht den naturalistischen Fehlschluss, indem er zuerst das Gute als das erstrebenswerte definiert und danach dieses als das, wonach die Menschen tatsächlich streben (Moore 1970, 108ff.). Die Kritik des Naturalismus wirft natürlich die Frage auf, wodurch wir Kenntnis vom Guten haben. Die natürlichen, einfachen Eigenschaften wie die Farben kennen wir dank unserer Sinne, aber das gilt nicht im Verhältnis zur nicht-natürlichen Eigenschaft „gut". Moores Lösung ist, dass unsere Kenntnis des Guten aufIntuition beruht. Wenn man einer Handlung zustimmen oder sie als ethisch gut wählen kann, ist die Begründung, dass man ein intuitives Wissen davon hat, was „gut" bedeutet. Die gute Handlung oder das, was zu tun man verpflichtet ist, muss Moore zufolge das sein, welches zur größtmöglichen „Menge" von Gutem in der Welt führt (a.a.O., 210). Das klingt utilitaristisch, aber für Moore ist die „Menge des Guten" nicht notwendigerweise das Gleiche wie „die Menge des Glücks". Aber welche Dinge haben denn nach Moore die Eigenschaft „gut"? Seine Antwort lautet: Die bei weitem wertvollsten Dinge, die wir kennen oder uns vorstellen können, sind gewisse Bewußtseinszustände, die sich summarisch beschreiben lassen als die Freuden [pleasures] menschlichen Umgangs und das Genießen schöner Gegenstände. (A.a.O., 260.).
Moores Rede vom naturalistischen Fehlschluss kann leicht Verwirrung über den Begriff „Natur" erzeugen. Natur bedeutet nach Moore alles, was sinnlich wahrnehmbar ist und zeitlich existiert (a.a.O., 78). Aber man begeht den Fehlschluss auch, wenn man „gut" als etwas
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Übersinnliches, z.B. als Gottes Wille definiert. Moores Standpunkt ist, dass jeder Versuch, „gut" mit Hilfe eines anderen Begriffes zu definieren, verfehlt ist. Deshalb gilt seine Kritik auch der von ihm so genannten metaphysischen Ethik. Eine ethische Theorie, die in vielen Punkten mit Moores Intuitionismus verwandt ist, ist die so genannte materiale Wertethik des deutschen Philosophen Max Scheler (1874-1928). Richtung der PhilosoScheler gehört zur so genannten phänomenologischen phie, die wie erwähnt von E. Husserl begründet wurde. Eine seiner Grundannahmen ist, dass das Bewusstsein des Menschen häufig den Charakter der Intentionalität trägt. Das heißt, dass Bewusstsein wesensmäßig Bewusstsein von etwas ist. Froh zu sein ist, sich über (auf) etwas zu freuen; wütend zu sein ist, wütend auf jemand (über etwas) zu sein usw. Bewusstsein ist auf etwas anderes als sich selbst gerichtet. Entsprechend der verschiedenen Weisen des Gerichtetseins lassen sich Grundtypen intentionaler Akte festmachen. Und die verschiedenen Formen von Gerichtetsein sind Beispiele von Wesenszügen. Meine Freude über den Sonnenschein ist ein Beispiel für das Wesen der Freude. Deshalb kann ich meine Freude bei der Untersuchung des Wesens der Freude anwenden. Ich kann durchfuhren, was Husserl eine Wesensschau nennt. Geschieht das systematisch, betreibe ich Phänomenologie im Sinne Husserls.
Scheler ist derjenige, der am systematischsten die wesensphänomenologische Methode in der Ethik angewendet hat. Sein Grundbegriff ist Wert. Unser Verhältnis zu Werten kommt in der bewertenden Sprache zum Ausdruck (siehe Kapitel 1, S. I4f.), z.B. wenn wir Ausdrücke gebrauchen wie „vornehm", „feige", „mutig" und „böse". Wir bezeichnen mit diesen Worten etwas Konkretes — Personen, Handlungen usw. —, aber wir können ihre Bedeutung nicht von diesen konkreten Größen her definieren. Die Erklärung dafür ist nach Scheler, dass es umgekehrt Werte sind, die diesen Worten ihre Bedeutung geben. Werte sind nicht-empirisch, a priorisch, und wir verhalten uns zu ihnen in einer besonderen Form der Anschauung. Wenn wir sagen: „Ihre Kritik der eigenen Parteigenossen ist mutig", dann sprechen wir von einer bestimmten Politikerin, aber wir haben dabei eine a priorische Anschauung des Wertes „Mut". Der Begriff Wert ist nach Scheler der Grundlegendste in der Ethik. So muss „gut" vom Wert aus definiert werden: Das Gute ist das Kon-
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krete (die Person, die Handlung, die Eigenschaft), das Träger des Wertes ist. Und gut ist die Handlung, welche danach strebt, Werte zu realisieren. Die materiale Wertethik ist ein Versuch der Auseinandersetzung mit Kant. Mit dem Ausdruck „Formalismus" bezieht sich Scheler darauf, dass die Grundlage der Ethik bei Kant ein ganz leerer Imperativ ist. Demgegenüber stellt er einen Wertbegrifif auf, der inhaltsreich (wir verhalten uns zu bestimmten Werten), aber doch nicht empirisch ist. Der Intuitionismus sowohl in Moores als auch in Schelers Ausgabe stellt der ethischen Theorie zwei wichtige Behauptungen gegenüber: 1. Das Ethische - das uns beanspruchende Gute - ist objektiv und unabhängig. 2. Gefühle sind nicht subjektiv; die ethische Intuition oder Anschauung ist im Gegenteil ein Gefühl, das sich auf etwas Objektives richtet und deshalb allgemeingültig ist. Sie vertreten beide metaethisch einen Realismus und einen Kognitivismus.
11.2 Emotivismus
(Ayer)
Moores Intuitionismus beinhaltet, dass es eine ethische Einsicht neben dem empirischen Wissen gibt. Dies ist einer der Gründe dafür, dass seine Auffassung vom logischen Positivismus verworfen wurde. Die metaethischen Konsequenzen dieser philosophischen Position sind von A. J. Ayer in Language, Truth and Logic (1936) dargestellt worden. Der logische Positivismus erkennt nur zwei Arten von Behauptungen an, nämlich die mathematisch-logischen und die empirischen, von denen nur die empirischen eigentliches Wissen ausdrücken. Bewertende Sätze, wie wir sie in der Ethik und Ästhetik finden, sind deshalb keine wirklichen Behauptungen. Daraus zieht Ayer jedoch nicht die Konsequenz, dass ethische Sätze in der Sprache nicht vorkommen sollten. Es wäre doch naheliegend, den Positivismus mit dem Naturalismus zu kombinieren und beispielsweise zu sagen: .Abtreibung ist unter diesen und jenen Umständen richtig" ist eine ethische Aussage, die zurückgeführt werden kann auf: ,Abtreibung ist in dieser und jener Situation mit den geringsten Nachteilen verbunden", welches eine empirisch verifizierbare Behauptung ist.
Emotivismus (Ayer)
III
Diese Überlegung ist ftir Ayer deshalb nicht akzeptabel, weil er in einer gewissen Weise mit Moore einig ist in der Kritik des Naturalismus. Er behauptet also, dass die ethische Sprache eine andere Funktion hat als die, in der wir von empirischen Tatsachen berichten. Aber welches ist dann die Funktion der ethischen Sprache? Ayer antwortet, dass sie emotiv ist. Das heißt: Wenn ich meine ethische Missbilligung ausspreche, indem ich z.B. sage: „Es ist falsch von dir, eine Abtreibung vornehmen zu lassen!", so drücke ich damit mein Gefühl (von Unbehagen, Abscheu o.ä.) gegenüber der genannten Handlung aus. Aber die Tatsache, dass die ethische Sprache eine emotive Funktion hat, darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass die ethische Missbilligung (oder Billigung) dasselbe sei wie ein Bericht darüber, was ich fühle - in diesem Falle wäre es ja gerade eine empirisch verifizierbare Behauptung. Nein, die ethische Missbilligung ist rein expressiv, ein reiner Gefühlsausbruch, prinzipiell von gleicher Art wie „Pfui!", „Oh!" usw. Und Ayer fügt hinzu, dass diese emotive Funktion einen doppelten Charakter hat: Wenn ich meine ethische Missbilligung ausdrücke, kann ich teils meine eigene Gefiihlshaltung ausdrücken, teils eine entsprechende Gefiihlsreaktion bei einem anderen hervorzurufen suchen. Die Konsequenzen von Ayers Theorie über Möglichkeiten der ethischen Argumentation scheinen dieselben zu sein wie bei Moore. Wenn nämlich die ethische Stellungnahme eine Gefuhlsreaktion ist, kann sie nicht begründet werden. Ethische Uneinigkeit ist damit eine Divergenz zwischen verschiedenen gefühlsmäßigen Einstellungen und nicht eine Uneinigkeit, die durch Begründungen entfernt werden kann. Jedoch ist Ayers Argumentation etwas nuancierter, indem er die Frage nach den ethischen Normen in die Überlegung einbezieht. Wenn Menschen sich in ihrem Handeln an Normen orientieren, kann man sehr vereinfacht - sagen, dass die ethische Stellungnahme aus einer Überlegung hervorgeht, die den Charakter eines logischen Schlusses hat. Nehmen wir an, dass unser diskutierendes Paar in Einigkeit die Norm „ Es ist verwerflich zu töten" annimmt, dann kann die ethische Stellungnahme auf folgende Weise entstehen: Es ist verwerflich zu töten. Eine Abtreibung vorzunehmen, ist Tötung. Folglich: Es ist verwerflich, eine Abtreibung vorzunehmen.
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Philosophische Ethik im 20. Jahrhundert
In einer solchen Situation würde es nach Ayer Sinn machen zu argumentieren, aber es wäre nicht von einer ethischen Argumentation die Rede. Es würde sich dagegen um Tatsachen drehen, nämlich um die Tatsache, dass Abtreibung Tötung bedeutet - oder dass das nicht der Fall ist (hier nehme ich vereinfachend an, dass wir ohne Bewertung das eine oder das andere als Tatsache betrachten können). Aber die eigentliche ethische Stellungnahme — dass wir Abtreibung verwerfen beruht nicht auf diesen Tatsachen, sondern auf der vorausgesetzten Norm. Und die Einigkeit über die Norm kann nicht argumentativ erreicht werden. Sie beruht auf gemeinsamen Lebensumständen und sozialem Kontext und letzten Endes auf gefühlsmäßigem Akzept. Auch wenn es sich um Normen handelt, wird die eigentliche ethische Divergenz also darin bestehen, dass Gefühl gegen Gefühl steht. Wir können unser Gegenüber höchstens überreden oder ihm suggerieren, dasselbe zu fühlen wie wir.
11.3
Theorien der ethischen Rationalität
Uberblickt man die Entwicklung der philosophischen Ethik in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts, lässt sie sich in eine Anzahl von Grundtypen verschiedener Theorien einordnen. Im Folgenden möchte ich auf drei dieser Theorie-Typen eingehen. Der erste Typus ist dadurch gekennzeichnet, dass seine Vertreter an dem klassischen Gedanken der praktischen Vernunft festhalten, an der Behauptung also, dass moralische Urteile sich rational begründen lassen. Dabei muss man allerdings beachten, dass der Begriff der Rationalität sich zum Teil drastisch verändert hat. 11.3.1 Präskriptivismus
(Hare)
Richard M. Hare (geb. 1 9 1 9 ) gehört zur so genannten „Oxfordphilosophie", die nach dem logischen Positivismus entstanden ist. Es handelt sich dabei nicht nur um eine Ortsbestimmung, sondern auch um einen besonderen philosophischen Gedankengang und ein Verfahren, das besonders in den 50er und 60er Jahren einflussreich war. Sie baut auf einer Auffassung der Sprache, die markant von derjenigen des logischen Positivismus abweicht. Die Sprache wird jetzt in engem Zusammenhang mit den praktischen und sozialen Tätig-
Theorien der ethischen Rationalität
229
keiten des Menschen gesehen. Als Teil sozialer Praxis ist die Sprache z.B. ein Mittel, Handlungen auszufuhren. Diese Sichtweise drückt sich aus sowohl in dem „Sprachspief des späten Wittgenstein als auch in J. L. Austins „Sprechhandlungen" (speech acts) bzw. „Performativen". Philosophisches Denken, auch in Form von Ethik, hat vorwiegend den Charakter von Begriffsklärung im Anschluss an den Gebrauch der Sprache.
Nach Hare ist die ethische Sprache weder deskriptiv wie Moore gemeint hat, noch rein expressiv wie Ayer behauptete, sondern ihr Grundcharakter ist Präskriptivität. Ethisches Denken äußert sich m.a.W. in vorschreibenden Sätzen wie „Tröste das Kind!". Das wichtigste Wort der ethischen Sprache ist nach Hare „sollen" bzw. „müssen", indem das Präskriptive ja mit seiner Hilfe ausgedrückt werden kann („Du musst das Kind trösten!"). Ein wichtiger Teil der ethischen Theorie besteht daher in der Klärung der Logik des Wortes „müssen". Bei dieser Klärung zeigt sich, dass neben der Präskriptivität Universalisierung ein Wesenszug des ethischen Denkens ist. Das Präskriptive im Wort „muss" beinhaltet, dass ich durch Äußern des Satzes „Ich muss das Kind trösten" zur entsprechenden Handlung verpflichtet bin. Tue ich das nicht, zeigt das, dass ich entweder nicht den moralischen Sinn von „muss" verstehe oder dass ich unaufrichtig bin. Um zu sehen, dass „müssen" auch Universalisierung impliziert, muss man nach Hare den nicht-moralischen Sinn einbeziehen, den „muss" auch haben kann.2 Als modaler Begriff drückt „müssen" anscheinend Notwendigkeit aus, etwa wenn wir sagen „Wenn gestern Sonntag war, muss heute Montag sein". Hare versucht nun zu zeigen, dass dieses modale „müssen" Universalität impliziert. Wenn ich nämlich sage „Peter muss im Garten sein", kann ich nicht sagen: „Ich kann mir eine Situation vorstellen, die der jetzigen in allen Punkten gleicht, ausgenommen der einen, dass er nicht im Garten ist". Alle Situationen, welche der jetzigen in allen Punkten gleichen, beinhalten also, dass Peter im Garten ist.
2
Hare nennt den nicht-moralischen Sinn von „müssen" den modalen. „Modal" ist die Bezeichnung derjenigen Aspekte der Sprache, die mit Ausdrücken wie „möglich" und „notwendig" zu tun haben. So rechnet z.B. Kant mit drei Kategorien der Modalität: Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit.
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Philosophische Ethik im 2 0 . Jahrhundert
Der genannte Zug kennzeichnet auch das ethische „müssen". Wenn ich sage: „Peter muss jetzt das Kind trösten", kann ich nicht sagen: „Ich kann mir eine Situation vorstellen, welche der jetzigen in allen Punkten gleicht, außer dem einen, dass Peter nicht verpflichtet ist, das Kind zu trösten". Eine solche Aussage wäre Ausdruck eines Widerspruches in sich; sie würde zeigen, dass ich die Logik des Wortes „müssen" nicht beherrsche. Wenn durch „muss" vorgeschrieben wird, dass in einer gegebenen Situation so und so zu handeln ist, wird gleichzeitig gesagt, dass in jeder gleichen Situation genauso zu handeln ist. Wozu bin ich nun nach Hare verpflichtet, d.h. was besagt seine Theorie inhaltlich? Nach Hare muss diese Frage nach der „Substanz" der Theorie dadurch beantwortet werden, dass wir uns klarmachen, dass unsere Handlungen im Leben anderer Menschen Wirkungen haben. Präziser ausgedrückt beeinflussen unsere Handlungen die Präferenzen anderer, d.h. ihr Vorziehen von etwas, ihr Wünschen. Es besteht zwischen „Präferenz", dem inhaltlichen Grundbegriff in Hares Theorie, und „Präskriptivität" ein Zusammenhang. Statt zu sagen „Du musst mir helfen" (Präskriptivität), kann ich auch sagen „Ich ziehe es vor, dass du mir hilfst". Wenn ich meinen Satz ethisch verstanden haben will, muss ich zum Universalisieren bereit sein, d.h. ich muss sagen können: „In jeder Situation, welche dieser gleicht, muss dem Bittenden geholfen werden". Um zu entscheiden, ob man zur Universalisierung bereit ist, muss man also gleiche Situationen bedenken. Die naheliegendste gleiche Situation ist beim genannten Beispiel, dass die Rollen vertauscht sind, dass ich also gebeten würde, dem anderen zu helfen. Universalisieren heißt allgemein, sich in die Lage der von einer Handlung Betroffenen zu versetzen. Auf die Frage, welche Handlung in einer gegebenen Situation vorzuschreiben ist, ist nach Hare zu antworten: diejenige, welche den größten Grad an Präferenzerfiillung für alle Betroffenen bedeutet. Es zeigt sich somit, dass der universale Präskriptivismus gleichzeitig ein Präferenzutilitarismus ist.3
3
Der Präferenzutilitarismus ist insofern eine Veränderung des klassischen Utilitarismus, als dieser den Begriff des Guten durch solche Größen wie Lust (pleasure) und Glück (happiness) definiert. Präferenzerfüllung ist nicht notwendig von einem angenehmen Gefühl begleitet und scheint so geeigneter zu sein, den Begriff des für einen Menschen Guten definieren zu können.
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Wie ist es nun möglich zu wissen, welche Handlung die größte Präferenzerfiillung bedeutet? Eben durch den Rollentausch: Wenn ich mich in die Lage eines anderen versetze, identifiziere ich mich auch mit seinen Präferenzen. Der /»¿«personale Vergleich von Präferenzerfiillungen verschiedener Betroffener kann so in einen ¿«/^personalen Vergleich umgeformt werden: in den Vergleich verschiedener Präferenzerfullungen für mich. Nun besteht unser moralisches Leben nicht aus einer Reihe von Entscheidungssituationen, in denen wir jedesmal von Neuem herausfinden müssen, was zu tun ist. Normalerweise wissen wir das recht gut, denn wir folgen dem, was Hare mit einem gängigen Ausdruck „prima facie Regeln" nennt, d.h. Regeln, die man als gültig ansehen kann, wenn nichts anderes dagegen spricht. So werden die meisten der Regel folgen, dass man ein weinendes Kind trösten soll. Prima facie Regeln sind uns durch die Erziehung vermittelt worden und sie sind emotional gestützt. Wenn wir nur nach prima facie Normen handeln, bewegen wir uns auf derjenigen Ebene der Moral, welche Hare die intuitive nennt, wobei „Intuition" — anders als bei Moore — so viel heißt wie „unmittelbares Urteilen". Diese Ebene reicht jedoch aus mehreren Gründen nicht aus. Einmal können verschiedene prima facie Normen in Konflikt miteinander geraten, und zum anderen können ganz neue Fragestellungen entstehen, die nicht ohne weiteres durch bestehende Normen abgedeckt sind. Wir können hier wieder das Beispiel der Leihmutterschaft erwähnen (vgl. Kap. 1, S. 4). Unmittelbar würden wir der prima facie Norm folgen, dass ein neugeborenes Kind bei seiner Mutter am besten aufgehoben ist. Aber in diesem Fall besteht das Problem ja genau darin, dass nicht klar ist, wer die Mutter des Kindes ist. Das intuitive ethische Denken ist hier an seine Grenze gelangt, und wir müssen uns auf die Ebene des kritischen Denkens bewegen. Das kritische Denken besteht nach Hare in dem Universalisieren in Bezug auf die Präferenzen aller Betroffener. Im konkreten Fall müssten wir erwägen, was die möglichen Entscheidungen über den Verbleib des Kindes jeweils für die Präferenzerfüllung der Frauen und des Kindes selbst bedeuten würden. Eine wichtige Konsequenz dieser „Zwei-Ebenen-Theorie" ist, dass eine Entscheidung über die richtige Handlung sehr wohl kontra-intuitiv sein, also unse-
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ren unmittelbaren Urteilen und prima facie Normen widersprechen kann.4 11.3.2 Diskursethik
(Habermas)
Jürgen Habermas (geb. 1929) vereint in seiner ethischen Theorie, der so genannten Diskursethik - wie überhaupt in seiner Arbeit - Fragestellungen der klassischen deutschen Philosophie, der analytischen Philosophie und der Sozialwissenschaften. Habermas geht eben von der Tatsache aus, dass wir Menschen soziale Wesen sind und somit nur dadurch Personen werden, dass wir in Beziehungen zu anderen Menschen hineinwachsen. Interpersonale bzw. soziale Verhältnisse bestehen zunächst innerhalb dessen, was Habermas Lebenswelt nennt. Dieser von Husserl stammende Ausdruck bezeichnet die konkrete Welt des alltäglichen Lebens im Unterschied etwa zur abstrakten Welt der Wissenschaften. Das Dasein in der Lebenswelt beinhaltet die Zugehörigkeit zu bestimmten Traditionen und Gemeinschaften, welche die Identitätsbildung und Wertvorstellungen des Einzelnen prägen. Letzteres kann man unter dem Begriff des Guten zusammenfassen. Demgegenüber steht das Moralische im eigentlichen Sinn: das Handeln nach Normen, denen man stillschweigend allgemeine Geltung zuerkennt. Moralisches Handeln muss nach Habermas im Kontext einer umfassenderen Handlungstheorie gesehen werden. Das Handeln des Einzelnen im sozialen Raum kann grundsätzlich zwei Gestalten annehmen: Es kann strategisch sein, d.h. wir können andere als Instrumente benutzen, unseren Vorstellungen zu entsprechen; oder es kann verständnisorientiert bzw. kommunikativ sein. Letzteres ist dann der Fall, wenn wir unsere Wünsche u.a. dadurch erfüllen, dass wir andere da4
Einer der bekanntesten Anhänger Hares, Peter Singer, hat den Präferenzutilitarismus im Bereich der Bioethik angewendet, wobei er u.a. zu dem Ergebnis kommt, dass das Töten von schwerbehinderten Neugeborenen nicht in jedem Fall ethisch falsch ist. Er widerspricht hier der intuitiven Auffassung, dass ein geborener Mensch (vielleicht im Unterschied zu einem Fötus) durch das Tötungsverbot geschützt ist. Diese Konsequenz des Präferenzutilitarismus hat es Singer übrigens schwer gemacht, in Deutschland aufzutreten. Vgl. Singer 1993, 337fF.
Theorien der ethischen Rationalität
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von überzeugen, in einer bestimmten Weise handeln zu sollen. Kommunikatives Handeln impliziert also Einvernehmen, und hierin steckt, so Habermas, eine Form der Rationalität. Einvernehmen oder Verständnis beruhen nämlich darauf, dass wir Geltungsansprüche anerkennen, die in drei Typen zu unterteilen sind: Wahrheitsansprüche, die unser Verhältnis zur objektiven Welt (Sachverhalten) konstituieren, Richtigkeitsansprüche, die das Verhältnis zur gemeinsamen sozialen Welt begründen, und Wahrhaftigkeitsansprüche, die zur subjektiven Welt und den Gefühlen des Einzelnen relatiert sind. Die Rationalität besteht darin, dass ein Redender, wenn er einen Geltungsanspruch macht, die Gewähr gibt, diesen Anspruch gegebenenfalls durch Gründe einzulösen. In dieser Einlösbarkeit liegt nach Habermas die für die moderne Welt charakteristische Reflexivität. Wir betrachten nicht Normen und Behauptungen als unhinterfragbar, sondern sind uns bewusst, dass sie problematisierbar sind und deshalb einer Begründung bedürfen. Die Theorie Habermas' ist nun vorwiegend eine Theorie darüber, wie problematisierte Moralnormen begründet werden können. Wie schon angedeutet, werden Moralnormen schon bei der intuitiven Befolgung innerhalb der Lebenswelt als allgemeingültig aufgefasst. Wenn aber die Gültigkeit von Normen — etwa in Konfliktsituationen - zweifelbar ist, stellt sich ausdrücklich die Frage, ob das Befolgen einer gegebenen Norm von allen gleichermaßen gewollt werden kann. Nicht zufällig klingt hier Kants kategorischer imperativ und dessen Universalisierungsgedanke mit. Wie bei Hare beinhaltet der Universalisierungsgedanke nach Habermas einen universalen Rollentausch, d.h. der Einzelne muss sich in die Lage aller von der in Frage stehenden Normbefolgung Betroffenen versetzen. Nach Habermas ist das jedoch nicht so möglich, dass der Einzelne sich ohne weiteres mit den Bedürfnissen und Interessen anderer identifiziert, denn diese kann er nur dadurch kennen, dass der Betreffende sie selbst zur Geltung bringt. Nach Habermas muss die die Moral kennzeichnende Allgemeinheit im Sinne des Universalisierungsgrundsatzes (U) verstanden werden, der besagt, dass eine gültige Norm die Bedingung erfüllen muss, ... daß die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen (voraussichtlich) ergeben, von allen Betroffenen akzeptiert (und den
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Philosophische Ethik im 20. Jahrhundert Auswirkungen der bekannten alternativen Regelungsmöglichkeiten vorgezogen) werden können. (Habermas 1983, 74f.).
Der allgemeine, bzw. unparteiische Gesichtspunkt im Sinne von ,U' steckt implizit in jeder moralischen Norm, die wir anerkennen. Aber wie ist ,U' selbst begründet? Habermas' Antwort lautet: mit den Mitteln der Transzendentalpragmatik. „Pragmatik" ist hier im Sinne der Sprachtheorie zu verstehen, indem es um den Handlungscharakter der Sprache geht, um die Sprechakte. „Transzendental" deutet auf den kantischen Begriff der Voraussetzungen bzw. Bedingungen der Möglichkeit von Erkennen hin. Genauer gesagt handelt es sich bei der Transzendentalpragmatik um diejenigen Voraussetzungen, die ein Redender notwendigerweise treffen muss, wenn er sich auf das Sprachspiel der Argumentation einlässt. Habermas fasst die Idee dieser Begründung des Grundsatzes ,U' folgendermaßen zusammen: ... jeder, der sich auf die allgemeinen und notwendigen Kommunikationsvoraussetzungen der argumentativen Rede einläßt, und der weiß, was es heißt, eine Handlungsnorm zu rechtfertigen, [muß] implizit die Gültigkeit des Universalisierungsgrundsatzes ... unterstellen ... (a.a.O., 97). Die Durchführung der Begründung ist ein kompliziertes Unternehmen, auf das ich nicht eingehen kann. 5 Die Voraussetzungen, die bei jeder Argumentation gemacht werden müssen, lassen sich nach Habermas im Begriff der idealen Sprech- und Kommunikationssituation zusammenfassen. Sie ist u.a. durch folgende Züge gekennzeichnet: Jeder
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Traditionell hat man das Begründen im Rahmen der praktischen Vernunft als eine Operation an Sätzen aufgefasst, wofür als Beispiel der praktische Syllogismus des Aristoteles dienen kann (vgl. oben S. 29f.). Die pragmatische Begründung vollzieht sich demgegenüber an Sprechakten. Ein wichtiges Element dieser Logik ist der so genannte performative Widerspruch. Wenn ich z.B. sage „Ich verspreche dir, morgen hier zu sein, aber ich denke nicht daran zu kommen", mache ich mich keines Widerspruches im gängigen Sinn schuldig, denn die beiden Sätze „Ich verspreche dir, morgen hier zu sein" und „Ich denke nicht daran zu kommen" sind als Sätze durchaus vereinbar. Jedoch setze ich bei der Durchfuhrung des Sprechaktes voraus, dass ich beabsichtige, das Versprechen zu halten. Und der Inhalt dieser Voraussetzung („Ich werde meine Versprechen halten, also kommen") widerspricht dem zweiten Teil der zitierten Äußerung.
Theorien der ethischen Rationalität
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kann als Gleichberechtigter an der Kommunikation teilnehmen; jeder ist wahrhaftig; es gilt nur der Zwang des besseren Argumentes. Kann der Universalisierungsgrundsatz ,U' solcherart als begründet angesehen werden, sind moralische Normen gültig, wenn sie ,U' entsprechen. Ob das der Fall ist, muss insbesondere nachgeprüft werden, wenn Normen problematisiert sind. Wie wir gesehen haben, kann die Uberprüfung nicht durch einen einzelnen moralisch Handelnden durchgeführt werden, weil die Interessen aller Betroffenen zur Sprache kommen müssen. Problematisierte Geltungsansprüche von Normen können nur, so Habermas, diskursiv eingelöst werden, d.h. es muss über sie ein Diskurs, eine tatsächliche Argumentation stattfinden. Es muss daher ein anderer Grundsatz befolgt werden, nämlich der diskursethische Grundsatz ,D': Eine Norm darf nur dann Geltung beanspruchen, wenn alle von ihr Be-
troffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses Einverständnis darüber erzielen (bzw. erzielen würden), dass diese Norm gilt. (A.a.O., 75).
Das Verhältnis der beiden Grundsätze besteht darin, dass ,U' den allgemeinen und unparteiischen Gesichtspunkt der Moral ausdrückt, während ,D' das Verfahren vorschreibt, welches diesen Gesichtspunkt konkret verwirklicht. Habermas ist in dem Punkt mit Hare einig, dass Universalität eine wesentliche Eigenschaft moralischer Normen ist. Auch darin ähneln sie sich, dass sie beide Universalität aus der Logik der Sprache ableiten. Während aber Hare meint, dies allein auf der Grundlage der Bedeutung des Wortes „müssen" tun zu können, greift Habermas auf die komplexen Voraussetzungen der Sprechhandlungen des Argumentierens zurück. Hinzu kommt noch ein entscheidender Unterschied zwischen den beiden Theorien. Während Hare ein inhaltliches Prinzip verteidigt, das Elemente des Guten enthält (Maximierung der Präferenzerfüllung), ist der diskursethische Grundsatz Habermas' rein formal. Welche Normen konkret zu befolgen sind, muss sich aus dem Dasein in der Lebenswelt ergeben. Die Diskursethik schreibt lediglich dasjenige Verfahren vor, durch das die Gültigkeit einer jeden moralischen Norm überprüft werden kann. Trotz ihres idealisierten Charakters können praktische Diskurse nach Habermas institutionalisiert werden, d.h. wir können versuchen, in der Gesellschaft Rahmen zu
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Philosophische Ethik im 2 0 . Jahrhundert
schaffen, innerhalb derer die Argumentationsbedingungen so umfassend wie möglich realisiert sind.6 11.3.3 Theorie der Gerechtigkeit
(Rawls)
Als letzte Variante einer rationalen Ethik soll nun die Theorie der Gerechtigkeit des amerikanischen Philosophen John Rawls (geb. 1921) vorgestellt werden. Es handelt sich wahrscheinlich um die meist diskutierte ethische Theorie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Rawls hat sie zuerst 1971 umfassend dargestellt, um dann 1993 eine modifizierte Version zu präsentieren. Fasst man Rawls' Anliegen buchstäblich auf, handelt es sich um eine recht begrenzte Theorie: Es geht allein um den klassischen Begriff der Gerechtigkeit, und zwar auf den politischen Bereich bezogen. Bei der Darstellung mag es nützlich sein, zwischen dem methodischen und dem substanziellen Teil der Theorie zu unterscheiden. Was das Methodische betrifft, geht Rawls von dem aus, was er unsere Intuitionen über soziale Gerechtigkeit nennt, wobei mit „sozial" gesagt ist, dass es sich um diejenige Gerechtigkeit handelt, die von den grundlegenden Institutionen einer Gesellschaft (die politische und wirtschaftliche Ordnung, das Sozial- und Schulsystem usw.) an den Bürgern geübt wird. Eine solche Intuition könnte z.B. besagen, dass es ungerecht ist, wenn Frauen ein schlechteres Gehalt bekommen als Männer in der gleichen Position. In der neuen Version der Theorie sind nicht so sehr die intuitiven Urteile des Einzelnen der Ausgangspunkt, sondern eher diejenige Auffassung von Gerechtigkeit, die in westlichen liberalen und demokratischen Gesellschaften vorausgesetzt wird. Die Aufgabe der Theorie ist, die Intuitionen bzw. Auffassungen zu rekonstruieren, von ihnen ein Modell zu geben, von dem aus eine politisch-ethische Stellungnahme rational begründet werden kann. Zu diesem Zweck greift Rawls auf den klassischen Gedanken des Gesellschaftsvertrages, den wir von Hobbes, Locke, Rousseau und Kant kennen, zurück. Die Idee des Vertrages dient sozusagen als Gedankenexperiment, das die Frage beantworten soll: Wie würden Vertragsschließende sich entscheiden, wenn sie diejenigen Bedingun6
Die Aufgabe, dieses weiter auszuführen, fällt einer „ D i s k u r s t h e o r i e des Rechts und der Politik" zu. Eine solche Theorie liegt jetzt in Habermas 1 9 9 2 vor.
Theorien der ethischen Rationalität
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gen festsetzen sollten, unter denen Bürger eines demokratischen Staates leben? Solche Bürger fassen nach Rawls das politische Leben als soziale Kooperation auf, an dem sie als freie und gleiche Partner teilnehmen und in dem sie eine kollektive Macht aneinander ausüben. Rawls nimmt weiter an, dass wir als Bürger zwei „moralische Fähigkeiten" besitzen: Wir sind imstande, jeweils fiir uns selbst eine Vorstellung des guten Lebens zu entwerfen und die Mittel zu ihrer Verwirklichung einzusetzen — und wir haben einen „Sinn für Gerechtigkeit", d.h. wir erkennen an, dass andere in der gleichen Lage sind wie wir und dass zwischen uns Gegenseitigkeit besteht. Beiden Fähigkeiten entspricht eine Form der Rationalität, die Rawls jeweils „rationality" und „reasonableness" nennt. Das Element der rationalen Verwirklichung des eigenen guten Lebens baut Rawls derart in den Vertrag ein, dass er Theorien der Rationalität aus gegenwärtigen Sozialwissenschaften ausnutzt. Man benutzt in vielen dieser Wissenschaften die so genannte Theorie des rational choice. Sie besagt, dass ein Individuum dann rationale Entscheidungen trifft, wenn es teils eine systematische (prioritierte) Vorstellung seiner Präferenzen hat, teils die geeignetsten Mittel zu ihrer Erfüllung findet. Die Vertragspartner der „ursprünglichen Situation" (ioriginal position) sind also als eine Art Spieler anzusehen, die eine rationale Wahl treffen müssen zwischen verschiedenen Prinzipien für die Einrichtung der Gesellschaft. Eine Wahl allein auf der Grundlage der „rationality" würde allerdings nicht zu Prinzipien der Gerechtigkeit führen, denn diese müssen die Fairness der sozialen Kooperation ausdrücken. Dazu bedarf es der anderen moralischen Fähigkeit, der „reasonableness". Sie wird in der Vertragssituation so dargestellt, dass die Parteien ihre Entscheidung hinter einem „Schleier des Unwissens" (veil of ignorance) durchfuhren in dem Sinne, dass sie nicht wissen, welche Position sie in derjenigen Gesellschaft innehaben werden, für die sie die Gerechtigkeitsprinzipien wählen. Jeder muss somit die Möglichkeit berücksichtigen, dass er unter den schlechtesten Bedingungen (sozial, gesundheitlich usw.) in der Gesellschaft leben muss. Unter diesen Bedingungen der Unsicherheit werden die Vertragsschließenden, so meint Rawls, die in der Entscheidungstheorie so genannte „Maximin"-Strategie wählen, d.h. sie werden sich für die Lösung entscheiden, in der die schlechtesten Be-
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dingungen am ertragbarsten wären. Sie würden also diejenigen Prinzipien der Gerechtigkeit wählen, die ihnen die besten Bedingungen bieten würden, falls sie unter den in der Gesellschaft schlechtest Gestellten wären. Konkret bedeutet das, dass sich die Teilnehmer der ursprünglichen Situation über zwei Prinzipien der Gerechtigkeit einigen werden: 1. Jede Person muss das gleiche Recht auf die umfassendste grundlegende Freiheit haben, die mit einer entsprechenden Freiheit anderer vereinbar ist. (Rawls 1972, 60). 2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen so eingerichtet sein, dass sie sowohl (a) für die schlechtest Gestellten von größtem Nutzen sind, als auch (b) an Positionen geknüpft sind, die unter Bedingungen der fairen Chancengleichheit für alle offen sind. (A.a.O., 83. Meine Übersetzung). Die rationale Konstruktion der Gerechtigkeitsprinzipien ist wie erwähnt auch eine Theorie über die Begründung ethischer Urteile. Die „Einrichtung" der ursprünglichen Situation geschieht von den unmittelbaren Intuitionen bzw. Auffassungen über Gerechtigkeit aus. Umgekehrt müssen konkrete Urteile über soziale Gerechtigkeit aus den in der Vertragssituation gewählten Prinzipien ableitbar sein. Die Begründung ethischer Urteile ist also eine Frage des wechselseitigen Verhältnisses zwischen intuitiver Beurteilung und konstruierten Prinzipien. Wenn dieses Verhältnis ein solches der Übereinstimmung ist, liegt das vor, was Rawls „Gleichgewicht der Überlegung" ( r e f l e x i v e equilibrium) nennt. Das entsprechende moralische Urteil kann dann als rational begründet gelten.7 Soviel über den methodischen Teil der Theorie der Gerechtigkeit. Ihr substanzieller Teil ist durch den Inhalt der beiden Gerechtigkeitsprinzipien bestimmt. Von diesen ist besonders das Letztere, das so genannte Differenzprinzip, bemerkenswert. Es ist ein Prinzip der distributiven Gerechtigkeit. Was nach Rawls unter Bürgern verteilt werden soll, sind nicht wie im Utilitarismus „Mengen" des Glücks bzw. der Präferenzerfullung, sondern so genannte „soziale Grundgüter", 7
Der Rawlssche Begriff des Gleichgewichtes der Überlegung ist eine konkrete Variante der so genannten holistischen Auffassung der Beziehung von Empirie und Theorie, die sein Harvarder Kollege W . V. Quine entwickelt hat.
Kritik der ethischen Rationalität
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d.h. Voraussetzungen, die jeder Mensch braucht, um sein Leben frei gestalten zu können. Als solche Güter nennt Rawls u.a. wirtschaftliches Vermögen und Ausbildung. Das Differenzprinzip beinhaltet, dass nicht jede Ungleichheit in der Verteilung solcher Güter (z.B. Ungleichheit im Einkommen) notwendig ungerecht ist. Wenn es bei einer weniger ungleichen Verteilung den sozial Schwächsten noch schlechter gehen würde, wäre eine solche Verteilung nicht gerechter. In der neueren Version präzisiert Rawls, dass die Theorie der Gerechtigkeit nicht eine metaphysische, sondern eine politische ist. Sie beansprucht nicht, die endgültige Wahrheit über die vernünftige Natur des Menschen darzustellen. Sie spiegelt lediglich diejenigen Annahmen über Menschen theoretisch wider, die in der politischen Kultur des Westens enthalten sind, der liberalen Demokratie. Die Prinzipien der Gerechtigkeit beanspruchen auch nicht für alle Verhältnisse des Lebens Gültigkeit, sondern lediglich für den politischen Bereich, d.h. für das Zusammenleben und die Zusammenarbeit der Menschen als Bürger. Wenn eine demokratische Gesellschaft stabil sein soll, muss in ihr über die Gerechtigkeitsprinzipien „überlappender Konsens" herrschen. Das heißt: Als Bürger müssen wir uns über die Prinzipien einig sein, aber abgesehen von der Bürgerrolle werden Menschen viele andere Wertvorstellungen haben. Diese werden durch Lebensanschauungen und Religionen (comprehensive doctrines) bestimmt sein. Eine entscheidende Trennungslinie zwischen den vielen Anschauungen einer pluralistischen Gesellschaft ist nach Rawls durch den Unterschied zwischen „reasonable" und „non-reasonable" definiert. Die ersteren Anschauungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie die ethisch-politischen Grundprinzipien der demokratischen Gesellschaft anerkennen und stützen.8
11.4
Kritik der ethischen
Rationalität
Eine Kritik der modernen Annahme einer praktischen Rationalität findet sich in dem viel diskutierten Buch After Virtue des irisch-ame8
Als Veranschaulichung des Begriffes „reasonable doctrine" kann die Abtreibungsfrage dienen. Ein Mensch kann aus religiösen Gründen Abtreibung als moralisch falsch ansehen, aber dennoch das Recht einer Frau, über ihre Schwangerschaft selbst zu entscheiden, als politisches Prinzip anerkennen.
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Philosophische Ethik im 20. Jahrhundert
rikanischen Philosophen Alasdair Maclntyre. Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind die konkreten Ethikdebatten der Gegenwart wie etwa die über Abtreibung. Diese Debatten sind durch tiefgreifende Uneinigkeiten gekennzeichnet, was nach Maclntyre darauf beruht, dass verschiedene ethische Prinzipien bemüht werden, die letzten Endes unvereinbar sind, wie etwa das Selbstbestimmungsrecht der Frau und ein den Fötus umfassendes, absolutes Tötungsverbot. Dieser konkreten Uneinigkeit entspricht ein Streit auf der Ebene der ethischen Theorie. Auch hier ist es anscheinend unmöglich, allgemein anerkannte Regeln darüber zu finden, wie man eine ethische Kontroverse beenden kann, selbst wenn, wie von vielen Teilnehmern behauptet wird, man sich nur auf rationale, unparteiische Prinzipien berufe. Maclntyres Erklärung dieses Zustandes ist, dass die ethische Sprache, die wir heute benutzen, in Unordnung geraten ist. Es ist eine Sprache, die aus Begriffsfragmenten bestehe, deren ursprünglicher Zusammenhang fehlt. Betrachten wir beispielsweise den anscheinend tiefsten Gegensatz der heutigen Ethik-Debatte, nämlich den zwischen deontologischen und konsequenzialistischen Theorien, zeigt sich, laut Maclntyre, dass die jeweiligen Grundbegriffe dieser Positionen ursprünglich einem gemeinsamen Zusammenhang angehörten. Diese Grundbegriffe sind einerseits die absolute Pflicht (z.B. die Pflicht, jeden Menschen zu respektieren), und andererseits das Bemühen, das maximale Glück zu erreichen. Der ursprünglich gemeinsame Zusammenhang besteht nach Maclntyre in dem traditionellen ethischen Gedankengang, der vor allem durch Aristoteles vertreten wird. Es ist der aristotelische Gedanke vom guten Leben, von der eudaimonia als telos eines jeden Menschen, der hinter dem utilitaristischen Begriff des Glücks liegt. Zum traditionellen Denken gehört aber auch die Vereinigung von Aristotelismus und christlichem Glauben, wie wir sie etwa bei Thomas von Aquin finden. Und es ist der christliche Gedanke eines göttlichen Gebotes, der gegenwärtigen Begriffen von absoluten Pflichten zu Grunde liegt.9 Die Entstehung der Moderne ist mit
9
Der traditionelle Gedankengang, von dem Maclntyre spricht, ist mit anderen Worten die Synthese zwischen biblischer und griechischer Ethik.
Kritik der ethischen Rationalität
241
einer Kritik an Aristoteles verbunden. Statt seiner teleologischen Auffassung entsteht der Gedanke vom Individuum, das kraft seiner Vernunft allgemeinen Moralregeln folgen kann. Dieses Projekt der Moderne ist aber nach Maclntyre zum Scheitern verurteilt. Die alten Begriffe - das Gute, die Pflicht usw. — überleben, aber sie können innerhalb ihres neuen Zusammenhanges nicht funktionieren. Das ist die Erklärung dafür, dass die Moraldebatten der Gegenwart tatsächlich als endlose Kämpfe erscheinen. Sie spiegeln die Tatsache wider, dass moderne Gesellschaften geprägt sind durch den Kampf von Individuen um eigene Interessenbefriedigung. In einer solchen Gesellschaft wird Moral zu einem Mittel in einem Machtkampf. Diesen Tatbestand hat nach Maclntyre schon Nietzsche durchschaut, dessen Diagnose der modernen Kultur10 er zustimmen kann. Die Frage sei nur, ob Nietzsche auch darin Recht hat, Aristoteles und mit ihm das ganze klassische ethische Denken abzulehnen. Diese Frage ist nach Maclntyre die Grundfrage der heutigen Ethik-Debatte: Wir stehen vor der Alternative Nietzsche oder Aristoteles. Der Fehler der rationalen Ethik der Moderne, so Maclntyre, besteht in der Annahme, das menschliche Subjekt sei ein von jeglichem Kontext unabhängiges Individuum. Als Alternative bietet sich daher eine Erneuerung der aristotelischen, um den Tugendbegriff zentrierten Ethik an, denn in ihr wird der Mensch als Glied verschiedener Zusammenhänge verstanden. Maclntyre stellt klar, dass die Erneuerung der Tugendethik des Aristoteles nicht seine „metaphysische Biologie" umfassen kann, d.h. die Annahme gegebener Fähigkeiten, von denen her das telos des menschlichen Lebens definiert würde. In der erneuerten Version wird der Begriff Tugend von drei anderen Begriffen her bestimmt: von der gemeinsamen Tätigkeit, der Narrativität und der Tradition her. Unter gemeinsamer Tätigkeit („practice") versteht Maclntyre solche sozialen und kooperativen Tätigkeiten, bei denen interne Güter realisiert werden. Als Beispiele nennt er Spiele wie Schach und Fußball, Landwirtschaft, Forschung und künstlerische Tätigkeit. Den für die Tätigkeit konstitutiven Begriff „internes Gut" bestimmt er durch
10 Vgl. Kap. 10, S. 207.
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Philosophische Ethik im 20. Jahrhundert
sein Gegenteil: Als externes Gut fungiert beispielsweise die Schokolade, mit der ich ein Kind zum Schachlernen locke. Wenn das Kind hingegen ohne solchen äußeren Reiz Schach spielt, ist das Spielen selbst ein internes Gut. Bei jedem Ausüben einer gemeinsamen Tätigkeit muss der Einzelne sich anderen anpassen, und dazu bedarf es grundlegender Tugenden wie Gerechtigkeit, Mut und Ehrlichkeit. Eine Tugend ist nämlich ... eine erworbene menschliche Eigenschaft, deren Besitz und Ausübung uns im allgemeinen in die Lage versetzt, die Güter zu erreichen, die einer Praxis" inhärent sind. ... (Maclntyre 1995, 256).
Tugenden befähigen den Einzelnen, gemeinsame Tätigkeiten auszuüben und haben insofern einen zweckmäßigen, teleologischen Charakter. Die gemeinsame Tätigkeit ist jedoch nicht der einzige Zusammenhang, auf den die Tugenden ausgerichtet sind, sondern sie gehören auch in den Kontext der Ganzheit eines Menschenlebens. Um die Ganzheit des Lebens geht es dem Einzelnen, wenn er fragt, wer er selbst sein möchte und welches Leben er sich wünscht. Es geht also um die persönliche Identität und das Gute. Beide Fragen weisen nach Maclntyre auf die narrative Struktur des menschlichen Lebens hin, auf seinen Charakter einer Erzählung, welche Geburt, Leben und Tod verbindet. Wer ein Mensch ist (Identität), ergibt sich aus den Erzählungen über ihn, mit denen sein Leben verwoben ist. Und in der Erzählung von seiner Suche nach dem Lebensziel zeigt sich, was sein Leben zu einem guten macht. Das menschliche Individuum, das Selbst, ist seinem Wesen nach narrativ; der Mensch ist, so korrigiert Maclntyre die aristotelische Definition, ein „Geschichten erzählendes Tier" (storytelling animal, vgl. a.a.O., 288). Durch die Narrativität ergibt sich eine zusätzliche Definition der Tugenden: Sie müssen ... als die Dispositionen verstanden werden (...), die uns auch bei der relevanten Art von Suche nach dem Gut unterstützen, indem sie uns in die Lage versetzen, die Leiden, Gefahren, Versuchungen und Ablenkungen zu überwinden, denen wir begegnen ... (a.a.O., 293).
11 „Praxis" ist in der deutschen Ausgabe die Übersetzung von „practice", für das ich „gemeinsame Tätigkeit" bevorzugen würde.
Kritik der ethischen Rationalität
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Narrativität und Tugend gehören auch insofern zusammen, als Tugenden durch Erzählungen vermittelt werden. Sowohl das Leben des Einzelnen als auch die gemeinsamen Tätigkeiten, an denen er teilnimmt, gehören jeweils einer Tradition an. Durch diesen Begriff ist der dritte - zeitliche bzw. geschichtliche Zusammenhang angegeben, innerhalb dessen die Tugend zu sehen ist. Die Tradition ist mit der Narrativität verknüpft: „die Geschichte meines Lebens ist stets eingebettet in die Geschichte jener Gemeinschaften, von denen ich meine Identität herleite" (a.a.O., 295). Und auch das Weiterfuhren und Lebendighalten von Traditionen erfordert gewisse Tugenden, durch die der Einzelne sowohl mit der Vergangenheit als auch mit der Zukunft verbunden ist. Eine Tradition ist nach Maclntyre auch ein Streitgespräch („argument"), u.a. über die der Tradition eigenen Güter und über das Verhältnis zu anderen Traditionen. Maclntyres Ethik der Tugenden ist eine Kritik der ethischen Rationalität in dem Sinne, dass sie gewisse Elemente der Ethik der Moderne verwirft. Es ist dies vor allem der Gedanke, dass ethisches Handeln aus dem Befolgen von Regeln besteht, die für jeden vernünftigen Menschen gelten, und dass der ethisch handelnde Mensch ein von jeglichem bestimmten Zusammenhang unabhängiges Subjekt ist. Damit will Maclntyre nicht praktische Rationalität als solche bestreiten, sondern er behauptet, dass auch diese vom jeweiligen Kontext der Tradition abhängig ist.12 Nun besteht nach Maclntyre ein enger Zusammenhang zwischen dem modernen Projekt der rationalen Ethik und dem Liberalismus als politischer Idee, so wie er etwa gegenwärtig von Rawls vertreten wird. Am Liberalismus hebt Maclntyre hervor, dass die Gesellschaft hier lediglich ein neutraler Rahmen ist, innerhalb dessen die Bürger als Individuen ihre eigenen Lebenspläne verwirklichen können. Im Grunde setze ein liberales Gemeinwesen keine sozialen Bindungen unter den Bürgern voraus. Maclntyre meldet sich mit solchen Überlegungen als Teilnehmer einer der wichtigsten gegenwärtigen politischen Grundlagendiskussionen, derjeningen zwischen Liberalisten und Korn12 Zur These über die Traditionsbestimmtheit der praktischen Vernunft vgl. Maclntyre 1988.
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munitaristen. „Communitarianism" wurde aus dem englischen Wort für Gemeinschaft („Community") gebildet. Wie wir gesehen haben, besteht nach Maclntyre ein enger Zusammenhang zwischen den Tugenden und der Gemeinschaft, in der der Einzelne die Tugenden erwirbt und ausübt. Kommunitarismus als politische Philosophie bedeutet, dass die Gesellschaft bzw. der Staat eine Gemeinschaft in dem Sinne ist, dass die Bürger durch eine gemeinsame Tradition und gemeinsame Vorstellungen vom guten Leben geeint sind. Es gibt nach Maclntyre auch eine dieser Dimension der Gemeinschaft entsprechende Tugend: den Patriotismus. Eine radikalere Kritik der modernen Rationalitätsannahmen finden wir bei dem amerikanischen Philosophen Richard Rorty. Rorty bestreitet die Annahme, der Mensch sei ein der Zeit enthobenes Subjekt, das die Welt mit Hilfe von wahren und objektiv begründbaren Aussagen genau abbilden könne. Auch der Gedanke von universalen, begründbaren Moralnormen sei hinfällig. Den Hintergrund dieser Kritik bilden Nominalismus und Historizismus: Die Sprache ist ein Mittel, mit dem wir eine Wirklichkeit (einschließlich unserer selbst) schaffen, und zwar unter historisch gegebenen Bedingungen, die letzten Endes zufällig (kontingent) sind. Philosophie kann nicht mehr, wie es die Aufklärung glaubte, sowohl das freie Leben des Einzelnen als auch das gemeinsame politische Dasein in einem einzigen Gedankengang umfassen. Philosophie hat nach Rorty nur mit Ersterem zu tun, d.h. mit der Selbstgestaltung des Einzelnen, die grundsätzlich eine private Angelegenheit ist. Rorty betrachtet sich nun aber, anders als Maclntyre, als moralischer Fürsprecher des Liberalismus. Moral kann nach Rorty weder in einem Handeln und Leben nach rational begründbaren Normen und Prinzipien bestehen noch in der Beurteilung von Handlungen von einem objektiven, unparteiischen Standpunkt aus. Moral bedeutet vielmehr, sich zu einem „Wir" gehörig zu sehen, dem gewisse Verhaltens- und Denkweisen gemein sind und dem ein „Sie" der nicht dazu Gehörenden gegenübersteht. Das Zustandekommen eines solchen „Wir" und der entsprechenden Handlungsweisen ist historisch kontingent, so dass sich die Richtigkeit der Handlungsweisen nicht begründen lässt. Die nach Rorty entscheidende Frage, die einer solchen „Wir"-Moral gestellt werden kann, ist, wie sie sich zu menschlichem Schmerz und
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Gedemütigtwerden verhält. Diese Frage dient auch dazu, den Rortyschen Liberalismus zu kennzeichnen. Eine liberale Gesellschaft ist seiner Meinung nach durch zwei Eigenschaften gekennzeichnet: (i) sie lässt dem Einzelnen den größtmöglichen Spielraum, seine eigene Identität zu gestalten; (ii) es herrscht in ihr Solidarität im Sinne einer gemeinsamen Sensibilität gegenüber der Demütigung. Solidarität ist davon abhängig, wer zu dem „Wir" gehört, welches gemeinsam gegen Demütigung als Form des Schmerzzufugens vorgeht. Es kann von einem moralischen Fortschritt in dem Sinne die Rede sein, dass dieses „Wir" immer umfassender wird. Unterschiede zwischen Menschen hinsichtlich des Stammes, der Religion, der Rasse usw. treten dabei immer mehr zurück, während die Gleichheit gegenüber Schmerz und Demütigung stärker hervortritt. Im Unterschied zu Habermas und Rawls, nach denen die liberale und demokratische Staatsform philosophisch begründbar ist, kennt Rorty nur einen „ironischen" Liberalismus: Ein Verteidiger der Freiheit und der Solidarität weiß, dass die Anerkennung dieser Werte auf historischem Zufall beruht.13 13 Es seien hier noch zwei weitere einflussreiche Teilnehmer der Debatte über Liberalismus und Kommunitarismus genannt. Der kanadische Philosoph Charles Taylor {geb. 1931) kritisiert wie Maclntyre das ethische und politische Denken der Moderne, aber er lehnt es nicht pauschal ab, sondern macht auf seine Differenziertheit aufmerksam. So kann der moderne Grundbegriff „Freiheit" zweierlei bedeuten: negative Freiheit, d.h. die Freiheit des Einzelnen von Eingriffen anderer, oder positive Freiheit, d.h. aktive und selbstständige Lebensgestaltung. Letztere hängt eng mit dem Begriff Authentizität zusammen, der nach Taylor u.a. der Romantik und deren Ästhetik der Kreativität entstammt. Taylor macht darauf aufmerksam, dass ein freies und authentisches Leben des Einzelnen nicht notwendigerweise mit Subjektivismus gleichbedeutend ist, d.h. daß der Maßstab der Güte eines Lebens nur individuelle Erlebnisse sind (wie im Präferenzutilitarismus). Authentizität bedeute im Gegenteil, dass es von dem Willen des Einzelnen unabhängige Maßstäbe gibt, die es zu etwas Edlem, Mutigem und Bedeutungsvollem machen, sein eigenes Leben zu gestalten. Solche Größen können eine Religion, die Liebe, ein politisches Ziel oder die Natur sein. Dieser Sachverhalt bedeutet, dass der Einzelne sein Leben nur im Dialog mit anderen formen kann. Die Interpretation der Moderne führt bei Taylor zwei wichtige Konsequenzen der politischen Ethik mit sich. Erstens bedeutet der zuletzt genannte Punkt, dass demokratische Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung nur dann realisiert werden kann, wenn Bürger sich als Gemeinschaft verstehen, d.h. gewisse Vorstellun-
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Philosophische Ethik im 20. Jahrhundert
11.5 Ethik der Interdependenz Ein ethisches Denken, das einerseits eine Kritik der ethischen Rationalität der Moderne enthält, aber andererseits eine Form des Universalismus vertritt, kann man innerhalb der Tradition der Phänomenologie finden. Es soll im Folgenden anhand der Ethik des dänischen Philosophen und Theologen Knud E. Logstrup dargestellt werden. K. E. Lagstrup ( 1 9 0 5 - 1 9 8 1 ) gehört philosophisch der Richtung an, die man die existenziale Phänomenologie nennen kann. Ihr bekanntester Vertreter ist der Husserlschüler Martin Heidegger ( 1 8 8 9 - 1 9 7 4 ) . Heidegger setzt sich mit seinem Lehrer in zwei Punkten auseinander: (i) Husserl hat darin recht, dass das Menschenleben mehr ist als ein Strom von Bewusstseinszuständen, aber dieses „mehr" sind keine abstrakten Wesenszüge, sondern es ist das eigene Sein des Menschen; (ii) der Mensch ist kein isoliertes Bewusstseinswesen, sondern eines, das sich von vornherein in einer W e l t zusammen mit anderen befindet. Phänomenologie bedeutet daher bei Heidegger nicht „Wesensschau", sondern Beschreiben der Weisen, wie es dem Menschen (dem „Dasein") u m sein eigenes Sein geht und wie er sich zur W e l t und zu anderen
gen vom guten Leben teilen. Zweitens bejaht Taylor die Tendenz der letzten Jahre, Authentizität nicht nur individuell, sondern auch im Sinne der gemeinsamen Errungenschaften von Religionen, Kulturen, Nationen und ethnischen Gruppen zu verstehen. Von hier aus bestimmt er einen Begriff des Liberalismus, der sich von dem neutralen Liberalismus der negativen Freiheit von Individuen unterscheidet. Ein Staat, der sich zu einer bestimmten religiösen, nationalen und kulturellen Grundlage bekennt, kann in diesem Sinne durchaus liberal sein, vorausgesetzt, er erkennt die Rechte anders denkender Minderheiten an. Dem amerikanischen Philosophen Michael Walzer zufolge sind die demokratischen Werte der Freiheit, Selbstbestimmung und Gerechtigkeit nicht in einer allen Menschen gemeinsamen Vernunft begründet. Von sich aus haben diese Werte keine universale Gültigkeit. Ihren ursprünglichen Sinn erhalten sie vielmehr, so Walzer, in dem partikularen Kontext einer bestimmten historisch geformten Gemeinschaft. Dieser ursprüngliche Sinn sei „dick", d.h. von einer großen inhaltlichen Differenziertheit. Als Beispiel könnte man die Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit nennen, die in der EU eine andere ist als in den USA. Eine allgemeinere Wertvorstellung - etwa die der globalen Gerechtigkeit— ist im Verhältnis hierzu sowohl abgeleitet als auch „dünner". Walzer bekennt sich zwar als Liberaler, aber er betont, der Liberalismus sei die „dicke" Moral einer bestimmten Kultur, nämlich der westlichen.
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Menschen verhält. Phänomenologie ist Existenzanalyse bzw. Existenzialontologie. 14 Die Existenzanalyse Heideggers enthält keine Ethik. Es war deshalb eine wichtige Frage für die Philosophen, die sich v o n der existenzialen Phänomenologie inspirieren ließen, ob sich auf ihrer Grundlage eine ethische Theorie entwickeln lässt. Einer v o n ihnen war Logstrup; sein ethisches Denken ist übrigens nicht nur v o n Heidegger, sondern auch von einem anderen HusserlSchüler, der die Phänomenologie in existenzialer Richtung entwickelte, beeinflusst, nämlich Hans Lipps ( 1 8 8 9 - 1 9 4 1 ) .
Es gehört nach existenzial-phänomenologischer Auffassung zur menschlichen Daseinsweise, dass wir uns immer im Verhältnis zu anderen Menschen befinden. Logstrup zufolge sind alle diese Relationen geprägt von Interdependenz, gegenseitiger Abhängigkeit. Inderdependenz heißt, dass alle menschlichen Relationen das gegenseitige Ausüben von Macht beinhalten. Und das Phänomen der Ethik hängt fiir Logstrup gerade unlösbar damit zusammen, dass Verhältnisse zwischen Menschen Machtverhältnisse sind. Die Macht kann jedoch von sehr verschiedener Art sein, und folglich ist es notwendig, zwischen verschiedenen ethischen Phänomenen und Problemkreisen zu unterscheiden. Die elementarste Form von Macht kann die Macht der persönlichen Verhältnisse genannt werden. Auf der grundlegenden Ebene besteht Interdependenz darin, dass wir uns zu anderen Menschen nicht persönlich verhalten können — mit ihnen kommunizieren, mit ihnen umgehen - ohne uns auszuliefern. Sich an einen anderen zu wenden, ihn anzusprechen, schließt die Erwartung ein, von dem anderen ernstgenommen zu werden und Antworten zu erhalten. Eine solche Erwartung ist eine Entblößung, eine Selbstauslieferung. Und in der Selbstauslieferung des einen liegt die Macht des anderen. Selbstauslieferung kann nämlich durch Kränkung, Hohn, Klatsch, Drohung usw. ausgenutzt werden. Die Möglichkeit der Ausnutzung und des Missbrauchs der persönlichen Macht ist eines der Grundphänomene des Menschen14 Heideggers Beschreibung unseres Verhältnisses zum eigenen Sein kann an stoische Gedankengänge erinnern: Es ist das menschliche Grundanliegen, sich um das eigene Sein zu kümmern (Sorge: mit dem stoischen Gedanken von der Selbsterhaltung verwandt), und wir müssen uns zum Sein als dem uns Eigenen verhalten (Eigentlichkeit: mit der stoischen oikeiosis verwandt). Siehe 2. Kapitel, S. 39f.
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lebens, welches bewirkt, dass moralische und rechtliche Normen zweckmäßig sind. Eine ihrer Funktionen ist es nämlich, „der gegenseitigen Ausnutzung Grenzen" zu setzen (Logstrup 1989, 58). Aber wir sind auch fähig zur Zusammenarbeit, die darin bestehen kann, dass Menschen ihre Macht vereinen und sie konstruktiv zur Lösung gemeinsamer Aufgaben nutzen. Auch das ist einer der Grundzüge, in denen die Ethik verankert ist und die Normen hervorbringen. Diese haben hier aber eine andere Funktion: „Um jede Beschäftigung und um jedes Zusammenleben herum bildet sich ein Komplex moralischer Regeln" (Logstrup 1989a, 28). Als Beispiel nennt Logstrup die Zusammenarbeit der Seeleute, die gesteuert ist von der Regel „Keinen im Stich lassen, um die eigene Haut zu retten" (a.a.O.). Aber zur Ethik der Zusammenarbeit gehören außer Normen auch Charakterzüge. Wenn eine Person einen Platz in einer Zusammenarbeit ausfüllen soll, muss sie bestimmte Eigenschaften haben, die den Normen der Zusammenarbeit entsprechen. Zum Beispiel muss ein Seemann wahrscheinlich möglichst mutig und zuverlässig sein. Für Charakterzüge gelten nach Logstrup zwei entscheidende Dinge. Wir können sie selbst durch Einüben hervorbringen. Und sie sind nicht in sich selbst ethisch gut, sondern neutral: Auch ein Gangster sollte möglichst mutig und zuverlässig sein. Es gibt aber noch eine dritte Gegebenheit des Menschenlebens, die als Nährboden fitir die Ethik dient. Das ist die Tatsache, dass einige der wichtigsten Relationen, in denen wir leben, biologisch bedingt sind: Wir sind Kinder von Eltern, unsere Sexualität lässt uns Verhältnisse etablieren, meistens zum anderen Geschlecht, und viele werden selbst Eltern. Um diese biologisch bedingten Relationen bilden sich kulturell bestimmte Rahmen wie die Institution der Ehe. Auch das Leben innerhalb dieser Institution ist durch Normen gesteuert, z.B. über Kindererziehung und Sexualleben. Hier haben die Normen also die Funktion, einen Rahmen zu bilden für die biologisch bedingten Gemeinschaften. Die Ethik, die sich an die Normen innerhalb der drei genannten Funktionen knüpft, ist relativ und veränderbar. Aber es gibt nach Logstrup ein grundlegenderes ethisches Phänomen als solche Normen, und das ist die ethische Forderung. Ihre Grundlage ist wiederum die persönliche Macht. Dass der andere Mensch mir ausgeliefert ist, be-
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deutet, dass die Begegnung mit ihm mich vor eine Alternative stellt: Entweder kann ich wie angedeutet meine Macht zu meinem eigenen Vorteil ausnutzen - oder ich kann auf den anderen Rücksicht nehmen. Logstrup spricht von der „Alternative: Betreuung oder Zerstörung' (Logstrup 1989, 21) und „ob das Leben des anderen geschützt oder zerstört werden soll" (a.a.O., 56). Er behauptet nun, dass in der Alternative selbst eine Forderung liegt, ein Anspruch, dass wir uns des Lebens des anderen Menschen annehmen sollen. Dieser Anspruch ist einseitig, er verlangt Selbstlosigkeit, denn Rücksicht auf sich selbst zu nehmen ist gleichbedeutend damit, keine Sorge zu tragen für den anderen. Man muss sich klar machen, dass Logstrups Ethik hier existenzphilosophisch geprägt ist. Es geht bei der Forderung nicht nur darum, was der Einzelne für einen anderen Menschen tun soll. Es geht mindestens in gleichem Maße darum, wie er sein eigenes Leben, das eigene „Sein" auffasst (um es heideggersch auszudrücken). Auch im Verhältnis zu meinem eigenen Leben ist die Forderung Ausdruck einer Alternative: Ich kann mich als der „Gebieter" meines eigenen Lebens auffassen, d.h. es als etwas betrachten, dessen Inhalt ich selbst hervorbringen muss —, oder ich kann umgekehrt das Dasein als eine Fülle von Lebensmöglichkeiten betrachten, die ich nur zu greifen brauche: „Verstehen, Sprechen, Erleben und Liebe und vieles andere" (a.a.O., 129). Wähle ich die letztgenannte Auffassung, dann ist das Wichtigste im Leben nicht meine eigene Person, und darum kann ich mich selbstlos dem anderen Menschen gegenüber verhalten. Genau diese Entscheidung beansprucht die Forderung. Ethik ist also für Logstrup nicht nur eine Frage danach, wie ich anderen gegenüber handle, sondern auch danach, wie ich mein eigenes Leben deute. Aber bedeutet die Deutung des Daseins als gegebene Lebensmöglichkeiten nicht, dass ich selbst als das Subjekt meines eigenen Lebens verschwinde? Nein, im Gegenteil: Die Forderung, mit der wir konfrontiert werden, ist stumm; sie ist keine konkrete Handlungsvorschrift. Damit macht sie mich verantwortlich: Ich selbst und kein anderer muss herausfinden, was für den anderen Menschen das Beste ist. Außerdem ist die Forderung unerfüllbar, da der Mensch von Natur aus unaufhörlich dazu tendiert, das Ausgeliefertsein des anderen auszunutzen. Die Unerfullbarkeit muss nach Logstrup dem Einzelnen als seine Schuld zugeschrieben werden: Ich bin es und kein
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anderer, der verantwortlich ist dafür, dass fiir den anderen Menschen nicht gesorgt wurde. Auch diese Schuldigkeit macht also den Menschen zu einem Selbst.13 Dieser Zusammenhang zwischen der Forderung und dem Selbst-Sein setzt übrigens eine klare Grenze, worauf die Fürsorge für andere abzielen kann. Es ist ausgeschlossen, dass sie ... jemals darin bestehen darf, dem anderen die Selbständigkeit zu entreißen. Verantwortung für den anderen zu tragen kann niemals darin bestehen, die Verantwortung des anderen zu übernehmen. (A.a.O., 30).
Die Frage nach dem Selbst hat einen gewissen Zusammenhang mit einer wichtigen Änderung, die in Logstrups ethischer Theorie geschieht. Er macht auf ein Phänomen aufmerksam, das noch fundamentaler sei als die Forderung, nämlich die von ihm so genannte souveräne Daseinsäußerung. Er beschreibt sie von ihren Gegensätzen her, z.B. dem Neid. Diesen nennt Logstrup eine „gezwungene Daseinsäußerung", weil der Neidische sich selbst in einem Gefühl des Benachteiligtseins festhalte. Zu der Gruppe dieser Äußerungen gehören auch Eifersucht und Beleidigtsein. Demgegenüber nennt Logstrup als Beispiel einer soveränen Daseinsäußerung die „Offenheit der Rede". Er denkt dabei an das Kennzeichen des Sprechens, dass wir teils selbst eine unwillkürliche Geneigtheit zum offenen Sprechen fühlen, und teils darauf eingehen, was der andere sagt, und daran glauben.16 Eine solche Daseinsäußerung hat nach Logstrup mehrere entscheidende Züge: (i) sie ist spontan, d.h. sie stellt sich ohne weiteres ein; (ii) sie ist souverän-, nicht ich selbst beschließe, offen zu sein, sondern es geschieht ohne meinen Willen; (iii) sie ist definitiv, d.h. sie hat vollständig klare Züge, so dass sie ein Entweder-Oder enthält: entweder ist man offen oder das Gegenteil davon ist der Fall (man ist zurückhaltend, misstrauisch, skeptisch usw.). Andere Beispiele solcher Daseinsäußerungen sind bei Logstrup17 Mitleid, Barmherzigkeit, Vertrauen, Liebe, Aufrichtigkeit und Treue. Wenn wir nun fragen, was es bedeutet, z.B. Barmherzigkeit zu üben, 15 Es ist kein Widerspruch zwischen dem Anspruch der Forderung nach Selbstlosigkeit, und der Tatsache, daß sie voraussetzt, daß der Einzelne ein Selbst ist. 16 Die beste Beschreibung von der Offenheit der Rede bei Logstrup 1989a, 6f. 17 Die erste ausführliche Analyse der souveränen Lebensäußerungen findet sich in Logstrup 1968a, 9 2 - 1 0 4 .
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dann ist die Antwort, es heiße, „dem Bedrängten aus der Not zu helfen und die Hindernisse, die sich seiner Lebensentfaltung in den Weg stellen, beiseitezuräumen" (Legstrup 1989a, 9). Das heißt also, dass die Daseinsäußerungen Handlungen sind, mit Hilfe derer wir uns des anderen annehmen; sie erfüllen mit anderen Worten die ethische Forderung. Aber sie tun es wohlgemerkt, bevor wir uns überhaupt einer Forderung bewusst sind. Die Forderung ist in dem Sinne sekundär, dass sie erst zu Worte kommt, wenn die Begegnung mit dem anderen Menschen keine souveräne Daseinsäußerung hervorruft — und das geschieht selten. Die Forderung als sekundäres oder „Ersatz"-Phänomen ist nun nach Logstrup in der Goldenen Regel ausgedrückt: Sie ist ... durchaus keine temperierte Anweisung zur Gegenseitigkeit, wenn es auch dem Buchstaben nach so klingen mag. Vielmehr ist es eine Aufforderung an unsere Phantasie. Die goldene Regel verlangt von uns, dass wir unser Vorstellungsvermögen mobilisieren und uns überlegen sollen, wie wir behandelt werden wollen, wenn wir in der Situation anderer wären - um daraufhin so an dem anderen zu handeln. (Logstrup 1989a, 10f.).
Einer der Gegensätze zu den souveränen Daseinsäußerungen ist wie gesagt der Neid. Dieser ist bei Aristoteles eine Last (phtonos, vgl. EN 1108 b, 37). Es liegt deshalb nahe zu fragen, ob die souveränen Daseinsäußerungen Tugenden sind. Das sind sie laut Logstrup aus zwei Gründen nicht. Erstens sind Tugenden seiner Auffassung nach ein Bemühtsein, richtig zu handeln, und nicht, anderen zu helfen; die Tugend ist eine „Ersatzdisposition" (Logstrup 1968a, 161). Zweitens können Tugenden erworben und eingeübt werden, sie sind also nicht spontan. Das heißt aber, dass der traditionelle Tugend-Begriff dem entspricht, was Logstrup Charakterzug nennt. Obwohl Daseinsäußerungen und Charakterzüge also sehr verschieden sind, ist ihnen doch gemeinsam, dass sie grundlegender sind als Moralregeln und Prinzipien. Wir sahen, dass die Goldene Regel erst notwendig wird, wenn die Daseinsäußerung ausbleibt. Uberhaupt meint Logstrup, dass Normen und allgemeine ethische Prinzipien Formulierungen von Daseinsäußerungen sein können, die notwendig sind, wenn diese sich nicht ohne weiteres entfalten. Als Beispiel nennt er „Halte nicht aus Menschenfurcht oder Freundesfurcht deine Mei-
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nung zurück" und „Lüge nicht", die beide in der Offenheit der Rede gründen (Logstrup 1982, 106ff. Meine Übersetzung.). Aber ethische Prinzipien können ihre Grundlage nach Logstrup auch in Charakterzügen haben. In der Ethik Logstrups gibt es somit eine klare Unterscheidung zwischen zwei Gruppen von Phänomenen. Auf der einen Seite Daseinsäußerungen, Charakterzüge und Zusammenarbeitsnormen, auf der anderen Seite die Goldene Regel und andere allgemeine Prinzipien. Die Letztgenannten treten dann in Funktion, wenn bei den Erstgenannten Probleme auftreten: Wenn die Daseinsäußerungen ausbleiben und wenn Unsicherheit und Konflikt in Bezug darauf, wie gehandelt werden soll, entstehen. Diese Unterscheidung erinnert in mancher Weise an Hares Unterscheidung zwischen den zwei Ebenen der Ethik. Während Hare jedoch einfach voraussetzt, dass wir Menschen nun einmal intuitive Normen und Moralauffassungen haben, untersucht Logstrup, was die Grundlage dafür ist. Letzten Endes ist die Grundlage seiner Meinung nach in den gegebenen Zügen des Menschenlebens zu finden. In dieser Hinsicht ist die Ethik bei Logstrup in der Natur des Menschen begründet. Die menschliche Natur — im Sinne der existenzialen Phänomenologie - ist einerseits allen Menschen gemein, und insofern steckt in Logstrups Ethik ein universalistischer Kern. Andererseits gehen aber so viele verschiedene Züge in das menschliche Dasein ein, dass die Ethik nicht systematisiert oder auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden kann. Aus dem genannten Grund ist es schwierig zu entscheiden, ob Logstrup eine deontologische oder eine konsequenzialistische Theorie vertritt. Es besteht kein Zweifel, dass das Menschenleben seiner Meinung nach so gegeben ist, dass sich darüber sagen lässt, was eine erfüllte Verwirklichung des Lebens ist. Es gibt mit anderen Worten ein eudaimonistisches Motiv in der Ethik Logstrups. Allerdings benutzt er selten das Wort „Glück", wohl aber spricht er davon, dass „ein Menschenleben glücken kann". Eines der Dinge, die ein Menschenleben „glücken" lassen, ist das Erfiilltsein der biologisch bedingten Beziehungen durch Liebe: Unter der Fürsorge für das Leben des anderen gelingt nicht nur das Leben des anderen, sondern auch das eigene Dasein. Wenn Eltern für ihre Kinder Fürsorge tragen, indem sie sie vernünftig erziehen, spricht die Wahr-
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scheinlichkeit nicht nur dafür, dass das Leben der Kinder gelingt, sondern mit ihrem Leben das der Eltern. 18 (Logstrup 1989, 138).
Die Phänomene, die die Ethik begründen — die Daseinsäußerungen, die Charakterzüge, die Normen der Kooperation - sind Vollzugsformen des interdependenten Lebens, die es zur „Erfüllung" bringen (vgl. etwa Logstrup 1989a, 67f.). Die ethischen Grundphänomene sind mit anderen Worten vorgegebene Möglichkeiten zur Realisierung des guten Lebens. Über Logstrups Sozialethik, bzw. politische Ethik kann kurz gesagt werden, dass auch sie sich um das Phänomen der Macht zentriert. Das Besondere der Sozialethik beruht darauf, dass für die Funktion der Gesellschaft andere Formen der Macht entscheidend sind als die, die wir vom Gebiet der Interpersonalität und der Gemeinschaften kennen. Die politische Macht ist eine delegierte Macht, die bestimmten Menschen, den gewählten Vertretern, übertragen ist. Dadurch unterscheidet sie sich von der anderen entscheidenden Macht auf der Ebene der Gesellschaft, der ökonomischen. Beide Machtformen sind ethisch bedeutungsvoll, da sie Einfluss auf das Leben anderer Menschen mit sich fuhren. Ein dritter entscheidender Faktor ist der, den man die technologische Macht nennen kann, die Macht, die unter anderem in der Fähigkeit des Menschen liegt, die Ressourcen der Natur industriell auszunutzen. Wie kann Ethik die Grundlage für die Entfaltung der verschiedenen Formen der Macht in der Gesellschaft sein? Das kann nach Logstrup primär in der Gestalt von Idealbildungen geschehen. Idealbildungen sind normative Vorstellungen, die den Bürgern einer Gesellschaft gemeinsam sind. Sie können verschiedener Art sein. Idealbildungen können Problemen und Schwierigkeiten entspringen, mit denen eine ganze Gesellschaft konfrontiert ist. Als Beispiel können Umweltprobleme dienen („Wir müssen die Umwelt beschützen"). Solche Idealbildungen erinnern an Normen für Zusammenarbeit. Aber Idealbildungen können auch darin bestehen, dass die Inhalte der souveränen Daseinsäußerungen von der persönlichen auf die gesellschaftliche Ebene übertragen werden. Als Beispiel nennt Logstrup Barmherzigkeit, aus der das 18 Das Deutsche „gelingt" ist die Übersetzung des Dänischen „lykkes" = „glückt".
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Ideal entsteht, dass die Gesellschaft sich der Schwachen annehmen muss. Diese Forderung ist mit dem Prinzip der distributiven Gerechtigkeit verwandt, wie es z.B. Rawls formuliert hat. Aber zum einen ist ein Ideal der Gerechtigkeit nach Logstrup immer etwas Sekundäres im Vergleich zu der souveränen Daseinsäußerung. Zum anderen kann es nach ihm keine „Theorie" der Gerechtigkeit geben, weil die Ethik sich nicht in der geschlossenen Form eines Gedankengebäudes vereinen lässt. Die Phänomenologie hat, nicht zuletzt in ihrer existenzialen Variante, in Frankreich eine ganz besondere Wirkung gehabt, auch hinsichtlich der philosophischen Ethik. So kann man Jean-Paul Sartres (19051980) 1943 erschienenes Buch „Das Sein und das Nichts" als Pendant zu Heideggers „Sein und Zeit" sehen. Wie im Falle Heideggers war Sartres Existenzphilosophie anscheinend ohne ethische Implikationen. Doch zeigte sich nach seinem Tod, dass er in den 40er Jahren an einer Ethik gearbeitet hat (vgl. Sartre 1983). In diesen Zusammenhang ist auch Paul Ricoeur (geb. 1913) einzuordnen. Nach Ricoeur ist Ethik das „Beabsichtigen des wahren Lebens mit dem anderen und für ihn in gerechten Institutionen" (Ricoeur 1990, 211). Sie umfasst also sowohl die Ethik der Interpersonalität als auch diejenige des Politischen. Ricoeur bringt insofern die ethischen Elemente der Phänomenologie mit der angelsächsischen Debatte in Verbindung, als er (wie Maclntyre) die Aktualität des Aristoteles behauptet und außerdem die Debatte über die liberalen Gerechtigkeitsprinzipien berücksichtigt. Es ist aber der aus Litauen stammende Emmanuel Lévinas (19051995), der sich am ausdrücklichsten mit dem ethischen Defizit der Heideggerschen Existenzialphänomenologie auseinandergesetzt hat.19 Nach Lévinas gehören die Fragen der Ethik mit denjenigen der Ontologie zusammen. Die klassische, von Heidegger wieder aufgenommene Frage nach dem Sein sieht er als Ausdruck einer Denkweise, die in Allem das Gemeinsame bzw. das Gleiche (mèmeté) sucht. Als Beispiele könnte man das Einordnen des Einzelnen unter einen Allgemeinbegriff oder das Ausführen einer Handlung als Befolgen einer generellen Regel nennen. Diese Denkweise bedeutet, so Lévinas, dass das Nicht-Gemeinsame — das Verschiedene bzw. das ,Andere" - zu kurz kommt oder geradezu unterdrückt wird. Solange wir in dieser Weise 19 Das Folgende baut vorwiegend auf Lévinas 1982.
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denken, sind wir aber keine Subjekte, denn als Mensch zu leben ist etwas radikal anderes als Exemplar eines Allgemeinen zu sein. Eine Grundfrage für Lévinas lautet deshalb: Wie können wir aus dem Sein ausbrechen bzw. jenseits seiner (autrement qu'être) kommen; wo begegnet uns das Andere, die Alterität? Seine Antwort lautet, dass uns das Andere in dem Gesicht des anderen Menschen begegnet. Die Begegnung mit dem anderen Menschen könnte innerhalb des Denkens der Gleichheit stattfinden (er könnte etwa ein Bettler sein wie viele andere). Aber gerade das Gesicht in seiner Blöße und Verletzbarkeit rückt den anderen aus dem Bereich des Seins und damit des Gleichen heraus. Und es entrückt auch mich, dem der andere begegnet, dem Bereich des Gleichen. Das Gesicht des anderen enthüllt mir, dass ich — ob ich will oder nicht - durch eine Verantwortung gebunden bin. Das bloße Gesicht kann grundsätzlich auf zwei Arten gesehen werden: als Anlass zu Gewalt — oder als stummer Appell zum Nichttöten. Das Wahrnehmen der Verantwortung bedeutet, dass ich für den anderen da sein soll, mich ganz für ihn einsetzen soll. Erst die Verantwortung macht mich zum Subjekt; es vereinzelt mich, indem ich als derjenige, der für den anderen eintreten soll, unersetzlich bin. Die Relation der Verantwortung ist nach Lévinas radikal asymmetrisch, denn der andere ist der von mir ganz Verschiedene. Außerdem gibt es für meine Verantwortung keine Grenzen. Alles, was dem anderen geschieht, unterliegt meiner Verantwortung; und ich habe immer eine größere Verantwortung als jeder andere. Eine wichtige Konsequenz aus der Denkweise Lévinas' ist, dass es einen großen Unterschied gibt zwischen der Ethik der Nähe (der Relation Ich — der andere) und einer Gesellschaftsethik. Letztere zeichnet sich — in der Terminologie Lévinas' - dadurch aus, dass nun neben dem anderen ein „Dritter" (oder eher viele) auftritt. Wenn das der Fall ist, ändern sich die menschlichen Beziehungen, so dass die Verantwortung notwendig modifiziert werden muss. Anstelle der radikalen Verantwortung tritt der Begriff der Gerechtigkeit. Es besteht aber nach Lévinas ein Zusammenhang zwischen der Ethik der Nähe und der Gesellschaftsethik. Der Bereich des Politischen soll nach ihm eben als Einschränkung der unendlichen Verantwortung gesehen werden und nicht als eine Begrenzung eines Krieges aller gegen alle.
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Die Ethik des Lévinas ist neuerdings von dem polnisch-englischen Soziologen Zygmunt Bauman mit derjenigen Logstrups verglichen worden. Dabei bezieht er sich ausschließlich auf Logstrups Darstellung der ethischen Forderung, in der ja in der Tat Phänomene wie Begegnung mit dem Anderen und Verantwortung entscheidend sind. Im Übrigen zeigt der Titel des betreffenden Buches von Bauman, Postmodern Ethics, dass die Weiterentwicklung der französischen Phänomenologie diese in die Nähe des so genannten Postmodernismus gebracht hat. Entscheidende Züge bei Lévinas sind in diesem Zusammenhang sein Vorwurf, die von der Moderne promovierte Rationalität neige zur „Gleichschaltung" und zum Totalisieren, und seine Hervorhebung des nicht in Begriffe einzufangenden .Anderen".20
Literatur zu Kapitel 11 Ayer, A.J. (1975): Language,
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Harris, J. (1985): The Value of Life. An Introduction to Medical Ethics. London. Jaspers, K. (1961): Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Politisches Bewusstsein in unserer Zeit. München. 20 Im Zusammenhang mit den Ethiken innerhalb der Tradition der existenzialen Phänomenologie muss auch der deutsche Philosoph Ernst Tugendhat (geb. 1930) erwähnt werden. Sein Denken zeichnet sich dadurch aus, dass er einerseits Elemente von Heideggers Existenzialanalytik übernimmt, sie aber andererseits mit den Mitteln der sprachanalytischen Philosophie präzisiert. Das gilt auch für Tugendhats Ethik, die er in mehreren Versuchen dargestellt hat. Er vereint in ihr Elemente einer begründbaren Universalmoral mit der notwendigen Entscheidung des Einzelnen, ob er sich als moralisches Wesen verstehen will oder nicht. Vgl. Tugendhat 1993.
Literatur zu Kapitel 11
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Jonas, H. (1984): Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt/M. Lévinas, E. (1982): Ethique et infini. Dialogues avec Philippe Nemo. Paris. Logstrup, K.E. ( 1968a) -.Auseinandersetzung mit Kierkegaard (Kontroverse um Kierkegaard und Grundtvig, Hrsg. v. K.E. Logstrup u. G. Harbsmeier, Bd. II). München. Logstrup, K.E. (1982): System og symbol. Essays. Kabenhavn. Logstrup, K.E. (1989): Die ethische Forderung. 3. unverä. Aufl. Tübingen. Logstrup, K.E. (1989a): Norm und Spontaneität. Ethik und Politik zwischen Technik und Dilettantokratie. Tübingen. Maclntyre, A. (1985): After Virtue. A Study in Moral Theory. Second Edition. London. MacIntyre.A. (1995): Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Frankfurt/M. Maclntyre, A. (1988): Whose Justice? Which Rationality? London. Moore, G.E. (1959): Principia Ethica. Paperback Edition. Cambridge. Moore, G.E. ( 1970) : Principia Ethica. Aus d. engl, übers, u. hrsg. v. B.Wisser. Stuttgart. Rawls, J. (1980): A Theory of Justice. Oxford. Rawls, J. (1971): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/M. Rawls, J. (1993): Political Liberalism. New York. Rawls, J. (1998): Politischer Liberalismus. Frankfurt/M. Ricoeur, P. (1990): Soi-même comme un autre. Paris. Rorty, R. (1989): Contingency, irony, and solidarity. Cambridge. Sartre, J.-P. (1983): Cahiers pour une morale. Paris. Scheler, M. (1954): Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus. Vierte durchges. Aufl. Bern. Searle, J.R. (1969): Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language. Cambridge. Singer, P. (1993). Practical Ethics. Second Edition. Cambridge. Taylor, Ch. (1988): Philosophy and the Human Sciences. Philosophical Papers 2. Cambridge. Taylor, Ch. (1992): The Ethics of Authenticity. Cambridge Mass., London. Taylor, P.W. (1986): Respect for Nature. A Theory of Environmental Ethics. Princeton. Tugendhat, E. (1979): Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen. Frankfurt/M. Tugendhat, E. (1984): Probleme der Ethik. Stuttgart. Tugendhat, E. (1993): Vorlesungen über Ethik. Frankfurt/M.
Kapitel 12. Theologische Ethik im 20. Jahrhundert Die Voraussetzungen für die Theologie im 20. Jahrhundert - vor allem für die protestantische - sollen durch folgende Stichworte angedeutet werden: Als Folge von Kants Kritik der traditionellen metaphysischen Theologie wird das Gottesverhältnis an die Ethik (die praktische Vernunft) geknüpft. Aus Anlass der beiden Luther-Jubiläen 1883 und 1917 setzt ein erneutes Studium der Schriften Luthers ein. Der Erste Weltkrieg wurde von Vielen als Bestätigung von Nietzsches Diagnose des Zustandes der europäischen Kultur erlebt: Die Grausamkeit des Krieges erschütterte den Glauben an die Leistungsfähigkeit der Kultur und an den Fortschritt. Die Ereignisse nach dem Ersten Weltkrieg - die Gründung der sozialistischen Sowjetunion, das Auftauchen des Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg - haben natürlich ebenfalls die Theologie entscheidend geprägt. Die einflussreichste theologische Reaktion auf den geistigen Zusammenbruch im Ersten Weltkrieg pflegt man „dialektische Theologie" zu nennen. Mit dialektisch ist der Widerspruch gemeint zwischen Gott und allem Menschlichen im Sinne dessen, was der Mensch selbst (als „natürlicher" Mensch) leisten kann. Gott ist „das ganz Andere", dessen Offenbarung nicht in der Verlängerung des Menschlichen liegt, sondern uns „senkrecht von oben" trifft. Natürlich ist es hier nicht möglich, eine erschöpfende Ubersicht über die protestantische theologische Ethik im 20. Jahrhundert zu geben. Doch sollen wichtige Positionen durch einige Beispiele vorgestellt werden.
Ethik der Schöpfungsordnungen (Althaus)
12.1 Ethik der Schöpfiingsordnungen
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(Altbaus)
Bei dem deutschen Theologen Paul Althaus (1888-1966) finden wir den Versuch einer modernen Ausformung lutherischer Ethik. Ich gebe kurz die Hauptzüge seiner Leitsätze zur Ethik (1929) wieder. Dabei konzentriere ich mich besonders auf die Bedeutung des Gedankens von der Schöpfungsordnung in seiner Ethik. Es zeigte sich nämlich, dass dieser Gedanke fatale Konsequenzen hatte. Althaus' Ethik ist nach dem Schema Gesetz — Evangelium aufgebaut. Sein Ausgangspunkt ist eine allgemeine ethische Grunderfahrung: die Erfahrung des Vertrauens. Vertrauen zeigt man laut Althaus in der Gewissheit darüber, dass der, dem man Vertrauen erweist, der unbedingten Forderung vonseiten einer unendlichen Macht unterliegt. Ebenfalls zeigt man nur Vertrauen, wenn man selbst dieser absoluten Forderung unterliegt. Althaus meint also, dass alle Menschen die Forderung nach Nächstenliebe kennen — von ihr ist j a hier die Rede —, und dass das allgemeine ethische Bewusstsein ein Gottesverhältnis enthält. Doch das allgemeine ethische Bewusstsein endet in einer Krise: Das Gute, das wir tun können, ist nie gut genug. Das Evangelium von Jesus Christus enthüllt diesen Sachverhalt eindeutig. Gleichzeitig aber überwindet es als Gottes Wort von der Vergebung die Krise und begründet eine neue Ethik. Vom christlichen Glauben gesehen ist das Grundlegende in der Ethik nicht eine Forderung, ein Imperativ, sondern die Erfahrung von Gottes verzeihender Liebe. Auf lutherische Weise behauptet Althaus, dass die Ethik der Liebe ein grundsätzliches Ja zum Leben und zur Wirklichkeit beinhalte. In der wirklichen Welt treffen wir konkret auf ethische Forderungen in Form spezieller Verpflichtungen, die aus den verschiedenen Beziehungen resultieren, in denen wir stehen. Es kann sich um direkte persönliche Verhältnisse wie zwischen mir und dir handeln. Sie können sich aber auch innerhalb der historisch gegebenen Ordnungen wie Familie, Volk und Staat entfalten. Diese Ordnungen sind ein Ausdruck für das Geschaffensein der Welt, und zu ihnen gehört u.a. das Volk. Ein Volk ist Althaus zufolge die „Lebenseinheit", die abgesehen von Familien-, Verwandtschaftsund Stammesgemeinschaften zwischen Menschen bestehen kann. Ein Volk besteht aus Menschen, die die gleiche „seelische Art" haben.
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Theologische Ethik im 20. Jahrhundert
Durch die seelische Verwandtschaft ist ein besonderes „Volkstum" definiert, und dieses liegt normalerweise in einer „Blutseinheit" begründet. Das Christentum bestätigt die Aufteilung der Menschheit in Völker und betrachtet die Eigenart jedes einzelnen „Volkstums" als im göttlichen Schöpfungswillen begründet. Das Christentum ermutigt deshalb das Volk, seiner „Volksart" und „Volksgemeinschaft" treu zu sein. Diese Betonung der Bedeutung des einzelnen Volkes schließt jedoch nicht aus, dass ein Volk auch für die Einheit des Menschengeschlechtes kämpfen soll. Die Überlegungen über den Begriff des Volkes veranlassen Althaus zu folgender Betrachtung über das Verhältnis zu den Juden: Zu den schwersten Volkstumsfragen gehört für uns Deutsche die jüdische Frage. (Althaus 1929,54).
Es ist nach Althaus nicht zu vertuschen, dass es eine „Fremdheit jüdischer und deutscher Volksart" gibt. Andererseits weist er „Rassenantisemitismus" zurück. Dem Staat teilt Althaus eine doppelte Funktion zu. Teils ist er Rahmen für die Macht, die das Recht handhaben muss, z.B. in Form von Strafe. Teils ist der Staat die äußere Form, unter der ein Volk den Ruf zur Entfaltung des eigenen Lebens annimmt und erfiillt. Der gemeinsame Wille, der den Nationalstaat kennzeichnet, ist in der Gewissheit um Gott verwurzelt. Er ist die Voraussetzung des „Willens zur Macht" (a.a.O., 61) des Nationalstaates. Dieser Wille zur Macht kann im „rechten Führertum" zum Ausdruck kommen, dessen Voraussetzung wiederum die Gewissheit ist, auf Gottes Gnaden zu bauen. Es wird von Althaus ausdrücklich hervorgehoben, dass das Christentum keine besondere Verfassungsform bevorzugt, z.B. die Demokratie. Eine solche Auffassung der lutherischen Lehre von den Schöpfungsordnungen ist zutiefst problematisch in einer Situation, in der die politische Macht von einem diktatorischen Regime ausgeübt wird, und in der die regierende Partei eine Ideologie vertritt, die die rassenmäßige Überlegenheit des deutschen Volkes gegenüber den Juden behauptet. Althaus' Äußerungen können nicht als nationalsozialistisch bezeichnet werden, jedoch muss nicht viel verändert werden, bevor der Gedanke der Schöpfungsordnungen zur direkten Verteidigung des Nationalsozialismus führt.
Ethik der Schöpfungsordnungen (Althaus)
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Das zeigt sich in Äußerungen der so genannten „Deutschen Christen" (DC), die die Kirche in Übereinstimmung mit der Ideologie der Nationalsozialisten bringen wollte. Sie behaupteten, dass Gott das deutsche Volk mit einem „arteigenen" Gesetz geschaffen hat, das im Führer Adolf Hitler und dem von ihm geformten nationalsozialistischen Staat zum Ausdruck gekommen ist. (Äußerung der DC in Thüringen 1933, zitiert Barmen S. 34). Das Christentum soll von der „orientalischen Entstellung" gereinigt werden, „artsmäßig" werden und auf Jesus als Heldenfigur bauen, die nicht die „verfallene Sklavenseele", sondern den „stolzen Menschen" verficht (a.a.O., 35). Schon 1932 hieß es in den Richtlinien der DC: W i r sehen in Rasse, Volkstum und Nation uns von Gott geschenkte u n d anvertraute Lebensordnungen... W i r wissen etwas von der christlichen Pflicht u n d Liebe den Hilflosen gegenüber, wir fordern aber auch Schutz des Volkes vor dem Untüchtigen und Minderwertigen. (Ebd.)
Die so genannte Barmen-Erklärungvon 1934 ist eine Auseinandersetzung mit dieser Christentums- und KirchenaufFassung. Ihr Ausgangspunkt ist das evangelische Grundprinzip: „Die Kirche kann neben Gottes Wort keine anderen Begebenheiten oder Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen". (A.a.O., 34). 1
1
Es muss erwähnt werden, dass Althaus von der Barmen-Erklärung Abstand nahm, indem er den sog. „Ansbacher Ratschlag" mit unterschrieb, der 1934 in einer kirchlichen Zeitschrift veröffentlicht wurde. Darin heißt es u.a., dass das Gesetz als Wille Gottes „jeden an den Stand bindet, in welchem er von Gott berufen wurde, und verpflichtet uns an die natürlichen Ordnungen, denen wir unterworfen sind, wie Familie, Volk, Rasse (d.h. Blutverbindung)". Von der Obrigkeit heißt es: „Als Christen ehren wir mit Dank jede Ordnung, also auch jede Obrigkeit, sei sie entartet, als ein Werkzeug der göttlichen Entfaltung...". Die Erklärung enthält eine ausdrückliche Stütze des Nationalsozialismus: „Wir danken als gläubige Christen Gott dem Herrn dafür, daß er unserem Volk in seiner Not den Führer als „frommen und treuen Oberherrscher" gegeben hat, und dafür, daß er mit der nationalsozialistischen Staatsordnung ein „gutes Regiment", ein Regiment mit „Zucht und Ehre" führen will. (Zitiert in Schmidt 1935,103). Der Sprachgebrauch zeigt klar, dass die Verfasser glauben, ihre Stellungnahme mit Luthers Zwei-Reiche-Lehre und seiner Lehre von den Schöpfungsordnungen bzw. der lex naturalis begründen zu können.
262
Theologische Ethik im 20. Jahrhundert
W i r werden nun kurz auf eine der entscheidenden theologischen Positionen hinter dieser Erklärung eingehen.
12.2 Dialektisch-theologische
Offenbarungsethik (Barth)
In der dialektischen Theologie als solcher liegt, dass sie Abstand nehmen musste von Begriffen wie „natürliche Theologie" und „natürliches Gesetz". Dieses Abstandnehmen wurde selbstverständlich verstärkt, als man sah, wozu die Schöpfungsordnungstheologie im „Dritten Reich" geführt hat. 2 2
Ein Theologe, der nicht zur dialektischen Theologie gerechnet werden kann, aber auf Grund seiner Bedeutung für die Ethik genannt werden muss, ist Albert Schweitzer (1875-1965) (Schw.). Er machte sich als Theologe (Neutestamentler), Philosoph, Arzt, Musiker und Musikforscher geltend. Schw. berichtet selbst, dass er in seiner Jugend stark erfüllt war von Nietzsches Ethik-Kritik und dass er den Ersten Weltkrieg als Ausdruck der tiefen Krise der europäischen Kultur erlebte. Er setzte es sich zur Aufgabe, eine Zurückweisung von Nietzsche zu finden, und am Anfang seiner Zeit als Arzt in Lambarene in Afrika glaubte er, sie in Form des Gedankens von der Ehrfurcht vor dem Lehen gefunden zu haben. Diesen Gedanken formte er in seinem Werk „Kultur und Ethik", das im Jahre 1923 herauskam (teilweise gedruckt in Schweitzer 1988). Schw. kann sich bis zu einem gewissen Grade Nietzsches Gedanken vom Willen zur Macht anschließen. Er sagt, die Wissenschaft beweise, dass alles, was existiert, Kraft und „Wille zum Leben" sei (Schweitzer 1988,49). Das gilt auch ftir den Menschen. Aber der Mensch ist ein denkendes Wesen, dem sein eigenes Dasein bewusst werden kann. Und als denkendes Wesen ist sich der Mensch bewusst: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will" (a.a.O., 21). Es gibt aber bei den Menschen nicht nur die Erkenntnis, dass es anderes Leben als ihr eigenes gibt, mit dem Willen zu leben. Beim Gewinnen dieser Erkenntnis erlebt der Mensch vielmehr die Forderung danach, jedem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht entgegenzubringen wie seinem eigenen Lebenswillen: Ethik ist Ehrfurcht vor dem Willem zum Leben in mir und außer mir (a.a.O., 39). Die Forderung nach Ehrfurcht spiegelt den Gegensatz zwischen Gut und Böse wider: das Gute ist, das Leben aufrechtzuerhalten und zu fördern und es zu höheren Stadien zu entwickeln - das Böse ist, Leben zu zerstören, zu schädigen und zu unterdrücken.
Dialektisch-theologische Offenbarungsethik (Barth)
263
Karl Barth (1886-1968) zeichnet sich als dialektischer Theologe durch die Einbeziehung sozialer und politischer Fragen in seine theologischen Überlegungen aus. Seine reife Auffassung des Verhältnisses zwischen christlichem Glauben und Ethik findet sich im Hauptwerk
Die kirchliche Dogmatik. Barth steht in der reformierten, calvinistischen Tradition. Bei ihm zeigt sich deutlich, dass es ein Hauptanliegen der dialektischen Theologie ist, die reformatorische Auffassung des Christentums in ihrer Reinheit geltend zu machen. Um zu verstehen, was das bedeutet, können wir den Gegensatz zwischen dem Katholizismus und den Reformatoren etwas vereinfacht darstellen. Ein grundlegendes Motiv des katholischen Christentums ist, wie wir bei Thomas von Aquin sahen, dass der Mensch auf dem Weg zu Gott ist; Gott und Mensch begegnen sich, wenn der Mensch an sein Ziel gelangt. Bei Luther ist es umgekehrt: Der Mensch ist durch die Sünde vom Zusammensein mit Gott ausgeschlossen, und beide können sich nur begegnen, weil Gott den Menschen in der Gestalt von Christus entgegenkommt. Doch die lutherische Auffassung fuhrt eine Schwierigkeit in Bezug auf den Schöpfungsgedanken mit sich. Lutherisch verstanden gibt es anscheinend ein zweifaches Handeln Gottes am Menschen: Zunächst erschafft er ihn, um ihn dann durch ein erneutes Handeln in Christus zu erlösen. Damit steht der erschaffene Mensch in einer eigenartigen Zwischenposition: Auf der einen Seite hat er als Geschöpf ein Verhältnis zu Gott - auf der anderen Seite weiß er erst wirklich von Gott durch die Offenbarung Christi. Schw. meint, daß seine Ehrfurchts-Ethik Nietzsches entscheidenden Einwand gegen die christliche Moral berücksichtigt: dass sie lebensverleugnend sei. Die Ehrfurcht gilt ja nach Schw. auch dem eigenen Leben, weshalb die Ethik der Ehrfurcht eine Vereinigung von Selbstbestätigung und Hingabe an andere sei. Für Schw. ist das Leben und nicht nur die Menschen Gegenstand der Ehrfurcht; er möchte den Anthropozentrismus sprengen, der die europäische Ethik gekennzeichnet hat. Die Ethik der Ehrfurcht umfasst eine „Liebe zu allem Leben" (a.a.O., 98). Schw.s Ethik kann aus dem Grunde theologisch genannt werden, dass er „Ehrfurcht vor dem Leben" als den wesentlichen Inhalt des Gebotes der Nächstenliebe auffasst.
264
Theologische Ethik im 2 0 . Jahrhundert
Barth versucht dieses Problem zu lösen, indem er sagt, dass das Verhältnis zwischen Gott und Mensch sich durch etwas etabliert, das grundlegender als Schöpfung und Offenbarung ist: durch den Bund. Mit Bund meint Barth nicht das Ereignis, von dem wir im AT (1 Mose 9) lesen. Der Bund ist vielmehr Gottes Entschluss, überhaupt mit Menschen Gemeinschaft zu haben. Dieser grundlegende Entschluss ist der Entschluss Gottes für Jesus Christus.3 Die Christus betreffenden Ereignisse, von denen wir im NT hören, sind eine Offenbarung des ursprünglichen Bundes, seine Kundgebung in der Zeit. Der Gedanke vom Bund überwindet somit die Trennung zwischen Schöpfung und Erlösung bzw. Offenbarung. Ähnliches gilt von dem Gegensatz von Gesetz und Evangelium. Grundlegend ist der Bund Evangelium: Es ist Ausdruck von Gottes Gnade, dass er sich für den Menschen entschließt. Aber der Bund ist gleichzeitig Gesetz, denn durch ihn wird der Mensch auserwählt zum Gehorsam gegenüber Gott. Jeder Mensch ist dem Bund untergeordnet, denn Christus, mit dem er ursprünglich geschlossen wird, vertritt alle Menschen. Barths Theologie ist Offenbarungstheologie in dem Sinne, dass Menschen unabhängig von der Offenbarung von Gott nichts wissen und aussagen können. Wir wissen nur von Gott, weil er durch das Schließen des Bundes beschlossen hat, mit uns zu tun zu haben. Der Gedanke vom Bund geht notwendigerweise in die Lehre von Gott selbst ein. Dasselbe gilt von der Ethik, indem der Bund Barth zufolge auch die Grundlage für die christliche Ethik sein muss. Es finden sich deshalb die grundsätzlichen Bestimmungen über theologische Ethik in dem Band der KD, der die Lehre von Gott enthält. Die Ethik betrifft nach Barth die Tatsache, dass Menschen handelnde Wesen sind und dass unsere Handlungen wiederkehrenden Mustern, Regeln und Gesetzen folgen. Die Frage der Ethik handelt davon, wieweit diese Regeln richtig oder gültig genannt werden können. Diese Frage gehört zum Menschsein selbst. Als Personen können wir es nicht unterlassen zu handeln und Beschlüsse zu fassen. Wovon
3
Barth schließt sich also dem Gedanken von Christi Präexistenz an, den wir im NT finden, besonders ausgeprägt bei Johannes.
Dialektisch-theologische Offenbarungsethik (Barth)
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diese Beschlüsse letzten Endes handeln, ist „die Lebensfrage": Sein oder Nichtsein. (Barth 1942, 572). Der Versuch der Menschen, selbst eine Grundlage für die Ethik zu finden, kann theologisch gesehen nur eine Auswirkung der Sünde sein. Die Antwort auf die ethische Grundfrage kann ausschließlich an einem Ort gefunden werden: im Gehorsam Christi gegenüber dem Gesetz. Aber dieser Gehorsam beruht darauf, dass Gott sich Christus auserwählt hat. Deswegen ist das fundamentalste Gute Gottes Handlung an den Menschen. Menschen hingegen können nur in der Weise gut handeln, dass sie Gottes Handlungen annehmen. Dieser Grundgedanke Barths wird dort etwas konkreter, wo er auf einige der zentralen ethischen Begriffe eingeht. Dass der Mensch eine Person und kein Ding oder eine Sache ist, beruht darauf, dass Gott ihn zum Partner des Bundes gemacht hat (a.a.O., 565). Der Mensch ist verantwortlich, weil Gott im Bund seinen Gehorsam verlangt (a.a.O., 567). Menschen sind zum gerechten Handeln fähig, weil das ChristusEreignis sowohl bedeutet, dass Gott uns gegenüber gehandelt hat, als auch, dass er als Mensch (Christus) in unserer Sache gehandelt hat. Barths Auffassung von der Offenbarung schließt aus, dass die christliche Ethik partikularistisch ist. Die Offenbarung in Christus ist die Kundgebung des Bundes, der für alle Menschen gilt, weshalb die christliche Ethik universell ist. Das Verhältnis der Theologie zu nicht-christlichen Formen von Ethik ist deshalb vom Bewusstsein geprägt, die Wahrheit innezuhaben. Nach dieser Skizzierung von Barths theologischer Begründung der Ethik erwähne ich hier die kleine Schrift Christengemeinde und Bürgergemeindevon 1946, die als Kommentar der lutherischen Zwei-ReicheLehre im Lichte der Erfahrungen unter der Naziherrschaft verstanden werden kann. Unter „Christengemeinde" versteht Barth die Christen, die an gegebener Stelle leben und so die Kirche ausmachen. Demgegenüber steht die „Bürgergemeinde" als die weltliche Gesellschaft. Die Grund-
4
Eine auf der Grundlage der Barthschen Offenbarungstheologie aufgebaute theologische Ethik hat der dänische Theologe N.H. See vorgelegt. Vgl. Soe 1949.
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Theologische Ethik im 20. Jahrhundert
läge für das Wissen der Christen von Gut und Böse ist die Offenbarung in Christus, so wie Barth sie in KD dargestellt hat. Es gibt deshalb eine besondere Ethik, die innerhalb der Christengemeinde gilt. Diese Ethik umfasst nun aber eine Pflicht, sich im weltlich-politischen Leben zu engagieren. Das bloße Vorhandensein einer Gesellschaftsordnung ist nämlich Ausdruck einer göttlichen Anordnung. Diese Auffassung von der politischen Wirklichkeit darf nicht im Sinne der traditionellen lutherischen Lehre von den Schöpfungsordnungen verstanden werden. Es gibt nämlich nach Barth keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Gemeinde und Gesellschaft; beide sind ein Teil der Errichtung des Gottesreiches. Die Gesellschaft hat deshalb keine selbstständige ethische Grundlage in Form eines natürlichen Gesetzes. Im Grunde obliegt es den Christen, der Gesellschaft ihre ethische Grundlage zu geben. Sie sollen nämlich bei ihrer Einrichtung mitwirken, und zwar auf der Grundlage der Ethik, die in der Christusgemeinde gilt. Wenn Paulus von der Unterordnung der Christen unter die Obrigkeit spricht (Rom 13), soll das Barth zufolge nicht als eine Aufforderung zur Untertänigkeit verstanden werden, so wie Luther scheinbar betonte. Es ist im Gegenteil ein Einschärfen der christlichen Mitverantwortung für das, was im politischen Bereich geschieht. Nun gibt es aber Unterschiede zwischen Gemeinde und Gesellschaft. Deshalb können die Christen nicht ohne weiteres ihre Ethik in den politischen Bereich übertragen. Sie können und sollen jedoch Parallelen und Analogien zu ihrer „eigenen" Ethik in der weltlichen Gesellschaft finden. So ist die Ethik der Christusgemeinde darin begründet, dass Gott Mensch wurde; ein Christ wird deshalb den Menschen im politischen Raum gegen kollektive Größen wie Staat, Kapital, Nation usw. verteidigen. Ebenso entspringt die Christusgemeinde dem Glauben an göttliche Rechtfertigung. Das bedeutet, dass Gott durch Christus sein Recht auf die Menschen gefestigt und gleichzeitig das Recht des Menschen gegen Sünde und Tod verteidigt hat. Auf dieser Grundlage muss der Christ in der weltlichen Gesellschaft Gerechtigkeit suchen. Die ethische Grundlage der Gesellschaft ist also keine Form von Naturrecht. Die Grundlage besteht vielmehr darin, dass die Gesellschaft an dem Gottesreich, das durch die Christusgemeinde repräsen-
Dialektisch-theologische Ordnungsethik (Brunner)
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tiert wird, teilhaben kann. Barth ist sich darüber im Klaren, dass die Ideen, die er als entscheidend für das Politische hervorhebt — das Recht der Menschen, Gerechtigkeit, Mündigkeit usw. — an das Naturrechtsdenken früherer Zeiten erinnern, z.B. dasjenige Rousseaus. Dazu sagt er: W i r brauchen uns der Nachbarschaft nicht zu schämen. ... Sollten wir uns mit naturrechtlich begründeten Thesen im Ergebnis hier wirklich getroffen haben, so würde darin nur eine Bestätigung dessen zu erblicken sein, dass die Polis sich auch da im Reiche Jesu Christi befindet, wo ihre Träger diesen Sachverhalt nicht kennen oder wahrhaben wollen ... (Barth 1970, 75).
Abschließend soll erwähnt sein, dass es nach Barth keine besondere christliche Partei geben kann. Die politischen Beschlüsse der „Christengemeinde" sollen nicht christlich begründet werden, sondern sollen dadurch überzeugen, dass sie politisch richtig sind. Im politischen Raum können Christen nur anonym auftreten. Trotzdem gilt, dass der rechte Staat sein Urbild und Vorbild in der rechten Kirche haben muss.
12.3 Dialektisch-theologische
Ordnungsethik (Brunner)
Einen Versuch, den Gedanken von den Schöpfungsordnungen in die dialektische Theologie einzuordnen, finden wir bei Emil Brunner (1889-1966), einem der bedeutendsten protestantischen Ethiker des 20. Jahrhunderts. Er ist wie Barth Schweizer und gehört zur reformierten Tradition. Er versucht jedoch, eine theologische Ethik zu entwikkeln, die außer auf Calvin und Zwingli auch auf Luthers reformatorischer Theologie aufbaut, einschließlich des Gedankens von den Schöpfungsordnungen. Im Folgenden werden die Hauptgedanken seines Werkes Das Gebot und die Ordnungen von 1932 wiedergegeben. Brunner geht wie Barth davon aus, dass es eine allgemeine, natürliche5 Ethik als Frage nach der rechten Lebensweise und in Form von 5
Im theologischen Zusammenhang - und besonders im dialektisch-theologischen — wird der Ausdruck „natürlich" zur Charakterisierung des nicht vom christlichen Glauben bestimmten Menschenlebens verwendet.
268
Theologische Ethik im 20. Jahrhundert
Formulierungen von Normen gibt. Es ist die Aufgabe der philosophischen Ethik, die Begründungen für diese Normen zu finden. Es zeigt sich jedoch, dass die natürliche Ethik von Skeptizismus und Relativismus geprägt ist. Das wird auf der philosophischen Ebene daran deutlich, dass sich verschiedene und einander widerstreitende Theorien gegenüberstehen. Der grundlegende Gegensatz besteht nach Brunner zwischen dem, was er eine „naturalistische Klugheitslehre" auf der einen Seite und eine idealistische Ethik auf der anderen Seite nennt. Im Grunde genommen ist hier die Rede vom Gegensatz zwischen Utilitarismus und Kantianismus. Diese Gegensätze können nicht überwunden werden, und das heißt, dass die natürliche Ethik und ihre Entsprechung in der philosophischen Reflexion ein trostloses Bild abgeben: So ist also das Bild, das die natürliche Ethik darbietet, das eines Trümmerfeldes. Die ursprüngliche Gotteswahrheit ist in einzelne Fragmente auseinandergerissen, und jedes dieser Fragmente ist durch seine Isolierung vom Ganzen selbst „verkrümmt". (Brunner 1932,53).
Es ist bemerkenswert, dass Brunners Diagnose der ethischen Diskussion seiner Zeit im Großen und Ganzen die Gleiche ist wie jene, die Maclntyre 50 Jahre später formuliert (s.o. S. 239ff.). Doch im Gegensatz zu Maclntyre meint Brunner, dass ein Zusammenhang unter den Prämissen der natürlichen Ethik nicht wiederhergestellt werden kann. Wenn er von der ursprünglichen „Gotteswahrheit" spricht, ist das ein Ausdruck dafür, dass seine Diagnose der Situation der Ethik theologisch ist. Die Krise der Ethik ist theologisch betrachtet eine Folge der menschlichen Sündhaftigkeit. Die Versuche, die Ethik rational zu begründen, die philosophisch im Gedanken von der Autonomie zum Ausdruck kommen, sind eine Folge der Selbstgerechtigkeit. Brunners Diagnose ist eine Kritik, und die Grundlage dieser Kritik ist die paulinische Auffassung des Gegensatzes zwischen Rechtfertigung durch Glauben und Gesetzesgerechtigkeit. (Vgl. oben S. 68f.). Gesetzesgerechtigkeit ist nach Brunner jede Form von Glauben daran, dass der Mensch sich das Gute selbst zumuten kann. Das Ergebnis hiervon sind Unfreiheit und eine Existenz, in der ein Mensch niemals dem anderen ernsthaft begegnen kann. Das „Gesetz" legt sich dazwischen in der Gestalt einer Idee, eines Programms, so dass der
Dialektisch-theologische Ordnungsethik (Brunner)
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andere nicht als einzigartiges Individuum respektiert, sondern als Fall einer Gesetzmäßigkeit eingeordnet wird. (A.a.O., 60). Das Christentum ist für Brunner von Anfang bis Ende eine Befreiung dieser Art von Gesetz-Existenz. Aber das Christentum ist nicht eine Idee oder eine Lehre. Seine Grundlage ist ein ganz konkretes Ereignis, nämlich die Handlung Gottes im Kreuz Christi. Aus dieser Handlung heraus definiert sich Liebe als Inbegriff des Guten. Im Glauben an diese Handlung ist das Prinzip der christlichen Ethik begründet. Der Ausgangspunkt für eine christliche Ethik kann keine abstrakt formulierte Grundnorm oder ähnliches sein. Brunner definiert die Ethik als theologische Disziplin folgendermaßen: Christliche Ethik ist die Wissenschaft von dem durch das göttliche Handeln bestimmten menschlichen Handeln. (A.a.O., 73).
Dass die christliche Ethik kein Prinzip im üblichen Sinne beinhaltet, ist für Brunner ein entscheidender Punkt. Dieser Tatbestand liegt nämlich darin begründet, dass Gottes Handeln, als Grundlage der Ethik, sich nicht durch Menschen festlegen lässt. Was Gottes Wille ist, weiß nur derjenige, der sein Wort in der konkreten Situation hört. Die Liebe, die die Frucht des Glaubens ist, ist „okkasionell", d.h. an die Gelegenheit oder Situation gebunden. Sie kann sich nicht in einer Vorschrift ausdrücken, nach der man immer wieder handeln kann. Geschieht das, so hat man die Liebe zum Gesetz gemacht. Durch den Begriff „Gebot" drückt Brunner eben dies aus, dass Gottes Wille nicht festgelegt werden kann. Sein Gegensatz ist „Gesetz", welches eben festgelegte Handlungsanweisungen enthält. Wenn man sich mit Luther beschäftigt hat, stellt sich die Frage, warum Brunner neben Gesetz und Evangelium mit dieser dritten Größe „Gebot" operiert (siehe oben S. 101f.). Man kann antworten, dass das Gebot bei Brunner der Aspekt des Evangeliums ist, der Nächstenliebe hervorruft und damit auch Forderungen stellt. Die Zusammenfassung des Gebotes ist das doppelte Liebesgebot, das darin begründet ist, dass Gott den Menschen unbedingte Liebe zeigt. Davon handelt die Botschaft von Jesus Christus. In Brunners Darstellung des Liebesgedankens finden wir die charakteristische Begründungsform der biblischen Ethik wieder:
270
Theologische Ethik im 20. Jahrhundert Darum weil wir geliebt sind, können und sollen wir lieben. (A.a.O., 262).
Durch die christliche Botschaft wird dem Einzelnen das Leben geschenkt, und darin liegt wie gesagt eine Forderung. Aber diese Forderung kann nur von jedem Einzelnen im jeweiligen Augenblick gehört werden: Gottes Gebot kann nur in der Aktualität des Hörens vernommen werden. ... Nicht du, er selbst allein kann dir sagen, was hier und jetzt lieben heißt. (A.a.O., 102).
Ein wichtiger Punkt für Brunner ist nun weiter, dass Gott in der Offenbarung und deren Gebot sowohl als Schöpfer als auch als Erlöser spricht. Wenn jemand Gottes Wort im Augenblick hört und sich dafür entscheidet, hat das zur Folge, dass er sowohl in einen gegebenen, geschaffenen Zusammenhang gesetzt wird, als auch, dass er auf das Gottesreich hin handelt, für das Gott die Welt erschaffen hat. Die ethische Dimension der Schöpfung besteht darin, dass alles, was existiert, unsere Ehrfurcht weckt, nicht aus sich selbst heraus, sondern weil es Gottes Geschöpf ist. Der Wille Gottes tritt uns von dem Seienden her entgegen. Es ist etwas anderes als wir selbst. Und das Seiende ist nicht nur ein Stoff, den es zu formen gilt. Eine solche Auffassung ist eine „unverschämte, anmaßende Haltung" (a.a.O., 109). Das Seiende oder Gegebene hat ja schon eine Form, eine Ordnung. Und eben in dieser Form trifft der Wille Gottes auf uns: Wir sollen uns von der gegebenen Form begrenzen lassen; wir sollen die Forderung erfüllen, die von der Form als einem mit uns bestehenden Gegenüber ausgeht. Die Forderung besteht darin, dass wir uns den gegebenen Ordnungen unterordnen sollen. Die Ordnungen, in die wir hineingeboren werden — natürliche, kulturelle, rechtliche - repräsentieren das, was die Reformatoren den politischen Gebrauch des Gesetzes nannten. Das bedeutet unter anderem, dass wir uns ihnen auf Grund eines gewissen Zwanges unterordnen. Wenn wir die Wirklichkeit in der Perspektive des Geschaffenseins betrachten, können wir uns anscheinend zufriedengeben mit der gesetzlichen Einstellung, dem Handeln nach äußeren Regeln. Wir werden später zu Brunners näherer Ausformung der Lehre von den Schöpfungsordnungen zurückkehren.
Dialektisch-theologische Ordnungsethik (Brunner)
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Die Schöpfungsethik hängt jedoch untrennbar mit einer ErlösungsEthik zusammen. Gott hat die Welt nicht nur erschaffen — er hat sie im Hinblick auf ein Ziel, nämlich das Gottesreich erschaffen. Als Erlöster hat ein Christ die Aufgabe, am Aufbau des Gottesreiches mitzuarbeiten. Das hat zwei Konsequenzen für die Ethik. Erstens: Nur der Erlöste kann Gottes Ordnung und Gebote im Zusammenhang des Geschaffenen finden, denn nur der Erlöste kann Gottes Liebe in der Schöpfung wiedererkennen. Zweitens: Da die Erlösung über die Schöpfung hinausweist, hat der Christ ein distanziert-kritisches Verhältnis zu den vorliegenden Einrichtungen. Ein Christ handelt innerhalb der Ordnungen auf andere Weise als durch die gesetzliche Einstellung. Aber der Christ ist nicht ohne jedes Gesetz. Brunner hält an der reformierten Lehre vom 3. Gebrauch des Gesetzes fest. Was er damit meint, kann man sehen, wenn man eine naheliegende Frage stellt: Bedeutet die Okkasionalität der Liebe, dass die Vorschriften der biblischen Schriften ohne Bedeutung sind? Dazu sagt Brunner, dass die biblischen Vorschriften in jedem Fall missverstanden werden, wenn man sie als anzuwendende Prinzipien versteht. Sie müssen als Konkretisierungen des eines Gebotes aufgefasst werden. Sie sind Beispiele dafür, was Nächstenliebe im konkreten Leben bedeuten kann. Man darf sie aber nicht als eine komplette Sammlung, eine Kasuistik auffassen, die alle Situationen des Lebens abdeckt. So ist das Gebot des Neuen Testamentes „unsystematisch verstreut" (a.a.O., 120). Die Forderung der Nächstenliebe besteht, weil die Menschen voneinander abhängig sind. Konkret finden wir die Abhängigkeit in dem, was Brunner Ordnungen nennt. Diese Ordnungen bestehen nach Brunner aus drei Formen menschlicher Gemeinschaften: (1) Die Gemeinschaften, deren Grundlage in der rein biologischen Natur des Menschen liegt: das Verhältnis zwischen den Geschlechtern und zwischen Eltern und Kindern; Zusammenarbeit und Handel als Ausdruck des Bedürfnisses nach Ernährung und dem Anschaffen von Eigentum; die Volks- und Rechtsgemeinschaft als Ausdruck für die Notwendigkeit, Machtverhältnisse auszugleichen. (2) Die Gemeinschaften, die in dem begründet sind, was man traditionell die geistige Natur des Menschen nennt: die kulturelle Gemeinschaft.
272
Theologische Ethik im 20. Jahrhundert
(3) Die Glaubensgemeinschaft, also die Kirche. Vom christlichen Glauben aus haben diese Gemeinschaften den Charakter göttlicher Ordnungen. Sie sind vom Schöpfer gegeben, um menschliches Leben in der Gemeinschaft möglich zu machen und aufrechtzuerhalten. Sie enthalten die konkreten Anweisungen dafür, wie der Einzelne die Nächstenliebe verwirklichen soll. Wie schon gesagt: In diesen Gemeinschaften soll das Gebot Gottes gehört werden. Die konkrete Ausformung der Gemeinschaften geschieht ja nicht notwendigerweise in Übereinstimmung mit dem Liebesgebot. Sie ist im Gegenteil als Schöpfungsordnung immer auch von der Sünde geprägt. Deshalb gehört ein ethisches Ringen mit zum Leben in den Gemeinschaften. Das Gute ist nicht im Voraus gegeben - es muss in der konkreten Situation gefunden werden. Zum Gedanken von den Schöpfungsordnungen gehört der Gedanke vom Ruf. Brunner versteht ihn aus dem Motiv des Ausgewähltseins: Wenn der Einzelne persönlich Gottes Wort hört, versteht er sich als ausgewählt. Der Ruf gibt außerdem den Platz an, den man in den Gemeinschaften auf Grund seiner sozialen Rolle hat. Im Ruf begegnen wir konkret dem Nächsten. Brunner fasst die Ordnungen als begründet in der „geistig-körperlichen Natur" des Menschen auf. Trotzdem nimmt er vom Begriff lex naturalis Abstand. Nach seiner Auffassung ist dieser ein stoischer Gedanke, der in der christlichen Ethik ein Fremdkörper ist. Es gibt kein klar identifizierbares natürliches Gesetz. Es gibt vielmehr das Gesetz in seinem politischen und theologischen Gebrauch. Und es gibt das Gesetz als anleitenden Vorschlag dafür, wie die Nächstenliebe konkret werden kann (tertius usus). Die Ordnungen sind zwar natürlich, aber sie enthalten kein Gesetz. Es ist die Nächstenliebe, die praktiziert werden soll, und sie kann Gottes Gebot erst im konkreten Zusammenhang finden.
12.4 Dänische Schöpfungsethik
(Legstrup)
Bei meiner Darstellung von K. E. Logstrups Ethik im vorigen Kapitel habe ich den Kunstgriff unternommen, von den theologischen Aspekten abzusehen. Dafür gibt es zwei gute Gründe. Erstens wird Legstrup
Dänische Schöpfungsethik (Lagstrup)
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sowohl als Theologe als auch als Philosoph betrachtet, und so sah er sich auch selbst. Zweitens hat Logstrup theologische Gründe für die Ansicht, dass seine Ethik als philosophische Ethik auf eigenen Füßen zu stehen vermag. Aber man bekommt erst ein vollständiges Bild von Logstrups Ethik, wenn man sich fragt, auf welche Weise sie auch eine theologische Ethik ist. Die erste Antwort ist, dass Logstrup es zweifelsohne als seine Aufgabe gesehen hat, eine lutherische Ethik neu zu formulieren. Es wurde bereits erwähnt, dass gerade die lutherische Lehre von der weltlichen Obrigkeit, von den Schöpfungsordnungen generell und vom natürlichen Gesetz in den Zwischenkriegsjahren auf eine höchst problematische Weise formuliert wurde. Es ist im Zusammenhang mit einer lutherischen Ethik vermutlich immer nützlich, den Kontext einzubeziehen, innerhalb dessen der jeweilige Theologe sie formuliert hat. In diesem Zusammenhang ist es ohne Zweifel von Bedeutung, dass Logstrup während der deutschen Besetzung Dänemarks Abstand nahm von der Zusammenarbeit der Regierung mit der Besatzungsmacht und sich der Widerstandsbewegung anschloss. Die besondere Situation in Dänemark - und übrigens in ganz Skandinavien - erleichterte es offenbar, an der Zwei-Reiche-Lehre und dem Motiv der Schöpfungsordnung in der lutherischen Ethik festzuhalten. Jedenfalls geschieht das bei Logstrup. Aber wir müssen zunächst seinen theologischen Ausgangspunkt für die Ethik betrachten. Es ist die ethische Verkündigung des historischen Jesus.6 In dem Buch Die ethische Forderung hat sich Logstrup nach eigener Aussage die Aufgabe gestellt, eine „rein humane Darstellung der Haltung zum anderen Menschen" zu geben, die in der Verkündigung Jesu enthalten ist (Logstrup 1989, 1-6). Für Logstrup besteht ein entscheidender Unterschied zwischen der ethischen Verkündigung Jesu und der des Paulus. Über die Letztgenannte sagt er: Zwar wird von Nächstenliebe gesprochen, aber sie ist christologisch begründet, und Jesu eigene Art von ihr zu sprechen ist verlorengegangen. Dieses betrachte ich als Mangel an der Verkündigung des Paulus und des Johannes. (Logstrup 1 9 6 1 , 262. Meine Ubersetzung.).
6
Über den Begriff „der historische Jesus" siehe 3. Kapitel, S. 61f.
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Theologische Ethik im 20. Jahrhundert
Nach Logstrups Meinung gibt es bei Jesus selbst keinen Zusammenhang zwischen seiner ethischen Verkündigung und seiner Verkündigung des Gottesreiches (a.a.O., 254f., 275). Das Gebot der Nächstenliebe, das Jesus aufstellt, ist also eine „Forderung", die gegeben ist, bevor Jesus sie ausspricht. Sie ist durch die Schöpfung gegeben, und das heißt, dass die ethische Forderung lutherisch gesprochen das Gesetz ist. Man kann sagen, dass die Forderung bei Logstrup zusammen mit den Normen die gleiche Rolle spielt wie der 1. Gebrauch des Gesetzes (der politische, weltliche) bei Luther. Sowohl durch die Forderung als auch durch die Normen soll der Missbrauch des menschlichen Ausgeliefertseins, zu der die Selbstsucht verfuhrt, in Schach gehalten werden. Wenn es jedoch möglich ist, die Forderung „human" unabhängig von der christlichen Verkündigung zu begründen, dann muss sie den Charakter einer lex naturalis haben. Diese ist durch die grundlegenden Bedingungen fiir das Menschenleben, die allen gemeinsam sind, gegeben. Das Gleiche gilt fiir die menschlichen Gemeinschaften wie dem Verhältnis zwischen den Geschlechtern und zwischen Eltern und Kindern. Heißt das aber, dass diese Bedingungen den Charakter von Schöpfungsordnungen haben? Das sagt Logstrup nicht direkt. Der Schöpfungsgedanke knüpft an die allgemeinen Züge des Daseins an. So heißt es, dass die Tatsache, der die Forderung entspringt - also die gegenseitige Abhängigkeit — „schöpfungsmäßig gegeben" ist (Logstrup 1989, 48). Und die Lebensauffassung, die die Voraussetzung dafür ist, dass ein Mensch die Forderung einseitig hört, geht von der Annahme aus, dass das Leben mit seinen Entfaltungsmöglichkeiten „geschenkt" und „geschaffen" ist. Diesen Gedanken wendet Logstrup auch auf die souveränen Daseinsäußerungen an: Gerade ihre Souveränität und „innewohnende Güte" legen eine „religiöse Deutung" nahe, nämlich die Deutung des Lebens als etwas Empfangenes, Geschaffenes. Logstrup sagt über die Daseinsäußerungen, dass es ihre Aufgabe sei, „alles aufrechtzuerhalten". Das heißt, dass ihr Vollzug und die Prinzipien und Ideale, die aus ihnen hervorgehen, die Voraussetzung für das Leben in den Gemeinschaften und in der Gesellschaft sind. Im Lichte der religiösen Deutung sind die Daseinsäußerungen also eine Folge der Aufrechterhaltung des sozialen Lebens des Menschen durch den Schöpfer. Auf diese Weise ist das Motiv der Schöpfungsordnung in Logstrups Ethik erhalten.
Dänische Schöpfungsethik (Logstrup)
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Aber das Motiv ist an die Voraussetzungen für das soziale Leben geknüpft. Die konkreten Institutionen in der Gesellschaft - Ehe, Rechtsprechung, Staatsmacht - deutet Logstrup hingegen nicht als Schöpfungsordnungen. In diesem Punkt unterscheidet er sich sowohl von Althaus als auch von Brunner. Der Schöpfungsgedanke hängt weiter mit dem von mir so bezeichneten eudaimonistischen Motiv in Logstrups Ethik zusammen. Dass das Leben „glücken" kann, dass es Möglichkeiten fiir freudvolle Entfaltung enthält, dass die Menschen einander lieben, ist Ausdruck seiner „erschaffenen Güte". Logstrup betont, dass zwischen dem Menschenleben und dem Menschen klar unterschieden werden muss. Der Mensch hat, wie wir sahen, einen Hang zur Selbstsucht, und das ist theologisch betrachtet eine Auswirkung seiner Bosheit und Sündhaftigkeit. Für Logstrup ist die Sündhaftigkeit kein abstraktes Dogma, sondern eine nahezu empirische Tatsache. Wir haben ja tatsächlich eine Neigung zur Zerstörung des guten Lebens. Auch hier sehen wir das lutherische Ordnungsmotiv: Es gibt Züge des Lebens, die ihre Güte trotz der menschlichen Bosheit bewahren. Gerade die natürliche Neigung zu Geltungssucht und Zerstörung ist es, die uns zur Erkenntnis der Unerfüllbarkeit der Forderung zwingt. Hier begegnen wir Logstrups Formulierung von Luthers Lehre vom 2. (theologischen) Gebrauch des Gesetzes. Wir müssen es als unsere eigene Schuld betrachten, den Anspruch der Forderung nach selbstloser Wahrnehmung des Lebens unserer Nächsten nicht erfüllen zu können. Wir können nicht sagen, dass wir dazu keine Möglichkeit haben. Unser Leben ist ganz im Gegenteil voll von Möglichkeiten, durch die wir zum Gelingen des Lebens unseres Nächsten beitragen könnten. Die Forderung macht deutlich, dass wir in diesem Sinne schuldig sind, und das entspricht eben Luthers Beschreibung des 2. Gebrauchs des Gesetzes: Er besteht im Entschleiern der Sündhaftigkeit des Menschen. Zu diesem Gebrauch des Gesetzes gehört jedoch Luther zufolge auch, dass es uns „zu Christus treibt", uns also für das Evangelium hellhörig macht. Auch dieses lutherische Motiv findet sich bei Logstrup, indem er sagt, dass die Erkenntnis der Schuld die Frage nach der Vergebung aufwirft. Diese Frage fuhrt über das rein „humane" Verständnis von Jesu Verkündigung hinaus. Etwas anderes weist in die gleiche Richtung, nämlich der provozierende Zug bei Jesus, mit dem
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Theologische Ethik im 20. Jahrhundert
er sich erlaubt, eine unbedingte Forderung an andere Menschen zu stellen {„Ich sage euch ..."). Aber ein Mensch hat kein Recht dazu, unbedingte Selbstlosigkeit von einem anderen Menschen zu verlangen. Wenn wir eine solche Forderung überhaupt anerkennen können, geschieht das nicht, weil ein anderer sie stellt, sondern weil sie unserem Menschenleben entspringt. In dem Sinne ist die Forderung „anonym". Jesus aber durchbricht die Anonymität und bringt die Forderung im eigenen Namen vor. Dadurch stellt sich die Frage nach seiner Identität: Wer ist er? Ist er verrückt wie ein psychiatrischer Patient, der behauptet, Napoleon zu sein — oder hat er wirklich das Recht, die Forderung des Schöpfers an die Menschen zu richten? Christlicher Glaube ist fiir Legstrup die Antwort auf eine doppelte Frage: Gibt es Vergebung für die Schuld, die in der Zerstörung von Menschenleben besteht? Hat Jesus das Recht, die radikale Forderung auszusprechen? Die Antwort des Glaubens kann Lagstrup zufolge so umschrieben werden: Gott [macht] das W o r t Jesu zu seinem eigenem unvoraussehbaren Wort und Jesu Handlungen zu seinen eigenen unvoraussehbaren Handlungen ... (a.a.O., 236).
Der Glaube ist eine Deutung von Jesu Leben und Verkündigung, eine Deutung, die beinhaltet, dass es Gott selbst ist, der den Menschen begegnet: Und so gewiß Gott für den Glauben Jesu Vergebung zu seiner Vergebung macht, macht er Jesu Forderung zu seiner Forderung, was sie nur in dem unerhört direkten W o r t an den einzelnen ist. (A.a.O., 237).
Legstrup betont hier wie Brunner, dass das Verhältnis des Glaubens zu Gott durch Gottes konkrete Rede zum einzelnen Menschen entsteht. Der Glaube ist nicht eine Lehre, die wir uns aneignen und draußen in der Welt anwenden können. Er erneuert sich jedes Mal, wenn wir die Verkündigung des Menschen Jesus als Vergebung fiir uns selbst hören. Logstrup sagt auch, dass „dieses ungeheuer direkte Wort der Vergebung" die Voraussetzung dafür schafft, dass Nächstenliebe sich äußern kann: Die Sünde wird ja zerschlagen im Glauben an ihre Vergebung und in der Teilnahme am Schicksal des Nächsten, in der sich die Vergebung auswirkt,
Dänische Schöpfungsethik (Logstrup)
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wenn sie geglaubt und nicht nur zur Lebensanschauung gemacht wird. Wird das Evangelium entgegengenommen, so bricht das Reich Gottes durch, verborgen, momentan, fragmentarisch. (Logstrup 1968, 70).
Logstrup hält also auch an dem lutherischen Gedanken fest, dass die Taten der Nächstenliebe Früchte des christlichen Glaubens sind. Bei Luther schlägt sich die Nächstenliebe in Handlungen des Christen nieder, die sich von denen des Nichtchristen unterscheiden. Logstrup dagegen stellt die vieldiskutierte These auf: Es gibt keine christliche Ethik. Das ist zweifellos eine bemerkenswerte Behauptung, und wir müssen deshalb näher auf Logstrups Begründung eingehen. Sie besteht aus einer ganzen Reihe von Argumenten. (i) Das Verhältnis des Einzelnen zur Forderung ist unsichtbar, d.h. es kann einer Handlung nicht angesehen werden, ob sie aus Egoismus oder Selbstlosigkeit entspringt. Es wird hier deutlich, dass Logstrups Auffassung von der Forderung durch Kierkegaards Rede vom „inneren" Verhältnis des Einzelnen zum Absoluten beeinflusst ist.7 (ii) Die Forderung gibt keine konkreten Anweisungen. Sie ist keine Norm für Ehe, Erziehung, Arbeitsmarkt usw., sondern besagt lediglich, dass das Handeln des Menschen, wo immer es sei, zum Besten des anderen geschehen soll. (iii) Auch Jesu Verkündigung fugt zur Forderung keine konkrete Handlungsanweisung hinzu. Er sagt, dass sie von Gott kommt, aber das bedeutet nur, dass Gott den Menschen alle Möglichkeiten gegeben hat, die von der Forderung verlangte Nächstenliebe zu üben. (iv) Es besteht ein Unterschied zwischen der absoluten Forderung nach Nächstenliebe und den Handlungen, die sich innerhalb der konkreten Rahmen abspielen, in denen die Menschen leben. (Logstrup 1989, 116-27). Die Argumente verdeutlichen, dass die These eigentlich primär zwei Bedeutungen hat. Erstens: Der christliche Glaube kann nicht die Grundlage für konkrete Handlungsanweisungen und Normen sein, sein ethischer Inhalt ist nur die Forderung nach selbstloser Nächstenliebe. Aus diesem Grund kann Legstrup den konkreten Normen im
7
Das Kierkegaardsche Element in Legstrups Ethik kommt am deutlichsten zum Ausdruck in Legstrup 1950.
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Theologische Ethik im 20. Jahrhundert
Neuen Testament keine Gültigkeit fiir die Gegenwart zuerkennen. Dass die Frauen in Korinth sich bei Versammlungen der Gemeinde stumm verhielten, war vielleicht die konkrete Art und Weise, mit der sie der Forderung gehorchten. Ihre Handlungsweise kann aber für uns heute keine Norm sein. Nur dass wir Nächstenliebe zeigen sollen, ist von vornherein gegeben. Es ist unsere eigene Verantwortung herauszufinden, wie das geschehen kann. Zweitens bedeutet Logstrups These, dass der Christ zu öffentlich diskutierten ethischen Fragen „unter denselben Bedingungen Stellung nehmen muss, wie jeder andere" (a.a.O., 123). Man kann nicht argumentieren, dass einen der Glaube dazu bringt, der Forderung zu gehorchen; das wäre ein ungeheuerliches Pharisäertum. Und man kann auch nicht mit Hilfe von biblischen Vorschriften argumentieren. So bleibt nur übrig: Er muss seine eigene Vernunft, Einsicht und Menschlichkeit gebrauchen, um selbst zur Klarheit über diese Frage zu gelangen, wie er auch an die Vernunft, Einsicht und Menschlichkeit des anderen Menschen appellieren muss, ohne Hinblick darauf, ob der andere Christ oder Nicht-Christ ist. (Ebd.).
Hat Logstrups These irgendeine Verbindung zum Gedanken von den Schöpfungsordnungen? Sie hat jedenfalls eine Verbindung zum Schöpfungsgedanken. Der christliche Glaube bedeutet nämlich nach Logstrup, dass der Mensch dem erschaffenen Leben zurückgegeben wird: ... der Gottesglaube restituiert das Leben des Einzelnen, sodass seine Lebensäußerungen zum Nutzen und zur Freude des anderen Menschen werden. Der Gottesglaube besteht... darin, dass der Einzelne sein Leben mit dem anderen Menschen in den Lebensäußerungen vollzieht, die Gott ihm zur Vollziehung für sich und zum Besten des anderen Menschen gegeben hat. (Logstrup 1968, 109. Meine Übersetzung8).
Vielleicht lässt sich Logstrups Auffassung auf die Weise ausdrücken, dass es kein besseres Menschenleben gibt als das erschaffene Leben. Gute Taten sind die, welche zu tun man geschaffen ist. Und die Argumente für das, was in einer konkreten Situation die rechte Handlungs-
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Das Zitat entstammt einer Passage, die in der deutschen Ausgabe Logstrup 1968 ausgelassen wurde.
Protestantische Ethik in den USA
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weise ist, sind nur in der Erfahrung der erschaffenen Bedingungen des Lebens zu finden, vor allem in den Daseinsäußerungen. Ein Christ bedarf deshalb keiner anderen Argumente als der, die jedem bekannt sind. M a n kann es so umschreiben, dass die Argumente für die rechte Handlungsweise in den Schöpfungsordnungen liegen, die allen gemeinsam sind. Dieser Gedankengang liefert auch die Erklärung dafür, dass L a strup sich an der Diskussion der philosophischen Ethik beteiligt hat. Seine philosophische Behauptung, dass ethische N o r m e n von Daseinsäußerungen abgeleitet sind, beruht ja auf d e m theologischen Gedanken, dass Daseinsäußerungen schöpfungsgegebene H a n d l u n g s m ö g lichkeiten sind. Deshalb sind sie die grundlegenden und guten ethischen Phänomene. Aber auch für den Theologen gilt, dass er auf gleicher Basis mit Nicht-Theologen argumentieren muss, z.B. mit Philosophen. Logstrups Schöpfungsethik kann nicht zur Skepsis gegenüber den M ö g lichkeiten einer philosophischen Argumentation im Bereich der Ethik fuhren, so wie wir sie in der klassischen dialektischen Theologie sowohl bei Barth als auch bei Brunner finden. Statt dessen kann m a n fragen, ob L o g s t r u p eine erschöpfende N e u d e u t u n g der protestantischen Ethik erstellt, wenn er sich ausschließlich an das geschaffene Leben hält und nicht, wie Brunner, den Z u s a m m e n h a n g zwischen S c h ö p f u n g und Erlösung einbezieht. D i e Frage ist berechtigt, weil Logstrup nichts aussagt darüber, wie Jesu Leben und T o d als Vergebung Gottes gedeutet werden können, und darüber, wie die Vergebung die Grundlage für die Nächstenliebe bilden kann.
12.5
Protestantische
Ethik
in den
USA
In den U S A hat die protestantische Theologie seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine Entwicklung durchlaufen, die der oben angedeuteten europäischen weitgehend ähnlich ist. Andererseits haben sich besondere Verhältnisse geltend gemacht, so dass der amerikanische Protestantismus gleichzeitig sein eigenes Gepräge hat. Nicht zuletzt auf d e m Gebiet der Ethik sind bedeutende Beiträge geleistet worden, von denen man eine gewisse Kenntnis haben sollte.
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Theologische Ethik im 2 0 . Jahrhundert
Zu den Voraussetzungen der Positionen innerhalb der Ethik, die im Folgenden erwähnt werden, gehört der theologische Liberalismus. Er entsteht als Reaktion auf eine doppelte Herausforderung: denjenigen der historischen Bibelkritik und des Darwinismus. „Liberalismus" bedeutet in diesem Zusammenhang eine Offenheit und ein Akzept gegenüber dem Weltbild der Naturwissenschaft sowie ein Betonen der weltlichen und ethischen Aspekte des Christentums.9 Ein besonderer Ausläufer des Liberalismus war die Bewegung des Social Gospel, eine theologische und kirchliche Antwort auf das soziale Elend, das durch die gewaltige Industrialisierung besonders in den Großstädten bewirkt wurde. Der wichtigste Vertreter der Bewegung war Walter Rauschenbusch (1861-1918), für den die theologische Grundlage für sein soziales Engagement der Gedanke vom Reich Gottes als einer diesseitigen, gesellschaftlichen Größe („Kingdom of God on Earth") ist. Eine mit der europäischen dialektischen Theologie verwandte Ethik findet sich bei Reinhold Niebuhr (1892-1971), dessen Position jedoch „christlicher Realismus" genannt wird. Der Realismus Niebuhrs zeigt sich in seiner Kritik am „Social Gospel" und am liberalen Christentum wegen deren zu starken Angepasstseins an die moderne, von Naturwissenschaft und kommerziellem Ethos geprägte Welt. Andererseits wirft Niebuhr dem „orthodoxen" Christentum vor, es habe sich in vergangenen Dogmen und in autoritärer Moral versteift. Er fordert, das Christentum und seine Ethik sollen eine Unabhängigkeit von der gegebenen Kultur bewahren. Das ist deshalb notwendig, weil sich das Christentum als Religion zur „Tiefendimension" des Daseins verhält und somit eine jede konkrete Wirklichkeit überbietet. Was die christliche Ethik betrifft, sieht Niebuhr sie als Weiterführung der Verkündigung der Propheten des AT. Christliche Ethik ist nach ihm die von Jesus verkündigte Ethik der absoluten Nächstenliebe, d.h. der leidenschaftlichen Selbstaufopferung. Die Naivität des Liberalismus bestand seiner Meinung nach im Glauben, eine solche Nächstenliebe ließe sich ohne weiteres sozial verwirklichen. Dies sei unrealistisch,
9
Eine entgegensetzte Reaktion auf die Bibelkritik war der sog. Fundamentalismus, benannt nach der Schriftenreihe The Fundamentals. Hier wurde die Ansicht verteidigt, die Bibel sei „das von Gott inspirierte Wort, das ohne Irrtum ist". (Zitiert nach Ahlstrom 1972, 8 1 4 f. Meine Übersetzung.).
Protestantische Ethik in den USA
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weil dabei sowohl die Sündhaftigkeit und Bosheit des Menschen und die politisch-ökonomischen Realitäten verkannt würden, als auch weil die radikale Nächstenliebe dabei zur Philanthropie verflacht werde. Die Unabhängigkeit des Christentums bedeutet jedoch nicht, dass es keine Berührung mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten hat. Nach Niebuhr lässt sich vielmehr die radikale Nächstenliebe in das Gesetz der Liebe umformen, d.h. in ein Ideal, von dem aus eine Annäherung des sozialen Lebens an die Liebe angestrebt wird, indem aber gleichzeitig die Tatsachen der Gesellschaft ernst genommen werden. Zu diesen Tatsachen gehört, dass verschiedene Gruppen, etwa Arbeitgeber und Arbeitnehmer, jeweils von ihren Interessen aus miteinander streiten. Die politische Ordnung ist wegen der Schlichtung solchen Streites und der Errichtung einer gewissen Ausgeglichenheit notwendig. Nach Niebuhrs Meinung ist Politik somit kein reiner Machtkampf, sondern sie setzt vielmehr einen Glauben an Harmonie voraus. Der Glaube an Harmonie in der Geschichte beruht jedoch auf einem Glauben an eine tiefere Harmonie, d.h. auf einem religiösen Glauben. Die christliche Nächstenliebe beinhaltet einen solchen Gedanken der Harmonie. Das äußert sich darin, dass aus ihr ein Ideal der Gerechtigkeit hervorgehe im Sinne des gleichen Rechts aller Menschen, u.a. ihr Leben aufrechtzuerhalten. Das Ideal gleicher sozialer Gerechtigkeit ist nach Niebuhr ein „Echo" derjenigen Gleichheit, die im „wie dich selbst" des Nächstenliebegebotes ausgedrückt wird. Der Realismus Niebuhrs beinhaltet u.a., dass soziale Gerechtigkeit nur durch den Gebrauch von Gewalt verwirklicht werden kann. Der folgende von ihm stammende Satz ist berühmt geworden: Man's capacity for justice makes democracy possible; but man's inclination to injustice makes democracy necessary.10 (Die Fähigkeit des Menschen zur Gerechtigkeit macht die Demokratie möglich; aber seine Neigung zur Ungerechtigkeit macht die Demokratie notwendig.).
Das politische Prinzip gleicher Gerechtigkeit sieht Niebuhr als eine Annäherung an das christliche Ideal der Liebe in einer unvollkommenen Welt. Damit versucht er die christliche Sozialethik in der Mitte 10 Hier zitiert nach Lovin 1995, 29.
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zwischen dem Utopismus und der reaktionären Bestätigung des Bestehenden zu platzieren. Bei einem der bedeutendsten amerikanischen Ethiker der Nachkriegszeit, Paul Ramsey (1913-1988), ist der biblische und christologische Ausgangspunkt deutlicher. Nach Ramsey hat die christliche Ethik eine zweifache Grundlage: die Liebe und Gerechtigkeit Gottes und das Herrschen der Gerechtigkeit im Reich Gottes. Beides hat seinen Grund im Bund Gottes mit den Menschen. Die Eigenart einer auf dem NT aufbauenden Ethik sieht Ramsey in der Betonung der Freiheit vom Gesetz. Die Nächstenliebe sei eine Folge des Widerhalls auf die Liebe Gottes und Christi. Sie bestehe nicht immer im Befolgen von biblischen Vorschriften, sei aber ausnahmslos ein Beschäftigtsein mit dem Wohl (need) des Mitmenschen. Ramsey deutet das „wie dich selbst" des Liebesgebotes als eine Forderung, die Selbstliebe an den Nächsten zu richten. Er folgt Kierkegaard darin, dass als Prüfstein wirklich selbstloser Nächstenliebe der Fall gelten kann, in welchem der „Adressat" ein Feind ist. Wenn nämlich als Gegenleistung nur Widerwillen und Feindlichkeit zu erwarten sind, kann von reiner Selbstliebe nicht die Rede sein.11 Die Ethik der Nächstenliebe ist deontologisch in dem Sinne, dass sie keinen bestimmten Begriff vom Guten voraussetzt; dafür enthält sie immer eine Angabe, wessen Gutes gefördert werden muss: das des Anderen. Die Freiheit, von der die Nächstenliebe geprägt ist, beinhaltet allgemein, dass christliche Ethik keine „Koalitions-Ethik" sein soll, indem sie sich an eine bestimmte Position der allgemeinen Ethik bindet, etwa an den Utilitarismus oder eine Ethik des natürlichen Gesetzes. 11 Ramsey ist allerdings nicht uneingeschränkt mit Kierkegaard einig. Er distanziert sich von Kierkegaards „Intuitionismus", d.h. von seinem Gedanken, das im Augenblick ergehende göttliche Gebot bedeute eine Suspension des Ethischen (vgl. oben S. 195ff.)- Nach Ramseys Meinung kann keine intuitiv wahrgenommene absolute Forderung der vom heiligen Geist bezeugten Liebe widersprechen (vgl. Rom 5, 6-10). In diesem Punkt rückt er auch von Karl Barth ab, obwohl sich beide hinsichtlich der Begründung der Ethik im Bund einig sind. Auch sozialethisch gesehen übt Ramsey an Barth Kritik. Während dieser die Gemeinde als Subjekt der christlichen Ethik als Vorbild für die säkulare Gesellschaft auffasst, ist nach Ramsey das ethische Subjekt der einzelne Christ, der auf der Grundlage der Nächstenliebe politisch und sozial tätig ist.
Protestantische Ethik in den USA
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Das gilt auch dann, wenn die Nächstenliebe als Sozialethik verwirklicht wird, was nach Ramsey unumgänglich ist. Er schließt sich dem Realismus Niebuhrs an und betont womöglich noch stärker, dass die entscheidende Tatsache im sozialen Zusammenleben vom Christentum aus gesehen die Sünde sei. Seiner Meinung nach ist das demokratische Prinzip der objektiven Gleichheit vor dem Gesetz das wirksamste Mittel zur Eindämmung der Folgen der Sünde. Und auch er sieht die Gerechtigkeit als die soziale Gestalt der Nächstenliebe: Gerechtigkeit sei Liebe gegen mehr als einen Nächsten. Ein bemerkenswertes Element der theologischen Sozialethik Ramseys ist seine Auffassung vom Begriff der Rechte. Nach christlichem Verständnis können die Rechte einer Person nicht von Eigenschaften hergeleitet werden, die die Person hat (natürliche Rechte). Theologisch sei der Begriff der Rechte vielmehr vom Begriff derjenigen Würde (worth) her zu verstehen, die im Geschaffensein des Menschen von Gott und seiner Beziehung zu ihm gründet. Aus dieser Beziehung folge das Gebot der Nächstenliebe, die eine Pflicht beinhalte, dem Nächsten unbedingte Würde zuzuerkennen. Uberhaupt haben die Pflichten nach Ramsey Vorrang vor den Rechten. Das zeigt sich an seiner Deutung der einzelnen konkreten Bürgerrechte: Meinungs- oder Redefreiheit seien im Grunde eine Pflicht, die Öffentlichkeit zu beeinflussen, genau wie das Recht auf Chancengleichheit als Bedingung für ein gutes Gemeinschaftsleben (community life) angesehen werden solle. Anstelle der natürlichen Rechte des traditionellen Liberalismus spricht Ramsey von sozialen Rechten. Von der christlichen Sozialethik gilt bei Ramsey zusammenfassend, dass die Nächstenliebe bei ständiger Kritik die vorgefundenen sozialen Institutionen nutzt, um das Wohl anderer Menschen zu fördern. (Vgl. Ramsey 1993, 349). Einer der einflussreichsten gegenwärtigen Ethiker in den USA ist der reformierte Theologe schwedischer Abstammung James Gustafson (geb. 1925). Er hat in einem umfassenden Werk eine so genannte theozentrische Ethik vorgestellt. Er entwickelt sie aus einer Kritik an der gängigen europäischen Ethik heraus, und zwar sowohl der theologischen als auch der philosophischen. Diese Ethik sei anthropozentrisch in dem Sinne, dass sie voraussetze, der Mensch sei das Maß aller Dinge. Dass dies eine Fehleinschätzung der Stellung des Menschen im
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Universum ist, können wir nach Gustafson von den Naturwissenschaften lernen, z.B. von der Evolutionstheorie. Seiner Meinung nach ist die nicht-anthropozentrische Einstellung der Naturwissenschaft eben keine Bedrohung für eine theologische Ethik, im Gegenteil. Wenn nämlich eine Ethik wirklich theologisch ist, dann wird sie Gott als ihren Ausgangspunkt wählen, und tut sie das, kann daraus durchaus kein Anthropozentrismus folgen. Gott ist der Gott der gesamten Schöpfung: Warum sollte sein höchstes Ziel sein, gerade die Interessen der Menschen zu fördern? Gustafson macht keinen Hehl daraus, dass seine theozentrische Auffassung eine radikale Änderung theologischer Ethik mit sich fuhrt. Traditionell ist theologische Ethik auch in dem Sinne anthropozentrisch gewesen, dass ihr Ausgangspunkt üblicherweise Gottes Heil am Menschen gewesen ist. Aber, so Gustafson, das Heil des Menschen ist nicht notwendigerweise das höchste Ziel Gottes. Umgekehrt könnte es sein, dass das wichtigste Ziel des Menschen nicht Heil im christlichen Sinne sei, sondern Gott zu ehren, wie das ja der Calvinismus immer betont hat. (Gustafson 1981, 112f.). Der Kern einer theozentrischen Ethik ist es, Gottes Willen zu erfassen; ihr grundlegender Imperativ lautet: ... we are to conduct life so as to relate all things in a manner appropriate to their relations to God. (A.a.O., 113). (... wir sollen unser Leben so führen, dass wir uns zu allen Dingen in einer Weise verhalten, wie es ihrer Beziehung zu Gott entspricht.).
Es geht deutlich aus Gustafsons Überlegungen hervor, dass sein Hervorheben der theozentrischen Perspektive mit der Infragestellung des westlichen Anthropozentrismus zusammenhängt, die aus der immer größeren Beachtung teils anderer Religionen, teils der natürlichen Umwelt folgt.12
12.6 Katholische
Moraltheologie
Die Auffassung von christlicher Ethik ist eines der Dinge, die traditionellerweise protestantische und katholische Theologie voneinan12 Zur Verwendung der theozentrischen Denkweise auf Fragestellungen der Umweltethik vgl. Gustafson 1996.
Katholische Moraltheologie
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der unterscheiden. Mit Thomas von Aquin, der größten Autorität katholischer Moraltheologie, haben wir bereits Bekanntschaft gemacht. Seine Leistung auch in theologischer Ethik wird von Nicht-Katholiken anerkannt; von einigen wird seine Darstellung der Ethik als die systematischste überhaupt betrachtet (siehe Gustafson 1978, 140) und selbst Karl Barth drückt beinahe Bewunderung für sie aus (Barth 1942, 587f.). Thomas wurde 1879 vom Papst zum normsetzenden Theologen fiir alles katholische Denken deklariert. Wie wir sehen werden, stellt er auch für die gegenwärtige katholische Moralauflfassung eine entscheidende Voraussetzung dar. Für das Verständnis der katholischen Auffassung von christlicher Ethik ganz allgemein ist es notwendig, die Rolle der Kirche zu betrachten. Sie hat den Status einer Erlösungseinrichtung, da sie die Sakramente verwaltet. Im ethischen Zusammenhang ist besonders das Sakrament der Beichte wichtig. Durch die Beichte — die von einem gewissen Zeitpunkt an persönlich, individuell wurde - stand und steht die katholische Kirche in Berührung mit dem Einzelnen und sie hatte einen Einfluss auf die Lebensführung des Gläubigen, wie er im Protestantismus nicht in gleicher Weise bekannt ist. In Verbindung mit der Beichte hat die katholische Morallehre eine umfassende Systematik entwickelt. Wir haben schon mehrere der Einteilungen kennengelernt, die hierzu gehören: die Unterscheidung zwischen Todsünden und lässlichen Sünden sowie zwischen Vorschriften und evangelischen Räten. Die traditionelle Morallehre hat außerdem eine ausgeprägte Kasuistik entwickelt: Das natürliche Gesetz wurde als ein im Voraus gegebenes System von Vorschriften aufgefasst, die spezifischen Situationen zugeordnet waren. Nach katholischem Verständnis ist die Kirche jedoch nicht nur Heilsmittlerin, sondern auch Verwalterin der rechten Lehre. In diesem Zusammenhang ist vom kirchlichen Lehramt, dem Magisterium die Rede. Dahinter steht der Gedanke, dass Christus selbst den Leitern der Kirche die Befugnis übertragen hat, die christliche Lehre auszulegen. Inhaber des Lehramtes sind die Bischöfe, die Konzilien und der Papst. Zu den populären Vorstellungen über katholische Ethik gehört, dass die Äußerungen des Papstes absolut bindend sind für alle Katholiken. Dies ist jedoch ein Missverständnis. Uber alle Moralvorschriften der Kirche muss der Nachweis erbracht werden, dass sie auf
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Theologische Ethik im 20. Jahrhundert
dem natürlichen Gesetz und außerdem auf der Bibel und der früheren Lehre der Kirche (Schrift und Tradition) aufbauen. Es steht jedem frei, die kirchlichen Äußerungen rational zu untersuchen. (Vgl. Gustafson 1978, 132). Wenn von „katholischer Ethik" die Rede ist, muss im Grunde zwischen Zweierlei unterschieden werden: der offiziellen kirchlichen Morallehre und der in der katholischen Wissenschaft ausgeformten Moraltheologie. Kirchliche Morallehre: „Gaudium es spes" Das wichtigste Ereignis innerhalb der katholischen Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg war zweifellos das Zweite Vatikanische Konzil, das in den Jahren 1962 bis 1965 stattfand. Die Reform des katholischen Verständnisses vom christlichen Glauben, die hier durchgeführt wurde, hat auch die Morallehre beeinflusst. Dies soll im Folgenden anhand eines der offiziellen Dokumente des Konzils, Gaudium et spes veranschaulicht werden. Der Text ist ein gutes Beispiel dafür, wie die katholische Kirche einerseits an ihrer traditionellen Lehre festhält, andererseits aber bemüht ist, sich auf die Gegebenheiten der Gegenwart einzustellen. Zur Zeit des Konzils waren die wichtigsten Gegebenheiten der Kalte Krieg, sozialistische Staaten mit einer atheistischen Ideologie und eine beginnende Entwicklung einer Weltgesellschaft. - Der Ausgangspunkt des Gedankenganges ist die Auffassung vom Menschen als Ebenbild Gottes, das zu einer Gemeinschaft mit Gott geschaffen ist, die erst in der jenseitigen Vereinigung voll verwirklicht wird. In Christus offenbart sich der Wille Gottes, die Menschen mit sich zu vereinigen, d.h. seine Liebe. Dadurch wird dem Menschen trotz der Sünde das Erreichen des Zieles ermöglicht, welches seine Bestimmung ist. Zur Gottesebenbildlichkeit des Menschen gehört die Fähigkeit, durch das Gewissen ein Gesetz zu erkennen, das seine Liebe hervorruft und ihm gebietet, das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen. Hier wird somit die Lehre von der lex naturalis ganz im Sinne des Thomas von Aquin vorgetragen. Die Erfüllung des Gesetzes ist die Liebe zu Gott und zum Nächsten. Das Gewissen und die Kenntnis vom natürlichen Gesetz sind ein entscheidender Teil der Beziehung zu Gott und dies zeichnet den
Katholische Moraltheologie
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Menschen als Person aus. Dieser Status beinhaltet weiter, dass das Wissen des Gewissens ein vernünftiges ist und dass das Sich-Hinwenden zum Guten ein Akt der Freiheit ist. Als personales Wesen, das in einer ethischen Beziehung zu Gott steht, besitzt jeder Mensch eine Würde, die Respekt verlangt. Zum personalen Sein gehört jedoch auch das Gerichtetsein auf ein jenseitiges Ziel: die Vereinigung der unsterblichen Seele mit Gott. Nach katholischer Morallehre ist das ethische Leben ein notwendiger Bestandteil der Bewegung auf die Vollendung hin. Als Person ist der Mensch nicht nur zur Gemeinschaft mit Gott geschaffen, sondern auch zum Zusammenleben mit anderen Menschen. Die grundlegendste irdische Gemeinschaft ist diejenige zwischen Frau und Mann, die sich in der Ehe vollzieht. Innerhalb dieser Gemeinschaft haben Menschen an Gottes Schöpferwerk teil, denn Ziel der Ehe ist es, Kinder in die Welt zu setzen, d.h. neues Menschenleben entstehen zu lassen. Die umfassendere Gemeinschaft, die Gesellschaft, ist zur Förderung des Gemeinwohls da13, d.h. derjenigen Bedingungen, die notwendig sind für das Erreichen der Vollendung, sowohl des Einzelnen als auch von Gruppen. So weisen auch die Gesellschaft und der Staat letzten Endes auf das jenseitige Ziel des Menschenlebens hin. Christliche Ethik ist diejenige Lebensweise, welche den Einzelnen zur Vereinigung mit Gott führt und die sich als Liebe zu anderen äußert. Die Normen für diese Lebensweise können aus dem natürlichen Gesetz erkannt werden, sind aber auch in der Bibel offenbart, und zwar in zusammenfassender Weise im Opfertod Christi. Der Kirche sind das Wort Gottes und damit auch die Normen christlicher Lebensführung anvertraut worden. Laien müssen daher auf das kirchliche Lehramt hören, das das „göttliche Gesetz im Licht des Evangeliums authentisch auslegt" (Gaudium et spes, 50). Allerdings soll der
13 In einigen europäischen Ländern hat die katholische Soziallehre durch so genannte „christlich-demokratische" Parteien auf das politische Leben Einfluss geübt. Sie befürworten einen Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaat mit einer Begründung, die von einer egalitär-liberalen wie derjenigen John Rawls', abweicht. (Vgl. oben S. 236ff.).
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Theologische Ethik im 20. Jahrhundert
einzelne Christ sich bei dem Verständnis des Gesetzes von seinem eigenen Gewissen leiten lassen. Was die konkreten ethischen Fragestellungen betrifft, folgt aus dem Verständnis der Ehe, dass sie nicht „durch unerlaubte Praktiken gegen die Fruchtbarkeit" entweiht werden dürfe (a.a.O., 47). Die in ihr gezeugten Kinder sind nicht nur Lebewesen, sondern zur Gemeinschaft mit Gott geschaffene Personen. Aus dem Grunde widerspricht Abtreibung - ähnlich wie Sterbehilfe und Selbstmord - dem göttlichen Gesetz (vgl. a.a.O., 27). Sozialethisch wird die Gleichheit aller Menschen betont. Sie folgt aus der in der Gottebenbildlichkeit gründenden gemeinsamen Natur sowie aus dem Berufen-Sein zu dem einen Heil. Diese „Gleichheit der Personenwürde" sei anzuerkennen, was konkret für soziale Gerechtigkeit und gegen Diskriminierung spricht (vgl. a.a.O., 29). Soziale Gerechtigkeit ist nicht im Sinne des Liberalismus zu verstehen, sondern muss im Zusammenhang mit dem Gedanken vom Gemeinwohl gesehen werden. Gerade als personales Wesen habe jeder Mensch ein Recht auf das, was er benötigt, um sich seiner Bestimmung gemäß entwickeln zu können: Nahrung, Wohnung, Familiengründung, Arbeit und Glaubensfreiheit. Die Fürsprache für die Freiheitsrechte ist primär an die sozialistischen Staaten gerichtet. Die katholische Kirche erteilt sich selbst die Rolle, bei der Humanisierung der modernen Gesellschaft mitzuwirken. Sie könne der Welt zeigen, dass soziale Einheit aus der Einheit der Herzen folge, d.h. aus Glaube und Liebe. Moraltheologie: Häring und Furger Es sollen zwei Beispiele katholischer Moraltheologie erwähnt werden, die beide den Einfluss von Vaticanum II bezeugen. Der deutsche Moraltheologe Bernhard Häring sagt im Vorwort seiner 1963 erschienenen Neuausgabe des großen Lehrbuches Das Gesetz Christi, die Umarbeitung des Buches sei im Lichte des Konzils geschehen. Nach Häring ist das ethische Handeln eines Christen im Verhältnis zu Christus begründet; es ist ein Handeln der Liebe, das eine Antwort auf die Liebe ist, die Christus den Menschen zeigt. Das Handeln des Christen geschieht nach dem Gesetz Christi, das durch die Gnade in die Herzen der Gläubigen eingeschrieben ist. Es geschieht aber auch in Ubereinstimmung mit dem Moralgesetz, das in
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aller Menschen Natur eingeschrieben ist. Das Verhältnis dieser beiden Größen besteht darin, dass das Gesetz Christi alle natürlichen Gesetze umfasst, darüber hinaus aber vollkommene Liebe beinhaltet. Häring hebt stärkt die personale Natur des Menschen hervor. Dieser sei dasjenige Wesen, welches zur Gemeinschaft mit Gott geschaffen sei und dessen Dasein „responsorisch" sei, d.h. Antwort auf die Liebe Gottes. Es seien das Gottesverhältnis und die Gottebenbildlichkeit, die jedem Menschen seinen Wert gäben. Person-Sein beinhalte Freiheit und Verantwortung. Vorerst ist der Einzelne in Bezug auf sein eigenes Heil verantwortlich; die Verantwortung für den anderen Menschen hat demgegenüber einen anderen Charakter. Ein Gläubiger kann die Verantwortung für das ethische Handeln nicht ablehnen durch Verweis auf die Anleitung des kirchlichen Lehramtes. Das heißt nicht, der Gläubige könne die lehramtliche Anleitung entbehren, im Gegenteil. Häring schließt jedoch die Möglichkeit nicht aus, dass der Einzelne gegen kirchliche Vorschriften handelt. Nur schärft er ein, dieses erfordere eine strenge Überprüfung der Uneigennützigkeit des Entschlusses und eine kluge Abwägung der Konsequenzen für die Gemeinschaft. (Vgl. Häring 1963,1, 88). Auch Häring betont, das personale Leben des Menschen sei ein Leben in der Gemeinschaft mit anderen, und dies sowohl in einer geistigen (kirchlichen) als auch in einer weltlichen Gemeinschaft. Vom Gesichtspunkt einer katholischen Sozialethik kann dem Staat keine absolute Bedeutung zukommen. Seine Rolle ist eine dienende in Bezug auf das Erreichen des weltlichen Gemeinwohles, das seinerseits nur ein Mittel zur Erreichung des Endzieles des Menschen ist. Der Handlungsspielraum des Staates muss durch die Grundrechte von Individuen und von nicht-staatlichen Gemeinschaften begrenzt werden. Ein wichtiges Recht besteht eben darin, dass Menschen sich in Gemeinschaften zur Förderung von religiösen, kulturellen oder wirtschaftlichen Zwecken zusammenschließen. Als Norm für das Verhältnis zwischen dem Staat und nicht-staatlichen Gemeinschaften gilt die Subsidiarität: Dem Staat dürfen keine Aufgaben auferlegt werden, die von freiwilligen Vereinen ausgeführt werden können, er soll diese lediglich ergänzen. Ein weiteres Grundprinzip in der katholischen Soziallehre neben der Subsidiarität ist die Solidarität. Beide sind Ausdruck der starken Hervorhebung der sozialen Natur des Menschen.
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In seiner 1988 erschienenen Einführung in die Moraltheologie macht der Schweizer Moraltheologe Franz Furger darauf aufmerksam, dass das Vaticanum II die Verantwortlichkeit des einzelnen Menschen betont hat. Das habe zu einer Erneuerung der Moraltheologie geführt, die sich in einem „autonomen und teleologischen" ethischen Denken äußere. Das heißt, die einzelnen Handlungsnormen werden vom letzten Ziel des Glaubens her beurteilt (Teleologie) und der Inhalt der Normen wird als von der Vernunft kritisch einsehbar angesehen (Autonomie) (Furger 1988, 13). Der christliche Glaube knüpft nach Furger an eine allgemein menschliche Erfahrung an: an die Aufgabe, die eigene Person als freies und verantwortliches Wesen zu verwirklichen, und zwar in einem Leben innerhalb eines interpersonalen und sozialen Netzwerkes. Der Glaube an Gott und der Wille zur Einhaltung seines Gebotes sind eine Vertiefung dieser personalen Erfahrung. Der Christ handelt aus Gottes allesbestimmender Liebe, aus seiner Gnadengabe heraus. Die Voraussetzung dafür ist aber, dass der Einzelne aktiv die Liebe entgegennimmt. Die Instanz, die den Menschen befähigt, Gottes Rede zu empfangen und eine persönliche Entscheidung zu fällen, ist das Gewissen. Das ethische Leben des Christen besteht nach Furger genauer gesagt aus drei Arten von Gewissensentscheidungen. Zunächst ist da die grundlegende Entscheidung, durch die der Einzelne es bejaht, das Gute, d.h. Gottes Willen zu tun (Grundentscheid). Sodann gibt es die wichtigen Entscheidungen des Einzelnen für sein eigenes Leben: Wahl der Ausbildung, des Partners usw. (Vorentscheid). Und schließlich sind die „laufenden" Entscheidungen darüber zu treffen, welche konkreten Handlungen durchgeführt werden sollen (Tatentscheid). Christlich gesprochen muss man sich für Gottes Willen entscheiden. Dieser ist auch für Furger im doppelten Liebesgebot zusammengefasst. Die Liebe ist das äußerste Ziel für das Handeln des Christen. Nächstenliebe heißt, dass man gewillt ist, etwas zu opfern, um dem Mitmenschen zur bestmöglichen Entfaltung seiner Persönlichkeit zu verhelfen. Die ethische Ur-Erfahrung, in der sich die Natur des Menschen ausdrückt, ist in der Goldenen Regel zusammengefasst. Das Gewissen ist nämlich im Innersten ein Wissen davon, was das Gute ist („alles,
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was du willst, das die Menschen dir tun") - und ein Wissen davon, dass ich mit Menschen zusammenlebe, die mit mir gleichstehen („das sollst du ihnen tun"). Die Goldene Regel spiegelt das Faktum wider, dass jeder Mensch von anderen abhängig ist. Aber nicht nur das: Als leibliche Wesen sind wir auch von der natürlichen Umwelt abhängig. Und als Wesen, die nach dem Sinn fragen, sind wir vom Transzendenten abhängig. Die Goldene Regel ist also eine Forderung, Gott, Mitmenschen und Umwelt zu achten. Da sie Ausdruck der menschlichen Natur ist, ist sie allen Menschen gemeinsam. Das Christentum fugt eigentlich keine neuen ethischen Ansprüche hinzu. Das besonders Christliche ist die Motivation, mehr Menschlichkeit zu suchen, und damit größere Ausdauer. Kirchliche Morallehre: „ Veritatis splendor" Häring und Furger bestätigen beide eine Tendenz innerhalb der katholischen Moraltheologie, die James Gustafson so beschrieben hat, dass die Natur im Verhältnis zur Geschichtlichkeit als normative Größe zurücktrete. Gleichzeitig werde dem Einzelnen das Recht zuerkannt, die rechte Lebensführung selbstständig im Verhältnis zur kirchlichen Autorität zu wählen. Dass diese Entwicklungen vom derzeitigen Inhaber des höchsten kirchlichen Lehramtes nicht begrüßt werden, geht aus der Schrift Veritatis splendor hervor, einer an alle Bischöfe der römisch-katholischen Kirche gerichtete Enzyklika aus dem Jahre 1993. Die Fragestellung, mit der sich die Schrift beschäftigt, ist eben die Entwicklung innerhalb der katholischen Moraltheologie. Die katholische Morallehre sei, so heißt es, problematisiert, weil innerhalb der Theologie Gedankengänge vorgebracht werden, die die menschliche Freiheit von der Wahrheit trennten. Unter Wahrheit ist die Wahrheit über das Gute zu verstehen, d.h. die universalen und unwandelbaren Vorschriften des göttlichen Gesetzes. Nur die Freiheit, die sich dieser Wahrheit unterwerfe, führe die Person zu ihrem wahren Gut (Veritatis splendor, 84). Zu den bedrohlichen Tendenzen der Moraltheologie gehöre auch diejenige Auffassung vom kirchlichen Lehramt, dass nur Werte vorschlagen würden, denen sich der Einzelne in seiner Lebenswahl anschließen könne oder auch nicht. Was das Letztere betrifft, wird daran erinnert, dass die Aufgabe der Kirche sei, Gottes Gesetz im Lichte des Evangeliums authentisch zu
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interpretieren (a.a.O., 45). Die Gläubigen seien dazu verpflichtet, die von der Kirche gelehrten spezifischen moralischen Vorschriften anzuerkennen und zu respektieren (vgl. a.a.O., 76). Das Lehramt fordere, diese besonderen Vorschriften seien von den Gläubigen im Gewissen als moralisch verbindlich anzusehen (vgl. a.a.O., 110). Es handelt sich hier also um die Rolle des Gewissens. Wie wir sahen, unterscheidet Furger zwischen verschiedenen Arten der Gewissensentscheidung, etwa zwischen dem grundlegenden Sich-Entscheiden für den Gehorsam gegen den göttlichen Willen und den vielen Einzelentscheidungen über konkretes Handeln. Diese Unterscheidung wird vom Papst (ohne Furger oder andere Theologen beim Namen zu nennen) so gedeutet, dass, wenn ein einzelner Gläubiger sich nur im Gewissen für das Befolgen des göttlichen Willens entschieden hat, er sehr wohl in der konkreten Situation gegen offizielle katholische Normen handeln könne. Einem solchen Gedankengang gegenüber wird betont, die Autorität der Kirche gelte auch für das Befolgen konkreter Vorschriften. Es wird besonders hervorgehoben, die kirchlichen Verbote gegen in sich böse Handlungen seien universell, und ihnen sei ausnahmslos zu gehorchen. Es sind hier Handlungen gemeint, die unter keinen Umständen dazu beitragen können, Menschen Gott näher zu bringen. Als Beispiele werden die von „Gaudium et spes" bekannten erwähnt: Tötung, Abtreibung und Selbstmord. Die bewusste und freie Ausübung solcher Handlungen sei mit Todsünde gleichbedeutend und könne nicht dadurch ausgeglichen werden, dass der Täter eine grundlegende Glaubensentscheidung getroffen habe. „Veritatis splendor" kann wie gesagt als eine Reaktion auf die von Gustafson genannten Tendenzen aufgefasst werden. Es wird die Lehre vom natürlichen Gesetz im Sinne einer Anzahl objektiver, universaler und unwandelbarer Vorschriften vorgetragen. Die Gewissensfreiheit des einzelnen Gläubigen wird abgeschwächt, indem sie dem Gehorsam gegenüber den genannten Vorschriften untergeordnet wird. Es ist deutlich, dass der Gegenwarts-Kontext jetzt ein anderer ist als derjenige von „Gaudium et spes": Die Bedrohung ist nun nicht der totalitäre Staatssozialismus, sondern der ethische Relativismus der demokratischen Gesellschaften. Eine Demokratie muss aber, so der Papst, auf einer letztgültigen Wahrheit aufbauen (a.a.O., 103). Diese Wahrheit
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werde der Gegenwart von der katholischen Kirche vorgehalten. Die eigene Morallehre der Kirche könne jedoch nicht demokratischen Prozessen wie freier Meinungsäußerung und Uneinigkeit ausgesetzt werden. Das Volk Gottes sei keine Demokratie, sondern sei nach einer hierarchischen Konstitution geordnet (a.a.O., 113). 14 In seinem Vergleich zwischen neuerer protestantischer und katholischer Ethik schreibt James Gustafson, der größte Unterschied zwischen beiden liege in der Auffassung der Bibel. Eines der großen ungelösten Probleme des Protestantismus sei jedoch gerade sein Prinzip von der „Schrift alleine" (sola scriptura). Was will es denn heißen, so fragt Gustafson, dass die Schrift in moralischen Anliegen die einzige Autorität ist? Diese Frage zeigt, dass die protestantische Ethik von größerer Offenheit geprägt ist als die katholische. Aber diese Offenheit ist auch die Schwäche des Protestantismus: Es gibt nur wenig oder beinahe keine Einigkeit über theologische Prinzipien und über Moraltheorie im Protestantismus. ... Die Situation der protestantischen Kirchen in Bezug auf moralische Belehrung ist nicht weit v o m Chaos entfernt. (Gustafson 1988, 129 und 130. Meine Übersetzung.).
Demgegenüber sei es die Stärke der katholischen Moralthediogie gewesen, dass sie ein geordnetes Muster moralischen Denkens aufgebaut hat, das auf klaren philosophischen und theologischen Prinzipien von positiver moralischer Substanz gründet. Gustafson schließt damit, für eine Annäherung zwischen katholischer Moraltheologie und protestantischer Ethik zu plädieren, doch mit einem gewissen Vorbehalt: Während Uniformität innerhalb der theologischen Ethik nicht wünschenswerter (und möglicher) ist als in anderen Bereichen christlichen Denkens, würde ein Versagen in Bezug auf das Suchen nach Konsensus über wichtige Fragen in allzuhohem Grade dem Subjektivismus und Pluralismus die Kriterien für gute Ethik überlassen. (A.a.O., 154).
14 „Veritatis splendor" hat natürlich sehr verschiedenartige Reaktionen unter katholischen Moraltheologen hervorgerufen. Vgl. hierzu etwa Selling & Jans 1994.
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12.7 Neuere Tendenzen in der theologischen Ethik Als Abschluss der Übersicht über Positionen der theologischen Ethik im 20. Jahrhundert sollen einige Versuche, den Begriff der christlichen Ethik neu zu denken, genannt werden. Es kann naturgemäß nur von einer kleinen Auswahl die Rede sein. Politische Theologie und Ethik der Befreiung Die besondere Form des politischen Bewusstseins, das von der so genannten Studentenrevolte und vom Neomarxismus Ende der 1960er Jahre hervorgerufen wurde, hat auch die Theologie beeinfiusst. Einer der bedeutendsten Vertreter der politischen Theologie ist die deutsche Theologin Dorothee Solle. Solle geht von der dialektischen Theologie und der sog. Existenztheologie aus. Ihre eigene Auffassung resultiert aus einer Auseinandersetzung mit dieser Tradition. Neben der politischen Dimension ist in ihrem Denken der Anti-Theismus wichtig. Darunter ist die Kritik an der traditionellen Vorstellung von Gott als einem transzendenten und allmächtigen Wesen zu verstehen.15 Solle kritisiert an der dialektischen Theologie, dass sie den persönlichen Charakter der Beziehung zwischen Mensch und Gott zu sehr betone. Der Mensch lebe ja in einer konkreten, durch bestimmte Strukturen und Machtverhältnisse geprägten Welt. Dieser konkrete Mensch ist gläubig, und in dieser konkreten Welt soll der Glaube in Form von Handlungen seine Früchte tragen. Das gängige Ich-Du Denken sei in ein Ich-Du-Es Denken zu erweitern, wobei „Es" eben der soziale und politische Kontext ist. Diesem Sachverhalt entsprechend solle die theologische Reflexion durch Methoden der Sozialwissenschaften angereichert werden. Zu diesen Methoden gehöre die Ideologiekritik, d.h. der Nachweis, dass eine gegebene Theorie oder Weltanschauung bewusst oder unbewusst bestehende Machtverhältnisse stützt oder legitimiert. In dem Buch Phantasie und Gehorsam fuhrt Solle eine ideologiekritische Analyse von einem der Schlüsselbegriffe protestantischer 15 Unmittelbar vor der Erscheinung der politischen Theologie hat die so genannte Gott-ist-tot-Theologie die Debatte stark beeinfiusst.
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Ethik, dem des Gehorsams durch. Sie sieht einen Zusammenhang zwischen der theologischen Deutung des Glaubens als absolutem Gehorsam gegen Gott und der Rolle, die der Gehorsam als soziale Tugend nicht zuletzt in Deutschland gespielt hat. Als Beispiel nennt sie die Bedeutung des Gehorsams für das Funktionieren der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Sie sieht einen genauen Zusammenhang zwischen der Gehorsamsideologie und der Rede von Schöpfungsordnungen; die ideologische Funktion beider ist es, bestehende Gesellschaftsstrukturen als zeitlose Ordnungen darzustellen. Der Begriff des Gehorsams sei unterdessen nicht dazu geeignet, die Bedeutung des Lebens und des Todes Jesu auszudrücken: Er erwartete, daß wir die Welt verändern - und eben dazu befreite er unsere Phantasie. (Solle 1968, 57).
Wie aus dem Zitat hervorgeht, besteht nach Solle das Heil in der Befreiung des Menschen zur Phantasie. Der Glaube zeige sich in einer Selbstlosigkeit, die auf erfahrenem Glück beruhe: In der Gnade, die so erscheint, dass einem Menschen sein Leben glückt, konstituiert sich ein anderes Ich, das den eigenen Ängsten entnommen ist, das befreit oder erlöst ist, und eben dieses Ich kann seine Aufgabe nun nicht mehr im Erfüllen bestimmter Vorschriften sehen, wie christliche Ethik nicht mehr auf Gehorsam gründet, weil die Aufgabe nun Veränderung ist, die die Tugend der Phantasie braucht. (A.a.O., 66).
Die Neudeutung christlicher Ethik rückt somit bei Solle neue Tugenden in den Mittelpunkt. Neben der Grundtugend der Phantasie nennt sie Toleranz, Humor, gerechten Zorn, Einfühlung und Initiative (vgl. a.a.O., 69). - Es ließe sich diskutieren, ob diese Sammlung verschiedener Phänomene unter der Bezeichnung „Tugend" überzeugend ist. Das Anliegen Sölles ist jedoch nicht so sehr, eine präzise Begriffsanalyse zu bieten, sondern eher zu einem Neudenken zu provozieren, das zu politischem Engagement anregen kann. Ein verwandtes Anliegen kennzeichnet die so genannte Theologie der Befreiung. Ihr Ausgangspunkt ist keine innere theologische Auseinandersetzung, sondern das Leben unter ganz bestimmten politisch-sozialen Bedingungen. Die Theologie der Befreiung ist weitgehend (aber
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nicht ausschließlich) ein lateinamerikanisches Phänomen. Sie entspringt den so genannten Basisgemeinden, d.h. christlichen Gemeinden von und unter den Armen Südamerikas. Ihre Voraussetzung ist somit die Erfahrung von sozialer Ungerechtigkeit, Gewalt und Ausnutzung der Entwicklungsländer durch die reiche Welt. - Eine Darstellung der Ethik der Befreiungstheologie gibt der aus Argentinien stammende katholische Theologe Enrique Dussel in seinem Ethik der Gemeinschaft. Wir haben gesehen, wie von Karl Barth betont wurde, dass die Ethik ein Teil der Lehre von Gottes Offenbarung ist. Bei Dussel wird umgekehrt die Ethik Grundlage der Theologie. Die Erfahrung von Transzendenz, von der in neuerer katholischer Theologie die Rede sei, sei als ganz konkrete Erfahrung zu verstehen. Sie besteht in dem Hören des Rufes „Ich habe Hunger!". Das Hören der Stimmen der Armen ist eine Voraussetzung dafür, dass die Offenbarung Gottes gegenwärtig ist. Die rechte Lehre der Kirche (Orthodoxie) ist im Verhältnis zu ihrem rechten Handeln (Orthopraxie) sekundär. Das Subjekt der rechten christlichen Praxis ist die Basisgemeinde, in der sich der Glaube in der Arbeit fur konkrete Befreiung auswirkt, d.h. Befreiung der Menschen von Armut, Gewalt und Unterdrückung. Die Ethik der Befreiungstheologie ist somit eine ganz konkrete Form der Gemeinschaftsethik. Ihre Grundlage ist, „ . . . aufzuzeigen, wer die Armen sind, wie sie in diese Situation geraten sind und auf welche Weise ihre A r m u t sich konkret zeigt. D a s ist die Voraussetzung, das Apriori, die erste Conditio sine qua non." (Dussel 1988, 231).
Dieser konkreten Vorstellung davon, was gute Taten sind, entspricht eine konkrete Vorstellung von der Sünde. Sie ist kein Zustand der Seele des Einzelnen, sondern eine Eigenschaft der Einrichtung der Gesellschaft. Es gibt eine real existierende, strukturelle Sünde.16
16 Die Verhältnisse in der dritten Welt sind ein Problem, das die Kirchen gemeinsam beschäftigt, die sog. ökumenische Bewegung also. Über ökumenische Sozialethik, vgl. Ellingsen 1993.
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Feministische Ethik Schon als Folge des Gedankens von der Befreiung des Menschen in der Aufklärung wurde in ethisch relevanter Weise daraufhingewiesen, dass auch Frauen Vernunftwesen sind und somit dieselbe Menschenwürde besitzen wie Männer (Mary Wollstonecraft 1792). Auch ein eigentliches theologisches Argument für die Gleichheit der Frau - ihre Teilhabe an der Gottebenbildlichkeit - findet sich schon recht früh (E. Cady Stanton 1895). Feministische Ethik als akademische Disziplin ist allerdings erst innerhalb der letzten zwei bis drei Jahrzehnte etabliert worden. Genauso wie die allgemeine Bezeichnung „Ethik" gegenwärtig sehr viele Positionen umfassen kann, trifft es auch für feministische Ethik zu, dass mit unterschiedlichen Stimmen geredet wird. Was eine gegebene ethische Auffassung als feministisch kennzeichnet, ist aber immer die Überzeugung, traditionelle Ethik sei um den Mann zentriert (androzentrisch), und dass demzufolge Frauen in moralisch unakzeptabler Weise ausgegrenzt würden. Feministische Ethiker - säkulare wie theologische - fühlen sich somit grundlegend verpflichtet, sich für das Wohl von Frauen einzusetzen. Der Ausgangspunkt feministischer Ethik ist somit das konkrete Leben von Frauen. Darüber hinaus gehört es zu den grundlegenden Einsichten feministischer Ethik, dass auch auf der Ebene des Symbolischen - des Denkens und der Sprache - eine moralische Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern stattfindet. Es werde das Männliche als Norm betrachtet, während das Weibliche ausgegrenzt werde, und diese Einteilung wirke sich auf die Moralvorstellungen aus. Es wird nicht nur in einer unglücklichen Weise zwischen männlicher Gerechtigkeit und weiblicher Fürsorge unterschieden. Oft wird sogar die Fürsorge ganz aus der Ethik verbannt, bestenfalls wird sie nur als Ergänzung zur Gerechtigkeit angesehen. Demgegenüber wird die Fürsorge (engl, care) als eines der ethisch bedeutsamsten Phänomene des menschlichen Daseins anerkannt. Dies geschieht jedoch in dem stetigen kritischen Bewusstsein, dass sich die Fürsorge-Rolle historisch (selbst)unterdrückend im Leben von Frauen ausgewirkt hat. Im Zusammenhang mit der Behauptung, auch Frauen seien ethische Subjekte, werden daher auch Autonomie und Gerechtigkeit als entscheidende moralische Ideale hervorgehoben.
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In feministischer Ethik aller Ausformungen spielt der Begriff „Erfahrungen von Frauen" eine entscheidende Rolle, und zwar sowohl methodisch hinsichtlich der moralischen Erkenntnis als auch in Bezug auf den Inhalt der Ethik. Das heißt nicht, dass etwas schon aus dem Grunde moralisch gut sei, dass es von Frauen hervorgehoben wird. Es heißt jedoch, dass, wenn etwas innerhalb einer ethischen Theorie als gut behauptet wird, es dies auch für Frauen sein muss. Ob geschlechtsspezifische Erfahrungen wie Schwangerschaft, Gebären und Kinderpflege Frauen Erkenntnisvorteile bringen oder einen besonderen moralischen Ausblick schaffen, ist eine unter feministischen Ethikerlnnen umstrittene Frage. Eine weitere Ressource feministischer Ethik ist der Begriff „Verkörperlichung" (engl, embodiment). Die Erkenntnis, dass wir mit unserem Körper in einer bestimmten Wirklichkeit sinnlich verankert sind, spricht gegen ein zu abstraktes, prinzipielles und universalistisches Verständnis von Ethik. Feministische Ausformungen von Ethik enthalten dementsprechend selten ahistorische Begriffsanalysen oder die Formulierung präziser Handlungsnormen. Eine weit größere Rolle spielen Reflexionen darüber, worin erfülltes Menschenleben besteht. Die amerikanische Theologin Beverly W. Harrison ist ein gutes Beispiel einer Ethikerin, für die der Schlüsselbegriff in Bezug auf das erfüllte Leben die Verantwortung ist. Der Rahmen ihrer Sozialethik ist ein schöpfungs- und befreiungstheologischer, da sie den Menschen als zur Gemeinschaft geschaffen ansieht, und zwar mit der Möglichkeit, sich zum Mitmenschen in zweierlei Weisen zu verhalten: entweder Liebe zu geben oder Liebe zurückzuhalten. Die Forderung nach Fürsorge, Verantwortung und Gerechtigkeit entspringt nach Harrison dieser Gegebenheit des Daseins: der Macht von Menschen, das Leben gegenseitig entweder zu erhalten oder zu zerstören. Die ethische Forderung, sich des Lebens des anderen anzunehmen, ist somit konkret und praktisch. Dass Frauen historisch und kulturell die engen menschlichen Beziehungen gezeugt und genährt haben, wird nach dieser ethischen Denkweise nicht als triviale Praxis angesehen, sondern im Gegenteil als moralische Befähigung. Eine andere prominente feministische Theologin, Rosemary R. Ruether, hat kritisch die negative Einschätzung der Frau, des Körpers und der Natur innerhalb der christlichen Tradition hervorgehoben.
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Gerade in einer Zeit, in der das Verhältnis zur Natur ein sich verschärfendes ethisches Problem darstelle, spitze sich die Frage zu, weshalb die Frau, der Körper und die Natur geringer geschätzt werden als der Mann, der Geist und die Kultur. Allzu oft, so Ruether, werde der Unterschied zwischen einem selbst und dem anderen mit dem Unterschied zwischen G u t und Böse vermengt, so dass nur das, was einem selbst gleicht, als gut angesehen wird. Die theologische Bezeichnung für diese Entstellung zwischenmenschlicher Beziehungen sei „Sünde", und die Folge aus ihr sei Entfremdung: von einem selbst als Leib, von dem anderen, von der nicht-menschlichen Natur und schließlich von Gott. Demgegenüber müsse die Anerkennung der Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit der Geschöpfe Ausgangspunkt der Ethik sein. Die Hervorhebung der Mannigfaltigkeit als moralisches Ideal fuhrt allerdings ein grundsätzliches Problem mit sich, indem es nicht möglich zu sein scheint, eine moralische Vision vom guten Leben des Menschen zu entwerfen, wenn nicht eine normative Grundlage gegeben ist. Einer theologisch fundierten Ethik kann die Frage nach dem Guten keine völlig willkürliche sein, denn Gottes Offenbarung im Menschen Jesus Christus hat auch über den Charakter des guten Lebens Aufklärung gegeben: Es ist ein Leben aufopfernder Liebe. Obwohl sich die theologische feministische Ethik einer theologischen Sprache bedient, hat sie mit der säkularen ein gemeinsames Anliegen. Es ist überhaupt eine offene Frage, ob die Gleichheiten zwischen säkularer und theologischer feministischer Ethik darauf beruhen, dass die Theologinnen aus säkularen Quellen schöpfen, oder ob umgekehrt auf der anderen Seite von einer Art säkularisierter Ethik der Nächstenliebe die Rede ist. Sowohl säkulare als auch theologische feministische Ethiker haben sich mit Phänomenen wie Gewalt in der Ehe, Armut und Rassismus auseinandergesetzt, und sie tragen damit zu einer Umgestaltung der sozialethischen Tagesordnung bei. Es kann auch als eine Besonderheit feministischer Ethik genannt werden, dass sie das demokratische Verständnis fördert, nach dem Ethik eine Form der Praxis sei, die sich sowohl am Küchentisch als auch am Katheder entfaltet. Dass jede Ethik grundsätzlich danach streben sollte, geschlechtlich sensibel zu sein, ist nicht nur eine Forderung nach Einbeziehung des Lebens von
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Frauen. Es ist auch ein Ausdruck fiir den W u n s c h , symbolisch-weibliche Vorstellungen u n d Lebensbereiche ethisch mehr zu schätzen.
Narrative Ethik D e r U m b r u c h , den Alasdair Maclntyre innerhalb der Moralphilosophie verursacht hat, ist auch in der theologischen Ethik einflussreich gewesen, vor allem in den U S A . Einer der deutlichsten Exponenten dieses Einflusses ist Stanley Hauerivas, einer der einflussreichsten protestantischen Ethiker der Gegenwart. Hauerwas macht den Versuch, die SchlüsselbegrifFe Maclntyres - T u g e n d , Gemeinschaft u n d nicht zuletzt Erzählung - fruchtbar zu machen. D i e T h e o l o g i e sollte, so Hauerwas, sich von d e m Gedanken einer universalen Ethik verabschieden, also der Vorstellung, es gebe Prinzipien für richtiges Handeln, die für alle Menschen Geltung hätten. Hauerwas lehnt die Auffassung ab, christliche Ethik sei im G r u n d e dasselbe wie eine allgemeine, „human e " Ethik, und das spezifisch Christliche bestehe nur in einer besonderen Motivation, diese Ethik zu verwirklichen. Seiner M e i n u n g nach bewirkt gerade die hier vorgenommene T r e n n u n g von H a n d l u n g u n d Motivation eine Entstellung des ethischen Lebens. Ethik sei nämlich in ebenso h o h e m M a ß e eine Frage der Eigenschaften einer Person - der Charakterzüge u n d der T u g e n d e n - wie eine Frage der Handlungen. D i e betreffenden Eigenschaften erwerben wir dadurch, dass wir bestimmten Gemeinschaften mit bestimmten Traditionen und Erzählungen angehören. Gerade für den christlichen Glauben trifft es nach Hauerwas zu, dass sein A u s g a n g s p u n k t die Zugehörigkeit zu einer bestimmten T r a dition ist. Der christliche G l a u b e hat seinen O r t in der Geschichte eines besonderen Volkes, u n d seine entscheidende Behauptung lautet, dass ein M e n s c h nur durch Erkenntnis eigener S ü n d e n Teil dieser Geschichte werden kann. D a s ist aber alles andere als ein universal gültiger Gedanke. Der bedeutendste Kontext einer christlichen Ethik ist Hauerwas zufolge der Z u s a m m e n h a n g zwischen G o t t , d e m Selbst und der Welt. Es ist die besondere A u f f a s s u n g dieser drei Größen, die die christliche Vorstellung v o m rechten Leben begründet. U n d die B e h a u p t u n g Hauerwas' lautet, von diesen drei Größen k ö n n e letzten Endes nur in Erzählungen geredet werden. Ausgangspunkt für christliches Handeln
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ist die Teilhabe des Selbst am Leben Gottes. Diese Teilhabe kommt dadurch zustande, dass sich das Selbst in Beziehung zur Geschichte Gottes bringt und es dadurch sein eigenes Dasein und das Universum als Geschenk ansehen kann. Gläubiger Christ zu sein heißt jedoch auch, Jünger Jesu zu werden, und auch dies kann nur dadurch geschehen, dass das Leben des Einzelnen und seine Geschichte einen Platz in der Geschichte Gottes erhalten. Die Geschichte Gottes kann jedoch nur dann die eigene Geschichte sein, wenn der Einzelne Teil der christlichen Gemeinschaft ist. Nach Hauerwas ist das Entscheidende der christlichen Ethik nicht primär ein Gebot, ein „du sollst", etwa ein in Prinzipien und Regeln spezifiziertes. Grundlegender ist die Art des Christen, die Welt zu sehen, in der er zu handeln hat. Die entscheidende Eigenschaft dieser Welt ist, von einem christlichen Blickwinkel her, die Tatsache, dass sie sich gegen Gott auflehnt. Aus diesem Grund ist das Christentum eine Erzählung von der Verwandlung des Selbst, seiner Transformation. Diese Verwandlung können wir nicht selbst vollziehen; die Sünde äußert sich gerade darin, dass wir versuchen, als die Autoren unserer eigenen Geschichte zu leben. Die von der Verwandlung veranlassten Handlungen sollen in der christlichen Gemeinschaft geformt werden und ihr dienen: ... Christen können nicht vorgeben, für jeden Ethik auszuüben. ... Christen müssen den Versuch machen, nichts Geringeres zu sein als ein Volk, dessen Ethik wie ein Leuchtturm andere erleuchtet und sie darüber aufklärt, wie das Leben gut gelebt werden sollte. (Hauerwas 1984, 34. Meine Übersetzung.).
Die christliche Gemeinschaft drückt sich in der Kirche aus. Beide sind zwar nicht identisch, denn die christliche Gemeinschaft ist das Reich Gottes, und von ihm ist die Kirche nur eine vorläufige Sichtbarmachung. Erst innerhalb der Gemeinschaft der Kirche wird die Bibel mehr als ein totes Buch. Die besondere Autorität der Bibel beruht darauf, dass sie die Quelle der die christliche Gemeinschaft formenden Erzählungen ist. Nur dank der Kirche kann auch von einer christlichen Sozialethik geredet werden. Die Kirche ist eine Gemeinschaft, die als Gegenbild zur Gesellschaft und zur politischen Ordnung dient. Während Letztere auf der Voraussetzung beruht, der Gebrauch von Gewalt
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und Zwang sei legitim, ist die Kirche als friedliche und gewaltlose Gemeinschaft charakterisiert. Nach Hauerwas kann wahre Gerechtigkeit durch Gewalt weder errichtet noch erhalten werden. Dieser Gedankengang macht deutlich, dass seine Auffassung von christlicher Ethik sich klar von derjenigen Reinhold Niebuhrs unterscheidet. Ethik der Postmoderne Die Philosophie der letzten Jahrzehnte wurde stark durch die Diskussion über die so genannte Postmoderne geprägt, und diese Diskussion hat auch die Theologie beeinflusst. „Postmoderne" ist allerdings eine vieldeutige Bezeichnung. Mit ihr kann gemeint sein: (1) Ein Zustand im Sinne von charakteristischen Merkmalen der Gesellschaft und der Kultur in einer bestimmten Epoche; etwa in diesem Sinne spricht der französische Philosoph J.-F. Lyotard (1924-1998) in seiner klassischen Darstellung (Lyotard 1979) von „la condition postmoderne". (2) „Postmodern" kann jedoch auch von einer philosophischen Position benutzt werden, also parallel zu „phänomenologisch" oder „hermeneutisch". In beiden Fällen beinhaltet die Bezeichnung natürlich eine Abgrenzung gegenüber der „Moderne", ebenfalls ein vieldeutiger Begriff! Lyotard findet in der Moderne einen Glauben daran, dass Wissen seine Überzeugungskraft, seine Legitimität jeweils aus einer „großen Erzählung" bezieht. Eine solche Erzählung ist der Gedanke der Aufklärung, dass sich der Mensch inmitten eines Emanzipationsprozesses befindet, der durch vernünftiges Erkennen und Handeln vorangetrieben wird. Lyotard zufolge zeichnet sich die Postmoderne demgegenüber durch das Aufgeben des Glaubens an ein allumfassendes Wissen aus. Wissen gebe es im postmodernen Zustand nur in der Form mannigfaltiger örtlicher Sprachspiele. Ein postmoderner Gedankengang beinhaltet somit ein Ablehnen der Behauptung, es gebe eine allen Menschen gemeinsame Vernunft, die imstande ist, eine allesumfassende Theorie und allgemeingültige ethische Prinzipien hervorzubringen. Weiter wird der Gedanke angezweifelt, die Sprache sei eine wahre Wiedergabe (Repräsentation) einer objektiven Wirklichkeit. Und schließlich wird die Annahme in Frage gestellt, der Mensch sei ein individuelles Subjekt, das dank der Vernunft und der Sprache imstande ist, die Welt zu beherrschen. Das Gegenbild der Postmoderne beinhaltet, dass sowohl das menschliche
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Subjekt als auch die Welt ein Produkt der Sprache seien und dass diese als fragmentarische Mannigfaltigkeit erscheine. Dass die Diskussion über die Postmoderne auch die Theologie beeinflusst hat, hängt mit dem Vorwurf an viele Formen gegenwärtiger Theologie zusammen, sie hätten die grundlegenden Annahmen der Moderne übernommen. Dieser Vorwurf ist an sich nicht neu; er stimmt in vielem mit der Kritik der dialektischen Theologie an der Liberaltheologie überein. Wenn von einer „postmodernen Theologie" die Rede sein kann, beruht das mit anderen Worten darauf, dass viele heutige Theologen das Gegenbild der Postmoderne geeignet finden, den Inhalt des Christentums auszudrücken. Laut postmoderner Theologie ist es verfehlt, das menschliche Subjekt, die Sprache und Gott als drei scharf voneinander getrennte Größen darzustellen. Gott sei nicht der transzendente Urheber der Bibel, sondern er habe sich in den Text inkarniert. Entsprechend sei der Mensch nicht ein isoliertes, getrenntes Subjekt, sondern ein Wesen, das im und vom Text lebe. (Vgl. Taylor 1984). Eine eingehende Darstellung einer postmodernen Ethik verdanken wir der amerikanischen Philosophin Edith Wyschogrod. Zwar betrachtet sie ihre Ethik nicht als eine theologische, aber da sie die Heiligen-Legende als Ausgangspunkt ihrer Darstellung wählt, kann diese Ethik als theologisch relevant gelten. Wyschogrod lehnt die Grundelemente der Auffassung von der Ethik in der Moderne ab: Die ethische Beziehung sei ein Verhältnis zwischen zwei gleichwertigen Subjekten, und das richtige Handeln bestehe in der Befolgung vernünftig einsehbarer allgemeiner Prinzipien. Eine solche Auffassung ist nach Wyschogrod fiir dasjenige Verhältnis zwischen Menschen zerstörend, welches den Kern der Ethik ausmacht. Dieses Verhältnis fasst sie vielmehr, Lévinas folgend, als eine einseitige (asymmetrische) Beziehung auf. Der andere Mensch bzw. der „Andere" soll mir nicht gleichgemacht werden, sondern ich soll einseitig fiir ihn da sein. Das einseitige Für-den-anderen-da-Sein gründet weder in einer vernünftigen Überlegung noch in einer emotionalen Identifikation (Empathie), sondern in einem leiblichen und sinnlichen Ausgeliefertsein an den anderen. Es ist eben dieses exponierte, verwundbare für-den-anderen-da-Sein, das von der Heiligen-Legende dargestellt wird. Es ist fiir Wyschogrod entscheidend, dass das ethische Handeln hier in der Form der Erzäh-
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lung dargestellt wird. Ihrer Meinung nach ist nämlich die Erzählung, im Unterschied zur Vernunft, fähig, zu altruistischem Handeln zu motivieren. (Vgl. Wyschogrod 1990). Die Ethik Wyschogrods ist ausgeprägt eine „Ethik der Nähe". Eine postmoderne theologische Ethik, die die Sozialethik umfasst, ist neuerdings vom englischen Theologen John Milbank skizziert worden. Das geschieht u.a. durch eine Ablehnung von Reinhold Niebuhrs „christlichem Realismus". Dieser ist nach Milbank lediglich eine Übernahme des modernen und liberalen Bildes von Menschen als abgetrennten Individuen, die nur durch vernünftigen Vertragsabschluss zu einer Gesellschaft vereinigt werden können. Nach Milbank gibt es jedoch keine neutrale soziale Wirklichkeit, die für Christen und NichtChristen gemeinsam wäre. Christen sehen vielmehr die Wirklichkeit im Lichte ihrer eigenen Erzählung, die u.a. beinhaltet, dass der auf Zwangsgewalt beruhende Staat von der friedlichen und überredenden Kirche abgelöst werden wird. (Vgl. Milbank 1997, besonders 233-254). Wie man sieht, stimmt Milbank in vielen Punkten mit Hauerwas überein. Beide veranschaulichen eine starke Tendenz gegenwärtiger Theologie, eine christliche Ethik im strengen Sinne zu befürworten, d.h. das Verknüpftsein des christlichen Handelns mit dem Christentum als besonderer Erzählgemeinschaft zu betonen. Literatur zu Kapitel 12 Ahlstrom, S.E. (1972)-.A Religious History oftheAmerican People. New Häven, London. Althaus, P. (1929): Leitsätze zur Ethik. Erlangen. Barth, K. (1942): Die kirchliche Dogmatik. Zweiter Band: Die Lehre von Gott. Zweiter Halbband. Zürich. Barth, K. (1970): Rechtfertigung und Recht. Christengemeinde und Bürgergemeinde. (Theologische Studien 104). Zürich. Brunner, E. (1932): Das Gebot und die Ordnungen. Entwurf einer protestantisch-theologischen Ethik. Tübingen. Daly, L.K. (ed.)(1994): Feminist TheologicalEthics. A Reader. Louisville. Dussel, E. (1988): Ethik der Gemeinschaft. (Bibliothek Theologie der Befreiung. Die Befreiung in der Geschichte). Düsseldorf. Ellingsen, M. (1993): The Cutting Edge. How Churches Speak on Social Ethics. Grand Rapids.
Literatur zu Kapitel 12
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Enzyklika Veritatis Splendor von Papst Johannes Paul II. an alle Bischöfe der katholischen Kirche über einige grundlegende Fragen der kirchlichen Morallehre: 6. August 1993. Hrsg.: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Bonn 1993. Furger, F. (1988): Einführung in die Moraltheolope. Darmstadt. Gustafson, J.M. (1978): Protestant and Roman Catholic Ethics. Prospects for Rapprochement. London. Gustafson, J.M. (1981): Ethics from a Theocentric Perspective. Volume One. Theology and Ethics. Chicago. Gustafson, J.M. (1984): Ethics from a Theocentric Perspective. Volume Two. Ethics and Theology. Chicago. Gustafson, J.M. (1996): A Sense of the Divine. The Natural Environmentfrom a Theocentric Perspective. Cleveland. Harrison, B.W. (1985): Making the Connections. Essays in Feminist Social Ethics. Boston. Hauerwas (1984): The Peaceable Kingdom. A Primer in Christian Ethics. London. Häring, B. (1963): Das Gesetz Christi. Moraltheolope. Dargestellt fur Priester und Laien. Bd. 1-3. Freiburg i. Br. Jonsen, A.R. & Toulmin, St. (1988): The Abuse of Casuistry. A History of Moral Reasoning. Berkeley, Los Angeles, London. Lovin, R.V. (1995): Reinhold Niebuhr and Christian Realism. Cambridge. Lyotard, J.-F. (1979): La condition postmoderne. Paris. Lagstrup, K.E. (1950): Kierkegaards und Heideggers Existenzanalyse und ihr Verhältnis zur Verkündigung. Berlin. Logstrup, K.E. (1961): Kunst ogetik. Kabenhavn Logstrup, K.E. (1968): Opger med Kierkegaard. Kabenhavn. Logstrup, K.E. (1989): Die ethische Forderung. 3. Unverä. Aufl. Tübingen. Milbank.J. (1993): Theology and Social Theory. Beyond Secular Reason. Oxford. Milbank, J. (1997): The Word Made Strange. Theology, Language, Culture. Oxford. Moeller, B. (1987): Geschichte des Christentums in Grundzügen. Göttingen. Murphy, N„ Kallenberg, B.J. & Nation, M.T. (eds.)(1997): Virtues and Practices in the Christian Tradition. Christian Ethics After Maclntyre. Harrisburg. Niebuhr, R. (1963): An Interpretation of Christian Ethics. San Francisco. »Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute« [Gaudium et spes], in: Vaticanum II. Vollständige Ausgabe der Konzilsbeschlüsse zusammengestellt von Konrad W. Kraemer. Osnabrück 1966. Praetorius, I. (1995): Skizzen zur feministischen Ethik. Mainz.
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Theologische Ethik im 20. Jahrhundert
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Kapitel 13. Abschließende Übersicht Im Vorhergehenden wurde eine Reihe von Positionen und Fragestellungen der Ethik vorgestellt. Das Ziel war, wie im einleitenden Kapitel angekündigt, grundlegende Züge theologischer und philosophischer Ethik in einem historischen Zusammenhang darzustellen. In diesem abschließenden Kapitel soll nun der Versuch unternommen werden, einen stärker systematischen Überblick zu geben über die Grundbegriffe und Grundprobleme der Ethik sowie über mögliche Grundauffassungen des ethischen Verpflichtetseins als solchem. In diesem Zusammenhang werden einige der im ersten Kapitel aufgestellten Problem- und Begriffsbestimmungen wieder aufgenommen und vertieft werden. Da es umstritten ist, ob theologische und philosophische Ethik einem einzigen gedanklichen Zusammenhang zugeordnet werden können, werde ich zunächst einen systematischen Überblick über die theologische zum einen und philosophische Ethik zum anderen geben. Abschließend werde ich dann die wichtigsten Möglichkeiten der gegenseitigen Zuordnung von theologischer und philosophischer Ethik erörtern.
13.1 Grundpositionen theobgischer Ethik Einleitend mag es nützlich sein, zwischen christlicher und theologischer Ethik zu unterscheiden. Unter christlicher Ethik verstehe ich die aus dem christlichen Glauben hervorgehende Auffassung von der rechten Handlungsweise. Theologische Ethik ist hingegen die systematische Reflexion über christliche Ethik und als solche Teil der theologischen Wissenschaft (vgl. Kapitel 1, S. 14). Im Folgenden werde ich vorwiegend den Versuch unternehmen, eine Übersicht über die Grundprobleme der theologischen Ethik zu geben. Das kann jedoch nicht unter gänzlichem Ausschluss der Unterschiede innerhalb der christlichen
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Ethik geschehen, indem ja z.B. konfessionelle Differenzen auch auf der Ebene der theologischen Ethik in Erscheinung treten. Christlicher Glaube versteht sich selbst als die Reaktion des Menschen auf Gottes Handeln ihm gegenüber. Das göttliche Handeln hat nun aber einen doppelten Charakter: Es ist teils Schöpfung des Universums und aller Menschen, teils Rettung derjenigen, die mit Gott durch Christus versöhnt sind. (Zu diesem Doppelcharakter siehe das Schema Kapitel 5, S. 97). Die beiden Aspekte des göttlichen Handelns sind innerhalb der Theologie sehr unterschiedlich aufgefasst und beurteilt worden. Diese Unterschiede kommen auch in der theologischen Auffassung christlicher Ethik zum Ausdruck. Die Unterschiede zeigen sich etwa in der Auffassung davon, wer das Subjekt christlicher Ethik ist. Als Subjekt kann der einzelne Christus-Gläubige angesetzt werden. Dies ist der Hauptgesichtspunkt bei Theologen wie Luther, Kierkegaard, Niebuhr und Logstrup, wobei bei Letzterem nur bedingt von christlicher Ethik die Rede ist. Als Subjekt kann man jedoch auch die Gläubigen innerhalb der christlichen Gemeinschaft ansehen. In diesem Falle ist von einer spezifisch christlichen Ethik die Rede, und eine solche findet sich beispielsweise bei Schleiermacher, Barth, Hauerwas und in besonderer Ausformung in der Befreiungstheologie. Die Bestimmung des Subjektes christlicher Ethik als christliche Gemeinschaft hängt natürlich mit einer Betonung davon zusammen, dass die Grundlage christlich-ethischen Handelns der spezifische Christus-Glaube ist. Ein zweiter Punkt, an dem sich die Unterschiede in der Auffassung christlicher Ethik zeigen, können wir die Domäne christlicher Ethik nennen. Hiermit ist derjenige Lebensbereich gemeint, in dem der Christ (vorwiegend) glaubt, seine ethischen Handlungen ausüben zu müssen. Als primären Bereich kann die christliche bzw. kirchliche Gemeinschaft angesehen werden. In diesem Sinne muss man die Konzeption christlicher Ethik bei Paulus deuten, nach der christliche Nächstenliebe in erster Linie Liebe zu den christlichen Brüdern (und Schwestern) ist. Im Zuge der Ausbreitung des Christentums wird die Domäne seiner Ethik erweitert, ohne dass der Gedanke von der christlichen Gemeinschaft jedoch seine Bedeutung für die Ethik einbüßt. Diese Annahme spielt eine wichtige Rolle in der Ethik Schleiermachers und Barths. Und in der gegenwärtigen Ethik finden wir den
Grundpositionen theologischer Ethik
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entsprechenden Gedankengang bei kommunitaristisch beeinflussten Theologen wie Hauerwas. Als Domäne christlicher Ethik kann natürlich auch die Welt oder die Menschheit als Ganzes angesehen werden. Hierzu ist allerdings ein Unterschied hervorzuheben. Die Welt kann von Christen als Gegenstand der Umwandlung in christliche Richtung aufgefasst werden. Eine solche Sichtweise ist naheliegend, wenn der Gedanke vom Reiche Gottes eine entscheidende Rolle innerhalb christlicher Ethik spielt. Wir sehen diese theologische Auffassung deutlich bei Schleiermacher, jedoch auch bei Barth. Die Welt kann aber auch als weltlich angesehen werden, so dass der Christ in ihr wirksam ist, nicht um sie in christliche Richtung umzuwandeln, sondern um zur Aufrechterhaltung ihrer Ordnung und Güte beizutragen. Diese Sichtweise hängt eng mit der Unterscheidung zwischen den beiden Regimenten zusammen, und sie ist innerhalb lutherischer Ethik grundlegend. Die erwähnten Unterschiede sind verbunden mit verschiedenen Auffassungen davon, ob der christliche Glaube eine partikulare oder eine universale Ethik beinhaltet. Diese Unterscheidung betrifft die Frage der Reichweite ethischer Verpflichtung hinsichtlich des ethischen Subjektes: Hat christliche Ethik nur für die Gläubigen Geltung, oder gilt sie in irgendeinem Sinne allen Menschen? Eine deutlich partikularistisehe Auffassung christlicher Ethik liegt dann vor, wenn die Ethik ausschließlich christologisch begründet und als Ethik der christlichen Gemeinschaft angesehen wird. Ein Christ kann dieser Sichtweise zufolge nicht erwarten, dass seine nicht-christlichen Mitmenschen in derselben Weise ethisch verpflichtet sind wie er selbst. Diese Position wird etwa von Hauerwas vertreten. Eine spezifisch christliche bzw. christologische Begründung der Ethik muss jedoch nicht notwendigerweise eine partikularistisehe Sichtweise mit sich fuhren. Wenn die Heilstat Christi als in dem Bund Gottes mit den Menschen gegründet gesehen wird, haben wir eine implizit universalistische Betrachtungsweise, da ja der Bund allen gilt und Christus die ganze Menschheit vertritt. Obwohl der Christ als ethisches Subjekt durch seine Zugehörigkeit zu einer besonderen Gemeinschaft gekennzeichnet ist, gibt es zwischen dieser und der übrigen Menschheit keine grundsätzliche Trennung. Es kann eher von Analogie geredet werden, so dass die christliche Ethik in der säkularen Welt
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ihre Entsprechung findet. Diese Konzeption haben wir bei Barth gefunden. Eine ganz andere Grundlage eines Universalismus innerhalb der christlichen Ethik findet sich im Gedanken vom natürlichen Gesetz als einer mit der Schöpfung gegebenen, ethisch verpflichtenden Instanz, die fiir alle Menschen Geltung besitzt und erkennbar ist. Die Unterschiede der theologischen Stellung zum natürlichen Gesetz haben Folgen für die Sicht auf das Verhältnis zur philosophischen Ethik. Zu dieser Problematik kehre ich unten zurück. Der Gedanke vom natürlichen Gesetz wird nicht von allen Theologen anerkannt, vielmehr lassen sich drei grundlegende Bewertungen davon unterscheiden. In der dialektischen Theologie besteht vorwiegend die Tendenz, den Gedanken abzulehnen, da man hier nicht mit einem Wissen um Gott und seinen Willen bei dem natürlichen Menschen ausgeht. Umgekehrt neigt jede so genannte Schöpfungstheologie dazu, christliche Ethik geradezu mit der Ethik des natürlichen Gesetzes gleichzusetzen und damit christliche Ethik als universell aufzufassen. Die ausgeprägteste Position dieser Art finden wir bei Logstrup, und zwar in seiner These, es gebe keine christliche Ethik. Eine dritte Auffassung vom natürlichen Gesetz beinhaltet seine Anerkennung bei gleichzeitiger Betonung dessen, dass die christliche Ethik der Nächstenliebe keine allgemeine, „natürliche" Ethik sei. Das ist die klassische lutherische Auffassung, die sich sowohl bei Luther selbst als auch bei Melanchthon findet. Nach ihnen ist christliche Ethik nicht mit der universalen Ethik des natürlichen Gesetzes identisch, aber doch mit ihr übereinstimmend.
13.2 Grundprobleme philosophischer Ethik Wie aus Kapitel 11 hervorgeht, ist die philosophische Ethik der letzten Jahrzehnte von lebendiger Diskussion und großer Mannigfaltigkeit geprägt gewesen. Es lässt sich deshalb schwer ein allgemein anerkannter Gesichtspunkt finden, von dem aus die wichtigsten Typen philosophisch-ethischer Auffassungen übersichtlich dargestellt werden können. Im Folgenden wähle ich als Ausgangspunkt die recht traditionelle Weise, wie man besonders innerhalb der analytischen Moral-
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philosophie Positionen und Probleme der Ethik präsentiert. Konkret bedeutet das, dass ich zunächst einige metaethische Fragen behandeln werde, um dann die verbreitetsten Typen normativer Theorien zu skizzieren. Metaethik Die wichtigsten Fragestellungen der Metaethik lassen sich in drei Gruppen einteilen, die wir als Probleme der Ontologie, der Epistemologie und der (rationalen) Begründung ethischer Beurteilungen kennzeichnen können. Die ersten beiden Problemgruppen lassen sich nicht scharf voneinander trennen, sondern können vielmehr vorteilhaft zusammen behandelt werden. In einem metaethischen Kontext sollen unter ontologischen Fragestellungen solche verstanden werden, die mit der Frage zu tun haben, ob wir uns in unserem ethischen Leben auf eine besondere Art der Realität beziehen. Gibt es so etwas wie moralische Gegenstände oder Sachverhalte? In Bezug auf die ontologische Fragestellung gibt es zwei Grundpositionen: ethischer Realismus und ethischer NonRealismus, wobei ethischer Realismus der Auffassung ist, es gibt eine Art ethischer Realität. Eine klassische Form des ethischen Realismus finden wir bei Piaton, insbesondere in der Gestalt seiner Lehre von der Idee des Guten. Diese Idee ist zum einen etwas, was das ethische Leben von Menschen bestimmt, und zum anderen hat sie eine besondere Realität, nämlich eine nicht-empirische. Um die Fragestellung der ethischen Ontologie zu präzisieren, mag es klärend sein, noch einmal zum Unterschied zwischen den Begriffen „das Gute" und „das Richtige" zurückzukehren.1 Die beiden Begriffe haben einen deutlich verschiedenen Inhalt, wenn man das Gute im nicht-moralischen Sinne definiert. Das Gute ist dann von der Wendung „es ist gut für ..." zu verstehen und bezeichnet also das, was ein Menschenleben zu einem guten Leben macht. Im Unterschied dazu bedeutet das Richtige das, was zu tun ist, sodass „richtig" vorwiegend eine Chararkterisierung von Handlungen ist. „Das Gute" kann aller-
1
Die gegenwärtige Diskussion über die beiden Begriffe ist sehr stark durch das klassische Werk Ross 1 9 3 0 bestimmt.
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dings auch mit „das Richtige" synonym sein: Wir können von einer guten Handlung reden, und dann haben wir es mit dem moralisch Guten zu tun. Wenn man nun Realist ist hinsichtlich des Guten, heißt das, dass man ein real existierendes Gutes annimmt, das eine Handlung richtig macht, entweder weil es durch die Handlung hervorgebracht worden ist, oder weil es sie in anderer Weise ethisch qualifiziert. Ein Beispiel des moralischen Realismus in diesem Sinn haben wir in der neueren Philosophie bei Scheler gefunden, der den Wert als grundlegende ethisch relevante Realität ansetzt. Der realistischen Auffassung zufolge müssen moralisch beurteilende Sätze den Charakter von Behauptungen haben. Wenn man nämlich sagt, „Die Handlung von P war moralisch richtig", meint man laut einem Realisten wie Scheler so etwas wie „Die Handlung von P hat den Wert x realisiert". Dieser Satz ist eine Behauptung und somit entweder wahr oder falsch ist. Das bedeutet für die moralische Epistemologie (Erkenntnistheorie), dass die moralische Beurteilung den Charakter einer Erkenntnis oder eines Wissens hat. Es besteht mit anderen Worten ein enger Zusammenhang zwischen dem ethischen Realismus und dem Kognitivismus, derjenigen Auffassung, dass zum ethischen Leben eine besondere Form des Wissens gehört. Der Kognitivismus war in der klassischen Ethik eine selbstverständliche Position, wie wir sie etwa bei Aristoteles und Thomas von Aquin finden. Wenn man hingegen die moralische Beurteilung den Gefühlen zuschreibt, wie es Hume und die logischen Positivisten tun, vertritt man eine nonkognitivistische Position. In der neueren Moralphilosophie ist das Problem des Kognitivismus an die Frage nach der Eigenart der Sprache der Ethik geknüpft. So betont etwa Hare, dass ethische Sätze keine Aussagen sind, sondern Vorschriften (Präskriptionen), und Vorschreiben heißt, eine nicht-konstative Redehandlung auszuführen. Auch der Präskriptivismus ist somit metaethisch gesehen eine non-kognitivistische Position. Es muss nun allerdings hervorgehoben werden, dass die Annahme eines moralischen Gefühls nicht notwendigerweise eine non-kognitivistische Position beinhaltet. Ob das der Fall ist, hängt natürlich von der jeweiligen Theorie über die Gefühle ab. Obwohl die verbreitetste Auffassung der Gefühle in der Philosophie die gewesen ist, dass Gefühle rein subjektiv sind, haben bedeutende philosophische Richtun-
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gen im 20. Jahrhundert, wie die Phänomenologie, die Kognitivität von Gefühlen behauptet. Eine Ethik, die auf der existenzial-phänomenologischen Sicht des emotionalen Weltverständnisses des Menschen aufbaut, kann somit sehr wohl kognitivistisch ausgeformt sein. In diesem Sinne kann man etwa die Ethik Legstrups deuten. Das Problem des Kognitivismus in der Ethik ist nicht gleichbedeutend mit der Frage, ob der Vernunft im ethischen Leben eine Rolle zuteil werden muss. Die Vernunft spielt hingegen eine entscheidende Rolle bei der dritten Gruppe der metaethischen Fragen, nämlich derjenigen der Begründung bzw. der Rechtfertigung (engl, „justification") von ethischen Beurteilungen. Ich konzentriere mich im Folgenden auf die Aspekte der Begründungsproblematik, die mit verschiedenen Begriffen von Vernunft und Rationalität zusammenhängen. Die traditionelle Auffassung der Vernunft besagt, sie ist die Fähigkeit einen gegebenen Satz durch Herleiten bzw. Schließen (Deduzieren) von anderen Sätzen (Prämissen) - letztendlich von so genannten Grundsätzen oder Prinzipien - zu begründen. Diese Auffassung haben wir in der klassischen Lehre des Aristoteles von den Syllogismen gefunden (vgl. Kapitel 2, S. 29). Dieser Auffassung zufolge gibt es sowohl eine theoretische als auch eine praktische Vernunft, die beide grundlegend dieselbe Begründungsstruktur haben. Wenn wir es mit der praktischen Vernunft zu tun haben, ist das Prinzip der Schlussfolgerung das Ziel, das wir durch unser Handeln erreichen möchten. Die praktische Vernunft ist also grundsätzlich eine zweckbezogene Vernunft. Die Unterschiede in der Einschätzung der Vernunft und ihrer Rolle bei der Begründung ethischer Beurteilungen beruhen nun weitgehend auf der jeweiligen Auffassung der praktischen Vernunft und ihrem Verhältnis zur theoretischen. In der klassischen Ethik etwa bei Aristoteles und Thomas von Aquin ist die Lehre von der praktischen Vernunft mit Kognitivismus und Realismus verbunden. Das Prinzip, aus dem die Vernunft die konkrete Handlung herleitet, ist das nicht-moralisch Gute im Sinne einer objektiven und erkennbaren Größe. Eines der Kennzeichen der Ethik der Moderne jedoch ist die immer deutlicher werdende Beurteilung des nicht-moralisch Guten als etwas Subjektives und Variables. Das Gute wird von den Interessen, Gefühlen und Wünschen des einzelnen Menschen her definiert. Hieraus resultiert die Tendenz, die
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praktische Vernunft als Vernunft des Eigeninteresses zu bestimmen, wie wir das etwa bei Hobbes und Adam Smith sehen. Eine derartige Vernunft kann zweifelsohne eine ethische Einstellung begründen, dann nämlich, wenn Menschen annehmen, es sei in ihrem Interesse, dass alle in einer bestimmten Weise handeln, z.B. durch das Einhalten bestimmter Normen. Eine solche Moralbegründung finden wir in den Vertragstheorien (dem Kontraktualismus). Eine andere Eigenschaft der Vernunft ist ihre Allgemeinheit, worunter teils ihre Fähigkeit zum Fällen allgemeiner Urteile (Urteile der Form „Von allen x gilt: ...") gemeint ist, teils ihre Gültigkeit für alle rationalen Subjekte. Auf die ethische Begründung bezogen bedeutet diese Eigenschaft, dass eine Handlung als begründet (und somit richtig) gelten kann, wenn sie für jeden in der gleichen Handlungssituation richtig ist. Diese Begründungsform wird, wie wir gesehen haben, Universalisierung genannt. Sie ist auf die eine oder andere Weise in Kants kategorischem Imperativ enthalten, der von ihm als einziges ethisches Grundprinzip behauptet wird. — Die Allgemeinheit der Vernunft zeigt sich den rationalen Subjekten auch als Möglichkeit von Konsens. Dies ist das entscheidende Merkmal der Vernunft laut der diskursethischen Auffassung von rationaler Begründung, wie sie von Habermas vertreten wird. Ein weiteres Kennzeichen von Rationalität ist Kohärenz. Aus der Sichtweise der Kohärenz ist eine Menge von Aussagen nicht deshalb rational, weil sie entweder Grundsätze sind oder von solchen hergeleitet sind, sondern weil sie eine widerspruchslose und inhaltlich zusammenhängende Ganzheit ausmachen. Dem „Kohärentismus" zufolge ist die klassische absolute Unterscheidung zwischen Grundsätzen und hergeleiteten Sätzen eigentlich irreführend. Sie ist Ausdruck eines „foundationalism", dem Glauben, es gäbe letzte Instanzen, auf denen alles Wissen und Handeln aufbauen könnten. 2 In der philosophischen Tradition waren die Kandidaten solcher Instanzen das klar und deutlich Eingesehene (Descartes), a priorische Formen der Erkenntnis (Kant) oder Sinnesdaten (Empirismus). Als eine Form von 2
Der erkenntnistheoretische und metaethische „foundationalism" darf nicht mit dem bibeltheologischen Fundamentalismus verwechselt werden, vgl. Kapitel 12, S. 280.
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„foundationalism" in der Ethik kann man Moore und Schelers Intuitionismus ansehen. Dem Kohärentismus zufolge gibt es wie gesagt keine solche letzten Instanzen, weder in der Wissenschaft noch im ethischen Leben. Das Kriterium für das Begründetsein einer Annahme ist also nicht, ob sie aus einer solchen letzten Instanz hergeleitet werden kann, sondern dass sie mit einer Menge anderer Annahmen einen systematischen Zusammenhang bildet. Die bekannteste Form des Kohärentismus in der Ethik ist John Rawls' Gedanke vom Gleichgewicht der Überlegung (reflective equilibrium). Die Rationalität der Kohärenz ist als solche eigentlich kein Ausdruck einer besonderen praktischen Vernunft. Sie ist eher eine Gestalt theoretischer Vernunft, die ihre praktische Relevanz durch die Anwendung auf ethische Sätze erhält. Normative Theorien Unter einer normativen ethischen Theorie versteht man eine zusammenhängende, systematische Auffassung davon, worin ethisches Handeln besteht, und wie seine Richtigkeit begründet werden kann (vgl. Kapitel 1, S. 9). Die Bezeichnung „Theorie" deutet an, dass eine zusammenhängende ethische Auffassung einen rationalen Charakter hat und mit wissenschaftlicher Theorie verwandt ist. Eine solche Denkweise wird jedoch von gegenwärtigen Positionen wie Tugendethik und postmoderner Ethik scharf zurückgewiesen. Ich werde trotzdem vom Begriff der normativen Theorie ausgehen, weil von ihm aus zwischen grundlegend verschiedenen Typen ethischen Denkens in der Philosophie unterschieden werden kann und von diesen Typenunterschieden auch ein Licht auf die „anti-theoretischen" Formen der Moralphilosophie fällt. Um denjenigen Unterschied innerhalb der ethischen Theorie zu verstehen, der viele Jahre hindurch als der grundlegendste angesehen wurde, müssen wir nochmals zur Unterscheidung zwischem dem Guten und dem Richtigen zurückkehren. Man kann nämlich sagen, der Unterschied besteht zwischen Theorien, die das ethisch Richtige ausschließlich anhand des nicht-moralisch Guten definieren - und Theorien, die eine solche Definition ablehnen. Dem ersten Typus von Theorien zufolge besteht das Richtige — das, was getan werden muss — ausschließlich im Verwirklichen oder
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Hervorbringen des nicht-moralisch Guten. Solche Theorien wurden oft teleologisch genannt, was besonders bei klassischen Positionen wie denen des Aristoteles und des Thomas sinnvoll ist. Hiernach ist ja das Gute ein vom Menschen anzustrebendes Ziel (ein Telos), und die richtige Handlungsweise besteht gewissermaßen im Vollziehen dieses Strebens. Im selben Maße, wie der Gedanke von einem dem Menschenleben vorgegebenen Ziel an Plausibilität eingebüßt hat, ist es jedoch problematisch geworden, von einer Teleologie in der Ethik zu reden. Stattdessen hat sich die Bezeichnung Konsequenzialismus eingebürgert, die neutraler eine Unterscheidung zwischen einer Handlung und ihrer Folge bzw. Konsequenz voraussetzt. Die bekannteste Variante des Konsequenzialismus ist zweifellos der Utilitarismus, dessen Grundbehauptung lautet, dass das Kriterium der Richtigkeit einer Handlung ist, ob sie die größtmögliche (maximale) Menge eines gegebenen Guten zur Folge hat. Verschiedene Ausformungen des Utilitarismus variieren aufgrund dessen, was sie als das hervorzubringende Gute ansehen. Bei Bentham ist der Utilitarismus hedonistisch, indem das in sich (intrinsisch) Gute von ihm als Lust bzw. Abwesenheit von Schmerz definiert wird. Nach Mill muss das Gute umfassender als „Glück" bestimmt werden, wobei qualitativ verschiedene Erfahrungen und Tätigkeiten inbegriffen sind. Als repräsentativer gegenwärtiger Utilitarist kann Hare angesehen werden, und ihm zufolge ist das Gute die Erfüllung von Präferenzen. Der Utilitarismus zeichnet sich durch einen hohen Grad an prinzipieller Einfachheit aus, da er nur ein einziges ethisches Prinzip annimmt, sodass die Richtigkeit einer jeden Handlung danach beurteilt werden kann, ob sie mehr als jede Alternative zum maximalen Glück bzw. zur maximalen Präferenzerfüllung beiträgt. Einer der vielen Einwände, die gegen den Utilitarismus vorgebracht worden sind, besagt, dass seine Einfachheit eben nur prinzipiell und theoretisch ist, da es konkret immer außerordentlich schwierig ist zu entscheiden, welche Handlung die optimale Konsequenz herbeiführt. Ein weiterer Einwand gegen den Utilitarismus lautet, dass, wenn zwei in einer gegebenen Situation mögliche Handlungen zu genau demselben Resultat führten, ein Utilitarist sie auch dann als ethisch gleichwertig beurteilen müsste, wenn die eine das Brechen eines Versprechens beinhalte. Der Einwand rührt von der These her, dass eben
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nicht nur die Fähigkeit einer Handlung, ein nicht-moralisches Gut hervorzubringen, über seine Richtigkeit entscheidet. Eine auf dieser These aufbauende Theorie kann man generell Nonkonsequenzialismus nennen Als Prototyp eines nonkonsequenzialistischen Ethikers wird normalerweise Kant betrachtet. Er vertritt die noch stärkere These, dass die Richtigkeit einer Handlung überhaupt nicht auf ihren Folgen beruht, sondern ausschließlich darauf, ob sie durch die Universalisierbarkeit der Handlung motiviert ist. Eine derartige Handlung ist nach Kant „aus Pflicht" ausgeübt, und man nennt daher nonkonsequenzialistische Theorien dieses Typus auch pflichtethische (engl, „ethics of duty") oder deontologische (vgl. oben S.58). Der Nonkonsequenzialismus vertritt oft die Behauptung, eine Reihe von Normen oder Prinzipien sind gültig, unabhängig davon, welche Konsequenzen ihre Befolgung hat. Beispiele solcher Normen sind „Man muss immer die Wahrheit sagen", „Man muss seine Versprechen halten" oder „Man darf keinen Unschuldigen töten". Gegen eine solche Normethik wendet der Utilitarist ein, dass immer Situationen denkbar sind, in denen es ethisch richtig ist, gegen eine gegebene Norm zu handeln. Und dem Utilitarismus zufolge ist es genau dann richtig, gegen eine Norm zu handeln, wenn dieses zu besseren Konsequenzen führt als das Befolgen derselben. Auf dem Gebiet der politischen Ethik ist das prominenteste Beispiel einer anti-utilitaristischen Theorie die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls. Diese beinhaltet, dass die beiden Prinzipien der Gerechtigkeit befolgt werden müssen, ungeachtet aller Konsequenzen. Um die Schwierigkeiten eines Prinzipienkonfliktes zu vermeiden, nimmt Rawls eine Rangordnung vor, sodass das Prinzip gleicher Freiheitsrechte immer Vorrang hat vor dem Differenzprinzip der Verteilung (vgl. oben S. 238). Es ist übrigens kein Zufall, dass die Theorie von Rawls die Rechte als zentrales Element enthält. Man kann nämlich sagen, dass zwischen der nonkonsequenzialistischen Position und dem Begriff nichtveräußerbarer individueller Rechte eine Affinität besteht. Nach konsequenzialistischer Denkweise gibt es keine Rechte, die nicht unter Berufung auf positive Folgen verletzt werden könnten. Diese Affinität gibt es auch bei Kant, dessen Verbot des Gebrauches eines anderen Menschen nur als Mittel implizit den Begriff des Rechts beinhaltet. Die dieses Verbot aussprechende Variante des kategorischen
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Imperativs beruht auf einem anderen typischen nonkonsequenzialistischen Begriff, nämlich dem der Menschenwürde. 3 Ethische Beurteilungen, die in Verbindung mit ethischen Theorien wie den bisher beschriebenen gemacht werden, können mit einem Ausdruck W. Frankenas deontische Urteile genannt werden. Sie sind Urteile darüber, wie wir handeln sollten. Neben diesen muss eine ethische Theorie Frankena zufolge auch die Grundlage bieten, so genannte aretaische Urteile zu fällen (von griech. arete: Tugend). Dies sind Urteile, in denen wir eine ethische Beurteilung von Personen und personenbezogenen Phänomenen wie Charakterzügen, Intentionen und Motiven vornehmen. In Verbindung mit solchen Urteilen kann das Wort „gut" eine besondere ethische Bedeutung haben, z.B. wenn wir sagen „Er ist ein durch und durch guter Mensch" (s. hierzu Kapitel 1, S. 5ff). Viele Tugendethiker der Gegenwart wie beispielsweise Maclntyre betrachten diese Art des ethischen Denkens als grundsätzlich verschieden von ethischen Theorien wie dem Utilitarismus und der kantischen Pflichtethik, und daher mit ihnen nicht vereinbar. Eine solche ausschließliche Trennung findet sich nicht bei Frankena. Er meint im Gegenteil, dass die Beurteilung der genannten personenbezogenen Phänomene einen notwendigen Teil ethischer Theorie ausmacht und sich komplementär zu denjenigen Auffassungen verhält, die den deontischen Beurteilungen zugrunde liegen. Eine ethische Theorie, die keine aretaischen Urteile umfasst, wird nach Frankena nicht normativ wirksam sein können, da sie die wichtige Frage der Motivation zur Moralität vernachlässigt. Ein Appell zum ethischen Handeln wird im Zuge einer solchen kombinierten Theorie sowohl mit Verweis auf Normen und Prinzipien als auch auf die Aktivierung von Tugenden geschehen.4
3
4
Zum Unterschied zwischen konsequenzialistischen und nonkonsequenzialistischen Theorien siehe die im Literaturverzeichnis genannten Beiträge von Davis und Pettit in Singer 1993. Dieser Band gibt überhaupt eine gründliche Ubersicht über den derzeitigen Stand der moralphilosophischen Problemlage. Zu den hier besprochenen Überlegungen siehe Frankena 1973, Kapitel 3 und 4.
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13.3 Theologische und philosophische Ethik Theologische und philosophische Ethik beziehen sich aufeinander auf der Ebene der Reflexion. Diese Beziehung ist deshalb wichtig, weil ihr auf der Ebene der moralischen Praxis das Verhältnis zwischen christlicher und säkularer Ethik entspricht. Die Zuordnung von theologischer und christlicher Ethik ist schon am Anfang dieses Kapitels vorgenommen worden. Wenn man nun mit Hegel der Ansicht ist, die Philosophie sei „ihre Zeit in Gedanken erfaßt" 5 , kann man dementsprechend sagen, die philosophische Ethik ist eine Reflexion über nicht-religiöse bzw. säkulare Ethik. Da wir in einer Zeit und einer Kultur leben, in denen religiöse und säkulare Ethiken nebeneinander existieren, muss es wichtig sein, sich darüber klar zu werden, auf welche Weisen theologische und philosophische Ethik einander zugeordnet werden können. Ich werde die wichtigsten Formen vorstellen, indem ich die Beziehung sowohl aus der Sicht der Philosophie als auch aus derjenigen der Theologie betrachte. Aus philosophischer
Sicht
Die Beziehung zwischen philosophischer und theologischer Ethik ist natürlich erst in dem Augenblick interessant, in dem ein klarer Unterschied zwischen den beiden besteht. Ein solcher Unterschied tritt erst mit der Moderne auf, und danach sind, wie wir gesehen haben, mehrere Auffassungen möglich. Es lässt sich behaupten, dass die ethische Theorie einer gegebenen Philosophie in Wirklichkeit eine Reformulierung der christlichen Ethik der Nächstenliebe ist. Es hat sich gezeigt, dass sowohl Kant als auch Mill diese Auffassung vertreten. Wir können somit feststellen, dass christliche Ethik in der Philosophie sowohl im Sinne einer deontologischen als auch einer konsequenzialistischen Theorie gedeutet worden ist. Die Philosophie kann auf neutralere Weise versuchen, die christliche Ethik durch ein Einordnen in ihre eigene Begriffswelt zu bestimmen. Das ist der Fall, wenn Philosophen wie Frankena christliche
5
So in der Vorrede zur Rechtsphilosophie, Hegel 1986, 26.
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Ethik als eine deontologische Theorie beschreiben, in der das götdiche Gebot der entscheidende Aspekt der Begründung ist („divine command theory"). Wenn man in der Moralphilosophie einen klaren Unterschied zwischen traditioneller und moderner Ethik annimmt, kann man behaupten, nur eine allgemein begründbare Ethik ist von einem philosophischen Gesichtswinkel her akzeptabel. Man wird dann christliche Ethik einem traditionellen, autoritären Ethik-Typus zurechnen und theologische und philosophische Ethik als miteinander unvereinbar betrachten. Eine derartige Tendenz findet sich in der ethischen Theorie Ernst Tugendhats. Dass allgemeine säkulare Ethik und religiöse Ethik nicht unbedingt als einander ausschließende Alternativen angesehen werden müssen, zeigt die revidierte Theorie der Gerechtigkeit von Rawls. Diese beinhaltet, wie wir gesehen haben, dass auf der politischen Ebene ein sich überschneidender Konsens zwischen ganz verschiedenen Weltanschauungen vorkommen kann, vorausgesetzt diese Anschauungen sind „reasonable". In den gegenwärtigen Formen der Moralphilosophie, in denen der Gedanke einer universalen Ethik mehr oder weniger klar aufgegeben ist, ist die Beziehung zwischen theologischer und philosophischer Ethik letztendlich unproblematisch. Praktizierte Ethik ist hier immer die Ethik einer partikularen Gemeinschaft, und es ist gleichgültig, ob diese Gemeinschaft eine religiöse oder eine säkulare ist. Aus theologischer Sicht
In Anbetracht der hohen Anzahl verschiedener theologisch-ethischer Positionen und der Mannigfaltigkeit ethischer Theorien in der Philosophie, kann es in der Theologie sehr viele Auffassungen von der Beziehung dieser beiden Formen ethischer Reflexion zueinander geben. Es soll nun nicht um die rein theoretischen Kombinationsmöglichkeiten gehen, sondern um Auffassungen, die relevant sind, weil sie dringende Probleme im Verhältnis von christlicher zu säkularer Ethik widerspiegeln. Bevor ich zu den relevanten Problemen komme, möchte ich eine Auffassung erwähnen, die meiner Meinung nach als theologische Extremposition betrachtet werden muss. Dies ist die Auffassung, dass sich philosophische Kriterien für eine wohlbegründete
Theologische und philosophische Ethik
321
ethische Theorie formulieren lassen, wonach anschließend zu fragen ist, unter welchen Bedingungen christliche Ethik diesen Kriterien entspricht.6 Ich betrachte diese Auffassung deshalb als Extremposition, weil sie den Gesichtspunkt der philosophischen Ethik schlicht voraussetzt und daher eigentlich nicht theologisch genannt werden kann. Im Folgenden soll es jedoch um Positionen gehen, die theologisch sind, da sie die christliche Ethik als Ausgangspunkt nehmen, um dann deren Verhältnis zur säkularen Ethik zu bestimmen. Ich grenze die Fragestellung weiter ein, indem ich mich auf mögliche Auffassungen von theologischer Seite über die Beziehung zu philosophischen Positionen beschränke, die eine allgemeine säkulare Ethik beinhalten. Wenn eine solche Annahme aufgegeben wird, ist die Beziehung zwischen Theologie und Philosophie im Grunde genommen belanglos, weil man sich auf philosophischer Seite mit dem ethischen Pluralismus abgefunden hat. Die Haltung theologischer Ethik zur Frage einer allgemeinen säkularen Ethik hängt sehr eng zusammen mit dem jeweiligen Verständnis des natürlichen Gesetzes. Man kann hier von einer Skala reden, an deren einem Ende sich die dialektische Theologie befindet, die eine jede Form natürlicher Theologie, also allgemein menschlicher Gotteserkenntnis bestreitet. Diese ablehnende Stellungnahme zur philosophischen Ethik haben wir am klarsten bei Brunner feststellen können. Hingegen ist der Sachverhalt, vielleicht anders als zu erwarten, etwas komplizierter bei Barth, was in der im Gedanken vom Bund implizierten Universalität begründet liegt. Am anderen Ende der Skala theologischer Einstellungen zur philosophischen Ethik befindet sich Logstrup. Ihm zufolge enthält das Christentum keine andere Ethik als diejenige des natürlichen Gesetzes. Das Gebot der Nächstenliebe ist mit der Forderung identisch, die als Folge der Verfassung der menschlichen Existenz laut wird. Dieser Gedanke Logstrups läuft auf eine existenzialphänomenologische Reformulierung des Gedankens von der lex naturalis heraus. Logstrup muss somit theologisch davon ausgehen, dass die Philosophie im Bereich der Ethik zu denselben Ergebnissen kommt wie die Theologie.
6
Dies ist die Position des schwedischen Lehrbuches Bexell, Grenholm 1997.
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Abschliessende Übersicht
Zwischen den beiden dargestellten Extremen befindet sich meiner Meinung nach der genuin lutherische Standpunkt. Luther selbst vertritt eine christliche Ethik in der Gestalt der im Christusglauben begründeten Ethik der Nächstenliebe. V o m Schöpfungsglauben ausgehend hebt er jedoch gleichzeitig die Realität des natürlichen Gesetzes hervor. Er geht mit anderen Worten davon aus, dass es eine allen Menschen geltende ethische Verpflichtung sowie ein allgemeines Wissen um den Inhalt dieser Verpflichtung gibt. Nach Luther wird das natürliche Gesetz in der Goldenen Regel zusammengefasst. Zwischen der christlichen Ethik der Nächstenliebe und der allgemeinen Ethik der Goldenen Regel gibt es nach Luther eine Übereinstimmung, jedoch keine strikte Identität. W e r sich heute der lutherischen Tradition verpflichtet fühlt, muss als Theologe der Philosophie mit der Hypothese begegnen, dass es zwar eine besondere christliche Ethik gibt, die im Gebot „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" zusammengefasst wird, dass aber dieser christlichen Ethik eine allgemeine, säkulare Ethik entspricht, die in der Regel „Was du wünschst, dass andere dir tun sollen, sollst du ihnen tun" zusammengefasst wird. Aus theologischer Sicht muss die Frage an die Philosophie somit sein, wie sie einerseits der Goldenen Regel einen zentralen Platz innerhalb der ethischen Theorie einräumen kann, und dies andererseits so tun kann, dass die Theorie mit der Nächstenliebe übereinstimmt. Es soll hier nicht der Versuch gemacht werden, diese Frage zu beantworten. Dadurch würden wir den Rahmen eines Lehrbuches sprengen. Literatur zu Kapitel 13 Bexell, G., Greenholm, C.-H. (1997): Teologisk etik. En introduktion. Stockholm. Davis, N. (1993): „Contemporary deontology", in: Singer 1993. Frankena, W. (1973): Ethics. Englewood Cliffs, N.J. Hegel, G.W.F. (1986): Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatsivissenschaft im Grundrisse. Frankfurt/M. Pettit, P. (1993): „Consequentialism" in: Singer 1993. Ross, W.D. (1930): The Right and the Good. Oxford. Singer, P. (Ed.) (1993): A Companion to Ethics. Oxford.
Personenregister Abraham 58, 78, 195-197 Aischylos 19 Althaus, P. 119, 259-261, 275, 304 Amos 56 Aristoteles 1-3, 7, 20, 21, 26-45, 57, 70, 72, 73, 81, 85-89, 98, 104, 105, 107, 114, 125, 132, 170, 183, 234, 240, 241, 251, 254, 312, 313, 316 Ashley, A. (Shaftesbury) 137 Augustin 79-85, 93 Austin, J.L. 229 Ayer, A.J. 226-229, 256 Barth, K. 262-267, 279, 282, 285, 296, 304, 308, 309, 321 Bauman, Z. 256 Bentham, J. 171, 316 Brunner, E. 267-272, 275, 276, 279, 304, 321 Bultmann, R. 69, 75 Burckhardt, J. 122, 140 Calvin, J. 95, 267 Chrysippos von Soloi 40, 44 Chrysostomos, J. 80, 84 Cicero 2, 122, 123, 138, 140, 214 Cleantes von Assos 40 Clemens von Alexandria 80, 84 Cohen, H. 222 Comtes, A. 222 Copleston, F. C. 90, 91, 93 Darwin, C. 28, 210, 214, 215, 221 Descartes, R. 127, 314
Dussel, E. 296, 304 Epictetos 41 Epikur 40, 45 Erasmus von Rotterdam 112, 113 Euripides 19, 197 Feuerbach, L. 222 Fichte, J.G. 178 Frege, G. 222, 223 Freud, S. 204, 210-212, 218, 221 Furger, F. 17, 288, 290-292, 305 Gadamer, H.G. 7 6 Gogh, V. Van 6 Gratian 89, 92 Grotius, H. 127 Gustafson, J . M . 17, 283-286, 291293, 305 Habermas, J. 232-236, 245, 256, 314 Hare, R. 228-233, 235, 252, 256, 312, 316 Harnack, A. von 78, 93 Harrison, B.W. 256, 298, 305 Hauerwas, S. 17, 300-302, 304, 305, 308, 309 Hegel, G.W.F. 158-161, 178, 208, 222, 319 Heidegger, M . 203, 246, 247, 254, 256, 305 Henrich, D. 127, 140 Heraklit 1 Hesekiel 57 Hitler, A. 134, 261
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Personenregister
Hobbes, T. 128-132, 134, 137, 143-145, 162, 163, 165, 172, 236, 314 Homer 19-21 Hooker, R. 163 Hume, D. 134-140, 145, 164, 312 Husserl, E. 222, 225, 232, 246, Hutcheson, F. 137, 164 Häring, B. 288, 289, 291, 305
140, 166,
171, 247
Jesaja 55, 56 Joachim von Fiore 134 Johannes Paul II 305 Justin 84 Justinian 77, 92 Kant, I. 26, 37, 134, 141-162, 174, 175, 178, 179, 184, 190-192, 194, 195, 198, 204, 207, 208, 214, 222, 226, 229, 233, 236, 238, 258, 314, 316, 317, 319 Karlstadt, A. 108 Kierkegaard, S. 178, 190, 192, 196, 198, 203, 222, 257, 277, 282, 305, 308 Kohlberg, L. 213, 221 Kopernikus, N. 141, 210 Kutschera, F. 9 Lévinas, E. 254-257, 303 Lipps, H. 140, 247 Locke, J. 162, 163, 176, 236 Lukas 61, 62, 66 Luther, M. 95-114, 116, 118-121, 125, 126, 131, 164, 168, 183, 187, 189, 198, 200, 218, 258, 261, 263, 266, 267, 269, 274, 275, 277, 308, 321 Lyotard, J.-F. 302, 305 Logstrup, K. E. 17, 18, 246-254, 256, 257, 272-279, 305, 308, 313
Machiavelli, N. 125-127, 140 Marcus Aurelius 41 Maclntyre, A. 17, 23, 46, 93, 131, 174, 177, 192, 203, 240-246, 254, 257, 268 Marx, K. 134, 222 Matthaeus 61, 62 Melanchthon, P. 113-117, 119 Milbank, J. 304, 305 Mill, J. 171 Mill, J.S. 168-177, 204, 224, 316, 319 Moeller, B. 17, 80, 305 Montaigne, M. de 127 Moore, G.E. 222-227, 229, 231, 257, 315 Moses 65, 108, 109 Natorp, P. 222 Niebuhr, R. 280, 281,283, 392, 304, 305, 308 Nietzsche, F. 204-210, 214, 216, 218, 221, 222, 241, 258, 262, 263 O'Donovan, O. 17, 82, 94 Panaitios von Rhodos 40 Pascal, B. 78 Paulus 61, 62, 68-74, 81, 91, 96, 109, 114, 180, 198, 266, 273, 308 Philo von Alexandria 83 Piaget, J. 213, 221 Pico della Mirandola 122-125, 140, 155, 156, 214 Platon 20-26, 28, 46, 83, 209, 311 Ramsey, P. 282, 283, 306 Rauschenbusch, W. 280 Rawls, J. 236-239, 243, 245, 254, 257, 287, 315, 317, 320 Reiter-Theil, S. 213, 221
Personenregister Rickert, H. 222 Ricoeur, P. 254, 257 Rorty, R. 244, 245, 257 Rousseau, J.-J. 127, 132-134, 140, 143-145, 150, 160, 165, 236, 267 Ruether, R.R. 298, 299, 306 Sartre, J.-P. 254, 257 Scheler, M . 225, 226, 257, 312, 315 Schelling, F.W.J. 178 Schleiermacher, F.D.E. 46, 178, 180, 184, 187, 190, 194, 203, 308, 309 Schräge, W . 63, 75 Schweitzer, A. 262, 306 Seneca 41, 44, 80 Shaftesbury, s. Ashley Singer, P. 17, 232, 256, 257, 318, 322 Smith, A. 162, 164-168, 171, 177, 217, 314 Soete, A. 52, 57, 58, 75 Sophokles 19, 21, 39 Sokrates 1, 21-24, 29
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Spencer, H. 215 Stanton, E.C. 297, 306 Solle, D. 294, 295, 306 Taylor, C. 245, 246, 257, 303, 306 Tempier, E. 85 Thaies 1, 19 Thomas von Aquin 83-85, 95, 98, 104, 114, 116, 143, 163, 220, 240, 263, 285, 286, 312, 313, 316 Tugendhat, E. 59, 256, 257, 320 Vaughn, K.I. 166, 167, 177 Vogel, C. 215-221 Weber, M . 116-119, 164 Wind, J. 2 1 7 Wittgenstein, L. 223, 229 Wollstonecraft, M . 297, 306 Wyschogrod, E. 303, 304, 306 Zenon von Kition 40 Zwingli, H. 95, 267
Sachregister Absurde, das 196 Abtreibung 3, 239, 240, 288, 292 Achtung 123, 152ff, 202, 213 Adiaphoron 42 Affekt 43 Agape 79 Allgemeines (Allgemeinheit) 37, 313 Allgemeinwohl 173 Alterität 255 Altruismus 216, 218 Analytische Philosophie 222, 232 Anerkennung 159 Angst 196 Anthropologie 11, 14, 15, 24, 28, 89, 113, 123, 158, 214 Anthropozentrismus (anthropozentrisch) 11, 263, 283 Antithesen 64, 67 Apathie 43f Apologet 78, 84 „Applied ethics" 10 Arbeit 80, 117f, 163, 194, 288 Arbeitsteilung 164 Argumentation 234 Askese 80 Ästhetiker 192 Aufklärung 297, 302 Authentizität 105, 195, 245f Autonomie 155, 156, 194, 212, 213, 268, 290, 297 Barmherziger Samariter 66 Barmherzigkeit 66, 67, 202 Basisgemeinde 296 Befreiung 132
Begründung 7 Beichte 285 Bergpredigt 64 Beruf 118, 194 Besonnenheit 25 Bibel 15, 293, 301 Bioethik 232 Böse, das radikale 158 Bürger 133 Bund 51f, 60, 84, 264, 282,309, 321 Calvinismus 118, 284 Charakterzug 248, 251f, 300, 317 Christentum 19, 157 Christlicher Realismus 280, 304 Christologisch 96 Christusgeschehen 69, 74 Darwinismus 215, 280 Dekalog 50f, 55, 65, 80, 101, 11 Off, 116 Dekonstruktion 209 Demokratie 239, 260, 292f deontologisch 204, 240, 252, 282, 316, 319 Deontische Logik 8 Determinismus (Determinist) 13,209 deterministisch 113, 149 Deus absconditus 113 Deus revelatus 113 Deutscher Idealismus 178 Dialektische Theologie 258, 294, 302, 310, 320 Differenzprinzip 238, 317 Diskriminierung 288 Diskursethik 232ff, 314
Sachregister Diskursethischer Grundsatz 235 „Divine Command Theory" 59 Dualismus 23, 28, 80 Egoismus 42, 137, 168, 172, 277 Ehe 79f, 107, 112, 182, 186, 188f, 194f, 248, 287f Eigenliebe (s. auch Selbstliebe) 36, 81, 82, 139, 164, 172, 183, 198 Eigeninteresse 129, 131, 168, 313 Eigennutz 166, 219 Eigentum 115, 163, 165 Eigentumsrecht 162 Emotivismus 226ff Entscheidung 249 Entscheidungstheorie 237 Entwicklungspsychologie 212f Epistemologie, ethische 312 Erfahrung 37 Eros 79 Erzählung 300f, 302, 303f Erziehung 221 Es 210f Eschatologie 62ff Ethik lf alttestamentliche 48ff biblische 47ff, 74, 76, 96, 121, 269 christliche 174ff, 185, 264, 269, 272, 280, 284f, 300, 304, 307f, 318, 320 deontologische 58 der Befreiung 295f der Nähe 255 deskriptive 7, 119, 212 feministische 297ff narrative 300ff neutestamentliche (bzw. des NT) 48, 60ff, 96 normative 9, 15 philosophische 14, 223, 268, 273, 31 Off, 318ff politische 253
327
-
prinzipielle 9 protestantische 116ff, 279ff, 293 säkulare 318, 320f teleologische 58 theologische 14, 186, 273, 307ff, 318ff theozentrische 283f Ethiker 192 Ethik-Kritik 204ff, 262 Ethische Forderung 248f, 251 Eudaimonia 39, 42, 148, 240 Evangelium 68f, 102, 291 Evolutionstheorie 214f, 284 Existenzialontologie 247 Existenzphilosophie 76 Existenztheologie 294 Fairness 237 Familie 132, 160, 170 Feindesliebe 68, 217 Fötus 232, 240 Forderung 274, 276ff, 297 Formalismus 151, 226 Fortpflanzung 34 Fortschrittsglaube 175 „Foundationalism" 314 Frau 73, 170
Freiheit 70, 105, 124, 128, 132ff, 144, I49f, 168, 182, 245, 287, 289, 291 negative 245, 246 positive 245 Freundschaft 32, 33ff, 43, 55, 81, 82 Frieden 128 Frömmigkeit 179 Frömmigkeitsgefühl 185 Fürsorge 297 Fundamentalismus 48f, 280, 314 Gebot 64, 65,79, 97, 99,102, 269ff, 290, 301 Gefühl 31, 44, 128, 155f, 179, 181, 226ff
328
Sachregister
Gehorsam 145, 265, 295 Geist 70, 159, 180, 186, 189, 193, 208 Geltungsanspruch 233, 235 Gemeinde 68, 71, 74, 266, 282 Gemeindeethik 71ff Gemeinschaft 38, 44, 68, 72, 87, 105, 115, 132, 159, 180, 183, 185f, 187, 197, 243ff, 253, 271f, 274, 287, 289, 297, 300f, 308f, 320 Gemeinwohl 287f, 289 Genetik 215 Gerechtigkeit 24, 32f, 35, 43, 44, 55ff, 83, 91, 102, 105, 116, 130, 183, 213, 236ff, 246, 255, 266, 281, 283, 288, 297 distributive 32, 238, 254 - Jahwes (Gottes) 57f kommutative 32 Geschichte 52 Geschlechtlichkeit 182 Gesellschaft 68, 72, 77, 87, 105, 117, 126, 132, I44f, 168, 215, 236, 244, 253, 265f, 275, 281, 287, 296, 301 Gesellschaftsvertrag 236 Gesetz 39, 44, 52, 56, 59, 64ff, 69f, 72, 81, 83, 86, 97fF, 103, 128, 145, 261, 265, 271, 274f, 282, 286, 291 natürliches 39, 45, 71, 79, 83, 203, 220, 262, 266, 272, 273, 282, 285f, 292, 309, 320f Gottes 57 positives 39 Gesetzesgerechtigkeit 268 Gesetz und Evangelium 101 ff, 259, 264, 269 Gesinnung 66, 67, 100, 172, 183 Gewalt 281, 301 Gewissen 38, 87, 110, 206, 286ff, 290, 292
Glaube 69f, 74, 98, 101, 103ff, 112, 195ff, 269, 276ff, 290, 295 christlicher 16, 308 Gleichheit 35, 42f, 73, 195, 199 Glück 153, 156f, 169, 171ff, 230, 252, 316 — höchstes 39 Gnade 91f, 96, 104, 113, 288 Goldene Regel 9, 67, 89, 109, 112, 116, 126, 130f, 153, 165, 219, 25 lf, 290f Gott 78, 81, 83, 86, 90, 96ff, 101, 176, 198f, 201, 294, 308 Gottebenbildlichkeit 60, 114, 286, 288f, 297 Gottesreich 63, 65, 133, 185, 266, 270f, 274, 280, 282, 301, 309 Gottesstaat 83 Gottheit 39f Grundrechte 289 Gut 86, 181, 21 lf, 241f gut 20, 21, 205, 223, 317 Gut, höchstes 40, 90, 157, 183 Gute, das l f , 3, 7, 25, 27, 37, 39, 4 l f , 4 4 , 4 5 , 81, 86, 88f,98f, 126, 129, 176, 223, 225, 232, 262, 269, 282, 290f, 311, 313, 315 Gut und Böse 22, 43f, 193 Gültigkeit 7 Güterlehre 181f Handlung 11, 29, 30, 88, 186 Handlungstheorie 232 Hausgemeinschaft 182 Hedonismus (hedonistisch) 45, 316 Heiliger Geist 185, 282 Heilshandlung 52, 68f Heilstat 63, 69, 70, 74 Hellenisierung 77ff, 83 Hermeneutik 76 Heteronomie (heteronom)156, 213 Homosexualität 53, 71, 90, 220 Humanismus 43, 121
Sachregister Humanität 139, 214 Humanitas 125 Ich 142, 2 1 0 f Idealbildung 253 Idealismus 26 Idee 23, 25 Identität 192, 197, 242f Ideologiekritik 294 Imitatio Christi 84 Imperativ 50, 74, 151, 194, 259 — hypothetischer 147 kategorischer l 4 7 f f , 152, 157, 191, 233, 314, 317 Indeterminismus 13 Indikativ 74 Individualethik 10, 173 Individuum 124, 131, 158f, 163, 168, 179, 182, 194, 210, 241 Industrialismus 171 Industriegesellschaft 170 Inkarnation 84 Institution 81, 248, 275 Intention 11, 167, 317 Intentionalität 225 Interdependenz 246ff Interesse 281, 313 Interpersonalität 253 Intuition 146, 224, 226, 231, 236, 238 Intuitionismus 222ff In-Vitro-Fertilisation 4 Ius talionis 53, 65 Judentum 83 Kantianismus 268 Kapitalismus 116f Kasuistik (kasuistisch) 53f, 271, 285 Kategorie 141 Katholizismus 263 Kirche 185f, 188, 267, 272, 285, 287, 301, 304 Klugheit 37, 148
329
Körper 163, 299 Kohärenz 314 kommunikativ 2 3 2 Kommunitarismus
(kommunita-
ristisch) 243ff, 308 Konsens 314 Kognitivismus 88, 226, 312f Konsequenz 12, 171 Konsequenzialismus (konsequenzialistisch) 240, 252, 315f, 319 Kontingentes 88 Kontraktualismus 131, 313 Kooperation Korrespondenztheorie 135 Kosmos 41 Kultur 211 Lasterkatalog 72 Leben, gutes 58 Lebensanschauung 239 Lebenswelt 232f, 235 Lebewesen 28, 39 Lehramt 285, 291 Leib 23 Leiblichkeit 80 Leidenschaft 21, 24, 43, 196 Leihmutterschaft 4, 231 Lex aeterna 84, 87 -
divina 84, 91 naturalis 71, 83ff, 92f, 108ff, 112, 113ff, 128, 261, 272, 274, 286, 321 nova 91 veta 91 Liberalismus 162ff, 243, 244f, 283, 288 Liberalismus, theologischer 280 Liberaltheologie 302 Liebe 33ff, 53ff, 81, 90, 108, 152ff, 183, 196, 201, 206f, 252f, 259, 269, 271, 286, 290, 299 -
brüderliche 189 Gottes 289
330
Sachregister
Liebesgebot, doppeltes 65, 82, 90, 96, 269, 290 Logischer Positivismus 226, 228 Logos 41, 84 Lust 29, 43, 45, 155, 230, 316 Macht 126, 130, 247f Märtyrer 79 Maschine 165 Materialethik 9 Materialismus 41 Maxime 148f Menschenrecht 128 Menschenwürde: s. Würde des Menschen Metaethik 7, 88, 222, 310ff Metaphysik 13, 15, 22, 23, 24, 209 metaphysisch 27, 41 Mikrokosmos 124 Mitleid 66 Mitte 31, 36 Moderne 105, 121ff, 141, 155, 185, 191, 204, 240f, 243, 245, 256, 302f, 313, 319 Monismus 41 Moral 2 Moralität 157, 159 Moralentwicklung 213 Moralreligion 157 Moraltheologie 284ff Motiv 12, 317 Motivationl 1, 100, 135, 291 Möglichkeit 27 Mut 25, 29 Nächste 54, 66f, 68, 111, 198, 272 Nächstenliebe 65ff, 70f, 74, 80f, 104, 107, 109, 112, 126, 154,174f, 198ff, 204, 207, 209, 214, 216f, 219, 259, 263, 271, 276ff, 280ff, 290, 308, 319, 321 Narrativität 242f Nation 187
Nationalität 182 Nationalstaat 260 Natur 1, 3, 11, 13, 28, 41, 42, 44, 71, 131, 142, 149, 154, 156, 180f, 186, 211, 220, 223f, 252, 271, 272, 289, 291, 299 Naturalismus 223, 226f Naturalistischer Fehlschluss 223f Naturrecht 266f Naturverständnis 60 Naturwissenschaft 8, 280, 284 Naturzerstörung 168 Naturzustand 128, 162 Neigung 24, 146, 191f Nepotismus 216 Nihilismus 207 Nonkonsequenzialismus 316 Norm 7, 9, 10, 49, 51, 68, 131, 145, 213, 216, 227f, 232f, 235, 248, 25 lf, 274, 277, 279, 287 Normativität (normativ) 48, 63, 66, 74, 137 Objekt, ethisches 96, 130, 172 Objektiv 138 Obrigkeit 105, l l l f , 182, 187, 261 Obrigkeit, weltliche 106, 189, 273 Offenbarung 258, 263f, 266, 270, 296 Offenbarungstheologie 264 Oikeiosis 42 Oikonomia 107 Ontologie (ontologisch) 254, 311 Ordnung 107, 112, 168, 187, 194f, 211, 259, 269, 27lf, 281, 295, 308 Paradox 196f Paränese 72 Partikularistisch 265, 309 Partikuläres 37 Paternalismus 132 Patriotismus 244
Sachregister Performativ 229 Person 11, 107, 151, 163, 265, 287f, 289, 290, 317 Persönlichkeit 181, 193 Pflicht 146, 154, 183, 240, 283 Phantasie 295 Phänomen 25 Phänomenologie 222, 225, 252, 254 existenziale 246 Philosophia moralis 2 Phronesis 37f, 39 Piatonismus 141 Pluralismus (pluralistisch) 4f, 320 Poiesis 30 Polis 38, 132, 160, 170 Politia 107 Politik 38 Postmoderne (postmodern) 302ff, 315 Potenzialität 27 Praxis 30, 37 Prädestination 113 Präferenz 230, 237, 316 Präferenzutilitarismus 230, 232, 245 Präskriptiv 137 Präskriptivismus 228ff Prima facie Regel (Norm) 231, 232 Prinzip 8, 9, 114, 116, 25 lf, 269, 271, 301f Proportionalität 32 Protestantismus 95, 117, 185, 279, 293 Prudentia 37 Pränatale Diagnostik 7, 9 Psyche 210 Psychoanalyse 210f, 221 Psychotherapie 221 Radikalisierung 67 Rationalisierung 117, 164 Rationalität 228ff, 243 Ratschlag 79 „Rational choice" 237
331
Realismus 226, 311, 313 „Reasonableness" 237 Recht 72, 117, 128, 131, 144, 171, 174, 187, 260, 266, 283, 317 der Natur 108 kanonisches 92 natürliches 129 römisches 44 Rechtfertigung 69, 103, 266, 268 Reflexivität 233 Reformation 95, 127, 188 Regel 7, 147f Regiment 309 geistiges 106 - weltliches 105ff Reich Gottes: s. Gottesreich Reichtum 80 Relativismus 22, 48, 268, 292 Religion 156, 181, 183, 239 Religionskritik 204 Religionsphilosophie 16 Renaissance 121 ff Ressentiment 206, 209 Resignation 196 Respekt 201 Revolution 188 Reziprozität 67 Richtige, das 2, 311, 315 Rollentausch 231, 233 Romantik 178, 245 Ruf 272 säkularisiert 4 Sakrament 285 Satz, deskriptiver 6 Schmerz 29, 43, 45 Schöpfer 86, 96, 97f, 101 Schöpfung 7 1 , 8 4 , 2 6 4 , 2 7 0 , 3 0 8 , 3 1 0 Schöpfungsethik 272ff Schöpfungsglaube 59f, 321 Schöpfungsordnung 107, 194, 259ff, 267, 273f, 278ff, 295 Schrift 185, 293
332
Sachregister
Schuld 99, 249f, 275f Schuldgefühl 207 Seele 13, 23, 28, 41 Selbst 250 Selbstbestimmung 125, 132, 155, 246 Selbstbewusstsein 142, 158f, 178f, 182, 186 Selbsterhaltung 127, 132 Selbstliebe 201 Selbstlosigkeit 214 Selbstmord 44, 80, 288, 292 Selektion 214f Seligpreisungen 63 Sein 246 Sexualität 80 Sexualmoral 221 Sinnlichkeit 189 Sittlichkeit 159f Situation 269 Skeptizismus 22, 268 Sklave 36, 43, 73, 170 „Social Gospel" 280 Solidarität 245, 289 Sophist 21 Souveräne Daseinsäußerung 250f, 274 Sozialdarwinismus 215 Sozialethik 10, 139, 173, 175, 215, 253, 281, 283, 297, 301, 304 Soziallehre 287, 289 Sozialwissenschaft 237, 294 Soziobiologie 214fF Sprache 228f Sprachspiel 229 Sprechakt (Sprechhandlung) 102, 229, 234f Staat 24, 38f, 44, 72, 83, 91, 117, 125, 130f, 160, 163, 182, 186, 206, 237, 244, 260, 267, 287, 289, 304 Sterbehilfe 288 Stoa 20, 40ff
Stoiker 19 Strafe 187 strategisch 232 Subjekt 141, 186, 209, 212, 241, 243, 244, 249, 255, 302f ethisches 50, 60, 70, 96, 103, 129, 153, 172, 204, 220, 282, 297, 308f Subjektiv 138 Subjektivität 178ff Subsidiarität 289 Sünde 69, 70, 81, 92, 93, 101, 116, 186, 283, 286, 296, 299 Sündhaftigkeit 268, 275, 281 Summum bonum: s. Gut, höchstes Syllogismus 29, 114, 313 praktischer 29, 234 System 167 Taufe 70 Tausch 165 Techne 30 Technik 165 Technologie 3, 167 Teleologie (teleologisch) 27, 86f, 204, 315 Tertius usus legis 111, 117, 272 Theoria 39f Theorie, ethische 9, 81, 315ff Tier 11, 129f, 154, 172 Tierschutz 172 Tod 44, 45, 69 Todesstrafe Todsünde 92, 292 Tötungsverbot 53, 232, 240 Tora 52 Tradition 16, 243, 300 Transzendentalphilosophie 141 Transzendentalpragmatik 234 Triebverzicht 211 Tugend 30ff, 33, 36, 42, 44, 81, 82f, 91f, 105, 126f, 146, 183f, 241 ff, 251, 295, 300, 318
Sachregister christliche 189 intellektuelle 30, 37f moralische 30, 38 theologische 82 Tugendethik 241, 315, 317f Tugendlehre 183 Über-Ich 210f Umwelt 11, 291 Umweltprobleme 253 Umweltethik 284 Ungehorsam 107 Unglück 171 Universalisierbarkeit 150, 191, 316 Universalisierung (Universalisieren) 198, 229f, 314 Universalisierungsgrundsatz 233f, 235 Universalismus (universalistisch) 139, 309 Universell 265 Universum 124 Unsichtbare H a n d 166 Unsterblichkeit 24 Untertan 133 Usus civilis legis 105 Usus politicus legis 105 Usus theologicus legis 101 Urteilskraft 37 Utilitarismus (utilitaristisch) 139, 171ff, 208, 219, 224, 238, 268, 282, 315f, 317 Verantwortlichkeit 220, 290 Verantwortung 12, 59, 60, 167, 172, 255, 289, 297 Verfahren 235 Vergebung 275f, 279 Vergeltung 53, 187 Vernunft 24f, 28, 29, 36, 40, 42, 93, 108, 116, 122, 125, 130f, 134f, 138, 141, 149, 179f, 186, 194, 302, 304, 312f
333
-
praktische 8, 29, 37, 87f, 114, 143, I45ff, 313 theoretische 8, 37, 114, 142f, 313 Vertrag 128f, 182, 2 0 6 Vertragschließung 165, 304 Vertragstheorie 127, I43ff, 313 Vertrauen 259 Volk 182, 187, 259f Wahl 192 Wahrheit 135, 210, 291 Wahrheitsanspruch 6 Weisheit 25, 39f Weltgesellschaft 38 Wert 123, 205, 208, 225f, 311 Wertethik 225f Werturteil 6 Wesensschau 225 Widerspruchsatz 87 Wille 29, 81, 86, I 4 6 f Wille, freier 12f Wille zur Macht (Machtwille) 207f, 210, 262 Willensfreiheit 86, 112f Wirkungsgeschichte 76, 81 Wissenschaft 39 Wohlstand 164 Wohlwollen 33, 36, 115, 139, 153, 204 Wohltun 36, 154, 200, 204 Wort Gottes 102 Würde des Menschen 122f, 125, 151, 155, 174, 214, 283, 287, 297, 317 Zehn Gebote: s. Dekalog Ziel 27, 29, 37, 86 Zölibat 79f, 218 Zweck 147, 150ff Zwei-Reiche-Lehre 110, 261, 265, 273
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