Einführung in die arabisch-islamische Philosophie 9783495807866, 9783495487501


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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Spricht die Philosophie arabisch?
1.1. Die arabisch-islamische Philosophie im Weltkontext
1.2. Die Interkulturalität der arabisch-islamischen Philosophie
1.3. Propädeutik zur Genese der arabisch-islamischen Philosophie
2. Theologie und Philosophie: die Entstehung des Kalam
2.1. Rationalismus wider Dogmatismus: Die mu’tazilitische Schule
2.2. Die spekulative Dialektik der Ash’ariten
2.3. Grammatik versus Logik, der hermeneutische Streit
3. Hauptmerkmale und Vertreter der arabisch-islamischen Philosophie
3.1. Al-Kindi und die Aneignung des griechischen Denkens
3.2. Al-Farabi, Begründer der arabisch-islamischen Philosophie
3.3. Miskawayh, Tawhidi und die humanistische Ethik
4. Blüte des philosophischen Denkens im Mashriq
4.1. Die Naturphilosophie von Abu Bakr al-Razi
4.2. Die Psychologie und Anthropologie von Ibn Sina (Avicenna)
4.3. Al-Ghazalis Weg von der Skepsis zur Mystik
5. Fortsetzung der arabisch-islamischen Philosophie im Maghrib
5.1. Ibn Bajja und das Erwachen der Individualität
5.2. Erkenntnis und Wahrheit bei Ibn Tufail
5.3. Ibn Ruschd (Averroes) und der Averroismus
6. Von der rationalen Mystik zur Theosophie
6.1. Die Schule der Illumination (Ishrāq) von Suhrawardi
6.2. Die Lehre von der ›Einheit des Seins‹ bei Ibn ’Arabi
6.3. Das Fortleben der Theosophie bei Mulla Sadra
7. Geschichte und Erneuerung
7.1 Ibn Khaldûn und die Entstehung der Geschichtswissenschaft
7.2. Bruch und Kontinuität: Debatte um Reform und Moderne
7.3. Zeitgenössische Kritik und Selbstkritik
Ausblick
Bibliographie
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Einführung in die arabisch-islamische Philosophie
 9783495807866, 9783495487501

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Mohamed Turki

Einführung in die arabisch-islamische Philosophie

B

https://doi.org/10.5771/9783495807866 .

Mohamed Turki Einführung in die arabisch-islamische Philosophie

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495807866 .

Die hier vorgelegte Einführung in die arabisch-islamische Philosophie gibt einen kurzen Einblick in die Entstehung und Entwicklung des arabisch-islamischen Denkens. Sie zeigt seine tiefen Wurzeln sowie die wechselseitige Durchdringung von griechischer Philosophie, islamisch-spekulativer Theologie und mystischer Erleuchtungslehre. Sie geht ferner über die klassische Periode des Mittelalters hinaus und knüpft an das philosophische Denken der Gegenwart an, um die aktuellen und für dieses Denken relevanten Probleme wie das Verhältnis von Tradition und Moderne, Identität und Aufklärung anzusprechen. Damit erschließt sie einen weniger beachteten Bereich der Philosophiegeschichte und leistet zugleich einen Beitrag zur interkulturellen Philosophie.

Der Autor: Prof. Dr. Mohamed Turki, Studium der Philosophie, Romanistik und Soziologie an der Universität Münster in Westfalen, lehrte Philosophie an verschiedenen Universitäten in Deutschland (Bremen, Kassel, Frankfurt a. M.) und Tunesien. Arbeitsschwerpunkte: Existenzphilosophie, Blochs Utopie und arabisch-islamische Philosophie. Zahlreiche Veröffentlichungen in arabischer, französischer und deutscher Sprache.

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Mohamed Turki

Einführung in die arabisch-islamische Philosophie

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495807866 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: © evenfh – iStock Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48750-1 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80786-6

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Meiner interkulturellen Familie ist dieses Buch gewidmet.

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Inhalt

Vorwort 1. 1.1. 1.2. 1.3.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Spricht die Philosophie arabisch? . . . . . . . . . . . . . Die arabisch-islamische Philosophie im Weltkontext . . . Die Interkulturalität der arabisch-islamischen Philosophie Propädeutik zur Genese der arabisch-islamischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 21 25

2. Theologie und Philosophie: die Entstehung des Kalam . . 2.1. Rationalismus wider Dogmatismus: Die mu’tazilitische Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Die spekulative Dialektik der Ash’ariten . . . . . . . . 2.3. Logik versus Grammatik: der hermeneutische Streit . . Merkmale und Vertreter der arabisch-islamischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Al-Kindi und die Aneignung des griechischen Erbes 3.2. Al-Farabi als Begründer der arabisch-islamischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Miskawayeh, Tawhidi und die humanistische Ethik

31

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39 44 47

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51 55

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59 71

3.

4. 4.1. 4.2. 4.3.

Blüte des philosophischen Denkens im Mashriq . . . . . Die Naturphilosophie des Abu Bakr ar-Razi . . . . . . Psychologie und Anthropologie bei Ibn Sina (Avicenna) Von der Skepsis zur Mystik: Al-Ghazali . . . . . . . .

. 78 . 82 . 90 . 102

7 https://doi.org/10.5771/9783495807866 .

Inhalt

5.

Fortsetzung der arabisch-islamischen Philosophie im Maghrib . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Ibn Bajja (Avempace) und das Erwachen der Individualität 5.2. Erkenntnis und Wahrheit bei Ibn Tufail (Abubacer) . . . 5.3. Ibn Ruschd (Averroes) und der Averroismus . . . . . . .

111 115 121 129

6. 6.1. 6.2. 6.3.

. . . .

145 153 159 166

7. Geschichte und Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1. Ibn Khaldûn und die Entstehung der Geschichtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2. Bruch und Kontinuität: Debatte um Moderne und Reform 7.3. Zeitgenössische Kritik und Selbstkritik . . . . . . . . .

172 177 186 200

Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

217

Von der rationalen Mystik zur Theosophie . . . . . . Die Schule der Illumination (Ishrāq) von Suhrawardi Die Lehre von der ›Einheit des Seins‹ bei Ibn ’Arabi . Das Fortleben der Theosophie bei Mullah Sadra . . .

Bibliographie

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Vorwort

Vor dreißig Jahren nahm ich mit meinem damaligen Doktorvater Prof. Heinz Hülsmann und dem Kollegen Prof. Ram Adhar Mall – dem späteren Mitgründer und Vorsitzenden der Gesellschaft für interkulturelle Philosophie – an der Vorbereitung und Durchführung einer Ringvorlesung über die »drei Geburtsorte der Philosophie« im Seminar der philosophischen Fakultät der Universität Münster teil. Die Veranstaltung war ein Novum in der Geschichte der deutschen Institute für Philosophie; denn es war selten, dass irgendein philosophischer Fachbereich an den deutschen Universitäten der fernöstlichen oder der arabisch-islamischen Philosophie überhaupt eine Aufmerksamkeit im Rahmen der Philosophiegeschichte schenkte. Diese Aufgabe wurde meistens den Ostasien-Instituten und Orientalisten oder Islamwissenschaftlern überlassen. Wir hatten damals über die »drei Geburtsorte der Philosophie«, namentlich China, Indien und das antike Griechenland, sowie den arabisch-islamischen Raum im Mittelalter gesprochen. Der Zweck dieser gemeinsam geführten Vorlesung war, eine neue Lektüre der Philosophiegeschichte zu bieten, die die bisher geltende eurozentristische Vorstellung von dem einzigen Ursprungs-Ort der Philosophie, namentlich Griechenland als »Nabel der Philosophiewelt«, zu relativieren, ja sogar zu überwinden. Wir versuchten dabei neue Perspektiven herbeizuführen, die die vorherrschende »Froschperspektive« bezüglich der Entstehung und Entwicklung der Philosophie aufheben sollten. Denn, wie meine vorher genannten Kollegen in ihrem später erschienenen Werk über Die drei Geburtsorte der Philosophie China – Indien – Europa ausdrücklich betonten, sind »die logoï spermatikoï verstreut über alle Kulturen und Gesellschaften. Erst zusammen weisen sie auf das namenlose Eine der ewigen Wahrheit hin. Die eine Philosophie, die philosophia perennis, »transzendiert und steht hinter

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Vorwort

mannigfachen Gestalten des Philosophierens« 1. Diese Ringvorlesung war in gewisser Weise die Geburtsstunde der interkulturellen Philosophie. Sie hatte bereits das Programm, das von der »Gesellschaft für interkulturelle Philosophie« seit zwei Jahrzehnten in Angriff genommen wurde, nämlich »die Philosophie im interkulturellen Vergleich« zu reflektieren, versuchsweise antizipiert. Mit diesem Schritt und durch diese Zielsetzung wird zweifellos ein neues Verständnis für die Philosophiegeschichte angestrebt. Es soll dem Denken ermöglicht werden, sich nicht bloß in einem bestimmten kulturellen Rahmen zu bewegen und sich damit ständig in Abgrenzung von und zu anderen Kulturkreisen zu behaupten, sondern vielmehr die diesem Denken durch Vorurteile oder gar durch einen Absolutheitsanspruch suggerierten Grenzen zu sprengen und sich stets neu zu orientieren. Kant zeigt uns bereits den Weg im Hinblick auf die abendländische Metaphysik. Er fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit, wie das Denken sich orientieren sollte. 2 Uns geht es aber heute, angesichts der von der »technologischen Formation« erzeugten und von der Globalisierung vollzogenen räumlichen Annäherung, um die kulturelle und speziell um die philosophische Begegnung, die uns erlaubt, über die bestehenden Grenzen hinaus zu schauen und anders zu reflektieren, damit wir uns besser im Denken orientieren können. Ein Blick über den Raum der abendländischen Philosophie hinaus wird uns auch mit Sicherheit helfen, andere Horizonte zu erschließen und in einen interkulturellen Dialog bzw. Polylog zu treten. Zu den von Hülsmann und Mall bereits genannten drei Geburtsorten der Philosophie China, Indien und Griechenland gehören zweifellos andere Kulturräume wie der babylonisch-iranische, der ägyptische und der arabisch-islamische Raum, in denen die manichäische, die neuplatonische und die peripatetische Philosophie wie auch die Sufimystik entstanden und sich entfaltet haben. Was speziell den arabisch-islamischen Kulturraum anbetrifft, gilt schon als historische Tatsache, dass vom 8. bis zum 14. Jahrhundert eine Begegnung zwischen griechischer Philosophie und Wissenschaft einerseits, jüdischer und islamischer Mystik andererseits stattfand. Diese letztere war auRam Adhar Mall / Heinz Hülsmann, Die drei Geburtsorte der Philosophie, China – Indien – Europa, Bonn: Bouvier Verlag 1989, S. 13. 2 Immanuel Kant, Was heißt, sich im Denken orientieren? In: I. Kant, Werke in 12 Bänden. Band 5, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1977, S. 265–285. 1

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Vorwort

ßerdem von indischer und persischer Weisheitslehre beeinflusst. Aufgrund dieser Begegnung und »dank des neuplatonischen Vokabulars war es möglich geworden, die zwischen Aristotelismus und Platonismus sowie dem jüdischen, christlichen und muslimischen religiösen Denken bestehende Kluft zu überbrücken« 3, wie es der algerische Islamwissenschaftler Mohammed Arkoun treffend formulierte. Die hier vorgelegte Einführung in die arabisch-islamische Philosophie soll nun einen Einblick in die tiefe und wechselseitige Durchdringung von griechischer Philosophie, islamisch-spekulativer Theologie und mystischer Erleuchtungslehre werfen und somit einen Beitrag zur Philosophiegeschichte aus interkultureller Perspektive leisten. Sie will aber auch über die klassische Periode des Mittelalters hinausgehen und an das philosophische Denken der Gegenwart anknüpfen, um die aktuellen für dieses Denken relevanten Probleme miteinbeziehen. Dadurch soll auch eine Lücke in der einschlägigen Literatur zur Geschichte der Philosophie in deutscher Sprache geschlossen werden, da bis vor kurzem keine nennenswerten Monographien veröffentlicht wurden. 4 Glücklicherweise hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten die Situation in diesem Forschungsbereich völlig verändert. Eine ganze Reihe von Handbüchern, Studien und Monographien zur arabischislamischen Philosophie ist inzwischen erschienen. Sie hat zum größten Teil die bisher entstandene Lücke geschlossen und den deutschen Lesern wertvolle Beiträge geliefert. 5 Dennoch bleibt, wie im weiteren 3 Mohammed Arkoun, Der Islam, Annäherung an eine Religion, Heidelberg: Palmyra Verlag 1999, S. 147. 4 Im Unterschied zur englischen und französischsprachigen Literatur fehlte es im deutschen Sprachraum an solchen Arbeiten, die der arabisch-islamischen Philosophie gewidmet wurden. Einige Ausnahmen bildeten jedoch die Bücher von Gotthard Strohmaier, Denker im Reich der Kalifen, Köln: Pahl Rugenstein Verlag 1979; W. Montgomery Watt / Michael Marmura, Die islamische Philosophie des Mittelalters, in: Der Islam, Bd. II, Politische Entwicklungen und theologische Konzepte, Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 1985. 5 In der zeitlichen Folge sind inzwischen diese Werke veröffentlicht: Wolfgang Günter Lerch: Denker des Propheten. Die Philosophie des Islam, Düsseldorf: Patmos Verlag 2000; Ulrich Rudolph: Islamische Philosophie Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München: C. H. Beck Verlag 2004; Geert Hendrich: Arabisch-islamische Philosophie, Geschichte und Gegenwart, Frankfurt / New York: Campus Verlag 2005; Heidrun Eichner / Matthias Perkams / Christian Schäfer (Hrsg.): Islamische Philosophie im Mittelalter. Ein Handbuch, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2013; Hamid Reza Yousefi, Einführung in die islamische Philosophie, eine Geschichte

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Vorwort

Verlauf dieser Schrift zu verfolgen ist, die interkulturelle Dimension trotz der Fülle von Literatur abwesend. Insofern fällt dieser Einführung auch die Aufgabe zu, dieser Frage nachzugehen und die interkulturelle Verbindung zwischen dem antiken Denken und der arabisch-islamischen Kultur einerseits sowie zwischen diesem Kulturerbe (Turath genannt) und der abendländischen Philosophie der Gegenwart andererseits herzustellen. So findet ein ›Dialog der Kulturen‹ statt anstelle des bisherigen Ausschlusses im Namen eines universalen Anspruchs, der im Westen gern erhoben wird. Doch »der gewünschte universale Diskurs über die Moderne und ihre Zukunft kommt allen Bekenntnissen von seiner Notwendigkeit zum Trotz nur mühselig in Gang« 6, worauf Geert Hendrich zu Recht hinweist. Aber, um ihn weiter zu zitieren: »Solange wir unsere potentiellen Gesprächspartner mit ihren spezifischen Sichtweisen, ihren eigenen Kontexten und Motivationen nicht wahrnehmen, kann auch kein Dialog zustande kommen.« 7 Es ist also an der Zeit, diesen Schritt zu unternehmen und den Dialog ernsthaft in Gang zu setzen. Sicherlich fällt es in einer solchen Einführung schwer, alle philosophischen Ansätze und deren Vertreter zu erfassen, geschweige denn sie gebührend zu behandeln. Viele interessante Denker und deren Konzepte bleiben daher leider unberücksichtigt, weil es sich hier bloß um einen Einstieg in eine reiche und vielschichtige Geschichte des Denkens handelt, deren philosophische Wurzeln ebenso aus der eigenen arabisch-islamischen Tradition wie auch aus der fremden Geisteskultur schöpfen. Aber die vielen Hinweise in der begleitenden Literatur werden manche fehlende Informationen decken. Außerdem wird auf Details in Bezug auf manche behandelte Fragestellungen, die die Fachleute besonders interessieren, wie auch auf die Verwendung diakritischer Zeichen bei der Transkription der arabischen Namen des Denkens von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014. Mittlerweile interessiert sich auch der Felix Meiner Verlag in Hamburg immer mehr für diesen Bereich und bringt in der Reihe ›Philosophische Bibliothek‹ einige grundlegende Texte der klassischen arabisch-islamischen Philosophie heraus, und der Schwabe Verlag erneuert die frühere Auflage des von Friedrich Überweg herausgegebenen Grundrisses der Geschichte der Philosophie mit einer vierbändigen Auflage zur Philosophie in der islamischen Welt. Der erste Band Philosophie in der islamischen Welt / 8.–10. Jahrhundert, hrsg. von Ulrich Rudolph ist bereits in Basel 2012 erschienen. 6 Geert Hendrich, Islam und Aufklärung, Der Modernediskurs in der arabischen Philosophie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004, S. 7. 7 Ebd.

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Vorwort

und Begriffe verzichtet. Ein ausführliches Literaturverzeichnis wird am Ende dieser Arbeit dem Leser als weiteres Hilfsmittel zur Verfügung stehen. Zuletzt möchte ich mich bei meiner Frau und bei meinem Freund Markus Kneer für die Lektüre und Korrektur des Manuskriptes sowie bei Herrn Lukas Trabert für die Publikation des Buches beim Verlag Karl Alber herzlich bedanken.

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1. Spricht die Philosophie arabisch?

Die hier gestellte Frage ist nicht bloß rhetorisch zu verstehen. Sie impliziert bereits ein bestimmtes Vorverständnis im hermeneutischen Sinne, dass die Philosophie nicht unbedingt arabisch spricht oder es doch tut. Dies lässt sich zumindest einigen Aussagen bedeutender Denker aus der Geschichte der abendländischen Philosophie entnehmen. Zu diesen gehören gerade Namen, die zuerst am wenigsten mit dieser Fragestellung zu verbinden wären, wie etwa Hegel, Nietzsche oder Bloch. So ist beinahe unverständlich, dass ausgerechnet der Mentor des deutschen Idealismus, der die Geschichte der Philosophie nicht linear, sondern vielmehr dialektisch als Prozess einer Selbstbewusstwerdung des Menschen und der Gattung auffasst, ein solches Urteil fällt. Hegel formuliert es in seinen ›Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie‹ folgendermaßen: »Wir können von den Arabern sagen: ihre Philosophie macht nicht eine eigentümliche Stufe in der Ausbildung der Philosophie; sie haben das Prinzip der Philosophie nicht weiter gebracht […] Sie haben kein höheres Prinzip der sich bewussten Vernunft aufgestellt. Sie haben kein anderes Prinzip als das der Offenbarung – ein äußerliches.« 8

Mit anderen Worten: Die Philosophie hat sich in der arabisch-islamischen Welt weder heimisch gefühlt noch sich entwickelt und kann deshalb nicht arabisch sprechen. Sofern sich die Araber damit befasst haben, sind sie nicht weiter gekommen in der Entfaltung des philosophischen Denkens. Sie blieben einfach auf der Stufe der Offenbarung stehen. Zweifellos würden manche Forscher heute noch diesem Urteil zustimmen angesichts des immer stärker auftretenden islamischen Fundamentalismus, der gerade der Philosophie sehr skeptisch gegen-

G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Theorie-Werkausgabe, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1972, Bd. 19, S. 17–18.

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1. Spricht die Philosophie arabisch?

übersteht, ja sie sogar vehement bekämpft. Doch umso befremdender erscheint die Hegel’sche Aussage, wenn sie mit anderen Äußerungen aus denselben Vorlesungen verglichen wird. So schreibt Hegel etwas weiter: »Der Besitz an selbstbewusster Vernünftigkeit, welcher uns der jetzigen Welt angehört, ist nicht unmittelbar entstanden und nur auf dem Boden der Gegenwart gewachsen, sondern es ist wesentlich in ihm, eine Erbschaft und näher das Resultat der Arbeit, und zwar der Arbeit aller vorhergegangenen Generationen des Menschengeschlechts zu sein.« 9

Trotz dieser offenen Bekundung für eine, würde man heute sagen, ›interkulturelle Sichtweise‹ avant la lettre, wird dennoch ausdrücklich der arabisch-islamischen Philosophie keinerlei eigenständige oder gar schöpferische Tätigkeit beigemessen, geschweige denn, dass sie am Prinzip der Ausbildung der Philosophie teilhaben konnte. Deshalb scheint es für Hegel folgerichtig zu sein, wenn er erklärt: »Das Orientalische ist aus der Geschichte der Philosophie auszuschließen« 10, und damit meint er zunächst nicht nur die arabisch-islamische, sondern ebenso die chinesische und indische Philosophie; denn »die eigentliche Philosophie beginnt im Okzident. Erst im Abendland geht diese Freiheit des Selbstbewusstseins auf, das natürliche Bewusstsein in sich unter und damit der Geist in sich nieder.« 11 Mehr darf dieser Aussage nicht hinzugefügt werden. Dennoch, was hier als Paradox erscheint, ist die Tatsache, dass Hegels Äußerung gerade zu einem Zeitpunkt fällt, an dem die Tür zum Orient durch die Aufklärung geöffnet wurde und das abendländische Denken im Zuge dieser Begegnung sich interkulturell bereichert hat. Man braucht nur an Goethe und seinen »West-östlicher Diwan« zu denken, oder an Alexander von Humboldt, der in den Arabern »vollends die Retter der abendländischen Bildung und Kultur« 12 sah, um die hier aufgeworfene Frage positiver zu beantworten. Aber solche Vorurteile müssen zunächst ausgeräumt werden, bevor auf die oben gestellte Frage, ob die Philosophie arabisch spricht oder nicht, eingegangen wird.

Ebd., S. 21. Ebd. 11 Ebd. 12 Felix Klein-Franke, Die klassische Antike in der Tradition des Islam, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980, S. 14. 9

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16 https://doi.org/10.5771/9783495807866 .

1. Spricht die Philosophie arabisch?

Es gehört anscheinend zum Repertoire einer ›reduktiven Hermeneutik‹, derer sich manche westliche Denker aus unterschiedlichen Gründen bedienen, die besonderen Beiträge anderer Kulturen innerhalb der eigenen Kultur nicht zu würdigen oder abzuwerten, als ob solche Elemente den Wertgehalt dieser Kultur vermindern würden. Vor allem in der Komparatistik geht man oft von einem eurozentristischen Wertmaßstab aus, der wiederum als allgemein gültig vorausgesetzt und auf die zum Forschungsobjekt herangezogene Kultur angewandt wird, sei es, um diese zu widerlegen, oder nur um den besonderen Wert der eigenen Kultur zu bekräftigen. Das lässt sich an vielen Beispielen aus der Literaturwissenschaft und Orientalistik verdeutlichen, wir können es z. B. an Ernest Renans Beschäftigung mit der arabischen Philosophie sehen. Schon in der Einleitung zu seinem Buch ›Averroès et l’averroïsme‹ weist Renan bereits darauf hin, dass »die arabische Philosophie sicherlich ein wesentliches Faktum innerhalb der Annalen des menschlichen Geistes darstellt […]. Doch man muss von vornherein schon resignieren. Aus ihrer Forschung ergibt sich kein nennenswertes Ergebnis, das die Philosophie der Gegenwart zu ihrem Vorteil aufnehmen könnte, außer dem historischen Ergebnis selber. Es ziemt sich nicht, dass wir von der semitischen Rasse irgendwelche Abhandlungen über Philosophie verlangen […] Die Philosophie war bei den Semiten niemals anders als eine rein äußere Anleihe ohne größere Wirkung, eine Nachahmung der griechischen Philosophie.« 13

Diese Aussage deckt sich, wie man sieht, weitgehend mit der vorhin erwähnten Hegel’schen Ein- bzw. Abschätzung. Nun gibt es aber andere, positive Meinungen bezüglich der Rezeption arabisch-islamischer Philosophie, die dieser einen gebührenden Stellenwert zugestehen und uns in der Überzeugung stärken, eben doch die Frage zu bejahen, dass die Philosophie auch arabisch spricht. Zu den bedeutendsten Denkern zählen Nietzsche und Ernst Bloch. Im ›Antichrist‹ drückt Nietzsche seine Trauer um die verlorene Islam-Kultur in Spanien folgendermaßen aus: »Das Christentum hat uns um die Ernte der antiken Kultur gebracht. Es hat uns später um die Ernte der Islam-Kultur gebracht. Die wunderbare mauri-

Ernest Renan, Averroès et l’averroïsme. Essai historique, Paris: éd. Calman Lévy 1882, S. VII.

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1. Spricht die Philosophie arabisch?

sche Kultur-Welt Spaniens, uns im Grunde verwandter, zu Sinn und Geschmack redender als Rom und Griechenland wurde niedergetreten« 14.

Offensichtlich hat Heidegger diese apologetische Aussage bei seiner Nietzsche-Lektüre übersehen, als er behauptete, die Philosophie spreche nur griechisch und deutsch. Als einer der wenigen Philosophen der Gegenwart hat sich Ernst Bloch mit dem arabisch-islamischen Erbe des Mittelalters befasst und es aus einer materialistischen Perspektive untersucht. Sowohl in seinem Buch ›Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz‹ als auch in seinem im Anhang erschienenen Aufsatz ›Avicenna und die aristotelische Linke‹ verweist Bloch auf die Bedeutung der arabisch-islamischen Philosophen, insbesondere auf Ibn Sina (Avicenna) und Ibn Rushd (Averroes), bei ihrer Auslegung des aristotelischen Materie-Begriffs. Er sieht in deren Interpretation »den Merkund Wendepunkt« für die moderne Auffassung von Materie. Bloch kommt zu dem Schluss, dass mit den vorhin genannten Denkern jene pantheistische Linie vorgezeichnet wurde, die »von Aristoteles nicht zu Thomas führt und zum Geist des Jenseits, sondern zu Giordano Bruno und der blühenden Allmaterie. Eben Avicenna ist in dieser Linie einer der ersten und wichtigsten Merkpunkte, zusammen mit Averroes; ein lang vergessener frisch erneuter Blick auf Materie steht zur Frage.« 15 In dieser offenen Bekundung bewegt sich der Blick bei Bloch in der Betrachtung der arabischen Philosophie anders als in der vorhin genannten Tradition. Die Überlappungen der kulturellen Einflüsse werden nicht verschwiegen oder gar missdeutet, sondern gezielt hervorgehoben und weisen zugleich auf ein differenziertes Urteil hin. Hier geht es eigentlich nicht mehr um eine »reduktive Hermeneutik«, die nach den Worten von Ram Adhar Mall »eine bestimmte Geschichtsphilosophie, eine bestimmte Teleologie, ein bestimmtes Denkmuster an den Anfang stellt, diese wiederum verabsolutiert, und dem zufolge das Problem des hermeneutischen Verstehens mit dem Übertragen der eigenen sedimentierten Verstehensstrukturen

Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli & Mazzino Montinari, Berlin: de Gruyter Verlag 1999, Bd. 6, § 60, S. 249. 15 Ernst Bloch, Avicenna und die aristotelische Linke, in: Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1972, Anhang, S. 481. 14

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1. Spricht die Philosophie arabisch?

auf das Fremde verwechselt« 16. Vielmehr soll das Verstehen die Philosophie in ihrer Besonderheit und Vielfalt, aber auch in ihrer gesamten Entwicklung erfassen, wie es schon Schelling in seiner ›Philosophie der Kunst‹ forderte, ohne dass man sie jedoch auf ein absolutes System zurückzuführen braucht. Diese letzten Bestandsaufnahmen, die das arabisch-islamische Kulturerbe in ein positives Licht rücken, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Islamforschung, die hauptsächlich in der westlichen Hemisphäre betrieben wird, keine immanente und wertfreie wissenschaftliche Zielsetzung verfolgt, sondern oft ideologisch behaftet und interessengebunden ist. Deshalb führen manche Interpretationen zwangsläufig zu einer eindimensionalen Betrachtungsweise der geschichtlichen und kulturellen Entwicklung des philosophischen Kulturgutes. So konzentrierte sich beispielsweise die Orientalistik für lange Zeit auf die Untersuchung der Einflüsse der klassischen Antike auf den Islam und weniger auf die eigentümlichen Errungenschaften des Wissens in diesem Kulturraum. Dabei war die Suche nach Spuren antiker Philosophie innerhalb der islamischen Kultur bedeutender als die Fragen, wie und weshalb dieses Fortleben vonstatten ging und warum die Kontinuität der philosophischen Tradition gewährleistet wurde. Den Grund für diese Haltung hat Wolfgang Günter Lerch treffend formuliert, als er sagte: »Von einer eigenständigen Philosophie im Islam war indes noch immer kaum die Rede, sondern nur von einer – wenn auch verdienstvollen – arabischen Vermittlung des antiken philosophischen Erbes an das aufstrebende Europa.« 17 Doch »diese überholte Ansicht konnte nur um sich greifen und sich mehr und mehr verfestigen, weil bis weit in unser Jahrhundert hinein die geistesgeschichtliche Einordnung solcher Sachverhalte von Eurozentrismus, vom Gefühl einer uneingeschränkten und sozusagen ›natürlichen‹ Überlegenheit der westlich-christlichen Kultur geprägt gewesen ist.« 18 Eine grundlegende und bahnbrechende Kritik am Bild der Orientalistik, welches meistens von Projektionen der eigenen Wunsch-

Ram Adhar Mall, Philosophie im Vergleich der Kulturen, Bremen: Bremer Philosophica 1992, S. 37. 17 Wolfgang Günter Lerch, Denker des Propheten, Die Philosophie des Islam, Düsseldorf: Patmos Verlag 2000, S. 11. 18 Ebd., S. 18. 16

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1. Spricht die Philosophie arabisch?

vorstellungen und von eurozentristischen Vorurteilen geprägt war, leistete Ende der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts Edward Saïd in seinem Buch mit dem symbolhaften Titel Orientalismus. 19 Ihm kommt, wie Maxime Rodinson betont, das Verdienst zu, »die Ideologie des Orientalismus, insbesondere des französischen und englischen Orientalismus, im 19. und 20. Jahrhundert und ihre Verwurzelung in bzw. Verflechtung mit den jeweiligen wirtschaftlichen und politischen Interessen der europäischen Länder am besten herausgearbeitet zu haben« 20. Nach der Ansicht von Edward Said habe »der Westen den Orient mithilfe seiner wissenschaftlichen, künstlerischen und theologischen ›Orientalisten‹ vereinnahmt, ›erfunden‹, um vor dieser Folie die eigenen Erfolge, die eigene Rationalität, den Anspruch auf weltweite kulturelle und politische Dominanz hervorzuheben« 21. Es sind im Grunde die Vorstellungen und Vorurteile der Orientalisten, die den Orient in einen bestimmten Gegensatz zum Abendland setzen, um dadurch sowohl die eigene Überlegenheit als auch eine gewisse künstlich erzeugte Identität dem als monolithisch betrachteten Orient entgegenzustellen. Hier wirkt »die Identitätsfalle« als Form der Abgrenzung oder gar des Ausschlusses dessen, was nicht zum Eigenen gehört; denn die »Hermeneutik, die das Identitätsmodell zum Paradigma erhebt, unternimmt eine Verdoppelung des Selbstverstehens in ihrem Versuch, das Andere, das Fremde zu verstehen. Sie versucht das zu Verstehende in seiner Substanz so zu verändern, dass das Fremde zu einem Echo ihrer selbst wird«, 22 worauf Ram A. Mall zurecht hingewiesen hat. Selbstverständlich geht es hier keineswegs darum, ein pauschales Urteil über die gesamte Orientalistikforschung zu fällen, die eine beachtliche Pionierarbeit bei der philologischen Erforschung und Übersetzung des arabisch-islamischen Kulturgutes geleistet hat, sondern vielmehr die Schattenseite dieser orientalistischen Sicht- und Arbeitsweise zu enthüllen und sie kritisch zu beleuchten. Erst eine solche Kritik im interkulturellen Kontext kann auch der arabisch-islamischen Philosophie dazu verhelfen, ihre eigene Sprache zu finden. Mit Hilfe dieser Kritik kann die arabisch-islamische Philosophie am Edward Saïd, Orientalismus, Frankfurt a. M.: Ullstein Verlag 1986. Maxime Rodinson, La fascination de l’Islam, Paris: éd. Maspéro, 1980, S. 14. 21 Edward Said, Orientalismus, a. a. O., S. 20. 22 Ram Adhar Mall, »Interkulturelle Philosophie und die Diskussion um die Menschenrechte«, in: Andreas Cesana (Hrsg.), Interkulturalität, Grundprobleme der Kulturbegegnung, Mainzer Universitätsgespräche, 1998, S. 122. 19 20

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Die arabisch-islamische Philosophie im Weltkontext

Prozess der Philosophie teilnehmen, den schon die französischen Denker Gilles Deleuze und Felix Gattari in ihrem gemeinsamen Werk mit dem Titel Was ist Philosophie? beschrieben haben, nämlich dass »der einzige berechtigte Anspruch des Denkens in der unendlichen Bewegung selbst auf dem Weg zur Wahrheit« 23 besteht. Im Übrigen erleben wir seit einigen Jahrzehnten einen spürbaren Wandel in der Orientalistikforschung, der auf eine Korrektur im Umgang mit dem arabisch-islamischen Erbe hinweist. Dies lässt sich den Forschungsberichten über die arabisch-islamische Philosophie und der neueren Literatur, die zu diesem Sachgebiet veröffentlicht wurde, entnehmen. 24 Die Bemühung um eine sachliche, d. h. von Vorurteilen nicht behaftete, und differenzierte Auswertung des Forschungsgegenstandes wird immer deutlicher und lässt hoffen, dass die arabisch-islamische Philosophie wieder ernst genommen wird und den ihr gebührenden Platz im Weltkontext einnimmt.

1.1. Die arabisch-islamische Philosophie im Weltkontext Wenn wir von der tradierten These ausgehen, wonach die Philosophie in Athen ihren Ursprung nimmt, müssen wir zugleich den Raum mit einbeziehen, in dem diese Philosophie sich entwickelt hat. Dazu gehören genauso Rom und Alexandria wie auch Bagdad und Cordoba. Es bedeutet, dass sich alle Völker des Mittelmeerraums an der Genesis und Entfaltung der Philosophie beteiligt haben. Das Mittelmeer verbindet sie alle miteinander von Ost nach West und von Nord nach Süd. Das wird besonders sichtbar, wenn die Verkehrswege nicht bloß topographisch gezeichnet, sondern ebenso als Denk- und Austauschwege betrachtet werden. Wirtschaft, Handel und Kultur gingen und gehen immer miteinander. Das bestätigt uns die Geschichte der Philosophie, die solche Überlappungen von philosophischen Strömungen und Schulen verzeichnet, ausgehend von Kleinasien über die Ägäis und Athen bis nach Alexandria, Rom und Karthago, um nur bei der antiken Philosophie zu verweilen.

Gilles Deleuze / Felix Guattari, Qu’est-ce que la philosophie? Paris: éd. de Minuit, Paris 1991; dt.: Was ist Philosophie?, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2003, S. 42. 24 Als Beispiel für eine solche Korrektur siehe: Gerhard Endress, Die arabisch-islamische Philosophie. Ein Forschungsbericht, in: Zeitschrift für die Geschichte der arabisch-islamischen Wissenschaften, Frankfurt a. M. 1989, Bd. 5, S. 1–47. 23

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1. Spricht die Philosophie arabisch?

Ein bestes Beispiel dafür bietet der erste Naturphilosoph Thales, der zunächst als Kaufmann Ägypten und andere Länder des vorderen Orients bereiste und von dort das Wissen auf dem Gebiet der Mathematik und der Astronomie aufnahm und anschließend nach seiner Rückkehr dieses Wissen weiterentwickelt und seinen Landsleute vermittelt hatte. 25 Die Stadt Milet, aus der Thales stammt, liegt in Kleinasien (der heutigen Westtürkei); sie war eines der größten Handelszentren des damaligen griechischen Raums, der bis nach Süditalien reichte. In Milet trafen sich die verschiedenen Kulturen und Religionen und es fand dort ein reger Austausch zwischen Ost und West statt. Plotin seinerseits stammt aus Alexandria, wo er aufwuchs, seine Bildung genoss und lange philosophisch wirkte. Sein Hauptwerk Die Enneaden trägt die Spuren des eklektischen Wissens seiner Zeit und seiner Umgebung. Auch einer der Kirchenväter, der als Philosoph wirkte, nämlich Augustinus, kam aus Nordafrika nach Rom, wo er das Christentum annahm und sich danach der Theologie widmete, bevor er wieder als Bischof nach Hippo Regius (das heutige Annaba in Algerien) zurückging, um dort als Kirchendiener zu arbeiten und zu lehren. Man darf außerdem den fruchtbaren Kulturaustausch nicht vergessen, der im Mittelalter von den damaligen Zentren in Spanien und Sizilien ausging, um Philosophie und Naturwissenschaft aus dem Arabischen ins Lateinische zu übersetzen und den europäischen Universitäten zur Verfügung zu stellen. 26 All diese Beispiele zeigen, wie die interkulturellen Verflechtungen im Mittelmeerraum den eurozentristischen Blickwinkel deutlich relativieren und eine andere Betrachtungsweise bieten, die der algerische Islamwissenschaftler Mohamed Arkoun als eine »mediale Sichtweise« bezeichnet. 27 Diese neue Perspektive sieht er als Grundvoraussetzung für die Entstehung einer civilisation intermédiate, d. h. einer intermedialen Zivilisation in diesem Kulturraum. Wie hat sich nun die arabisch-islamische Philosophie manifestiert? Welchen Beitrag hat sie geleistet? Und welche Bedeutung kann

Hans Joachim Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 1968, S. 82. 26 W. Montgomery Watt, Der Einfluss des Islam auf das europäische Mittelalter, Berlin: Wagenbach Verlag, 1988, S. 37 ff. 27 Mohammed Arkoun, Essais sur la pensée islamique, Paris: Vrin 1973, S. 28. 25

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Die arabisch-islamische Philosophie im Weltkontext

ihr gegenwärtig im Weltkontext beigemessen werden? Das sind die Fragen, die uns beschäftigen. Was die Ortsbestimmung der arabisch-islamischen Philosophie anbetrifft, so lässt sich die Frage unterschiedlich beantworten, je nachdem aus welcher Perspektive sie betrachtet wird. Es geht hauptsächlich um die Art der Lektüre dieses Kulturerbes, das in den letzten Jahrzehnten zum Hauptgegenstand der Forschung wurde. Hier bahnen sich verschiedene Tendenzen an, die nach der Aussage von Michael Marmura folgendermaßen formuliert werden können: »Oft betrachtet man sie als Verbindungsglied zwischen der griechischen Philosophie und der lateinischen Scholastik des Mittelalters. Dabei werden ihre Rolle als Übermittlerin griechischen Gedankenguts und der Einfluss, den einige Philosophen auf europäischen Denker ausüben, hervorgehoben. Andererseits ist die islamische Philosophie oft vor allem als kulturelles Phänomen begriffen worden, wenn es dem Historiker darum geht, ihren Platz in der islamischen Zivilisation zu bestimmen und zu verstehen. In diesen Fällen wird die islamische Philosophie nicht um ihrer selbst willen betrachtet. Es gibt aber eine dritte Annäherungsmöglichkeit, die eher dazu angetan ist, ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Man kann sie nämlich zum Teil als eine Fortsetzung der griechischen Philosophie betrachten, d. h. als eine Fortsetzung jener Suche nach Wahrheit und Weisheit, die ihre Ursprünge im alten Griechenland hat.« 28

Wie dieser Aussage deutlich zu entnehmen ist, werden der arabischislamischen Philosophie dreierlei Funktionen bzw. Bestimmungen zugeschrieben: – Eine Vermittlungsrolle zwischen antiker Philosophie und Scholastik. Diese Funktion wurde weitgehend von den Orientalisten verfolgt und gebührend berücksichtigt, jedoch mit der Intention, der arabisch-islamischen Philosophie keinerlei eigenständige oder gar schöpferische Tätigkeit zuzuerkennen. 29 Hier wird sie nicht um ihrer selbst willen, sondern als Mittel zum Zweck wahrgenommen. Von einer interkulturellen Durchdringung kann nach der Ansicht ihrer Vertreter keine Rede sein. – Eine eher Identität stiftende Funktion, die hauptsächlich von den arabisch-islamischen Denkern der Gegenwart aufgegriffen und W. Montgomery Watt / Michael Marmura, Die islamische Philosophie des Mittelalters, in: Der Islam, Bd. II, Politische Entwicklungen und theologische Konzepte, Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 1985, S. 320. 29 Das beste Beispiel in diesem Zusammenhang liefert E. Renan in: Averroès et l’Averroïsme, a. a. O., S. VII. 28

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1. Spricht die Philosophie arabisch?

mit Nachdruck vertreten wird. Dabei handelt es sich um die Stellung, die die arabisch-islamische Philosophie während des sog. »goldenen Zeitalters« einnimmt und die zur Legitimierung der eigenen Identität beiträgt. – Eine dem eigenen Sachgegenstand gerecht werdende Bestimmung der Philosophie als ständige Suche nach Wahrheit und Weisheit, wie der Name selber sagt. Ziel und Zweck der antiken ebenso wie der arabisch-islamischen Philosophie war immer das Streben nach wahrer Erkenntnis. Das hat bereits der erste arabische Philosoph, al-Kindi, in seinen Episteln folgendermaßen ausgedrückt: »Zweck der Philosophie ist, die wahre Natur aller Dinge in dem Ausmaß zu erkennen, in welchem der Mensch des Erkennens fähig ist.« 30 An dieser Bestimmung haben die meisten arabisch-islamischen Denker festgehalten und sie sich zum Ziel gesetzt. Doch die Bemühung um die philosophische Wahrheit kann nicht allein die Aufgabe von einzelnen Personen sein, sondern erfordert ebenfalls die gemeinsame Anstrengung früherer und gegenwärtiger Generationen des Menschengeschlechts, worauf al-Kindi 31 damals hingewiesen und was später Hegel wiederholt betont hat. 32 Dazu gehören eine ständige Überprüfung der früheren Erkenntnisse und Überzeugungen sowie die Kritik und Überwindung falscher Behauptungen und Argumentationsverfahren. Das war auch die Aufgabe der arabisch-islamischen Denker. Sie wiederholten nicht einfach die Aussagen ihrer griechischen Meister, sondern »sie kritisierten und überprüften, verfeinerten und arbeiteten aus, verglichen und wählten aus, untersuchten und trafen neue Unterscheidungen. Die islamischen Philosophen gestalteten Konzepte um, indem sie neue metaphysische Synthesen entwickelten, die von den Einsichten und den Visionen ihrer verschiedenen Schöpfer geprägt waren.« 33

Auf diese Weise nahm die arabisch-islamische Philosophie an der Entwicklung und Fortsetzung der Philosophia perennis konkret teil. Sie war nicht bloß Bewahrerin und Vermittlerin der antiken PhilosoAl-Kindi, Fi al-Falsafa al-Ula [Über die erste Philosophie], in: Rasa’il al-Kindi alFalsafiyya, hrsg. von M. Abdel-Hadi Abu Rida, Kairo 1950, S. 95. 31 Ebd., S. 109. 32 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a. a. O., Bd. 18, S. 21. 33 W. Montgomery Watt / Michael Marmura, Die islamische Philosophie des Mittelalters, a. a. O., S. 321. 30

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Die Interkulturalität der arabisch-islamischen Philosophie

phie und auch keine Paraphrasierung hellenistischer Denkweise, wie oft behauptet wurde, sondern stellt vielmehr eine Weiterbildung der klassischen Philosophie dar, indem sie diese durch neue und eigene Ansätze bereichert. Das hat schon der Orientalist Max Horten zu Beginn des vorigen Jahrhunderts erkannt, als er schrieb: »Die islamische Geisteskultur ist in ihren höheren Teilen, d. h. Philosophie, spekulativer Theologie, theoretischer Mystik und Naturphilosophie, nicht identisch mit dem Hellenismus, sondern eine Weiterbildung desselben durch hinzukommende persische […] und indische Ideen. Beim Studium dieser Gedanken erlebt man also den Reiz, in eine ganz neu und eigen geartete Gedankenwelt einzutreten.« 34

Allein die Aufarbeitung und Umgestaltung vieler Strömungen weisen bereits auf die Offenheit und interkulturelle Orientierung der arabisch-islamischen Philosophie hin, was später im Näheren dargestellt werden soll.

1.2. Die Interkulturalität der arabisch-islamischen Philosophie Eines der wesentlichen Merkmale der arabisch-islamischen Philosophie liegt zunächst in ihrer Bestimmung als arabisch und islamisch zugleich. Über diese Bezeichnung wurde lange Zeit in der Philosophiegeschichte gestritten. Die einen, vorwiegend arabische Historiker, stellen gern das Wort arabisch in den Vordergrund, um den sprachlichen Charakter dieser Philosophie zu betonen. Damit versuchen sie, die seit der arabischen Renaissance – Nahdha genannt – wiedererwachte nationale und kulturelle Identität durch den Bezug auf das frühere philosophische Erbe zu stützen. Die anderen, insbesondere islamische Gelehrte und Orientalisten, neigen eher dazu, den Ausdruck islamisch zu benutzen, um den spezifisch religiösen Aspekt zu unterstreichen und ihn in den kulturellen Rahmen im weitesten Sinne einzuordnen. 35 Doch um jegliches Missverständnis vorweg zu vermeiden, müssen wir davon ausgehen, dass diese Bezeichnung, die zwei Attribute Max Horten, Einführung in die höhere Geisteskultur des Islam, Bonn: Verlag F. Cohen, 1914, Vorwort, S. XIII. 35 Zu dieser Problematik siehe: Zerrin Kurtoğlu, Eine Kritik der orientalistischen Auffassung der falsafa-Tradition, in: Philosophie im Islam, Polylog Nr. 17 (2007), S. 39–48. 34

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1. Spricht die Philosophie arabisch?

verbindet, die semantisch unterschiedlichen Registern angehören, jedoch den Beginn einer kulturellen Bewegung markiert, die zwar mit dem Aufbruch des Islams startet, aber dennoch über den sprachlichen Raum und den religiösen Glauben hinausgeht. Sie kennzeichnet wesentlich die Interkulturalität dieser Philosophie, die sich durch eine synthetische Symbiose von verschiedenen kulturellen Strömungen gebildet und mittels einer bestimmten Sprache geäußert hatte. Die hier gemeinte Philosophie ist wohl der Sprache nach arabisch, aber der Kultur nach steht sie weitgehend unter dem Einfluss des Islams wie die Scholastik im Mittelalter unter der Einwirkung des Christentums. Dabei dürfen weder die Bedeutung der arabischen Sprache für diese Philosophie noch der mit dem Islam entstandene kulturelle Rahmen aus dem Blick verloren gehen. Deshalb können wir zu Recht von einer arabisch-islamischen Philosophie sprechen. Die arabische Sprache war in der islamischen Kultur, und ist teilweise immer noch, mehr als ein Idiom der Kommunikation wie etwa die lingua latina im ›Römischen Reich‹ ; sie hat sich vor allem als Ausdrucksmittel des gerade neu gegründeten religiösen Bewusstseins und als fortwirkender Wesenszug der daraus entstandenen Kultur erwiesen. Diese Einschätzung teilen inzwischen viele Kenner des Sachgebietes. Der Orientalist Gerhard Endress unterstreicht diese Einsicht mit den Worten: »Die Kultur des klassischen Islams ist eine Kultur arabischer Sprache. So wie die Religion des Islams durch die Offenbarung des arabischen Korans an seinen Propheten begründet wurde, so wurde die arabische Sprache als das Werkzeug, durch welches Gott seine Offenbarung an die Menschen erneuerte und vollendete, die Sprache des Islams.« 36

Diese Aussage impliziert, dass die arabische Sprache mit dem Aufbruch des Islams einen höheren Stellenwert erlangte, den sie zuvor nicht kannte, und somit zu einer der wichtigsten Sprachen der Welt emporstieg. Die in den letzten Jahrzehnten vorgelegten Interpretationen der ersten offenbarten Sure des Korans unterstreichen eben diese historische Zäsur in der Geschichte der arabisch-islamischen Kultur und deuten auf die enge Verbindung von Sprache und Offenbarung hin, die wahrhaftig als der Beginn einer gesamtgesellschaftlichen Umwäl36 Gerhard Endress, Grammatik und Logik, Arabische Philologie und griechische Philosophie im Widerstreit, in: Burkhard Mojsisch (Hrsg.), Sprachphilosophie in Antike und Mittelalter, Amsterdam: Verlag B. R. Grüner 1986, S. 164.

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Die Interkulturalität der arabisch-islamischen Philosophie

zung aufgefasst werden kann. So nahmen mehrere Islamwissenschaftler und Forscher wie Mohammed Arkoun, Hichem Djait und Fathi Triki die Verse der Sure 96 im Koran 37 als Grundlage für eine ebenso philologische wie historische und soziologische Untersuchung, um diesen Wandel genauer zu beleuchten. Unter Bezugnahme auf diese Sure untersucht Djait die genauen historischen Bedingungen und Zustände, die den Zeitpunkt der Offenbarung begleiteten, und verwendet somit den Koran als Quelle bzw. als Hilfsmittel für eine Rekonstruktion der Entstehungsphase der Geschichte des Islams. 38 Gleichzeitig bedienen sich sowohl Arkoun als auch Triki verschiedener Symbole und Allegorien, die in dieser Sure enthalten sind, wie z. B. der Akt des Lesens oder die Feder, um den gesellschaftlichen Stellenwert dieser Deutung zu betonen. 39 Bei ihrer hermeneutischen Auslegung gelangen sie zu dem Ergebnis, dass die in der Sure erwähnte Aufforderung zum Lesen den Geburtsakt einer kulturellen, sozialen und politischen Revolution ankündigt. Diese Revolution ebnete den kulturellen Umbruch im Sinne des Übergangs von der mündlichen zur schriftlichen Überlieferung, denn erst mit der Offenbarung wurde der Wechsel vom Zeitalter der Unwissenheit – Jahiliyya genannt – zu dem des niedergeschriebenen Wissens gänzlich vollzogen. Sie hatte außerdem eine soziale Funktion, da aufgrund der Bildung neue soziale Gruppen entstanden, die ihre Macht vom Wissen herleiteten. Sie war aber auch politisch, weil sie über die offenbarte Schrift den Startschuss für den Aufbau neuer Institutionen und politischer Machtstrukturen gab. Damit markierte die Offenbarung sowohl religiös-kulturell als auch sozial-politisch einen

Es handelt sich um die Verse der Sure 96, die so lauten: »Im Namen Allahs, des Allbarmherzigen. Lies im Namen deines Herrn, der alles geschaffen hat und der den Menschen aus geronnenem Blut erschuf. Lies, bei deinem Herrn, dem glorreichsten, der den Gebrauch der Feder lehrte und den Menschen lehrt, was er nicht gewusst hat.« siehe: Der Koran, übers. von Rudi Paret, Stuttgart: Kohlhammer Verlag 1962, Sure 96. 38 Zum Begriff der Offenbarung hat sich Djaït in seinem Buch La Personnalité et le devenir arabo-islamique, Paris: Seuil, 1974 und in seinem Aufsatz Two problems concerning Qoranic Revelation, in: Studi Orientali 13 (1994), S. 187–198 sowie in La Grande Discorde. Religion et politique dans l’islam des origines. Paris: Gallimard, 1989 geäußert. 39 Fathi Triki, L’impératif Lis, Le pouvoir et le sacré, in: Dédale, Le paradoxe des représentations du divin, L’image et l’invisible, Paris: Maisonneuve & Larose 1995, S. 72 ff. 37

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1. Spricht die Philosophie arabisch?

Schnitt in der Geschichte der arabischen Stämme und der vom Islam betroffenen Völker. Neben dieser bahnbrechenden Entwicklung, die den fruchtbaren Boden für die Entfaltung der arabisch-islamischen Philosophie ebnete, bestimmten äußere Faktoren ihre Genese. Die arabisch-islamische Philosophie ist in das geistige Milieu des sich in Auflösung befindlichen Hellenismus hineingeboren. Nach der Ausbreitung des Islams über große Teile der byzantinischen und sassanidischen Reiche begann sofort eine geistige Auseinandersetzung mit den dort lebendig gehaltenen Denkströmungen und Religionen, die einen regen Austausch von Wissen und Kultur nach sich zog. Endress bringt diese Situation deutlich auf den Punkt, wenn er sagt: »Schon im Laufe des zweiten islamischen Jahrhunderts werden die Gegenstände und Begriffe der hellenistischen Wissenschaften bei den Arabern heimisch, und mit ihnen öffnet der Rationalismus der Griechen neue Tore der wissenschaftlichen Betrachtung. Auch die Methoden der entstehenden islamischen Disziplinen werden durch die Auseinandersetzung mit der hellenisierten Umwelt beeinflusst.« 40

Hier setzt eine interkulturelle Durchdringung ein, die ebenso in der Jurisprudenz wie auch in der ›spekulativen Theologie‹ spürbar wird. So konnten z. B. die vom logischen Syllogismus abgeleiteten Verfahren übernommen und zur Auslegung religiöser Texte angepasst werden. Dennoch behielten die islamischen Disziplinen trotz dieser Beeinflussung und Begriffsprägung ihre Eigenständigkeit und standen nicht ganz in direkter Fortsetzung griechischer Überlieferung. Das galt sowohl für die ›spekulative Dialektik‹ oder ›dialektische Theologie‹, Kalam genannt, als auch für die Sprachwissenschaft und die Jurisprudenz, die schon al-Farabi, der Begründer der arabisch-islamischen Philosophie, zu Bestandteilen seines enzyklopädischen Systems machte. Darin liegt auch der Grund, weshalb manche Orientalisten wie früher Renan 41 und heute van Ess 42 den Schluss ziehen, dass die authentische arabische Philosophie in diesen vorher genannten Disziplinen wurzele und nicht etwa bei den arabischen Verfechtern des Aristotelismus zu finden sei. Auf diese Auseinandersetzung wird später noch eingegangen werden. Ebd., S. 165. Ernest Renan, Averroès et l’averroïsme, a. a. O., S. VIII. 42 Joseph van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra, 6 Bde., Berlin / New York: De Gruyter 1991–1997. 40 41

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Die Interkulturalität der arabisch-islamischen Philosophie

Ein weiteres Indiz für die Interkulturalität dieser Philosophie zeichnet sich durch die Vielfalt der ethnischen und religiösen Zugehörigkeit ihrer Vertreter ab, die an der Genese und Entwicklung der arabisch-islamischen Philosophie mitgewirkt haben. Die Auflistung des Historiographen Ibn al-Nadim, eines großen Gelehrten aus Bagdad, der in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts gelebt und ein bio-bibliographisches Werk mit dem Titel Al Fihrist verfasst hat, zeigt, dass die meisten Übersetzer griechischer Texte ins Arabische syrisch sprechende Christen, hauptsächlich Nestorianer und Jakobiten, waren. 43 Hinzu kamen später persische und türkische Gelehrte, die das Werk mit vollendeten. Die ersten beteiligten sich am Projekt der Übersetzung und Aufarbeitung griechischen Denkens und Wissens sowie persischer und indischer Ideen bereits in der frühen Periode, die in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts begann. Die bisherigen Standardwerke zur Geschichte der arabisch-islamischen Philosophie haben sich zwar mit der Darstellung dieser Übersetzungsperiode und der Auflistung ihrer Träger befasst, kümmerten sich jedoch nicht um die Frage nach der Intention bzw. nach den Motiven dieses Vorganges. Es geht im Grunde um die Frage, weshalb das Bedürfnis nach fremdem Wissen sehr früh in der islamischen Gesellschaft spürbar wurde. Hier liegt in der Tat ein Versäumnis, das notwendigerweise nachgeholt werden sollte und das einige Forscher neuerdings zu ergänzen versuchen. So weist Marmura in seiner Darstellung der arabisch-islamischen Philosophie auf mehrere Motive hin. Zuerst gab es ein praktisches Interesse an medizinischem und astronomischem Wissen, das seit Galen mit der Philosophie in enger Verbindung stand. Aber »wahrscheinlich war auch Prestigedenken ein Motiv, der Wunsch, Byzanz zu übertreffen, und den islamischen Bereich zum wahren Erben hellenistischer Weisheit zu machen. Als Motiv sollte man auch nicht ausschließen, dass einige Förderer echtes Interesse für Naturwissenschaft und Philosophie um ihrer selbst willen hatten« 44, fügt er hinzu. Vielleicht kann die nun folgende, von dem vorhin genannten Historiographen Ibn al-Nadim erzählte Geschichte über diese Frage Aufschluss geben. Er berichtet nämlich von einem Erlebnis, das der

Ibn al-Nadim, Al-Fihrist, hrsg. von Gustav Flügel, Leipzig 1871. W. Montgomery Watt / M. Marmura, Die islamische Philosophie des Mittelalters, a. a. O., S. 326.

43 44

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1. Spricht die Philosophie arabisch?

Abbasidenkalif Al Ma’mun (813–833) gehabt haben soll. Dem sei im Traum, wie er später erzählte, Aristoteles erschienen: »Ich sagte: Oh weiser Mann, kann ich Dir eine Frage stellen? Er sagte: Frage! Ich sagte: Was ist das Gute? Er antwortete: Das, was die Vernunft für gut hält. Was kommt als nächstes, fragte ich. Er antworte: Das, was das religiöse Gesetz für gut hält. Ich sagte: Was dann? Das, was in der Meinung des einfachen Volkes gut ist. Ich fragte dann: Was kommt als nächstes? Er antwortete: Danach kommt nichts.« 45

Dieses Erlebnis gilt nach Ibn al-Nadim als Grund für den Entschluss des Kalifen, die Wissenschaften und vor allen das Studium der Philosophie zu fördern. Daraufhin gründete al-Ma’mun das berühmte ›Haus der Weisheit‹ – Beit al-Hikma – jenes Forschungsinstitut, in dem viele Disziplinen unterrichtet und dank einer großen Anzahl von Übersetzern mehrere Werke aus der griechischen Philosophie und den Naturwissenschaften, speziell Medizin, Mathematik und Astronomie, ins Arabische übertragen wurden. Das Projekt der Übersetzung der griechischen Philosophie und Wissenschaft ins Arabische spiegelt nicht nur eine intellektuelle Neugier seitens der Machthaber und Muslime überhaupt wider, sondern folgt einer Tradition, die bis zur Zeit der Eroberungen Alexanders des Großen und auf den Einfluss der Kirchenväter im 3. Jahrhundert zurückgeht. Laut Arkoun »können wir einen langen Weg des griechischen Einflusses von Athen nach Bagdad, Rayy und Cordoba verfolgen, der in der chronologischen Reihenfolge auch durch Alexandria, Antiochia, Edessa und Gundishapur im Iran führt« 46. Diese trans- und interkulturelle Durchdringung konnte der Islam nur mit einer der neuen Lage entsprechenden Strategie begegnen, die darauf zielt, den offenbarten Text des Korans der harten Prüfung der rationalen Argumentation auszusetzen. Das war aber nicht ohne einen Paradigmenwechsel und eine Erweiterung der Perspektive zu bewerkstelligen, die durch die Öffnung des Islams für das vorhandene Gedankengut, das ebenso zur Kultur der im Reich der islamischen Gemeinschaft lebenden Völker gehöre, geschaffen worden sind. Außerdem war diese Öffnung umso notwendiger zum Aufbau des neuIbn al Nadim, Al Fihrist, hrsg. von G. Flügel, Leipzig: 1871, S. 243; zit. nach Hans Wilderotter, Der hat den großen Kommentator gemacht, Aristoteles, Averroes und der Weg der arabischen Philosophie nach Europa, in: Europa und der Orient, hrsg. von Sievernich Gereon / Hendrik Budde, Gütersloh: Bertelsmann 1989, S. 139. 46 Mohammed Arkoun, Der Islam, Annäherung an eine Religion, a. a. O., S. 145. 45

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Propädeutik zur Genese der arabisch-islamischen Philosophie

en Staatswesens, das sich mit der konkreten Realität konfrontiert sah. Die Übersetzung bereitete insofern den Boden für die multikulturelle Gesellschaft, die sich unter dem Banner des Islam wie in einem Schmelztiegel wiederfand. Heute würde man diese Öffnung für die Kultur des Anderen als ein Zeichen von Toleranz deuten, welche bei der Vielfalt der ethnischen Gruppen und religiösen Sekten zum Zusammenleben dringend erforderlich war, zumal sie von mehreren Versen des Korans abgeleitet werden konnte, wie etwa in Sure 49, Vers 15, in der es heißt: »O ihr Menschen, wir haben euch von einem Mann und einem Weib erschaffen und euch in Völker und Stämme eingeteilt, damit ihr liebevoll einander kennen mögt.« 47

1.3. Propädeutik zur Genese der arabisch-islamischen Philosophie Die Periode der Übersetzung, die sehr früh begann, kann zweifellos als die wichtigste Vorbereitungsphase für die Genese der arabischislamischen Philosophie betrachtet werden. Sie begann bereits in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts, zunächst über das Altsyrische, das in einem Großteil der Region vorherrschend war und als Kultursprache diente. Außerdem waren die ersten Übersetzer meistens syrische Christen, die zwischen der griechischen und der arabischen Sprache vermittelten. Ihr Beitrag war beachtlich, da sie nicht nur eine beträchtliche Anzahl naturwissenschaftlicher und philosophischer Schriften direkt aus dem Griechischen oder über das Syrische ins Arabische übermittelten; sie kommentierten und revidierten zugleich die übersetzten Werke und verfassten sogar eigene Abhandlungen. Durch ihr Wirken avancierte die arabische Sprache, die hauptsächlich als Sprache des Korans und der mit ihm verknüpften Religionswissenschaften sowie der Poesie und Literatur hervorgetreten war, nun zur Sprache der Naturwissenschaft und Philosophie. Nach den Ausführungen von Michael Marmura gab es vor dieser Periode in der Region zwei wichtige Schulen griechischer Kultur: »Die eine war die medizinische und philosophische Schule von Alexandria, die um 718 nach Antiochia zog. In der Mitte des 9. Jahrhunderts übersiedelte sie nach Harran und von dort nach Bagdad. Die 47

Der Koran, übers. von Rudi Paret, Stuttgart: Kohlhammer Verlag 1962, Sure 49.15.

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andere Tradition war die nestorianische Akademie von Gundishapur in Persien, die als Schule der Medizin und für ihr Spital bekannt war. […] Mit dem Aufstieg der Abbasiden wurde Gundishapur sehr bedeutend« 48, da viele Gelehrte von dort in die neu gegründete Hauptstadt Bagdad übersiedelten. Diese beiden Schulen nahmen am Übertragungsprozess der griechischen Kultur ins Arabische wesentlich teil und bestimmten weitgehend den zu vermittelnden Inhalt. So standen insbesondere Schriften aus der Medizin, Astronomie und Kosmologie sowie philosophische Werke im Mittelpunkt ihrer Übersetzungsarbeit. Die Logik, die nicht nur zur Propädeutik der Philosophie zählte, sondern ebenfalls ein Bestandteil des Studiums der Medizin in der nestorianischen Schule war, bekam hier eine besondere Aufmerksamkeit. Sie konnte nämlich für die Exegese und Erläuterung sowie Verteidigung des religiösen Textes bestens angewandt werden. Ihr Beitrag zur Grundlegung der spekulativen Theologie und Dialektik war von eminenter Bedeutung. Sie stand sogar in direkter Konkurrenz zur arabischen Grammatik, die als Grundpfeiler der arabischen Philologie galt. Auf den Konflikt zwischen diesen beiden Disziplinen wird später anhand der berühmten Debatte zwischen dem Grammatiker Abu Said al-Sirafi und dem Logiker Abu Bischr Matta ibn Yunus im Kapitel über den hermeneutischen Streit näher eingegangen werden. 49 Unter die bekanntesten und einflussreichsten Übersetzer werden Hunayn ibn Ishaq (gest. 873) und sein Sohn Ishaq ibn Hunayn (gest. 910) sowie ’Isa ibn Yahya (gest. 910) gezählt. Hunayn ibn Ishaq, ein nestorianischer Gelehrte und Arzt, leitete lange Zeit das von alMa’mun gegründete »Haus der Weisheit« (Beit al-Hikma) und diente selber als Hofarzt. Sein Hauptverdienst bestand aber darin, vom Griechischen in die syrische Sprache zu übersetzen und eine gewisse Systematik bei der Aufarbeitung griechischer Manuskripte angelegt zu haben. Außerdem trat er als ein guter Kenner logischer und philosophischer Werke hervor und überprüfte die meisten der von seinen Schülern fertig gestellten Übersetzungen. Neben diesen bedeutenden Übersetzern gab es noch zwei andere, weniger bekannte Gelehrte, die als Übersetzer hervortraten und die M. Marmura, Islamische Philosophie im Mittelalter, a. a. O., S. 326. Gerhard Endress, Grammatik und Logik, Arabische Philologie und griechische Philosophie im Widerstreit, in: Sprachphilosophie in Antike und Mittelalter, hrsg. von Burghard Mojsisch, Amsterdam: Verlag B. R. Grüner, 1986, S. 163–299. 48 49

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Propädeutik zur Genese der arabisch-islamischen Philosophie

Richtung der arabisch-islamischen Philosophie indirekt mitbestimmten. Der eine war ein gewisser Astat (Eustathius), der eine vollständige Übertragung der Metaphysik des Aristoteles lieferte und somit den Lesern eines der Hauptwerke des Stagiriten zur Verfügung stellte. Der andere war Ibn Na’ima al-Himsi (gest. 835), der die wohlbekannte und später als Fälschung enttarnte Schrift Die Theologie des Aristoteles anfertigte. 50 Dieses Werk, das zunächst als ein Kommentar des Porphyrios zu Aristoteles galt, war in Wahrheit eine Paraphrase der Enneaden IV, V und VI von Plotin und hat eine immense Wirkung auf die Entwicklung der arabisch-islamischen Philosophie gehabt, indem sie sie auf eine Harmonisierung zwischen den beiden großen Denkern der Antike, nämlich Platon und Aristoteles, hinsteuerte. Die Verwirrung entstand wahrscheinlich sowohl durch die Verwechslung der Namen Platon und Plotin in der arabischen Transkription wie auch durch die mangelnde Unterscheidung zwischen platonischer und neuplatonischer Tradition. Plotin selbst blieb den arabischen Denkern so gut wie unbekannt. Aus der Schule von Harran in Obermesopotamien stammten ebenfalls zwei der besten Gelehrten und Übersetzer philosophischer Schriften. Es waren Thabit ibn Qurra (gest. 901) und Qusta ibn Luqa (gest. 912). Beide revidierten und ergänzten ältere Übersetzungen und verfassten selbständige Abhandlungen wie den Kommentar zur Physik des Aristoteles und Der Unterschied zwischen Seele und Geist. Zu ihnen gesellte sich auch ihr Zeitgenosse Abu Uthman alDimashqi (gest. 900), der die früheren Übersetzungen von Hunayn und dessen Sohn Ishaq vom Syrischen ins Arabische übertrug. Zu den späteren bekannten Übersetzern zählen der vorhin erwähnte Logiker und Lehrer von al-Farabi Abu Bishr Matta ibn Yunus (gest. 940) und Yahya ibn ’Adi (gest. 974), der neben Logik auch Schriften über Ethik verfasste. Was den Inhalt dieser Übersetzungen angeht, so berichtet Ibn alNadim, dass viele Werke Platons bereits ins Arabische übertragen wurden, wie z. B. Politeia, Parmenides, Nomoi und die Briefe. 51 Die Frage, ob diese Werke gänzlich übersetzt wurden oder nur als Paraphrasen und Zusammenfassungen zur Verfügung standen, beschäfFriedrich Dieterici, Die sog. Theologie des Aristoteles, hrsg. aus arabischen Handschriften zum ersten Mal von Friedrich Dieterici, Leipzig 1882, Neudruck Hildesheim: Olms Verlag 1969. 51 Ibn al-Nadim, Al-Fihrist, a. a. O., S. 246. 50

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1. Spricht die Philosophie arabisch?

tigt gegenwärtig die Forscher in diesem Bereich. Ganz anders steht es um die Werke des Aristoteles; hier wurde fast der gesamte Korpus übersetzt, und für manche einzelne Werke wurden sogar mehrere Kopien angefertigt. Dem syrischen Vorbild folgend wurde das ganze Organon, einschließlich der Bücher über Rhetorik und Poetik, zusammen übertragen. Nach Marmura trug diese Vorarbeit maßgeblich zur »islamischen Erörterung des epistemologischen Status der Prämissen bei, die bei der Beweisführung benutzt wurden (demonstrativ, dialektisch, rhetorisch und poetisch)« 52 und von denen Ibn Rushd – Averroes – reichlich Gebrauch machte. Hingegen blieben einige Schriften wie das Buch K der Metaphysik und die Politik unbekannt. Natürlich fragt man sich heute noch nach dem Zweck der Übersetzung der Werke Platons und Aristoteles’ in einer vom Glauben geprägten und darauf aufgebauten Gesellschaft. Nach Mohammed Abid Al Jabiri fungiert die arabisch-islamische Philosophie nicht bloß als Vermittlerin der antiken Tradition; sie hatte ihre eigene Funktion bei der Auseinandersetzung mit den Vorschriften des islamischen Dogmas ebenso wie mit deren Widersachern. Die vorhin erwähnte Geschichte vom Traum al-Ma’muns, die vermutlich im Nachhinein entstanden ist, vermittelt im Grunde das eigentliche Motiv für das Interesse des Kalifen an Wissenschaft und Philosophie. Sie ist aber auch charakteristisch für die Epoche, in der die Übernahme und Aneignung wissenschaftlicher und philosophischer Schriften im Morgenland einen Höhepunkt erreichte. Nach al-Jabiri stand beim Wunsch des Kalifen sicherlich im Vordergrund, die griechische Philosophie in den Dienst der Theologie zu stellen, damit diese sich sowohl nach außen gegenüber der christlichen Konkurrenz behaupten könne, als auch nach innen, um den unterschiedlichen Sekten und Häresien manichäischer Provenienz besser begegnen zu können. 53 Der Traum diente insofern als Legitimationsfaktor für ein eminent politisches Programm, dessen Grundzüge bereits von den Mu’taziliten, jenen rationalen Theologen, vorgezeichnet wurden. Diese waren nämlich bestrebt, die islamische Glaubenslehre nach logischen und rational strukturierten Grundsätzen zu erklären und nicht einfach als offenbartes Dogma hinzunehmen. Ihre Bemühungen bereiM. Marmura, Die islamische Philosophie im Mittelalter, a. a. O., S. 329. Muhammad ’Abid al Jabiri, Nahnu wal-turath, a. a. O., S. 51; darin heißt es im Original: »Der Traum von Al Ma’mun war keineswegs ein unschuldiger Traum […]. Er war nicht wegen Aristoteles, sondern wegen Zarathustra und Mani.«

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Propädeutik zur Genese der arabisch-islamischen Philosophie

teten insofern den Weg nicht nur für die Verbindung von Theologie und Philosophie bzw. für die »Versöhnung des philosophischen und des religiösen Denkens« 54; sie stellten auch die Grundlagen für die Entstehung der spekulativen Theologie bzw. für den Aufbau des Kalam als eines neuen Genres von Diskurs mit theologischem Inhalt und philosophischer Argumentation zur Verfügung.

Gerhard Endress, Der arabische Aristoteles und die Einheit der Wissenschaften im Islam, in: Heinz Balmer / Beat Glaus (Hrsg.), Die Blütezeit der arabischen Wissenschaften, Zürich 1990, S. 11.

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Die Entwicklung des Kalam, der zunächst mit Dialektik bzw. Rede oder λόγος zu übersetzen ist, wurde schon zu Beginn des 8. Jahrhunderts eingeleitet. Sie ermöglichte durch das Bemühen der islamischen Gelehrten – Mutakallimun – eine weitreichende Auslegung des offenbarten Textes des Korans mithilfe rationaler Argumentation. Als Voraussetzung für diese Art spekulativer Theologie oder Dialektik stellten die Mutakallimun eine ganze Reihe von Thesen bzw. Prämissen auf und versuchten daraus logisch nachvollziehbare Schlüsse abzuleiten. Ihre Exegese durfte jedoch nicht den Rahmen der Quellen des islamischen Glaubens sprengen oder gar diese in Frage stellen. Dennoch entstand auf der Grundlage dieser Dialektik ein neuer Diskurs, der dem islamischen Dogma, insbesondere in der Jurisprudenz – Fiqh – zugute kam, indem er einerseits zur Auslegung bestimmter Rechtsquellen und zur Lösung gewisser Probleme theologischer Natur verwendet wurde. Andererseits lief er jedoch ihren Grundprinzipien zuwider. Mit seiner Hilfe gelang es zwar den Mutakallimun, die Apologeten des christlichen Glaubens ebenso wie »den gefährlichsten geistigen Gegner des Islam, den Dualismus zarathustrischer und manichäischer Provenienz, zurückzuweisen und das islamische Dogma, im Bunde mit der kalifalen Theokratie, gegenüber den heterodoxen Bewegungen im Inneren abzusichern« 55. Aber dieser Beitrag zur rationalen Begründung des Glaubens legte zugleich den Grundstein für das Auftreten mehrerer Schulen und verschiedener häretischer Sekten sowie für die Entfaltung eines eigenständigen philosophischen Diskurses im arabisch-islamischen Raum. Über die Anfänge des Kalam und seine Bedeutung für die Entwicklung des arabisch-islamischen Denkens liegen bereits mehrere historische Quellen vor, die inzwischen von den Islamwissenschaft55 Gerhard Endress, Grammatik und Logik, Arabische Philologie und griechische Philosophie im Widerstreit, a. a. O., S. 166.

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lern erforscht und herausgegeben wurden. Sowohl Montgomery Watt als auch Josef van Ess und Tilman Nagel liefern in diesem Zusammenhang ausführliche Studien über die »formative Periode« 56 des Kalam und die sie begleitenden Denkrichtungen. Sie weisen auf diese bemerkenswerte Phase in der Geschichte des Islams hin, in der ein Geist der Disputation und des freien Denkens, aber auch der Toleranz herrschte. Eines der überragenden Werke in dieser Tradition ist das Buch der Religionsparteien und Philosophenschulen (Kitāb al Milal wal Nihal) 57 von al-Schahrastani (gest. 1153), dessen Darstellung der Denkströmungen und häretischen Sekten als eine der gründlichsten und objektivsten Arbeiten auf diesem Gebiet gilt. Das Buch zeichnet ausführlich nach, wie viele Schulen und häretische Sekten es im Islam im Laufe seiner früheren Geschichte gab und welche Themen Gegenstand der damaligen Auseinandersetzungen waren. In den folgenden Kapiteln werden einige der bedeutendsten Gruppen und deren Streitpunkte kurz angeschnitten, um die Relevanz und die Vielfalt dieser entstandenen Geisteskultur sichtbar zu machen. Diese Beispiele zeigen ebenfalls deutlich, wie irreführend es ist, wenn heutzutage von einem einheitlichen oder monolithischen Islam die Rede ist. Zunächst muss jedoch erwähnt werden, dass die eigentlichen Wurzeln dieser intellektuellen Auseinandersetzungen im politischen Streit um die Nachfolge des Propheten nach seinem überraschend frühen Tode lagen. Diese politischen Differenzen führten zu einer Zwietracht unter den Mitgliedern der islamischen Gemeinde, die dann theologisch und philosophisch begründet und zum Teil legitimiert wurde. 58 Dabei entstand eine erste Teilung zwischen Sunniten,

W. Montgomery Watt / Michael Marmura, Politische Entwicklungen und theologische Konzepte, a. a. O.; Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra, 6 Bde., Berlin / New York 1991–97; Tilman Nagel, Geschichte der islamischen Theologie von Mohammed bis zur Gegenwart, Müchen: Verlag C. H. Beck 1994. Der Ausdruck »formative Periode« bezieht sich auf die im ersten Teil des Buches dargelegte Studie zur Entstehung des Kalam und seiner Sekten, die Montgomery Watt bereits in seinem Buch: The formative Period of islamic Thought, Edinburgh 1973, beschrieben hat. 57 Al-Schahrastani, Kitāb al-Milal wal Nihal [Asch-Schahrastâni’s Religionsparteien und Philosophenschulen], hrsg., übersetzt und erklärt von Theodor Haarbrücker, 2 Bde., Halle, 1850–51. 58 Zu diesem Thema siehe: Hichem Djaït, La Grande Discorde, Religion et politique dans l’Islam des origines, Paris: Gallimard 1989. 56

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Schiiten und Kharigiten. Während die Sunniten, die heute die Mehrheit der Muslime ausmachen, den eingeleiteten Prozess in der Geschichte des Islams akzeptierten und die Nachfolge der vier rechtgeleiteten Kalifen für rechtmäßig hielten, nahmen die Schiiten nur Partei für Ali ibn ab Talib, den vierten und letzten rechtsgeleiteten Kalifen. Sie betrachteten ihn, den Vetter und Schwiegersohn des Propheten, sowie seine Kinder als die einzigen rechtmäßigen Nachfolger. Der Konflikt verschärfte sich, als die Umayyaden in der Schlacht von Kerbela (im heutigen Irak) im Jahre 680 Hussein, den jüngeren Sohn Alis, töteten und damit die Macht für sich entschieden. Von da an nahm die Trennung zwischen Sunniten und Schiiten dramatische Züge an und wurde manchmal zum Anlass für blutige Auseinandersetzungen unter den Konfliktparteien genommen. Dagegen hielten sich die Kharigiten bei dieser Konfrontation zurück und blieben gegenüber den beiden rivalisierenden Parteien eher neutral. 59 Auf der theologisch-spekulativen Ebene hatte diese Auseinandersetzung weitreichende Folgen, denn sie war der grundlegende Stein des Anstoßes für innertheologische Debatten, wie z. B. in der Frage nach dem freien Willen (Ikhtiar) oder der Prädestinationslehre (al Gabr). Diese letzte Position wurde nämlich vom ersten Herrscher der Umayyadendynastie Mu’awiya (661–680) vertreten und lieferte ihm die notwendige theologische Legitimation für seinen Herrschaftsanspruch. Aus diesem ersten Streitpunkt erwuchsen dann andere Schulrichtungen und Sekten, die wiederum neue Themen, wie die Frage nach den Eigenschaften Gottes und nach seiner Gerechtigkeit im Hinblick auf menschliche Handlungen, oder das Problem der Kausalität bzw. der Ewigkeit oder Erschaffung der Welt, entfachten. Die Entfaltung solcher Fragestellungen konnte aber erst durch die Übernahme und Vertiefung der aristotelischen Logik seitens der Gelehrten sowie durch ihre Bemühung um eine offene und kritische Auslegung der islamischen Quellen (Ijtihad) erzielt werden. 60 Allerdings wurde »die Anziehungskraft der griechischen philosophischen Konzeptionen und Methoden auf die Theologen dadurch verstärkt, dass diese bereits Rechtswissenschaft studiert und dabei die rationa-

Tilman Nagel, Geschichte der islamischen Theologie von Mohammed bis zur Gegenwart, a. a. O., S. 49 ff. 60 Max Horten, Die höhere Geisteskultur des Islam, a. a. O., S. 61 ff.; ferner: W. Montgomery Watt / M. Marmura, Politische Entwicklungen und theologische Konzepte, in: Der Islam, Teil I, a. a. O., S. 56 ff. 59

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len Formen der Argumentation kennen gelernt hatten« 61. Zu den Hauptvertretern dieser Schulen gehören die Murgi’a, die Mu’taziliten und die Ash’ariten, die über drei Jahrhunderte ihren Streit führten. Die Verfechter des Kalam gingen mit Begeisterung an ihre Arbeit, denn es herrschte eine sehr gespannte Atmosphäre sowohl unter ihren Anhängern als auch unter den Widersachern, die ihre Ansichten mit ähnlichen rationalen Argumenten zu widerlegen suchten. Dennoch gab es unter den Gegnern einige, wie die orthodoxen Hanbaliten, die den Kalam systematisch und mit Vehemenz bekämpften. Trotzdem prägte die Leistung der Mutakallimun das sog. goldene Zeitalter des Islam, da die Hermeneutik, d. h. die Interpretation der philosophischen und religiösen Schriften, ebenso wie die sprachlichen und literarischen Dispute unter diesen Gelehrten 62 zur vollen Blüte gelangten. Hier waren die Muslime nach den Worten von Montgomery Watt »nicht bloß Vermittler griechischen Denkens; sie waren echte Kulturträger. Sie erhielten die Disziplinen lebendig, zu denen sie Zugang gefunden hatten, und bereicherten sie um neue Fragestellungen« 63.

2.1. Rationalismus wider Dogmatismus: Die mu’tazilitische Schule Die Mu’taziliten, auch Freidenker genannt, waren diejenigen Theologen, die den Islam als Glaubenslehre nach rationalen Grundsätzen zu deuten versuchten und sich damit gegen die vorherrschende Hinnahme des Glaubens als Dogma stellten. Sie entwickelten eine umfassende Gotteslehre, eine Kosmologie sowie eine Rechts- und Moralphilosophie. 64 Der Begründer dieser zunächst als Sekte innerhalb des sunnitischen Glaubens erschienenen Richtung war Wasil ibn ’Ata W. Montgomery Watt / M. Marmura, Politische Entwicklungen und theologische Konzepte, a. a. O., S. 183. 62 Siehe z. B.: Abu Hayan at-Tawhidi, Das Streitgespräch über Grammatik und Logik zwischen Abu Said Al-Sirafi und Bishr Matta ibn Yunis, in: Al imta’ wal Muanasa, übers. von G. Endress, in: Sprachphilosophie in Antike und Mittelalter, a. a. O., S. 238–270. 63 W. Montgommery Watt, Der Einfluss des Islam auf das europäische Mittelalter, Berlin: Wagenbach Verlag, 1988, S. 48. 64 H. S. Nyberg, Al- Mu’tazila, Artikel in: Enzyklopädie des Islam, Leiden: Brill, Bd. III, S. 850–856. 61

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(gest. 748), der bei theologischen Streitfragen eine mittlere Haltung einnahm und sich infolgedessen vom allgemeinen Dogma absonderte. Auslöser dieser Trennung – I’tizal – war die Frage, ob ein Sünder, der einen Mord begangen hat, noch als Gläubiger zu bezeichnen oder als Ungläubiger einzustufen sei. Hier trat Wasil ibn ’Ata für eine »Mittelstellung zwischen Glauben und Unglauben« – manzila baina almanzilatain – ein und löste dadurch einen lange andauernden Streit unter den theologischen Gelehrten aus. 65 Zu den wichtigsten Vertretern der mu’tazilitischen Schule gehörten u. a. Abul Hudhail al-Allaf (gest. 841), Ibrahim al-Nazzam (gest. 845), Abu Ali al-Dschubai (gest. 915) und al-Qadi Abd alDschabbar (gest. 1025). Diese Schule entstand in der irakischen Stadt Basra, wo Wasil ibn ’Ata lebte und sich von seinem Lehrer Hasan alBasri wegen der vorhin genannten Frage abwandte. Ihr Einfluss auf die spekulative Theologie war jedoch beträchtlich und erreichte schnell Bagdad sowie die übrigen Zentren der islamischen Kultur, besonders nachdem ihre Grundsätze von der Abbasidendynastie zum festen ideologischen Bestandteil ihrer Herrschaft angeordnet wurden. Die Lehre der Mu’taziliten kreist hauptsächlich um fünf Prinzipien: Erstens geht es um die Einheit und Einzigkeit Gottes (tawhid), die zum Grundsatz der islamischen Glaubenslehre gehört. Hier besteht im Grunde kein Dissens zwischen der mu’tazilitischen Schule und dem islamischen Dogma. Das zweite Prinzip betrifft die Gerechtigkeit Gottes (al-’adl); das dritte: die Verheißung und die Drohung (al-wa’d wal Wa’id); das vierte: die sogenannte »Mittelstellung zwischen Glaube und Unglaube« (Al Manzila baina al-Manzilatain) und schließlich das fünfte Prinzip: die »Aufforderung zum guten Handeln und die Warnung vor schlechter Tat« (al-Amr bil Ma’ruf wa al-Nahy ’an al-munkar). Während die beiden ersten Prinzipien im Mittelpunkt der theoretischen Lehre stehen, bilden die drei letzten die Grundpfeiler ihrer praktischen Ethik. Ausgehend von diesen Prinzipien leiten die Mu’taziliten eine W. Montgomery Watt / M. Marmura, Politische Entwicklungen und theologische Konzepte, a. a. O., S. 211 ff.; an der Darstellung der Namensgebung übt Marmura Kritik, da es verschiedene Versionen gibt, die zu historischen Ungereimtheiten führen. Er kommt zu dem Schluss, dass »es zu Wasils und ’Amrs Lebzeiten keine Gruppe von Leuten gab, die Mu’taziliten genannt wurden und die den Mu’taziliten des Kalifats alMa’muns auch nur entfernt ähnelten« (S. 217). Er fügt aber hinzu, dass »der Name Mu’tazila ursprünglich auf jene angewendet wurde, die im Hinblick auf Ali neutral waren, und dass es Protoschiiten waren, die ihn auf sie anwendeten« (S. 219).

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Reihe von Fragen ab, die sie im Zusammenhang mit ihren Grundüberzeugungen zu beantworten suchten. Eine dieser von ihnen behandelten Fragen war die nach der Willensfreiheit, die in vollem Gegensatz zur Prädestinationslehre steht. Sie sucht zu entscheiden, ob der Mensch Herr seiner Handlungen und infolgedessen verantwortlich für seine Taten sei, oder ob er eher einem göttlichen Willen bzw. Gesetz unterworfen sei, was ihn dann zum einfachen Vollstrecker einer höheren Instanz machte und wodurch er von jeder Verantwortung entbunden würde. Anders ausgedrückt: Ist der handelnde Mensch grundsätzlich frei oder vorherbestimmt? Der hermeneutische Streit um diese Frage tauchte bei den islamischen Gelehrten sehr früh auf. 66 Er hatte den zu Beginn der Verbreitung des Glaubens herrschenden Grundkonsens erschüttert und die Gemeinschaft bereits in der Zeit der Umayyadenherrschaft geteilt. Diese Problematik war für die Theologen von großer Bedeutung, nicht zuletzt deshalb, weil sie das Verhältnis des Menschen ebenso zu Gott als auch zu dessen Stellvertretern auf Erde weitgehend bestimmt. So konnten z. B. die Machthaber der Umayyadendynastie jahrzehntelang die orthodoxe Linie der Fügung unter dem göttlichen Willen als Zeichen des eigenen Schicksals interpretieren und als Legitimationsgrund für ihren Herrschaftsanspruch gelten lassen. Hingegen übernahmen später die Abbasiden die Position der Mu’taziliten, die sich für die Willensfreiheit eingesetzt hatten und sich selbst als Anhänger der göttlichen Gerechtigkeit und Einheit (Ahl al ’Adl wat Tawhid) bezeichneten. Nach der Aussage von T. J. De Boer sollte »mit der Behauptung der Willensfreiheit die menschliche Verantwortlichkeit sowie die Heiligkeit Gottes, der nicht die sündigen Handlungen der Menschen unmittelbar hervorbringen könne, gerettet werden« 67. Es ging also um die göttliche Gerechtigkeit, die nichts Böses verursache und den Menschen nur nach seinen Handlungen und Verdiensten belohne oder bestrafe. Folglich, »um Diese Frage wurde auch von den christlichen Theologen aufgegriffen, stand aber erst mit Descartes als Topos des neuzeitlichen Denkens im Mittelpunkt des philosophischen Diskurses und erreichte dann im 20. Jahrhundert durch J. P. Sartres Aussage »Der Mensch ist nicht nur frei, er ist die Freiheit selbst und ist zur Freiheit verurteilt« ihren Höhepunkt. Siehe: Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Rowohlt Verlag, Reinbek 1952, S. 189, 630; Mohamed Turki, Freiheit und Befreiung, Zur Dialektik philosophischer Praxis bei JeanPaul Sartre, Germinal Verlag, Bochum 1986, S. 38 ff. 67 T. J. De Boer, Geschichte der Philosophie im Islam, a. a. O., S. 46. 66

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Gottes Gerechtigkeit zu retten, entscheiden sich die Mu’taziliten […] gegen die Prädestination und für die Willensfreiheit« 68. Anschließend an diese Fragestellung wurde dann die Spekulation über das Wirken Gottes bei der Schöpfung aufgegriffen. Hier stand das Problem der Erschaffung der Welt im Mittelpunkt und deutete auf eine Komplexität hin, die zunächst nicht vermutet werden konnte. Die Mu’taziliten erklärten schon die Welt für erschaffen. Sie folgten damit dem Standpunkt der dogmatischen Gelehrten, die einen Schöpfungsakt Gottes für die Entstehung der Welt unterstellten. Sie waren aber zugleich in Übereinstimmung mit der griechischen Tradition, die von einem kausalen Zusammenhang ausgeht und die Existenz der Welt durch eine Kausalitätskette auf die Aktion eines »unbewegten Bewegers« zurückführt. Dennoch stießen sie auf gewisse Grenzen metaphysischer Natur, was das Kausalitätsproblem anbetrifft. Es ging im Grunde um die Art und Weise der Schöpfung, d. h. ob diese im Sinne einer creatio ex nihilo stattfindet und somit einen zeitlichen Anfang hat, oder ob die Welt ewig sei, wie bereits Aristoteles behauptete. 69 Angesichts dieser Aporie stellte sich jedoch die Frage, wie der Dualismus aufgehoben werden könne: Auf der einen Seite wurde die Existenz eines unbewegten Bewegers behauptet, der als absolute Substanz die Welt in Bewegung versetzt, und auf der anderen Seite wurde vom Vorhandensein einer geordneten und ewigen Welt ausgegangen. Wie findet im Endeffekt die Vermittlung zwischen Gott und Materie statt? Ferner ging es um die Frage, ob der Koran ewig oder erschaffen sei. Für die mu’tazilitische Schule war der heilige Text erschaffen und nicht ewig, denn wäre er ewig, würde er diese Eigenschaft mit Gott teilen, was als Ketzerei zu bezeichnen wäre. Damit stellte sie sich

Wolfgang Günter Lerch, Denker des Propheten. Die Philosophie des Islam, a. a. O., S. 35. 69 Manfred Worms, Die Lehre von der Anfangslosigkeit der Welt bei den mittelalterlichen arabischen Philosophen und ihre Bekämpfung durch die arabischen Theologen (Mutakallimun). Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, Bd. III, Heft 4, Münster: Aschendorff Verlag, 1900, S. 40 ff. Nach Worms war die Lehre von der Ewigkeit der Welt einer der strittigsten Punkte zwischen den arabischen Theologen und den Philosophen im Mittelalter. Der Begriff von der Ewigkeit άίδιος wird bei Aristoteles zum ersten Mal in seiner ganzen Tragweite benutzt, indem dieser ihn nicht nur auf den Bereich der Unvergänglichkeit άφθαρτος, sondern auch auf den Bereich der Ursprünglichkeit άγένηστος bezieht. Das ewige Weltgebäude des Aristoteles war somit ursprunglos und unentstanden konzipiert. 68

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gegen die dogmatische Auffassung, die von der Ewigkeit Gottes und seinem Wort sprach. Schließlich rückte die Frage nach den Eigenschaften Gottes in den Vordergrund. Diese als Attributenlehre bekannte Problematik spielte bei der mu’tazlitischen Schule eine wichtige Rolle, weil sie den Standpunkt eines reinen, transzendenten und einheitlichen Gottesbegriffs befürwortete und infolgedessen die Vielheit der göttlichen Eigenschaften widerlegte. Nach dieser Vorstellung repräsentieren die Namen Gottes »einen virtuellen ›Sinn‹, eine ›Idee‹, welche […] der göttlichen Transzendenz adäquat ist« 70. Mit dieser Position stellten sich die Mu’taziliten gegen jeglichen Anthropomorphismus, der aufgrund einer äußeren Auslegung des Korans dem göttlichen Wesen vermenschlichte Eigenschaften zuweist und dadurch der Einheit Gottes zuwiderläuft. So setzten sich die Mu’taziliten mit der orthodoxen Ansicht auseinander, die »vom Wesen verschiedene Eigenschaften in Gott annimmt« 71, und versuchten die Einheit Gottes zu wahren. Bei diesem Streit ging es außerdem um die Unterscheidung zwischen den Attributen, die das Wesen Gottes kennzeichnen, und solchen, die seine Tätigkeit betreffen. Bei der Suche nach überzeugenden Antworten auf all diese Fragen, besonders bei der Erläuterung dessen, was der offenbarte Text allegorisch vermittelt oder ungenügend darstellt, griffen die Mu’taziliten auf das Erbe der griechischen Philosophie, speziell auf die späthellenistische und neuplatonische Überlieferung zurück, bei der sie einige Lösungen für die Aporien ihrer theologischen Ansichten fanden. 72 Bedauerlicherweise verloren die Mu’taziliten ebenso bei inneren Auseinandersetzungen mit den moderaten Ash’ariten wie auch gegenüber den streng dogmatischen Hanbaliten allmählich an Einfluss und wurden selber verfolgt, als im 9. Jahrhundert das Tor des Ijtihad, d. h. des Bemühens um die richtige Deutung des Glaubens, vom Kalifen al-Mutawakkil (846–861) per Dekret für abgeschlossen erklärt wurde. Mit dieser Entscheidung wurden dann sowohl die Herrschaft des Dogmas bzw. der Orthodoxie zementiert als auch das Gerhard Endress, Grammatik und Logik, a. a. O., S. 184. Max Horten, Die höhere Geisteskultur des Islam, a. a. O., S. 66. 72 G. Endress, Grammatik und Logik, Arabische Philologie und griechische Philosophie im Widerstreit, a. a. O., S. 166; bei Endress heißt es: »Im Strandgut der peripatetischen, neuplatonischen und anderen Strömungen der alten Metaphysik fanden die islamischen Theologen, wie vor ihnen die Väter der christlichen Kirche, neue Lösungen für die immanenten Aporien ihrer Theologie.« 70 71

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Ende des spekulativen Rationalismus eingeläutet. Im Zuge dieses Rationalismus konnten die Verteidiger der Philosophie im Islam klare Grenzen zwischen Vernunft und Glauben bzw. zwischen philosophischer Erkenntnis und religiöser Offenbarung ziehen. Der politische Kurswechsel, bei dem die Mu’taziliten ihre Einflussnahme eingebüßt hatten, engte auch ihre Tätigkeit ein und reduzierte ihre Wirkung auf kleine erlesene Zirkel von Theologen, die von den Volksmassen immer mehr abgeschnitten wurden. Das Beispiel der Mu’taziliten macht dennoch deutlich, dass ein liberaler Geist in der islamischen Gemeinschaft des 8. und 9. Jahrhunderts geherrscht hatte, lange bevor die Aufklärung im Abendland sich bemerkbar machte. Dieser Geist widerlegt vor allem jene im Westen weit verbreitete Vorstellung, wonach der Islam eine bloß fatalistische Haltung propagiert, die an die Prädestinationslehre erinnert und die Menschen an das von Gott vorgesehene Schicksal bindet.

2.2. Die spekulative Dialektik der Ash’ariten Gerade an der Problematik der göttlichen Attributenlehre scheint Abul-Hasan al-Ash’ari (gest. 935), einer der bedeutendsten spekulativen Theologen, anzuknüpfen und auf Distanz gegenüber der Mu’tazilitenschule zu gehen, um einen moderaten Weg in dieser Frage einzuschlagen. Zwar insistiert er weiterhin auf der Transzendenz Gottes, lehnt jedoch die allegorische Deutung seiner Attribute ab. Nach seiner Ansicht sind »Gottes Wesensattribute zwar nicht mit Gott identisch; aber sie sind auch nicht verschieden von ihm« 73. Mit dieser Haltung stellt al-Ash’ari zweifellos einen Wendepunkt in der Entwicklung des Kalam dar und nimmt aktiv am Reifungsprozess der sunnitischen Theologie und Dialektik teil. Über den Sinneswandel von einem Anhänger der mu’tazilitischen Schule zu einem ihrer Kritiker, den al-Ash’ari in seinem Leben vollzog, sind mehrere Geschichten überliefert worden. Die meisten wurden jedoch im Nachhinein von der Orthodoxie erdichtet, um ihren Triumph über den Rationalismus der Mu’tazila zu feiern. Demnach erlebte al-Ash’ari eine Glaubenskrise, als er etwa vierzig wurde. Da erschien ihm der Prophet im Traum und befahl ihm, die von ihm Al-Asch’ari, Maqalat al-islamiyin, ed. Hellmut Ritter, Istanbul: Matba’at ad-Dawla, 1929–1931, S. 169, zit. nach G. Endress, Grammatik und Logik, a. a. O., S. 184.

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überlieferte Glaubenslehre (Sunna) zu vertreten und sie nach außen zu verteidigen. 74 Das sei wahrscheinlich einer der Gründe gewesen, weshalb al-Ash’ari die mu’tazilitische Richtung aufgab und sich für den Rest seines Lebens den Studien der sunnitischen Theologie widmete. Marmura erwähnt andere Motive für seine Bekehrung, darunter auch die politischen und sozialen Unruhen, die im damaligen Zentrum des Kalifats herrschten und ihm Sorge bereiteten. Er kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass »die mu’tazilitische Schule sich in sich selbst zurückzog und auf ihre Erfolge in der Vergangenheit zurückblickte, und deshalb ist es wahrscheinlich, dass al-Ash’ari das irgendwie erkannte und anderswo ernsthaftere Versuche antraf, sich mit den drängenden Problemen des Tages zu befassen«. 75 Diese Vermutung stimmt auch mit der Auffassung von de Boer überein, wonach es al-Ash’ari war, »der es verstand, Gott zu geben, was Gottes, und dem Menschen, was des Menschen ist. Den groben Anthropomorphismus der antimu’tzilitischen Dialektiker wies er ab, Gott über alles Körperliche und Menschliche hinausrückend, ihm aber seine Allmacht und Allwirksamkeit lassend.« 76 Bei näherer Betrachtung seiner Lehre wird nämlich ersichtlich, wie es al-Ash’ari gelungen war, eine vermittelnde Rolle zwischen dem streng rationalistischen Kurs der Mu’taziliten auf der einen Seite und dem Dogma der Tradition auf der anderen einzunehmen. Er stützte sich zwar wie die Verfechter der Tradition auf die Offenbarung des Korans, lässt aber den metaphysischen Inhalt in Bezug auf göttliche Attribute und Handlungen nicht ohne Anwendung von Vernunfterkenntnis gelten. So wird z. B. die Erkenntnis Gottes mithilfe des Verstandes möglich, allerdings auf der Basis des offenbarten Textes als Quelle des Wissens. Dasselbe gilt auch für die göttlichen Bestimmungen, die die Vollkommenheit Gottes ausdrücken und seine Existenz unterstreichen, jedoch in einem anderen Sinne als die seiner Geschöpfe. Eines der Argumente in Hinblick auf diese Frage lautete: »Was immer existiert, kann Gott uns zeigen; Gott existiert, und deshalb ist es nicht unmöglich, dass er sich selbst uns zeigen sollte.« 77 W. Montgomery Watt / M. Marmura, Politische Entwicklungen und theologische Konzepte, a. a. O., S. 305. 75 Ebd., S. 306. 76 T. J. De Boer, Geschichte der Philosophie im Islam, a. a. O., S. 55. 77 Al-Asch’ari, Ibana, zitiert nach W. Montgomery Watt / M. Marmura, Politische Entwicklungen und theologische Konzepte, a. a. O., S. 308. 74

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Was die anderen Eigenschaften Gottes anbetrifft, so meint alAsh’ari, dass Gott bestimmte Attribute (Sifat) wie etwa Wissen besitze, die aber nicht mit seinem Wesen identisch seien. Sie werden zwar als Attribute angeeignet, sind jedoch nicht ewig. Somit distanziert sich al-Ash’ari von den Mu’taziliten, die eine Übereinstimmung von Wesen und Attribut vertreten und behaupten, dass diese ewig seien. Bezüglich Schöpfung und Erhaltung der Welt verleiht er Gott alle Macht und spricht infolgedessen der Natur jegliche Wirksamkeit ab. Dasselbe gilt auch für menschliche Handlungen. Diese sind ebenfalls von Gott geschaffen und der Mensch habe kein Vermögen zu handeln, bevor er tatsächlich handelt. Hier fallen nach seiner Ansicht Vermögen und Tun zusammen. Damit setzt sich al-Ash’ari von der Auffassung der Mu’taziliten eindeutig ab, die ›das Vermögen vor dem Tun‹ vorsieht, und nähert sich in der Frage der Willensfreiheit im Grunde mehr an die dogmatische Position der Orthodoxie an. Dennoch sondert er sich von der letzteren aufgrund der Anwendung rationaler Methoden bei seinem hermeneutischen Verfahren und bei der Erörterung des Korans ab. Viel offensichtlicher tritt bei al-Ash’ari die rationale Argumentation in den Vordergrund, wenn er zu beweisen versucht, wie die Gottesschau vom Standpunkt der Vernunft aus möglich sei. Dabei bezieht er sich auf den Koran (Sure 74.22), der besagt: »An jenem Tag wird es strahlende Gesichter geben, die auf ihren Herrn schauen.« 78 Hier weist er alle metaphorischen Deutungen des arabischen Wortes nazara zurück, das ›schauen‹ bedeutet, da seine Verwendungen im Sinne von ›betrachten‹ oder ›nachdenken über‹ nicht zutreffen, wo von Gesichtern die Rede ist. Die Art der Begründung, die in diesem Zusammenhang vorgeführt wird, weist vor allem einen feinen Umgang mit Sprache und Grammatik auf. Auch bei der Auswahl der Argumente zeigt al-Ash’ari ein Gespür für die Beweise und Koranverse, die seinen Standpunkt stützen. Nach der Ansicht von Endress scheint für die Entfaltung dieser spekulativen Dialektik die Beschäftigung der Theologen und Philosophen mit der Sprache und ihr Verhältnis zur Logik wesentlich zu sein. 79

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Der Koran, Sure 74.22. G. Endress, Grammatik und Logik, a. a. O., S. 184 ff.

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Grammatik versus Logik, der hermeneutische Streit

2.3. Grammatik versus Logik, der hermeneutische Streit Geht man davon aus, dass mit der Offenbarung des Korans und dessen angeschlossener Niederschrift durch den dritten rechtgeleiteten Kalifen Uthman (gest. 656) eine neue Ära der Geisteskultur im Islam begonnen hatte, dann wird erkennbar, wie die Entwicklung danach vonstatten ging. Gerhard Endress führt bereits in seinem Forschungsbericht über die arabisch-islamische Philosophie an, dass das Bedürfnis der sich entfaltenden islamischen Gemeinde nach mehr Wissen, »der Fortbildung der rationalen Wissenschaften, der theoretischen wie der praktischen, weitreichende Impulse« 80 gegeben hatte. So zog der Übergang von der mündlichen zur schriftlichen Überlieferung eine intensive Beschäftigung mit der Sprache und Grammatik nach sich und begünstigte die »Entstehung einer arabischen Sprachwissenschaft, die sich nun mit der Ausgestaltung der Sprache befasste« 81. Die arabische Sprache entwickelte sich in der Folge zu einem für das gesamte Reich einheitlichen Medium und wurde im Zuge der Verbreitung des Islams und der Ausdehnung des Reiches zur Hochsprache der religiösen, politischen und wirtschaftlichen Elite. Außerdem wurde sie zum Teil als Schriftsprache von jenen Völkern übernommen, die in die Einflusssphäre des Islam traten und sich ihrer eigenen Sprache weiterhin bedienten, wie etwa die Perser im Iran und später die Türken unter den Osmanen. »Die Folge war, dass in der gesamten islamischen Welt eine Universalsprache zur Verfügung stand, in der sich […] die Gelehrten austauschen und miteinander kommunizieren konnten« 82 und in der auch ihre theologischen Auseinandersetzungen und ihre philosophischen Dispute ausgetragen wurden. Schon durch den Aufstieg des Arabischen zur Sprache des Glaubens und der Verwaltung im gesamten islamischen Reich entstand zunächst die Grammatik als neue Sprachwissenschaft, die der Sprache ihren Kodex bzw. ihre eigenen Regeln verlieh und somit ihren geistigen Habitus sowie ihre methodische Richtung festlegte. Diese philologische Disziplin, die von dem Grammatiker al-Khalil ibn Ahmad 80 Gerhard Endress, Die arabisch-islamische Philosophie, Ein Forschungsbericht, in: Zeitschrift für Geschichte der arabisch-islamischen Wissenschaften, hrsg. v. Fuat Sezgin, Frankfurt a. M. 1989, Bd. 5, S. 1. 81 Geert Hendrich, Arabisch-islamische Philosophie, Geschichte und Gegenwart, a. a. O., S. 28 (Hervorhebung im Original). 82 Ebd., S. 24.

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2. Theologie und Philosophie: die Entstehung des Kalam

(718–791) und seinem Schüler Abu Bashr ’Amr ibn ’Uthman (760– 796) – Sibawaih genannt – im 8. Jahrhundert geschaffen wurde, schien den Erwartungen sowohl der Theologen und Juristen als auch der Dichter und Literaten entgegen zu kommen, welche gerade an der Entfaltung der klassisch-arabischen Kultur und der Religionswissenschaften starken Anteil nahmen. Die Normsetzung der Sprache verstärkte besonders das Fundament des offenbarten Wortes und schützte zugleich die Auslegung des Korans vor Willkür und Neuerung (bid’a genannt). Daher gleicht nach Endress »die arabische Grammatik – und mit ihr die Lexikographie und Stilistik – […] in vieler Hinsicht jenen anderen, spezifisch islamischen Wissenschaften: wie die Pflichtenlehre der Scharia sucht sie Normen, ›Sunna‹, des Gebotenen und Verbotenen, Empfohlenen und Missbilligten und schlicht Erlaubten festzustellen und abzuleiten; wie jene vom Koran und den ihn begleitenden Traditionen, geht sie von Textzeugnissen eines mythischen Sprachkonsensus aus. Die Grammatiker zeigen nicht so sehr, wie die Sprache ist in ihrer Vielfalt, Individualität und stetigen Entwicklung, sondern vor allem, wie sie sein soll; der kalam al-’Arab, die ursprüngliche Praxis der reinen Araber, ist ihr Gegenstand.« 83

Infolge dieses Prozesses rückte also die Grammatik zur Grundwissenschaft des Islams voran, und sie behauptete sich als selbständige Lehre gegenüber der hellenistischen Tradition, die das islamische Kulturleben immer mehr in Wissenschaft und Philosophie prägte. Vor allem aber bekam die Logik eine sehr wichtige Rolle im Rahmen der Deduktion von Syllogismen bei der Auslegung theologischer Sätze. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die ersten arabischen Philosophen, wie al-Kindi und später al-Farabi, der Sprache und Grammatik genauso viel Aufmerksamkeit schenkten wie der aristotelischen Logik. Sie hatten nämlich die Beziehung von Sprache und Denken im Verhältnis zwischen Grammatik und Logik ausführlich behandelt und waren zu wichtigen Ergebnissen gelangt. Während sich al-Kindi der philosophischen Terminologie in arabischer Sprache widmete und die Philosopheme aus den Wurzeln der Wörter ableitete, legte al-Farabi später noch mehr Wert darauf, die Philologie der Philosophie anzuschließen und ihre Bedeutung bei der Einteilung der Wissenschaften hervorzuheben. Schon in seinem ›Katalog der Wissenschaften‹ (Ihsâa al-’Ulum), dem enzyklopädischen System der Philosophie in arabischer Sprache, setzt al-Farabi 83

G. Endress, Grammatik und Logik, a. a. O., S. 175.

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Grammatik versus Logik, der hermeneutische Streit

die Sprachwissenschaft (’ilm al-lisan) mit den Disziplinen Grammatik und Lexikographie an die erste Stelle, gefolgt von der Logik. Für ihn besteht ein notwendiges und ausgewogenes Verhältnis zwischen der Kunst der Sprache und derjenigen der Logik: »Die Kunst der Logik verhält sich zum Verstand und den Verstandesbedingungen wie die Kunst der Grammatik zur Zunge (lisan), d. h. zur Sprache und den Sprachlauten (alfaz). Alles, was uns die Grammatik an Gesetzen über die Sprachlaute gibt, das gibt uns die Wissenschaft der Logik entsprechend über die Verstandesdinge.« 84 So nimmt die Sprache offensichtlich eine führende Rolle bei der Konzeption und Benennung der Dinge wie auch bei der Hermeneutik ein, die nicht nur für die klassischen Wissenschaften von Relevanz ist, sondern auch für die Philosophie. Dieser Tatbestand darf heute nicht verwundern, wenn er mit der Aussage von Hans Georg Gadamer aus ›Wahrheit und Methode‹ in Verbindung gebracht wird: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.« 85 Al-Farabi blieb allerdings nicht auf der formalen Ebene stehen. Endress macht deutlich, wie er »seine Logik und seine Ontologie auf dem Fundament einer Hermeneutik (entwickelte), welche nicht nur griechische Begriffe und Termini reproduziert, sondern die sprachlichen Voraussetzungen und Mittel der Philosophie als einer arabischen Philosophie ausbreitet und ihre Terminologie in geschlossener Systematik definiert« 86. Dadurch leistete al-Farabi, wie kein anderer vor und nach ihm, für die arabische Philosophie den entscheidenden Beitrag. Er ließ sie in der Tat arabisch sprechen, »indem er Sprachlehre und Logik miteinander als Grundsteine seines Systems, zugleich als Fundamente einer islamischen Philosophie« 87 verknüpfte. Dieser Prozess der Vermittlung von Grammatik und Logik verlief jedoch nicht ohne Spannungen in der arabisch-islamischen Kultur. Der hermeneutische Streit zwischen den Anhängern einer reinen Al-Farabi, Ihsa al-Ùlum, hrsg. von Ùthman Amin, Kairo 1948, S. 54. Deutsch: Über die Wissenschaften – De scientiis, Lateinisch – Deutsch, nach der lateinischen Übersetzung Gerhards von Cremona, herausgegeben mit einer Einleitung versehen und übersetzt von Franz Schupp, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2005, S. 25. Man findet noch ähnliche Äußerungen von al-Farabi in anderen Schriften, wie Kitāb al Alfaz al-musta’mala fil Mantiq [Das Buch der gebrauchten Wörter in der Logik], hrsg. von Muhsin Mahdi, Beirut 1968, S. 107. 85 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr Verlag, 1965, S. 450. 86 Gerhard Endress, Grammatik und Logik, a. a. O., S. 221. 87 Ebd., S. 223. 84

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2. Theologie und Philosophie: die Entstehung des Kalam

Philologie, die eine Entsprechung von Sprache und Erkennen stark betonten, und den Befürwortern einer Verbindung von logischen und grammatikalischen Regeln als Grundlage des Wissens spitzte sich im Laufe des 10. Jahrhunderts zu und war Anlass für vielfältige theoretische Auseinandersetzungen unter den Philologen und den Logikern. So traten Erstere für eine »Rehabilitierung der Sprache« 88 und ihrer grammatikalischen Strukturen ein, während Letztere die Bedeutung der Gesetze der Logik als »Propädeutik für das Denken« herauszustellen versuchten. Paradigmatisches Beispiel dafür war das Streitgespräch zwischen dem Philologen Abu Said al-Sirafi und dem Logiker Abu Bishr Matta ibn Yunus, welches der arabische Humanist Abu Hayan Tawhidi in seinem bekannten Werk Buch der Ergötzung und der geselligen Unterhaltung (Kitāb al-Imta’ wal-Muanasa) 89 überlieferte. Darin ging es in erster Linie um das Verhältnis von Sprache und Reflexion und um die Verbindung beider Felder. Während alSirafi die »Sprache als eine der anthropologischen Bedingungen versteht, unter denen sich menschliches Denken und Können zwischen den Völkern differenziert« 90, deutet der Logiker und Übersetzer des 12. Buch der Metaphysik von Aristoteles, Abu Bishr Matta ibn Yunus, dieses Verhältnis nach den allgemeinen Prinzipien der Logik und hebt den Universalcharakter des Denkens gegenüber der Besonderheit der Sprache hervor. Das Plädoyer von al-Sirafi für ein Festhalten an der Grammatik und für eine selbständige Entfaltung der arabischen Sprachwissenschaft dient zweifellos der Abwehr jeglicher Vereinnahmung der Sprache durch die Logik, wie sie bereits von den arabisch-islamischen Philosophen als Instrument zur Prüfung des richtigen Denkens angewandt wurde. Aber hinter diesem theoretischen Streit verbirgt sich auch der ideologische Konflikt zwischen denjenigen, die an der Tradition festhielten, und den Verfechtern einer interkulturellen Öffnung.

Wilfried Kühn, Die Rehabilitierung der Sprache durch den arabischen Philologen Al-Sirafi, in: Burkhard von Mojsisch (Hrsg.), Sprachphilosophie in Antike und Mittelalter, Bochumer Kolloquium, 2.–4. Juni 1982, Amsterdam: B. R. Grüner Publishing Company, 1986, S. 301–402. 89 Gerhard Endress, Grammatik und Logik, a. a. O., Textanhang, S. 237–296. 90 Wilfried Kühn, Die Rehabilitierung der Sprache durch den arabischen Philologen As-Sirafi, a. a. O., S. 302. 88

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3. Hauptmerkmale und Vertreter der arabisch-islamischen Philosophie

Charakteristisch für die arabisch-islamische Philosophie scheint zunächst die Unklarheit ihrer Bestimmung zu sein. Zuerst hatte man sie lange Zeit für ein bloßes Bindeglied zwischen der antiken Philosophie und der Scholastik des Mittelalters gehalten. Dann wurde sie mangels systematischer Fundierung völlig in Frage gestellt, und es wurde ihr infolgedessen jegliche Eigenständigkeit abgesprochen. Schließlich kam man langsam der Wahrheit einen Schritt näher und gab sich Mühe, die arabisch-islamische Philosophie genauer zu betrachten, um ihr doch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. So hatte man sie zwar für ein Kind ihrer Zeit angesehen, d. h. dass sich ihre Leistung nicht in der Bewahrung und Vermittlung antiker Wissenschaft und Philosophie allein erschöpfte, sondern dass sie vielmehr dem Anspruch der islamischen Offenbarung gerecht werden wollte, indem sie sich in den Dienst des Glaubens stellte. Doch bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass die arabisch-islamische Philosophie dasselbe Ziel verfolgte wie die griechische, nämlich die Suche nach Wahrheit. Dieses Ziel stand bereits auf dem Programm von al-Kindi, dem ersten »Philosophen der Araber«, der es folgendermaßen formulierte: »Zweck der Philosophie ist die wahre Natur aller Dinge in dem Ausmaß zu erkennen, in welchem der Mensch des Erkennens fähig ist.« 91 Dieses Ideal wurde weiter verfolgt und von seinen Nachfolgern stets im Auge behalten, wenngleich ihre Themen variierten. Natürlich konnte diese Aufgabe nicht ohne Bezug auf die antike Philosophie bewerkstelligt werden. Im Gegenteil, die arabisch-islamischen Philosophen fühlten sich sogar verpflichtet, das Erbe der alten Griechen anzutreten und deren Zielsetzungen zu übernehmen, 91 Al-Kindi, Fil-Falsafa al-Ula [Über die erste Philosophie], Rasa’il al-Kindi al-falsafia, hrsg. M. A. Abu Rida, S. 95. Deutsch: Al-Kindi, Die erste Philosophie: Arabisch – Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Anna Akasoy, Freiburg im Breisgau: Verlag Herder 2011.

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3. Hauptmerkmale und Vertreter der arabisch-islamischen Philosophie

weil sie der Ansicht waren, dass die philosophische Wahrheit weder durch den Fleiß einer Person erlangt werden kann, noch von der Mühe einer Gruppe abhängt. Es bedarf, wie al-Kindi noch einmal betonte, vielmehr »der gemeinsamen Anstrengungen jetziger und früherer Generationen« 92. Allerdings erfordert die Suche nach der Wahrheit nicht einfach die blinde Übernahme des antiken Wissens, sondern auch seine Überprüfung und Ergänzung durch neu erworbene Erkenntnisse, die dem Geist der Zeit entspringen. Deshalb konnten die arabisch-islamischen Philosophen nicht bloß das wiederholen, was ihre griechischen Lehrer schon gesagt hatten. Sie sind nämlich, wie Marmura richtig formuliert, einen Schritt weitergegangen: »Sie kritisierten und überprüften, verfeinerten und arbeiteten aus, verglichen und wählten aus, untersuchten und trafen neue Unterscheidungen. (Sie) gestalteten Konzepte um, indem sie neue metaphysische Synthesen entwickelten, die von den Einsichten und den Visionen ihrer verschiedenen Schöpfer geprägt waren.« 93

Aus diesem Grunde lässt sich eindeutig schließen, dass eines der Merkmale der arabisch-islamischen Philosophie darin bestand, eine Kontinuität mit dem antiken Denken im Hinblick auf die Zielsetzung zu gewährleisten, zugleich aber auch eine Anpassung dieses Denkens an die eigene Wirklichkeit zu vollziehen. Deshalb war diese Philosophie zunächst darauf ausgerichtet, eine Harmonie zwischen Theologie und Philosophie herzustellen. Ihre Absicht zielte darauf, eine philosophische Auffassung von Gott und der Welt mit dem Inhalt des Korans als geoffenbarten Textes in Einklang zu bringen. Diese bereits im Rahmen des Kalam behandelte Fragestellung wurde nun zu einem der zentralen Themen der Philosophie im arabisch-islamischen Raum. Es ging zuerst um die rationale Begründung des Glaubens und seine Legitimation durch die Philosophie, aber auch um die Wahrung der Einheit von Wissen als Beweis für die Unteilbarkeit der Wahrheit. Hier diente vor allem die sogenannte Theologie des Aristoteles, die eigentlich einen Auszug aus den Enneaden Plotins darstellte, als Grundlage für die mögliche Annäherung der platonischen Position an die aristotelische auf der einen Seite und folglich für die Übereinstimmung der Philosophie mit der islamischen Offenbarung auf der anderen Seite. Diese Art »Harmonie der Religion und Ebd., S. 109. W. Montgomery Watt / Michael Marmura, Politische Entwicklungen und theologische Konzepte, in: Der Islam, Bd. II, a. a. O., S. 321.

92 93

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3. Hauptmerkmale und Vertreter der arabisch-islamischen Philosophie

Philosophie« 94, um den Titel einer Schrift von Ibn Rushd (Averroes) als Motto symbolisch zu gebrauchen, blieb durchgehend eine Konstante für die Beschreibung dieses Denkens, wenngleich andere Felder im Bereich der praktischen Philosophie und Naturphilosophie erschlossen wurden. Ein weiterer Aspekt dieser Philosophie zeichnet sich bei der Bestimmung des Menschen und seiner Beziehung sowohl zur Transzendenz als auch zur Welt ab. Was die Mutakallimun und besonders die Mu’taziliten im Zusammenhang mit der Prädestinationslehre und dem freien Willen angeschnitten hatten, trat bei den arabisch-islamischen Philosophen in den Vordergrund ihrer praktischen Philosophie bzw. Ethik. Die Konzeption des freien Willens setzte sich langsam durch und bereitete den Weg für eine Betonung der Rolle des Menschen sowohl in der Welt als auch in der Gestaltung von Politik und Gesellschaft. Dabei wurde sowohl bei al-Farabi und Miskawayh als auch bei den Lauteren Brüdern von Basra der humanistische Charakter der arabisch-islamischen Philosophie sichtbar. 95 Neuere Forschungen wie die von Mohammad Arkoun und George Makdissi stellten diesen Aspekt heraus und zeigten, wie die Vorboten des Humanismus schon im 9. Jahrhundert im arabisch-islamischen Raum gesichtet und die ersten Blüten sichtbar wurden, bevor dieser mit der Renaissance im Abendland sich entfaltete. 96 Anschließend an diese humanistische Auffassung folgte das zunehmende Interesse der arabisch-islamischen Philosophie für die Natur und deren Erkenntnis. Wie Bloch schon richtig anmerkte, waren die arabisch-islamischen Denker mehr Ärzte und Wissenschaftler als So betitelt Markus Joseph Müller 1875 die erste Übersetzung von Ibn Ruschds Text, Fasl al-Maqal [Die entscheidende Abhandlung]. Siehe: Philosophie und Theologie von Averroes, übers. von Markus Joseph Müller mit einem Nachwort von Matthias Vollmer, Weinheim: VCH Verlagsgesellschaft 1991; eine neue Übersetzung dieser Schrift ist von Franz Schupp mit dem Titel: Die Entscheidende Abhandlung und die Urteilsfällung über das Verhältnis von Gesetz und Philosophie, Arabisch – Deutsch, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2009, veröffentlicht worden. 95 Mohamed Turki, Humanismus und Interkulturalität. Ansätze zu einer Neubetrachtung des Menschen im Zeitalter der Globalisierung, Wissenschaftsverlag, Leipzig: Edition Hamouda 2010, S. 80 ff. 96 M. Arkoun, Contribution à l’étude de l’humanisme arabe au IV/X siècle: Miskawayh (320/325–421) – (932/936–1030) philosoph et historien, éd. Vrin, Paris 1970; außerdem: M. Arkoun, Humanisme et Islam, Combat et propositions, Paris: éd. Vrin 2005; ferner: G. Makdisi, The rise of Humanism in classical islam and the christian West, Edinburgh University Press 1990. 94

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3. Hauptmerkmale und Vertreter der arabisch-islamischen Philosophie

Theologen; »sie lebten weltlich und dachten naturwissenschaftlich« 97. Besonders in den Schriften der Ärzte Abubakr ar-Razi (865–925) und Ibn Sina (Avicenna) sowie in der Enzyklopädie der Lauteren Brüder drückte sich dieses Interesse am klarsten aus. Eine rationale Verbindung zwischen Mikro- und Makrokosmos wurde hergestellt und auf fünf Prinzipien systematisch aufgebaut. Diese Prinzipien umfassen die Materie, den Raum, die Zeit, die universelle Seele und den Schöpfer als Ursache alles Existierenden. Hier machte sich der Einfluss der griechischen Atomisten besonders bemerkbar und prägte den Charakter dieser Naturphilosophie, die bisher nur in Ansätzen erforscht wurde. 98 Außerdem konnten andere Bereiche der Naturwissenschaften wie Astronomie, Alchimie, Biologie, Medizin und Optik weiter vertieft und entwickelt werden. Das Kompendium der Medizin (AlHawi fi at-tibb) von ar-Razi und der Kanon der Medizin von Ibn Sina (Avicenna), die bis zum 17. Jahrhundert im Abendland zu den Standardwerken der Medizin an den europäischen Medizinfakultäten gehörten, unterstreichen noch einmal die Wichtigkeit dieses Interesses. Ferner sticht die arabisch-islamische Philosophie durch ihre zunehmende Beschäftigung mit Ethik und Politik hervor. Von Anfang an galt ihr Augenmerk der Staatslehre und der Errichtung einer musterhaften Verfassung, die in dem neu geschaffenen Gemeinwesen Widerhall finden sollte. Von al-Farabis Musterstaat und Staatsleitung über Ibn Rushds Kommentare zu Platons Republik 99 bis hin zu Ibn Khaldûns Geschichtstheorie stand die Konzeption des Staates im Mittelpunkt der praktischen Philosophie. Schließlich durfte die Beziehung der Philosophie zur Mystik nicht außer Acht gelassen werden. Diese war etwas ambivalent und von Spannungen begleitet. Zwar teilte die Mystik mit der Philosophie die immanente Erfahrung des Menschen und sein Streben nach Wahrheit bzw. Erforschung des Urgrundes der Welt. Aber der Weg E. Bloch, Avicenna und die aristotelische Linke, a. a. O., S. 481. F. Dieterici, Die Naturanschauung und Naturphilosophie der Araber im zehnten Jahrhundert. Aus den Schriften der Lauteren Brüder, Berlin 1861; S. Pines, Beiträge zur islamischen Atomlehre, Berlin 1936; P. Kraus, al-Razi’s Opera Philosophica, Kairo 1939. Inzwischen kümmert sich eine ganze Reihe von Instituten um die Erforschung und Veröffentlichung der naturwissenschaftlichen Manuskripte aus dem arabisch-islamischen Raum, wie z. B. das Institut für Geschichte der arabisch-islamischen Wissenschaften unter der Leitung von Fuat Sezgin in Frankfurt. 99 Erwin Rosenthal (Hrsg., Übers.), Averroes’ commentary on Plato’s Republic, Cambridge, U.P. 1966. 97 98

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Al-Kindi und die Aneignung des griechischen Denkens

zur Erkundung dieser Wahrheit war nicht immer derselbe, den die Philosophie beschritt und noch heute beschreitet. Die Erkenntnismystik verfolgte einen pantheistischen Pfad, der nicht unbedingt rational nachvollziehbar ist. Deshalb stand sie lange Zeit in Konflikt mit dem philosophischen Rationalismus der Peripatetiker. Dennoch mischte sich diese Erkenntnis häufig mit philosophischer Anschauung, sodass sich eine deutliche Trennung zwischen den beiden Erkenntniswegen schwer ziehen ließ. Die Haltung der islamischen Orthodoxie zur Mystik war ihrerseits nicht weniger feindlich, weil die Mystiker sich oft nicht an die Gesetze des Dogmas hielten, sondern eher an die Kraft des Glaubens und der inneren Erleuchtung. Durch den Einsatz von al-Ghazali kam es jedoch zu einer Annäherung, die zu einer Rehabilitierung der Mystik innerhalb der islamischen Orthodoxie führte. Der Schulterschluss zwischen Orthodoxie und Mystik besiegelte nach den Aussagen von Mohamed Abed al-Jabiri das Schicksal der Philosophie, die von beiden Seiten angegriffen wurde und keine Unterstützung mehr fand. 100 Alle diese Aspekte zeigen ganz deutlich, wie vielfältig und inhaltsreich die arabisch-islamische Philosophie sowohl in konzeptueller als auch in methodischer Hinsicht war. Dies wird aber nun anhand der einzelnen Denker ausführlich erörtert.

3.1. Al-Kindi und die Aneignung des griechischen Denkens Abu Yusuf Ya’kub ibn Ishaq al-Kindi (801–873) wird als erster namhafter Philosoph in der arabisch-islamischen Welt mit dem Titel »Philosoph der Araber« (failasuf al-Arab) genannt. Diese Bezeichnung wirft zwar Fragen bezüglich ihrer Bedeutung auf, weist aber zunächst darauf hin, dass es sich hier um etwas Besonderes und Außergewöhnliches handelt, da die Araber bis dahin hauptsächlich durch ihren Hang zur Dichtung bekannt waren. Mit al-Kindi beginnt in der Tat eine neue Ära des philosophischen Denkens in einem Raum, der wesentlich von der Neigung zur Lyrik und Macht des geoffenbarten Wortes geprägt war. Aus der Familie eines Verwalters in der Stadt Kufa im Irak stammend, genoss al-Kindi eine breit gefächerte Ausbildung, die er später in Bagdad durch seine Kontakte zu den 100

M. Abed al-Jabiri, Nahnu wal Turath, a. a. O., S. 218.

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3. Hauptmerkmale und Vertreter der arabisch-islamischen Philosophie

namhaften Übersetzern der griechischen Philosophie weiter vertiefte. Obwohl nur ein kleiner Teil seiner Werke erhalten blieb und in Form von Episteln 101 erschien, ist dennoch überliefert, dass al-Kindi über zahlreiche Themen wie Mathematik, Astronomie, Physik, Metaphysik und Ethik geschrieben hat. Dies zeugt wiederum von der universalen Bildung, die im damaligen Reich herrschte und die geistige Atmosphäre kennzeichnete. Durch seine aktive Teilnahme an der im Auftrag des Kalifen al-Ma’mun organisierten Übersetzung der aristotelischen Werke konnte er einen Teil des Wissens griechischer Philosophie ins Arabische vermitteln. Ihm kam dadurch die Pionierrolle zu, einen wichtigen Beitrag bei der Schaffung und Entwicklung eines philosophischen und wissenschaftlichen Vokabulars in arabischer Sprache zu leisten. Zentrale Begriffe der platonischen und aristotelischen Philosophie, wie die Lehre von den vier Ursachen (causa materialis, formalis, finalis und movens) oder die Akt-Potenz-Unterscheidung beim Intellekt, fanden dank seiner Hilfe ihre entsprechenden arabischen Äquivalente. Vor allem setzte sich al-Kindi mit der spekulativen Dialektik der Mu’taziliten auseinander und bemühte sich um eine Verbindung zwischen Offenbarung und Philosophie. Er lobte zwar in den höchsten Tönen die griechischen Denker und widmete ihnen einige seiner Abhandlungen, war aber fest davon überzeugt, dass die Inhalte der Philosophie nicht im Widerspruch zur islamischen Offenbarung stehen können, denn die Wahrheit der Weisheit dürfe keinesfalls der Wahrheit des göttlichen Wortes widersprechen. In seinem bedeutenden, dem Kalifen Al Mu’tasim gewidmeten Hauptwerk Über die erste Philosophie 102 (Fi al-Falsafa al-ula) kommt dieser Ansatz klar zum Ausdruck, indem er am theologischen Grundsatz von der Erschaffung der Welt aus dem Nichts – creatio ex nihilo – durch Gott festhielt und sich gleichzeitig auf die aristotelische Naturphilosophie berief, um seinen Standpunkt zu stützen. Seine Argumentation diesbezüglich gründet auf dem Prinzip der Endlichkeit all dessen, was aktual ist bzw. was in actus sich befindet oder bewegt. Sofern alles, was geschieht, d. h. entsteht und vergeht, an die Zeit gekoppelt ist und diese

Abu Ishaq Al-Kindi, Rasa’il al-Kindi al-falsafiyya, hrsg. von M. Abu Rida, 2 Bde., Kairo 1950. 102 Al-Kindi, Die erste Philosophie, a. a. O.; Alfred Ivry, Al-Kindi’s Metaphysics, a translation of Ya’qub ibn Ishaq al-Kindi’s treatise »On first Philosophy« – Risala fil falsafa al-ula – with Introduction and Commentary, Albany, New York 1974. 101

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Al-Kindi und die Aneignung des griechischen Denkens

sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zukunft an ein bestimmtes Ende stößt, muss infolgedessen die Welt genauso wie die Zeit endlich und somit geschaffen sein. Allein dem Einen als Schöpfer bzw. als erster Ursache steht nach al-Kindi Unendlichkeit und Absolutheit zu, wobei diese Bezeichnungen für ihn keine Attribute darstellen, sondern vielmehr dem Einen wesentlich zugesprochen werden. Bei dieser Bestimmung mischen sich pythagoreische und neuplatonische Einflüsse, die mit der Lehre der Mu’taziliten in Bezug auf die Einheit Gottes in Einklang stehen; denn das wahre Eine ist, wie die Basis jeder Zahl, die Ursache des Daseins aller individuell seienden Dinge und der Verleiher ihrer Existenzen. Insofern gilt die Welt für al-Kindi als geschaffen und nicht als ewig, wie Aristoteles behauptet. Gerade an diesem Punkt zeichnet sich bereits die erste Abweichung von der antiken Tradition ab. 103 Auch in der Frage nach der Bestimmung des Intellektes (Nûs) leistet al-Kindi einen eigenen Beitrag. Wie T. J. De Boer in seiner Geschichte der Philosophie im Islam unterstreicht, »taucht zum ersten Mal hier nun die Lehre von der Vernunft oder vom Geiste (νούς – ’aql) in einer Gestalt auf, wie sie, nur etwas modifiziert, bei den späteren muslimischen Philosophen einen großen Platz einnimmt und […] charakteristisch [ist] für den ganzen Verlauf der Philosophie im Islam« 104. Hierbei muss aber daran erinnert werden, dass Aristoteles eine Unterscheidung zwischen zwei Arten von Intellekt vorsieht, die sich nach seinem metaphysischen Grundschema wie Akt und Potenz zueinander verhalten. Der intellectus agens oder activus ist stets aktiv und Erkenntnis gebend. Dem gegenüber steht der passive Intellekt, der bloß rezeptiv, d. h. aufnehmend und an die sinnliche Welt gebunden ist. Der aktive Intellekt abstrahiert durch seine Einwirkung auf den passiven intellectus possibilis die allgemeinen Formen, indem er sie aus den Sinnesdaten und Vorstellungsbildern 105 herausholt und sie somit von der Potenz zum Akt führt. Später übernahmen die NeuM. Worms, Anfangslosigkeit der Welt bei den mittelalterlichen Philosophen des Orients und ihre Bekämpfung durch die arabischen Theologen (Mutakallimun), a. a. O., S. 16; obwohl Worms al-Kindi in dieser Schrift eher auf der Seite der Befürworter der Anfangslosigkeit der Welt sehen wollte, geht aus den Texten eindeutig hervor, dass al-Kindi zu den Verfechtern der Schöpfung der Welt aus dem Nichts gehört. Somit blieb er dem islamischen Dogma treu. 104 T. J. De Boer, Geschichte der Philosophie im Islam, a. a. O., S. 94. 105 Aristoteles, De anima, Über die Seele, Buch III, 430a, Philosophische Schriften, Band 6, Hamburg: Meiner Verlag 1995, S. 76. 103

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3. Hauptmerkmale und Vertreter der arabisch-islamischen Philosophie

platoniker diese Zweiteilung und erweiterten sie um eine dritte Stufe, nämlich die Weltseele, die als Vermittlerin zwischen den beiden vorher genannten Ebenen auftritt. Hatte es bei der aristotelischen und späthellenistischen NûsLehre eine zwei- bzw. dreifache Teilung des Intellekts gegeben, so unterscheidet al-Kindi in seiner Abhandlung über den Intellekt einen vierfachen Intellekt. Darin heißt es: »Der erste Intellekt ist der aktive Intellekt; der zweite ist einer, der in Potentialität ist und in der Seele; der dritte ist der Intellekt in der Veränderung vom Zustand der Potentialität in der Seele zu dem der Aktualität; und der vierte Intellekt, von welchem wir sagen können, er habe sich manifestiert.« 106

Mit anderen Worten, al-Kindi führt eine neue Gliederung ein, in der er seine eigene Lesart des antiken Erbes vermittelt. Nach seiner Auffassung gibt es erstens den aktiven, wirklichen und immer wirkenden Intellekt. Dieser Nûs ist Ursache und Wesen alles Geistigen in der Welt und kann mit Gott gleichgesetzt werden. An zweiter Stelle derjenige Intellekt, der als vernünftige Anlage in der menschlichen Seele fungiert. Dieser besteht als Potenz, ist aber noch nicht wirklich; drittens folgt der intellectus habitus, der die Fähigkeit zum wirklichen Besitz der Erkenntnis ermöglicht, wie die Kunst des Schreibens beim Schreiber. Schließlich tritt viertens der aktive Intellekt auf, der von der Potentialität in die Realität überführt. Angesichts dieser Teilung wird zweifellos die Frage nach dem Zweck gestellt, d. h.: welche Intention verfolgt al-Kindi mit dieser Erweiterung? Aber diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn man den theologischen Disput hinsichtlich der Wirksamkeit Gottes auf die Handlungen des Menschen mit einbezieht. Dass Gott nicht unmittelbar eingreift, sondern vielmehr über das Wissen wirkt, diese Problematik stand im Mittelpunkt der Diskussion zwischen den islamischen Theologen bzw. Dialektikern und den Philosophen. Durch die Herbeiführung des intellectus adeptus oder habitus als vierter Instanz versucht al-Kindi eine rationale Antwort auf die Frage der Vermittlung zwischen Gottes Wissen und menschlichem Erkennen zu liefern. Dabei wird ersichtlich, wie er zwar die griechische, insbesondere die späthellenistische Lehre vom Intellekt 107 übernimmt, 106 Al-Kindi, Rasa’il al-Kindi al-falsafia, a. a. O., S. 353; siehe auch: J. Jolivet, L’intellect selon Al-Kindi, Leiden: Brill 1971, S. 158. 107 T. J. De Boer, Geschichte der Philosophie im Islam, a. a. O., S. 96. Nach De Boer ist

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Al-Farabi, Begründer der arabisch-islamischen Philosophie

jedoch den Anforderungen seiner Zeit entsprechend anpasst und formuliert. So wird bei ihm der erkennende Intellekt als der unsterbliche Teil der menschlichen Seele aufgefasst und als höchste Substanz eingestuft, da in ihm bereits »potentiell« der aktive Intellekt angelegt wird. Insofern verhält er sich zum intellectus agens, d. h. zum ersten Intellekt, wie das Licht zur Sonne. 108 Trotz der Bemühung um eine Erklärung der Verbindung zwischen den beiden Stufen des Intellekts bleibt al-Kindi dennoch die Antwort auf die Frage schuldig, etwa wie der Übergang von der sinnlichen zur geistigen Erkenntnis vonstatten geht. Die Erweiterung des späthellenistischen Modells des Intellekts um eine weitere Stufe ändert nichts an der Art der Vermittlung. Auffälligerweise folgt aber alKindi der neuplatonischen Tradition, die von der Emanationslehre Plotins ausgeht, ohne sie jedoch direkt gekannt zu haben. Die Theologie des Aristoteles, deren Übersetzung al-Kindi in Auftrag gab, spielte sicherlich bei diesem Erklärungsversuch eine entscheidende Rolle. Nichtsdestotrotz gelang es al-Kindi in seinen Werken, den Bezug der spekulativen Dialektik der Theologie zur rationalen Argumentation der antiken Philosophie zu festigen. Ihm kommt deshalb das Verdienst zu, die Philosophie nicht in Widerstreit mit der Theologie treten zu lassen, aber sie auch nicht in deren Dienst zu stellen, wie es etwa bei der christlichen Scholastik der Fall war, sondern vielmehr auf eine »Harmonie« zwischen den beiden Bereichen hinzuarbeiten. Außerdem konnte er durch seine Vorarbeiten seinen Nachfolgern den Weg für eine systematische Ausarbeitung der Philosophie ebnen und somit diese im arabisch-islamischen Kulturraum heimisch machen. Die Annäherung an dieses Ziel wird erst im Verlauf der Entwicklung der arabisch-islamischen Philosophie erfolgen.

3.2. Al-Farabi, Begründer der arabisch-islamischen Philosophie Man kann heute der vor mehr als 100 Jahren von dem deutschen Orientalisten Friedrich Dieterici getroffenen Aussage, dass al-Farabi der eigentliche Begründer der arabisch-islamischen Philosophie sei, es klar, »dass die Lehre vom Geist, wie sie bei al-Kindi vorliegt, auf die Nuslehre des Alexander von Aphrodisias im zweiten Buch über die Seele zurückgeht«. 108 Al-Kindi, Rasa’il al-Kindi al-falsafia, a. a. O., S. 273.

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3. Hauptmerkmale und Vertreter der arabisch-islamischen Philosophie

bedenkenlos beipflichten. 109 Die in den letzten Jahrzehnten gewonnenen Forschungsergebnisse haben diese Beurteilung weitgehend bestätigt. 110 Abu Nasr Muhammad ibn Tarkhan ibn Uzlug al-Farabi (870– 950) stammt aus Farab, einem Dorf in Transoxanien, dem heutigen Turkmenistan. Er war türkischer Herkunft, hatte zunächst in Khorasan studiert, bevor er nach Bagdad ging, wo er Medizin, Mathematik und besonders Philosophie und Musik bei den bedeutendsten Lehrern der damaligen Metropole lernte, darunter bei dem Logiker Abu Bishr Matta ibn Yunus, den Tawhidi beim Streitgespräch über das Verhältnis von Grammatik und Logik erwähnte. Er studierte aber auch die arabische Grammatik bei Ibn Sarraj, dem führenden Grammatiker seiner Zeit, und lernte somit das Verhältnis von Sprache und Logik genauer erfassen, wie es aus seiner Schrift Über die Wissenschaften / De scientiis (Ihsa’ al-’Ulum) deutlich hervorgeht. Mittelalterlichen Quellen zufolge »stand er mit christlichen Gelehrten in Verbindung, die die Tradition der medizinischen und philosophischen Gelehrsamkeit von Alexandrien fortsetzten« 111. Nach langjähriger Forschung und Lehre in Bagdad zog er dann nach Syrien, zunächst nach Aleppo, an den Hof des dortigen Herrschers und großen Mäzen für Kultur und Kunst, Emir Saif al-Dawla, wo er die geeignete Stätte für geistige Arbeit und Muße fand, und später nach Damaskus, wo er 950 in hohem Alter starb. Al-Farabi, dessen Denken als weit origineller und tiefer als das al-Kindis zu bewerten ist, wurde in der Geschichte der arabisch-islamischen Philosophie mit dem Beinamen »Magister secundus« (alMu’allim al-thani), d. h. »der zweite Meister« (nach Aristoteles) belegt. Er war derjenige, der, wie der Stagirit in der antiken Philosophie, die islamische Philosophie und Wissenschaft systematisch ordnete und neue Ansatzpunkte zu den in seiner Zeit aufgeworfenen Fragen entwickelte. Sein produktives Schaffen war beachtlich und umfasste alle Gebiete des damaligen Wissens. Zu seinen Büchern zählen Kommentare zu den meisten Werken von Platon und Aristoteles sowie 109 F. Dieterici, Einleitung zu einigen Abhandlungen von Al-Farabi, Leiden: Brill Verlag 1892. 110 Zum neueren Forschungsstand siehe: G. Endress, Die arabisch-islamische Philosophie, ein Forschungsbericht, in: Zeitschrift für Geschichte der arabisch-islamischen Wissenschaften, Bd. 5, 1989, S. 11 ff. 111 Zitiert nach W. Montgomery Watt / M. Marmura, Die islamische Philosophie des Mittelalters, a. a. O., S. 346.

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Abhandlungen über Ptolemäus und Alexander von Aphrodisias, dem großen Kommentator von Aristoteles in der späthellenistischen Zeit. Dabei scheinen seine Arbeiten zu Platons Nomoi und anderen Dialogen sowie zum Werk des Aristoteles in der Trilogie Die Philosophie Platons und Aristoteles’ 112 in einem klaren Gegensatz zu seinem umstrittenen Buch Die Harmonisierung zwischen den beiden Philosophen, dem göttlichen Platon und Aristoteles (Kitāb al-Gam’ bayna Ra’yay al-Hakimayn Aflatun al-Ilahi wa Aristutalis) zu stehen. Dieses Werk weicht sowohl in Stil als auch in der Argumentation von den zuvor genannten Schriften ab und weist neuplatonische Züge auf, die an die Pseudo-Theologie des Aristoteles erinnern. Über den Einfluss und die Rolle dieses Werkes auf al-Farabis Denken wird in Forscherkreisen weiterhin debattiert. De Boer behauptet, dass al-Farabi die falsche Theologie des Aristoteles für ein echtes Werk gehalten habe. In seiner Geschichte der Philosophie im Islam schreibt er: »In neuplatonischer Weise und mit einiger Accomodation an den muslimischen Glauben sucht er die Übereinstimmung zwischen Platon und Aristoteles nachzuweisen.« 113 Dem stimmt ebenfalls Mohammad ’Abid al-Jabiri zu und sieht darin ein Bedürfnis nach einer geschlossenen Weltanschauung, während Michael Marmura zu der Schlussfolgerung kommt, dass »al-Farabi zögerte, die neuplatonische Theologie des Aristoteles als echtes Werk Aristoteles’ zu akzeptieren« 114. Die wirkliche Leistung von al-Farabi zeigt sich aber eher auf dem Gebiet der theoretischen und praktischen Philosophie. Hier verfasste er eigenständige Schriften, in denen er die Philosophie in ein System der Wissenschaften eingliedert und nicht einfach der Religion bzw. der Theologie unterordnet, wie es in der christlichen Spätscholastik der Fall war. Er verortet eher die Philosophie über dem Glauben und unterzieht zugleich die Theologie einer herben Kritik. Von diesen Schriften sind u. a. zu nennen: Aufzählung der Wissenschaften (Ihsa al-’Ulum) 115; Das Erlangen des Glücks (Tahsil al-Sa’ada); Die Ansichten der Bürger der idealen Stadt (Ara’ Ahl al-Madina al-FaMuhsen Mahdi, Alfarabi’s Philosophy of Plato and Aristotle, hrsg. mit Übersetzung und Einleitung, New York 1962. 113 T. J. De Boer, Geschichte der Philosophie im Islam, a. a. O., S. 100. 114 W. Montgomery Watt / M. Marmura, Die islamische Philosophie des Mittelalters, a. a. O., S. 348. 115 E. Wiedemann, Aufzählung der Wissenschaften (De Scientiis), partienweise übersetzt von Dominicus Gundissalinus ins Lateinische, Erlangen 1907. Inzwischen ist eine neue Übersetzung dieses Buches mit dem Titel: Über die Wissenschaften – De 112

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3. Hauptmerkmale und Vertreter der arabisch-islamischen Philosophie

dhila 116); Über die Staatsleitung (Al-Siyasa al-Madaniyya) 117 und das Buch der Religionen (Kitāb al-Milla). Außerdem schrieb er das bedeutende Werk Das große Buch über die Musik (Kitāb al-Musiqa al-Kabir) und Ringsteine der Weisheit (Fusus al-Hikam) 118, das die Quintessenz seiner Philosophie beinhaltet. Was ist nun das Herausragende und Originelle am farabischen Denken? Eine in sich geschlossene Systematik bestimmt weitgehend seine Philosophie. »Seine Metaphysik, Kosmologie, Psychologie und Erkenntnistheorie stehen in engem Zusammenhang mit seinem politischen Denken.« 119 Der peripatetischen Tradition folgend, bezeichnet al-Farabi die Metaphysik als Erkenntnis des Seienden in seiner gesamten Einheit. Dabei unterscheidet er in Anknüpfung an die aristotelische Logik zwischen zwei Seienden, die in einem Verhältnis von Ursache und Wirkung zueinander stehen: Das Eine ist das Seiende, das eine mögliche Existenz hat, und das andere ist dasjenige, das eine notwendige Existenz hat oder haben soll. Wenn das mögliche Seiende existieren soll, bedarf es für seine Existenz einer Ursache, die es vom Möglichen zum Wirklichen herausführen kann. 120 So ist es mit allem, was entsteht und vergeht in der Welt. Die Reihe der Ursachen kann allerdings weder ins Unendliche noch kreisförmig in sich zurücklaufen. Sie muss deshalb von einem notwendigen Urheber abhängen, der als erste Ursache (prima causa) fungiert und eine notwendige Existenz hat. Die Annahme, dass dieses Seiende nicht existiere, würde bereits einen Widerspruch in sich schließen, da sein Wesen durch die Notwendigkeit seiner Existenz bestimmt sei. Dieses Seiende hat keine Ursache und bedarf für seine Existenz keiner außerhalb von ihm liescientiis, Lateinisch – Deutsch von Franz Schupp beim Felix Meiner Verlag, Hamburg 2005, erschienen. 116 Al-Farabi, Kitāb Ara’ Ahl al-Madina al-fadhila, hrsg. v. A. Nader, Beirut 1959; dt.: Al-Farabi, Der Musterstaat, nach Londoner Handschriften hrsg. und übers. von Friedrich Dieterici, Leiden: Brill 1900. 117 Al-Farabi, Die Staatsleitung, deutsche Bearbeitung mit einer Einleitung ›Über das Wesen der arabischen Philosophie‹, aus dem Nachlass von F. Dieterici, hrsg. von Paul Brönnle, Leiden: Brill 1904. 118 Al-Farabi, Das Buch der Ringsteine (Fusus al-Hikam), übers. und erläutert von Max Horten, in: Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, V. 3, Münster 1906. 119 W. Montgomery Watt / M. Marmura, Die islamische Philosophie des Mittelalters, a. a. O., S. 348. 120 Al-Farabi, Der Musterstaat, Leiden: Brill, 1900, S. 6.; vgl. auch De Boer, Geschichte der Philosophie im Islam, a. a. O., S. 104.

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genden Ursachen, ist aber selbst Ursache für alles mögliche Existierende. De Boer zufolge kann dieses Wesen »nicht bewiesen werden, denn es ist selbst der Beweis und der Urgrund aller Dinge. Wahrheit und Wirklichkeit fallen in diesem Wesen zusammen.« 121 Es ist also das erste und absolute Seiende (ens primum), von dem alles Übrige abhängt und aus dem alles hervorgeht. So führt al-Farabi den logischen Beweis für die Existenz des notwendig Seienden bzw. Gott ein und leitet daraus die Kausalitätskette ab, die nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung abläuft. Das Bemerkenswerte an seinem Ansatz ist, dass er nicht auf den aristotelischen Beweis des unbewegten Bewegers zurückgreift, was ihn in Widerspruch zur islamischen Theologie bringen würde; er bedient sich bloß der Methode und füllt diesen Ansatz mit neuem Inhalt, sodass die logische Schlussfolgerung einleuchtend und in sich geschlossen wirkt. 122 An die Stelle des Veränderlichen und Ewigen treten einfach die Begriffe des möglichen und notwendigen Seienden, die keine dritte Alternative mehr erlauben. Gerade an diesem Prunkt zeichnet sich die Originalität und Tiefe von al-Farabis Denken ab, denn er begnügt sich nicht mit dem tradierten Argument der »creatio ex nihilo« und freundet sich andererseits nicht mit dem klassischen Beweis der Bewegung und Veränderung nach Aristoteles an, sondern leistet vielmehr einen eigenen Beitrag zur Behandlung dieser metaphysischen Fragestellung. Bei seiner Vorgehensweise kam al-Farabi sehr wahrscheinlich die Emanationslehre Plotins (wie das heureka des Archimedes) zu Hilfe, welche einen festen Punkt außerhalb der Welt bietet, um diese zu erheben bzw. ihre Beschaffenheit zu erklären. Plotin lehrt, dass der Ursprung alles Seins etwas sei, von dem man nichts Anderes oder Weiteres aussagen kann, als das Eine ist. 123 Das Eine oder Erste ist das Vollkommene und Gute schlechthin. Aus dem Einen geht als zweiter der Nûs hervor, d. h. jener Intellekt, der immer nur sich selbst denkt und im Zuge seines Denkens die Formen in sich ordnet. Er ist

T. J. De Boer, Die Geschichte der Philosophie im Islam, a. a. O., S. 104. A. Badawi, Histoire de la Philosophie arabo-musulmane, Vrin, Paris 1972, Bd. 2, S. 119; Badawi bemerkt, dass Thomas von Aquin diese Unterscheidung von möglichem und notwendigem Seienden als Grundlage für seinen Gottesbeweis übernommen hatte. 123 Plotin, Enneaden, vollständige und durchgesehene Ausgabe, bearbeitet und herausgeben von Michel Holzinger, Berlin 2013. 121 122

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der Inbegriff aller im Sinne Platons verstandenen Ideen. Als nächste tritt ihm die Weltseele (Psyche) zur Seite, welche alle diese Formen der Sphärenwelt übermittelt. Zwischen ihr und der Welt der Materie stehen die individuellen Seelen. Dann schreitet die Emanation in einer Art Strom von den höheren bis zu den niederen Sphären fort, die als die unvollkommenen und das schlechthin Finstere hingestellt werden. Hierbei lässt Plotin die Potenz in die Körper unterhalb der Mondsphären einprägen, damit Form und Materie miteinander verbunden werden. Schließlich treten die aus den vier Elementen zusammengesetzten Körper auf. So strahlt die Emanation des Einen bzw. höchsten Wesens auf alles Bestehende aus, ohne dadurch etwas von seiner Substanz zu verlieren, so wie die Sonne ihr Licht und ihre Wärme auf die Erde ausstrahlt. In dieser Lehre scheint al-Farabi den Schlüssel für seine Kosmologie gefunden zu haben. Er übernimmt sie und bereichert sie um weitere Elemente, die der Astronomie des Ptolemäus entstammen. Aus dem Einen bzw. Gott geht das Sein des Zweiten hervor, welches die erste Intelligenz als eine bloße unkörperliche Substanz bildet, und zwei Erkenntnisakte vollzieht. »Dadurch, dass es das Erste denkt, geht notwendig von ihm aus ein drittes Sein hervor, und sofern es sich in dem ihm eignenden Wesen substanziiert, muss notwendig von ihm das Sein des ersten Himmels hervorgehen.« 124 So setzt sich der Prozess der Emanation stufenweise bis zum elften Sein fort, das die zehnte und letzte Intelligenz darstellt und die sublunare Welt beherrscht. Gleichzeitig schließt sich in der Mondsphäre der Kreis der himmlischen Körper, die sich kraft ihrer Natur kreisförmig bewegen. Was die irdische bzw. materiell substanziierte Welt unter der Mondsphäre anbetrifft, so bleibt sie zwar von der himmlischen Sphäre bzw. von der letzten Intelligenz, dem intellectus agens, abhängig; dennoch trifft sie die Einwirkung nicht vollständig, sondern gilt nur für die allgemeine Ordnung, nicht aber für die einzelnen Erscheinungen, die in einem natürlichen Verhältnis von Wechselwirkung zueinander stehen. Dadurch löst al-Farabi die irdische Welt teilweise von der starr determinierten Emanationslehre ab und räumt dem Zufälligen, d. h. dem potentiell Möglichen, beim Entstehen und Vergehen der Naturexistenzen einen gewissen Spielraum ein.

124

Al-Farabi, Der Musterstaat, a. a. O., Kap. X, S. 29.

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Al-Farabi, Begründer der arabisch-islamischen Philosophie

Das Eine = Gott Erste Intelligenz Zweite Intelligenz

Supralunare Sphäre

Fixsterne

Dritte Intelligenz

Saturn

Vierte Intelligenz

Jupiter

Fünfte Intelligenz

Mars

Sechste Intelligenz

immaterialisierte Welt

Sonne

Siebte Intelligenz

Venus

Achte Intelligenz

Merkur

Neunte Intelligenz

Mondsphäre

Der aktive Intellekt = intellectus agens Die Vernunft-Seele = der Mensch Intellectus habitus Sublunare Sphäre

Intellectus activus Intellectus potentialis Tiere

Welt des Entstehens und Vergehens

Pflanzen Erde, Luft, Wasser, Feuer Abb. 1: Das Modell der Emanation bei al-Farabi verbunden mit dem ptolemäischen System der Kosmologie

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3. Hauptmerkmale und Vertreter der arabisch-islamischen Philosophie

Hier wird sichtbar, wie die Lehre von der Bewegung bei Aristoteles zusammen mit dem astronomischen Modell des Ptolemäus in den Dienst der Emanationslehre gestellt wird und als Träger für den Ausströmungsfluss fungiert. Die Konzeption der Emanation stellt allerdings einen intellektuellen Prozess dar, bei dem »nicht ein allmächtiger Schöpferwille, sondern die Erkenntnis des Notwendigen […] die Ursache aller Dinge« 125 ist. Das macht sich besonders beim Menschen bemerkbar, der aufgrund seiner Vernunft an höchster Stelle der irdischen Existenzen steht und dazu befähigt ist, diese Erkenntnis zu vollziehen. Der Mensch wird zwar vom intellectus agens potentiell geprägt, für seine Erkenntnis und seine Handlungen bleibt er jedoch autonom, d. h. frei und selbsttätig. Mit Hilfe seiner Erkenntnis strebt er nach der Glückseligkeit, die ihn auf die Ebene des intellectus agens emporsteigen lässt; denn das Ziel aller Erkenntnis ist es, die Sphäre des reinen Denkens zu erreichen, die der Inbegriff der Wahrheit ist und zugleich das Reich der Vollkommenheit bildet. Darin steckt nach Dieterici ein Wesenszug der damaligen Erkenntnistheorie, die Metaphysik und Wissenschaft mithilfe der Emanation verbindet. Allein durch »ein ›das Erste denken‹, ein ›sich selbst denken‹ und ein ›sich substanziieren‹ entsteht sowohl die ideale als auch die wirkliche Welt«. 126 Nun ist aber dieser Prozess nicht nur erkenntnistheoretischer Natur, sondern beinhaltet auch eine normative Hierarchie, bei der die Bewertung der Seienden von ihrer Nähe oder Ferne zum ›Einen‹ als Inbegriff des Guten abhängt. Das gilt vor allem für den Menschen, der mit einer intellektuellen Fähigkeit ausgestattet ist bzw. das Vermögen besitzt, zwischen ›Gut‹ und ›Böse‹ zu unterscheiden, und entsprechend handelt. Insofern fallen in diesem Prozess Erkenntnis und Ethik wie auch Wissen und Handeln zusammen, da die Vernunft ebenso geeignet ist, die Prinzipien des Wissens wie die Grundsätze des Handelns zu bestimmen. 127 Nach al-Farabi belegt zweifellos der Philosoph-Prophet die höchste Stufe der Skala der theoretischen Erkenntnis und der praktischen Handlung, und somit steht er am nächsten zum vollkommenen ›Einen‹ bzw. zur Gottheit; er kann diese

T. J. De Boer, Die Geschichte der Philosophie im Islam, a. a. O., S. 105. F. Dieterici, Einleitung zum Musterstaat von al-Farabi, a. a. O., S. L (50). 127 T. J. De Boer, Die Geschichte der Philosophie im Islam, a. a. O., S. 110; darin heißt es: »Wie die Logik die Prinzipien des Wissens, so soll die Ethik die Grundsätze des Handelns darstellen.« 125 126

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Stufe der Glückseligkeit durch die Aktivierung seiner theoretischen und praktischen Fähigkeiten erlangen. Mit diesem Konzept führt alFarabi eine Synthese von Aristotelismus und Neuplatonismus herbei und passt sie an die Bedürfnisse der islamischen Tradition an. Damit vermittelt seine Philosophie nach der Beurteilung von Endress »die Fülle der antiken Tradition in einer ersten enzyklopädischen Synthese arabischer Zunge, gibt ihnen darüber hinaus im islamischen Gemeinwesen neue Legitimation, wenn sie die Grundlegung der islamischen Theokratie in einer universaleren, apodiktischen Wissenschaft propagiert« 128. All diese Gedanken sind von al-Farabi in verschiedenen Schriften zum Ausdruck gebracht worden, vor allem in seinem Hauptwerk Die Ansichten der Bürger der idealen Stadt (Ara Ahl al-Madina alFadhila), das vom deutschen Übersetzer und ersten Herausgeber Friedrich Dieterici unter dem Titel Der Musterstaat publiziert wurde, und in Die Staatsleitung (Al-Siyasa al-madaniyya). Diese Werke, die von al-Farabi im hohen Alter verfasst wurden, beinhalten die Summe seiner metaphysischen, ethischen und auch politischen Ansichten. Sie umfassen insofern das gesamte Wissen zur Erlangung der Glückseligkeit, die als Ziel und Zweck jeder menschlichen Erkenntnis und Handlung gilt. Was al-Farabi in diesen Werken entwirft, ist im Grunde ein Modell metaphysischer und gesellschaftlicher Utopie, in der sowohl die Ziele des Individuums als auch die der Gemeinschaft mit dem kosmischen Universum in Einklang stehen. Für al-Farabi ist der Mensch, wie Marmura zu Recht anmerkt, »ein kleines Universum. Genau wie das ganze Universum von einem höchsten Vernunftwesen, Gott, und jede Sphäre von einer Intelligenz regiert werden, so sollte der Mensch sich selbst rational regieren und damit seine Perfektion aktualisieren und Glück erlangen.« 129. Doch im Unterschied zum kosmischen System, das vom Einen bzw. von einer Intelligenz bewegt wird, ist der Mensch auf seine Vernunft und seinen Willen angewiesen, die es ihm ermöglichen, seine eigene Welt zu gestalten und seine Perfektion zu realisieren. Er muss deshalb sein Leben und seine Umwelt selbst ordnen und sie in Harmonie mit dem kosmischen Universum bringen. Nur auf diesem Weg kann er 128 G. Endress, Die arabisch-islamische Philosophie, ein Forschungsbericht, a. a. O., S. 11. 129 W. Montgomery Watt / M. Marmura, Die islamische Philosophie des Mittelalters, a. a. O., S. 251.

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zur Glückseligkeit gelangen. Dabei entspringen die Prinzipien, die seine Handlungen wirksam begleiten, allein den intellektuellen menschlichen Fähigkeiten. Sie sind nämlich für die Herstellung eines ethischen Bezugs zwischen der Möglichkeit und der Wirklichkeit der menschlichen Existenz zuständig und tragen zur Erfüllung bzw. Vollendung des jeweiligen Lebens bei. Von daher erscheinen sie als ethische Grundsätze, die aus der Lebenstätigkeit des Menschen in und mit seiner Gemeinschaft erfolgen. Indem al-Farabi die Vollkommenheit des ersten Seins als Modell für den Menschen anvisiert, hofft er, dass der aufgrund seiner Anlagen benachteiligte Mensch durch die Wahrnehmung seiner Unzulänglichkeit und im Bemühen, sie zu überwinden, doch zur Glückseligkeit gelangt. Diese kann allerdings, wie vorhin erwähnt, erst durch die Aktivierung der theoretischen und praktischen Fähigkeiten des Menschen verwirklicht werden. Was die theoretische Fähigkeit anbetrifft, so zielt sie darauf, abstrakte, allgemeine Erkenntnis zu erlangen. Hingegen versetzt die praktische Fähigkeit den Menschen in die Lage, sein Handeln entsprechend bestimmter ethischer Urteile auszurichten. Diese »ist im wesentlichen eine deliberative Fähigkeit, die sich mit der Erkenntnis von Einzeldingen befasst und in Begriffen von konkreten, gegenwärtigen oder zukünftigen Ereignissen denkt«. 130 Dem kosmischen Universum entsprechend entwirft al-Farabi ebenfalls die Ordnung der idealen Stadt bzw. die Konstruktion des Musterstaates. Dieser Staat sollte jedoch »von der Vernunft regiert werden, idealerweise von einem Staatsmann-Philosophen, und jede Ebene der Gesellschaft [sollte] in einer Hierarchie organisiert sein, wo jede ihre Potentiale aktualisiert; und so würde das ganze System harmonisch funktionieren« 131. Im Zusammenhang mit der Leitung des Staates spricht al-Farabi vom Philosophen-Propheten, der gewisse vorzügliche Eigenschaften besitzen soll, um an der Spitze des Staates zu stehen. Diese umfassen Tugenden wie Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit, die an die ethischen Werte Platons in der Republik erinnern. Doch al-Farabi bezieht sich nicht nur auf das griechische Erbe, er fügt arabisch-islamische Elemente hinzu, indem er dem Propheten dieselbe Fähigkeit zu regieren zuspricht. Der Prophet muss genauso wie der Philosophen-König ein »perfektes« theo130 131

Ebd., S. 250. Ebd., S. 352.

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Al-Farabi, Begründer der arabisch-islamischen Philosophie

retisches Wissen von den Dingen ebenso wie von der gesamten Struktur des Universums haben, die zum Modell der idealen Gemeinschaft erhoben wird. Doch im Unterschied zum Philosophen-Herrscher empfängt der Prophet die Offenbarung kraft seiner imaginativen Fähigkeit in Form von Bildern und Gleichnissen von einer transzendierenden Instanz, d. h. von Gott oder von dem intellectus agens. Hingegen stützt sich der Philosoph allein auf die Kraft seiner Vernunft, um zur selben Wahrheit zu gelangen. Dennoch ergänzen sich beide im Hinblick auf die Vermittlung von Erkenntnis und in der Verfolgung derselben Ziele: die Bemühung, die Glückseligkeit der Mitglieder der Gesellschaft zu fördern. Während der Philosoph die Aufgabe hat, den in Symbolen und Bildern offenbarten Text in theoretische und apodiktische Begriffe zu erfassen, soll die religiöse Sprache des Propheten wiederum die philosophische Erkenntnis in Symbole übersetzen und somit allen Schichten der Gesellschaft zugänglich machen. Diese Übereinstimmung von Philosophie und Prophetie bzw. von Wissen und Glauben wird im weiteren Verlauf der Entwicklung der arabisch-islamischen Philosophie zu einem ihrer Grundzüge werden. Schließlich war al-Farabi einer der Vorläufer der humanistischen Bildung. Er hatte die Aspekte einer humanistischen Vision im Rahmen seiner politischen Weltanschauung erkannt und sehr früh über die Bedingungen der Möglichkeit einer Ethik der Glückseligkeit bzw. des harmonischen Zusammenlebens zwischen den verschiedenen Völkern und Kulturen in der damaligen islamischen Welt nachgedacht. Das Ergebnis teilt er in den bereits erwähnten Werken wie Über die Staatsleitung (al-Siyasa al-Madaniyya) und Die Ansichten der Bürger der idealen Stadt (Ara’ Ahl al-Madina al-Fadhila), besonders aber in der Schrift Abhandlung über die Glückseligkeit (Risalat tahsil as-Saáda) 132 mit. Lenn E. Goodman fasst diese Ethik folgendermaßen zusammen: »Farabi argumentiert, dass der wahre Philosoph ein Gesetzgeber ist, weil die Gesetzgebung im Dienst des Allgemeingutes stehe und die höchste Erfüllung der Rolle des Philosophen sei. Der Philosoph ist kein Eingeschlossener im Elfenbeinturm, sondern ein handelnder und beratender Mensch. Ein 132 Al Farabi, Die Staatsleitung, Deutsche Bearbeitung aus dem Nachlaß F. Dietericis, hrsg. von Paul Brönnle, Leiden: Brill 1904; Al Farabis Philosophische Abhandlungen, hrsg. und ins Dt. übersetzt von F. Dieterici, Leiden: Brill 1892 (Nachdruck Frankfurt a. M. 1976).

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Herrscher, dem es an Philosophie fehlt, […], wird im Streben nach dem Verständnis der allgemeinen Bedingungen des menschlichen Glückes und der besonderen Bedingungen des Glücks der jeweiligen Völkern der Menschheit Misserfolg haben.« 133

Offensichtlich setzt al-Farabi den Akzent auf die praktische Seite der Vernunft, um die Beziehungen zwischen dem Herrscher und den Mitgliedern der Polis, die er nach einem neuplatonischen Modell entworfen hat, zu festigen. Demnach soll der Herrscher ein Mindestmaß an Verständnis für das Glück der Menschen im Allgemeinen und der Völker im Besonderen besitzen, um bei den Untertanen Gerechtigkeit walten zu lassen. Gleichzeitig müssen die Mitglieder des Gemeinwesens bzw. des Staates ihre Bindungen zueinander nach dem Prinzip der Vernünftigkeit (Ta’aqul oder Ma’qulia) gestalten, damit sie selbst im Alltag und in den sozialen Bereichen zurechtkommen. Entsprechend tritt die Vernünftigkeit als jene Instanz auf, die der Vernunft »eine soziale Dimension verleiht; sie steht somit am Ursprung der zwischenmenschlichen Beziehungen und bildet insofern den grundlegenden Maßstab für jeden Humanismus« 134. Fathi Triki, der diesen praktischen Aspekt der Vernunft bei al-Farabi hervorhebt, zählt drei Arten von Vernünftigkeit auf, die an die phronesis des Aristoteles erinnern: »Vernünftigkeit in der Familie, das Prinzip allen richtigen Umgangs mit den familiären Angelegenheiten; zivile Vernünftigkeit, die Grundlage der Verwaltung des Gemeinwesens; und schließlich humane Vernünftigkeit, die einen perfekten Humanismus zu erreichen sucht, um das Menschengeschlecht zum Glück gelangen zu lassen.« 135

Somit erhält die Vernunft neben der theoretischen eine ethische Dimension, die sie für die praktische Philosophie tauglich macht. Triki spricht in diesem Kontext sogar von einem farabischen Moment – moment farabien – in der Geschichte der Philosophie, »in dem die Reflexion über die menschlichen Dinge aus der Perspektive einer Ethik des Vivre-ensemble, d. h. des Zusammenlebens unter Bezug133 Lenn E. Goodman, Islamic humanism, Oxford / New York: Oxford University Press 2003, S. 8. 134 Fathi Triki, Philosopher le Vivre ensemble, Tunis 1998, S. 33, dt.: Philosophie des Zusammenlebens, in: Fathi Triki, Demokratische Ethik und Politik im Islam, Arabische Studien zur transkulturellen Philosophie des Zusammenlebens, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2011, S. 95–114. 135 Ebd., S. 108.

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Miskawayh, Tawhidi und die humanistische Ethik

nahme der griechischen Tradition, besonders der aristotelischen, entwickelt wurde«. 136

3.3. Miskawayh, Tawhidi und die humanistische Ethik Obwohl noch keine Übereinstimmung unter den Islamwissenschaftlern bezüglich der Bezeichnung »arabisch-islamischer Humanismus« besteht, hat sich dennoch diese Benennung inzwischen in der Fachliteratur durchgesetzt. Dieser Humanismus begann im Laufe des 4./10. Jahrhunderts im Orient der arabisch-islamischen Welt, genauer gesagt im heutigen Bereich des Nahen und Mittleren Ostens. Er entwickelte sich später zu einer wichtigen interkulturellen Strömung, die man heute noch gegen fundamentalistische Bewegungen im Islam verwenden könnte, wenn man sie als Modell für eine Ethik des Zusammenlebens im Sinne der Toleranz und der Achtung der Menschenrechte wieder in Anspruch nähme. Nach der Ansicht von Mohammed Arkoun tritt diese Tendenz in verschiedenen philosophischen Abhandlungen und literarischen Werken auf. So kann man »in einer ausführlichen Reihe von literarischen Schriften, die man unter der Rubrik Adab, d. h. ›philosophische Literatur‹, subsumiert, bereits die Zeichen für die Entstehung eines menschlichen Subjekts feststellen, das sich um die Autonomie sowie um die freie Entscheidung und die praktische Übung seiner moralischen, zivilen und intellektuellen Verantwortung bemüht« 137. An dieser Literatur beteiligten sich viele Denker und Literaten unterschiedlicher Herkunft und Glaubensrichtungen. Die bedeutenden unter ihnen waren al-Farabi, Miskawayh, Tawhidi und die Mitglieder des Bundes der Lauteren Brüder. Ihre philosophische Literatur entstand im Rahmen von ›intellektuellen Zirkeln‹ (Majâlis al-’Ilm) genannt, die von bedeutenden Herrschern und Mäzenen unterstützt wurden und bei denen lebhafte philosophische und literarische Disputationen (Munazarat) stattfanden. Zwar gehörten die Autoren der humanistischen Literatur nicht immer zu den namhaften Philosophen, aber sie sind Stellvertreter für eine Generation von Intellektuellen, die oft durch ihr Fachwissen und ihr gesellschaftliches Ansehen herausragten. In seinem Buch Beitrag Fathi Triki, Philosopher le Vivre ensemble, a. a. O., S. 32 (eigene Übers., M. T.). M. Arkoun, Humanisme et Islam, Combat et propositions, Paris: éd. Vrin 2005, S. 24 (eigene Übers., M. T.).

136 137

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3. Hauptmerkmale und Vertreter der arabisch-islamischen Philosophie

zur Studie des arabischen Humanismus im 4./10. Jahrhundert: Miskawayh Philosoph und Historiker« unterscheidet Arkoun zwischen drei Tendenzen von Humanismus im Islam: – »ein religiöser Humanismus, der hauptsächlich durch eine totale Hingabe des Menschen an den göttlichen Willen gekennzeichnet ist. Diese Haltung wird allerdings von einem Engagement des Individuums begleitet, das seine Rolle in der Erfüllung dieser Aufgabe sowohl im Diesseits als auch im Hinblick auf das Jenseits sieht. – Ein literarischer Humanismus, der vorwiegend von Literaten und Denkern getragen wurde, die an den verschiedenen Höfen der Herrscher und Mäzenen lebten. Das Ideal dieser Humanisten war eben, wie in der europäischen Renaissance, die Pflege der Kultur und Bildung im Sinne der Humanitas. Hier tritt der Begriff ›Adab‹ stellvertretend für humanitas auf und kennzeichnet eine Gegenbewegung zum religiösen Humanismus. – Ein philosophischer Humanismus, der zwar viele Elemente der vorher genannten Tendenzen übernimmt, sich jedoch durch systematische Methode und genauere Begründung seines Sachverhaltes hervorhebt«. 138 Die Originalität des arabisch-islamischen Humanismus besteht allerdings im Versuch, eine Annäherung zwischen den drei Tendenzen zu erzielen, denn trotz der unterschiedlichen Inhalte und Zielsetzungen bewegen sie sich in einem Rahmen, den man folgendermaßen charakterisieren kann: – eine Aufgeschlossenheit gegenüber den sog. Fremden Wissenschaften, sprich: griechischer Philosophie und Wissenschaft sowie persischer und indischer Weisheit; – eine Bemühung um Rationalisierung religiöser Diskurse mit Ausschluss von Aberglaube und Wundern; – eine besondere Aufmerksamkeit für ethisch-politische Probleme und das Hinarbeiten auf deren Lösung; – eine Förderung der wissenschaftlichen Neugierde und Forschung sowie die Schärfung eines kritischen Sinnes bei der Entwicklung von Wissen;

138 M. Arkoun, Contribution à l’étude de l’humanisme arabe au IVe/Xe siècle: Miskawayh (320/325–421) – (932/936–1030) philosophe et historien, Paris: éd. Vrin, 1970, S. 356 (eigene Übers., M. T.).

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Miskawayh, Tawhidi und die humanistische Ethik



eine Entfaltung der ästhetischen Werte und des Geschmacks; und – eine Anregung der Fantasie und des Imaginären im Allgemeinen. Diese Elemente lassen sich am Beispiel von zwei bedeutenden Autoren, nämlich Miskawayh (gest. 420/1029) und Tawhidi (gest. 414/ 1023) am besten verdeutlichen, denn die Schriften dieser beiden Autoren scheinen exemplarisch für die reifere humanistische Phase zu sein: »Sie erfassen mit Klarheit, kritischer Genauigkeit und Überzeugung die Gedanken, Ziele und Interessen der ganzen auf Farabi folgenden Generation.« 139 In seiner schon erwähnten Studie über den ›arabischen Humanismus im 4./10. Jahrhundert‹ versucht Arkoun die wesentlichen Merkmale dieses Humanismus zu zeigen. Dabei bezieht er sich auf die Schriften von Miskawayh wie die Abhandlung über Ethik (Tahdhib al-Akhlaq) und auf einen Dialog zwischen Miskawayh und Tawhidi, der in der Art einer Disputation konzipiert und unter dem Titel Die Fragen und die Antworten (Al-Hawamil walShawamil) publiziert wurde. Dieser Dialog wird von zwei streitbaren Denkern geführt, die jeweils einen bestimmten kulturellen Standpunkt mit rationalen Argumenten vertreten und dadurch sowohl ihre eigenen Meinungen mitteilen als auch einen Überblick über den Stand des Wissens zu ihrer Lebzeit vermitteln. Nach Arkoun zeichnet sich in dieser Streitschrift, die 175 Fragen und Antworten umfasst, die gesamte Vielfalt der humanistischen Bildung ab, die es ebenfalls im Westen gab. »[So] wie in allen im Westen definierten Humanismen, steht der Mensch im Zentrum aller philosophischen und wissenschaftlichen Untersuchungen: Man fragt nach seinem Schicksal, seinen Ursprüngen, seiner Stellung im Universum, seiner biologischen und geistigen Bestimmung und nach der adäquaten Haltung hinsichtlich seiner spezifischen Berufung.« 140

Alle diese Fragen wurden von Tawhidi und Miskawayh ebenfalls in diesem Dialog aufgegriffen und besprochen, so dass man daraus ein umfassendes Bild des arabisch-islamischen Humanismus gewinnen kann.

M. Arkoun, Humanisme et Islam, a. a. O., S. 24 (eigene Übers., M. T.). M. Arkoun, L’humanisme arabe au IVe/Xe siècle, d’après le Kitāb al-Hawâmil wal-Šawâmil, in: Essai sur la pensée islamique, Paris: éd. Maisonneuve et Larose 1973, S. 88 (eigene Übers., M. T.). 139 140

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3. Hauptmerkmale und Vertreter der arabisch-islamischen Philosophie

Während Tawhidi, der von einer tiefen Skepsis und einem großen Drang nach Gewissheit bewegt war, weitgehend die ihm auf den Nägeln brennenden Fragen stellt, bemüht sich Miskawayh, mit Ruhe und Besonnenheit, aber auch argumentierend darauf zu antworten. Das wird sichtbar an der Vorgehensweise, nach der die Auseinandersetzung zwischen den beiden Kontrahenten abläuft. So weisen »die Fragen nach dem Grund, nach der Ursache oder nach dem Sinn eines Sachverhaltes und schließlich nach dem Weg zur apodiktischen Erkenntnis« 141 auf eine Ontologisierung der Probleme sowie auf ein Streben nach absoluter Gewissheit hin, die nur rational beantwortet werden können. Tawhidi stellt sie nämlich im Zusammenhang mit der Frage nach dem vollkommenen Menschen oder hinsichtlich der Beziehung der Seele zum Einzelnen in der Welt sowie im Hinblick auf das Verhalten des Strenggläubigen zu den anderen Menschen. Diese Vorgehensweise deutet auf eine intellektuelle Haltung hin, die nicht nur Mut bzw. Kühnheit aufweist, sondern auch einen scharfen Sinn für die Erfassung solcher komplexen Sachverhalte. Arkoun zieht hierbei Parallelen zwischen der Methode von Tawhidi in seiner Reflexion über die conditio humana und derjenigen des Humanisten Montaigne in seinen »Essais«. Dieser Denker sieht ebenfalls in den menschlichen Erfahrungen den Ausdruck einer ständigen Mühe des Menschen, sich durch eine Fülle von Unternehmungen möglichst der Weisheit anzunähern, und dennoch ist diese Mühe am Ende zum Scheitern verurteilt. 142 Die gesamten Werke, sowohl die von Miskawayh als auch die von Tawhidi, weisen außerdem auf eine ständige Suche nach der Bestimmung des Menschen in seinem Verhältnis zur Welt und zu Gott hin. Für sie »stellt sich der Mensch als ein Problem für den Menschen dar« 143, dessen Lösung jenseits jeglichen rationalen Rigorismus und fern von jedem religiösen Fanatismus auf dem Weg der Vernünftigkeit und der Harmonie gesucht werden sollte. So fragt Tawhidi in diesem Zusammenhang: »Ist es annehmbar, dass das religiöse Gesetz, wie es von Gott – dem Mächtigen – geoffenbart wird, etwas ankündigt, was die Vernunft widerlegt?« Oder: »Wie verhält sich die religiöse Verpflichtung (taklîf) zu etwas wider die Natur? Gilt nicht das

141 142 143

Ebd., S. 95 (eigene Übers., M. T.). Ebd., S. 97. Ebd., S. 112 (eigene Übers., M. T.).

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Miskawayh, Tawhidi und die humanistische Ethik

religiöse Gesetz als Wesensgrund der Natur?« 144 Hier wird nochmal deutlich, dass das Bemühen um eine Harmonie zwischen Wissen und Glauben im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht. Philosophie und Religion treten als komplementäre Bereiche menschlichen Handelns auf und verfolgen dieselben Ziele. Sie stehen weder in Widerspruch, noch in einem Herrschaftsverhältnis zueinander, wie es in der Scholastik der Fall war. Diese Haltung wird später von Ibn Rushd mit Nachdruck betont. Einer der Schlüsselbegriffe des damaligen Humanismus ist die Idee der Universalität des Intellektes und der Relativität seiner Erscheinungen in der existentiellen Erfahrung. Es reicht in diesem Zusammenhang, eine der von Tawhidi gestellten Fragen zu erwähnen, wie etwa: »Warum ist die Gewissheit, sofern man ihr begegnet, weder stabil noch dauerhaft, während der Zweifel sich tief eingräbt und verharrt?« Darauf antwortet Miskawayh: »Es gibt keine Gewissheit außerhalb der logischen oder mathematischen Gewissheit.« 145 Diese Antwort erinnert sicherlich an Wittgenstein, dessen Haltung gegenüber solchen Fragen in seinem Tractatus logico-philosophicus ähnlich ausfällt. 146 Dasselbe gilt auch für die Fragen nach der Freundschaft und der Glückseligkeit, die ebenfalls in einem unmittelbaren Bezug zum Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem, von Absolutem und Relativem, von Objektivem und Subjektivem stehen. Ausgehend von der aristotelischen Definition von Freundschaft, wonach »der Freund ein anderes Selbst« sei, deuten die beiden Denker die Freundschaft nicht im Sinne eines »Objekts der Spekulation an, wie es bei den Griechen vorkommt; sie betrachten sie als jenen Raum, in dem sich der Bruch zwischen dem ›idealen bzw. symbolischen Bild‹ und der ›erlebten Realität‹ am wirksamsten vollzieht« 147. Was die Glückseligkeit anbetrifft, so liefert Miskawayh in seiner Abhandlung über Ethik (Tahdhib al-Akhlaq) eine weit ausgedehnte, aber kohärente Synthese der griechischen Thesen über Ethik, insbesondere die von Platon, Aristoteles und den Neuplatonikern, vermischt mit indischer und persischer Weisheit sowie arabisch-islamischer Lebenskunst. Das Ganze deutet auf eine synkretistische Ebd., S. 113 (eigene Übers., M. T.). Ebd., S. 98 (eigene Übers., M. T.). 146 L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1963. 147 M. Arkoun, L’humanisme arabe au IVe/Xe siècle, d’après le Kitāb al-Hawâmil wal-Šawâmil, a. a. O., S. 99 (eigene Übers., M. T.). 144 145

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3. Hauptmerkmale und Vertreter der arabisch-islamischen Philosophie

Aufarbeitung der verschiedenen ethischen Ansätze hin, die aus den bereits vorhandenen und im Schatten des Islam noch wirkenden Kulturströmungen übernommen und an die neue Situation angepasst wurden. Das Streben nach Glückseligkeit ist also nicht nur eine Angelegenheit des Philosophen, sondern auch des Mystikers und erfordert sowohl eine körperliche wie auch eine intellektuelle bzw. seelische Beherrschung, die praktisch geübt werden sollte.Während der Mystiker nach der Einheit mit Gott strebt, geht es dem Philosophen jedoch um die bewusste Einstellung des Gewissens sowie um eine ethische Kontrolle der menschlichen Handlungen. Insofern entfaltet Miskawayhs Ethik eine andere Perspektive des Umgangs mit dem Menschen, die praktisch orientiert ist und auf eine humanistische Haltung verweist. 148 Bei seiner Untersuchung dieser beiden Autoren kommt Arkoun zu dem Schluss, dass »der Humanismus sich mehr in der Art und Weise zeigt, wie er verteidigt und noch gelebt wird, als in seiner reinen Problemstellung« 149. Hier wird insbesondere am abstrakten Humanismus der sogenannten ›Reichen und Gebildeten‹ Kritik geübt, und im Gegensatz dazu wird die gelebte Erfahrung der Individuen, die sich mehr um ein den Moralprinzipien entsprechendes Verhalten bemühen, ans Licht gebracht. So vermitteln die Werke von Miskawayh und Tawhidi ein klares Bild von der Autonomie des ethischen Subjektes gegenüber den religiösen Bindungen wie auch dem sozialen Stand und spiegeln zugleich den Geist jener Zeit wider, der von Toleranz, Freigeist und Frohsinn bzw. Harmonie geprägt war. Tawhidi hat in seinen Büchern ›Al Imta’wal Muanasa‹ und ›Al-Muqabasat‹ eben diesen Geist beschrieben. Laut Arkoun stellt Tawhidi »die wesentlichen Ziele einer jeden humanistischen Haltung am deutlichsten heraus, nämlich: die ständige Suche nach dem Sinn, und zwar nicht so sehr in seinen rhetorisch abstrakten Artikulationen, die er mit Vehemenz zurückweist, sondern vielmehr in seinen konkret psychologischen und historischen Entfaltungen. Er weiß, dass die Substanz und die Vitalität des Sinnes proportional zu den Übereinstimmungen der jeweiligen Bewusstseinsebenen stehen, die sie hervorbringen und mittragen, sowohl auf der 148 Jean-Claude Vadet, Les idées morales dans l’islam, Paris: Presses universitaires des France 1995, S. 234. 149 M. Arkoun, L’humanisme arabe au IV/X siècle d’après le Kitāb Al Hawamel wal Shawamel, in: Essais sur la pensée islamique, Paris: éd. Vrin, 1973, S. 92 (eigene Übers., M. T.).

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Miskawayh, Tawhidi und die humanistische Ethik

Ebene der Rezeption wie auch der Widerlegung seitens jener Subjekte, die bereits ihre Prüfung in der disputatio bestanden haben.« 150

Eines der wichtigsten Verdienste von Tawhidi ist seine reichhaltige und wertvolle Berichterstattung über die großen Denker und Literaten seiner Zeit. Neben dem Bericht über den berühmten Streit zwischen dem Logiker Abu Bishr Matta ibn Yunus und dem Grammatiker Abu Said as-Sirafi 151 liefert er auch einige Informationen zum Stand der Erkenntnis und Wissenschaft und deren Trägern in der damaligen arabisch-islamischen Welt. Da er sich in zeitlicher und gedanklicher Nähe zu Ikhwan as-Safa befand, jenem Geheimbund der Lauteren Brüder, die aus der südirakischen Stadt Basra stammten und eine Art enzyklopädisches Wissen in einer Reihe von 52 Abhandlungen (Rasa’il) bzw. Episteln zusammengestellt haben, konnte er einen wertvollen Beitrag zur Darstellung ihrer Erkenntnisse und somit auch zur Wissenschaftsgeschichte leisten. Seine Zeugnisse dienen heute als Leitfaden für die Rekonstruktion der Geschichte der arabisch-islamischen Wissenschaften und liefern infolgedessen ein genaueres Bild von der Entwicklung der Philosophie in diesem Raum.

150 151

M. Arkoun, Humanisme et Islam, a. a. O., S. 8 (eigene Übers., M. T.). Gerhard Endress, Grammatik und Logik, a. a. O., Textanhang, S. 237–296.

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4. Blüte des philosophischen Denkens im Mashriq

Die Autoren des Bundes der Lauteren Brüder (Ikhwan as-Safa), deren Namen verborgen blieben, verfassten eines der wissenschaftlich interessantesten Werke, in dem sie alle Erkenntnisse und Disziplinen ihrer Zeit aufarbeiteten und systematisch zu einem enzyklopädischen Ganzen ordneten. 152 Das Werk wurde »auf der Grundlage einer Kosmologie, die die Erkenn- und Veränderbarkeit der Wirklichkeit zu ihrem Grundverständnis hat« 153, konzipiert. Es behandelt nach der Aussage von Quintern und Ramahi insgesamt »drei Wissenschaftsfelder, von denen keines einer der heute üblichen Einteilungen in bestimmte Fachbereiche entspricht: 1. »Ein mathematisch-logisch ausgerichtetes Feld, worunter neben der einen Mathematik, Arithmetik und Geometrie, Astronomie, Geographie, Musik, Kunst, Ethik und Logik subsumiert sind und [wo] in die wissenschaftstheoretischen Fragen eingeführt wird. 2. Ein Feld, das Naturwissenschaften im weiteren Sinne umfasst; es behandelt das Verhältnis von Raum und Zeit sowie die Entwicklung des Kosmos (Sphärik), Mineralien (Mineralogie), der Pflanzen (Botanik), Tiere (Zoologie), der Biologie und Evolution des Menschen. 3. Ein Feld, das heutigen Disziplinen wie Psychologie, Epistemologie, Theologie, und (vergleichenden) Religionswissenschaften entspricht.« 154 Die Lehre der Ikhwan al-Safa scheint alle Bereiche der Erkenntnisse und Wissenschaften ihrer Zeit zu erfassen und keine davon zu ver-

152 Susanne Diwald, Arabische Philosophie und Wissenschaft in der Enzyklopädie »Ikhwan as-Safa«, Wiesbaden: Harrassowitz 1975. 153 D. Quintern /K. Ramahi, Qarmaten und Ikhwan as-Safa, Gerechtigkeitsbewegungen unter den Abbasiden und die universalistische Geschichtstheorie, Hamburg: Theorie und Praxis Verlag 2006, ###Seite?###. 154 Ebd., S. 298.

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achten. So sei die Erkenntnis nach ihrem Verständnis aus »vier Arten von Büchern zu schöpfen: a) b) c)

d)

Den philosophischen, das sind den propädeutischen (mathematischen) sowohl als den logischen. Den Offenbarungsbüchern. Tora, Evangelium, Psalmen, dem Koran und anderen Büchern der Propheten. Den naturwissenschaftlichen Büchern. Solche behandeln die Form der Kreatur, die Zusammensetzung der Sphären, die Bewegung der Gestirne, ihre Maße, die Zeitläufe (d. h. der Einfluss der Gestirne auf alles, was entsteht), dann die Elemente und Verwandlung des Einen in das Andere, endlich die verschiedenen Produkte, Mineral, Pflanze, Tier, Mensch. Alles dies sind Formen und gleichsam Zeichen für geheime Kenntnisse, von denen der Mensch nur die Außenseite kennt. Den theologischen Schriften, welche nur für die Reinen und Vollendeten geschrieben sind. Diese handeln von dem eigentlichen Wesen der Seelen, und ihren Arten, wie sie die Körper bewegen, leiten und sichtbar auf sie Zustand für Zustand in den Zeiten und großen Zeitläufen wirken.« 155

Dem Erkenntnisvorhaben nach scheint es den Ikhwan as-Safa darum zu gehen, ein eklektisches Wissen zu sammeln und aufzuarbeiten mit dem Ziel, ein universalistisches Weltbild aufzubauen, in dessen Mittelpunkt der Mensch als Erkennendes und handelndes Subjekt steht; denn sie begreifen den Menschen als Krönung der Schöpfung und zugleich als ein Moment des universellen Seins, d. h. als »eine Evolution erkenntnisfähiger Selbstschöpfung. Je nach dem Grade der Entfaltung seiner Erkenntnis kann er sich von vorangegangenen Prozessen seines Seins zu folgenden entwickeln oder auch nicht. Der Mensch unterscheidet sich nicht in erster Linie biologisch von anderen Lebewesen (dem Mineral, der Pflanze, dem Tier), sondern durch seine Erkenntnisbefähigung, durch seine schöpferischen Gaben.« 156

Mit dieser Beobachtung stehen sie eigentlich nicht weit weg von der neuesten Erkenntnis der Humanbiologie, die ebenfalls von einer Evolution des Menschen ausgeht. Allerdings setzt die Lehre der Ikhwan al-Safa auf eine Evolution des Lebens, die nicht genetisch bestimmt ist, sondern eher vom Grad der kreativen Erkenntnis und der prakti155 Friedrich Dieterici, Die Philosophie der Araber im X. Jahrhundert n. Chr., Erster Teil, Leipzig 1876, Nachdruck, Hildesheim, Georg Olms Verlag, 1969. S. 110. 156 D. Quintern /K. Ramahi, Qarmaten und Ikhwan as-Safa, Gerechtigkeitsbewegungen unter den Abbasiden und die universalistische Geschichtstheorie, a. a. O., S. 410.

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4. Blüte des philosophischen Denkens im Mashriq

schen Anwendung menschlicher Fähigkeiten abhängt. So zeichnet sich dadurch ein Menschenbild ab, das den Kriterien sowohl der Kreativität als auch der Fortführung und Bewahrung des Lebens innerhalb des Kosmos entspricht. Insofern bieten Ikhwan al-Safa ein eigentümliches Modell von Anthropologie, in dem der Mensch als ein integrierter Bestandteil des Kosmos erscheint und infolgedessen stets in einer harmonischen Relation mit der Natur leben sollte: »In die Natur wird nur soweit eingegriffen, wie es die universelle Harmonie des Seins fördert. Sie wird mit den Bedürfnissen des universellen Lebens in Einklang gebracht. Kein Leben wird zerstört. Denn wer sich selbst als Mikrokosmos universellen Seins erkennt, zerstört nicht. Weder sich noch anderes Leben.« 157

Ferner steht bei den ›Lauteren Brüdern‹ der Gemeinschaftssinn im Mittelpunkt ihrer praktischen Tätigkeit: »Nur in einem historischkulturellen Milieu, dessen Gesellschaft von Ethik, Moral und Idealen getragen ist, welche das Gute zu tun, […] niemals in Frage stellt, wird dem Menschen Erkenntnisorientierung von Kindesbeinen an auf den Weg gegeben« 158. Hinter dieser Konzeption steckt die Aufforderung an den Menschen, allen negativen anthropologischen Eigenschaften mittels einer vernünftigen Erziehung abzuschwören und durch positive bzw. konstruktive Werte zu ersetzen; denn es geht letztendlich darum, »die Würde des Menschen in seiner Individualität und Gesellschaftlichkeit« 159 zu gewährleisten. Doch »um das Ziel der geistigen Läuterung zu erreichen, bedarf es […] wahrer Freunde und aufrichtiger Brüder, deren Charakter, Lehren und Glauben man wohl kennt« 160; denn wie aus den Schriften der Ikhwan al-Safa hervorgeht, sind die Menschen aufgrund ihrer Anlagen, ihrer Temperamente und ihres Glaubens verschieden. Sie sollen deshalb in ihrer Gesinnung genauer geprüft werden, damit kein Unwürdiger in ihren Kreis aufgenommen wird. Ein solcher kann nämlich große Gefahr für die Gemeinschaft mit sich bringen. Hat man hingegen einen wahren Menschen gewählt, »muss man ihn höher schätzen als alle Verwandten, ja selbst als den Sohn, den Bruder und die Gattin, da alle diese nur eines Nutzens wegen uns

157 158 159 160

Ebd. Ebd., S. 385. Ebd., S. 410. F. Dieterici, Die Philosophie der Araber im X. Jahrhundert n. Chr., a. a. O., S. 111.

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lieben und nach Erreichung desselben es mit ihrer Liebe zu Ende geht. Der geistige Bruder dagegen erstrebt uns nur unseres Wesens wegen; er glaubt, dass er und wir eine Seele in zwei Leibern seien und somit Freud und Leid teilen.« 161

Mit einem derartigen Gleichgesinnten verfolgt man auch das größte Glück, das über die Erkenntnis des eigentlichen Sinnes der Dinge erzielt werden kann. Diese kurzen Erläuterungen zur Erkenntnistheorie der Ikhwan as-Safa vermitteln zweifellos den Eindruck, dass ihre Ansätze die Grundlage für einen Humanismus avant la lettre liefern. Ihr universalistisches Menschenbild, das wiederum von den ethischen Werten und Idealen der Gerechtigkeit, Gleichheit, Bildung und Toleranz getragen wird, ebnet in der Tat der Wissenschaft den Weg, jedes Denken und Handeln an der Verwirklichung und Vervollkommnung des Menschen zu messen. So konnten die Lauteren Brüder durch ihr Vorhaben, dem »humanistischen Zweck zur Veredelung der Menschheit zu dienen« 162, letztlich der Nachwelt ein verdienstvolles Kulturerbe hinterlassen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Schriften der Ikhwan al-Safa trotz der Anonymität ihrer Verfasser in den intellektuellen Kreisen des 4./10. Jahrhunderts und auch später einen breiteren Anklang fanden. Schon Ibn Sina, der Nachfolger von Ikhwan al-Safa im Mashriq, war von deren Abhandlungen fasziniert; er studierte sie und nahm sie in sein umfassendes Werk auf, genauso wie Ibn Tufail im Maghreb, der ihre Gedanken in seinen Roman Der Philosoph als Autodidakt: Hayy ibn Yaqzan integrierte. 163 Doch bevor die Wirkung der Ikhwan al-Safa auf ihre Nachfolger erläutert wird, ist es erforderlich, zunächst einen Blick auf ihre Vorläufer unter den Verfechtern der Naturphilosophie zu werfen und ihren Beitrag in diesem Bereich zu zeigen. Unter diesen Denkern gilt Abu Bakr arRazi als eine der führenden Figuren.

Ebd., S. 112. Ebd., S. 156. 163 Abu Bakr Ibn Tufail, Der Philosoph als Autodidakt: Hayy ibn Yaqzan, übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Patric O. Schaerer, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2004. 161 162

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4. Blüte des philosophischen Denkens im Mashriq

4.1. Die Naturphilosophie von Abu Bakr al-Razi Bereits im 3./9. Jahrhundert nahm die Naturphilosophie den ihr gebührenden Platz in der Skala der Wissenschaften ein, denn »ohne das Studium der mathematischen Disziplinen: Arithmetik und Geometrie, Astronomie und Musik, wird keiner, so heißt es, zum Philosophen oder gebildeten Arzt« 164. Das umfassende Wissen der griechischen Antike ebenso wie die Weisheitslehre der Perser und Inder waren damals sehr gefragt und konnten durch Übersetzung ins Arabische zur Verfügung gestellt werden. Nach der Aussage des bedeutenden Universalgelehrten al-Biruni (973–1048) »wurden die Wissenschaften aus allen Weltgegenden [in die arabische Sprache] übertragen. Damit gewannen sie an Reiz und wurden dem Herzen angenehm.« 165 So entstand ein reichhaltiges Material an Wissen, besonders auf den Gebieten der Alchimie, der Naturkunde und Medizin, das sogar die Literaten inspirierte und sie zur Beschreibung von Pflanzen, Tieren und Menschenverhalten anregte, wie es die Schriften von al-Djahiz 166 und Ibn al-Muqaffa’ am deutlichsten beweisen. Die wissenschaftlichen Leistungen in den Bereichen der Mathematik und Astronomie ebenso wie in der Optik und der Medizin waren beträchtlich und wirkten nicht nur im europäischen Mittelalter nach, sondern darüber hinaus bis in die Neuzeit. Einige dieser Errungenschaften zählt Montgomery Watt in seinem Buch Der Einfluß des Islam auf das europäische Mittelalter 167 auf, wie die arabischen Zahlen, die Algebra und der Algorithmus von Al Khwarizmi im Bereich der Mathematik oder die Entdeckung der Brechung des Lichtes und der Glasvergrößerung durch Ibn al-Haytham – lateinisch Alhazen – in der Optik. In seinem bekanntesten Werk Das Buch der Optik (Kitāb al-Manazir), das ins Lateinische unter dem Titel Opticae thesaurus übersetzt wurde, widersprach Ibn al-Haytham »der von Eu-

T. J. De Boer, Geschichte der Philosophie im Islam, a. a. O., S. 70. Al-Biruni, In den Gärten der Wissenschaft. Ausgewählte Texte aus den Werken des muslimischen Universalgelehrten, übersetzt und erläutert von Gotthard Strohmaier, Reclam Verlag, Leipzig 1988, S. 33. 166 Über Al-Jahiz, Buch der Tiere (Kitāb al-Hayawan) siehe: Charles Pellat, Enzyklopädie des Islam, Arabische Geisteswelt. Dargestellt auf Grund der Schriften von alDjahiz, Zürich: Artemis Verlag 1967. 167 W. Montgomery Watt, Der Einfluß des Islam auf das europäische Mittelalter, Wagenbach Verlag, Berlin 1988. 164 165

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Die Naturphilosophie von Abu Bakr al-Razi

klid und Ptolemaios aufgestellten Theorie, dass vom Auge Sehstrahlen zum betrachteten Gegenstand wandern, und lässt statt dessen das Licht vom Gegenstand zum Auge wandern« 168, was zu einer Wende in den optischen Messungen führte. In der Astronomie hielten die arabisch-islamischen Wissenschaftler zwar am planetarischen System des Ptolemaios mit der Erde im Zentrum fest, um die sich die Himmelssphären drehten, aber sie erkannten schon »die Schwächen des ptolemäischen Systems und rückten von ihm ab, ohne jedoch eine überzeugende Alternative zu haben« 169, da es keine genaueren mathematischen Berechnungen und schärferen Beobachtungen mittels der später entdeckten Teleskope gab, um dieses System ganz in Frage zu stellen oder es zu Fall zu bringen. Es wurde erst zu Beginn der modernen Zeit dank Kopernikus und Galilei mit Erfolg durch den Heliozentrismus ersetzt, aber nicht ohne Rückschläge einzustecken. Dennoch erweiterten sie den Inhalt des Ptolemäischen Almagest und brachten ihn, wie z. B. im Qanun alMas’udi (Kanon von Mas’udi), auf den neuesten Stand. 170 Dabei leistete der vorhin erwähnte Forscher Abu Raihan al-Biruni mit seinen Beobachtungen und Messungen einen beachtlichen Beitrag in der Geodäsie und Astronomie. Er soll sogar der erste Geograph gewesen sein, der einen Erdglobus herstellte. Nach der Aussage von Gerhard Strohmaier in seiner Einleitung zu al-Birunis Schriften In den Gärten der Wissenschaft ging es »um die Bestimmung der Größe der Erdkugel, die man kennen musste, um auf ihrer maßstabgerechten Verkleinerung die in Graden definierten Längen und Breiten der Städte zusammen mit ihren bekannten Entfernungen auftragen zu können« 171. Al-Birunis herausragendste Leistung resultierte jedoch aus seiner Reise durch Indien, die er in einem einzigartigen Werk über die Bewohner und ihre Kulturen festlegte. Nach der Einschätzung von Strohmaier ist »die Frucht der Begegnung mit Indien […] ein Buch, dem man weder aus der Antike noch aus dem Mittelalter bis weit in die Neuzeit hinein etwas Vergleichbares an die Seite stellen kann. In der Art, wie er auf den ihm völlig fremden Glauben und Denkweisen der Inder eingeht, zeigt sich zu-

168 169 170 171

Ebd., S. 40. Ebd., S. 41. Al-Biruni, In den Gärten der Wissenschaft, a. a. O., S. 27. Ebd., S. 19.

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4. Blüte des philosophischen Denkens im Mashriq

gleich eine vornehme und humanistische Einstellung, wie sie große Wissenschaftler zu allen Zeiten ausgezeichnet hat.« 172

Hier, wie schon im Kapitel über Humanismus und Ethik erwähnt wurde, stand zunächst der Mensch im Mittelpunkt des Interesses, da er sämtliche Elemente der Natur sowie die sie übersteigenden Kräfte in sich vereinigt. Ihm galt als »Krone der Schöpfung« besondere Aufmerksamkeit, und »es genügte den Bildungsfanatikern des neunten Jahrhunderts nicht, dass der Mensch nach dem Qiyas, d. h. logisch richtig zu sprechen, zu glauben und sich zu benehmen hatte, er müsste sich außerdem nach dem Qiyas kurieren lassen« 173. Deshalb wurden ebenso Medizin und Naturkunde wie Astrologie und Astronomie von den jeweiligen Herrschenden gefördert und mit hohen Geldsummen unterstützt. Kein Wunder also, dass solche Disziplinen eine rasche Entwicklung erlebt haben. Entsprechend waren auch die Diskussionen über die Prinzipien der Medizin denen über die Grundlagen der Glaubens- und Pflichtenlehre ähnlich. Oft ging es um das richtige Maß bei den Nahrungs- und Heilmitteln und ihre Auswirkung auf den Körper sowie um die genauere Einstellung der Gestirne und ihren Einfluss auf die Seele des Menschen. Einer der erfolgreichsten Vertreter dieser Naturlehre war Abu Bakr ibn Zakariyya ar-Razi – lateinisch als »Rhazes« bekannt –, der sich ebenso in diesem Fachgebiet einen Namen machte wie auch in der Philosophie, wo er eine rationale und aufklärerische Weltanschauung vertrat. Über seinen Werdegang ist wenig überliefert, außer dass er 865 in der Stadt Rayy, einem Ort südlich von Teheran im heutigen Iran, geboren wurde und sein Studium mit dem damals üblichen Kanon der Wissenschaften in seiner Heimatstadt begonnen hatte, bevor er sich dem Studium der Medizin widmete und darin einen hohen Ruf erwarb. Über sein Leben und seinen Ruhm als Arzt berichtet sein Zeitgenosse, der bekannte Geograph und Forscher al-Biruni, in seinem aufschlussreichen Werk über Indien. Darin heißt es: »Von seinen Lebensumständen habe ich nur ermitteln können, dass er sich mit der Alchemie beschäftigte. Infolgedessen schädigte er seine Augen und machte sie für Krankheiten und Beschwerden anfällig. Der Umgang mit dem Feuer und den scharfen Dämpfen machten es nötig, dass sie behandelt werden mussten, und dieser Umstand brachte ihn dazu, sich mit der Medi172 Gotthard Stohmaier, Einleitung zu Al-Biruni, In den Gärten der Wissenschaften, a. a. O., S. 6. 173 De Boer, Geschichte der Philosophie im Islam, a. a. O., S. 73.

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Die Naturphilosophie von Abu Bakr al-Razi

zin zu beschäftigen, danach ging er zu dem über, was jenseits von ihr liegt und wofür er nicht zuständig war. In der Heilkunst erlangte er einen hohen Rang, die großen Könige verlangten nach ihm, ließen ihn rufen und ehrten ihn. Er war ständig beim Studieren und überaus eifrig darin.« 174

Aus dieser Aussage geht deutlich hervor, dass sich Abu Bakr ar-Razi mit mehreren Wissenschaften seiner Zeit beschäftigt und sich verschiedenen Studien gewidmet hatte. Vor allem mit der empirischen Erforschung der Chemie bzw. »Alchimie« scheint er sich gründlich befasst zu haben, sodass er Augenschäden davongetragen haben soll. Ihm gelang aber zum ersten Mal die Gewinnung des reinen Alkohols durch die Destillation von Wein. Er nannte diese Substanz al-kull, was im Arabisch ›das Ganze‹ bedeutet. Außerdem entdeckte er die sterilisierende Eigenschaft des Alkohols und verwendete ihn bei seiner medizinischen Behandlung. Watt / Marmura zufolge leistete arRazi »mit einer sorgsamen Klassifizierung der ihm bekannten Substanzen einen Beitrag zur Alchimie, und er war einer der ersten Wissenschaftler im Islam, die mithalfen, die Pharmazie als eine zwar mit der Medizin verwandte, aber von ihr unabhängige Disziplin zu etablieren« 175. Seinen Ruf verdankt er vor allem seiner Hingabe an die Medizin und Metaphysik. Bei der letzteren ist er besonders durch einen gewissen ›philosophischen Skeptizismus‹ und eine kritische Distanz gegenüber dem Prophetentum hervorgetreten. Nach einem ruhmreichen Wirken in Bagdad, wo er lehrte und für lange Zeit ein Krankenhaus leitete, kehrte er am Ende seines Lebens in seine Heimatstadt zurück, wo er 925 im Alter von sechzig Jahren erblindet starb. Den Verlust seiner Sehkraft führte er selber auf die Anstrengung beim Verfassen seines Werkes Al-Gami’ al-Kabir zurück. Von seinen medizinischen Hauptwerken, die zum Teil ins Lateinische übersetzt wurden, sind Das große Werk (al-Djami’al-Kabir), eine Art Enzyklopädie des Wissens, und das Kompendium der Medizin (al-Hawi fi-tibb) sowie sein Buch über die Infektionskrankheiten zu nennen, speziell sein Traktat über Pocken und Masern, in dem zum ersten Mal in der Geschichte der Medizin der Unterschied zwischen diesen beiden Krankheiten herausgestellt wurde. 176 Nach Watt handelt es sich bei Al-Hawi um Al-Biruni, In den Gärten der Wissenschaft, a. a. O., S. 147. W. Montgomery Watt, M. Marmura, Die islamische Philosophie des Mittelalters, in: Der Islam, a. a. O., S. 338. 176 Ebd. 174 175

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»ein Kompendium des gesamten medizinischen Wissens seiner Zeit, das nach Ar-Razis Tod seine Schüler fertig stellen mussten. Zu jeder Krankheit referiert er zunächst die Ansicht griechischer, syrischer, indischer, persischer und arabischer Autoren, die er durch Beobachtungen aus seiner eigenen klinischen Praxis ergänze, um zuletzt ein abschließendes Urteil zu fällen.« 177

Seine didaktische Methode, die theoretische Ansätze mit empirischer Beobachtung verbindet, weist auf eine große intellektuelle und interkulturelle Offenheit hin, die man erst später im Geist der Aufklärung wieder findet. Was die Metaphysik von ar-Razi anbetrifft, so weiß man inzwischen, dass viele seiner philosophischen Schriften abhanden gekommen sind. Diese umfassten Logik, Metaphysik, Ethik und eine Kritik an theologischen Positionen, die er vehement zu widerlegen versuchte. Dennoch sind einige dieser Schriften gut erhalten, darunter Die philosophische Lebensweise (Al-Sira al-Falsafiyya), Eine Abhandlung über die Metaphysik (Risâla fi ma Ba’d al-Tabi’a), Die spirituelle Medizin (Al-Tibb al-Ruhâni) und ein Aufsatz mit dem Titel Zeichen des weltlichen Fortschritts und der Macht (Fi Amarat al-Iqbal wa al-Dawla), die alle erst im vorigen Jahrhundert von Paul Kraus unter dem Titel Ar-Razi’s Opera Philosophica / Rasa’il Falsafiyya herausgegeben wurden. 178 Andere Werke sind hingegen nur über Berichte und Kommentare seiner Zeitgenossen, die ihm oft kritisch bis feindlich gegenüber standen, bekannt geworden. Aus dem Bericht von al-Biruni kann man z. B. entnehmen, wie die Kosmologie von ar-Razi aufgebaut war. Demnach erzählt ar-Razi »von den alten Griechen, dass sie fünf von Ewigkeit her existierende Dinge annehmen, nämlich den Schöpfer, der gepriesen sei, danach die Allseele, dann die primäre Materie, dann den absoluten Raum und schließlich die absolute Zeit. Darauf baute er seine Lehren auf, die darin ihren Ursprung haben. […] Er behauptet, dass diese fünf die notwendigen Voraussetzungen in allem [seien], was real existiert. Das sinnlich Wahrnehmbare darunter sei die Materie, die auf dem Wege der Zusammensetzung verschiedene Gestalten annimmt, und sie sei etwas Festes, und darum sei ein Raum notwendig. Die verschiedenen Zustände an ihr hängen untrennbar mit der Zeit zusammen, denn die einen gehen voran, während die anderen nachfolgen. An177 W. Montgomery Watt, Der Einfluß des Islam auf das europäische Mittelalter, a. a. O., S. 43. 178 P. Kraus, Al-Razi’s Opera philosophica, Ras’il Falsafiyya, Kairo 1939, Neuabdruck in Beirut: Dar al-Afaq 1982.

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hand der Zeit erkennt man die ewige Existenz und das zeitliche Entstandensein, wie auch das Früher, das Später und die Gleichzeitigkeit, also muss es auch die Zeit geben. Unter den existierenden Dingen gibt es mit Leben begabte, also muss es eine Seele geben. Unter diesen gibt es solche, die Vernunft und einen höchst kunstreichen Körperbau aufweisen, also muss es einen Schöpfer geben, der im höchstmöglichen Maße weise, wissend, kunstfertig und gütig ist und von dem die erlösende Macht der Vernunft ausgeht …« 179

Das obige Zitat lässt klar erkennen, wie ar-Razi seine Lehre von den existierenden Dingen systematisch logisch deduziert. Demnach geht alles von der Materie aus, und nicht wie bisher, bei den Neuplatonikern und ihren arabischen Nachahmern, vom absoluten Einen, das oben an der Spitze der Kosmologie steht und aus dessen Emanation die Dinge hervorgehen. Das bedeutet, dass das Vorhandensein der Materie Raum und Zeit erforderlich macht, damit überhaupt etwas entstehen kann. Dabei setzte ar-Razi auf fünf ewige Prinzipien (alqudama al-khamsa), die dem Ursprung aller Dinge zugrunde liegen. Das sind die Materie, der Raum, die Zeit, die Seele und der Schöpfer. Sie sind die notwendigen Bedingungen für die real existierende Welt. Das Bemerkenswerte an diesem Vorgang ist, dass ar-Razi vom Konkreten ausgeht, d. h. von der sinnlichen Wahrnehmung, die auf die Materie als erforderliche Bedingung für jegliche objektive Gegenständlichkeit verweist, und diese verweist wiederum auf den Raum, in dem sich die verschiedenen Gegenstände befinden. Ihre Wahrnehmung läuft in einer Abfolge, die eine Annahme der Zeit zwingend macht. Nun gibt es aber unter den existierenden Dingen solche, die lebendige Wesen sind, und andere, die es nicht sind, was auf ein Bestehen der Seele schließen lässt. Und da einige von den lebendigen Wesen mit Vernunft begabt sind, womit sie ihre Existenz bis zu ihrer Vervollkommnung verbessern können, deutet dies auf einen Schöpfer, der alle absoluten Eigenschaften wie Weisheit, Wissen, Güte und Macht innehat und alles auf das Beste zu gestalten pflegt. Dieser Schöpfer verleiht dem Menschen die Vernunft, die es ihm erlaubt, sich Wissen anzueignen und Fortschritt zu realisieren. All dies erinnert stark an die phänomenologische Beschreibungsmethode Hegels, die von der sinnlichen Wahrnehmung ausgeht und bei ihrer Aufhebung im Prozess der Erkenntnis bis zur Idee des Absoluten hinaufsteigt. 179

Al-Biruni, In den Gärten der Wissenschaft, a. a. O., S. 145.

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Nach Hendrich bezieht sich aber dieser metaphysische Ansatz »vor allem auf die griechischen Atomisten, also Demokrit und Epikur, und auf den Timaios des Platon« 180, während die arabischen mittelalterlichen Quellen ihn eher den Sabäern von Harran zuschreiben. 181 Doch ungeachtet dieser Spekulation gelten die fünf Prinzipien für arRazi als ewig und ergeben eine rationale und systematische Folge für seine Kosmologie. Sofern nun die Materie als ewig betrachtet wird, stellt sich doch die Frage, ob die Welt ewig oder erschaffen sei. Diese Frage löste arRazi, indem er eine vermittelnde Position einnimmt, denn für ihn ist die Materie wie alle anderen Prinzipien ewig, und folglich kann es keine creatio ex nihilo geben. Dennoch braucht die Materie einen Schöpfer, der sie aktualisiert, damit die Welt entstehe. Die Schöpfung besteht also darin, den vorhandenen Atomen eine gewisse Ordnung zu geben und somit der Welt eine bestimmte Gestalt zu verleihen. Damit ist der Schöpfungsakt ein Akt der Formgebung für das Universum, während die Atome, aus denen sich die Materie zusammensetzt, ewig bleiben. Mit dieser Haltung teilt ar-Razi allerdings nicht nur den Standpunkt der antiken Atomisten, sondern auch denjenigen der Mutakallimun, die ebenfalls die Atome als Grundlage für alle existierenden Dinge sehen und an einem Schöpfer festhalten. So kommt auch Platons Vorstellung im Timaios ar-Razi entgegen, bei der der mythische Demiurg bzw. der Weltschöpfer die Materie zu einem Ganzen bindet und somit den Kosmos zusammenhält. 182 Dennoch bleibt die Frage offen, ob der Schöpfer bzw. Gott freiwillig oder durch eine Notwendigkeit in seinem Wesen handelt. Diese Frage beherrschte damals den theoretischen Diskurs im Islam und löste weitere Fragen bezüglich der Schöpfung aus, nämlich: Warum erschuf Gott die Welt überhaupt? Weshalb wurde die Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt erschaffen und nicht früher oder später? Was bezweckte er mit seinem Schöpfungsakt? Nach ar-Razi konnte die Welt nur freiwillig geschaffen sein, da sie in der Zeit entstanden ist und somit einen endlichen Charakter hat. Wäre der Schöpfer durch irgendeine Notwendigkeit gezwungen

Geert Hendrich, Arabisch-islamische Philosophie, a. a. O., S. 50. W. Montgomery Watt / M. Marmura, Die islamische Philosophie des Mittelalters, a. a. O., S. 339–340; siehe auch: Ibn al-Nadim, Fihrist, a. a. O., S. 318. 182 Platon, Timaios, Sämtliche Dialoge, hrsg. von Otto Apelt, Bd. 6, Hamburg: Meiner Verlag 2004, 30a. 180 181

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gewesen, sie zu erschaffen, wäre er lediglich nur eine Ursache in der Zeit, die ihrerseits endlich und von einer anderen Ursache bestimmt wäre, was zu einem Regress ad infinitum führte. Daher muss er die Welt freiwillig erschaffen haben. Seine Handlung entspringt seiner absoluten Macht, aber auch seiner Gnade und Barmherzigkeit. Allerdings erfolgt sein Schöpfungsakt nicht unmittelbar, sondern wird durch ein weiteres ewiges Prinzip veranlasst, nämlich durch die Weltseele, die der formlosen Materie eine Gestalt verleiht und so der atomaren Struktur der Welt eine Ordnung gibt und sie zum Leben weckt. Außerdem stattete er den Menschen mit Vernunft aus, die ihn befähigt, seine Existenz mit Kunst und Wissen am besten zu vervollkommnen und somit seine Seele von der materiellen Bindung zu lösen. Es ist jedoch unklar, weshalb der Schöpfer die materielle Welt geschaffen und die Seele mit der Materie in Verbindung gebracht hat, wenn der Zweck am Ende ist, die Seele aus ihrer materiellen Haft zu befreien? Darauf scheint ar-Razi nach einem Bericht von Abu Hatim al-Razi, 183 der mit ihm in ein Streitgespräch getreten war, geantwortet zu haben, dass damit der Seele die freie Wahl gegeben wird, sich durch Erkenntnis den geeigneten Weg für das Leben zu wählen und folglich über das eigene Schicksal zu entscheiden. Mit diesem Ansatz mündet die Metaphysik von ar-Razi in eine Ethik, die besonders dem freien Willen des Menschen breiteren Raum lässt und diesen auffordert, über seine eigene Existenz selbst zu bestimmen. Dabei geht es vor allem um eine rationale Beherrschung der Leidenschaften und um Gerechtigkeit gegenüber anderen Menschen. In diesem Zusammenhang empfiehlt ar-Razi, die Mäßigung zur goldenen Regel zu machen, und setzt hauptsächlich auf geistige und intellektuelle Tätigkeiten, die zur Erlösung der Seele von ihren materiellen Zwängen führen sollen. Dabei spricht er der Vernunft bzw. dem Verstand eine führende Rolle zu, denn »durch den Verstand haben wir eigenartige und abseits gelegene Dinge begriffen, die zuvor geheim und vor uns verborgen waren. Durch ihn erkannten wir die Oberfläche der Erde und des Himmels, die Maße der Sonne, des Mondes und der Sterne, ihre Entfernungen und Bewegungen. Durch ihn haben wir sogar die Erkenntnis des Allmächtigen, unseres Schöpfers, erlangt, das Erhabenste, was immer wir zu erlangen suchten und unsere vorteilhafteste Errungenschaft. […] Indem dies sein Wert und seine Stufe, sei183

Ar-Razi, Rasa’il falsafiyya, a. a. O., S. 291–316.

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ne Bewertung und Bedeutung ist, ziemt es uns, ihn nicht von seinem hohen Rang herabzusetzen oder ihn auf irgendeine Weise zu erniedrigen. Vielmehr müssen wir ihn in allen Angelegenheiten zu Rate zu ziehen, ihn achten und uns auf ihn verlassen, indem wir unsere Angelegenheiten nach seinem Geheiß handhaben und sie zu Ende bringen, wie er es empfiehlt.« 184

Diese Einstellung gibt offenbar der Vernunft eine Priorität gegenüber der religiösen Schrift und lässt einen gewissen Rationalismus erkennen, der sich im Laufe der Zeit noch weiter verfestigte und in eine Religionskritik mündete, die vor allem zu einer Ablehnung des Prophetentums führte. Ar-Razi nutzte auch seine rationale Erkenntnismethode zur Behandlung psychischer Zustände. Er war einer der ersten Ärzte, die sich vom Standpunkt der Medizin aus für die psychische Seite des Menschen interessierten und die Vorteile der psycho-somatischen Methode bei der Heilung von Patienten erkannten und sie sogar in der medizinischen Praxis anwendeten. Sein Buch über die spirituelle Medizin (Al-Tibb al-ruhâni) weist ausdrücklich auf die maßvolle Harmonie zwischen Körper und Seele hin und zeigt, wie sich das psychische Befinden auf die Krankheiten und Heilungsprozesse der Patienten auswirkt. Damit machte er den Weg für seine Nachfolger, insbesondere für Ibn Sina, frei.

4.2. Die Psychologie und Anthropologie von Ibn Sina (Avicenna) Wie W. Montgomery Watt und M. Marmura treffend formuliert haben, erreichte mit Ibn Sina (980–1037) – lateinisch Avicenna genannt – »das islamische metaphysische Denken einen Höhepunkt in seiner Entwicklung« 185, aber zugleich auch eine Wende, die zum Rückgang der Philosophie im Mashriq führte. Bloch war einer der ersten Denker der Gegenwart, die diesen Höhepunkt aufgespürt und in einer bestimmten materialistischen Richtung interpretiert haben. So heißt es in seinem 1952 veröffentlichten Aufsatz zum Jubiläum des tau184 Ar-Razi, Rasa’il falsafiyya, zitiert nach Rudolf Jockel, Islamische Geisteswelt. Ausgewählte Texte von Muhammed bis zur Gegenwart, Gütersloh: Bertelsmann Verlag, 1954, S. 129; siehe ebenfalls G. Hendrich, Arabisch-islamische Philosophie, Geschichte und Gegenwart, S. 50. 185 W. Montgomery Watt, M. Marmura, Die islamische Philosophie des Mittelalters, a. a. O., S. 355.

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sendjährigen Geburtstags von Ibn Sina mit dem Titel Avicenna und die aristotelische Linke: »Es gibt eine Linie, die von Aristoteles nicht zu Thomas führt und zum Geist des Jenseits, sondern zu Giordano Bruno und der blühenden Allmaterie. Eben Avicenna ist in dieser Linie einer der ersten und wichtigsten Merkpunkte, zusammen mit Averroes; ein lang vergessener, frisch erneuter Blick auf Materie steht zur Frage.« 186

Blochs Augenmerk galt vor allem der materialistischen Interpretation von Ibn Sina, und ganz besonders dem qualitativen Gehalt, den er dem Materiebegriff im Vergleich zu Aristoteles zuwies. Für Mohammad Abid al-Jabri hingegen schien er eher auf das Gegenteil hinzusteuern, weil er eine Tendenz zum Ishrāq, d. h. zur spiritualistischen Illuminationslehre zeigte. 187 Doch allein aufgrund dieser doppelten Einschätzung merkt man, dass Ibn Sina mehr als eine Facette des Wissens aufweist. Sein Werk stand jedenfalls unter dem Zeichen der Genesung sowohl des Körpers als auch der menschlichen Seele. Als Arzt, Philosoph und Staatsmann war Ibn Sinas Blick stets auf den Menschen als Ganzes gerichtet. Gerade aufgrund dieser Einstellung reiht er sich in die Liste der arabisch-islamischen Humanisten ein, die eine einheitsstiftende Weltanschauung nach dem Modell der Ikhwan as-Safa entworfen und systematisch aufgebaut haben. Als einer der wenigen Philosophen im arabisch-islamischen Kulturraum hinterließ Ibn Sina eine Autobiographie, die er seinem Schüler und langjährigen Assistenten Abdelwahid al-Gusgani diktierte und die ein unmittelbares und treues Bild von seinem Leben vermittelte. Daraus kann man heute, wie Mohamed Achena in seiner Einleitung zu Ibn Sinas Buch der Wissenschaft (Danesh-Nama) kommentierte, »diskrete Hinweise über einige tragische Ereignisse, die diesen Zeitabschnitt der Geschichte Persiens ebenso wie das Leben und Werk Avicennas prägten« 188, entnehmen. Folgt man der Darstellung dieses Berichtes, der inzwischen den Stoff für mehrere Romane lieferte, 189 so stößt man in der Tat auf gewisse Merkmale, die den Ernst Bloch, Avicenna und die aristotelische Linke, a. a. O., S. 481. Mohammad Abid al-Jabri, Kritik der arabischen Vernunft [Naqd al-’Aql al-’arabi], Die Einführung, Berlin: Perlen Verlag, 2009, S. 135. 188 Avicenne, Le livre de la science, UNESCO, Paris: Gallimard, 1986, S. 11 (eigene Übersetzung, M. T.). 189 Noah Gordon, Der Medicus, übers. von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, München: Goldmann Verlag 1997; Gilbert Sinoué, Die Straße nach Isphahan, übers. von Stefan Linster, München: Knaur Verlag 1994. 186 187

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Werdegang von Ibn Sina kennzeichneten und teilweise die Geschichte seiner Zeit widerspiegelten. Zwar erlebte Ibn Sina wegen seines medizinischen Talents sehr früh großen Ruhm und genoss breites Ansehen, weckte aber auch Neid und Missgunst, die oft Grund genug waren, in Ungnade zu fallen oder vor Verfolgung zu fliehen. Selber verwendete er den Begriff der ›Notwendigkeit‹, um seine Situation als stetiger Wanderer zwischen den verschiedenen persischen Provinzen zu beschreiben. 190 Im Getümmel der Kleinstaaterei bemühte er sich, seine Situation abzusichern. Dabei suchte er meistens Schutz bei Fürsten mit einer offenen Einstellung zum freien Denken und mit einer gewissen Toleranz gegenüber Andersgläubigen, insbesondere den Schiiten ismaelitischer Richtung, und versuchte, in deren Dienst zu treten. Das bedeutet aber nicht, dass er zu den Anhängern des ismaelitischen Glaubens gehörte, wie Henri Corbin vermutet. 191 Seine klare Absage an den türkischen Sultan Mahmud, den damals mächtigen Herrscher von Khazna in Transoxanien, der einen blutigen Feldzug gegen die Ismaeliten führte, kostete Ibn Sina die Freiheit und zwang ihn zu ständiger Flucht auf der Suche nach einem neuen Schutz. Guzgani unterstrich die Haltung seines Lehrers mit dem Hinweis, dass Ibn Sina sich stets zurückhaltend gegenüber seinen Gönnern verhielt, weil er ihnen kein Lob erwies bis auf eine Ausnahme, nämlich ’Ala-ud-Dawla, den Emir von Isfahan, dem er sich freundschaftlich verbunden fühlte und bei dem er die Funktion eines politischen Beraters übernahm. 192 Dort blieb er auch bis zu seinem Lebensende, wo er 1037 im Alter von 57 Jahren an einer Krankheit, die er nicht behandeln konnte, starb. Bei seiner Ausbildung stand Ibn Sina damals auf dem Zenit der wissenschaftlichen Entwicklung seiner Zeit und konnte sich das breite, von seinen Vorgängern erarbeitete Wissen leicht aneignen und als Grundlage seines eigenen Schaffens nutzen. Als er mit sechzehn Jahren nach einer erfolgreichen Behandlung des Emirs von Buchara, Nuh ibn Mansur, in der Medizin berühmt wurde, nutzte er die Gelegenheit, Zutritt zu dessen reich bestückter Bibliothek zu erlangen, um sein Studium anhand der vorhandenen Handschriften in den anderen naturwissenschaftlichen Fächern zu vertiefen. Wie aus seiner Autobiographie hervorgeht, konnte sich Ibn Sina dort Einsicht in 190 191 192

Ebd., S. 17. H. Corbin, Histoire de la philosophie islamique, Paris: Gallimard, 1964, S. 239. Avicenne, Le livre de la science, a. a. O., S. 28.

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zahlreiche und seltene Werke der antiken Philosophie und anderer Disziplinen verschaffen, sodass er sich mit achtzehn Jahren bereits alle Kenntnisse seiner Zeit zu eigen machte. Immerhin war er »der größte Vermittlungsphilosoph des Orients, der richtige Vorläufer der Kompendienschreiber für alle Welt. Er wusste seinen von überall her zusammengeholten Stoff geschickt zu gruppieren und, wenn auch nicht ohne Spitzfindigkeit, fasslich darzustellen« 193. Von seinem umfangreichen Schaffen zeugen mehr als hundert hinterlassene Bücher in den verschiedenen Disziplinen. Sein großes Werk Das Buch der Genesung (Kitāb al-Shifa) – ein Opus der Philosophie mit vier umfangreichen Teilen: Logik, Mathematik, Physik und Metaphysik – sowie sein medizinisches Lehrbuch Der Kanon der Medizin (Al-Qanun fi-tibb) bilden die Summe der jeweiligen Wissenschaften im islamischen Raum. Aber einige seiner Werke sind bedauerlicherweise verschollen und man weiß nur wenig über deren Inhalt wie z. B. Die orientalische Philosophie, die angeblich seine eigene Anschauung vermitteln sollte. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Ibn Sina den Beinamen »der Fürst unter den Gelehrten« (AlSchaich al-ra’is) erhielt als Anerkennung für sein vielfältiges und reiches Wissen. Doch was ihn am stärksten von den übrigen arabisch-islamischen Denkern unterscheidet, ist vor allem seine Betrachtung des Menschen als Einheit, d. h. als Mikrokosmos innerhalb des Makrokosmos. Dem entsprechend galt dem Menschen seine volle Aufmerksamkeit sowohl in medizinischer als auch in psychologischer und metaphysischer Hinsicht. In diesem Zusammenhang kann man nicht genug betonen, dass die Philosophie für Ibn Sina nicht bloß ein vermitteltes theoretisches Wissen war; sie galt, genauso wie die Medizin, als eine Heilkunde. Deshalb gehörte die Metaphysik zum ›Traktat der Genesung‹ im Kitāb al-Shifa ebenso wie in verkürzter Form zum ›Kompendium der Rettung‹ im Kitāb al-Najat. Die Titel dieser beiden Werke weisen einen Symbolcharakter auf und deuten bereits auf die heilende Wirkung des Wissens hin. Während die allgemeine Medizin sich mit dem Leib des Menschen befasst, nimmt die Philosophie die schwerere Aufgabe auf sich, die Seele bzw. den Geist zu heilen, denn »für Ibn Sina sind Zweifel, Unsicherheit und Irrtum menschliche Krankheiten, und der Philosoph ist wie ein Arzt, der kranke Men-

193

De Boer, Geschichte der Philosophie im Islam, a. a. O., S. 120.

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schen wieder gesund macht« 194. Gesundheit betrachtet Ibn Sina als den Versuch der Vervollkommnung der menschlichen Seele durch die Erkenntnis der Dinge und die Aneignung spekulativer und praktischer Wahrheiten, sofern es dem Menschen möglich ist. Hier wird ersichtlich, weshalb Ibn Sina die Philosophie als eine Art Medizin des Geistes einstuft. »Es ist keine Überinterpretation, wenn man die gesamte Philosophie Avicennas als Therapeutikum auffasst« 195, schreibt Wolfgang Günter Lerch in seinem Buch Denker des Propheten. In der Unterteilung seiner Philosophie folgt Ibn Sina zunächst Aristoteles und al-Farabi, indem er die Wissenschaft vom Seienden in Logik, Physik und Metaphysik aufteilt und jedem dieser Bereiche einen Teil des Wissens zuweist. Sofern das Seiende ein Gegenstand des Denkens ist, gehört es zum Bereich der Logik. Ist es körperlich, kann es dann ohne Materie weder sein noch gedacht werden und gilt folglich als Gegenstand der Physik. Ist aber das Seiende nur geistig, wird es zum Gegenstand der Metaphysik. Dennoch unterscheidet sich Ibn Sina von Aristoteles und al-Farabi im Aufbau seiner Metaphysik, weil er das Geistige über alles Materielle stellt und infolgedessen der Seele, die sich an der Schwelle zwischen Physik und Metaphysik bewegt, mehr Beachtung bei der Vermittlung zwischen dem Geistigen und Körperlichen verleiht. Offensichtlich bildet das Emanationsmodell bei Ibn Sinas Metaphysik, wie auch bei al-Farabi, weiterhin den Ausgangspunkt, in dem das Eine als das notwendig Seiende die »erste Ursache« für alles möglich Seiende darstellt. Aber hier vollzieht sich der Emanationsprozess nicht dyadisch (zweifach) wie bei al-Farabi, sondern triadisch (dreifach), d. h. bei jeder Emanationsstufe springen eine Intelligenz, eine Seele und ein Körper hervor, der mit einer Himmelsphäre gleichgestellt wird. Der Prozess setzt sich fort bis zum intellectus agens oder aktiven Intellekt, der die Welt des Entstehens und Vergehens sowie die Seele des Menschen hervorbringt. Diese Seele ist zunächst eine rein geistige Substanz, die erst im Akt der Entstehung des Körpers individualisiert und mit ihm verbunden wird. Nach dem Tod löst sie sich wieder vom Leib ab, bleibt aber erhalten und kehrt zu dem Ort zurück, von dem sie herabgestiegen ist. 194 Gerard Verbeke, Avicenna, Grundleger einer neuen Metaphysik, Opladen: Westdeutscher Verlag 1983, S. 8 (Anmerkung). 195 Wolfgang Günter Lerch, Denker des Propheten, Die Philosophie des Islam, a. a. O., S. 67.

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Zum Verstehen dieses metaphysischen Ansatzes genügt es, zunächst einen Blick auf die Grundprinzipien zu werfen, auf denen dieser Ansatz beruht. Nach Ibn Sina gibt es zwei grundlegende Begriffe, aus denen sich alles Seiende ergibt: das Mögliche und das Notwendige. Alle seienden Dinge, die nur möglich sind, können zwar existieren, aber ihre Existenz ist kein Bestandteil ihrer Wesenheit. Ihre Existenz bedarf einer außer ihr liegenden Ursache, die sie notwendig macht bzw. ihr zur Existenz verhilft. Diese Ursache ist das notwendig Seiende, das seine Existenz nicht von außen erhält, sondern vielmehr kraft seiner eigenen Wesenheit notwendig ist und keine Unterscheidung zwischen Wesenheit oder Essenz und Existenz aufweist. Das notwendig Seiende ist das Eine oder die »erste Ursache« bzw. Gott, der im Zuge der Erkenntnis seiner selbst einen schöpferischen Akt vollzieht, aus dem die erste Intelligenz hervorgeht. Von da an beginnt der dreifache Emanationsprozess, aus dem jeweils eine Intelligenz, eine Seele und ein Körper entspringen, die oberhalb des Mondes eine bestimmte Sphäre bilden. All diese Sphären waren nach dem damaligen Verständnis reine immaterielle Körper. Nach der Mondsphäre kommt dann als letzte Intelligenz der aktive Intellekt oder intellectus agens, der für die materialisierte Welt und somit für die Vielheiten der Dinge und der menschlichen Seelen zuständig ist. Bei der Erklärung der Welt und der sie tragenden Materie meint Ibn Sina, diese sei der Möglichkeit nach ein Substrat, in Wirklichkeit aber kann sie nur in den Körpern und nicht in ihrer Wesensform existieren. Insofern fungiert sie als ›Mutter des Seins‹ bzw. als ›Schoß der Formen‹, wie sie Bloch zu bezeichnen pflegt. 196 Somit besteht bei Ibn Sina, im Gegensatz zu Aristoteles, kein Dualismus in der StoffForm-Relation mehr; die beiden Kategorien bilden vielmehr eine Einheit. »Das, was Materie genannt wird, kann auch Form heißen, und was Form heißt, kann auch Materie genannt werden« 197, heißt es bei Ibn Sina in seiner berühmten Enzyklopädie Buch der Genesung (Kitāb al-Shifa). Mit diesem Ansatz wird die Materie bei Ibn Sina nicht mehr als ›einfacher Klotz‹ angesehen, sondern auf eine ähnliche 196 E. Bloch, Avicenna und die aristotelische Linke, a. a. O., S. 500; mit dem Problem der Materie bei Ibn Sina hat sich neben Bloch auch Elisabeh Buschmann befasst und eine Kritik an Blochs Auffassung geübt. Siehe: E. Buschmann, Untersuchungen zum Problem der Materie bei Avicenna, Frankfurt a. M.: Peter Lang 1979. 197 Ibn Sina, Das Buch der Genesung der Seele. Eine philosophische Enzyklopädie Avicennas, übers. und erläutert von Max Horten, Bonn 1906, Nachdruck Frankfurt a. M.: Minerva 1960, S. 147.

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Stufe wie die Form gestellt, da beide der dem Sein innewohnenden Substanz angehören und erst durch ihre Bindung zueinander zur Geltung kommen. Außerdem spricht Ibn Sina der Materie Ewigkeit zu, was in klarem Widerspruch zu den Lehren der islamischen Orthodoxie steht, wohl aber der aristotelischen Auffassung entspricht, wie es Gerhard Verbeke unterstreicht. Demnach »hat die Schöpfung niemals angefangen, die Welt ist von Ewigkeit da, weil das notwendig Seiende dasjenige, was es durch die Kraft seiner Natur hervorbringt, notwendig verursacht: weder durch einen Zufall noch auf kontingente Weise übt das notwendig Seiende seine schöpferische Tätigkeit aus; der Schöpfer würde nicht sein, was er ist, wenn er die Welt hervorzubringen aufhört.« 198

Auf diese Weise hält Ibn Sina am Ewigkeitsprinzip der Materie fest und setzt sich deutlich vom Schöpfungsbegriff ab, den die islamischen Theologen und Dialektiker für die Entstehung der Welt für unabdingbar erachten. Allerdings unterscheidet Ibn Sina in diesem Zusammenhang zwischen zwei Arten von Ewigkeit: einer ontologischen und einer zeitlichen, so »dass das Ewige entweder in Bezug auf das Sein oder in Bezug auf die Zeit verstanden werden kann. Das Ewige in Bezug auf das Sein bedeutet, dass seine Existenz durch nichts bedingt ist, das Ewige in Bezug auf die Zeit bedeutet, dass es keinen Anfang in der Zeit hat.« 199 Da sich aber die Zeit durch die Materie äußert und ihre Materie nichts anderes als die Bewegung ist, »so sind denn Materie, Bewegung und Zeit ewig, somit auch die Welt als Ganzes ewig«, wie M. Worms schlussfolgert. 200 Solche Aussagen sind selbstverständlich Grund genug für Ernst Bloch, daraus eine materialistische Lektüre abzuleiten und »die Materie als den fruchtbaren Schoß auffassen« zu wollen. Der zweite wichtige Bereich der Erkenntnis neben der Metaphysik bei Ibn Sina betrifft die Psychologie und sein Interesse an der

G. Verbeke, Avicenna. Grundleger einer neuen Metaphysik, a. a. O., S. 18. Avicenna, Kitāb al-Najat (Das Buch der Rettung). Auf Deutsch zitiert nach T. Tisini, Die Materieauffassung in der islamisch-arabischen Philosophie des Mittelalters, Berlin: Dietz Verlag, 1972, S. 72. 200 M. Worms, Die Lehre von der Anfangslosigkeit der Welt bei den mittelalterischen arabischen Philosophen des Orients und ihre Bekämpfung durch die arabischen Theologen, Münster: Aschendorff Verlag, 1900, S. 35. 198 199

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Die Psychologie und Anthropologie von Ibn Sina (Avicenna)

menschlichen Seele. Hierbei muss zunächst daran erinnert werden, dass die Beschäftigung mit der Seele sowohl vom Koran, d. h. dem geoffenbarten Text, als auch von den ersten islamischen Theologen streng untersagt wurde. Diese stützten sich nämlich auf den Koran, namentlich auf die Sure 7.87, wo es heißt: »Sie [die Ungläubigen] fragen dich nach dem Geist [Ruh]; antworte: Der Geist liegt im Bereich meines Herren, und es steht euch nur wenig Wissen darüber zur Verfügung.« 201 Diese und andere Stellen des offenbarten Textes erschweren den Zugriff der arabisch-islamischen Denker auf dieses Thema. Dennoch konnten sie später über die Unterscheidung von Seele und Geist bzw. von Psyche und Pneuma die theologischen Verbote umgehen und an die griechische Tradition anknüpfen. 202 Schon Aristoteles sah zu Recht, dass die Forschung der Seele Priorität innerhalb der Wissenschaften haben sollte. Zu Beginn von De anima schrieb er: »Die Erkenntnis von ihr trägt, wie es scheint, auch für die der Wahrheit im Ganzen viel bei, am meisten für die über die Natur; denn sie ist gleichsam Prinzip der Lebewesen.« 203 Ibn Sina folgt in dieser Hinsicht weitgehend Aristoteles, vor allem in seiner Aufteilung der seelischen Kräfte und der Bestimmung ihrer Funktionen. Er weicht jedoch vom Kontext des Stagiriten bei der Begründung der Existenz der menschlichen Seele ab. Hier schließt er sich mehr dem Neuplatonismus und seiner Emanationslehre an, die bereits von seinem Vorgänger al-Farabi eingeführt und zum metaphysischen Grundprinzip erhoben wurde. Entsprechend ist die menschliche Seele eine Emanation des aktiven Intellekts als jener letzten Stufe in der hierarchischen Sphärenteilung und der Intelligenzen und gehört somit zu den immateriellen Substanzen. Aber sie wird nach der Ansicht von Ibn Sina erst individualisiert, wenn sie sich dem Körper anschließt. Die Seele verdankt dem Körper ihre individuelle Existenz. Damit überwindet Ibn Sina avant la lettre den Leib-Seele-Dualismus, den Descartes als Grundlage seines Cogito anführt, ohne den Begründungsvorgang für das Cogito aufzuheben. Hierfür argumentiert er

Der Koran, Übersetzung von Rudi Paret, Stuttgart 1979, Sure 7, Vers 87. A. Tlili, Sur la notion de Psyche ›Al-Nafs‹, in: Revue tunisienne des études philosophiques, Nr. 10, 1995, S. 11; der Autor widmet dieser Frage eine umfangreiche Arbeit mit dem Titel: Contribution à l’étude de la psychologie à travers la philosophie avicennienne, Tunis 1995. 203 Aristoteles, De anima, Über die Seele, Philosophische Schriften, Hamburg: Felix MeinerVerlag 1995, Bd. 6, S. 1, 402a. 201 202

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gleichnishaft am Beispiel der Parabel vom fliegenden Menschen. Diese Parabel besagt: »Angenommen ein Mensch würde unmittelbar reif und vernünftig auf die Welt kommen, aber so existierend, dass er sich seines eigenen Körpers nicht bewusst wird, weil er im luftleeren Raum steht und ihm sogar die Augen verbunden werden, sodass er keinen Widerstand spürt. Dieser Mensch wäre sich immer noch einer Sache bewusst, sobald er überlegt, nämlich seiner eigenen Existenz als ein individuelles Selbst.« 204

Demzufolge kann die menschliche Seele als intelligible Instanz unmittelbar ihre eigene Subjektivität wahrnehmen und ihr Ego als existierendes Wesen erkennen, ohne sich auf die verschiedenen Stufen des Zweifels über die Fehlbarkeit der Sinnesorgane oder des Verstandes zu beziehen, weil die Vernunft nach Ibn Sina zu den höchsten und vorzüglichsten unter den Seelenkräften zählt. Dabei beschränkt er sich nicht auf dieses Argument, um der menschlichen Seele die nötige Existenzbegründung zu verleihen, vielmehr liefert er eine Reihe von Beweisen, die hier im einzelnen nicht ausgeführt werden können. Dennoch unterstreichen sie alle, wie sehr Ibn Sina um die Funktion und Bedeutung der Seele bemüht war, denn diese ist laut T. J. De Boer »das Wunderkind unseres Philosophen« 205. Betrachtet man nun die Seele in ihrer erkenntnistheoretischen Fähigkeit etwas näher, so unterscheidet Ibn Sina vier Arten von Intellekt oder ›Vernunft-Seelen‹, die durch die Aneignung von Wissen ihren Status erhalten. Zunächst tritt die Vernunftseele als reine Potentialität auf, die auf die Aktivierung ihrer primär intelligiblen Kräfte durch die Emanation, d. h. durch den Zufluss des aktiven Intellekts, wartet. Ibn Sina nennt sie bemerkenswerterweise manchmal den ›materiellen Intellekt‹. Aber indem sich dieser ›potentielle Intellekt‹ die primären Erkenntnisse wie etwa die grundlegenden Prinzipien über das Seiende und die logisch unmittelbaren Wahrheiten aneignet, wird er zum disponierten Intellekt erklärt. Schreitet dieser weiterhin in seinem erkenntnistheoretischen Prozess aufsteigend voran und nimmt die komplexeren Begriffe und die logisch durch den demonstrativen Beweis erfassbaren Schlüsse auf, so gelangt er zum Stand des erworbenen Intellekts. Dieser Intellekt erreicht erst die höchste Stufe

204 Ibn Sina, al-Nafs [De anima], zitiert nach: W. Montgomery Watt / M. Marmura, Die islamische Philosophie des Mittelalters, a. a. O., S. 361. 205 T. J. De Boer, Die Geschichte der Philosophie im Islam, a. a. O., S. 125.

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seiner Entfaltung, wenn er sich dem intellectus agens nähert und zum ›aktuellen Intellekt‹ wird. Doch das Ziel der Vernunft-Seele liegt nicht allein im Erwerb des Wissens. Dieses sieht Ibn Sina bloß als Mittel zum Zweck. Es bedarf hierzu der praktischen Seite des Intellekts, dessen Handeln zur Beherrschung der Affekte und Leidenschaften ebenso wie zur Lenkung der niederen Kräfte im Menschen beiträgt. Erst das Zusammenwirken der beiden Aspekte des Intellekts könnte zum Erlangen der höchsten Glückseligkeit – jener anzustrebenden Stufe menschlicher Sehnsucht – führen. Freilich räumt Ibn Sina sofort ein, dass dieser Zustand der Glückseligkeit nur wenigen zugänglich sei, vorab den Propheten und Philosophen; der breiten Masse hingegen bleibt dieses Ziel unerreichbar. Während die Propheten ihr Wissen in Form von Allegorien und Symbolen über das Vorstellungsvermögen erhalten und es auch entsprechend der Öffentlichkeit übermitteln, müssen die Philosophen mühevoll über den Erwerb von apodiktischem Wissen und rationaler Erkenntnis bis an die Quelle der Wahrheit vordringen und sie aneignen. Zur Beschreibung dieses Vorganges bedient sich Ibn Sina noch verschiedener Parabeln und Allegorien, die der persischen Literatur und der griechischen Mythologie entnommen sind, wie z. B. die berühmte Erzählung von Hayy ibn Yaqzan – Der Lebende, Sohn des Wachenden –, die später von Ibn Tufail in seinem gleichnamigen Roman weiter ausgeführt wurde und als Grundlage mehrerer Robinsonaden in der westlichen Kultur diente, oder auch Die Parabel des Vogels (Risalat at-Taier). Gerade diese letzte Schrift gilt als paradigmatisch für die Beschreibung der Seele in ihrer Anstrengung, sich vom Körper zu befreien und zur Sphäre des reinen Wissens zu erheben. Darin heißt es: »Wie ein Vogel ist die Seele des Philosophen. Mit großer Mühe entkommt sie irdischen Stricken und durchfliegt die Weltenräume, bis der Engel des Todes ihr die letzten Fesseln löst.« 206

Die Parallele zu Sokrates’ und Platons Definition der Philosophie als Einübung für den Tod und als eine Überwindung der materiellen Fesseln ist nicht zu übersehen. Doch bei Ibn Sina tritt die Mystik umso deutlicher in den Vordergrund und gibt seiner Philosophie eine eher gnostische Prägung, wie es dem Traktat von Hayy ibn Yaqzan noch 206

Ebd., S. 129.

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klarer zu entnehmen ist. Der Inhalt dieses rätselhaften und tiefschürfenden Textes lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: »Der Ich-Erzähler (die rationale Seele) begegnet, während er zusammen mit drei Begleitern (die imaginativen, appetitiven und irasziblen Vermögen der Seele) unterwegs ist, einem alten Mann von eindrücklicher Gestalt (der aktive Intellekt), der sich ihm als Hayy ibn Yaqzan (›der Lebende, Sohn des Wachenden‹) vorstellt und erklärt, es obliege ihm, durch alle Gegenden zu wandern, und er habe von seinem Vater (Gott) die Schlüssel zu allen Wissenschaften erhalten. Auf der Bitte des Erzählers, von diesen Gebieten zu berichten, warnt Hayy ibn Yaqzan zuerst vor den drei Begleitern sowie den von ihnen ausgehenden Gefahren und erklärt dann, es gebe drei Regionen: eine mittlere Zone, die uns vertraut ist (die empirische Welt), und zwei unbekannte, je eine jenseits von Orient und Okzident. Die Kraft, um diese Gebiete zu bereisen, gewinnt man aus dem Wasser einer speziellen Quelle (die Logik). Die Region im Westen ist ein dunkler Ort, mit einem Meer aus Schlamm, ungeordnet und zertrümmert (der Bereich der Materie). Über unserer eigenen Region liegt eine kahle Landschaft, unterteilt in neun aufeinander folgende Reiche (die Himmelssphären mit ihren Planeten). Der Weg zum Orient (der Bereich der Formen) beginnt in einer Einöde, in der es nur brachen Boden, Wasserfluten, brausenden Wind und lodernde Flammen gibt (die vier Elemente). Daran schließt sich eine Zone an mit großen Flüssen, Wolken und hohen Bergen mit Erzen, Metallen und Edelsteinen; in der nächsten gibt es bereits die verschiedensten Arten von Pflanzen und Gewächsen, aber erst in der folgenden leben auch Tiere (die Gattungen und Arten von Mineralien, Flora und Fauna). Es folgt ein Land, in dem fünf von Soldaten bewachte Hauptstraßen angelegt sind, auf denen Meldungen befördert werden; alle ankommenden Nachrichten werden von Beamten entgegengenommen und verarbeitet (die Sinneswahrnehmung und die kognitiven Prozesse). Dahinter liegt eine Region mit geistigen Wesen (die Engel); der Zutritt zum letzten Bereich schließlich, dem des erhabenen Königs (Gott), ist nur ganz wenigen vergönnt. Nach dieser Schilderung endet die Erzählung mit der Einladung von Hayy ibn Yaqzan, ihm auf dem Weg zum König zu folgen.« 207

Aus dieser allegorischen Erzählung wird ersichtlich, wie der Weg des Erkennens nicht allein über die Abstraktion der allgemeinen Begriffe zu beschreiten ist, sondern auch die mystische Tradition der Sufis miteinschließt, die die subjektive Erfahrung des Einzelnen ebenfalls berücksichtigt. Hayy ibn Yaqzan steht zwar bei Ibn Sina für den ak207 Zitiert nach Patric Schaerer, Einleitung zu: Ibn Tufail, Der Philosoph als Autodidakt, Hayy ibn Yaqzan, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2004, S. XXXIV ff. Zur Interpretation und Kommentar dieses Traktates siehe: A.-M. Goichon, Le récit de Hayy ibn Yaqzan, Paris: Desclée de Brouwer, 1959.

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tiven Intellekt, der als vermittelnde und transzendente Instanz den menschlichen Intellekt zur höchsten Erkenntnis führt, aber dieser Aufstieg kann nur über das eigene Bemühen und die Bereitschaft des Menschen erfolgen, der sich auf diesen Weg begibt, denn »das letzte Ziel der Vernunft-Seele ist es, sich selbst zu aktualisieren, Erkenntnis zu erlangen und im künftigen Leben in ihre himmlische Heimat zurückzukehren. Deshalb muss sie die animalischen Leidenschaften beherrschen und lenken, die sie vom rechten Weg abhalten. Wenn ihr das gelingt, indem sie sich selbst von den Lastern unbefleckt erhält, die mit der animalischen Leidenschaft verbunden sind, trennt sie sich nach dem Tod vom Körper, um in ewiger Seligkeit, in Anschauung der himmlischen Wesen und Gottes, zu weilen.« 208

Hier kommt dem Menschen bei seiner intellektuellen Anstrengung die wesentliche Aufgabe zu, die Seele von allen Fesseln zu befreien, die ihr Streben nach der Wahrheit verhindern. Eben dieser Sehnsucht der Seele nach tieferer Erkenntnis und Glückseligkeit verleiht Ibn Sina in seinen Parabeln und symbolischen Traktaten, aber auch in einem eindrucksvollen arabischen Gedicht über die Seele, literarischen Ausdruck. Doch dieses Streben ist, wie bisher angedeutet wurde, nicht nur charakteristisch für Ibn Sinas Werk, sondern für die gesamte arabisch-islamische Philosophie jener Zeit. Es zieht sich nach Meinung von Mohammed Arkoun wie ein roter Faden mit unterschiedlicher Akzentuierung durch die jeweilige philosophische Disziplin. 209 Anders argumentiert hingegen Mohammed Abid al-Jabri diesbezüglich und wirft Ibn Sina wegen seiner Illuminationstheorie – ’Ilm al-Ishrāq genannt – Doppelzüngigkeit und Zuneigung zum gnostischen Denken vor. »Das andere Gesicht des großen Meisters«, schreibt al-Jabri, »taucht in seiner ›orientalischen Philosophie‹ auf, die er als ›die von keiner Unreinheit befleckte Wahrheit‹ betrachtet. Man muss bei Avicenna diesen gnostischen Aspekt, der ein Denken der Finsternis fördert, zur Kenntnis nehmen, um das falsche Bild zu korrigieren, das wir uns von ihm gemacht haben, und uns daran gewöhnen, unsere Vergangenheit im Lichte objektiver Tatsachen zu lesen statt unter dem Druck unserer gegenwärtigen Desiderata. Man darf sich nicht fürchten, diesem dunklen Aspekt des Denkens M. Watt / M. Marmura, Der Islam, Bd. II, a. a. O., S. 362. Mohammed Arkoun, Humanisme et Islam, Combats et propositions, a. a. O., S. 67. 208 209

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Avicennas ins Auge zu sehen, der dem anderen Aspekt widerspricht, jenem, der sich in seinem großen Werk Al-Shifa wiederspiegelt.« 210

In dieser philosophischen Anschauung erkennt al-Jabri eine Tendenz zur Mystik als jener Erfahrung der Sufis, in der das Selbst die Erkenntnis des Absoluten in einer Weise erlebt, die nicht mehr rational nachvollziehbar ist. Gerade dieser Weg wird später von al-Ghazali eingeschlagen und zum Anlass genommen, seinen Angriff gegen die Philosophie zu starten und ihr zumindest im Mashriq einen harten Schlag zu versetzen, der sie in Bedrängnis gebracht hat.

4.3. Al-Ghazalis Weg von der Skepsis zur Mystik Von allen arabisch-islamischen Philosophen ist Abu Hamid al-Ghazali (1058–1111) derjenige mit der höchsten Ambivalenz in der Geschichte dieser Philosophie. Er hat einerseits der Philosophie, genauer gesagt der Metaphysik neuplatonischer Provenienz, den Kampf angesagt, gleichzeitig aber ihre Hilfsmittel, wie z. B. die Logik, für die Theologie und Jurisprudenz zugelassen. Zudem ebnete er der bis dahin als vernunftwidrig geltenden Mystik in ihrer islamischen Gestalt, dem Sufismus, den Weg für ihre Versöhnung mit dem orthodoxen Islam. Diese doppelte und im Grunde entgegengesetzte Leistung ist einmalig und hebt al-Ghazali von allen bisherigen Denkern seiner Zeit ab. Nach der Aussage von Annemarie Schimmel nahm er »an allen geistigen und politischen Strömungen seiner Zeit teil – aktiv, kritisch, oder ablehnend, wie er das in seiner Autobiographie geschildert hat« 211. Insofern markiert er einen Wendepunkt sowohl in der Geschichte der arabisch-islamischen Philosophie als auch in der Religionswissenschaft und Mystik. Dieser Wandel ist aber nicht nachvollziehbar ohne Rückblick auf seine Biographie. Abu Hamid ibn Muhammad al-Ghazali wurde 1058 in der persischen Stadt Tus in Chorassan geboren. Schon seine frühe Erziehung im Hause eines mystischen Freundes nach dem Tode seines Vaters prägte seinen Werdegang. In Nishapur genoss er später den Unterricht in den Religionswissenschaften bei dem damaligen Hauptvertreter der schafiitischen Rechtsschule Abu al-Ma’ali al-Djuwaini, Mohammad Abid al-Jabri, Kritik der arabischen Vernunft, a. a. O., S. 134. Annemarie Schimmel, Vorwort zu Al-Ghazali, Das Elixier der Glückseligkeit, übers. von Hellmut Ritter, Köln: Diederichs Verlag 1959, S. 7. 210 211

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und er glänzte sehr früh durch seine schnelle Auffassungsgabe und seine Selbständigkeit in der Urteilsbildung. Im Anschluss daran ging er nach Bagdad, wo er einen Lehrstuhl für islamisches Recht an der bedeutenden Hochschule Nizamiyya erhielt. Dort gelangte er bald »zu großer Berühmtheit, lehrte und schrieb über kanonische Rechtswissenschaft und widmete sich gleichzeitig dem Studium der verschiedenen philosophischen und religiösen Lehrsysteme seiner Zeit« 212. Besonders al-Farabis und Ibn Sinas Schriften standen im Fokus seiner Aufmerksamkeit, die er zuerst in seinem Werk Die Absichten der Philosophen (Maqasid al-falasifa) zusammenfasste, bevor er sie später in seinem Buch Die Inkohärenz der Philosophen (Tahafut al-Falasifa) aufs Schärfste kritisierte und zu widerlegen suchte. Nach vier Jahren Lehrtätigkeit in Bagdad erlebte al-Ghazali eine tiefe geistige Krise, die ihn veranlasste, sein Lehramt aufzugeben und sich auf eine Wanderreise zu begeben, die mehr als zehn Jahre dauerte und während derer er sich von der orthodoxen Lehre der islamischen Religion abwandte und zur mystischen Erfahrung des Glaubens fand. In dieser Zeit bereiste er Syrien, Palästina und Ägypten. Anschließend machte er seine Pilgerfahrt nach Mekka und kehrte nach Nishapur zurück, wo er für eine kurze Zeit sein Lehramt wieder aufnahm. Dann ging er in seine Heimat Tus zurück, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1111 als Sufi lebte und predigte. Einige wichtige Daten seiner Entwicklung lassen sich bereits aus seiner Schrift Der Erretter aus dem Irrtum (Al-Munqid min al-dhalal) entnehmen, die als ›Autobiographie‹ betrachtet wird. Da ist zuerst sein Wissensdrang, der es ihm von Anfang an ermöglichte, die Grundlagen der religiösen Wissenschaften und der Jurisprudenz frühzeitig zu beherrschen. Doch bald spürte er eine gewisse Skepsis gegenüber dem Autoritätsglauben, die ihn lange Zeit bei seinen Studien begleitete und ihn fast an den Rand des Zusammenbruchs brachte, denn wie er selber schrieb, ist es »eine Voraussetzung des blinden Nachahmers (muqallid), dass er nicht weiß, dass er nachahmt. Wenn er von diesem Umstand erfährt, bricht das Glas seiner Nachahmung derart, dass es sich nicht mehr zusammensetzen lässt.« 213

Hellmut Ritter, Einleitung zu Al-Ghazali, Das Elixier der Glückseligkeit, a. a. O., S. 11. 213 Abu Hamid al-Ghazali, Der Erretter aus dem Irrtum (Al-Munqid min ad-dalal), übers. von Abdel Samad Abdel-Hamid Elschazli, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1987, S. 12. 212

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Angesichts der unzähligen geistigen Strömungen, die sich von der spekulativen Theologie und Dialektik der Mutakallimun über die peripatetische und neuplatonische Philosophie bis hin zur sufischen Mystik erstreckten, fühlte sich al-Ghazali herausgefordert, sich mit all diesen Lehren gründlich zu befassen und ihre Argumente und Beweisführungen nachzuprüfen, was aber seine Sehnsucht nach Gewissheit nicht stillen konnte. Im Gegenteil, dies erhöhte sein Misstrauen gegenüber jedem übermittelten Wissen nur noch weiter und verschärfte sein kritisches Denken, was zunächst in einen radikalen Skeptizismus mündete, der nicht geringer war als der methodische Zweifel von Descartes zu Beginn der Neuzeit oder eines Humes, wie es später erkennbar wird. 214 In der Tat, al-Ghazali wollte nur jene Erkenntnis für wahr halten, die jeden Irrtum ausschließt, jeden Zweifel außer Kraft setzt und durch keinen Beweis erschüttert werden kann. Dabei bediente er sich zunächst der Logik bei der Wahrheitsfindung, deren Grundsätze er für apodiktisch hielt, wie die der Mathematik. Er geht vor allem vom Grundsatz des Widerspruchs aus, dem jede Art von Erkenntnis unterworfen werden soll. Da sich die Sinneswahrnehmung vor dem Vermögen des Intellekts als trügerisch herausstellt, fragt sich al-Ghazali, ob dieses Vermögen selber sich nicht als unzureichend erweist, um die Wahrheit zu erlangen. Hier gilt für ihn der Zustand des Traums als Beispiel für den Zweifel an der Richtigkeit dessen, was im Wachzustand als wirklich genommen wird. Dazu schreibt er in Das Elixier der Glückseligkeit: »Der Beweis dafür, dass es im Innern des Herzens noch ein Fenster der Erkenntnis gibt, beruht auf zwei Dingen. Das eine ist der Schlaf; denn wenn im Schlafe sich das Tor der Sinne schließt, tut sich das innere Fenster auf, und aus der übersinnlichen Welt und der himmlischen Urtafel beginnt sich die verborgene Welt zu zeigen, so dass der Schläfer das, was in Zukunft geschehen wird, sieht und erkennt, bald in voller Klarheit, so wie es wirklich sein wird, bald in Bildern, die der Deutung bedürfen.« 215

Kann es also sein, dass der Zustand der Sufis eben diesem Traumzustand ähnelt, der eine andere Wahrheit enthüllt? Mit diesem methodischen Ansatz versuchte al-Ghazali, alle vier vorhandenen Lehr214 Zum Vergleich zwischen dem Zweifel bei al-Ghazali und demjenigen von Descartes siehe: Mahmoud Zakzouk, Al-Ghazalis Philosophie im Vergleich mit Descartes, Frankfurt a. M.: Peter Lang Verlag 1992. 215 Abu Hamid al-Ghazali, Das Elixier der Glückseligkeit, a. a. O., S. 52.

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strömungen einer kritischen Prüfung zu unterziehen, um selbst Klarheit über das Wissen insgesamt zu gewinnen. Das sind 1. die spekulativen Dialektiker (Mutakallimun), 2. die Anhänger der Batiniyya als Verehrer des verborgenen Imams unter den Schiiten – Ismailiten genannt –, 3. die Philosophen, und 4. die Sufis, wobei er sich bei seiner Auseinandersetzung mehr auf die drei ersten Gruppen konzentrierte. 1. Im Hinblick auf die spekulative Theologie sieht al-Ghazali ihre Hauptaufgabe in der Wahrung des islamischen Glaubens und der Auslegung religiöser Schriften. Die Erkenntnisse, die von den Theologen erarbeitet werden, reichen zwar für viele Leute zur Festigung ihres Glaubens aus, können aber ihn nicht befriedigen, da ihre dialektische Methode nicht ausreicht, um die von ihm angestrebte Gewissheit zu erbringen. 2. Anders verhält sich al-Ghazali im Fall der Batiniyya und ihrer Vertreter; er verfasste gegen sie mehrere Schriften, in denen er ihnen ein Abweichen von der orthodoxen Lehre vorwirft, ja sie sogar der Häresie bezichtigt, weil sie dem Grundsatz folgten, die Wahrheit sei nur durch die Belehrung eines geistlichen Führers bzw. eines Imams zu erreichen, und somit der eigenen Erkenntnis keinerlei Wert beimaßen. 3. Als besonders schwierig gilt aber seine Beziehung zur Philosophie, die am meisten ins Visier seiner Kritik rückte. Dennoch trifft diese Kritik nicht auf die Philosophie schlechthin zu, wie so oft erklärt wird, sondern hauptsächlich auf gewisse Grundthesen der Metaphysik, die ihm nicht weniger autoritätsgläubig als die der Theologen zu sein scheinen. Es geht also um die peripatetischen und neuplatonischen Lehren von al-Farabi und Ibn Sina, die al-Ghazali in Die Inkohärenz der Philosophen (Tahafut al-Falasifa) aufs Schärfste verurteilte. Dabei stellt er zuerst zwanzig Thesen zusammen, die nach seiner Ansicht in Widerspruch zu den religiösen Prinzipien des Islam stehen, und versucht sie zu widerlegen. 216 Siebzehn davon hält Abu Hamid al-Ghazali, Tahafut al-Falasifa, hrsg. von M. Bouyges, Beirut 1927. Das Buch besteht aus zwei Teilen: Im Ersten befasst sich al-Ghazali mit metaphysischen Thesen (1–16); im zweiten Teil konzentriert er sich auf naturphilosophische Fragen (17–20). Zwei der Thesen, die des Unglaubens bezichtigt werden, gehören zum ersten Teil des Buches. Diese sind die Lehre von der Ewigkeit der Welt und die von der Kenntnis des Allgemeinen bei den Einzeldingen. Siehe hierzu auch: Abu Ridah, M., Al-Ghazali und seine Widerlegung der griechischen Philosophie (Tahafut al-Falasifa), Madrid 1952.

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er für bloße Abweichungen vom rechten Glauben, die deshalb noch nicht als Abkehr vom Islam bezeichnet werden können, wie z. B. die Auffassung der Philosophen von Gott als dem Ur-Einen, dem keine Attribute zugefügt werden dürfen, oder die Kausalitätsvorstellung in der Natur, wie sie von manchen islamischen Sekten vertreten wurde, sowie Ibn Sinas Theorie der Seele. Drei Thesen hingegen stehen nach seiner Auffassung völlig in Widerspruch zu den religiösen Gesetzen und werden entsprechend als Unglaube eingestuft. Diese betreffen 1. die Ewigkeit der Welt, 2. die Auffassung, Gott kenne nur das Allgemeine bzw. die Universalien von den Einzeldingen, und 3. die individuelle Unsterblichkeit der Seele und somit die Leugnung der Auferstehung des Leibes. Wie bereits im Kapitel über Ibn Sina erwähnt wurde, ist die Welt zwar endlich im Raum, aber ewig in der Zeit. Sie geht aus dem UrEinen hervor und ist folglich von unendlicher Dauer, wie die Wirkung aus der Ursache. Dagegen argumentiert al-Ghazali, dass man Raum und Zeit nicht trennen und auf unterschiedliche Weise auffassen darf. Wer eine endlose Zeit voraussetzt, muss folgerichtig auch an die Existenz eines unendlichen Raumes denken; denn wie der Raum zum Körper, so verhält sich die Zeit zur Bewegung des Körpers. Beide sind nur Verhältnisse der Dinge, die mit der Welt entstanden sind. Nach W. Montgomery Watt und M. Marmura erinnert die Antwort von alGhazali »an den heiligen Augustinus: Die Zeit und die Welt seien zusammen erschaffen worden; ›vor‹ der Erschaffung der Welt habe es keine Zeit gegeben, und Gott gehe der Welt in einem nicht-zeitlichen Sinn von ›vor‹ voraus.« 217 Ebenso inadäquat ist es für al-Ghazali, die absolute und schöpferische Macht Gottes zu bestimmen oder gar zu beschränken. Der Wille Gottes ebenso wie seine Wirksamkeit ist unermesslich; er könnte, wenn er wollte, die Welt in fortwährender Existenz erhalten oder auch verändern. Hier wendet er sich gegen Ibn Sinas Theorie, wonach Gott nur das Allgemeine von den Einzeldingen kenne, und meint, dass eine solche Behauptung gerade gegen eines der Attribute Gottes verstoße, nämlich seine Allwissenheit. 218 So wie sein ewiger Wille als Ursache für die Einzeldinge gilt, so umfasst auch sein Wissen alles 217 W. Montgomery Watt, M. Marmura, Die islamische Philosophie des Mittelalters, a. a. O., S. 369. 218 Al-Ghazali, Die Inkorärenz der Philosophen (Tahafut al-Falasifa), a. a. O., S. 223– 238.

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Besondere zugleich, ohne dass die Einheit seines Wesens in irgendeiner Weise beeinträchtigt wird. Von daher gibt es Wunder und Vorsehung, die jedoch von den Philosophen aufgrund der Kausalitätsgesetze als unmöglich zurückgewiesen werden. Dagegen stellt sich aber al-Ghazali und streitet die Vorstellung von einem notwendigen Kausalzusammenhang zwischen den Dingen kategorisch ab. In diesem Zusammenhang schreibt er im Tahafut al-Falasifa: »Der Zusammenhang zwischen dem, was man gewöhnlich für die Ursache hält und dem, was man gewöhnlich für die Wirkung hält, ist für uns nicht notwendig. Aber im Fall von zwei Dingen, von denen keines das andere ist, und wo weder die Affirmation noch die Negation des einen die Affirmation oder die Negation des anderen nach sich zieht, macht die Existenz oder Nicht-Existenz des einen nicht die Existenz oder Nicht-Existenz des anderen notwendig; wie z. B. das Löschen des Durstes und das Trinken, Sattheit und Essen, Brennen und Kontakt mit Feuer, Licht und das Erscheinen der Sonne […] und so weiter unter Einbeziehung aller in der Medizin, Astronomie, in den Künsten und Handwerken beobachteten Zusammenhänge.« 219

Demnach besteht also keine kausale Beziehung zwischen den Dingen, die in der Natur zu beobachten sind, sondern nur eine zeitliche Aufeinanderfolge von Ereignissen, deren einzige Ursache Gott sei. Das unterstreicht al-Ghazali, wenn er am Beispiel der Watte und des Feuers schreibt: »Der eine, der das Brennen bewirkt, indem er Schwärze in der Watte und die Auflösung in ihre Bestandteile verursacht und sie zu Zunder bzw. Asche macht, ist Gott, der Erhabene, entweder mit oder ohne Vermittlung seiner Engel.« 220 Damit stellt er sich hinter die Kausaltheorie der Ash’ariten, die von einer ständigen Wirkung Gottes ausgehen, will aber zugleich die Möglichkeit von Wundern unterstreichen. Es lässt sich jedoch fragen, »ob nicht al-Ghazali, um den ewigen, allmächtigen Schöpferwillen zu retten, sowohl den zeitlichen Charakter der Welt, den er beweisen möchte, als [auch] die Freiheit des menschlichen Handelns, von der er dabei ausgeht, und die er auch nicht ganz aufgeben wollte, jener absoluten Macht zum Opfer dargebracht habe« 221, worauf de Boer zurecht hinweist. Dennoch scheint sich bei dieser Art von Argumentation ein neuer Ansatz in der Erkenntnistheorie herausgebildet zu haben, der erst 219 220 221

Ebd., S. 277 (eigene Übers., M. T.). Ebd., S. 278 (eigene Übers., M. T.). De Boer, Geschichte der Philosophie im Islam, a. a. O., S. 145.

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in der Neuzeit bei David Hume zum Ausdruck kam und über ihn sogar Kant aus seinem »dogmatischen Schlummer« erweckte. 222 Das Bemerkenswerte daran ist nicht, dass al-Ghazali durch seinen Vorgang mit dem Rückbezug auf die ständige Wirkung Gottes in den Dingen die Kausalitätstheorie zu widerlegen versuchte, sondern vielmehr, dass er auf die Unzulänglichkeit der empirischen Beweiskraft solcher kausalen Beziehungen aufmerksam machen wollte. Hier setzt eben die Kritik Humes am Gesetz der Kausalität an. Hume, der genauso Skeptiker wie al-Ghazali war, zweifelte am rationalistischen Ansatz der Ursache-Wirkung- Relation und erklärte, dass diese nur ein Ergebnis der Gewohnheit in der menschlichen Erfahrung sei. Anders ausgedrückt: Es handelt sich lediglich um eine Schlussfolgerung des Verstandes aufgrund der von ihm gemachten Erfahrungen. Diese grundlegende Kritik Humes übernimmt später Kant und wendet sie auf alle Vorstellungen der Kausalzusammenhänge an, die für die Metaphysik von Relevanz sind. Das Ergebnis mündet dann in die These, dass Kausalität nur noch eine Kategorie des Verstandes sei und dieser selber den Dingen die Gesetze vorschreibe, anstatt sie von den Dingen durch die Erfahrung abzuleiten. Der Verstand verwandelt sich auf einmal in einen Gesetzgeber, der, wie es in den Prolegomena heißt »der Natur ihre Gesetze vorschreibt« 223. Was die Frage der Unsterblichkeit der Seele und der damit verbundenen Leugnung der Auferstehung des Leibes anbetrifft, so sieht al-Ghazali in dieser These einen klaren Widerspruch zur islamischen Lehre und bezichtigt deshalb Ibn Sina der Abkehr vom Glauben. Im zweiten Teil des Tahafut al-Falasifa liefert er eine ausführliche Darlegung von Ibn Sinas Traktat über die Seele und übt herbe Kritik an seiner Konzeption der Unsterblichkeit der individuellen Seele, die eine Leugnung der Auferstehung des Leibes beim jüngsten Gericht impliziert. Er erkennt darin einen Dualismus in der Argumentation, der zwischen dem Diesseits, wo sich die Seele mit dem Leib verbinden konnte, und dem Jenseits, wo die Auferstehung des Leibes verleugnet wird, entsteht, und fordert deshalb seine Aufhebung, denn die Wiedervereinigung der Seele mit ihrem Körper wird nicht wunderbarer als die erste Verbindung derselben mit dem Leibe auf Erden sein. W. G. Lerch, Denker des Propheten, a. a. O., S. 120 ff. Immanuel Kant, Prolegomena zu einer künftigen Metaphysik [1783], in: I. Kant, Theoretische Philosophie, Texte und Kommentare, hrsg. von Georg Mohr, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2004, Bd. 2, § 36, S. 93.

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Al-Ghazalis Weg von der Skepsis zur Mystik

Mit diesem frontalen Angriff hat al-Ghazali zweifellos die Philosophie zum Teil in Bedrängnis gebracht, weil er der erste war, der eine umfassende Kritik an den philosophischen Lehren, besonders an denjenigen von al-Farabi und Ibn Sina, übte und diese Kritik zu einer Herausforderung für seine Nachfolger machte. Dennoch wird nach genauer Beschäftigung mit seinen Werken deutlich, dass er bei seiner Argumentation selbst inkohärent vorging und unterschiedliche Positionen einnahm, ohne sich dabei auf einen festen Grundsatz zu stützen. Das hat ihm gerade von seinen Kontrahenten den Vorwurf eingebracht, in seiner Haltung ambivalent zu bleiben. Von seinem späteren Widersacher Ibn Ruschd heißt es in der entscheidenden Abhandlung (Fasl al-Maqal): »Er folgt in seinen Büchern keiner einheitlichen Lehre, sondern mit den ash’aritischen Theologen ist er Theologe, mit den Mystikern ist er Mystiker, und mit den Philosophen ist er Philosoph.« 224 Aber eines hat al-Ghazali in der Tat vollzogen, nämlich die Selbstgewissheit nicht mehr in der Vernunfterkenntnis bzw. Philosophie zu suchen, sondern eher in der Sufimystik. Der auf Geschmack (dhauq) und intuitive Erfahrung gestützte Glaube trat nun an die Stelle des apodiktischen Wissens und seine Deutung wurde nur allegorisch ausgedrückt. Sein inneres Erlebnis und seine Hinwendung zu Gott auf dem Weg der Mystik hat al-Ghazali folgendermaßen beschrieben: »Es war, was war, was ich nie sagen werde, Du denke gut davon und frage nicht.« 225 Für Bloch hingegen geschah »die mystische Allegorese hauptsächlich, um die Religion zu retten, nicht um sie zu kritisieren, zu reduzieren, oder gar mit Weisheit aufzuheben.« 226 Aufgrund dieser Ansätze hat die Rezeption lange Zeit den Schluss gezogen, dass al-Ghazalis Kritik der Philosophie einen empfindlichen Schlag versetzt habe, von dem sie sich nicht mehr habe erholen können. Dennoch traf dieses Urteil nur für eine gewisse Zeit auf den Mashriq zu; denn al-Ghazalis Kritik trug gleichzeitig dazu bei, die Lehren der Philosophen, besonders von al-Farabi und Ibn Sina, bei den philosophisch weniger interessierten Menschen zu verbreiten und indirekt das theologische Denken zu beeinflussen. Das Ibn Ruschd, Die entscheidende Abhandlung. Kitāb Fasl al-Maqal, in: Philosophie und Theologie, dt. Übers. Von Markus Joseph Müller, Weinheim: VCH Verlagsgesellschaft 1991, S. 19. 225 Al-Ghazali, Der Erretter aus dem Irrtum, zitiert nach Hellmut Ritter, Einleitung zu Das Elixier der Glückseligkeit, a. a. O., S. 17. 226 Ernst Bloch, Avicenna und die aristotelische Linke, a. a. O., S. 488. 224

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4. Blüte des philosophischen Denkens im Mashriq

lässt sich gerade an der Entfaltung der Philosophie im Maghrib, d. h. in Nordafrika und im damaligen Südspanien – al-Andalus genannt –, am besten darlegen. Dort erlebte sie eine weitere Blüte, die zu einem fruchtbaren interkulturellen Austausch zwischen dem islamisierten Teil der Halbinsel und dem christlichen Teil führte und dann ganz Europa fasste.

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5. Fortsetzung der arabisch-islamischen Philosophie im Maghrib

Anders als im Mashriq hat sich mit einer kurzen zeitlichen Verzögerung eine weitere Entwicklung der arabisch-islamischen Philosophie im Maghrib vollzogen. Die Gründe für diese Abweichung werden heute von den Forschern unterschiedlich ausgelegt. Dennoch können sie auf zwei Faktoren zurückgeführt werden: Zum einen das Fehlen einer vorislamischen intellektuellen Tradition in Nordafrika und Südspanien (al-Andalus), die im Orient eine Übersetzung der hellenistischen Kultur begünstigte, und zum anderen eine eher konservative Haltung der herrschenden Dynastien, vor allem in der ersten Phase, gegenüber der Philosophie und den weltlichen Wissenschaften. 227 So erklärt z. B. al-Jabri: »Al-Andalus und die Region des Maghreb [waren] während dieser ganzen ersten Periode auf der kulturellen Stufe der Zeit der ersten Eroberer stehen geblieben […], jener des Islams der Gefährten (sahāba) und der Nachfolgenden (tābi’ūn), deren wichtigste Quellen des Wissenserwerbs der mündliche Bericht (riwāya) und die Weitergabe (naql) sowohl des religiösen als auch des linguistischen oder anderen Wissens waren, und zwar im Gegensatz zum Orient, wo zahlreiche Schulen des Rechts, der Theologie und der Grammatik entstanden waren.« 228

Alles reduzierte sich hier auf eine Beschäftigung mit dem islamischen Recht, und genauer gesagt, mit dem Recht nach malikitischer Schulrichtung. Hinzu kam die feindselige Einstellung der herrschenden Omayyaden-Dynastie in al-Andalus gegenüber den von ihren Konkurrenten, den Abbasiden im Orient, geförderten Philosophie und Wissenschaft, weil sie darin »häretische« Erneuerungen gesehen hat227 W. Montgomery Watt / M. Marmura, Die islamische Philosophie des Mittelalters, a. a. O., S. 373; ähnlich argumentiert Mohammed ’Abid al-Jabri in seinem Buch Kritik der arabischen Vernunft, Die Einführung, a. a. O., S. 139. 228 Mohammed ’Abid al-Jabri, Kritik der arabischen Vernunft, a. a. O., S. 141.

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5. Fortsetzung der arabisch-islamischen Philosophie im Maghrib

ten, die den festen Glauben gefährden könnten. Dennoch gelang im zehnten Jahrhundert in Spanien unter der Herrschaft von Abdurrahman III (912–961) und dessen Sohn al-Hakam II (961–976), was zuvor im Orient geschehen war, nämlich eine Entfaltung höchster materieller und geistiger Kultur, von der Nietzsche im Antichrist mit größtem Lob sprach. 229 Dabei spielten nach Patric Schaerer wiederum zwei Bedingungen eine besonders wichtige Rolle: »Einerseits die kulturelle Abhängigkeit gegenüber dem Zentrum der islamischen Welt im Osten und die stete Übernahme bzw. der ›Import‹ von Kunst und Wissenschaft nach al-Andalus; andererseits die Schaffung eines eigenen andalusischen Stils und die charakteristische Gestaltung und Weiterentwicklung des Übernommenen, bis hin zu einer eigentlichen Rivalität zwischen West und Ost um die kulturelle Vorherrschaft.« 230

Das wichtigste Element bei dieser Entwicklung war sicherlich die interreligiöse und auch interkulturelle Atmosphäre, die aufgrund der Koexistenz von Muslimen, Christen und Juden in diesem Raum vorherrschte und den Geist der Toleranz und der gegenseitigen Achtung förderte, denn es wurde hier keine Zwangsislamisierung durchgeführt, sondern die verschiedenen religiösen Gemeinschaften lebten nebeneinander und pflegten einen regen ökonomischen und kulturellen Austausch untereinander. Daraus entstand eine gemischte Schicht von Christen in der Bevölkerung (die »Mozaraber«), die Arabisch sprachen und sogar die Lebensgewohnheiten der Muslime übernahmen. Die Vermittlung der Philosophie fand zuerst über die Logik statt, die von einem Gelehrten namens Muhammad ibn ’Abdun (ca. 930– 995) aus dem Osten gebracht wurde. Dieser kehrte nach einem langen Studienaufenthalt in Bagdad nach al-Andalus zurück und machte seine Zeitgenossen mit dem Organon bekannt. Das so erweckte Interesse an der Logik erreichte langsam die Theologen und Juristen, wie den berühmten Gelehrten Ibn Hazm (997–1064), der Werke über Logik verfasste. Danach gelangten die Schriften der Lauteren Brüder über den Mathematiker und Astronomen Maslama al-Magiri (gest. 1007) sowie einige Werke von al-Farabi und Ibn Sina nach Spanien. Aber mit der Zeit hatte sich doch die Neigung für philosophische Themen

Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, a. a. O., § 60, S. 249. Patric Schaerer, Einleitung zu Abu Bakr Ibn Tufail, Der Philosoph als Autodidakt Hayy ibn Yaqzān, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2004, S. XLIX. 229 230

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5. Fortsetzung der arabisch-islamischen Philosophie im Maghrib

bei den Gelehrten gezeigt, und so erlebte die Philosophie in al-Andalus eine weitere Phase der Wiederbelebung. Nach al-Jabri »hatte das theoretische Denken in al-Andalus das Glück, die Philosophie zur rechten Zeit zu empfangen, nachdem die Gelehrten sich fest in der Kenntnis der Mathematik, Astronomie, der Medizin und der Logik eingerichtet hatten, Disziplinen, die am Ursprung des philosophischen Denkens in Griechenland gestanden hatten und sogar den Weg für die einzige ›wahre‹ Philosophie eröffnet hatten, die des Aristoteles, dem Magister primus.« 231

Aber sie kümmerten sich nicht so sehr um die theologische Problematik des Verhältnisses von »Vernunft« und »Glaube« bzw. von Philosophie und Religion, die damals im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen im Mashriq stand. So konnten sich die andalusischen Philosophen von den ideologischen Hindernissen freimachen und sich den wissenschaftlichen Themen zuwenden, die der Stagirit als seine Hauptaufgabe betrachtete. Aufgrund dieser Voraussetzungen entstand nach der Einschätzung einiger Forscher der eigene philosophische Diskurs der andalusischen Denker, der sich mehr auf die epistemologischen Grundlagen des Aristotelismus stützte und sich vom Neuplatonismus und seinem gnostischen Hintergrund fernhielt. Somit konnte er sich ebenfalls »von der Tendenz der orientalischen philosophischen Schule abgrenzen, die Wissenschaften zu benutzen, um die Religion in der Philosophie und die Philosophie in der Religion zu begründen« 232. Dieser eigenständige Weg des theoretischen Denkens im Maghrib der islamischen Welt wurde wesentlich von drei bedeutenden Philosophen beschritten, nämlich von Ibn Bajja, Ibn Tufail und Ibn Rushd. Vorbereitet wurde dieser Weg jedoch von Abdullah ibn Masarra (883– 931), einem Naturphilosophen und Mu’taziliten mit einem Hang zur Mystik und zu den esoterischen Wissenschaften, der unter der Herrschaft von Abderrahman III in Cordoba gelebt haben soll. Von seinen Werken ist kaum etwas überliefert worden, aber aus dem, was berichtet wurde, geht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen seinem Denken und der früheren Spekulativen Theologie des Kalams hervor. 233 Ihm folgte etwas später der jüdische Dichter und Philosoph Salomon ibn Gabirol (1021–1070), der lateinisch Avicebron genannt Mohammed ’Abid al-Jabri, Kritik der arabischen Vernunft. Die Einführung, a. a. O., S. 150. 232 Ebd., S. 151. 233 R. Arnaldez, »Ibn Masarra«, Encyclopedia of Islam, III, S. 868b–873a. 231

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5. Fortsetzung der arabisch-islamischen Philosophie im Maghrib

wurde und seine Werke auf Arabisch geschrieben hat. Nach Ernst Bloch fasst Ibn Gabirol »schärfer als Avicenna seine – die Vernunft wie die Körper – verbindende materia universalis als das Substrat des einheitlichen Lebenszusammenhangs der Welt. Vom Stein bis zur höchsten menschlichen Gattungsvernunft, der ›allgemeinen Intelligenz‹, ist alles mit einer einzigen, formüberlegenen Materie versehen: und nur Gottes Wille bleibt vor ihr frei.« 234

Sein Hauptwerk Die Lebensquelle (Siraj al-Hayāt), von dem bereits Mitte des 12. Jahrhunderts eine lateinische Übersetzung (Fons vitae) vorlag, vermittelt ein stark von Ibn Sina geprägtes neuplatonisches Weltbild, das die Welteinheit nicht so sehr naturalistisch in sich trägt, wie es Bloch meint. So schreibt Ibn Gabirol in Fons vitae (Siraj alHayat): »Da in der körperlichen Welt sowohl alle Stoffe wie alle ihre Formen ein gemeinsames Wesen haben, so gibt es eine einheitliche Materie und eine einheitliche Form. Da auch in der seelisch-geistigen Welt sowohl alle Stoffe wie alle Formen ein gemeinsames Wesen haben, so gibt es auch eine einheitliche Materie und eine einheitliche Form.«235

Aber: »[D]ie allgemeine Materie und die allgemeine Form sind die Konstituentien des Weltgeistes.« 236 Offensichtlich drückt sich darin die Rezeption der vom Orient nach al-Andalus gelangten Schriften von al-Farabi, Ibn Sina und anderen Denkern aus, die das Modell der Emanationslehre übernommen, mit aristotelischen Begriffen bereichert und es dann auf die Gesamtheit der Dinge in der Welt angewandt haben. Von seinen Vorgängern im Osten übernimmt Ibn Gabirol ebenfalls das Konzept der Weltseele, von der die Einzelseelen ihren Ursprung nehmen. Die Weltseele ist aus dem universellen Intellekt hervorgegangen. Sie besteht, genauso wie die menschlichen Einzelseelen, aus Vernunftseele, sinnlich wahrnehmender Seele und vegetativer Seele. Unterhalb der vegetativen Seele des Kosmos befindet sich die physische Natur, woraus dann die Welt der physischen Körper entsteht. Dieser pantheistische Zug wirkt später umso deutlicher

Ernst Bloch, Avicenna und die aristotelische Linke, a. a. O., S. 509. Salomon ibn Gabirol, Fons vitae, zitiert nach der deutschen Übersetzung des lateinischen Textes, hrsg. von Clemenz Bäumler, München 1892 (Nachdruck Münster: Aschendorff Verlag, 1995), S. 226. 236 Ebd., S. 258. 234 235

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Ibn Bajja und das Erwachen der Individualität

bei einigen Denkern des christlichen Mittelalters wie David von Dinant und Wilhelm von Auvergne. 237 Außerdem verfasste Ibn Gabirol eine Schrift über Ethik mit dem Titel Das Buch der Verbesserung der Seeleneigenschaften (Kitāb Islāh al-Akhlāq), in dem er ethische Verhaltensweisen auf einer originär naturphilosophischen Grundlage zu begründen versuchte. Dabei ordnete er jeweils zwei Tugenden ebenso wie zwei Laster den Sinnesorganen zu und verband sie mit den vier Elementen – Wasser, Feuer, Luft und Erde – und den vier Eigenschaften – Hitze, Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit –, sodass daraus zwanzig Charaktereigenschaften entstanden. Dennoch tendierte Ibn Gabirol zu einer pessimistischen Haltung, die erst durch Wissen und Tat erhellt werden kann. Guttmann fasst diese Haltung folgendermaßen zusammen: »Das Weltleben oder die Natur ist für den Menschen eine Fessel; durch das Wissen und das Thun soll die Seele des Menschen aus den Banden der Natur befreit und von der Trübung und Verdunkelung ihres ursprünglichen Wesens geläutert, um sich zu einer höheren Welt aufzuschwingen, wo sie ihre wahre Heimat hat.« 238

In dieser Anschauung wird der neuplatonische Einfluss, besonders derjenige von Ibn Sina, auf Ibn Gabirol eindeutig spürbar, sie spiegelt die Grundstimmung seiner Seele wider, die noch emphatischer in seiner Dichtung zum Ausdruck kommt. Seine Hymnen drangen Friedrich Dieterici zufolge »durch alle Schichten der gebildeten Juden, Christen oder Muslime. Harmonie zwischen Religion und Philosophie, so hieß damals die Devise des geistigen Lebens.« 239

5.1. Ibn Bajja und das Erwachen der Individualität Als Abu Bakr Muhammad ibn Yahya al-Saigh, bekannt unter dem Namen Ibn Bajja, lateinisch »Avempace« genannt, am Ende des elften Jahrhunderts (vermutlich 1082) in Saragossa geboren wurde, war die E. Bloch, Avicenna und die aristotelische Linke, a. a. O., S. 509. J. Guttmann, Die Philosophie des Salomon ibn Gabirol, Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 1889, S. 2. 239 F. Dietrici, Über den Zusammenhang der arabischen und griechischen Philosophie, in: Der Musterstaat von Al-Farabi, a. a. O., S. LXIV. Vgl. dazu auch: Mohamed Turki, Convivencia und Toleranz in Al-Andalus, in: Polylog. Zeitschrift für interkulturelle Philosophie, Nr. 32 (2015), S. 3–26. 237 238

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5. Fortsetzung der arabisch-islamischen Philosophie im Maghrib

angestrebte Harmonie zwischen Religion und Philosophie ebenso wie zwischen den Religionen bereits verschwunden. Das Land Andalusien zerfiel zusehends in Kleinstaaten, die sich gegenseitig bekriegten, bis die sehr strenge berberische Reformbewegung der Almoraviden (al-Murābitun) aus Südmarokko die Macht über die iberische Halbinsel übernahm und die fortschreitende christliche Rückeroberung für eine kurze Zeit aufhielt. Ihr folgten danach die Almohaden (al-Muwahhidun), die noch ein Jahrhundert lang für eine gewisse Stabilität in der Region sorgten und der maurischen Kultur eine letzte Blütezeit auf der Halbinsel bescherten. Nachdem seine Heimatstadt der christlichen Reconquista erlegen war, zog Ibn Bajja nach Sevilla und trat als Arzt, Astronom und Minister in den Dienst des almoravidischen Herrschers ’Ali ibn Yusuf ibn Tashfin (reg. 1106–1143); dort hatte er das Amt über zwanzig Jahre inne, bis er einer Hofintrige zum Opfer fiel und 1139 in Fez früh starb. Neben der politischen Tätigkeit beschäftigte sich Ibn Bajja hauptsächlich mit Philosophie, aber auch mit Dichtung und Musik. Er verfasste mehrere Schriften über Logik, Physik und Metaphysik und schrieb als erster Denker im westlichen Raum der arabisch-islamischen Welt Kommentare zu den Werken des Aristoteles. In diesen Schriften hat sich aber Ibn Bajja nach der Aussage von de Boer »kaum von al-Farabi entfernt. Auch seine physischen und metaphysischen Lehren stimmen im Allgemeinen zu den Ansichten des Meisters. Nur die Art und Weise, in der er die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes und die Stellung des Menschen in Wissenschaft und Leben darlegt, darf einiges Interesse beanspruchen.« 240

Hingegen meint Mohammad ’Abid al-Jabri, dass Ibn Bajja doch einen neuen philosophischen Diskurs eingeleitet habe, der sich vom Neuplatonismus befreit und eine rationalistische Richtung im Denken eingeschlagen habe. 241 Seine Einschätzung unterstrich er mit dem Hinweis auf Ibn Tufails Vorwort zu seinem Werk Hay ibn Yaqzan, in dem es heißt: »Unter ihnen [den Zeitgenossen von Ibn Bajja] gab es keinen mit einer durchdringenderen Denkkraft, richtigeren theoretischen Einsichten und einem zuverlässigeren Blick als Ibn Bajja.« 242 Sein philosophisches Hauptwerk Die Leitung des Einsamen (Tadbīr

240 241 242

T. J. De Boer, Geschichte der Philosophie im Islam, a. a. O., S. 157. Mohammed ’Abid al-Jabri, Nahnu wal-turath, Dar at-Tanwīr, Beirut 1985, S. 168. Abu Bakr Ibn Tufail, Der Philosoph als Autodidakt. Hayy ibn Yaqzān, a. a. O., S. 9.

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Ibn Bajja und das Erwachen der Individualität

al-Mutawahhid) 243 galt als Legitimation der Philosophie in einer schweren Zeit, in der die traditionalistischen Rechtsgelehrten (fuqahā) immer mehr Einfluss auf die Staatsgewalten bekamen und zugleich die spekulative Theologie (Kalām) sowie die Philosophie nicht nur ablehnten, sondern mit äußerster Härte verfolgten. In der Tat begann trotz des Einflusses aus dem Mashriq mit Ibn Bajja ein neuer Diskurs in der arabisch-islamischen Philosophie, der dem Individuum besondere Aufmerksamkeit einräumt und dem Menschen im Allgemeinen mehr Wert verleiht, sodass man bei Ibn Bajja schon von einer Anthropologie spricht. Der Titel seines Werkes Die Leitung des Einsamen (Tadbīr al-Mutawahhid) unterstreicht diese Tendenz zur Individualität, die im Fokus der Erkenntnis vorrückt. Der Text besteht aus drei Episteln, die sich mit Erkenntnistheorie, Ethik und Metaphysik befassen. Im ersten Teil geht Ibn Bajja auf den Begriff des Tadbīr näher ein, der genauso Überlegung wie Leitung und Führung impliziert. Er betrachtet ihn unter vier Aspekten, nämlich als: – Leitung der Welt durch Gott; diese wird in ihrer Absolutheit erfasst. – Staatsführung; diese hat nach Ibn Bajja bereits Platon ausführlich behandelt und es sei müßig, darauf noch einmal einzugehen. – Haushaltsführung; diese gilt als Teil der Stadt- und Staatsführung und braucht deshalb nicht vereinzelt berücksichtigt zu werden. – Leitung des Menschen, »sei es allein als einzelner oder mehrerer, dessen und deren Meinung weder von einer Gemeinde noch von einem Stadtstaat wahrgenommen wird« 244. Diese steht im Mittelpunkt der Erkenntnis und könnte wie eine Art Epistemologie verstanden werden, die mit einem ethischen Anspruch versehen ist, nämlich mit der Verwirklichung der Glückseligkeit. In diesem Rahmen verweist Ibn Bajja auf die Stellung des Menschen unter den verschiedenen Seienden der Welt und zeigt, wie dieser durch seine Handlungen, die er frei wählt und eigenwillig durchführt, gekennzeichnet wird: »Alles, was der Mensch freiwillig tut, ist menschliches Handeln, und jedes menschliche Handeln ist freies Handeln, d. h. es entspringt dem freien und überlegten Willen« 245, 243 244 245

Ibn Bajja, Rasā’il Ibn Bajja al-falsafiyya, hrsg. von M. Fakhry, Beirut 1968. Ebd., S. 37 (eigene Übers., M. T.). Ebd., S. 47 (eigene Übers., M. T.).

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schreibt er zu Beginn seiner Schrift. Dabei unterscheidet Ibn Bajja zwischen aktiven bzw. bewussten und reaktiven Handlungen des Menschen; die letzteren teilt er mit den Tieren, wie etwa die Angst oder die Furcht vor einer Gefahr oder auch die Begierde. Hingegen entspringen die aktiven vom Menschen überlegten Handlungen dem aktuellen Intellekt, der mit dem aktiven Intellekt in Verbindung steht. Solche verleihen dem Menschen einen ethischen Charakter, der ihn als tugendhaft oder frevelhaft kennzeichnet. Alles hängt von den Zwecken dieser Handlungen ab, ob sie physische oder geistige Ziele verfolgen. Mit den physischen Zielen behauptet der Mensch seine Existenz in der Welt; aber erst mit den geistigen Zielen wird er tugendhaft und strebt nach Vollkommenheit. Auf dieser Stufe befindet sich der Philosoph, der sich bemüht, bei allen Handlungen tugendhaft zu sein, ohne dabei allerdings seine physischen Lebensziele zu vernachlässigen. 246 Gerade aufgrund seines Wissens und Handelns sondert sich der Philosoph oft von der Gemeinschaft ab und wird zum ›einsamen‹ Siedler innerhalb der Gesellschaft. In der Epistel über Ethik und Politik diskutiert Ibn Bajja in Anlehnung an Platons Politeia und al-Farabis Musterstaat die verschiedenen Staatstypen der beiden Philosophen und versucht, sich von deren Idealtypen abzusetzen. Dabei dekonstruiert er gerade die besondere Rolle des Philosophen bei der Leitung des vorzüglichen Staates und befasst sich vielmehr mit dessen Beitrag in einem unvollkommenen Staatswesen. Im Gegensatz zu al-Farabi, der in jedem vorzüglichen Staat die Existenz gewisser störender Elemente nicht ausschließt, die der Allgemeinheit schaden könnten, und sie ›Unkraut‹ (Nawābit) nennt, betont Ibn Bajja, dass es solche Elemente nicht geben dürfe, wie es Richter oder Ärzte gibt, sonst wäre dieser Staat nicht mehr vollkommen. Stattdessen neigt er dazu, den tugendhaften und einsamen Philosophen in einer fehlbaren Umwelt bzw. in einem korrupten Staat als ›Unkraut‹ oder ›Fremdling‹ zu bezeichnen, weil er aufgrund seiner Haltung oft von der Mehrheit, die meistens nicht tugendhaft handelt, abgelehnt wird. Selbst in seiner Heimat und unter seinen Nachbarn oder Gefährten fühlt sich gerade der Philosoph wie in der Fremde, und seine Ansichten werden kaum wahrgenommen. Hier unternimmt Ibn Bajja eine Art ›Umwertung‹ des Unkrautbegriffs, dessen negative Verwendung er in eine positive umwandelt. Dabei erhält dieser Begriff nach der Ansicht von Montgomery Watt 246

Ebd., S. 77 ff.

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Ibn Bajja und das Erwachen der Individualität

»eine generelle Bedeutung, wenn damit jede dissidierende Minderheit in jeder Art von sozialer Organisation gemeint ist« 247, was nicht unbedingt von ibn Bajja intendiert wurde. Dennoch soll der Philosoph innerhalb des Gemeinwesens eine heilende Funktion einnehmen und durch sein Wirken die Gemeinschaft zum tugendhaften Handeln animieren. Ibn Bajja nennt diese heilende Aufgabe Tibb al-Mu’asharat 248, d. h. »Therapie der Gemeinschaft«. Im dritten Teil seines Buches entwickelt Ibn Bajja seine metaphysische Anschauung, die sich vorwiegend auf die »geistigen Formen« konzentriert, aus denen die Gedanken und Handlungen des Menschen entspringen. Dabei macht er keinen Unterschied zwischen Seele und Geist, da beide im aristotelischen Sinne dasselbe meinen. So scheinen die »geistigen Formen« wie »stille Substanzen zu sein, die der Bewegung alles Seienden zugrunde liegen« 249. Dennoch teilt er diese Formen in vier Kategorien: – Die Formen der himmlischen Körper, die in ihren Bahnen kreisen und von rein materieller Zusammensetzung sind. – Der aktive Intellekt und der intellectus habitus, die ebenfalls frei von jeglicher Materie sind, jedoch in Verbindung mit den materialisierten Dingen stehen. – Die allgemeinen Begriffe und Universalien, die sich auf die Dinge beziehen, aber zugleich von ihnen abstrahiert werden, wie etwa die Begriffe ›Baum‹ oder ›Mensch‹. – Die in der Seele vorhandenen Gedanken, die im allgemeinen Verstand existieren und aus den jeweiligen Kräften des Intellektes, wie Gedächtnis oder Einbildungskraft, hervorgehen. Wesentlich bei dieser Aufteilung ist die Trennung der ersten »geistigen Formen« von den übrigen, die hauptsächlich mit den Gedanken und Handlungen des einzelnen Menschen zu tun haben und nicht wie bei der Emanationslehre von oben zufließen. Sie entspringen im Grunde der sinnlichen Realität und werden mithilfe des aktiven Intellekts transzendiert. Insofern vollzieht sich der Prozess der Erkenntnis von der sinnlichen Wahrnehmung über die »geistigen Formen« bis hin zur abstrakten Anschauung. Diese intellektuelle Stufe bildet die höchste, zu der der Einzelne emporsteigt. Doch dieser er247 W. Montgomery Watt / M. Marmura, Die islamische Philosophie des Mittelalters, a. a. O., S. 375. 248 Ibn Bajja, Tadbīr al-Mutawahhid, a. a. O., S. 43. 249 Ebd., S. 49 (eigene Übers., M. T.).

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kenntnistheoretische Prozess ist nach Ibn Bajja von einem zweiten Strang der politisch-praktischen Handlungen begleitet, die der Mensch im Staatswesen zu gewährleisten hat und deren Zweck in der Erfüllung der Glückseligkeit besteht. Hier wird deutlich, dass die Verwirklichung der Glückseligkeit sowohl durch die Vereinigung des menschlichen Geistes mit dem aktiven Intellekt im Sinne eines intellektuellen Vorganges als auch durch ethisch-praktisches Handeln erzielt werden kann. Sie bedarf insofern keiner mystischen Erfahrung, wie etwa bei der Sufimystik gemeint ist. Damit reagiert Ibn Bajja vor allem auf al-Ghazali, der behauptet, ein solcher Zustand der geistigen Vereinigung könne nur über die mystische Erfahrung erreicht werden. Nach Mohammed ’Abid al-Jabri weist dieser doppelte Strang auf eine zweifache Zielsetzung hin: »[A]uf der einen Seite bezweckt die Leitung des Intellekts eines jeden einzelnen Menschen die Orientierung zum Streben nach Vollkommenheit, d. h. den Aufstieg bis zur höchsten Stufe des intellektuellen Lebens bzw. zur Stufe des Philosophen, der alles mit dem Blick des Vestandes erfasst; und dies ist der Zustand der ›Glückseligkeit‹ des ›einsamen‹ Philosophen. Auf der anderen Seite zielt die Leitung im Endeffekt auf die Errichtung eines vollkommenen Stadtstaats, da die Leitung nicht außerhalb, sondern innerhalb des Staates vonstatten geht, und der Einzelne als politisches Wesen möchte nicht nur die Vervollkommnung seiner intellektuellen sondern auch die seiner zivilen und sozialen Fähigkeiten erzielen.« 250

Al-Jabri fasst diese doppelte Orientierung der Leitung in einem Diagramm zusammen, das folgendermaßen aussieht: 251 Intellekt (einzelner) Leitung

Intellekt (allgemeiner) Einheit

Stadtstaat (unvollkommener)

Glückseligkeit Stadtstaat (vollkommener)

Abb. 2: Die doppelte Orientierung der Leitung Aus diesem Diagramm wird sichtbar, wie die Tendenz zur Einheit des allgemeinen Intellektes ausgehend von der Leitung der einzelnen In250 251

Mohammed ’Abid al-Jabri, Nahnu wal-turath, a. a. O., S. 189. Ebd.

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Erkenntnis und Wahrheit bei Ibn Tufail

dividuen zur Glückseligkeit voranschreitet und von da aus auf der Ebene des Staates abläuft, der sich von der Stufe der Unzulänglichkeit hin zur Vollkommenheit entwickelt. Diese Tendenz kann also nicht losgelöst vom Beitrag der jeweiligen Mitglieder der Gesellschaft realisiert werden, die kraft ihres Intellekts, aber auch ihres moralischen Verhaltens an der Verwirklichung des vollkommenen Staates teilnehmen und infolgedessen an der Vervollkommnung ihrer selbst mitwirken. Das lässt trotz der pessimistischen Einstellung von Ibn Bajja einen Hauch von Optimismus erahnen, indem eine Verbesserung des Staatswesens über das Handeln und die Moralität der einzelnen Mitglieder erwartet werden kann. 252 Mit diesem philosophischen Ansatz konnte Ibn Bajja einen beachtlichen Einfluss auf seine Nachfolger ausüben. Seine Wirkung zeigt sich vor allem in der Überwindung der Emanationslehre als Basis metaphysischer Erkenntnis und in Bezug auf die aristotelischen Kategorien, die eine Verbindung des menschlichen Intellekts nur mit dem aktiven Intellekt vorsehen. Außerdem ebnet er den Weg für eine Öffnung des Intellektes zur Erlangung der Glückseligkeit durch Wissen und nicht durch irgendeine mystische Erfahrung. Auf dieser höchsten Ebene verwirklicht sich bei Ibn Bajja nach den Worten von al-Jabri »die Einheit des Wissens, und durch sie die Einheit der Wissenden, und folglich realisiert sich der vollkommene Staat, der Staat des Wissens und derjenige der Philosophen« 253. Diesen rationalen Aspekt bringen die Philosophen Ibn Tufail und Ibn Rushd mit deutlicher Klarheit zum Ausdruck, wenngleich etwas differenzierter in der Vorgehensweise.

5.2. Erkenntnis und Wahrheit bei Ibn Tufail Zuerst war es Abu Bakr Ibn Tufail (1105–1185) – im lateinischen Mittelalter als Abubacer bekannt –, der den Weg der menschlichen Erkenntnis ausgehend von der sinnlichen Wahrnehmung der »Außenwelt« über den sich schrittweise vollziehenden rationalen Aufstieg des Intellektes bis hin zur inneren Schau der göttlichen Wahr252 W. Montgomery Watt / M. Marmura, Die islamische Philosophie des Mittelalters, a. a. O., S. 376. 253 Mohammed ’Abid al-Jabri, Nahnu wal-turath, a. a. O., S. 204 (eigene Übers., M. T.).

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heit nachzeichnete. Dieser Arzt, Astronom und Philosoph wurde im Jahre 1105 in Wadi Ash nahe der Stadt Granada geboren und stand lange Zeit im Dienst des Kalifen der Almohadendynastie, Abu Ya’qub Yusuf (1163–1184), und dessen Sohnes, Abu Yusuf Ya’qub al-Mansur. Er war ebenso in den Naturwissenschaften wie in der Philosophie sehr bewandert und hatte eine enge Freundschaft zu Ibn Ruschd gepflegt, den er dem damaligen Kalifen Abu Ya’qub Yusuf als ausgezeichneten Kenner und Kommentator der aristotelischen Werke vorstellte. Später folgte ihm Ibn Ruschd am Hof in seiner Funktion als Leibarzt, nachdem Ibn Tufail aus Altersgründen zurückgetreten war. Er starb 1185 im Alter von achtzig Jahren in Marrakesch, wo er im Beisein des Kalifen begraben wurde. Der Überlieferung zufolge hat Ibn Tufail mehrere naturwissenschaftliche und philosophische Schriften verfasst, darunter ein Buch über Medizin und mehrere Episteln über Astronomie. Er soll ferner, nach der Aussage seines Schülers al-Bitruji, am ptolemäischen System gezweifelt und ein eigenes Modell entworfen haben. 254 Aber von all seinen Schriften blieben nur einige Fragmente aus seinen medizinischen Gedichten sowie sein philosophischer und literarischer Inselroman Hayy ibn Yaqzan 255 (»Der Lebende Sohn des Wachenden«) erhalten, der ihn später berühmt machte, weil er zur Grundlage vieler Robinsonaden wurde, die in der modernen Zeit erschienen sind. 256 Dieser Text entstand vermutlich zwischen 1177 und 1182, d. h. als der Autor ins hohe Alter kam. Darin sollte nach Blochs Aussage »Avicennas Fiktion ihre Probe aufs Exempel finden« 257. In der Tat werden in diesem Buch u. a. der Stand der Wissenschaften und die verschiedenen Positionen hinsichtlich der Auslegung der religiösen Abdul Rahman Badawi, Mawsu’at al-Falsafa [Enzyklopädie der Philosophie], AlMu’assasa al-’arabiyya li-Addirasat wal-Nashr, Beirut 1984, Bd. 1, S. 67. 255 Nach der ersten Übersetzung des Romans im 18. Jahrhundert von Johann Gottfried Eichhorn unter dem Titel Der Naturmensch sind im letzten Jahrzehnt zwei Versionen in deutscher Sprache erschienen. Zuerst: Abu Bakr Ibn Tufail, Der Philosoph als Autodidakt, Hayy ibn Yaqzān, Ein philosophischer Inselroman, übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Patric O. Schaerer, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2004; dann: Jameleddine ben Abdeljelil, Victoria Frysak (Hrsg.), Ibn Tufail, Hayy Ibn Yaqdhan, ein muslimischer Inselroman, Wien: Edition Viktoria, 2007. 256 Zur Rezeption und Wirkungsgeschichte des Romans siehe: P. O. Schaerer, Einleitung zu Abu Bakr Ibn Tufail, Der Philosoph als Autodidakt: Hayy ibn Yaqzān, a. a. O., S. LXX ff. 257 Ernst Bloch, Avicenna und die aristotelische Linke, a. a. O., S. 489. 254

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Inhalte des Korans dargelegt. Außerdem enthält das Werk die philosophische Lehre Ibn Tufails als allegorische Erzählung, die der Autorität des Intellektes Priorität verleiht, zugleich aber der mystischen Erfahrung breiteren Spielraum lässt. Gerade aufgrund dieser vielschichtigen Darstellung darf es »zu Recht als eine Art ›philosophischer Bildungsroman‹ bezeichnet werden«. 258 Der Roman ist in neun Kapitel aufgeteilt, die bis auf die beiden ersten und das Schlusskapitel die verschiedenen Lebensabschnitte des Protagonisten Hayy Ibn Yaqzan und seinen Entwicklungsprozess auf dem Weg der Erkenntnis beschreiben. Im Vorwort gibt Ibn Tufail in der tradierten Form einer Antwort auf die Frage eines Freundes die Motive kund, die ihn bewegt haben, diese Schrift zu verfassen. Demnach soll es um die Enthüllung der von Ibn Sina erwähnten Geheimnisse der Orientalischen Weisheit gehen, die nach seiner eigenen Aussage »die Wahrheit ohne Umschweife« 259 enthält und den Pfad zur Glückseligkeit, wie ihn manche Mystiker beschritten haben, beschreibt. Das erklärt auch die Übernahme des Titels einer seiner Episteln für den Titel des Romans. Dabei liefert Ibn Tufail einen Überblick über die Geschichte der Philosophie seiner Zeit und übt zugleich Kritik an seinen Vorgängern, besonders an al-Farabi und Ibn Bajja, wegen ihrer stark rational-deduktiven Methode, ohne jedoch die Bedeutung des letzteren zu schmälern, da der Unterschied zwischen dem Zustand der Glückseligkeit, den Ibn Bajja intendierte, und demjenigen, den Ibn Tufail erreichen will, nicht allzu groß sei, denn »Ibn Bajja gelangte bis zu der von ihm genannten Ebene mittels theoretischer Wissenschaft und rationaler Untersuchung« 260, während Ibn Tufail eher den Zustand des Geschmacks, wie ihn Ibn Sina angedeutet hatte, bevorzugte. Im zweiten Kapitel beginnt der Hauptteil des Romans mit der Darstellung der Ankunft Hayy Ibn Yaqzans auf einer einsamen Insel im indischen Ozean nahe dem Äquator. Dabei bietet Ibn Tufail zwei verschiedene Versionen über seine Herkunft: die eine im Sinne der Tradition, bei der es sich um das Kind einer Prinzessin von einer benachbarten Insel handelt. Es wurde nach der Geburt in eine Kiste gelegt und aus Angst, dass der Herrscher von der heimlichen Beziehung seiner Schwester erfahren und das Kind töten würde, im Meer 258 P. O. Schaerer, Einleitung zu Abu Bakr Ibn Tufail, Der Philosoph als Autodidakt: Hayy ibn Yaqzān, a. a. O., S. LXXI. 259 Abu-Bakr Ibn Tufail, Der Philosoph als Autodidakt: Hayy Ibn Yaqzān, a. a. O., S. 3. 260 Ebd., S. 4.

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ausgesetzt. So gelangte die Kiste, die von den Meeresströmen getrieben wurde, ans Ufer der genannten Insel. Die andere Version besagt, dass das Kind ganz elternlos aufgrund günstiger klimatischer und natürlicher Bedingungen auf dieser Insel entstanden sei. Es sei das Ergebnis spontaner Genese einer »Lehmmasse, (die) im Laufe der Jahre vor sich hin gegärt, bis sich schließlich Wärme mit Kälte und Feuchtigkeit mit Trockenheit so vermischt hatten, dass dabei die einzelnen Kräfte gleichmäßig und ausgewogen verteilt waren. Diese gärende Menge Lehm war sehr groß und so beschaffen, dass ein bestimmter Teil davon noch ausgewogener durchmischt war als der Rest und besser geeignet für die Entstehung von Keimzellen.« 261

Aus dem letzten Zitat geht deutlich hervor, dass der Autor über genauere Kenntnisse hinsichtlich des Standes der naturwissenschaftlichen Entwicklung der damaligen Zeit verfügte und sogar die Vorboten einer »Evolutionstheorie« formulierte, wenngleich er sie mit Koranversen im Hinblick auf die Belebung dieser Lehmmasse durch den »Geist, der von Gott kommt und der immerwährend über alles Seiende herabströmt« 262, belegte. Vom dritten bis zum achten Kapitel schildert Ibn Tufail schrittweise den Entwicklungsprozess von Hayy Ibn Yaqzan. Die erste Phase, die sieben Jahre dauert, zeigt, wie der Säugling auf der Insel von einer Gazelle gefunden und aufgezogen wird. Bald lernt er die Laute der erziehenden Mutter nachzuahmen und macht Unterschiede zwischen sich selbst und den anderen Lebewesen aus, von denen einige der gleichen Art anzugehören scheinen. So gewinnt er Vertrauen bei manchen Tieren und nimmt Abstand von den anderen, die ihn anwidern. Außerdem erkennt er im Vergleich zu den anderen Tieren, dass er sowohl nackt und wehrlos als auch ein schlechter Läufer und ein schwacher Kämpfer sei, was ihm Kummer und Sorge bereitet. 263 So endet diese Phase mit dem Erwachen eines Selbstbewusstseins, das ihn zum Nachdenken anregt. Der zweite Lebensabschnitt umfasst die nächsten vierzehn Jahre und wird vorwiegend von technischen und handwerklichen Fertigkeiten geprägt. Der junge Knabe glaubt zunächst, benachteiligt zu sein, findet aber bald heraus, dass er kraft seines Verstandes den anderen Lebewesen überlegen ist. Er weiß sich nun praktisch zu helfen, indem 261 262 263

Ebd., S. 21. Ebd., S. 22 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 27.

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er Werkzeuge und Kleidung für sich herstellt. So fertigt er Kleider aus Fellen zum Schutz vor dem Winter und einen Stock zur Verteidigung gegen Tiere, die ihn bedrängen, und lernt folglich seine eigene Kraft wertzuschätzen. Außerdem lernt er mit dem Feuer umzugehen und es zum Braten von Fisch und Fleisch zu nutzen. Als nun die Gazelle, seine Ziehmutter, stirbt, versucht Hayy verzweifelt, die Ursache ihres Todes zu ergründen, indem er all ihre sichtbaren Körperteile und dann ihre inneren Organe untersucht. Durch Sezieren von anderen Tieren und ihrer Untersuchung kommt er dann zu dem Schluss, dass der Grund des Lebens nicht materiell, sondern der Geist sei, der dem Körper entweicht. 264 Vom dritten Lebensabschnitt an beginnt er »anderweitige Betrachtungen anzustellen, und studierte sämtliche Körper aus der Welt des Entstehens und Vergehens« 265. Er erkennt darin einige Merkmale wie Arten und Gattungen, Einheit und Vielheit, Gleiches und Verschiedenes, Lebendes und Totes, Akzidenz und Substanz, die materialisierte Welt und die himmlischen Sphären. Im Laufe seiner Beobachtungen und Überlegung kommt er zu der Einsicht, dass es außerhalb der sinnlich erkennbaren Dinge sicherlich die Existenz einer notwendigen und schöpferischen Kraft gibt, die über der Ordnung der Welt steht und diese steuert. Aber »nachdem er eine vage und unbestimmte Ahnung von diesem Urheber bekommen hatte, erwachte in ihm das heftige Verlangen, ihn genauer zu erkennen« 266. Doch seine Erkenntnisse waren bis zu seinem achtundzwanzigsten Lebensjahr mehr auf die Kausalitätsbeziehung der ihm umliegenden Körper beschränkt, die dem Prinzip des Entstehens und Vergehens unterworfen sind. Deshalb blieben ihm andere Erfahrungsmöglichkeiten weiterhin verborgen. Mit der vierten Phase, die bis zum fünfunddreißigsten Lebensjahr andauert, tritt Hayy ibn Yaqzan in eine reflexiv philosophische und mystisch religiöse Periode ein, die ihn zur direkten Annäherung an die Transzendenz führt. Dabei richtet er seinen Blick auf den Himmel und fängt an, die Bewegung der Planeten und Himmelskörper genauer zu betrachten, mit dem Ziel deren Urheber näher zu erfahren. Er überlegt, ob sie endlos ausgedehnt seien oder nicht, und wie groß ihre Ausdehnung sein könnte. Außerdem will er wissen, wie die 264 265 266

Ebd., S. 39. Ebd., S. 43. Ebd., S. 56

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Beschaffenheit der Himmelskörper und deren Umlaufbahn zu erfassen sei. Er erkennt die kreisförmige Bewegung der Gestirne sowie deren Endlichkeit und versteht, »dass die gesamte Himmelssphäre mit allem, was sie enthielt, wie ein einziges Ding war, dessen Bestandteile untereinander verbunden waren, und sämtliche Körper, die er betrachtet hatte – also Erde, Wasser, Luft, Pflanzen, Tiere und dergleichen –, in ihr enthalten waren und sich nicht außerhalb von ihr befanden« 267. Die Frage, ob das Universum erschaffen oder ewig sei, kann Hayy jedoch nicht mit Bestimmtheit beantworten, da für beide Alternativen triftige Argumente sprechen. Dennoch erfordern beide notwendigerweise einen Urheber, der das Ganze verursacht und über Wissen und Macht darüber verfügt. »Seine rationale Apodiktik hat damit ihren Höhepunkt erreicht und gipfelt in der Erkenntnis des einen, allmächtigen Gottes.« 268 Als er beim fünften Lebensabschnitt angelangt ist, richtet Hayy sein Interesse auf die Beschäftigung mit dem Urheber und auf die Erforschung seiner Eigenschaften. Er will nun in die Tiefe seines Wesens vordringen und ihm näher kommen. Dabei stellt er zunächst fest, dass er ihn nicht mit den Sinnen erkennen kann, sondern ihn vielmehr mit dem »eigentlichen Wesen erfasst, und die Erkenntnis von Ihm sich in seinem Inneren verankert hatte« 269. Hier merkt er, dass dieses Wesen erhaben und vollkommen ist, und dass er sich ihm nur durch Angleichung nähern kann. So widmet er sich ganz der Meditation, der asketischen Selbstdisziplin und der geistigen Übung, in der Hoffnung, dass ihm die direkte Schau des höchsten Seienden gelingt. Nach langer Anstrengung und großer Mühe wird ihm schließlich die Schau des wahrhaftigen Seienden bzw. Gottes zuteil. »Er versenkte sich in jenen Zustand und schaute, was noch kein Auge gesehen, kein Ohr gehört und keines Menschen Herz je vernommen hat.« 270 In jenem Augenblick erreicht er die höchste Stufe der Glückseligkeit. Allerdings verfällt er zuerst dem Irrtum, seine eigene Wesenheit mit derjenigen des wahrhaft Seienden gleichzusetzen, aber durch weitere Beobachtungen der immateriellen Himmelsphären und der Reflexion über die Eigenschaft des Urhebers korrigiert er Ebd., S. 60. Patric Schaerer, Einleitung zu Der Philosoph als Autodidakt: Hayy Ibn Yaqzan, a. a. O., S. XVI. 269 Abu Bakr Ibn Tufail, Der Philosoph als Autodidakt: Hayy ibn Yaqzan, a. a. O., S. 68. 270 Ebd., S. 87. 267 268

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seinen Fehlschluss und erkennt den Unterschied zwischen der eigenen und der göttlichen Wesenheit. Das führt ihn zur Entwicklung einer asketisch-philosophischen Ethik, die er in der Schau des wahrhaft Seienden intensiv einsetzt, um bei diesem Zustand länger zu verweilen. Beim Erreichen seines fünfzigsten Lebensjahres begegnet Hayy ibn Yaqzan eines Tags Absal, einem aus einer Nachbarinsel neu Angesiedelten, der wie die übrigen Mitglieder seiner Gemeinschaft einer offenbarten Religion beigetreten war, jedoch sich nicht an den äußeren Sinn des Glaubens gehalten hatte, sondern vielmehr nach dessen tiefer liegenden Bedeutung suchte, und der allegorischen Auslegung zugeneigt war. Da er auf seiner Heimatinsel niemanden fand, der mit ihm diese Neigung teilte, entschloss er sich, auf eine andere, verlassene Insel zu ziehen, um dort in aller Abgeschiedenheit ein asketisches Leben zu führen und seinen Glauben mittels Meditation weiter zu festigen. So landete er auf dieser Insel, wohl meinend, sie sei unbewohnt. Doch nach einer gewissen Zeit lernt er Hayy kennen und schließt mit ihm nach dem Erlernen der Sprache eine enge Freundschaft. Diese Begegnung gibt beiden die Gelegenheit, einen fruchtbaren philosophischen und religiösen Gedankenaustausch zu führen, bei dem sie feststellen können, dass die religiöse Überlieferung und die Erkenntnisse des Intellekts grundsätzlich übereinstimmen, wenngleich sie auf unterschiedlichen Wegen verfolgt werden. 271 Angeregt vom Wunsch, die Bewohner von Absals Insel kennenzulernen und ihnen seine eigene Erfahrung mitzuteilen, überredet Hayy seinen ›Mitbewohner‹ Absal, ihn auf seine Insel zu begleiten. Dort angekommen, werden sie von den Einwohnern gut aufgenommen, insbesondere von Salaman, dem früheren Freund von Absal, der am äußeren Sinn des religiösen Gesetzes festhielt und inzwischen über die Insel herrscht. Als Hayy versucht, die Inselbewohner von der inneren Bedeutung ihres Glaubens zu überzeugen, können sie ihn nicht mehr verstehen und wenden sich von ihm ab. »Da gab er den Glauben auf, dass er sie bekehren könnte, und verlor die Hoffnung, dass sie von ihm etwas annehmen würden.« 272 Enttäuscht über sein Scheitern verabschiedet er sich von ihnen und kehrt mit Absal auf ihre Insel zurück, wo beide bis zu ihrem Lebensende Gott nach ihrer Auffassung verehren. 271 272

Ebd., S. 106. Ebd., S. 110.

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Mit seinem Roman Hayy ibn Yaqzan liefert Ibn Tufail eine Geschichte, die auf unterschiedliche Art und Weise interpretiert werden kann. Nach der Aussage von Montgomery Watt und Marmura weist Ibn Tufails Geschichte unverkennbar Parallelen zu al-Farabi auf: »Die Religion von Absals Insel spiegelt die philosophische Wahrheit in symbolischen Begriffen wider, die die gewöhnlichen Menschen verstehen können. Dies ist eine fundamentale Lehre von al-Farabis religiöser und politischer Philosophie.« 273

Aber der Roman lässt sich auch wie eine Fortsetzung des Werkes von Ibn Bajja über den einsamen Philosophen auslegen, der die verschiedenen Stufen der Erkenntnis emporsteigt, um zuletzt mit seinem Wissen allein zu bleiben wie Hayy auf der unbewohnten Insel. Er kann außerdem im Sinne einer Selbsterziehung des Menschen gedeutet werden, in deren Folge der Mensch mittels seiner Vernunft in der Lage sein wird, »die Geheimnisse der physischen Welt zu enträtseln und dabei auch den humanistischen Kern der Religion, etwa als Sittengesetz, aus der eigenen Vernunft abzuleiten.« 274 So hat ihn z. B. Edward Pococke verstanden, was er im Titel seiner lateinischen Übersetzung von Hayy als Philosophus autodidactus zum Ausdruck gebracht hat. Ferner könnte er wie eine Art Phänomenologie des Geistes avant la lettre gelesen werden, bei der der Mensch ganz ›aus sich selbst‹ einen Erkenntnisprozess durchläuft, in dem er wahrnehmend, forschend und nachdenkend die verschiedenen Stufen des Wissens emporsteigt und sich die religiösen und spirituellen Weisheiten aneignet. Es ist, wie Hegel sagt: »der Weg der Seele, welche die Reihe ihrer Gestaltungen, als durch die Natur ihr vorgestreckter Stationen, durchwandert, dass sie sich zum Geiste läutere, indem sie durch die vollständige Erfahrung ihrer selbst zur Kenntnis desjenigen gelange, was sie an sich selbst ist.« 275

Diesen »Siebenmeilenstiefel des Begriffs« 276, wie ihn Bloch nennt, hat in der Tat Hayy ibn Yaqzan mittels seiner Vernunft angezogen, um W. Montgomery. Watt / M. Marmura, Die islamische Philosophie des Mittelalters, a. a. O., S. 379. 274 Geert Hendrich, Arabisch-islamische Philosophie, Geschichte und Gegenwart, a. a. O., S. 106 ff. 275 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke in zwanzig Bänden, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1970, Bd. III, S. 62. 276 Ernst Bloch, Subjekt-Objekt, Erläuterungen zu Hegel, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1971, S. 59. 273

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Ibn Ruschd (Averroes) und der Averroismus

die Welt zu erfahren, und ist damit zum höchsten Stand der Erkenntnis aufgestiegen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass der Roman im Zeitalter der Aufklärung ein positives Echo fand und Denker wie Defoe, Rousseau und Lessing stark beeinflusste. Für die Aufklärer gilt nach der Ansicht von Geert Hendrich, dass Ibn Tufail »seinen Hayy den Weg der Vernunft gehen lässt, um zu den Geheimnissen der Religion vorzudringen. Dies wird gedeutet als das Bekenntnis zur Überlegenheit der philosophischen Vernunft gegenüber den heiligen Texten und religiösen Belehrungen. So zeigt sich nicht nur, wozu das vernünftige Subjekt aus sich selbst heraus fähig ist, sondern prinzipiell der Triumph der Philosophie gegenüber Religion und Dogmatismus.« 277

Diesen Weg wird später Ibn Ruschd mit mehr Stringenz weiterverfolgen, indem er der Philosophie eine Priorität verleiht und »die Autonomie der falsafa und des philosophischen Denkens in den Vordergrund zu stellen und zu bewahren« 278 versucht.

5.3. Ibn Ruschd (Averroes) und der Averroismus Abul Walid Muhammad ibn Ahmad ibn Ruschd – Averroes genannt – stammte aus einer sehr bekannten Richterfamilie aus Cordoba in Andalusien. Dort wurde er 1126 geboren und erlangte seine ersten Fachkenntnisse in den religiösen Wissenschaften, speziell in Recht und Kalām, sowie in Medizin und Philosophie. Über seinen Werdegang ist wenig überliefert, außer dass er 1169 dem damaligen Almohadenherrscher Abu Ya’qub Yusuf vorgestellt wurde, der gerade einen fähigen Kommentator für die Werke des Aristoteles suchte. Ibn Tufail, der damals Hofarzt war, empfahl ihn zur Übernahme dieser Aufgabe. Über die Begegnung von Ibn Ruschd mit dem Kalifen berichtet der Historiker Abdul Wahid al-Marrakischi (1185–1250) in seinem Werk Die Maghrebinische Chronik (Al-Mu’jib fi talkhis Akhbar al-Maghreb). Darin heißt es: »[N]ach den einleitenden Höflichkeitsphrasen fragte ihn der Emir: Was ist die Ansicht der Philosophen über den Himmel, ist er ewig oder entstanden? Vorsichtig und von der Scheu und Angst überwältigt, antwortete Ibn 277 Geert Hendrich, Arabisch-islamische Philosophie, Geschichte und Gegenwart, a. a. O., S. 107. 278 Jameleddine Ben-Abdeljelil, Ibn Ruschds Philosophie interkulturell gelesen, Interkulturelle Bibliothek, Verlag Traugott Bautz, Nordhausen 2005, S. 9.

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Ruschd, er beschäftige sich nicht mit Philosophie. Daraufhin fing der Emir mit Ibn Tufail über den Gegenstand an zu reden und zeigte zum Erstaunen des Zuhörers seine Kenntnis über Aristoteles, Platon und die Philosophen und Theologen des Islam. Dann rückte auch Ibn Ruschd mit der Sprache heraus und erwarb sich die Gunst des Herrschers.« 279

Da Ibn Ruschds Pflichten zunächst im Bereich des Rechts lagen, wurde er offiziell zum Amt des Richters in Sevilla berufen, dann 1171 zum Oberrichter von Cordoba ernannt und schließlich 1182 nach Marrakesch gerufen, wo er die Funktion des Hofarztes übernahm, nachdem Ibn Tufail aus Altersgründen von diesem Amt zurückgetreten war. Aber kurze Zeit danach wurde er wieder zum Oberrichter in seiner Heimatstadt Cordoba ernannt. In der darauf folgenden Zeit erlebte Ibn Ruschd unter der Herrschaft des Kalifen Abu Yusuf Ya’qub al-Mansur eine fruchtbare und produktive Phase seines Schaffens, bis er drei Jahre vor seinem Tode in Ungnade fiel und nach Lucena, einem jüdischen Dorf in der Nähe von Cordoba, verbannt wurde. Seine Bücher wurden daraufhin konfisziert und verbrannt. Im Edikt des Kalifen Abu Yusuf Ya’qub al-Mansur von 1195 hieß es, »Gott habe das höllische Feuer für die bestimmt, welche lehren, die Wahrheit könne durch die Vernunft allein gefunden werden« 280. Zwar hat Ibn Ruschd keineswegs diesen Standpunkt so radikal, wie behauptet wurde, vertreten, aber ihm wurde der Vorwurf der Häresie bzw. der Abweichung von der dogmatischen Lehre gemacht, und deshalb musste er trotz seines hohen Alters in die Verbannung gehen. Die Gründe für diesen Fall werden allerdings von den Historikern unterschiedlich dargestellt. Es wird u. a. vermutet, dass der Herrscher unter dem öffentlichen Druck der religiösen Gelehrten gehandelt habe, die Einfluss auf die Bevölkerung hatten und deren Unterstützung er sich für seinen Feldzug gegen Alfons VIII sichern wollte. 281 Andere führen diese Kehrtwende eher auf persönliche Motive zurück, die mit dem Verhalten des Philosophen bei seinem UmAbdul Rahman Badaoui, Mawsu’at al-Falsafa [Enzyklopädie der Philosophie], a. a. O., S. 20, siehe auch dazu: Ernest Renan, Averroès et l’Averroïsme, a. a. O., S. 17; Ernst Behler, Die philosophische Kontroverse um die Ewigkeit der Welt im 13. Jahrhundert, München 1965, S. 182 und T. J. De Boer, Geschichte der Philosophie im Islam, a. a. O., S. 166. 280 F. Überwegs, Die syrische und arabische Philosophie im Mittelalter, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie, Bd. 2, Berlin 1927, S. 380. 281 W. Montgomery Watt / M. Marmura, Die islamische Philosophie des Mittelalters, a. a. O., S. 380. 279

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Ibn Ruschd (Averroes) und der Averroismus

gang mit dem Herrscher zusammenhingen. Immerhin wurde Ibn Ruschd nach der Rückkehr des Kalifen al-Mansur aus dem Krieg rehabilitiert und wieder in seine Ämter eingesetzt. Er starb jedoch kurz darauf im Jahre 1198 in Marrakesch, möglicherweise infolge dieser unerwarteten Demütigung. Zweifellos verdankt Ibn Ruschd seinen Ruhm in der europäischen, und zwar vor allem bei der orientalistisch ausgerichteten, Rezeption vorwiegend seinen Kommentaren zu den Werken des Aristoteles, die einen beachtlichen Teil seines Schaffens darstellen, jedoch nicht die Gesamtheit seines Opus ausmachen. 282 Neben den 38 Kommentaren zu den Büchern des Stagiriten, die von unterschiedlichem Umfang und manchmal in dreifacher Ausarbeitung verfasst wurden, hat Ibn Ruschd andere »Kommentare zu Platons Politeia, zu Porphyrios Isagoge, zu einem Traktat über den Intellekt von Alexander von Aphrodisias sowie einen kurzen Kommentar zu Ptolemäus’ Almagest« 283 geschrieben. Alle diese Schriften zeigen ein scharfes analytisches Denken bei der Erläuterung und Interpretation der antiken Philosophie und vermitteln zugleich die eigenen Einsichten von Ibn Ruschd, der sich nicht allein mit der Lektüre und dem Kommentar begnügte. Kritisch und systematisch nahm er seine Aufgabe wahr, indem er die Werke der antiken Philosophen und besonders die von Aristoteles zuerst paraphrasierte, dann mehrmals interpretierte und anschließend seine eigenen Gedanken mit einfließen ließ. Er ist nach den Worten von M. Watt und M. Marmura »der aristotelischste der islamischen Philosophen. Er strebte nicht nur die korrekte Interpretation von Aristoteles an, sondern er versuchte auch, am aristotelischen Ideal von der Erkenntnis, die durch eine beweisende Methode erlangt wird, festzuhalten. Dieser Versuch manifestiert sich in der Sorgfalt, Breite und Sachlichkeit seiner Analysen und Kritiken.« 284

Hinzu kommen aber eine ganze Reihe eigenständiger Werke in mehreren Bereichen der Wissenschaften, darunter Schriften zur Philosophie, Jurisprudenz, Astronomie und über Medizin. Der zeitgenössische marokkanische Philosoph Jamal Eddine al-’Alaoui nennt bereits

Anke von Kügelgen, Averroes und die arabische Moderne. Ansätze zu einer Neubegründung des Rationalismus im Islam, Leiden: E. J. Brill Verlag 1994, S. 20. 283 W. Montgomery Watt / M. Marmura, Die islamische Philosophie des Mittelalters, a. a. O., S. 380. 284 Ebd., S. 392. 282

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mehr als hundert Werke, die zum averroischen Corpus zählen, und spricht sogar von 58 auf arabisch überlieferten Texten, die sicherlich für die moderne Forschung von Ibn Ruschd von großer Bedeutung sein können und wahrscheinlich eine neue Orientierung bei der Lektüre seiner Werke geben werden. 285 Zu diesen Büchern gehört vor allem Die Widerlegung der Widerlegung 286 (auch: Die Inkohärenz der Philosophen; arabisch: Tahāfut at-Tahāfut), die unter dem Titel Destructio destructionis philosophorum ins Lateinische übersetzt wurde und als Antwort auf Ghazalis Angriff auf die arabisch-islamischen Peripatetiker in dessen Schrift Die Widerlegung der Philosophen galt. Dazu verfasste Ibn Ruschd drei Schriften, die erstmals 1859 von Markus J. Müller in Arabisch veröffentlicht und 1875 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Philosophie und Theologie von Averroes publiziert wurden. 287 Es sind Die entscheidende Abhandlung (Fasl al-maqal) und Al-kašf ’an manhiğ al-adilla fi ’aqa’id al-milla (Die Erklärung der Beweismethoden hinsichtlich der Glaubensvorstellungen der Religion) sowie Al-Dhamima (Appendix/Zusatz), die als Anhang zur Schrift Fasl al-maqal gilt und in der Ibn Ruschd speziell eine Frage aus seiner ersten Abhandlung behandelt. Diese Werke befassen sich vornehmlich mit dem Verhältnis von Glauben und Wissen und liefern einige Deutungen, die im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Rationalismusdebatte in der arabisch-islamischen Welt höchst aktuell geworden sind. Sie weisen ferner auf »eine deutliche unmittelbare Stellungnahme des Ibn Ruschd gegenüber den Hauptproblemen seiner Zeit [hin]. […] Denn die Beschäftigung mit den gesellschaftlichen Fragen und die Aufgabe, eine politische Gesellschaftskritik in sein philosophisches System einzugliedern, waren für Ibn Ruschd Teil seiner gesellschaftlichen Verantwortung und Tätigkeit als Intellektueller, Theologe, Richter, Arzt und nicht zuletzt als Philosoph.« 288

Jamal Eddine al-Alaoui, Al-matn ar-ruschdi [Der averroische Corpus], Casablanca 1986, S. 47 ff.; al-Alawi stellt die mit 108 Titeln bisher umfassendste Liste von Ibn Ruschds Schriften zusammen. 286 Ibn Ruschd, Die Widerlegung der Widerlegung, dt. Die Hauptlehren des Averroes nach seiner Schrift: Die Widerlegung des Gazali, übers. von M. Horten, Bonn 1913, Nachdruck Frankfurt a. M. 1999. 287 Ibn Ruschd, Philosophie und Theologie von Averroes, hrsg. und dt. übers. von Markus J. Müller, München 1875, nachgedruckt mit einem Nachwort v. M. Vollmer, Weinheim: VCH Verlagsgesellschaft 1991. 288 Ben-Abdeljelil, Ibn Ruschds Philosophie interkulturell gelesen, a. a. O., S. 19. 285

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Ibn Ruschd (Averroes) und der Averroismus

Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, dass diese Schriften auch eine Rolle bei der Entscheidung von al-Mansur hinsichtlich der Diskreditierung von Ibn Ruschd gespielt haben. Ein ähnliches Schicksal, nun aber von christlicher Seite, widerfuhr Ibn Ruschd in Effigie, und zwar in Gestalt seiner Werke, als der Bischof von Paris, Stephan Tempier, 1270 und 1277 unter Androhung der Exkommunizierung die von den Magistern der Artistenfakultät vertretenen dreizehn philosophischen Thesen verurteilte: 289 Diese Thesen gäben nach seiner Aussage eine »deterministische Auffassung der aristotelischen Lehre« 290 wieder, wie sie von Ibn Ruschd interpretiert worden sei; sie stünden in Widerspruch zur kirchlichen Lehre. Es ging indes wesentlich um die strittige Frage nach der Ewigkeit der Welt, die sowohl von Boethius von Dacien wie auch durch Siger von Brabant im Anschluss an Ibn Ruschd behandelt wurde. 291 Darüber hinaus stand die These von der Unvergänglichkeit des Intellekts zur Debatte, die Ibn Ruschd nicht der numerischen Vielheit der Einzelmenschen entsprechend erfasst, sondern auf die Menschengattung bezogen haben sollte. Schließlich wurde er einer Theorie der doppelten Wahrheit bezichtigt, die neben der Wahrheit des Glaubens eine vera ratio postuliert, deren universaler Charakter die Wahrheit des Glaubens übersteige. Aus diesen beiden Verurteilungen wird ersichtlich, dass Ibn Ruschd keineswegs ein Apologet des islamischen Dogmas gewesen war, wie Max Horten in einer seiner Schriften behauptet und ihn zu deuten versucht; 292 es zeigt vielmehr, dass Ibn Ruschd bereits zu seiner Zeit ein umstrittener Denker war. Seine Faszination und seine 289 Hans Wilderotter, ›Der hat den großen Kommentator gemacht‹, Averroes und der Weg der arabischen Philosophie nach Europa. In: Europa und der Orient, Gütersloh: Bertelsmann Verlag 1989, S. 148. 290 Ernst Bloch, Avicenna und die aristotelische Linke, a. a. O., S. 512. 291 H. Wels, Zu einer Theorie der doppelten Wahrheit in dem ›Tractatus de aeternitate mundi‹ des Boethius von Dacien. In: Averroismus, hrsg. von F. Niewöhner und L. Sturlese, Zürich: Spur Verlag 1994, S. 85. 292 Max Horten, Vorwort zu Ibn Ruschd, Die Widerlegung der Widerlegung, a. a. O. Im Vorwort hebt der Übersetzer die Bedeutung dieser Schrift für Ibn Ruschd hervor und unterstreicht, dass er darin »seine heiligsten Überzeugungen gegen die Einwände eines Gegners verteidigen muss, also das hervorzukehren hat, was er selbst als den festen Kern seines geistigen Lebens und seiner Weltanschauung ansieht«. Siehe außerdem hinzu: Max Horten, Texte zu dem Streite zwischen Glauben und Wissen im Islam, Die Lehre vom Propheten und der Offenbarung bei den islamischen Philosophen Farabi, Avicenna und Averraes, Bonn 1913, S. 12 ff.

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Wirkung überschritten zu seinen Lebzeiten bereits die Grenzen seiner Kulturtradition, so dass die Rezeptionsgeschichte heute von einem ›multiple Averroes‹ 293 spricht. Neben dem arabischen Ibn Ruschd gibt es auch den hebräischen Ben Ruschd (Averroes hebraeus) und den lateinischen Averroes, und jeder hat jeweils einen Beitrag in der Philosophiegeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart geleistet. Gerade aufgrund der »Universalität seines Denkens und seiner Methode« 294 rückt Ibn Ruschd, der einst – im Unterschied zu der Aristoteles vorbehaltenen Bezeichnung Meister – schlicht Kommentator genannt wurde, heute immer mehr in den Vordergrund der philosophischen Diskussion; er ermöglicht wegen seiner originellen Einstellung zum Verhältnis von Vernunftserkenntis und Glaubenserfahrung einen aktuellen Ansatz für eine »Neubegründung des Rationalismus im Islam« 295, was die Wirkungsgeschichte seines Denkens bereichert. Worum geht es im Wesentlichen bei dieser Auseinandersetzung? Hatte Ibn Ruschd tatsächlich eine Lehre der doppelten Wahrheit vertreten oder sich nur der Verfolgung einer Wahrheit, aber mit jeweils unterschiedlichem Ansatz, verpflichtet? Suchte er die Legitimation der Philosophie durch den Glauben oder eine Verselbständigung der Vernunfterkenntnis gegenüber dem Religionsgesetz? Welche Auswirkungen hat seine Konzeption auf den gegenwärtigen Diskurs in der arabisch-islamischen Welt, wo der Konflikt zwischen Traditionalismus und Säkularismus wieder ausgebrochen ist? Ausgehend von diesen Fragen wird nun die ›entscheidende Abhandlung‹ von Ibn Ruschd näher analysiert. Alle bisherigen Interpretationen der entscheidenden Abhandlung (Fasl al-Maqal) gehen davon aus, dass diese Schrift eine juristische Verteidigung der Philosophie gegenüber dem islamischen Dogma darstellt. Sie behandelt nach dem wissenschaftlichen Disputa293 A. Badawi, Averroès face au texte qu’il commente. In: Multiple Averroes, Paris 1978; in diesem Sammelband wurde ein facettenreiches Bild von Ibn Ruschd gezeichnet, ausgehend vom Kommentator über den Averroès musulman bis hin zum Averroès latinus. 294 R. Hayoun / A. de Libera, Averroès et l’Averroïsme, Paris: éd. Que sais-je? 1991, S. 6. Siehe auch: J. ben Abdeljelil, Ibn Ruschds Philosophie interkulturell gelesen, a. a. O., S. 82 ff. 295 Anke von Kügelgen, Averroes und die arabische Moderne, a. a. O.; von Kügelgen befasst sich hauptsächlich mit der arabischen Rezeption von Ibn Ruschd seit dem Ende des 19. Jahrhunderts.

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tionsverfahren, das für die damalige Diskussion üblich war, die Frage, ob die Philosophie (Hikma) als logische Wissenschaft vom religiösen Gesetz (Schar’) verboten, erlaubt oder gar befohlen sei. Die Frage impliziert aber zugleich »eine direkte Antwort auf den von al-Ghazali erhoben Vorwurf der Ungläubigkeit der Philosophen« 296, der mit dem Tod geahndet wird. Ibn Ruschd beginnt seine Argumentation mit der Feststellung, dass Philosophie nichts anderes sei als Reflexion über die existierenden Dinge in der Welt. Sie strebt nach Erkenntnis des Wahren vermittels der logischen und demonstrativen Beweisführung. Dabei betont er: »Da dieses Gesetz wahr ist und zur Vernunftüberlegung aufruft, die zur Erkenntnis der Wahrheit führt, wissen wir, die Gemeinschaft der Muslime, mit Bestimmtheit, dass die beweisende Überlegung nicht zu einem Widerspruch mit dem führt, was im Gesetz steht, da die Wahrheit der Wahrheit nicht entgegengesetzt ist, sondern mit ihr in Einklang steht und für sie Zeugnis ablegt«. 297

Insofern gibt es keinerlei Widerspruch zwischen Wissen und Glauben hinsichtlich des Zwecks ihres Erkennens und infolgedessen auch keine ›doppelte Wahrheit‹, wie dies von der Scholastik behauptet wurde. Weiterhin erläutert Ibn Ruschd diese Beziehung, indem er die Philosophie als »die Vernunftüberlegung über die existierenden Dinge und die Betrachtung derselben, insofern sie ein Hinweis auf den Hersteller sind«, 298 definiert, da diese sich als Produkte ihres Schöpfers zeigen. Doch um Kenntnis von diesem Produkt und darüber hinaus vom Schöpfer selbst zu erlangen, bedarf es der Reflexion bzw. der Spekulation. Infolgedessen sei die Philosophie vom Gesetz nicht nur empfohlen, sondern geradezu gefordert. Dadurch kommt Ibn Ruschd induktiv zu dem Schluss, dass die Beziehung zwischen Philosophie und Religion im Sinne einer erkenntnistheoretischen Relation aufzufassen ist, die der Kausalität von Schöpfung und Schöpfer entspringt. Ibn Ruschd belegt diese Feststellung mit zutreffenden Koranversen, die den Menschen zum Nachdenken auffordern, wie z. B. in Sure 59.2: »So reflektiert denn, ihr mit Einsicht begabten«, oder in

M. Vollmer, Nachwort zu Philosophie und Theologie von Averroes, a. a. O., S. 168. Averroes, Die entscheidenden Abhandlung und die Urteilsfällung über das Verhältnis von Gesetz und Philosophie, a. a. O., S. 19. 298 Ebd., S. 5. 296 297

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Sure 7.185: »haben sie nicht nachgedacht über die Pracht des Himmels und der Erde und was Gott an Dingen erschaffen hat« 299. Nun stellt sich aber die Frage nach dem Status des Wissens in Bezug auf den Glauben bei Ibn Ruschd und ob die angedeutete Übereinstimmung eine bloße Rehabilitierung der Vernunfterkenntnis sei, um sie wiederum in den Dienst der Religion zu stellen oder gar zur Magd der Theologie zu machen. Eine solche Annahme könnte allerdings nur schwer begründet werden, wenn man weiß, welche Bedeutung Ibn Ruschd der Philosophie als der sichersten Methode der Erkenntnis beimisst. Selber betont er in Bezug auf den Fall, dass der Wortlaut des religiösen Textes dem zu widersprechen scheint, was die Vernunft für einsichtig hält, dass der religiöse Text in dem Sinn ausgelegt werden müsse, wie ihn die Vernunft für wahr annimmt. Der religiöse Text hat dreierlei Bedeutungsebenen: – einen äußeren Wortsinn, der nicht interpretiert werden darf, weil er die Grundprinzipien der Glaubenslehre beinhaltet; – einen äußeren Wortlaut, der die eigentlichen Bedeutungen bildhaft vermittelt und deshalb der Interpretation offen steht; – schließlich eine innere Stufe, die ein hermeneutisches Verfahren erfordert, um »den Sinn des Wortes aus seinem eigentlichen Sinn in einen figürlichen Sinn herauszuführen« 300. Entsprechend dieser drei Ebenen klassifiziert Ibn Ruschd sowohl die Menschen als auch die für sie angemessene Methode zum Begreifen des religiösen Textes, da die Beschäftigung mit der Spekulation und Interpretation nicht jedermanns Sache sei. Hier werden bei der Unterteilung der jeweiligen Gruppen ebenso die Naturanlagen wie die intellektuellen Fähigkeiten der Menschen berücksichtigt, damit diese ein richtiges Verständnis vom Text bekommen können. So nimmt Ibn Ruschd an: 1. die überwiegende Masse bleibt dem Niveau der äußeren und bildhaften Darstellung des Textes verhaftet und ist deshalb auf die einfache rhetorische Verstehensweise angewiesen. 2. Die zweite Gruppe umfasst diejenigen, die sich nicht mit dem äußeren bildhaften Wortlaut begnügen und sich mittels dialektischer Spekulation mit dem Text auseinandersetzen. Zu dieser Gruppe gehören vor allem die Theologen und spekulativen Dialektiker. 299 300

Der Koran, a. a. O., Sure 59.2 und 7.185. Ebd., S. 45.

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3.

Zur dritten Gruppe finden nur die Philosophen Zugang, weil sie sich der allegorischen Interpretation bedienen und mittels des demonstrativen Verfahrens des Syllogismus den immanenten Sinn explizieren und auf seinen Wahrheitsgehalt prüfen können. Angesichts dieser Einteilung liegt zweifellos der Verdacht nahe, dass Ibn Ruschd durch eine solche Einordnung der Menschen in drei Gruppen einen Elitismus betreibt, in dem das Wissen zum Instrument gesellschaftlicher Macht erhoben werden könnte, worauf M. Foucault bereits hingewiesen hat. 301 Aber seine Absicht ist erkenntnistheoretisch begründet und zielte darauf, diejenigen, die das hermeneutische Verfahren nicht angemessen anwenden oder gar missbrauchen, zu entlarven. Für Ibn Ruschd lässt sich die Wahrheit nur über die philosophische Erkenntnis und Interpretation erreichen, aber nur wenige streben danach, diesen mühseligen Weg des Wissens zu beschreiten. Den anderen, d. h. der überwiegenden Masse, bleibt deshalb die Offenbarung als notwendiges Mittel der Erkenntnis erhalten; sie müssen am Wortlaut festhalten und dürfen in ihrem Glauben nicht erschüttert werden. Im Durchdringen und in der Vertiefung des apodiktischen Wissens hingegen liegt die dem Philosophen eigentümliche Wahrheit; denn, wie es bei Ibn Ruschd im Großen Kommentar zur Metaphysik heißt, »man kann Gott keinen würdigeren Kultus darbringen als die Erkenntnis seiner Werke, wodurch wir zur Erkenntnis seiner Selbst nach der Fülle seines Wesens gelangen« 302. Es ist interessant zu bemerken, dass sowohl die deutsche als auch die französische Übersetzung des Textes Fasl al-maqal von einer Harmonie bzw. von einer Übereinstimmung zwischen Religion und Philosophie ausgehen, womit sie den Eindruck vermitteln, es handele sich dabei um eine Schlichtung zwischen den beiden Disziplinen. 303 Das ist auch dasjenige, was Ibn Ruschd wahrscheinlich beabsichtigte und was die Geschichtsrezeption überlieferte. Doch indem man die hermeneutische Methode des Kommentators auf seinen eigenen Text anwendet und aus dem äußeren Wortlaut zum eigentlichen Sinn vordringt, taucht auf einmal eine andere Dimension der Erkenntnis auf, 301 M. Foucault, L’ordre du discours, Gallimard, Paris 1971; dt.: Die Ordnung des Diskurses, übers. von Walter Seitter, München: Hanser Verlag 1974. 302 Zitiert nach Salomon Munk, Mélanges de Philosophie juive et arabe, Paris 1955, S. 455. 303 Ibn Rushd, L’accord de la religion et de la philosophie, Traité décisif, trad. de l’arabe par Léon Gauthier, Paris: éd. Vrin, 1909, nouvelle édition Sindbad, Paris 1988.

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die bisher verborgen blieb. Es ist eben das, was im Titel der Schrift selber enthalten ist und eine Infragestellung dieser Relation offenlegt; denn der Titel erwähnt sowohl den Bruch wie die Beziehung zwischen Religion und Philosophie, oder genauer gesagt: zwischen religiösem Gesetz und Weisheit. So würde der gesamte Titel lauten: »Unterscheidende Rede und Feststellung der Verbindung, welche zwischen der Religion und der Philosophie obwaltet« 304. Die neuere Lektüre von Fethi Benslama in seinem Beitrag zu Ibn Ruschd während des Kolloquiums von Cordoba 1992 unter dem Titel La décision d’Averroes 305 setzt gerade an diesen Punkt des Bruches innerhalb der Schrift an und eröffnet damit neue Fragestellungen, die uns zum Nachdenken anregen. Für Benslama traf Ibn Ruschd mit seiner Abhandlung eine »wichtige und klare Entscheidung« und sah sich genötigt, auf die Krise, die das Verhältnis von Glauben und Wissen erschütterte, zu antworten. Er erlebte die Zerrissenheit und die Feindschaft, die zwischen Theologen und Philosophen seit alGhazalis Angriff auf die Philosophen bestanden hatte, und welch dramatische Züge dieser Zwist im Volk hinterließ. Parabelhaft bringt Ibn Ruschd diese Situation zum Ausdruck, wenn er am Schluss seiner Abhandlung schreibt: »Die Schädigung von Seiten eines Freundes ist schwerwiegender als die Schädigung von Seiten eines Feindes – ich meine damit, dass die Philosophie […] die Gefährtin des Gesetzes und deren Milchschwester [ist], so dass die Schädigung, die von jenen herkommt, die mit ihr verbunden sind, die schwerste Schädigung überhaupt ist.« 306

Damit aber die Philosophie nicht mehr im Kreuzfeuer der Kritik seitens der theologischen Orthodoxie stünde, musste er ihr die notwendige Legitimation verschaffen und sie gleichzeitig auf die höchste transzendentale Ebene heben, so dass sie sich kraft ihrer rationalen Begründung trotz der widrigen Umstände behaupten könne.

304 Der Titel der neuen Übersetzung des Textes von Franz Schupp kommt in der Tat dem Titel im Original am nächsten; dieser wird folgendermaßen übersetzt: Averroes, Die entscheidende Abhandlung und die Urteilsfällung über das Verhältnis von Gesetz und Philosophie, Arabisch – Deutsch, Hamburg: Meiner Verlag, 2009. 305 Fethi Benslama, La décision d’Averroës, in: Ibn Rochd, Maimonide, Saint Thomas ou »la filiation entre foi et raison«, Colloque de Cordoue 1992, Institut dominicain d’études orientales, Kairo / Paris 1994. 306 Averroes, Die entscheidende Abhandlung und die Urteilsfällung über das Verhältnis von Gesetz und Philosophie, a. a. O., S. 75.

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Nach Benslama zeichnet sich in dieser Schrift ein Streben nach Autonomie des Wissens gegenüber dem Glauben ab. Diese Autonomie des Wissens wird im Zuge der Argumentation von Ibn Ruschd besonders sichtbar, wenn er auf die Bedeutung des Instrumentariums für die Aneignung von Wissen hinweist, welches der Wahrheitsfindung dient und als »Kunst der demonstrativen Regeln« betrachtet wird. So fungiert die Logik – gerade als technisches Mittel der Beweisführung – nun als unabhängiges Instrumentarium von Wissen. In diesem Kontext spricht Benslama von einem »Impératif de la raison« 307, also von einem Imperativ der Vernunft, wie ihn Kant als Bedingung der Möglichkeit für den Ausgang des Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit forderte. 308 Außerdem tritt ein weiteres Element hinzu, welches die interkulturelle Dimension in Erscheinung bringt, nämlich die Aufforderung zur Übernahme von Wissen aus anderen Kulturkreisen, sofern dieses Wissen mit der Wahrheit übereinstimmt und nicht mit dem religiösen Gesetz in Widerspruch steht; denn das universale Wissen kann keineswegs von einer einzigen Kultur, geschweige denn von einer Person, bewältigt werden. Das unterstreicht Ibn Ruschd, wenn er schreibt: »Diese Sache ist schon an sich klar, nicht nur hinsichtlich der theoretischen Künste, sondern auch hinsichtlich der praktischen. Denn sicher gibt es unter ihnen keine Kunst, die einer ganz für sich allein hervorbringen kann. Wie könnte dies also bei der Kunst der Künste – und dies ist die Philosophie – sein? Wenn sich dies so verhält, dann ist es vielleicht für uns verpflichtend, wenn wir bei jenen, die uns bei früheren Völkern vorausgegangen sind, eine Überlegung über die existierenden Dinge und eine Betrachtung darüber entsprechend dem antreffen, was die Bedingungen des Beweises fordern, dass wir das überlegen, was sie darüber gesagt haben, und was sie in ihren Büchern niedergelegt haben.« 309

Diese Forderung zur Offenheit kann ebenso im Sinne einer Überwindung der Schranken, die das islamische Dogma gegenüber dem rationalen Wissen aufstellt, wie auch als Aufruf zur Fortsetzung des transund interkulturellen Prozesses von Wissen im Sinne der Universalität ausgelegt werden. Mit diesem Ansatz rückte Ibn Ruschd noch in F. Benslama, La décision d’Averroès, a. a. O., S. 70. Vgl. Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Werke in zehn Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975, S. 53 ff. 309 Averroes, Die entscheidende Abhandlung, a. a. O., S. 13. 307 308

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die Nähe der Aufklärung. Er ebnete somit den Weg für einen interkulturellen Dialog, der durch den ›Averroismus‹ 310 christlicher und jüdischer Prägung begonnen wurde und heute in der arabisch-islamischen Welt weiter geführt wird. Gerade seine bestechend rationale Begründung innerhalb seiner Theorie der allegorischen Interpretation könnte als eine wirksame Methode für eine kritische Lektüre des Turath fungieren. Sie würde im Sinne einer epistemischen Rekonstruktion auf das tradierte Wissen angewandt und als Modell für eine praktische Umsetzung im Rahmen eines zukünftigen Entwurfes zum Aufbau einer Zivilgesellschaft gebraucht. 311 Abgesehen von seiner Ausführung in der Entscheidenden Abhandlung (Fasl al-Maqal) setzt Ibn Ruschd seine Argumentation sowohl in der zweiten theologischen Schrift Kitāb al-kashf ’an manāhig al-adilla fi ’aqāid al-milla (Die Erklärung der Beweismethoden hinsichtlich der Glaubensvorstellungen der Religion) als auch in seinem Hauptwerk Tahāfut al-tahāfut (Die Inkohärenz der Inkohärenz), das als eine Replik auf Ghazalis Verurteilung der Philosophen gilt, fort. Darin unterbreitet er seine metaphysischen Ansichten und stellt seine apodiktische Auslegungsmethode unter Beweis. Während er sich in der ersten Schrift mit den verschiedenen theologischen Schulen seiner Zeit, wie die der Ash’ariten, der Mu’taziliten, der Batiniten und der Hashwiya in Bezug auf die Fragen nach der Erkenntnis der Existenz Gottes, seiner Eigenschaften, seiner Vollkommenheit, seines Willens sowie seiner Handlungen auseinandersetzt, 312 konzentriert er sein Interesse im Tahāfut al-tahāfut auf die Widerlegung der Argumente von al-Ghazali bei seinen Angriffen auf alFarabi und Ibn Sina und richtet seine Kritik besonders auf dessen Kausalitätsprinzip. 313 In diesem Zusammenhang greift Ibn Ruschd die von al-Ghazali erhobenen drei Hauptvorwürfe zur Verurteilung der islamischen Philosophen, nämlich die Lehre von der Ewigkeit der Welt, dass Gott nicht die Einzeldinge kenne sowie die Frage nach der Unsterblichkeit F. Niewöhner / L. Sturlese (Hrsg.), Averroismus im Mittelalter und in der Renaissance, Zürich: Spur Verlag 1994. 311 Sarhan Dhouib, »Dialog der Kulturen« versus »Kampf der Kulturen«? Die Aktualität von Ibn Ruschd in der arabisch-islamischen Philosophie der Gegenwart, in: Philosophie im Islam, Polylog Nr. 17 (2007), S. 61–76. 312 Ibn Ruschd, Philosophie und Theologie von Averroes, a. a. O., S. 30 ff. 313 Ibn Ruschd, Tahāfut al-tahāfut (Die Widerlegung der Widerlegung), hrsg. von Maurice Bouyges, Beirut 1987, S. 520 ff. 310

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der Seele, wieder auf und versucht sie auf logischer Grundlage zu entkräften. So weist er im Hinblick auf die These der Ewigkeit der Welt nach, dass die Position von al-Farabi und Ibn Sina nicht ganz entfernt von derjenigen der Ash’ariten ist, da »die Meinungsverschiedenheit darüber zwischen den Theologen der Ash’ariten und den alten Philosophen beinah nur auf eine Meinungsverschiedenheit über die Benennung zurückzuführen« 314 sei. Hier führt er aus, dass im Koran keine Lehre von der Schöpfung ex nihilo zu finden sei und dass sich bei der Rede von der Erschaffung der Welt ein Bezug auf zuvor existierende Dinge erkennen lässt. Insofern darf keine der beiden Parteien die andere des Unglaubens bezichtigen, da sie sich nur auf der Ebene der Interpretation des Textes bewegen. Was die Frage der Kenntnis der Einzeldinge durch Gott angeht, so meint Ibn Ruschd, dass die islamischen Philosophen keineswegs die Kenntnis der Einzelheiten seitens Gottes leugnen, sondern vielmehr einen Unterschied zwischen seinem Wissen und dem der Menschen machen, »denn im Fall des menschlichen Wissens ist die Einzelheit die Ursache dieses Wissens, während im Fall des göttlichen Wissens es das Wissen Gottes ist, das die Existenz des Einzeldinges überhaupt erst verursacht« 315. Dadurch vermeidet Ibn Ruschd, in den Universalienstreit zu geraten, und vertritt eine »gemäßigt nominalistische Position« 316, wonach der Verstand selbst derjenige ist, der die Universalbegriffe bildet, indem er die Formen von den realen einzelnen Dingen der Erfahrung abtrennt und sie zum Allgemeinen macht. Ihn aber interessiert das Erfassen des realen Allgemeinen, d. h. wie das Wesen der Dinge in den Dingen selbst bei der sinnlichen Erfahrung erkannt werden kann, was auf eine Stärkung der Position des Aristotelismus hinausläuft. Schließlich argumentiert Ibn Ruschd im Hinblick auf die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele, dass man die Texte, die von der Auferstehung sprechen, daraufhin untersuchen solle, ob ihre Sprache wörtlich zu nehmen sei oder einer philosophischen Interpretation bedürfe, um den eigentlichen Sinn herauszubringen. Nach seiner An314 Averroes, Die entscheidende Abhandlung und die Urteilsfällung über das Verhältnis von Gesetz und Philosophie, a. a. O., S. 33. 315 W. Montgomery Watt / M. Marmura, Die islamische Philosophie des Mittelalters, a. a. O., S. 384. Siehe dazu: Fasl al-Maqāl (Die entscheidende Abhandlung), S. 11. 316 Geert Hendrich, Arabisch-islamische Philosophie, Geschichte und Gegenwart, a. a. O., S. 110.

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sicht ist es klar, dass diese Frage zu der Gruppe gehört, bei der keine Übereinstimmung besteht, sondern vielmehr Verschiedenheit der Meinungen herrscht, da sich die von den Gelehrten angewandten Methoden der Beweisführung oft vermischen. Deshalb darf hier keiner, der sich in dieser Frage irren könnte, des Unglaubens bezichtigt werden. Außerdem »ist es verpflichtend, dass die Interpretationen nur in den Büchern niedergelegt werden, die mit Beweisen arbeiten, denn wenn sie in Büchern stehen, die mit Beweisen arbeiten, dann gelangen nur jene zu ihnen, die zu den Leuten des Beweises gehören« 317. Dennoch hält Ibn Ruschd selbst an der Tatsache fest, dass sich die menschliche Seele zu ihrem Körper genauso verhalte wie die Form zur Materie und dass sie nur als Vollkommenheit ihres Leibes Bestand haben könne. Folglich schließt er eine individuelle Unsterblichkeit der Seele aus, sobald sie vom Körper getrennt ist. 318 Besonders scharf kritisiert Ibn Ruschd die Kausalitätstheorie von al-Ghazali und versucht sie zu widerlegen. Wir erinnern uns, dass alGhazali die Kette von Ursache und Wirkung als bloßes Ergebnis der Gewohnheit ablehnt und dafür die absolute Allmacht Gottes in der Folge der Handlungen hervorhebt. Das sei etwa mit dem Verbrennen der Baumwolle bei ihrer Annäherung an das Feuer der Fall. Hier fragt Ibn Ruschd ironisch, ob dann ein Mensch, der zufällig mit dem Feuer in Berührung kommt, auch nur metaphorisch verbrennen würde, und fährt fort: »Die Existenz von wirksamen Ursachen, die in wahrnehmbaren Dingen beobachtet werden, abzuleugnen, ist sophistisches Geschwätz. Wer so spricht, leugnet entweder mit seiner Zunge, was er in seinem Herzen glaubt, oder wird sonst von einem sophistischen Zweifel in die Irre geführt.« 319

Nach Ibn Ruschd scheint der Grund für diesen Zweifel darin zu liegen, dass die Ursache bei manchen Tatsachen nicht unmittelbar beobachtet werden könne, was aber nicht dazu führen dürfe, die natürlichen Ursachen einfach zu leugnen, denn sonst bedeute das eine 317 Averroes, Die entscheidende Abhandlung und die Urteilsfällung über das Verhältnis von Gesetz und Philosophie, a. a. O., S. 51. 318 Diese Position vertritt Ibn Ruschd vor allem in seinem großen Kommentar zu Aristoteles’ De Anima, der im Arabischen verschollen und nur in seiner lateinischen Version vorhanden ist. Allerdings ist in den letzten Jahrzehnten eine Rückübersetzung aus dem lateinischen Manuskript ins Arabische angefertigt worden. Siehe: Ibn Ruschd, Talkhīs al-Kitāb al-kabīr fī an-Nafs li-Aristutalīs, Übers. von Brahim alGharbi, Carthage: Beit al-Hikma 1969. 319 Ibn Ruschd, Tahāfut al-Tahāfut [Die Widerlegung der Widerlegung], S. 519.

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Negierung der wissenschaftlichen Erkenntnis selbst und somit die Leugnung der Erkenntnis Gottes als erster Ursache der Weltordnung. Mit diesem Argument hat Ibn Ruschd nicht nur die Schwächen der Position von al-Ghazali und der ash’aritischen Orthodoxie aufgedeckt, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur Bestätigung der Kausalitätstheorie als Grundlage für die Wissenschaftsforschung im vormodernen Zeitalter geleistet. Dadurch hat er »auf die Entwicklung des europäischen Denkens des Mittelalters und der Renaissance einen bestimmenden Einfluss« 320 ausgeübt. Für Dieterici bildet Ibn Ruschd »den Grenzstein in der Philosophie des Mittelalters, deren erste Periode, die man die alexandrinische oder plotinische nennen kann, er insofern abschließt, als seine ins Lateinische übertragene Paraphrase des Aristoteles die Grundlage der weiteren philosophischen Entwicklung hergab. Der Mohr, d. h. die arabische Schule, hatte seinen Dienst getan, der Mohr konnte gehen.« 321

Heißt das nun, dass die arabisch-islamische Philosophie mit Ibn Ruschd zu ihrem Abschluss gekommen ist und keine Fortsetzung erfahren hat? Oder gab es andere Ansätze, die zu ihrer weiteren Entwicklung beigetragen haben? Welche Strömungen haben sich im Zuge der averroistischen Philosophie weiter herausgebildet und was für einen Einfluss konnten sie ausüben? Wie hat sich dieser Einfluss bemerkbar gemacht? In der Einschätzung der meisten Orientalisten steht Ibn Ruschd für das Ende der arabisch-islamischen Philosophie im Mittelalter. So schreibt z. B. De Boer in seiner Geschichte der Philosophie im Islam: »Es ist, als ob die Philosophie der Muslime in ihm [Ibn Ruschd] zum Verständnis des Aristoteles kommen soll, um dann, fertig, sterben zu können.« 322 Und selbst im später erschienenen Werk von Majid Fakhry History of islamic philosophy 323 werden kaum Nachfolger der großen Denkern genannt, als ob die arabisch-islamische Welt in einem kultur- und -geschichtsleeren Raum weitergelebt hätte. In Wirklichkeit hat sich der Kurs des philosophischen Denkens fort-

320 W. Montgomery Watt / M. Marmura, Die islamische Philosophie des Mittelalters, a. a. O., S. 392. 321 F. Dieterici, Über den Zusammenhang der arabischen und griechischen Philosophie, a. a. O., S. LXX. 322 T. J. De Boer, Geschichte der Philosophie im Islam, a. a. O., S. 167. 323 Majid Fakhry, A History of Islamic Philosophy, New York: Columbia University Press, 1983.

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gesetzt, jedoch in manchen Zügen verändert. Nach der Ansicht von Ulrich Rudolph war Henri Corbin derjenige, der »eine völlige Umwertung der Geschichte der Philosophie vornahm. Sie betraf vor allem die Zeit nach 1200.« 324 Corbin sah in der Tat in der Folge von Ibn Sina und des Averroismus die Zeichen für einen Übergang zwischen Orient und Okzident und lieferte somit einen viel differenzierteren Blick auf die Geschichte der Philosophie im arabisch-islamischen Raum. Er zeigt, wie sich diese nach dem Tode von Ibn Ruschd als rationale Disziplin durchgehalten hat, aber auch, wie die Theosophie von Suhrawardi und Ibn ’Arabi ihren Auftritt auf der Bühne des spirituellen Lebens bekam. Denn neben dem Averroismus, der sich beharrlich im Streit mit der Orthodoxie, 325 aber auch in der jüdischen Philosophie über Ibn Maimun (Maimonides) 326 fortsetzte, hat sich vor allem im Sufismus eine Art rationaler Mystik etabliert, die im Zuge des gesellschaftlichen Wandels und der geglückten Versöhnung mit dem sunnitischen Islam breitere Volksschichten erreichte. Diese Mystik, die sich zwar leichter mit den Prinzipien des islamischen Glaubens verbinden ließ, stand jedoch dem Dogma der Orthodoxie nicht ganz freundlich gegenüber und trat manchmal sogar als Gegenbewegung zu ihr auf, da sie einer ihr eigentümlichen Rationalität folgte, die von der Philosophie in vielerlei Hinsicht inspiriert worden war und tendenziell ähnlich Ziele anstrebte.

324 Ulrich Rudolph, Islamische Philosophie von den Anfängen bis zur Gegenwart, München: C. H. Beck Verlag, 2004, S. 8; Vgl.: Henri Corbin, Histoire de la philosophie islamique, Paris: Gallimard, 1964, S. 344 ff. 325 Hans Kraml, Zwischen Aristoteles und Religion, Die Ethik des Nasir ad-Din Tusi als Lehrstück, in: G. Münnix (Hrsg.), Wertetraditionen und Wertekonflikte. Ethik in Zeiten der Globalisierung, Nodhausen: Verlag Traugott Bautz 2013, S. 109–120. 326 J. Benabdeljelil, Ibn Ruschds Philosophie interkulturell gelesen, a. a. O., S. 82–100.

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6. Von der rationalen Mystik zur Theosophie

Folgt man der Einteilung der Rationalität im arabisch-islamischen Diskurs, wie sie von Mohammed Abed al-Jabri vorgelegt wurde, dann fällt die Mystik in den Bereich des ›rational nicht Denkbaren‹, welcher im Unterschied zum ›rational denkbaren‹ Diskurs im demonstrativen Erkenntnissystem der Philosophie das Feld der ›Illumination‹ bzw. Ishrāq oder ’Irfān und der Gnosis umfasst, d. h. alle esoterischen Wissenschaften, darunter auch Mystik und Sufi-Lehre. 327 Für al-Jabri geht es bei diesem Phänomen um das Erfassen des »verborgenen Sinnes« im Koran, das nicht durch intellektuelle Tätigkeit erfolgt, sondern vielmehr mittels eigener existentieller Erfahrung erlangt wird. Daraus »ergibt sich ein auf das Ich zentriertes Erfahrungsdenken, das seine letzte Realisierung in der spirituellen Himmelsfahrt (mi’rāj) findet« 328. Doch bei näherer Betrachtung scheint diese Einordnung eher einer ideologischen Sichtweise zu entsprechen als der epistemischen Erkenntnis, die al-Jabri zu folgen beansprucht. 329 Die neueren Forschungsergebnisse deuten allerdings auf eine andere Tendenz hin, die sich mehr an der Rezeption von Ibn Sinas Ansatz einer orientalischen Philosophie orientiert, und weisen in eine Richtung, die eine Verbindung von Gnosis und Mystik aufzeigt. 330 Den ersten Anstoß zu dieser Einsicht gibt schon Ernst Bloch in seiner kurzen Schrift Avicenna und die aristotelische Linke, in der er von der Mystik als ›Bundesgenosse‹ der Philosophie und von ihrer 327 Mohammed Abed al-Jabri, Kritik der arabischen Vernunft, Die Einführung, a. a. O., S. 39 ff. 328 Ebd., S. 41. 329 Ebd., S. 82 ff. 330 Seyyed Hossein Nasr, Three Muslim Sages: Avicenna – Suhrawardi – Ibn ’Arabi, Cambridge Mass.: Harvard University Press 1964; Seyyed Hossein Nasr and Oliver Leaman, History of Islamic Philosophy, London: Routledge 2001, S. 367; Ulrich Rudolph, Islamische Philosophie, a. a. O., S. 86 ff.; Wolfgang Günter Lerch, Denker des Propheten, Die Philosophie des Islam, a. a. O., S. 73 ff.

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6. Von der rationalen Mystik zur Theosophie

Rolle im Kampf gegen die Orthodoxie spricht. Ausgehend von der neuplatonischen Interpretation des Aristoteles durch Ibn Sina und der Nähe dieses Denkers zur mystischen Gnosis erfasst Bloch gewisse Affinitäten zwischen der philosophischen Anschauung und der mystischen Gottesschau der Sufis. So schreibt er: »Bei den Sufis löst sich der positive Glaube in der inneren Schau des All-Einen auf, der Sufi erkennt die Nichtigkeit aller Religionen und fühlt sich über sie, die nur für den Nicht-Eingeweihten existieren, spirituell erhaben.« 331 Hier wird der Glaube nicht nach der äußeren praktischen Ausübung befolgt, sondern als unmittelbar erlebte Erfahrung in »einer transzendenten Mystik« aufgehoben und gilt somit als Mittel zur Befreiung des Menschen von seinem irdischen »Knechtszustand«. Für Bloch, der keinen dogmatisch materialistischen Standpunkt vertritt, spielt die Mystik in den verschiedenen Kulturen eine wichtige Rolle im Widerstand gegen die Macht der Orthodoxie, weil sie sich mehr an dem Freigeist als an Gesetzen orientiert, die an die Schrift gebunden sind. Nicht zuletzt erscheint diese Haltung auch »in der deutschen Mystik des vierzehnten Jahrhunderts, bei den so vielfach an den Sufismus erinnernden Brüdern vom freien Geiste, bei der Menschvergottung, Vernunftvergottung Meister Eckarts« 332. Die später erschienenen Monographien nehmen diesen Ansatz von Bloch wieder auf und zeichnen die relevanten Aspekte nach, die das philosophische Denken mit der Mystik in Verbindung bringen. Es sind vor allem »die Spekulation über die Ordnung des Kosmos, über die Stellung Gottes in ihr und seine Stellung gegenüber dem Menschen« 333, die eine Verbindung der Philosophie mit der mystischen Rede von Gott und der Sehnsucht der menschlichen Seele nach einer Vereinigung mit der Transzendenz begünstigen. Solche Aspekte lassen sich, wie es schon vorher angedeutet wurde, sowohl bei Ibn Sina mit seiner Neigung zur ›Illuminationslehre‹ (Falsafat al-Ishrāq) als auch bei al-Ghazali, der den Bruch mit dem philosophischen Denken zugunsten der Sufimystik vollzogen hat, deutlich erkennen. Dennoch bleibt die Mystik, trotz ihrer Nähe zur Philosophie, ein zutiefst religiöses Phänomen, dessen Wurzel von mehreren Einflüssen gespeist

Ernst Bloch, Avicenna und die aristotelische Linke, a. a. O., S. 486. Ebd., S. 487. 333 Geert Hendrich, Arabisch-islamische Philosophie, Geschichte und Gegenwart, a. a. O., S. 126. 331 332

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wird, wie etwa von christlichen Eremiten, Hindu-Philosophie und buddhistischer Meditationslehre. 334 Die islamische Mystik, die meistens unter dem Begriff des Sufismus oder tasawwuf erfasst wird, begann zuerst als Streben nach »individueller Vertiefung des Glaubens, nach einer inneren Erfahrung Gottes mit dem letzten Ziel, in der unio mystica, der einheitlichen Zusammenschau aller Gegensätze, den göttlichen Urgrund der Welt zu erfahren und in ihm selig zu sein« 335. Dieser Wunsch nach einer totalen Verschmelzung mit der Transzendenz bzw. nach einem völligen »Entwerden in dem unbeschreiblichen göttlichen Wesen, so wie der Tropfen im Ozean« 336, das war nach der Aussage von Annemarie Schimmel dasjenige, was die mystischen Sufis zu erreichen hofften. Es war also ein starkes individuelles Verlangen nach Glaubensbezeugung und innerer Hingabe, das schon früh im Islam ansetzte und im religiösen Gesetz seinen Ursprung nahm. Sowohl der Koran als Offenbarung des Wortes Gottes wie auch der Prophet Muhammad als Inbegriff des vollkommenen Menschen und Diener Gottes galten für die ersten Mystiker als Leitlinien asketischer Frömmigkeit. Für sie konkretisiert sich ihre Haltung »in der Anerkennung der absoluten Macht des nur durch seine Zeichen erkennbaren Gottes, im vollen Vertrauen auf die koranische Offenbarung und in der Verehrung des Propheten Muhammad« 337. Dabei entstanden zwei Wege, die zum mystischen Leben führten: derjenige der Erkenntnismystik (ma’rifa) und der Weg der Liebesmystik (mahabba). Beim ersten spielte die rational von der Logik beeinflusste Erkenntnis eine wichtige Rolle, wie etwa bei der Bestimmung von Wesen und Akzidenzien oder von Essenz und Existenz im Verhältnis von Schöpfer und Geschöpfen bzw. von Gott und seinen Dienern. Hingegen lief der Pfad der Liebesmystik über eine symbolische Sprache, die in der Dichtung ihren adäquaten Ausdruck fand. Dennoch mischten sich manchmal diese Wege und fielen zuletzt zusammen, da das Ziel für beide dasselbe war, nämlich das der göttlichen Wahrheit, haqīqa genannt. Insofern verlief der Weg der Sufis oder Mystiker meistens »von der schari’a, dem Gesetz, über die tariqa, den mystischen Pfad, zur haqīqa,

334 Annemarie Schimmel, Sufismus. Eine Einführung in die islamische Mystik, München: C. H. Beck Verlag, 2000, S. 17 ff. 335 W. G. Lerch, Denker des Propheten, a. a. O., S. 73. 336 Annemarie Schimmel, Sufismus, a. a. O., S. 8. 337 Ebd., S. 15.

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der göttlichen Wahrheit« 338, allerdings mit unterschiedlicher Intensität im Umgang mit dem Text und den ihn begleitenden Praktiken. Dennoch blieb die Endstation dieser beiden Sufi-Wege weiterhin dieselbe, nämlich »die Gottesliebe oder Gotteserkenntnis. Jede mystische Strömung kennt diese beiden Ziele: Liebesekstase und Erkenntnis, Gnosis« 339, wie es Annemarie Schimmel noch einmal ausdrücklich betont. Vielen Sufis galt die Kenntnis und rituelle Rezitation des Korans als Hauptaufgabe des Sufismus, da hier stets darauf verwiesen wird, dass alles in der Welt ein von Gott gesetztes Zeichen sei. Bei anderen hingegen überwog die Tendenz, sich von allem Weltlichen abzuwenden und sich durch Meditation und Gebete der Gottesliebe bis zum totalen Verlust (al-fanā) hinzugeben, wie es bei der frommen Mystikerin Rabi’a al-’Adawiyya (gest. 801) aus der Stadt Basra der Fall war. Diese soll nach der Überlieferung mit einer Fackel in der einen Hand und einem Eimer Wasser in der anderen durch die Straßen der Stadt gelaufen sein und auf der Frage nach dem Sinn ihres Tuns geantwortet haben: »Ich will Wasser in die Hölle gießen und Feuer ans Paradies legen, damit diese beiden Schleier verschwinden und niemand mehr Gott aus Höllenfurcht oder Hoffnung aufs Paradies anbetet, sondern allein um Seiner ewigen Schönheit willen.« 340 Diese Haltung stand jedoch offensichtlich in Widerspruch zur offiziellen Schriftgläubigkeit der islamischen Orthodoxie, die nicht nur am äußeren Wortlaut der heiligen Texte festhielt, sondern auch keine eigene Deutung dieser Texte im Sinne erkenntnistheoretischer Metaphorik duldete, wie es bei manchen Sufis zum Ausdruck kam. Das führte bereits sehr früh zu einer Spannung zwischen den Anhängern der Sufimystik und denjenigen des sunnitischen Dogmas und mündete manchmal in eine Verfolgung führender Sufis. Das hat besonders der große Mystiker Hussein ibn Mansur (858–922) – bekannt unter dem Namen al-Halladj – am eigenen Leib erfahren und mit dem Leben bezahlt. Al-Halladj gilt in der mystischen Geschichte als der »Erzmärtyrer des Sufismus«, weil er das erste Opfer unter den Sufis war, die von der Orthodoxie wegen Blasphemie oder Ketzerei zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden. Geboren wurde Abul-Mugith Hussein ibn 338 339 340

W. G. Lerch, Denker des Propheten, a. a. O., S. 74. Annemarie Schimmel, Sufismus, a. a. O., S. 27. Ebd., S. 16.

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Mansur al-Halladj 857 in al-Baida, einem Dorf in der Provinz Fars im Iran, aber er lebte später vorwiegend im Irak, wo er in Wasil am Tigris aufwuchs und bereits mit 12 Jahren den Koran auswendig lernte. Seine Neigung zur Mystik wurde zuerst durch seinen Lehrer Sahl alTustari geweckt, entfaltete sich aber dann in Bagdad, wo al-Halladj Schüler bei namhaften Meistern wie al-Dschunaid war. Bei seinen Pilgerfahrten nach Mekka setzte er sich manchen Härten aus, um seiner Liebe zu Gott Ausdruck zu verleihen. Um 900 unternahm er lange Reisen nach Indien und Zentralasien, wo er den Islam predigte und mit anderen Religionen und Glaubensgemeinschaften – Hindus, Buddhisten und Manichäern – in Kontakt kam, was seine Einstellung zur Mystik sicherlich verstärkte. Nach seiner Rückkehr nach Bagdad fiel al-Halladj den Behörden durch seine radikalen Forderungen wie etwa eine gerechte Besteuerung und gewisse Neuerungen im islamischen Ritual auf, was ihn bereits verdächtig machte. Zu dieser Zeit standen die Sufis sehr oft unter dem Verdacht, außerhalb der Gemeinschaft zu stehen und eigene Lehren im Hinblick auf die Huldigung und Verehrung Gottes, bis hin zur ekstatischen Bemühung um die Vereinigung mit ihm und die totale »Entwerdung«, zu verbreiten. Vor allem der Vorwurf der Blasphemie durch die Behauptung der »Einwohnung« Gottes im Menschen (alHulul) war dann ein Grund, um gegen die Sufis vorzugehen und sie juristisch zu verfolgen. Das widerfuhr auch al-Halladj, als er gewagt hatte, den Ausspruch »ana al-Haqq«, d. h. »ich bin die absolute Wahrheit«, öffentlich zu äußern. Eine solche Aussage, die »das Aufgehen des Menschen in Gott bezeugt« 341, widerspricht diametral dem Prinzip der Einzigkeit Gottes und stellt die transzendente Stellung des Schöpfers gegenüber seiner Schöpfung in Frage. Natürlich war der Ausspruch von al-Halladj nicht so blasphemisch gemeint, wie es ihm seine Widersacher unterstellten, denn er setzte bereits in seinem Buch Tawasin (Kitāb at-tawasin) diese Aussage ins rechte Licht, als er schrieb: »Wer meint, dass die Göttlichkeit sich mit der Menschlichkeit mische, oder die Menschlichkeit sich mit der Göttlichkeit mische, ist ungläubig. Denn Gott der Erhabene hat sich in Seiner Essenz und Seinen Attributen von

Al-Halladj, Le Livre Tawasin. Le jardin de la connaissance, traduction annotée et édition critique du texte arabe de Stéphane Ruspoli, Beyrouth: éd. Al-Bouraq, 2007; zitiert nach Annemarie Schimmel, Sufismus, a. a. O., S. 32.

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den Essenzen und Attributen der Geschöpfe isoliert. Er ähnelt ihnen auf keine Weise, und sie ähneln ihm in keiner Weise. Wie könnte man sich eine Ähnlichkeit zwischen dem Vorzeitlichen und dem in der Zeit Geschaffenen vorstellen … ?« 342

Es war also nicht seine Absicht, eine solche Anmaßung zu wagen, als er diesen Ausspruch vor der Tür seines Meisters al-Dschunaid äußerte. Er wusste wohl, dass er sich im Kreis seiner Gleichgesinnten befand, die den Sinn dieser Aussage anders verstanden und interpretierten als die dogmatischen Gelehrten. Dennoch wurde er wegen dieser Aussage verhaftet und lange Jahre gefoltert, bevor er 922 zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Dabei soll er nach der Überlieferung seiner Verehrer folgendes Gedicht rezitiert haben: »Tötet mich, meine treuen Freunde, Denn in meinem Getötetsein ist mein Leben. Liebe ist, vor deinem Geliebten stehen zu bleiben, Wenn du aller Eigenschaften beraubt bist; Dann werden seine Eigenschaften zu den deinen. Zwischen mir und Dir gibt es nur mich. Nimm das Ich fort, so dass nur noch Du bleibst.« 343 Die »Tragödie von al-Halladj«, wie sein Werdegang inzwischen bezeichnet wird, wurde erst im vorigen Jahrhundert zum Gegenstand mehrerer Studien, besonders des französischen Orientalisten Louis Massignon, der sie in einem zweibändigen Werk minutiös rekonstruierte und im Westen bekannt machte. 344 Auch Annemarie Schimmel widmete ihm eine eigene Studie unter dem Titel Al-Halladsch, Märtyrer der Gottesliebe, in der sie besonders die Dimension seiner Liebe zu Gott in den Vordergrund stellte. 345 Aber ein Vorbild der wahren Gottesliebe war al-Halladj auch für viele der nachfolgenden Sufis und für deren Tradition. Einer von ihnen ist Djalal ad-Din ar-Rumi, des-

Al-Halladj, Das Buch von Tawasin (Kitāb at-Tawasin), zitiert nach Wolfgang Günter Lerch, Denker des Propheten, a. a. O., S. 82. 343 Andrew Harvey & Eryk Hanut, Der Duft der Wüste, Weisheiten aus der Tradition der Sufis, Freiamt im Schwarzwald: Arbor Verlag 2003, S. 95. 344 Louis Massignon, La passion d’al-Hussein ibn Mansur al-Hallaj, martyr mystique de l’Islam, 2 Bde., Paris 1922, zuletzt 4 Bde., Paris: Gallimard 1980. 345 Annemarie Schimmel, Al-Halladsch, Märtyrer der Gottesliebe, Leben und Legende, ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von Annemarie Schimmel, Köln: Verlag Jakob Hegner 1968. 342

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sen Lieder und Gedichte sich inzwischen in Ost und West großer Beliebtheit erfreuen. Muhammad Djalal ad-Din Rumi wurde 1207 in Balkh, dem heutigen Afghanistan, geboren und starb 1273 in der Stadt Konya in Anatolien, damals im »Land der Romäer« oder Rum (heutige Türkei), wohin seine Familie über Persien und Syrien auswanderte. Von da stammt der Beiname »Rumi«, während seine Anhänger ihn einfach »Mawlana« oder »Mevlana«, d. h. »unser Meister« nennen. Eingeführt in die Mystik wurde Rumi zunächst durch seinen Vater und nach dessen Tode durch einen seiner Jünger. Doch erst durch die Begegnung mit dem Wandermystiker Schams ad-Din aus Tabriz 1244 erlebte er eine geistige Verwandlung und schloss sich diesem Meister des Sufismus an. Diese Entscheidung gefiel aber seinen Jüngern nicht, die Schams aus Eifersucht töten ließen. Die Liebe zu Schams und der Schmerz um seinen Verlust veränderten das Leben von Rumi von Grund auf und lösten tiefe Gefühle aus, die er in 40.000 Versen lyrischer Dichtung zum Ausdruck brachte. Im Diwan Schams wurden die Gedichte von Rumi dem Verehrten gewidmet. Darin wird Schams »zur mystischen, geistigen Sonne seines Lebens, um die sich seine gewaltige dichterische Schöpferkraft dreht« 346. Wesentlich ist aber, dass Rumi in dieser Lyrik eine Liebesphilosophie entfaltet, die von keinem seiner Vorgänger so symbolhaft und ausdrucksvoll formuliert wurde. Alles, was in der Welt existierte, wurde für ihn zum Zeichen einer höheren Wahrheit, die auf den ewigen Geliebten, nämlich Gott, hinweist. Nach Annemarie Schimmel hat kein anderer Sufi den koranischen Vers »Wir werden ihnen Unsere Zeichen zeigen in den Horizonten und in ihnen selbst« (Sure 41.53) so zur Grundlage seiner Gedanken gemacht wie der Mevlana. 347 Auf Bitten seines Lieblingsjüngers Husamaddin Tschelebi, ein Lehrgedicht für seine Schüler zu verfassen, entstand das umfangreiche Epos Mathnawi oder die »mystischen Doppelverse«, in denen Rumi durch Geschichten und Symbole wieder auf den verlorenen Geliebten deutet, zugleich aber die mystische Liebe zu Gott preist. Diese göttliche Liebe ist für den Mystiker ein kosmisches Prinzip, das im Weltall präsent ist und in allen Dingen wirkt. So drückt sie Rumi in seinem Gedicht »Ein Vertrauter der Liebe« folgendermaßen aus: 346 347

W. G. Lerch, Denker des Propheten, a. a. O., S. 83. Annemarie Schimmel, Sufismus, a. a. O., S. 63.

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Was heißt es, ein Vertrauter der Liebe zu sein? Zu Blut zu werden, das eigene Blut zu schlucken, an der Tür der Treue mit den Hunden zu warten … Beim Weinen gleicht der Liebende den Wolken, In der Beharrlichkeit den Bergen, In der Niederwerfung dem Wasser, In seiner Demut dem Staub der Straße. 348 Nach der Aussage von Ashraf Sheikhalaslamzadeh ist in der Sprache Rumis »der ganze Kosmos das Reich der Liebe. Vernunft und Gesetz gelten im Vergleich mit der Liebe als sekundäre Phänomene. Es ist die Liebe, die schöpferisch ist, um sich zu vervollkommnen; die Vernunft folgt ihrem Schritt, um den zurückgelegten Weg zu prüfen, Gesetzlichkeiten und Analogien festzustellen, um schließlich die Einheit in der Vielfalt der Erscheinungen erklären zu können. Rumi vergleicht die Liebe mit der Sprache, die zuerst gesprochen wird, bevor die Grammatik geschrieben wird. Eine Blume blüht, bevor der Naturwissenschaftler ihre Form, Farbe und Duft beschreibt. D. h. das vernünftige Denken im Menschen kommt immer nach der schöpferischen Liebe.« 349

Das heißt allerdings nicht, dass die Erkenntnis vernachlässigt wird, denn Liebe ohne Erkenntnis ist unmöglich, »man kann nur lieben, was man kennt«, betont schon vorher al-Ghazali. Seit dem zwölften Jahrhundert hatte sich eine Annäherung zwischen den gemäßigten Sufis und den Vertretern des orthodoxen Islams vollzogen, die teilweise auf Kosten der Philosophie ging. Daran nahm vor allem al-Ghazali maßgeblich teil, indem er sich gegen die Philosophen wandte und den Weg für den Anschluss des Sufismus an den sunnitischen Islam ebnete. Anscheinend war es für ihn leichter, die Sufimystik in den allgemeinen Strom des traditionellen Islam zu integrieren. Von diesem Zeitpunkt an schritten sie einen gemeinsamen Weg und ergänzten sich gegenseitig. Dieser Modus vivendi ermöglichte auch die Entfaltung einiger Strömungen der Mystik, die in der Illuminationsphilosophie (al-Ishrāq) und in der Theosophie zur vollen Blüte kamen. Das schloss aber nicht aus, dass die Verfechter eines radikalen Kurses unter den Sufis weiterhin verfolgt wurden.

Andrew Harvey & Eryk Hanut, Der Duft der Wüste, a. a. O., S. 89. Ashraf Sheikhalaslamzadeh, Philosophie der Liebe bei Jalal ad-Din Rumi, in: Polylog Nr. 18, 2007, S. 75. 348 349

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Die Schule der Illumination (Ishrāq) von Suhrawardi

Dies lässt sich gerade am Beispiel von Shihabaddin al-Suhrawardi, dem Gründer der Illuminationsphilosophie, am besten illustrieren.

6.1. Die Schule der Illumination (Ishrāq) von Suhrawardi Zweifellos gehört Schihab ad-Din as-Suhrawardi (1154–1191), mit dem Beinamen al-Maqtul, d. h. der Märtyrer, zu den Gründern der Ishrāq-Schule, die eine Philosophie der ›Erleuchtung‹ bzw. der Illumination in der Tradition von Ibn Sina entwickelte und für lange Zeit in einigen Ländern des Osten, besonders im Iran, fortlebte und wirkte. Diese Philosophie setzt sich deutlich vom Rationalismus der Peripatetiker ab, d. h. von jenem diskursiven Denken, das sich wesentlich auf logisch nachvollziehbare kausale Zusammenhängen stützt und versucht, andere Elemente der Erkenntnis in ihre Lehre mit einzubeziehen. Dabei werden ebenso hermetische, pythagoreische und platonische Strömungen wie auch altpersische Vorstellungen des Zarathustra-Kultes sowie mystische Ansätze miteinander vermischt und in ein theoretisches System eingebaut. Dazu spielen Intuition (hads) und Imagination als schöpferische Kraft bei diesem Vorgang eine entscheidende Rolle. 350 Vor allem rückt der Begriff des Ishrāq bzw. der ›Illumination‹ in den Vordergrund und bestimmt weitgehend die ganze theosophische Tradition, die später vom 13. bis zum 17. Jahrhundert im Iran fortbestand und den Namen der ›Illuminationsphilosophie‹ oder Hikmat al-Ishrāq trug. Geboren wurde Suhrawardi im Jahr 1154 im Dorf Suhraward in der persischen Provinz Zanjan im Nordwesten Irans. Als Kind kam er offenbar sehr früh mit dem esoterischen Wissen seiner Heimat in Berührung. Er studierte dann Theologie und Philosophie in Maragha (heutiges Aserbaidschan) bei dem berühmten Gelehrten Majd ad-Din al-Jili und in Isfahan, dem damaligen kulturellen Zentrum Persiens, bevor er nach Bagdad wechselte und dort eine gewisse Zeit verweilte. Anschließend wanderte er durch mehrere Länder in der Region, zuerst durch Persien und dann durch Anatolien und Nordsyrien. Zu dieser Zeit wandte er sich dem Sufismus zu und lernte mehrere Sufimeister kennen, darunter den vorhin genannten Schams ad-Din aus Tabriz und Fakhr ad-Din al-Mardini, der von seiner Intelligenz und

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Annemarie Schimmel, Sufismus, a. a. O., S. 37.

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Begabung fasziniert war, ihm jedoch wegen seiner schroffen Umgangsformen kritisch gegenüber stand. Im Jahre 1183 kam Suhrawardi nach Aleppo und gelangte an den Hof des jungen Gouverneurs al-Malik al-Zahir, Sohn des über Syrien, Palästina und Ägypten herrschenden Sultans Salah ad-Din (Saladin), wo er eine privilegierte Stellung als Lehrer und Berater genoss. In dieser Zeit entstanden auch seine wichtigsten Werke, die nach der Ansicht von Ulrich Rudolph in zwei Gattungen aufgeteilt werden können: – »Systematische Texte, wie Die Andeutungen, Die Philosophie der Erleuchtung und Die Tempel des Lichts, die in der Regel auf Arabisch verfasst wurden; und – Allegorische Schriften wie Das Pfeifen des Simurgh, Die Sprache der Ameisen und Der rote Intellekt, bei denen er sich der persischen Sprache bedient.« 351 Der Erfolg am Hof war jedoch für Suhrawardi nur von sehr kurzer Dauer, denn er wurde seitens der sunnitischen Orthodoxie der Ketzerei beschuldigt und auf Befehl des Sultans Saladin inhaftiert, dann 1191 zum Tode verurteilt und hingerichtet, weshalb er den Beinamen al-Maqtûl, d. h. der Märtyrer, erhielt. Über die genaueren Hintergründe seines Todes wurde seit dem Mittelalter viel spekuliert und es wurden mehrere Gründe angegeben, angefangen bei seiner Nähe zur Gemeinde der Ismaeliten, die damals vehement bekämpft wurde, über den vermuteten schlechten Einfluss Suhrawardis auf den Sohn Saladins Malik al-Zahir bis hin zu Neid und Missgunst unter den Gelehrten am Hof, die in Konkurrenz zu ihm standen. Auch die Frage nach seiner politischen Haltung dürfte wahrscheinlich eine gewisse Rolle mitgespielt haben. Diese wird inzwischen diskutiert, da Suhrawardi in einigen seiner Texte wie in der Einleitung zu seiner Philosophie der Erleuchtung bereits die Frage stellte, wer berechtigt sei, die politische Führung im islamischen Staat zu übernehmen. Anders als Farabi, der diese Funktion dem Philosophen-König bzw. Propheten zugewiesen hatte, vertrat Suhrawardi die Meinung, dass es mehrere

Ulrich Rudolph, Islamische Philosophie, a. a. O., S. 78; Nicolai Sinai teilt sie eher in drei Gruppen ein, wobei er in die zweite Gruppe eine Reihe von kurzen Traktaten in persischer Sprache einordnet, die ebenfalls erleuchtungsphilosophische Positionen wiedergeben. Siehe: Nicolai Sinai, Kommentar zu: Al-Suhrawardi, Philosophie der Erleuchtung, Hikmat al-Ishrāq, Berlin: Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag 2011, S. 266.

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Die Schule der Illumination (Ishrāq) von Suhrawardi

Typen von Weisen (hukama) gibt, denen die Aufgabe der Staatsleitung zukommen könnte: – »Ein göttlicher Philosoph, der in der göttlichen Weisheit beschlagen ist, dem das diskursive Denken jedoch gänzlich abgeht; – Ein diskursiver Philosoph, dem die göttliche Weisheit gänzlich abgeht; – Ein göttlicher Philosoph, der sowohl in der göttlichen Weisheit als auch im diskursiven Denken beschlagen ist; – Ein göttlicher Philosoph, der in der göttlichen Weisheit beschlagen, aber im diskursiven Denken nur mittelmäßig oder schwach ist; – Ein Philosoph, welcher im diskursiven Denken beschlagen, aber nur mittelmäßig oder schwach in der göttlichen Weisheit ist …« 352 Da aber selten eine Person mit den beiden vollkommenen Eigenschaften zu finden sei, meint Suhrawardi, dass es immer eine Person gäbe, die Einblick in das Göttliche habe und ihre Eingebung von der Transzendenz empfange und somit für die Lenkung der Staatsgewalt auserkoren wäre. Solche Äußerungen könnten möglicherweise als Bekenntnis zum schiitischen Glauben, der vom verborgenen Imam spricht, interpretiert worden sein und ihn in den Verdacht der Zugehörigkeit zur schiitischen Gemeinde der Ismaeliten gebracht haben. Bei näherer Betrachtung scheint aber diese Annahme den Blick in die Tiefe des philosophischen Systems Suhrawardis zu schmälern, da seine Ansicht über die politische Herrschaft eher auf dem Konzept der ›divine governance‹, d. h. der ›göttlichen Herrschaft‹ beruht, deren Wurzel in der altpersischen Tradition liegt. Diese geht nämlich davon aus, dass Könige von einem göttlichen Licht erleuchtet werden, welches ihnen Heilkräfte und die Fähigkeit zu regieren verleiht. Suhrawardi erweitert allerdings diese Konzeption, so dass jede Person aufgrund ihres Wissens dieses göttliche Licht mit der Fähigkeit zu regieren erhält, denn, wie es deutlich aus seiner Einleitung zur Philosophie der Erleuchtung hervorgeht, »die Welt ist niemals ohne jemanden, der in der göttlichen Weisheit beschlagen ist« 353, was ein Bekenntnis zu einer offenen Offenbarung impliziert. 352 Shihab ad-Din Al-Suhrawardi, Philosophie der Erleuchtung Hikmat al-Ishraq, aus dem Arabischen übersetzt und herausgegeben von Nikolai Sinai, Insel Verlag, Berlin 2011, S. 11. 353 Ebd., S. 12; vgl. hierzu: Zia, Hossein, The Source and Nature of Authority. In: The

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6. Von der rationalen Mystik zur Theosophie

Außerdem stellt er im vorhin genannten Werk die Frage, wie die Menschen überhaupt zu einer gesicherten Erkenntnis gelangen können und welchen Weg sie dafür einschlagen sollen. Diese Problematik bildet im Grunde den Kern seiner Erkenntnistheorie bzw. Theosophie; sie zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamten Schriften und führt zu einer umfassenden Lichtmetaphysik. Anders als seine Vorgänger setzt Suhrawardi hier auf »mystische Erfahrung« (dhauq) und »göttliche Eingebungen« (Munazalat) statt auf »diskursive Erkenntnis«. Im ersten Teil seines Buches Philosophie der Erleuchtung versucht er die von den Peripatetikern überlieferte Methode zu dekonstruieren, um auf ihre Unzulänglichkeit hinzuweisen. Danach baut er eine eigene Grundlage für seine Lehre auf. So gleicht bei ihm die Erkenntnis dem Licht, das dem Menschen aus einer höheren Sphäre zuströmt und ihn durchflutet, wie das Licht der Sonne auf den Kosmos. Ausgehend von dieser Definition des Lichts konstruiert nun Suhrawardi im zweiten Teil seiner Abhandlung zur Philosophie der Erleuchtung eine Ontologie des Lichts, in der er alles Seiende auf vier Stufen zurückführt und wobei der Inhalt jeder Stufe je nach seiner Wesenheit oder seinem Zustand bestimmt wird. Es sind: – das »reine Licht«, das wesensmäßig Licht ist und keinen Zustand von etwas anderem ist. Es ist das immaterielle Licht oder Licht der Lichter; – das »akzidentelle Licht«, das zwar wesensmäßig Licht ist, aber Zustände von etwas anderem darstellt. – die »finstere Substanz« oder »Schranke«, die wesensmäßig kein Licht ist. Hier handelt es sich um materielle Körper wie Tische oder Bäume, die sowohl akzidentelle Lichter als auch »dunkle Zustände« innehaben können; – der »dunkle Zustand«, der das Seiende mit der Abwesenheit von Licht charakterisiert und den Zustand von etwas anderem darstellt. Diesem Zustand fehlt die lichthafte Eigenschaft materieller Körper, wie etwa Farbe, die ihn durch einen sie »erleuchtenden Faktor« wie die Sonne sichtbar macht. 354

Political Aspects of Islamic Philosophy. Essays in Honor of Muhsin S. Mahdi, edited by Charles E. Butterworth. Cambridge, Massachusetts 1992, S. 304–344. 354 Shihab al-Din al-Suhrawardi, Philosophie der Erleuchtung. Hikmat al-Ishraq, a. a. O., S. 110.

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Die Schule der Illumination (Ishrāq) von Suhrawardi

Die Abstufungen des Lichtes, aus denen alle seienden Dinge bestehen, werden hier als Archetypen bezeichnet, denen jeweils eine bestimmte Spezies materieller Dinge – etwa Menschen, Pferde oder Bäume – unterstehen und auf die sie kausal einwirken. Es ist nach der Aussage von Nikolai Sinai »diese äußerliche Einwirkung eines immateriellen Lichts, die garantiert, dass Dinge ein und derselben Spezies dieselben Wesensmerkmale und kausalen Dispositionen aufweisen: Menschen sind vernunftbegabt, Pferde haben vier Beine usw.« 355 Dadurch unterscheiden sich diese Archetypen von den platonischen Ideen und erinnern eher an Engelwesen des Zarathustrakultes. Gestützt sowohl auf die altpersische Tradition, die von einem Dualismus von Licht und Schatten ausgeht, als auch auf den Vers im Koran »Gott ist das Licht der Himmel und der Erde« (Sure 24.35), erfasst Suhrawardi die Existenz gleich als Licht, dem der Mensch durch seine Erkenntnis näher zu kommen sucht. Dabei ist Erkenntnis keineswegs im epistemologischen Sinne gemeint, d. h. als Bestimmung eines Gegenstandes, der aufgrund seiner Merkmale in ein festgelegtes Ordnungsschema eingegliedert und definiert wird, sondern sie ist vielmehr ein Akt, in dem dieser Gegenstand in seiner Einmaligkeit erfasst und präsent gemacht wird. Das Erkennen vollzieht sich also unmittelbar und intuitiv wie ein Lichtblitz bzw. wie ein Akt der Erleuchtung. Allerdings geschieht dies nicht so einfach; es bedarf einer großen Anstrengung seitens des Menschen, damit er diesem Zustand näher kommen kann. Nach Annemarie Schimmel liegt die Aufgabe des Menschen darin, »das existentielle Licht zu erkennen und sich ihm anzunähern, und je stärker er sich von den Dunkelheiten des eigenen Ich löst und vom Licht durchdrungen wird, desto näher kommt er dem Göttlichen« 356. Bei seiner Darlegung der Philosophie der Erleuchtung greift Suhrawardi nicht nur auf die oben genannten Quellen zurück, er bedient sich auch mancher Allegorien und Parabeln Ibn Sinas, wie der Epistel über den Vogel, und al-Ghazalis Erläuterung der Lichternische (Mischkat al-Anwar), die in Anspielung auf Sure 24.35 die Grundsteine für eine Theosophie des Lichtes liefert. Suhrawardi bezieht sich darauf in seiner Erzählung vom westlichen Exil (Qissat al-Ghurba algharbia), um die Reise der Seele aus ihrem »westlichen Exil« zu ihrer 355 356

Ebd., S. 289. Annemarie Schimmel, Sufismus, a. a. O., S. 37.

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Lichtheimat im Osten darzustellen. Demnach befindet sich die Seele in einem dunklen Brunnen im Westen und hat ihre Lichtheimat vergessen. Doch als sie davon erfährt, versucht sie sich zu befreien und sich auf den Weg zu ihrer Heimat im Osten zu machen. Diese Parabel, die das Erkenntnisproblem in allegorischer Form darstellt, soll deuten, wie der orientalische Gnostiker aus der Fremdheit, in der er sich befindet, zu sich selbst zurückkehrt und sich heimisch fühlt. Er kann aber dieses Ziel nur durch eine umfassende philosophische Erkenntnis und eine spirituelle Erfahrung erreichen. Die Geschichte erinnert ebenfalls an Platons Höhlengleichnis, bei dem der Mensch in einer Höhle gefangen gehalten wird und nur die Schatten der Dinge sieht und für wahr hält, bis er ans Licht gelangt und die Dinge wahrhaftig sieht. In Die Gestalten des Lichts (Hayakil al-Nur) 357 erläutert Suhrawardi noch einmal die verschiedenen Stufen der Erleuchtung. Er unterscheidet vier Ebenen, die von oben nach unten fließen: – Die Welt der puren Intelligenzen oder Welt des Jabarūt als höchster Bereich des Göttlichen; – die Welt der Lichter, die sowohl die himmlischen als auch die menschlichen Seelen beherrscht; dies ist die Welt des Malakut; – die Welt des Barzach in seiner doppelten Eigenschaft als Bereich der himmlischen Sphären und der sublunaren Elemente; sie ist die Welt des Molk; und schließlich – die Welt der Formen und Ideen, auch ›ideale Welt‹ genannt oder ’Alam al-mithal, die eine Zwischenstufe zwischen der intelligiblen Welt des puren Lichts und der konkreten Welt darstellt. Diese wird hauptsächlich durch die Einbildungskraft bzw. ›Imagination‹ vertreten. 358 Nach Henri Corbin übernimmt gerade diese letzte Stufe die Funktion der Vermittlung zwischen dem lichthaften Sein und der irdischen Welt. Man merkt also, wie die Tendenz bei Suhrawardi dahin geht, mehrere Elemente ins eigene System aufzunehmen und miteinander zu kombinieren. Vor allem überwiegt der neuplatonische Einfluss, der über die Emanationslehre von al-Farabi und Ibn Sina die Lichtmetaphysik stark prägt. Insofern bestehen Parallelen zwischen der Einstufung des Lichts bei Suhrawardi und der Kosmologie von Ibn Shihab ad-Din al-Suhrawardi, Die Gestalt des Lichts, hrsg. von Peter Finckh, Zürich: Edition Shershir 2013. 358 Henri Corbin, Histoire de la philosophie islamique, a. a. O., S. 296. 357

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Die Lehre von der ›Einheit des Seins‹ bei Ibn ’Arabi

Sina, wobei die Hierarchie der Emanation des Lichts beim Philosophen der Erleuchtung anders abläuft als bei dem Peripatetiker, denn die Sphäre des Mondes stellt hier nicht mehr die Grenze zwischen der Welt der Intelligenzen und der materialisierten Welt dar, sondern an ihre Stelle tritt nun die Sphäre der Fixsterne als Grenze und bildet den »Schatten der intellektuellen Ordnung«, der gleichbedeutend mit dem »intellectus agens« bei den Peripatetikern ist. 359 Zusammenfassend kann man sagen, dass Suhrawardi mit seiner Philosophie der Erleuchtung oder Hikmat al-Ishrāq den Weg für eine neue Orientierung der arabisch-islamischen Philosophie bereitet hat, der von der peripatetischen zu einer theosophischen, auf Mystik und Gnosis basierenden Richtung führt. Seine Lehre der Illumination verkündet nämlich, dass die Wahrheit nicht allein durch eine diskursive Erkenntnismethode erzielt werden kann, sondern vielmehr mittels intuitiven Wissens, welches durch innere Erfahrung erstrebt und erlangt wird. Somit dürfte er als der erste Meister der theosophischen Mystiker bezeichnet werden, »die ihre Lehren auch dem nicht philosophisch vorgebildeten Muslim zugänglich machten – eine Kunst, die sich in Derwischkreisen immer weiter entwickelte und sich in der persischen dichterischen Tradition besonders schön zeigt« 360. Seine Gedanken werden später von anderen Denkern aufgenommen und ergänzt, vor allem von Ibn ’Arabi und Mulla Sadra.

6.2. Die Lehre von der ›Einheit des Seins‹ bei Ibn ’Arabi Man nennt ihn den ›Größten Meister‹ (al Schaikh al-akbar) unter den Sufianhängern und den ›Prediger religiöser Toleranz‹, aber auch den ›Spinoza des Islam‹ 361 in der arabisch-islamischen Geistesgeschichte, da er vor Spinoza, dem Verfechter des ›Seinsmonismus‹ in der Neuzeit, bereits die These von der »Einheit des Seins« (wahdat al-wudjûd) in seinem monumentalen Werk Die Mekkanischen Offenbarungen (al-Futûhât al-Makkiyya) vertreten hat. Die Rede hier ist von Muhyi ad-Din ibn ’Arabi (1165–1240), dem bedeutenden Sufidenker, der in seiner Person wie in seinem Werk »das geistige Erbe des islamischen Ostens und des islamischen Westens miteinander 359 360 361

Ebd., S. 294. Annemarie Schimmel, Sufismus, a. a. O., S. 38. W. G. Lerch, Denker des Propheten, a. a. O., S. 106.

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6. Von der rationalen Mystik zur Theosophie

verbunden« 362 hat und somit eine interkulturelle Symbiose verwirklichte. Ibn ’Arabi stammt aus einer berühmten arabischen Familie in Andalusien, die durch ihre Frömmigkeit, aber auch durch ihre Offenheit für Kultur und Wissen bekannt war. Geboren wurde er 1165 in der Stadt Murcia in Andalusien und er soll als Kind eine außerordentliche geistige Fähigkeit bewiesen haben. Mit zehn Jahren hatte er den Koran und die Hadithe auswendig gelernt und konnte sich dann sehr früh das grundlegende Wissen aneignen. Anschließend befasste er sich weitgehend mit den religiösen und den Rechtswissenschaften. Dazu kam er in Berührung mit den Lehren der Vorsokratiker, wie Empedokles und Pythagoras, sowie mit den Schriften Platons und der Neuplatoniker, womit er seine philosophischen Kenntnisse erweiterte. Ihm gelang es auch mit fünfzehn Jahren, Ibn Ruschd zu treffen und mit ihm ein kurzes Gespräch zu führen. Zwischen 1193 und 1197 unternahm Ibn ’Arabi einige Reisen nach Nordafrika, die ihn bis nach Tunis führten und während derer er gewisse spirituelle Erlebnisse gehabt haben soll, die ihn stärker zum Sufismus bewegten. Aufgrund der dort andauernden Unruhen kehrte er aber nach Andalusien zurück und verweilte in Granada, wo er die Sufischule von Almeria besuchte, die vom Mystiker Ibn al’Arif gegründet wurde. 363 Die Begegnung mit verschiedenen Gelehrten und Sufis aus dieser Schule hinterließ bei Ibn ’Arabi einen tiefen Eindruck und gab ihm einen weiteren Einblick in die Mystik. Im Jahre 1201 reiste er dann in den Osten der islamischen Welt und besuchte Alexandria und Kairo, bevor er sich in Mekka aufhielt, wo er »beim Umkreisen der Kaaba mit einer gewaltigen Vision begnadet wurde, deren Inhalt er in den folgenden Jahren in seinem Hauptwerk Die Mekkanischen Offenbarungen (Al-Futuhat al-makkiyya)« 364 präsentierte. Dort kam er ebenfalls in Kontakt mit den wichtigsten Meistern des Sufismus und begegnete einer jungen und sehr gebildeten Frau aus Persien, die ihn zu seiner Liebeslyrik inspirierte. Ihr widmete er später seine erste Gedichtsammlung mit dem Titel Dolmetsch der Sehnsüchte (Turdschuman al-Ashwâq), die nicht nur die irdische 362 Fateme Ramahi, Der Mensch als Spiegelbild Gottes in der Mystik Ibn ’Arabis, Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2007, S. 1. 363 Auf die Rolle der Schule von Almeria bei der Entfaltung theosophischer Doktrin geht Henri Corbin in seiner Histoire de la philosophie islamique, Paris: Gallimard 1964, S. 311 ausführlich ein. 364 Annemarie Schimmel, Sufismus, a. a. O., S. 39.

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Die Lehre von der ›Einheit des Seins‹ bei Ibn ’Arabi

Liebe besingt, sondern auch Gottesliebe metaphorisch zu deuten versucht. Diese Methode wurde später von den Sufis öfter benutzt, um ihre spirituellen Erfahrungen symbolhaft zu artikulieren. In den darauf folgenden Jahren setzte Ibn ’Arabi seine Reisen fort; sie führten ihn diesmal nach Damaskus, Bagdad und Konya, wo er die Witwe seines verstorbenen Freundes Majd al-Din al-Qunawi heiratete, deren Sohn Sadr ad-Din al-Qunawi 365 später zum großen Interpreten seiner Mystik wurde und einen Kreis von Sufianhängern um sich scharte; dann kehrte Ibn ’Arabi wieder nach Mekka zurück, wurde aber dort von den Anfeindungen orthodoxer Gelehrter überrascht. Daraufhin wanderte er nach Aleppo und ließ sich zuletzt in Damaskus nieder, wo er den Rest seines Lebens verbrachte. Dort lehrte er und schrieb weiter an seinen Werken, bis er im Jahre 1240 starb; am Fuß des Berges Kasioun wurde er beigesetzt, wo sein Grab bis heute als Pilgerstätte besucht wird. Ibn ’Arabi hinterließ ein umfangreiches Werk, das über vierhundert Schriften umfasste, 366 darunter Dolmetsch der Sehnsucht (Turdschuman al Ashwaq), Die Ringsteine der Weisheitsworte (Fusūs alHikam) und das mehrbändige Buch Die Mekkanischen Offenbarungen (al-Futûhât al-makkiyya), das seine theosophische Grundlehre veranschaulicht. Diese Lehre kreist wesentlich um die »Einheit des Seins bzw. der Existenz« (Wahdat al-Wudjûd), die »eine unaufhebbare Verbindung zwischen dem Sein Gottes und seiner Schöpfung annimmt« 367, da diese nichts anderes sei als die dynamische Manifestation bzw. Entäußerung (tajalli) des Seins in der Welt. 368 Ausgehend von einem göttlichen Ausspruch (hadith qudusi), der vom Propheten überliefert wurde und besagt: »Ich war ein verborgener Schatz und sehnte mich danach, erkannt zu werden; so er365 Sadr ad-Din spielte nach der Aussage von Fateme Ramahi »eine wichtige Rolle zur Verbreitung bzw. zum Verständnis von Ibn ’Arabis Mystik. Er war die Brücke zwischen Ibn ’Arabi und der iranischen Mystik, vor allem Jalal ad-Din Rumi«. Siehe: Fateme Ramahi, Der Mensch als Spiegelbild Gottes in der Mystik Ibn ’Arabis, a. a. O., S. 14. 366 Eine ganze Reihe von diesen Schriften, darunter: Abhandlung über die Liebe, Reise zum Herrn der Macht, Der verborgene Schatz, Die Weisheit der Propheten, ist in den letzten Jahren von Chalice Verlag Zürich veröffentlicht worden. 367 Geert Hendrich, Arabisch-islamische Philosophie, Geschichte und Gegenwart, a. a. O., S. 129. 368 Über den Begriff Tajalli, der »Manifestation« bzw. »Kundgebung« und »Entäußerung« bedeutet, siehe: Fateme Rahmati, Der Mensch als Spiegelbild Gottes in der Mystik Ibn ’Arabis, a. a. O., S. 19 ff.

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schuf ich die Schöpfung und gab mich den Geschöpfen zu erkennen, so dass sie mich erkannten« 369, entwickelt Ibn ’Arabi sein System von der ›Einheit des Seins‹ und ihrer Enthüllung in der ›Vielheit der Seienden‹, die ihrerseits die göttlichen Attribute oder Namen Gottes darstellen. Demnach existieren die seienden Dinge in ihrer Einheit durch Gott. Dieser »wünschte seine Selbstmanifestation in die Welt der sichtbaren Dinge hinein. So rief er die ›Schöpfung‹ durch seinen göttlichen Befehl (amr) ins Dasein, der sich zu ihm verhält ›wie der Spiegel zum Bild, der Schatten zur Gestalt und die Zahl zur Einheit‹.« 370 Diese Konzeption hat der bedeutende Erforscher des Werkes Ibn ’Arabis und Herausgeber seiner Schrift Ringsteine der Weisheitsworte, Abul ’Ala ’Affifi, treffend formuliert, als er schrieb: »Wir selbst sind die Attribute, mit denen wir Gott beschreiben; unsere Existenz ist geradezu eine Vergegenständlichung seiner Existenz. Gott ist für uns notwendig, damit wir existieren können, während wir für ihn notwendig sind, damit er Sich Selbst manifestiert. Ich gebe ihm auch Leben, indem ich Ihn in meinem Herzen kenne.« 371

Aus dieser Aussage geht deutlich hervor, was für ein Bund zwischen Gott und dem Menschen besteht. Gott ist das notwendige Sein, dessen Existenz als unabdingbar für das Entstehen aller kontingenten Seienden, die sich in der Welt manifestieren, sei, besonders für den Menschen als dessen Spiegelbild. Seine Notwendigkeit ist also die Voraussetzung für alle möglichen Seienden, die seine Attribute zum Ausdruck bringen und vergegenständlichen. Diese These erinnert sehr an die Auffassung Ibn Sinas, wonach Gott das notwendige Sein sei (Wajib al-Wujud), worauf sich die übrigen kontingenten Seienden beziehen, damit sie aus iher bloßen Möglichkeit zur Wirklichkeit übergehen. Doch für Ibn ’Arabi gibt es keine Dualität zwischen dem Notwendigen und dem Kontingenten, weil beide eine Einheit bilden, in der Wesen und Existenz zwei Seiten derselben Medaille sind und in einer Abhängigkeit zueinander stehen. Dennoch darf der Unterschied zwischen dem absoluten Sein Gottes und der relativen Existenz der Seienden nicht außer Acht gelassen werden. Hier gilt das Universum mit seiner Vielfalt an SeienIbn ’Arabi, Al-Futuhat al-makkiyya, Kairo (o. J.), Bd. II, 399, 27, zitiert nach Fateme Rahmani, Der Mensch als Spiegel Gottes in der Mystik Ibn ’Arabis, a. a. O., S. 17. 370 W. Günter Lerch, Denker des Propheten, a. a. O., S. 108. 371 Zitiert nach Annemarie Schimmel, Sufismus, a. a. O., S. 42. 369

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Die Lehre von der ›Einheit des Seins‹ bei Ibn ’Arabi

den nur als Manifestation der göttlichen Transzendenz und als deren Spiegelung, wie etwa der Schatten zur Person. Wie aber lassen sich die Transzendenz Gottes und seine Absolutheit mit der Realität der Welt und deren Immanenz in Einklang bringen? Können Einheit und Vielfalt miteinander vereinbart werden? Es scheint, als ob Ibn ’Arabi durch solche Aussagen in Widerspruch gerät, da er einerseits die ›Einheit des Seins‹ postuliert, andererseits die Vielfältigkeit der Dinge und deren Realität in der Welt zu betonen versucht. Entfaltet er nicht eine pantheistische Sufilehre, in der Gott und die Welt gleichgesetzt wären, wie manche Forscher annehmen? 372 In der Tat fällt es zunächst schwer, solche scheinbar gegensätzlichen Aussagen zu verstehen, geschweige denn sie zu entkräften. Aber Ibn ’Arabi vertritt keineswegs einen pantheistischen Standpunkt, in dem die Transzendenz Gottes gänzlich in die Welt aufgehoben wird, denn diese Transzendenz bleibt in der Manifestationsform Gottes in der Welt gewahrt, weil »Gott sich nicht durch sein Wesen, sondern durch seine Namen und Attribute manifestiert, so dass zwischen Gott und der Schöpfung keine Wesensidentität besteht.« 373 Hier führt Ibn ’Arabi in Analogie zu diesem Verhältnis einen Vergleich zwischen der materia prima und der Vielfalt der Formen der Dinge in der Welt an: »Ebenso verhält es sich mit der materia prima ’al-hayula’, die, obwohl sie Bestandteil der Definition einer jeden Erscheinungsform ist, und trotz der Vielheit und Unterschiedlichkeit der Erscheinungsformen der Wirklichkeit, auf eine einzige Substanz zurückgeht, nämlich auf ihre Materie.« 374

Es stellt sich jedoch die Frage, wie dieser Prozess der Manifestation (tajallī) vonstatten geht und was sein eigentlicher Antrieb ist. Nach Ibn ’Arabi ist die Welt ein aus der Liebe hervorgegangener Akt Gottes, der eben in seiner Vereinzelung nach dem vorhin genannten göttlichen Ausspruch »sich selbst für und in sich selbst liebte sowie erkannt und manifestiert werden wollte« und den Entschluss fasste,

Diese Annahme vertreten H. S. Nyberg, Kleinere Schriften des Ibn ’Arabi, Leiden 1919, und Abul ’Ala’ ’Affifi, The Mystical Philosophy of Muhyi Din Ibn ’Arabi, Cambridge 1974, S. 54 ff. 373 Fateme Rahmati, Der Mensch als Spiegelbild Gottes in der Mystik Ibn ’Arabis, a. a. O., S. 28. 374 Ibn ’Arabi, Fusūs al-Hikam (Ringsteine der Weisheitsworte), Teheran 1991, S. 124. Zitiert nach Rahmati, a. a. O., S. 29. 372

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sein eigenes Wesen in einem allumfassenden Wesen der Welt sichtbar zu machen, denn »Bewegungsdrang ist immer Liebe, mag auch der Beobachter von dem Auftreten nachrangiger Ursachen verwirrt sein. […] Nun ist aber die Bewegung, die das Dasein der Welt selbst darstellt, eine Bewegung der Liebe. […] Gäbe es diese Göttliche Liebe nicht, wäre die Welt nicht geschaffen worden. Die Bewegung der Welt aus dem Nicht-Sein zum Sein ist also die Bewegung sich offenbarender Liebe.« 375

Die Liebe wird also zur wirkenden Kraft des Entstehungsprozesses der Welt und seiner Erscheinungsweisen, die selber Manifestationen göttlichen Seins sind. Damit schafft Ibn ’Arabi eine Kosmologie, die sich von der aristotelischen und neuplatonischen Tradition der arabisch-islamischen Philosophen absetzt und eher an Suhrawardis Konzeption erinnert. 376 Während Suhrawardi vom Licht als Quelle des Seins und der Emanation aller ausströmenden Dinge ausgeht, macht Ibn ’Arabi die Liebe zur Triebkraft schöpferischer Bewegung. Dabei kommt dem Menschen die beste Form der Verwirklichung durch die Liebe zu, weil er selber als erkennendes Wesen Grund für die Erschaffung der Welt und Ziel ihrer Erkenntnis ist, denn er ist derjenige, der alle Namen Gottes in sich trägt und nach Vollkommenheit strebt, indem er sich auf den Weg der Erkenntnis und der Liebe Gottes begibt. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn Ibn ’Arabi diese Liebe zu seinem Glauben und seiner Religion erklärt und sie lyrisch besingt, wie im folgenden Gedicht: »Mein Herz hat gelernt, jede Gestalt anzunehmen: Es ist eine Weide für Gazellen, Ein Kloster für christliche Mönche, und auch ein Götzentempel Und die Ka’aba der Pilger Und die Tafeln der Thora Und das Heilige Buch des Korans. Ich folge der Religion der Liebe: Welchen Weg auch das Kamel der Liebe nehmen mag, Es ist meine Religion und mein Glaube.« 377 375 Ibn ’Arabi, Fusūs al-Hikam (Ringsteine der Weisheitsworte), hrsg. von A. Affifi, Teheran 1991, S. 203; zitiert nach Fateme Ramahi, Der Mensch als Spiegelbild Gottes in der Mystik Ibn ’Arabis, a. a. O., S. 18. 376 Siehe dazu: Annemarie Schimmel, Sufismus, a. a. O., S. 43. 377 Ibn ’Arabi, Dolmetsch der Sehnsucht (Turdschuman al Aschwaq), zitiert nach

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Die Lehre von der ›Einheit des Seins‹ bei Ibn ’Arabi

Ausgehend von diesem Prinzip der Liebe, welches der ›Einheit des Seins‹ eine Dynamik verleiht, entfaltet Ibn ’Arabi seine Lehre vom vollkommenen Menschen (al-Insān al-kāmil), den er am Beispiel des Propheten Muhammad darstellt. Demnach kann der Mensch, der nach dem Bild Gottes geschaffen und mit all seinen Namen vertraut ist, umso vollkommener werden, je mehr er sich durch sein Wissen und seine Liebe Gott nähert. Er nimmt, wie in Ringsteine der Weisheitsworte (Fusūs al-Hikam) erklärt wird, »für Gott die Stelle ein, die die Pupille für das Auge hat, durch die das Schauen zustande kommt, und das ist es, was man mit dem Ausdruck ›Sehen‹ bezeichnet. Deshalb heißt dieses Wesen ›Mensch‹, weil durch ihn Gott auf seine Geschöpfe schaut und sich ihrer erbarmt.« 378 Insofern ist der Mensch ein Bindeglied zwischen Gott und der Welt; er trägt in sich etwas von der »göttlichen Natur« (lahut) wie auch von der »irdischen Natur« (nasut) und bildet somit eine Art Mikrokosmos innerhalb des Makrokosmos. Ohne sich in die Einzelheiten der Lehre vom vollkommenen Menschen bei Ibn ’Arabi weiter zu vertiefen, die bereits von Fateme Ramahi in ihrer Arbeit Der Mensch als Spiegelbild Gottes in der Mystik Ibn ’Arabis 379 ausführlich behandelt wurde, kann man abschließend sagen, dass der Denker der ›Einheit des Seins‹ einen neuen Horizont in der Konzeption des Seins erschlossen hat. Er bietet ein dreidimensionales Bild vom Sein, indem er eine Analogie zwischen dem Menschen und der Welt genauso wie zwischen dem Menschen und Gott schafft, bei der sich die drei Elemente in einer Einheit befinden und sich durch Liebe gegenseitig bedingen. Die besondere Stellung des Menschen in diesem Modell zeigt, dass der anthropologische Ansatz in der Mystik von Ibn ’Arabi nicht bloß einer unter vielen Aspekten, sondern das eigentliche Grundmotiv seiner Theosophie überhaupt ist. Dieses »durchzieht wie ein roter Faden sein gesamtes Werk. […] Denn für ihn ist Gott unmittelbar Anfang und Ende, Ziel und Grund alles Seienden, so dass Begriffe wie ›Welt‹ und ›Mensch‹ keine nackten, bedingungslosen und eigenständigen Termini sein können. Vielmehr ist der Mensch bei Ibn ’Arabi Andrew Harvey & Eryk Hanut (Hrsg.), Der Duft der Wüste, Weisheiten aus der Tradition der Sufis, Freiamt im Schwarzwald: Arbor Verlag 2003, S. 103. 378 Ibn ’Arabi, Ringsteine der Weisheitsworte (Fusūs al hikam), übers. von Hans Kofler, Graz 1971, S. 11. 379 Fateme Ramahi, Der Mensch als Spiegelbild Gottes in der Mystik Ibn ’Arabīs, a. a. O. S. 82 ff.

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6. Von der rationalen Mystik zur Theosophie

ein Gott-suchendes und Gott-erkennendes Wesen. […] Sein besonderer Rang kommt dem Menschen erst dann zu, wenn er ein vollkommenes Abbild der göttlichen Namen und Attribute geworden ist. Dies zu erreichen ist die ursprüngliche Bestimmung, zu der Gott den Menschen erschaffen hat.« 380

6.3. Das Fortleben der Theosophie bei Mulla Sadra In Anschluss an Ibn ’Arabi, aber auch anknüpfend an Ibn Sina und Suhrawardi, hat Sadr ad-Din al-Shirazi (1572–1641), bekannt als Mulla Sadra, zu Beginn des 17. Jahrhunderts ebenfalls den Weg der intuitiven Erkenntnis eingeschlagen und somit der Philosophie der Illumination bzw. der Erleuchtung oder Ishrāq einen weiteren Schwung gegeben. Dieser führende Denker, der als einer der größten Philosophen des modernen Persiens gilt, tat diesen Schritt jedoch ohne auf die diskursive Methode des Wissens zu verzichten. Damit schuf er eine »Synthese aus mystisch-gnostischer Schau und Rationalismus« 381. Geboren wurde Mulla Sadra im Jahre 1572 in Shiraz im Südwesten Irans. Diese Stadt war damals neben Isfahan das Zentrum einer eigenständigen Philosophie, deren Vorläufer eine Reihe schiitischer Gelehrter waren. Das Bindeglied zu dieser Philosophie bildeten jedoch persische Sufis, Dichter und Denker wie Abd al-Razzaq Kamal ad-Din al-Kashani (gest. 1335), ein Anhänger der Einheitslehre Ibn ’Arabis, Ibn Abi Djumhur al-Ahsa’i (gest. 1501) und Djalaladdin adDawani (gest. 1502), die vorwiegend die Lehren Ibn Sinas und Suhrawardis mit dem Sufismus verknüpften, sowie Scheich Baha ad-Din al-Ameli (1547–1621) und Mir Mohammad Baqir Asterabadi (gest. 1630), bekannt unter dem Namen Mir Damad. Dieser letzte widmete sich ebenfalls den Schriften von Ibn Sina und nahm an der Entstehung der Schule von Isfahan maßgeblich teil. Seine Lehrtätigkeit, ebenso wie sein umfangreiches Werk, machte ihn berühmt und verlieh ihm den Ehrentitel ›der dritte Lehrer‹ (nach Aristoteles und Farabi). 382 Ebd., S. 1. Wolfgang Günter Lerch, Denker des Propheten, a. a. O., S. 118. 382 Zur Entwicklung und Entfaltung der Theosophie in Persien siehe u. a. Nasr, S. Hussein, Oliver Leaman (Hrsg.), History of Islamic Philosophy, 2 Bde., London – New York, Routledge, 1996 und vor allem die Studien von Henry Corbin, Histoire de 380 381

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Das Fortleben der Theosophie bei Mulla Sadra

Nach einer theologischen Grundausbildung in Shiraz ging Mulla Sadra nach Isfahan, wo er bei Scheich Baha’i und vor allem bei Mir Damad seine wissenschaftlichen und philosophischen Kenntnisse vertiefen konnte. Diese beiden Denker übten einen starken Einfluss auf seinen geistigen Werdegang aus, schärften aber zugleich sein Denken, was später in der kritischen Distanz zu den Ansichten seiner Lehrer bemerkbar wird. Anschließend lehrte er dort an einer theologischen Schule (Madrasa), bis er sich wegen der Anfeindungen seitens der konservativen Kräfte unter den Gelehrten entschloss, Isfahan zu verlassen und sich in der Nähe der Stadt Qom niederzulassen. Dort übte er sich in Askese und Kontemplation, weil er sie als Teil der Philosophieausbildung betrachtete. Auf Bitten des Gouverneurs der Provinz ›Fars‹ kehrte er dann nach Shiraz zurück, wo er weiterhin bis zu seinem Lebensende lehrte. In dieser Zeit unternahm er mehrere Pilgerreisen nach Mekka und starb auf dem Fußmarsch zu seiner siebten Pilgerreise im Jahre 1640 in der Stadt Basra. Mulla Sadra hinterließ ein umfangreiches Werk, das von der Rezeption im Westen kaum erschlossen ist. 383 Er verfasste über vierzig Bücher in Theologie, Wissenschaft und Philosophie, darunter wichtige Kommentare zu Suhrawardis Philosophie der Erleuchtung, Ibn Sinas Buch der Heilung (al-Shifâ) und sogar zur Theologie des Aristoteles. Wesentlich aber waren seine eigenen Schriften, besonders sein Buch Die vier geistigen Reisen der transzendenten Theosophie (Kitāb al-Asfar al-arba’a fil-Hikma al-muta’alia), das den Leser über vier Wege der Erkenntnis zur Weisheit führen sollte, seine Schrift über den Anfang und die Rückkehr zu Gott (Al-Mabda walMa’ad), die Fragen der Eschatologie behandelt und Die göttlichen Illuminationen (al-Shawahid al-rububiyya), die seine Anschauungen zur Theosophie der Erleuchtung verdeutlichen.

la philosophie islamique, 2 Bde., Paris: Gallimard 1964 sowie das vierbändige Werk: En Islam iranien, aspects spirituels et philosophiques, Paris: Gallimard 1971. 383 Bis auf ein Buch von Mulla Sadra, Die smaragdene Vision. Der Licht-Mensch im iranischen Sufismus, übers. von Annemarie Schimmel, München: Eugen Diederich Verlag, 1989, liegen bisher keine Schriften in deutscher Sprache vor. Allerdings gibt es inzwischen eine Reihe von Texten in englischer und französischer Sprache. Mit dem Werk Mulla Sadras haben sich speziell Henry Corbin, En islam iranien. Aspects philosophiques et spirituels, Paris: Gallimard 1971; Fazlur Rahman, The Philosophy of Mulla Sadra, Albany 1975; Nasr, S. Hossein, Sadr al-Din Shirazi and his Transzendent Theosophy. Background, life and works, Teheran 1978 und Sajjad H. Rizvi, Mulla Sadra and Metaphysics. Modulation of being, London / New York 2009 befasst.

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6. Von der rationalen Mystik zur Theosophie

Das Hauptwerk Die vier geistigen Reisen der transzendenten Theosophie besteht aus vier Teilen und beginnt erstens mit der Ontologie bzw. Seinsmetaphysik, gefolgt zweitens von der Physik oder Lehre von den bewegten Substanzen und Akzidenzien. Als dritter Bereich kommt dann die Theologie zum Zuge, d. h. die Lehre von Gott und seinen Attributen, und schließlich folgt viertens die Psychologie oder die Lehre vom Menschen und seiner Bestimmung. Anders als bei seinem Lehrer Mir Damad, der von den Essenzen bzw. Wesenheiten ausgeht, die den Seienden in der Welt eine Existenz verleihen, rückt bei Mulla Sadra das Sein als solches in den Vordergrund. Das Sein erhält bei ihm eine absolute Priorität und stellt die umfassende Realität dar, die auch Gott mit einschließt. 384 Dabei unterscheidet er zwischen dem Sein Gottes und den übrigen Seienden, hält aber an deren Einheit fest. Während Gottes Sein als absolut rein, vollkommen und transzendent gilt, werden die anderen Seienden als unvollendet betrachtet und bedürfen aufgrund ihrer Kontingenz der Einwirkung des transzendenten Seins, das in ihnen auf gewisse Weise weiter wirkt. Dadurch entsteht eine Hierarchie unter den Seienden, an deren Spitze Gott in seiner Absolutheit und Vollkommenheit steht; die anderen Seienden werden in verschiedene Stufen geordnet, je nachdem, wie sie Gott nahe stehen oder sich von ihm entfernen und wie ihr Anteil am Sein ist. Auf der untersten Stufe befinden sich dann die materiellen Dinge der Welt, die am wenigsten Anteil am Sein besitzen. In dieser Seinsontologie wird deutlich, wie Mulla Sadra mehrere geistige Strömungen miteinander verknüpft, angefangen von der ›Einheit des Seins‹ Ibn ’Arabis über die neuplatonische Emanationslehre Farabis und Ibn Sinas bis hin zur Illuminationslehre Suhrawardis. So setzt er wie Ibn ’Arabi das Sein zu Beginn seiner Kosmogonie als Ursprung alles Seienden, dann versucht er in Anlehnung an die Emanationslehre die Existenz der Seienden in der Welt als eine Art Ausströmen aus dem Sein zu erklären, da alles im Zuge der göttlichen Selbstreflexion und ihrer Auswirkung auf die Seienden entsteht. Schließlich wirkt dieser Prozess wie bei der Lichtmetaphysik Suhra-

384 Für Henry Corbin und S. Hossein Nasr gilt Mulla Sadra als der erste moderne Philosoph, der vor Heidegger die Seinsfrage überhaupt stellte und sie zur Grundlage der Metaphysik machte. Siehe: Reza Akbarian / Amelie Neuve-Eglise, From Heidegger to Mulla Sadra. Hermeneutics and the Unique Quest of Being, in: Wisdom and Philosophy (Hekmat va falsafeh), Vol. 4, Nr. 2, August 2008, S. 5–30.

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Das Fortleben der Theosophie bei Mulla Sadra

wardis, in der die seienden Dinge am ›Licht Gottes‹ teilhaben. Entsprechend lassen sich zwei Aspekte feststellen, die nach Ulrich Rudolph unterschiedliche Folgen haben: 385 – Aus Gottes Denken geht ein reines Sein hervor, das ebenso absolut und vollkommen ist wie er selbst. Aber im Unterschied zu ihm kann es in den Dingen wirken und mit ihnen existieren. Mulla Sadra nennt es »das Sein, das sich selbst entfaltet« (alWudjûd al-munbasit). 386 Durch dieses Sein manifestiert sich Gott in den seienden Dingen und legt Zeugnis ab. Hier ist es »mit dem Ewigen ewig«, »mit dem Notwendigen notwendig«, »mit dem Zeitlichen zeitlich« und »mit dem Möglichen möglich«. So hält es seine Verbindung zu dem, was entsteht und vergeht. – Die Selbstreflexion Gottes verweist aber zugleich auf die Vielheit der Dinge in der Welt, die ihrerseits die Attribute Gottes (Sifat Allah) darstellen. Diese erhalten jedoch bei Mulla Sadra eine doppelte Funktion: Sie bilden einerseits die verschiedenen Manifestationen des Göttlichen, wie sie die Tradition versteht. Andererseits konstituieren sie die Formen bzw. die Archetypen der Schöpfung, die zur Existenz der Dinge notwendig sind, wie sie Ibn ’Arabi erfasst und in seiner Folge Mir Damad weiter gedeutet hat. Insofern beteiligen sich sowohl das Sein Gottes als auch seine Attribute am Schöpfungsprozess. Mullah Sadra vergleicht die Vielfalt der Seienden im Verhältnis zur Einheit des Seins mit dem Verhältnis der Sonnenstrahlen zur Sonne selbst. Während das Letztere die Dinge in die Existenz ruft, geben ihnen die Ersteren die entsprechenden Formen bzw. Essenzen oder Wesenheiten. Auf diese Weise erlangt der Kosmos seine Harmonie und seine Ausstrahlung als Spiegelbild Gottes. Diese Konzeption stellt allerdings nicht den gesamten Prozess dar und impliziert folglich nicht den realisierten Zustand des Seins in seiner Vollendung. Ihr fehlt nämlich das Element der Bewegung, das Mulla Sadra zusäzlich einführt, welches jedoch nicht im physikalischen Sinne zu verstehen ist, wie es Aristoteles in den Kategorien des Seins beschreibt. Es handelt sich vielmehr um eine »substantielle 385 Ulrich Rudolph, Islamische Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, a. a. O., S. 103. 386 Mulla Sadra, Die vier geistigen Reisen, zitiert nach Ulrich Rudolph, Islamische Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, a. a. O., S. 103.

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6. Von der rationalen Mystik zur Theosophie

Bewegung« (haraka jawhariya), die das Sein im Inneren bewegt und es von seinem Ursprung (mabda’) bis hin zu seiner Bestimmung (ma’ad) durchzieht. Diese innere Dynamik, die Henry Corbin »die Unruhe des Seins« (l’inquiétude de l’être) nennt, begleitet nach Mulla Sadra das Seiende durchgehend und treibt es geistig voran bis hin zu seiner Vervollkommnung, die es in der Nähe des Absoluten zu verwirklichen trachtet. Für Mulla Sadra lässt sich dieser Vorgang durch die Leib-SeeleRelation am besten veranschaulichen. Demnach entsteht die Seele zusammen mit dem Körper, wird aber im Laufe der Zeit durch die geistige Entfaltung qualitativ reicher und ›spiritueller‹. Ihre Metamorphose läuft über die stetig erworbene Erkenntnis ab und erreicht im Zuge dieser Bewegung die Ebene der menschlichen Form, wonach sie schließlich bis an die Schwelle der geistigen Welt (des Malakut) vordringt. Der Lehrsatz »Die Seele entsteht als Körperliches und verewigt sich als Geistiges« 387 fasst diese Verwandlung am klarsten zusammen. Modern gesehen könnte dies wie ein unabgeschlossener Prozess gedeutet werden, der die Dinge der Welt vom Inneren her verwandelt und sie zu ihrer Zielsetzung bringt. W. G. Lerch erwähnt in diesem Zusammenhang das Beispiel des Zusammentreffens der Eizelle mit dem Sperma, aus dem ein Fötus entsteht, aus dem wiederum ein Kind und schließlich ein Erwachsener in seiner körperlichen und geistigen Reife entsteht. Der Körper wird mit zunehmendem Alter schwächer, hingegen werden der Geist und die Seele stärker, bis sie sterben. 388 Für Mulla Sadra wird allerdings dieser Zeitpunkt keineswegs das Ende sein, hier findet vielmehr der Übergang zur »Welt des Imaginalen« statt, wo sich die Seele über die eigene Erkenntnis auch nach dem Tod dem göttlichen Sein nähert. Dabei handelt sich um eine schöpferische Imagination als Dimension der Einbildungskraft, die »weder durch das Gedächtnis noch durch die Verknüpfung vorangehender Sinneswahrnehmungen zustande kommt. Sie ist bildschaffende Bildlichkeit, eine ursprüngliche Form, in der die Welt sich in uns imaginiert. Sie bewirkt, dass jede Seele die Schöpferin ihres eigenen Paradieses oder ihrer eigenen Hölle ist.« 389 387 Mulla Sadra, Die vier geistigen Reisen, zitiert nach W. G. Lerch, Die Denker des Propheten, a. a. O., S. 148. 388 Ebd. 389 Henry Corbin, Im iranischen Islam. Philosophische und spirituelle Aspekte. Zu-

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Das Fortleben der Theosophie bei Mulla Sadra

Auf diese Weise versucht Mulla Sadra, den traditionellen LeibSeele-Dualismus zu überwinden und seine Vision zu vermitteln: von der Verwandlung der Seele des Menschen bei ihrem Streben nach dem Absoluten und bei ihrer Sehnsucht nach der Trennung vom Leib im Zusammenhang mit der Auferstehung in der Nähe Gottes zu sein. Damit scheint er eine neue Bahn im Bereich erkenntnistheoretischer Prozesse einzuschlagen, die im Rahmen der Psychologie und der Hirnforschung heute große Aktualität erlangt haben.

sammenfassung der Bücher I-VII. Paris: Gallimard 1972. Übers. von Janós Darvas, S. 13.

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7. Geschichte und Erneuerung

Zwar hat die Schule von Isfahan einen beträchtlichen Einfluss in Iran verzeichnen können, aber es gelang ihr nicht, über die Grenze Persiens hinaus ihre Ausstrahlung zu übertragen, und so blieb sie in der übrigen arabisch-islamischen Welt weitgehend unbekannt. Stattdessen setzte sich hier eine starke Auseinandersetzung sowohl mit Logik als auch mit der Sufilehre fort, die vor allem durch die Werke von Ibn ’Arabi breiten Anklang fand. Dazu tauchte später eine neue Disziplin auf, nämlich die der Geschichtswissenschaft, die eine Erneuerung des methodischen Verfahrens bei der Untersuchung historischer Ereignisse nach sich zog und einen grundlegenden Stil im Umgang mit der Historiographie entwickelte. Was die Logik anbetrifft, so hat sie sich bereits seit dem 12. Jahrhundert als erkenntnistheoretische Methode in den theologischen Schulen etabliert, nachdem al-Ghazali sie als Disziplin anerkannt hatte. Zudem wurden mehrere Schriften zur Logik verfasst, wie Das Große Buch der Logik von Fakhraddin ar-Razi (gest. 1210) oder Die Einführung in die Logik von Athiraddin al-Abhari (gest. 1265), die als Pflichtlektüren für die Schüler während des Studiums eingeführt wurden. Diese Integration der Logik in das Lehrstudium gab ihr einen enormen Aufschwung und ermöglichte es der Philosophie, auf diesem Weg Einzug in den Hochschulbetrieb zu halten, denn, »man konnte die aristotelische Logik (mitsamt der Kategorienlehre) nicht übernehmen, ohne über die aristotelische Ontologie (mitsamt ihren Konsequenzen für die Physik und die Metaphysik) nachzudenken.« 390 Folglich konnten philosophische Kategorien wie Sein, Kausalität, Substanz und Akzidenzien, Möglichkeit und Notwendigkeit in die Prolegomena zur Theologie aufgenommen werden, und so gehörten die Texte über Logik und Ontologie bis ins 20. Jahrhundert hinein zum Programm des Unterrichts an den islamischen Hochschulen, 390

U. Rudolph, Islamische Philosophie, a. a. O., S. 87.

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7. Geschichte und Erneuerung

wo sie auch von den Nachfolgern vielfach kommentiert wurden. Mit anderen Worten, die islamische Theologie befand sich seitdem im Umfeld philosophischer Fragestellungen und Methodik. Doch die Gefahr eines zunehmenden Einflusses der aristotelischen Logik auf die Theologie erkannte bereits im 13. Jahrhundert der orthodoxe Gelehrte Ibn Taimiya (1263–1328), der zur hanbalitischen Schule gehörte und dagegen mit seiner Schrift Die Widerlegung der Logiker 391 einen erbitterten Kampf führte. Dennoch konnten seine Angriffe das Fortbestehen der Logik innerhalb der Theologie nicht verhindern. Im Gegenteil, Fragen, die das Sein Gottes und seine Attribute oder die seiner Geschöpfe betrafen, machten einen Rückgriff auf die Ontologie unumgänglich. So blieb die Philosophie innerhalb des theologischen Unterrichts erhalten und setzte sich auf unterschiedlichen Umwegen fort, am deutlichsten aber im Rahmen von Ethik und praktischer Philosophie. Es ist in der Tat bemerkenswert, wie der Aristotelismus während der Zeit des politischen Niedergangs in der islamischen Welt sowohl in der Gestalt von Logik und Ontologie als auch in der der Ethik innerhalb der Philosophie fortwirkte. So konnte z. B. der berühmte persische Mathematiker, Astronom und Philosoph Nasîr al-Dîn Tusi (1201–1274) in der Tradition von Aristoteles und Miskawayh eine Schrift mit dem Titel Die Ethik Nasirs (Akhlaq i-Nasiri) 392 verfassen, bei der er die praktische Philosophie insgesamt zu behandeln strebte. Dieses Werk hätte nach der Aussage von Hans Kraml »bei den Philosophen des Abendlandes einen ähnlich autoritativen Status erlangen können oder jedenfalls als Beitrag zur Philosophie verstanden werden können wie die Kommentare des Ibn Ruschd« 393. Es blieb jedoch in Europa unbekannt. In dieser Ethik kamen neben den aristotelischen Ansätzen sowohl die Dispositionen Miskawayhs als auch die ethischen Gedanken al-Farabis und Ibn Sinas zum Tragen. Tusis Ethik ist wie die seiner Vorgänger eine Tugendethik, die auf die Glückseligkeit des Menschen ausgerichtet ist. Verwirklicht

391 Ibn Taimiya, Taqiyyu ad-Din, Against the Greek logicians, translated with an introduction and notes by Wael B. Hallaq, Oxford: Clarendon Press 1993. 392 Nasir ad-Din Tusi, The Nasirean Ethics, übers. ins Englische von G. M. Wickens, London 1964. 393 Hans Kraml, Zwischen Aristoteles und Religion. Die Ethik des Nasir ad-Din Tusi als Lehrstück, in: Gabriele Münnix (Hrsg.), Wertetraditionen und Wertekonflikte. Ethik in Zeiten der Globalisierung, Nordhausen: T. Bautz Verlag, 2013, S. 111.

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wird sie durch die Erkenntnis und Handlung des jeweiligen Individuums, dessen Seelenteile in einem Zusammenspiel von verschiedenen Vermögen stehen. Hier unterscheidet Tusi zwischen drei Seelenteilen, die sich in einem Zusammenhang befinden und sich gegenseitig beeinflussen. Es sind Vernunft, Strebevermögen und Begehren. Zu jedem dieser Teile gehören bestimmte Tugenden wie etwa Wissen und Weisheit in Verbindung mit der Vernunft, Sanftmut und Mut in Bezug auf Strebevermögen oder Großzügigkeit und Beherrschung im Fall des Begehrens. Erst das richtige Verhältnis zwischen den Tugenden ermöglicht dem Individuum eine Realisierung der Gerechtigkeit und somit auch eine Annäherung an die Glückseligkeit. Gerade auf das richtige Maß zwischen den Tugenden kommt es in erster Linie an, denn es ist oft schwierig für den einzelnen Menschen, diese Tugenden zu erwerben, geschweige denn, ausgewogen zu leben. Insofern ist der Einzelne auf die Zusammenarbeit mit anderen Individuen angewiesen, und folglich kann der Erwerb verschiedener Tugenden nur in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Leben in der Gemeinschaft stattfinden. Um dies zu unterstreichen, schreibt Tusi in seiner Ethik: »Da nun natürliche Gemeinschaft einer der Wesenszüge des Menschen ist und insofern die Vollendung einer jeden Sache in der Äußerungsform seiner Eigenschaften liegt […], so liegt auch die Vollendung der menschlichen Spezies in der Äußerung dieser Eigenschaft gegenüber seinen Artgenossen. Diese Eigenschaft ist zudem das Prinzip der Liebe, die zivilisiertes Leben hervorbringt, und die (gesellschaftliche) Synthese.« 394

Diese Aussage macht erneut klar, dass Tusis Ethik auf einem Prinzip des gesellschaftlichen Zusammenlebens beruht, das von der Liebe der Menschen zueinander als Zeichen ihres Strebens nach Eintracht getragen wird. Das bedeutet, dass die Liebe die Basis für das gemeinsame Zusammenleben der Menschen darstellt, ohne die es keine Möglichkeit für eine Erfüllung der eigenen Glückseligkeit gibt, denn jede einzelne Person gelangt zur Vollendung ihrer selbst nur in dem Maße, wie sie zur Realisierung der Glückseligkeit anderer beiträgt. Insofern bindet die Liebe die Menschen als Spezies aneinander. Das Überraschende dabei ist, dass ein solches Prinzip von einem Denker stammt, der selber an Feldzügen der Mongolen gegen die

394

Nasir ad-Din Tusi, The Nasirean Ethics, a. a. O., S. 199.

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Ismailiten in der Festung von Alamut und an der Eroberung von Bagdad im Jahre 1258 auf der Seite des Enkels Dschingis Khans, Hülegü Khan, teilgenommen hatte und später dem Statthalter Quhistans, Nasir ad-Din ibn Abi Mansur, seine Ethik widmete. Man spürt also den Wandel bei diesem Philosophen, der Krieg und Zerstörung von Reichen miterlebt und nun das Prinzip der Liebe in seine Ethik eingeführt hatte. Außerdem weicht Tusi vom aristotelischen Grundsatz ab, demzufolge die Freundschaft höher bewertet wird als die Liebe, und nähert sich somit der Sufilehre an, die, wie bei Ibn ’Arabi, mehr auf dem Prinzip der Liebe als auf anderen Tugenden fußt. Dabei argumentiert er folgendermaßen: »Liebe ist allgemeiner als Freundschaft, denn Liebe kann auch noch in einem brausenden Gedränge entstehen, während Freundschaft nicht diese Stufe von Durchdringung erreicht.« 395

Doch bei aller Zuneigung zu diesem Prinzip wird die Liebe bloß als Mittel für ein noch höheres Ideal gebraucht, nämlich Gerechtigkeit zu erzielen, denn für Tusi soll Gerechtigkeit als Richtschnur für die Erkenntnis und das Handeln des Individuums in der Gemeinschaft gelten und zur Vervollkommnung seiner Seelenkräfte verwendet werden. Diese kann aber erst erreicht werden, wenn der Mensch mit Sorgfalt und Wohlwollen sein Urteil sowohl im Erkennen als auch beim Handeln abwägt und trifft. Dabei benutzt Tusi den Begriff tafadhul 396, der »Bevorzugung« wie auch »Sorgfalt« und »Wohlwollen« bedeutet. Insofern meint bei ihm Gerechtigkeit das sorgfältige Bemühen um ein richtiges Urteil, bei dem die Seelenkräfte oder Vermögen bei ihrer Einschätzung der Situation im Einklang zueinander stehen. Das erinnert zum Teil an Aristoteles, der im fünften Buch der Nikomachischen Ethik schreibt: »Wir sehen, dass jedermann mit dem Wort Gerechtigkeit einen Habitus bezeichnen will, vermöge dessen man fähig und geneigt ist, gerecht zu handeln, und vermöge dessen man gerecht handelt und das Gerechte will.« 397

Doch bei Tusi kommt in dieser Überlegung ebenso das griechische Erbe der Antike wie auch seine Grundkenntnis des islamischen Rechts

Ebd., S. 197. Ebd., S. 233. 397 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Hamburg: Felix Meiner Verlag 1995, Bd. 3, 1129a. 395 396

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zum Tragen, das neben den Rechtsquellen wie Koran und Hadith auf Abwägen und Analogieschluss bei der Rechtsfindung beruht. 398 Im dritten Teil seines Buches über Ethik widmet sich Tusi besonders der politischen Auffassung des Staates und seiner Leitung. Hier folgt er weitgehend den Vorstellungen von al-Farabi in dessen Schriften Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vorzüglichen Stadt sowie Die Staatsleitung, und er übernimmt sogar die dortige Aufteilung der Städte in solche, deren Bewohner auf Tugend und Glückseligkeit ausgerichtet sind, und in solche, die andere Ziele verfolgen. Dabei zeichnet sich in der tugendhaften Stadt eine Hierarchie der jeweiligen Gruppen der Bewohner ab, die ihrer Fähigkeit und ihren Aufgaben entspricht. So wird z. B. die Leitung nicht unbedingt wie bei Platon von einem Philosophen-König geführt, sondern ebenso von Menschen, die sich durch Wissen, Tugend und Gerechtigkeitssinn hervorheben. Außerdem muss die Leitung nicht allein auf eine Person zugeschnitten werden, sie kann sogar auf mehrere aufgeteilt werden, was im Zeitalter der absoluten Despotie ein Novum darstellt. Mit dieser Einstellung war Tusi, wahrscheinlich aufgrund der selbst gemachten Erfahrungen, politisch sicherlich seiner Zeit voraus. Das hat er aber nicht nur im Bereich der praktischen Philosophie und Ethik bewiesen, sondern auch auf anderen Gebieten der Wissenschaft deutlich unter Beweis gestellt, was ihm noch zu Lebzeiten Ruhm und Anerkennung einbrachte. Mit der Errichtung des Observatoriums von Maragha und der ihm angeschlossenen Schule in der persischen Provinz Aserbaidschan im Jahre 1262 machte sich Tusi einen Namen als Förderer von Astronomie und Wissenschaft. Dort konnten Forscher aus verschiedenen Ländern und Religionen an astronomischen Beobachtungen teilnehmen und ihre Berechnungen von Planetenlaufbahnen verbessern. Tusis Werk in dieser Disziplin, die Tafel der Ilchane über die Position der Sterne und Planeten, hat später als Quelle für die Arbeiten von Nikolaus Kopernikus gedient. Seine vortreffliche Leistung hob ein Jahrhundert später Ibn Khaldûn in seiner Einführung (al-Muqaddima) zum Hauptwerk Buch der Beispiele ausdrücklich hervor. 399

398 Rohe Mathias, Das islamische Recht, Geschichte und Gegenwart, München: C. H. Beck Verlag 2009, S. 62. 399 Ibn Khaldûn, Buch der Beispiele. Die Einführung Al-Muqaddima, Übersetzung, Auswahl, Vorbemerkungen und Anmerkungen von Mathias Pätzold, Leipzig: Reclam Verlag 1992, S. 269.

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Ibn Khaldûn und die Entstehung der Geschichtswissenschaft

7.1 Ibn Khaldûn und die Entstehung der Geschichtswissenschaft Abgesehen von dieser Entwicklung, die bis ins 19. Jahrhundert andauerte, entstand im Laufe des 14. Jahrhunderts eine neue Disziplin, die an der damaligen Geschichtsüberlieferung Kritik übte und eine gewisse Rationalität in die historischen Abläufe einführte. Es handelte sich um eine zur Vernunft gebrachte Geschichtsschreibung, die es als Genre vorher nicht gab. Maßgeblich für die Grundlegung dieser neuen Disziplin ist der Historiker und Universalgelehrte Abdurrahman Ibn Khaldûn (1332–1406), der die Historiographie seiner Zeit radikal in Frage stellte und die Grundsteine für die Geschichtswissenschaft legte. Bis dahin gehörte die Geschichte in der Tat als Fach nicht zum Lehrstoff des Studiums und erhielt infolgedessen keinen Platz im System der Wissenschaften, dessen Kanon seit der Antike festlag. So konnte sich die Geschichte im arabisch-islamischen Raum in den ersten zwei Jahrhunderten islamischer Zeitrechnung zunächst als Geschichte der Akhbar und der Hadithe etablieren, d. h. als eine Art Sammlung von Fakten und Berichten über die Erfahrungen und Aussagen des Propheten, die seine Besonderheit und seine Macht in den Vordergrund stellten und die somit zum Modell für die islamische Gemeinschaft wurden. Dieses Genre von Historie war meistens von der Intention getragen, »die Tatsachen gemäß einer klaren Konzeption der Geschichte einzuordnen, die Ereignisse miteinander zu verbinden und ihnen einen betimmten Sinn zuzuschreiben« 400. Das galt vor allem für die Verfasser des Werdegangs (Sira) des Propheten und ihre Nachfolger. In den darauf folgenden Jahrhunderten mischten sich andere Elemente der Literatur (Adab) und der Philosophie in die Geschichtsschreibung ein und veränderten zum Teil die Konzeption der letzteren, die zur Erfassung der sozialen und politischen Erfahrungen, der Lebensweisen und Ideen der Völker innerhalb der islamischen Gemeinschaft verwendet wurde. Allerdings wurde die Methodik der Isnad, d. h. der Herstellung der Quellen entlang der Kette der Zeugen bei der Berichterstattung in Analogie zur tradierten Hadithwieder-

400 Fathi Triki, Demokratische Ethik und Politik im Islam, Arabische Studien zur transkulturellen Philosophie des Zusammenlebens, Weilerswist: Vellbrück Verlag 2011, S. 56.

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gabe, aufrecht erhalten, was einer genauen Objektivierung der genannten Ereignisse nicht entsprach. Dieser Mangel zeichnete sich sowohl bei dem Historiographen Ibn Quteiba (828–885) in seinen Büchern ’Uyûn al-Akhbar 401 und Kitāb al-Ma’arif 402 als auch bei alTabari (840–923) in seinem monumentalen Werk Die Annalen der Propheten und Könige (Tarikh al-rusul wal-muluk) 403 ab, wobei letzteres als Universalgeschichte der islamischen Umma aufgefasst wurde. Für Ibn Khaldûn führte gerade das blinde Vertrauen in die Überlieferung zu den Unwahrheiten in historischen Nachrichten und erforderte deshalb eine genauere Untersuchung dieses Sachverhaltes, indem die Personen der Überlieferung einer kritischen Prüfung unterworfen werden mussten. 404 Selber erwähnte er als Beispiel den Historiker al-Mas’udi (896–956), der in seiner vielbändigen Weltgeschichte Die Goldwäschen und Edelsteingruben (Muruj adh-dhahab wa ma’adin al-djawahir) 405 eine ganze Reihe von widersinnigen Berichten, wie den Kampf Alexanders des Großen gegen Meeresungeheuer vor der Küste Alexandrias, erzählte. 406 Von daher war es für Ibn Khaldûn notwendig, einen neuen Weg in der Behandlung der Geschichte einzuschlagen, um »den Pfad der Richtigkeit und Wahrhaftigkeit beschreiten« 407 zu können. Dieser neue Topos wird nun anhand seines Werkes und Wirkens näher erläutert. Heute gilt Ibn Khaldûn als der erste Autor, der sich neuer Methoden der Analyse historischer Fakten und gesellschaftlicher Phänomene bedient hat, um daraus eine eigenständige Theorie geschichtlicher Prozesse zu entwickeln. Er lebte an der Schwelle zwischen dem Mittelalter und der Neuzeit und stand als Jurist, Geschichtsphilosoph, Sozialwissenschaftler und Politiker beinah isoliert in der arabisch-islamischen Überlieferung. Er hinterließ auch keine Schule, die sein

Ibn Qutaiba, Abdullah ibn Muslim, ’Uyûn al-Akhbar, Kairo 1906. Ibn Qutaiba, Abdullah ibn Muslim, Kitāb al-Ma’ârif, hrsg. von Tharwat ’Ukacha, Kairo 1969. 403 Al-Tabarî, Muhammad ibn Jarîr, Târîkh al-rusul wal-mulûk, hrsg. von Mohamed Abu al-Fadhl Ibrahim, Kairo 1960. 404 Ibn Khaldûn, Abdurrahman, Das Buch der Beispiele Die Einführung al-Muqaddima, a. a. O., S. 39. 405 Al-Mas’ûdî, Abu al-Hasan Ali, Murûdj adh-dhahab wa ma’âdin al-djawâhir, 2 Bde., Beirut 1978. 406 Ibn Khaldûn, Das Buch der Beispiele: Die Einführung al-Muqaddima, a. a. O., S. 41. 407 Ebd., S. 44. 401 402

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Ibn Khaldûn und die Entstehung der Geschichtswissenschaft

Werk hätte fortsetzen können. 408 1332 in Tunis geboren, stammte Ibn Khaldûn aus einer vornehmen südarabischen Familie aus Hadhramaut, die im Zuge der Islamisierung des Maghrebs bis nach Sevilla in al-Andalus gewandert war und dort über Jahrhunderte gelebt und politisch führend gewesen war. Vor der Rückeroberung der Stadt im Jahre 1248 durch Kastilien emigrierte die Familie nach Nordafrika und ließ sich in Tunis nieder, wo sie unter der Herrschaft der Hafsidendynastie weiterhin politisch wirkte. In der Heimatstadt Tunis genoss Ibn Khaldûn eine klassische Ausbildung in Recht, Philosophie und politischer Unterweisung. Einer seiner Lehrer war der berühmte Gelehrte, Mystiker und Philosoph al-Abili (1282–1356), der ihn Mathematik, Logik und Philosophie lehrte und besonders die Werke von Ibn Sina, Ibn Ruschd, arRazi und Tusi näher brachte. Schon sehr früh strebte der junge Student in den diplomatischen Dienst und fand schnell an verschiedenen Höfen in Nordafrika eine Anstellung als hoher Staatsbediensteter. Doch aufgrund des häufigen politischen Machtwechsels und wegen der gelegentlichen eigenen Verwicklung in die Umstürze wurde er mehrmals verhaftet und für Jahre ins Gefängnis geworfen. Wie aus seiner Autobiographie hervorgeht, stand Ibn Khaldûn oft in den Wirren der politischen Machtkämpfe, konnte sich aber durch Gelehrsamkeit und Geschick immer wieder befreien und zu hohem Ansehen gelangen. 409 So trat er zwischen 1354 und 1374 in den Dienst des Sultans der Meriniden in Fez und nahm danach im Auftrag des Emirs von Granada als Unterhändler an den Friedensverhandlungen in Sevilla mit dem König von Kastilien, Pedro dem Grausamen, teil, der ihm sogar die Aufnahme in seinen Dienst und die Rückgabe der Ländereien seiner Väter anbot. Anschließend wurde er zum Hadjib (das höchste Amt nach dem Sultan) in der Provinz Bejaya in Nordafrika ernannt. In den darauf folgenden Jahren zwischen 1375 und 1380 zog sich Ibn Khaldûn aus der Politik zurück und widmete sich für eine Weile der Forschung und Wissenschaft. Er begann, abgeschirmt von der

Nathaniel Schmidt, Ibn Khaldûn Historian, Soziologist and Philosopher, New York: AMS Press Inc. 1967, S. 1. 409 Ibn Khaldûn, at-Ta’rîf bi ibn-Khaldûn wa rihlatihi gharban wa sharqan, hrsg. von Muhammad ibn Tawît at-Tandji, Kairo 1951. Französische Übersetzung von A. Cheddadi unter dem Titel Ibn Khalun. Le voyage d’Occident et d’Orient. Autobiographie, Paris: Éd. Sindbad 1980. 408

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Öffentlichkeit in der Festung von Ibn Salama, nahe der Stadt Tlemcen im heutigen Algerien, an seinem Mammutwerk zu schreiben. Dieses Werk, das Arnold Toynbee als »zweifellos das größte Werk seiner Art, das jemals geschaffen wurde« 410 bezeichnete, befasst sich hauptsächlich mit der Entstehung, dem Aufstieg und Verfall von Gesellschaften und Staaten bzw. Herrschaftsdynastien, deren Entwicklung sich nach Kausalzusammenhängen und bestimmten Gesetzmäßigkeiten vollzieht. In der dreibändigen Einleitung bzw. der Prolegomena – arabisch Al Muqaddima genannt – zu seinem umfassenden Werk Buch der Beispiele und Sammlung der Ursprünge wie der nachfolgenden Geschichte in den Zeiten der Araber, Nichtaraber und Berber sowie der mächtigsten Herrscher, die ihre Zeitgenossen waren – so lautet der gesamte Titel seiner historischen Weltchronik – stellt Ibn Khaldûn die Grundthesen seiner neuen Auffassung von Geschichte vor. Dabei setzt er sich, wie vorhin erwähnt, zunächst mit den traditionellen Methoden und Geschichtsvorstellungen auseinander, deckt ihre Unzulänglichkeiten und Widersprüche auf und bietet im Anschluss daran seine eigene Theorie bzw. Wissenschaft als diejenige Alternative, die die bisherigen Verfahren historischer Überlieferung ersetzen soll. Dieses Vorhaben beschreibt er zu Beginn der Muqaddima folgendermaßen: »In diesem Buch erläutern wir die Zustände der menschlichen Kultur, die die Menschen in ihrem Zusammenschluss betreffen, wie Herrschaft, Erwerb, Wissenschaft und die anderen menschlichen Fertigkeiten. Dies erfolgt mit Hilfe von Beweisführungen, die die Ermittlung der Glaubwürdigkeit von Erkenntnissen sowohl vornehmen als auch einfachen Leuten offenbaren, die Irrtümer beseitigen und Zweifel aufheben.« 411

Den Gegenstand dieser neuen Wissenschaft nennt Ibn Khaldûn ’Umran, d. h. »menschliche Kultur«, deren Entstehung, Aufbau, Verfestigung und Verfall nicht nach einem Modell metaphysischer Spekulation abläuft, sondern sich vielmehr als Prozess realer Gegebenheiten vollzieht. Dieser Prozess äußert sich in der ständigen Wechselwirkung von geographisch-klimatischen Bedingungen, konkreten gesellschaftlichen Strukturen und politökonomischen Phänomenen. Gerade »den Zusammenhang von Landschaft und Geschichte hat Ibn

410 Arnold J., Toynbee, A study of History, 1935–61, London: Oxford University Press, Bd. 3, S. 321. 411 Ibn Khaldûn, Buch der Beispiele: Die Einführung al-Muqaddima, a. a. O., S. 49.

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Khaldûn als erster erkannt und innerhalb seiner Vorstellung vom zyklischen Ablauf der Menschheitsgeschichte begründet« 412. Aber vordergründig geht es um einen immer wiederkehrenden Zyklus der historischen und sozialen Ereignisse. Dieser Zyklus umfasst nach der Aussage von Eisermann »jeweils 120 Jahre oder drei Generationen zu je 40 Lebensjahren und soll zugleich als interpretatives Grundschema der Geschichtsschreibung dienen. Die erste Generation mit ihren nomadisch kriegerischen Fertigkeiten wird, zumeist durch Eroberung, zu Stadtbewohnern, unter Aneignung der vorgefundenen Zivilisation, so dass die zweite Generation allmählich, wenn sie auch den Höhepunkt des Zyklus bildet, in Luxus und Wohlleben aufgeht und die Fähigkeit zur Selbstverteidigung verliert, so dass die dritte Generation dem Verfall anheim gegeben ist und endlich zur Beute der Eroberer werden kann.« 413

Auf diese Art und Weise schließt sich der periodische Zyklus und wird durch die Zusammenbildung anderer nomadischer Kräfte von neuem beginnen. Charakteristische Beispiele für die Theoriebildung von Ibn Khaldûn bieten die zu seinen Lebzeiten herrschenden Verhältnisse im Maghreb, aber auch die nomadischen Invasionen der Turkstämme und der Mongolen, die durch ihre Expansionen von Zentralasien nach Anatolien und in das Zweistromland seit dem 11. Jahrhundert im Osten der islamischen Welt wüteten. Was die Antriebskraft dieses Prozesses anbetrifft, so sieht Ibn Khaldûn in der ’Asabiya, d. h. dem Zusammengehörigkeitsgefühl, den eigentlichen Faktor, der die sozialen Gruppen solidarisch aneinander kittet und sie auf ein bestimmtes Ziel festlegt. Das arabische Wort ’Asabiya 414 ist nicht leicht zu übersetzen. Es weist auf mehrere Bedeutungen wie »Stammessolidarität« durch Blutsverwandtschaft, »Ehrgefühl« und »Gemeinsinn« als Ausdrucksformen der Gesell-

412 A. Hartmann, Zyklisches Denken im Islam. Zum Geschichtsbild des Ibn Khaldûn, in: E. Rühe (Hrsg.), Europas islamische Nachbarn, Studien zur Literatur und Geschichte des Maghreb, Würzburg: Könighausen & Neumann, 1993, Bd. 1, S. 136. 413 G. Eisermann, Ibn Khaldûn, in: Internationales Soziologenlexikon, Stuttgart: Enke Verlag, 1980, S. 189. 414 Zur näheren Bestimmung des ’Asabiya-Begriffs im Werk von Ibn Khaldûn siehe: T. Khemiri, Der ’Asabiya- Begriff in der Muqadima des Ibn Khaldûn, in: Der Islam, Nr. 23 (1936), S. 163–188, Heinrich Simon, Ibn Khaldûns Wissenschaft von der menschlichen Kultur, Leipzig: VEB Otto Harrassowitz 1959, S. 29–38 und Abbas Manoochehri, Die Dialektik der Asabiyya und die Sozialphilosophie des ’Umran, in: Philosophie im Islam, Polylog Nr. 17 (2007), S. 77–92.

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schaftsbildung hin. Wie Aristoteles geht auch Ibn Khaldûn von der Annahme aus, dass der Mensch ein zoon politikon sei, d. h. ein gesellschaftliches Lebewesen, das auf seine Mitmenschen angewiesen ist, um zu überleben. Dabei spielt die ’Asabiya als Zusammengehörigkeitsgefühl eine entscheidende Rolle. Das gilt vor allem für die Beduinenstämme, auf die er sich eindeutig bezieht. Diese zeichnen sich besonders durch ihren Zusammenhalt, aber auch durch ihre Mobilität und ihren kriegerischen Eifer aus und können für bestimmte politische Ziele wie Strafzüge oder Machteroberung leicht gewonnen werden. Aber durch den Kontakt mit fremder Kultur oder mit den Bewohnern der Städte wandelt sich die ’Asabiya und schwächt sich ab. Im Zuge dieser Schwächung oder gar des Fehlens der ’Asabiya drohen der jeweiligen Staatsmacht bzw. der bestehenden Gesellschaft die Auflösung und der Verfall, was das Ende ihrer Existenzberechtigung bedeutet. Neben der ’Asabiya setzt Ibn Khaldûn bei der Entwicklung der menschlichen Kultur oder ’Umran auch auf die ökonomischen Strukturen, insbesondere auf die Warenproduktion und den Handel, die in der städtischen Gesellschaft zu Reichtum und Wohlstand beitragen. Unter diesen Verhältnissen gedeihen ebenfalls Kunst, Wissenschaft und andere Fertigkeiten. Doch der Egoismus und der Eigennutz sowie die Machterhaltung treiben den Staat zunehmend ins Verderben und die Gesellschaft versinkt langsam in der Dekadenz. Entsprechend treten die ersten Vorzeichen des unausweichlichen Verfalls menschlicher Kultur in Erscheinung. Bei der Zusammenfügung solcher gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Faktoren wird Ibn Khaldûn inzwischen mit modernen Denkern wie Machiavelli, Hobbes, Montesquieu oder Vico verglichen. Allerdings sprengt seine Theorie deren Rahmen, weil sie von einem dynamischen Modell ausgeht, das sich an den in seiner Heimat, d. h. im maghrebinischen Raum vorgefundenen und historisch festgelegten Fakten orientiert, welche das labile Gleichgewicht zwischen der Kultur der Städte (hadhara) und derjenigen der Steppe und Wüstenzone (badawa) widerspiegeln. Darin erkennt Bertram Schefold die Besonderheit von Ibn Khaldûns Vorgehensweise und fügt hinzu: »Vor dem gespannten, staunenden Leser enthüllt Ibn Khaldûn Schritt für Schritt eine bestimmte Entwicklungslogik, mehr mit anschaulichen als mit analytischen Begriffen: Was jene Reiche zusammenhält und was sie sprengt,

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und so wird ein systematisches Verständnis eines historischen Ablaufs gewonnen, wo man vorher nur eine regellose und wirre Abfolge von dynastischen Kriegen und territorialen Kämpfen wahrgenommen hatte.« 415

Das Wesentliche an dieser theoretischen Auffassung von Historie ist, dass sie kein teleologisches Ziel verfolgt, wie etwa bei der Heilsgeschichte im Mittelalter oder gar in der Neuzeit im Sinne eines Fortschrittsglaubens. Ibn Khaldûn wirft gerade in diesem Zusammenhang den damaligen Philosophen vor, sie hätten sich keineswegs mit dem Staat und der Kultur als realen Phänomenen befasst, indem sie »die Prophetie rational zu beweisen und sie als natürliche Eigenschaft des Menschen zu belegen« 416 versuchten. Sie übersahen dabei, dass »sich das Dasein und das Leben der Menschen auch ohne dies vollziehen können« 417, wie etwa bei Völkern, die über keine monotheistische Offenbarungsreligion verfügen. Dadurch ergibt sich in der Tat »ein völlig neues Geschichtsbild, das die Entstehung von Völkern und Zivilisationen nicht zum Ergebnis einer Heilsgeschichte stilisiert, sondern auf die natürliche Bedürfnisbefriedigung innerhalb sozialer Gemeinschaft zurückführt« 418. Bei Ibn Khaldûn läuft die Geschichte zwar evolutionär ab, d. h. ähnlich dem biologischen Leben eines Menschen. Aber sie geschieht wiederum entsprechend einem geschlossenen Zyklus von Geburt, Wachstum, Reife, Altern und Verfall, sodass ihr Verlauf keineswegs verhindert, sondern höchstens durch Auffrischung der ’Asabiya mit religiösen oder anderen Motiven verlangsamt oder wieder beschleunigt werden kann. Dies kann den Anschein erwecken, dass dieser Prozess einem Determinismus unterworfen ist, bei dem die Geschichte einem ehernen Gesetz folgt. Doch die Handlungen der jeweiligen Beteiligten am historischen Prozess lassen sich nicht von vornherein festlegen. Deshalb werden aus dem Zusammenschluss der Menschen bestimmte Gegebenheiten entstehen, die diesen Zyklus anschaulich machen. Daraus konzipiert Ibn Khaldûn auch die Aufteilung seiner Muqaddima, die er folgendermaßen beschreibt:

415 B. Schefold (Hrsg.), Vademecum zu dem Klassiker des arabischen Wirtschaftsdenkens / Ibn Khaldûn, Düsseldorf: Verl. Wirtschaft und Finanzen 2000, S. 8. 416 Ibn Khaldûn, Buch der Beispiele: Die Einführung al-Muqaddima, a. a. O., S. 54. 417 Ebd. 418 G. Hendrich, Arabisch-islamische Philosophie, Geschichte und Gegenwart, a. a. O., S. 144.

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»So beschränkt sich die Erörterung in diesem Buch auf sechs Kapitel: menschliche Kultur im allgemeinen, ihre Formen und der von ihr berührte Teil der Erde; 2. die nomadische Kultur einschließlich der Erwähnung der Stämme und der unzivilisierten Völkerschaften; 3. die Dynastien, das Kalifat und das Königtum mit Erwähnung der Regierungsämter; 4. die seßhafte Kultur, die Provinzen und großen Städte; 5. die menschlichen Fertigkeiten, die Erwirtschaftung des Lebensunterhalts und verschiedenen Arten des Erwerbs; 6. die Wissenschaften und wie man sie erwirbt und erlernt.« 419

Doch was bei der Betrachtung des Werkes von Ibn Khaldûn zugleich erstaunt und enttäuscht, ist, dass er sich bei seiner umfangreichen, im Anschluss an die Muqaddima verfassten Weltchronik Buch der Beispiele selbst nicht an die von ihm entworfene Methode seiner Geschichtsschreibung hielt, sondern vielmehr der zu seiner Zeit geltenden Geschichtstradition folgte. Deshalb fragen viele Forscher inzwischen nach den Motiven dieser Unterlassung und geraten manchmal in Spekulation über Ibn Khaldûns Rückgriff auf die traditionelle Methode, so z. B., ob es ihm an Mut fehlte zur Anwendung seiner Theorie oder ob es aus Angst um seine politische Karriere geschah. 420 Ungeachtet dessen steht eines fest, nämlich dass er »in seiner Weltchronik, ganz im Gegensatz zu den methodischen Aussagen und Ansprüchen der Muqaddima, über das Kompilieren, im Sinne der traditionellen islamischen Historiographie, nicht hinausgegangen« 421 ist. Dies schmälert jedoch keineswegs den Wert seiner neu entwickelten Theorie der Geschichtsschreibung. Im Jahre 1378 kehrte Ibn Khaldûn nach Tunis zurück, um dort mittels der vorhandenen Bibliothek sein Werk zu vervollständigen. Er erhielt sogar die Gunst des herrschenden Sultans Abul-’Abbas, fühlte sich jedoch nicht ganz sicher und bat deshalb um die Erlaubnis zur Pilgerfahrt nach Mekka, die er nach gewisser Verzögerung bekam. Seine Reise war aber ein Abschied für immer vom islamischen Westen, denn er kehrte nicht mehr zurück. 1382 verließ Ibn Khaldûn Tunis mit dem Schiff Richtung Alexandria und nahm von dort den Weg weiter nach Kairo, dem damaligen Zentrum der islamischen Welt im Osten nach der Zerstörung Bagdads durch die Mongolen.

Ibn Khadun, Buch der Beispiele: Die Einführung al-Muqaddima, a. a. O., S. 50. Zum Diskussionsstand in der westlichen und orientalistischen Forschung siehe: Aziz al-Azmeh, Ibn Khaldûn an Essay in reinterpretation, London: Routledge 1990. 421 A. Hartmann, Zyklisches Denken im Islam. Zum Geschichtsbild des Ibn Khaldûn, a. a. O., S. 136. 419 420

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Ibn Khaldûn und die Entstehung der Geschichtswissenschaft

Da sein Ruf als Gelehrter ihm vorauseilte, genoss er in Kairo hohes Ansehen und wurde kurz nach seiner Ankunft zum Universitätslehrer ernannt. Ein Jahr später bekleidete er das Richteramt der malekitischen Schule, das er aufgrund seiner Strenge und Kompromisslosigkeit mehrmals verlor, dann aber wieder innehatte. 1387 machte Ibn Khaldûn dann die lang ersehnte Pilgerreise nach Mekka und kehrte anschließend nach Kairo zurück, um sich vor allem dem Studium und der Lehre zu widmen. Eines der bedeutendsten Erlebnisse in der späteren Biographie von Ibn Khaldûn war gewiss seine Begegnung mit dem Mongolenherrscher Timurlenk im Jahre 1400. Dieser hatte die Stadt Damaskus belagert und war in Begriff sie anzugreifen, als der Mamelukenmachthaber in Kairo einen Feldzug zum Schutz der Stadt gegen ihn vorbereitete. Er forderte Ibn Khaldûn auf, ihn auf den Weg zu begleiten. Doch als die Stadt in Gefahr geriet, wurde dieser beauftragt, ihre friedliche Übergabe auszuhandeln, was jedoch ihre spätere Plünderung nicht verhinderte. Daraufhin kehrte er enttäuscht nach Kairo zurück, wo er den Rest seines Lebens verbrachte, bis er im März 1406 starb. In seiner Autobiographie hat Ibn Khaldûn seine Gespräche mit dem kunstliebenden, aber zugleich grausamen Eroberer Timurlenk detailliert dargelegt. Außerdem verfasste er in seinem Auftrag eine Beschreibung des Maghrebs. Lange Zeit gerieten Ibn Khaldûn und sein Werk in Vergessenheit, bevor sie im 19. Jahrhundert zeitgleich in der arabischen Welt und in Europa entdeckt wurden. Zwar hatten die Osmanen bereits im 17. Jahrhundert das Werk ins Türkische übersetzen lassen und konnten sich somit seine staatspolitischen Ideen zu Nutze machen, aber der Einfluss blieb zunächst gering. Erst im Zuge der Expedition Napoleons nach Ägypten kamen viele Handschriften nach Europa und wurden später im Kontext der Kolonialpolitik Frankreichs in Nordafrika von französischen Orientalisten eifrig ausgearbeitet und gedruckt. Eine vollständige Übersetzung der Muqaddima in deutscher Sprache liegt noch nicht vor, aber mehrere Versuche sind im vorigen Jahrhundert unternommen worden, u. a. von Annemarie Schimmel und Mathias Pätzold. 422 Die letzte umfangreiche aber nicht vollständige Übersetzung erfolgte zu Beginn dieses Jahrhunderts und wurde

422 A. Schimmel, Ibn Chaldun. Ausgewählte Abschnitte aus der Muqaddima. Tübingen 1951.

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von Alma Giese mit dem Titel Die Muqaddima – Betrachtungen zur Weltgeschichte 423 angefertigt. Neben der Muqaddima, dem wichtigsten Werk zur Geschichtsschreibung, verfasste Ibn Khaldûn seine »Universalchronik« Das Buch der Beispiele (Kitāb al-’Ibar), das die Geschichte der Araber, der antiken Kulturvölker und der Berber im Maghreb umfasste. Hinzu kommt eine ganze Reihe von Schriften wie seine Autobiographie mit dem Titel Biographie des Ibn Khaldûn. Bericht über seine Reise (n) nach Westen und Osten (at-Ta’rif bi ibn-Khaldûn wa rihlatihi gharban wa sharqan), seine Arbeiten über Logik und islamische Philosophie, besonders sein Kommentar zu Ibn Ruschds Werken, und eine Abhandlung über Mystik (Schifa’ al-Sa’il); schließlich ein Briefwechsel mit seinem Freund Ibn al-Khatib, dem Dichter und Wesir von Granada, aus den Jahren nach 1368, der wertvolle Hinweise über das Leben Ibn Khaldûns in jener Zeit liefert. Als Fazit könnte man sagen, dass Ibn Khaldûns Geschichtswissenschaft nicht nur eine Theoriebildung über den Umgang mit der Historie bietet. Man findet darin auch eine »Vorstellung des Willens zur Macht« 424 aus dem Geist der ’Asabiyya, und zwar Jahrhunderte bevor Nietzsche diese Thematik zu seinem philosophischen Hauptgedanken machte.

7.2. Bruch und Kontinuität: Debatte um Reform und Moderne Mit dem Aufkommen des Kolonialismus durch den Feldzug Napoleons in Ägypten 1798 und dessen imperialen Bestrebungen in der arabisch-islamischen Welt zu Beginn des 19. Jahrhunderts erfährt der philosophische Diskurs in dieser Region eine grundlegende Wende, denn er wird nicht weiterhin von seinen internen Widersprüchen und kritischen Auseinandersetzungen bestimmt, sondern sieht sich vielmehr einer von außen herantretenden Herausforderung ausgesetzt. Dieser Diskurs nimmt plötzlich die Überlegenheit der west-

423 Ibn Khaldûn, Die Muqaddima, Betrachtungen zur Weltgeschichte, aus dem Arabischen übertragen und mit einer Einführung von Alma Giese unter Mitwirkung von Wolfahrt Heinrich, München: Verlag C. H. Beck, 2011. 424 A. Hartmann, Zyklisches Denken im Islam. Zum Geschichtsbild des Ibn Khaldûns, a. a. O., S. 146.

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lichen Moderne wahr, mit ihren politischen, wissenschaftlichen und technologischen Umwälzungen sowie mit ihren Wertvorstellungen und weltanschaulichen Systemen, und gerät aufgrund dieser Begegnung in eine normative Krise. In der Tat, die muslimische Welt entdeckte auf einmal ihre eigene Schwäche und begriff, dass der Westen sie auf allen Ebenen, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Macht und der gesellschaftlichen Organisation längst überholt hatte, und sie versuchte nun, sie sowohl geistig als auch militärisch zu besiegen. Diese Erfahrung hatte eine »traumatische Wirkung auf die islamischen Gesellschaften, die ihre traditionellen Lebensformen bedroht sahen« 425, und löste unter den Intellektuellen eine heftige Debatte bezüglich des Umgangs sowohl mit der Moderne als auch mit dem eigenen kulturellen Erbe, Turath genannt, sowie über die zukünftige Orientierung im Denken und Handeln aus. Für die einen, die man später Modernisten nennt, sollte ein Bruch mit der Tradition vollzogen und eine Aneignung der westlichen Moderne eingeleitet werden. Die anderen hingegen, die man als Reformer bezeichnet, hielten zwar am Bestehenden fest, wollten aber im Sinne der Kontinuität eine islamische Erneuerung und eine Reformierung der politischen und Gesellschaftsstrukturen einführen und somit eine Alternative zum westlichen Modell bieten. So gerieten sie alle in eine tiefe Identitätskrise und folglich in ein tragisches Dilemma. Ihr philosophischer Diskurs spiegelte gerade diese ambivalente Situation wider, in der sie seitdem hin und her schwanken zwischen Bruch mit der Tradition und Kontinuität, oder genauer gesagt, zwischen Aneignung der Moderne und islamischer Erneuerung. 426 Zwar zweifeln manche zeitgenössische Denker wie etwa der tunesische Historiker Hichem Djait an der Ernsthaftigkeit, mit der dieser Bruch erfolgte, weil die Muslime nach seiner Ansicht nicht er425 Edmute Heller / Hassouna Mosbahi (Hrsg.), Islam, Demokratie, Moderne. Aktuelle Antworten arabischer Denker, München: Verlag C. H. Beck 1998, S. 7. 426 Hierzu siehe: Hischam Scharabi, Moderne und islamische Erneuerung: Die schwierige Aufgabe der arabischen Intellektuellen, in: Edmute Heller / Hassouna Mosbahi (Hrsg.), Islam, Demokratie, Moderne, a. a. O., S. 47–61; außerdem ders., Arab Intellectuals and the West: The formative Phase, 1875–1914, Baltimore: John Hopkins University Press, 1979; Jameleddine ben Abdeljelil, Die Wehen der Moderne und der Aufklärung im arabischen Kontext, in: Hans Schelkshorn / Jameleddine ben Abdeljelil (Hrsg.), Die Moderne im interkulturellen Diskurs, Weilerswist: Velbrück Verlag, 2012, S. 99–105.

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kannten, dass die Grundlage der westlichen Moderne und die Triebkraft ihres Fortschritts in der kritischen Haltung gegenüber der Macht und der Religion lagen, die zu einer Trennung von Staat und Kirche und zum Säkularismus der Politik führte. Deshalb hätten »die Muslime das Phänomen der Moderne auch nicht als Bruch mit der Vergangenheit und nicht als Fortschritt, sondern als eine Wiederbelebung der Vergangenheit, also letztlich als etwas Magisches oder Mythisches verstanden.« 427 Doch dieser Vorwurf trifft nicht auf alle Denker zu, und Djait selber räumt ein, dass eine starke Strömung von Intellektuellen als »Kinder der Aufklärung« zu bezeichnen sei, weil sie ebenso die Religion wie auch die Politik und die Gesellschaft nach modernen rationalistischen und säkularistischen Gesichtspunkten reflektierten. Zu den ersten Denkfiguren gehören u. a. Rifa’a at-Tahtawi, Khair-Eddine at-Tunisi, Abderrahman al-Kawakibi, Farah Antun und Schibli Schumail, die hauptsächlich die kulturelle arabische Nahdha, d. h. die ›Renaissance‹ Mitte des 19. Jahrhunderts einleiteten und somit den geistigen Prozess der Moderne voranbrachten. 428 Den Anfang machte der islamische Gelehrte Rifa’a at-Tahtawi (1801–1873), der die erste ägyptische Studentenmission nach Paris leitete und sich während seines Aufenthaltes dort mit Werken der Aufklärer wie Montesquieu, Voltaire und Rousseau befasste. Nach seiner Rückkehr nach Kairo setzte er sich für die Gründung einer Sprachschule ein und begann selber mit der Übertragung einiger dieser Werke ins Arabische, wie des Buches Montesquieus Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence [Betrachtungen über die Gründe des Aufstiegs der Römer und ihres Niedergangs] und des Gesetzbuches Le Code Napoléon. Außerdem interessierte er sich neben den technologischen und wissenschaftlichen Werken der Moderne besonders für die politischen Entwürfe, die ihm für einen Wandel in den islamischen Ländern relevant schie427 Hichem Djait, Das arabisch-muslimische Denken und die Aufklärung, in: Edmute Heller / Hassouna Mosbahi (Hrsg.), Islam, Demokratie, Moderne, a. a. O., S. 32. 428 Einen Überblick über die ersten Pioniere des modernen Denkens und der Reform in der arabisch-islamischen Welt vermittelt u. a. Ahmad Amin, Führer der Reform in der Gegenwart (Zu’ama’al-Islah fi al-’asr al-hadith), Dar al-Kitāb al-’Arabi, Beirut (o. D.); Rudolph Peters, Erneuerungsbewegungen im Islam vom 18. bis zum 20. Jahrhundert und die Rolle des Islam in der neueren Geschichte. Antikolonialismus und Nationalismus, in: W. Ende / U. Steinbach (Hrsg.), München: Der Islam in der Gegenwart, C. H. Beck, 1996, S. 90–128; Geert Hendrich, Islam und Aufklärung, der Modernediskurs in der arabischen Philosophie, Darmstadt: WSG 2004.

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nen. Sein Bericht über den Pariser Aufenthalt, der 1849 in Kairo erschien, gilt seitdem als eines der ersten Zeugnisse eines islamischen Gelehrten über seine Begegnung mit der westlichen Kultur. 429 Darin kommt nicht nur eine gewisse Faszination zum Ausdruck, sondern ebenfalls eine Kritik an manchen Wertvorstellungen des Westens, aber auch ein Aufruf an die islamischen Gesellschaften zur Öffnung für eine fremde Zivilisation. Allein durch die Beschreibung der Gewaltenteilung, wie sie im Geist der Gesetze von Montesquieu beschrieben wird, und die Rückführung der Macht auf den Gemeinwillen – volonté générale – des Volkes nach dem Vorbild von Rousseau, macht sich at-Tahtawi zum Widersacher einer absoluten Herrschaft, die sowohl in Ägypten als auch im osmanischen Reich fortbestand. Er setzt sich ferner mit den Ursachen des Niedergangs der arabisch-islamischen Kultur und Zivilisation auseinander und fordert eine weitgehende Reform der öffentlichen Institutionen im Staats- und Bildungswesen, bei denen weiterhin der Einfluss der Rechtsgelehrten unangefochten gilt. Mit dieser Bestrebung versucht at-Tahtawi, die Macht der Religion langsam aus der Gesellschaft zurückzudrängen, ohne sie jedoch völlig aufzuheben. Dieser Schritt macht bereits deutlich, dass er einen »klaren Bruch mit dem traditionellen Staats- und Gesellschaftsverständnis« 430 vollzieht und auf eine Liberalisierung des politischen Systems hinsteuert. Zu den wichtigsten Aspekten, die at-Tahtawi in seinem Buch hervorhebt, zählen Gerechtigkeit und Freiheit, die im Code Napoléon festgeschrieben sind und eine Auswirkung auf das politische Verhalten der Bürger haben. Er betont, dass Gleichheit und Gerechtigkeit nicht nur die Basis einer solchen Verfassung bilden, sie tragen vielmehr praktisch zur Entwicklung und zum Forschritt des Landes bei. Dasselbe gilt auch für die Freiheit, die er als Teil der menschlichen Natur betrachtet und im »Herzen des Menschen verankert« sieht. Sie ist nach seiner Aussage in einem anderen Werk »die Quelle der Rechte eines jeden Bürgers in einem zivilisierten Land« 431 und ein Mittel zur Verwirklichung des Glücks der Völker. Insofern betont er Rifa’a at-Tahtawi, Taḫlīṣ al-ibrīz fī talḫīṣ Bārīz. Bulaq, Kairo 1849, in: At-Tahtawis Gesammelte Werke, hrsg. von Mohammed Amara, Beirut 1973, Bd. II; dt: Ein Muslim entdeckt Europa. Bericht über seinen Aufenthalt in Paris 1826–1831, hrsg. und übersetzt von Karl Stowasser, München: C. H. Beck 1989. 430 Michael Kreuz, Arabischer Humanismus in der Neuzeit, Berlin: Lit Verlag, 2007, S. 25. 431 Rifa’a at-Tahtawi, Al-Murshid al-Amin lil-Banat wal-Banin [Der treue Führer 429

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klar und deutlich die Aufnahme solcher Prinzipien in die Verfassung seines Landes. Unter Freiheit zählt at-Tahtawi fünf Arten auf: die natürliche Freiheit, die Freiheit des Benehmens, die religiöse Freiheit, die zivile und die politische Freiheit; all diese Arten haben denselben Zweck, nämlich die Realisierung des Glückes der Menschen. 432 Angesichts der noch fortdauernden Despotie im eigenen Land war für ihn klar, wie notwendig diese Prinzipien für den Wandel innerhalb der islamischen Gesellschaften waren. Dabei bringt er die Freiheit mit der Erziehung der Jugend in Verbindung und setzt somit auf eine langfristige Perspektive. Dennoch zeigt at-Tahtawis Kurs bei dem Thema der Trennung von Staat und Religion gewisse Widersprüche auf, weil er an deren Verbindung weiterhin festhielt. Neben at-Tahtawi bemühten sich noch zwei andere Theoretiker um eine konkrete Veränderung der politischen Machtstrukturen in der arabischen Welt, nämlich Kheireddine at-Tunisi (1820–1890) und Abderrahman al-Kawakibi (1855–1902). Beide waren ebenfalls vom Denken der Aufklärung beeinflusst und strebten nach einer liberalen Verfassung nach westlichem Muster. In seinem Werk Der richtige Weg zur Erkenntnis der Lage der Länder (Aqwam al-Masalik fi ma’rifat ahwal al-Mamalik) 433 reflektiert Kheireddine über die Lage der islamischen Länder und über die Bedingungen des Fortschritts, mit dessen Hilfe sie aus ihrer rückständigen Situation herauskommen können. Diesen Fortschritt führt er wie at-Tahtawi auf eine Ethik der Freiheit und der Gerechtigkeit zurück. Kheireddine bezieht aber eindeutig Position für eine Nachahmung Europas sowohl im politischen als auch im wirtschaftlichen und technologischen Bereich und scheut sich nicht davor, die ’Ulama, d. h. die religiösen Gelehrten, zu überzeugen, dass dieser Weg keineswegs mit den Grundsätzen des Islams unvereinbar sei. 434 Dabei bezieht er sich direkt auf Prinzipien der Freiheit und Gerechtigkeit, die bereits von der islafür Mädchen und Jungen], in: At-Tahtawis gesammelte Werke, hrsg. von Mohammed Amara, Beirut 1973, Bd. II, S. 473 (eigene Übers., M. T.). 432 Ebd. 433 Kheireddine at-Tunisi, Aqwam al-Masalik fi Ma’rifat Ahwal al-Mamalik [Der richtige Weg zur Auswertung der Lage der Länder], hrsg. mit einer Einleitung von Moncef Chennoufi, Akademie der Wissenschaften, der Literatur und der Kunst (Bait al-Hikma), Tunis 2000. Siehe auch die Ausg. von L. Carl Brawn unter dem Titel The surest Path, Boston: Harvard University Press 1967. 434 Ebd., Bd. I, S. 97.

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mischen Tradition des Kalam formuliert worden und im Zuge der despotischen Herrschaft in Vergessenheit geraten waren. Sicherlich konnte Kheireddine seine politischen Ziele z. T. verwirklichen, als er zum Premierminister in Tunesien ernannt wurde. Er rief zur Einsetzung eines Parlaments und folglich zur Einführung einer konstitutionellen Monarchie auf. Um dieses Vorhaben zu realisieren, »umgab er sich mit aufgeklärten ’ulama, die in der Auslegung der schari’a besonders offen waren. Er stieß jedoch auf Widerstände: bei den Herrschenden, den staatlichen Strukturen und aus der Tiefe der Gesellschaft selbst.« 435 Dennoch hinterließ sein Vermächtnis tiefe Spuren und prägte das politische Establishment in Tunesien, wo 1861 die erste liberale Verfassung in der arabisch-islamischen Welt verabschiedet wurde. Im Gegensatz zu Kheireddine, dessen Entwurf eine gewisse Konkretion erfahren konnte, stieß die Kritik von Abderrahman al-Kawakibi an der absoluten Herrschaft im osmanischen Reich auf scharfe Reaktion seitens der türkischen Machthaber, die ihn verhafteten und für lange Zeit ins Gefängnis warfen. Nach seiner Freilassung ging der gebürtige Syrer ins Exil nach Ägypten, wo er sich anderen syrischen Oppositionellen anschloss. Von dort aus setzte er seine Kritik am Despotismus fort und trat umso vehementer für eine radikale Umwälzung der Herrschaftsstrukturen ein. In einem der beiden Werke, die er im Gefängnis verfasste – es wurde erst 1900 unter dem Titel Eigenschaften der Despotie und Kampf gegen die Sklaverei (Tabai’alIstibdad wa Massari’ al-Isti’bad) 436 veröffentlicht – befasst sich alKawakibi näher mit dem Begriff der Despotie und enthüllt dessen Eigenschaften. Dabei weist er auf die Beziehungen hin, die zwischen Despotie und Ehre sowie Religion auf der einen Seite und Geld und Wissen auf der anderen Seite bestehen und zeigt, dass die Macht des Despoten umso schwächer ist, je weniger diese Beziehungen existieren. Er entwirft außerdem die Grundlinien einer arabischen Verfassung, in der die Gewaltenteilung verankert ist und deren Führung frei und demokratisch gewählt werden soll, damit keine Rückkehr zur Despotie möglich sein kann. Ferner plädiert er für eine Gleichstellung

435 Hichem Djait, Das arabisch- muslimische Denken und die Aufklärung, a. a. O., S. 35. 436 Abderrahman al-Kawakibi, Tabai’ Al-Istibdad wa Massari’ Al-Isti’bad [Die Eigenschaften der Despotie und der Kampf gegen die Sklaverei], Beirut: éd. Dar Al-Shuruq, 2007.

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der Religionen und für eine gegenseitige Achtung der Gläubigen untereinander. Diese religiöse Toleranz soll die Solidarität der Bürger noch stärken und ihr nationales Gefühl verfestigen, denn für al-Kawakibi gilt es nicht mehr, die islamische Einheit zu wahren, sondern eher den arabischen Nationalismus zu stützen und folglich den Panarabismus zu fördern. So erscheint sein politisches Programm wie ein Gegenpol zur islamischen Ideologie des osmanischen Reiches und auch als Alternative zur Erneuerung der islamischen Reformer. Während unter dem Einfluss des Positivismus und der Evolutionstheorie andere Denker wie Schibli Schumail und Farah Anton an der Linie der Moderne festhielten und den Säkularismus forderten, betraten ab Mitte des 19. Jahrhunderts einige islamische Reformer wie Jamal ad-Din al-Afghani (1839–1897) und Muhammad ’Abduh (1849–1905) ideologisch wie erkenntnistheoretisch die politische Bühne, mit dem Ziel, einen eigenständigen Kurs einzuschlagen, in dem der Islam zur Grundlage für die Erneuerung der Gesellschaft erklärt würde. Al-Afghani, der vermutlich in Persien geboren ist und viele Länder der arabisch-islamischen Welt und Europa bereist hat, nahm an verschiedenen politischen Bewegungen aktiv teil und war rhetorisch ein streitbarer Agitator. Er hatte sich sehr früh mit Philosophie und Religionswissenschaften als auch mit Mathematik befasst und wandte sich bei seiner Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe zunächst gegen die eigene Tradition und besonders gegen die »geistfeindlichen ’Ulama« seiner Zeit, die nach seiner Aussage die Grundsätze des Islam falsch gedeutet hätten und so für die Rückständigkeit ihrer Zivilisation verantwortlich seien. 437 Entgegen der orthodoxen Haltung der Gelehrten, die eine Unvereinbarkeit von Islam und Moderne verbreiteten, setzte er sich für eine Übernahme der wissenschaftlichen Errungenschaften des Westens und für eine Aneignung des technologischen Fortschritts ein. Nach Anke von Kügelgen gilt al-Afghani »als derjenige, der sich als erster bemühte, Philosophie und Wissenschaft wieder in einem islamischen Kontext zu Ansehen zu verhelfen« 438. Zwei zentrale Themen bestimmten seine Weltanschauung: die

437 Gert Hendrich, Arabisch-islamische Philosophie. Geschichte und Gegenwart, a. a. O., S. 154; eine ausführliche Darstellung dieser Position bietet Geert Hendrich in seiner Arbeit Islam und Aufklärung, der Modernediskurs in der arabischen Philosophie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004. 438 Anke von Kügelgen, Averroes und die arabische Moderne, a. a. O., S. 66.

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politische Einheit unter den islamischen Völkern im Sinne eines Panislamismus, der sich dem europäischen Kolonialismus widersetzen sollte, und ein reformierter Islam, der von innen heraus gestaltet werden sollte und eine Öffnung auf Wissenschaft und Technologie des Westens ermöglichte, nicht aber seine Wertvorstellungen und seine ethischen Normen übernahm. An deren Stelle plädierte al-Afghani eher für eine Rückkehr zu den Wurzeln des Islam, die er als Bedingung für eine Erneuerung der arabisch-islamischen Kultur und als Quelle für die Entfaltung humanistischer Werte sah. Diese letzte Position bringt al-Afghani sowohl in seiner Erwiderung auf den französischen Orientalisten Ernest Renan, 439 der dem Islam Mangel an Anpassung und den Muslimen die Unfähigkeit, sich mit der Moderne zu versöhnen, vorhielt, als auch in seinem Werk Die Zurückweisung der Materialisten (ar-Radd ’ala ad-Dahriyyin) 440 zum Ausdruck. In diesem Werk wirft al-Afghani vor allem den Anhängern der Moderne und speziell des Darwinismus eine übertriebene Verherrlichung der Rationalität und eine Stärkung der Individualität vor, welche zu einem zunehmenden Egoismus und zur Inhumanität in der Gesellschaft führte. Nach seiner Ansicht kommt dem Menschen wegen der materialistischen Lebensauffassung der Moderne jegliche Spiritualität abhanden. Hingegen stellt der Islam die beiden Sphären, nämlich Rationalität und Spiritualität, in ein harmonisches Verhältnis und bietet somit dem Einzelnen wie der Gemeinde Einsicht, Halt und Ausgeglichenheit. Für die heutige Rezeption gilt al-Afghani oftmals als Vordenker des Panislamismus; er wird aber auch durch seine stärkere Bezugnahme auf die Altvorderen (as-Salaf as-saleh) als Vater des Salafismus angesehen, der später von einigen seiner Schüler mitbegründet wurde. Seine Ideen stießen besonders in Ägypten auf einen starken Widerhall und wurden besonders von seinem bedeutenden Schüler Muhammad ’Abduh weiter getragen und entwickelt. Wie al-Afghani war der ägyptische Gelehrte und spätere Rektor der al-Azhar Universität Muhammad ’Abduh auch der Meinung, dass die Grundlagen der westlichen Gesetze und deren Werte im

439 Ernest Renan, Der Islam und die Wissenschaft, in: Journal des Débats, Basel 1883, und die Erwiderung von al-Afghani, in: J. al-Afghani, Gesamtausgabe, Hrsg. von Muhammad ’Amara, Kairo, 1967, S. 209 ff. 440 Jamal ad-Din al-Afghani, ar-Radd ’ala ad-Dahriyyin [Die Zurückweisung der Materialisten], in: J. al-Afghani Gesammtausgabe, a. a. O., S. 127–179.

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wahren Islam enthalten seien. Er bemühte sich deshalb darum, eine Erneuerung des Islam von innen zu rechtfertigen. Sein Reformprogramm lässt sich in drei Punkten unterteilen: Als erster zielt es auf ein neues Religionsverständnis hin, das den Islam mit der Realität in Einklang bringt. Im Gegensatz zu al-Afghani interpretiert ’Abduh die islamische Lehre dahingehend, dass sie mit den Anforderungen der Moderne übereinstimmen kann. 441 Hierbei verwirft er die nachahmende Tradition (Taqlid) und befürwortet eine Wiederaufnahme der Textinterpretation (al-Ta’wil) und des Ijtihad. Als zweiten Punkt hält er eine Reform der arabischen Sprache und der Bildung für notwendig, weil die Sprache das wichtigste Kommunikationsmittel zum Verstehen der Texte sei. So verlangt er auch eine Ausarbeitung von Sprachlexika und Werken über die geschichtliche Entwicklung der arabischen Kultur. Als dritten Punkt betont er die Notwendigkeit des Erkennens der Rechte und Pflichten sowohl des Herrschers als auch des Volkes und deren Einhaltung, damit ein friedliches Zusammenleben gewährleistet wird. 442 In diesem Rahmen ist die Beteiligung an politischer Aktivität impliziert, was ’Abduh jedoch aufgrund gewisser Zwänge nicht öffentlich bekundete, unter anderem wegen der Bedingung, nicht politisch aktiv zu sein, die er für seine Rückkehr aus dem Exil akzeptiert hatte. Schaut man sich die Werke von Muhammad ’Abduh, die sein Verständnis vom wahren Islam herausstellen, näher an, so stellt man fest, dass sie keiner genaueren Schule folgen und einen gewissen Eklektizismus aufweisen. 443 Dabei wird auch ersichtlich, dass ’Abduh sowohl vom islamischen als auch vom europäischen Denken beeinflusst wurde, besonders von den Mu’taziliten und islamischen Philosophen wie al-Ghazali, Ibn Ruschd und vom Vertreter der hanbalitischen Schule Ibn Taimiyya, aber auch von europäischen Denkern wie Spencer, Comte und Renan. Seine Debatte mit Farah Antun über das Werk von Ibn Ruschd bestätigt, dass er sich eher in Richtung des Salafismus bewegt hatte. Kernpunkt der Diskussion, die 1902/1903 zwischen Muhammad ’Abdu und dem Verfechter des Säkularismus Farah Antun (1874–

Ahmad Amin, Zu’ama al-Islah fil ’asr al-Hadith, a. a. O., S. 327. Ebd.; vgl. auch Tilman Nagel, Geschichte der islamischen Theologie von Mohammad bis zur Gegenwart, C. H. Beck Verlag, München 1994, S. 255. 443 Vgl. Rudolph Peters, Erneuerungsbewegungen im Islam vom 18. bis zum 20. Jahrhundert und die Rolle des Islam in der neueren Geschichte, a. a. O., S. 125. 441 442

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1922) stattfand, war weniger die Art der Rezeption von Ibn Ruschds Werk nach der damaligen Lektüre von Renan 444 als vielmehr die Frage nach der Spezifität des arabisch-islamischen Diskurses und seiner Beziehung zur Moderne, die in eine scharfe Kontroverse zwischen islamischer Reform mit der Nachahmung der Altvorderen Salaf alsaleh und Rationalismus bzw. Säkularismus mündete. 445 Der Publizist Farah Antun erklärte den islamischen Philosoph Ibn Ruschd zum bedeutenden »arabischen Philosoph«, der eine klare Trennung von Philosophie und Religion vollzogen und infolgedessen eine Vermischung von Wissenschaft und Glauben überwunden hatte, denn er ordnete die Wissenschaft dem Verstand zu, während er die Religion in den Bereich des Herzen gelegt hatte. Antun betonte: »Die Wissenschaft muß in den Bereich des ›Verstandes‹ gestellt werden, denn ihre Gesetze gründen auf Beobachtung, Experiment und Prüfung. Die Religion aber muß in den Bereich des ›Herzens‹ gestellt werden, denn ihre Gesetze gründen auf der Unterwerfung unter das, was in den Heiligen Schrifte steht, ohne ihre Grundlagen zu erforschen. Es ist unberechtigt zu sagen, die Einteilung in ›Verstand‹ und ›Herz‹ sei eine frevelhafte Neuerung (bid’a) für die Wissenschaft und zerstöre deren Macht, da sie [die Wissenschaft] doch jedes Ding und jede Grundlage untersuchen wolle.« 446

Er schließt daraus, dass jeder Bereich für sich allein betrachtet werden soll und somit einer Trennung von Wissenschaft und Glauben genauso wie von Staat und Religion nichts im Wege stünde. Hingegen beharrt ’Abduh auf deren Verbindung und erklärt die Wissenschaft und die Philosophie zum integralen Bestandteil der Religion. Er besteht darauf, dass der erste Grundsatz des Islams eben besagt, den Verstand zu gebrauchen, um sich den Glauben anzueignen. Er geht soweit, den Verstand zum Richtmaß für die Wahrheit der Überliefung zu erheben und betont: »Bis auf wenige Ausnahmen, die keine Bedeutung verdienen, sind sich die Muslime darin einig, dass im Falle des Widerspruchs zwischen Verstand und Überliefeung das gilt, worauf der Verstand verweist. Es bleiben dann zwei Möglichkeiten, mit der Überlieferung zu verfahren: Erstens, man gibt Siehe: Ernest Renan, Averroès et l’averroïsme, a. a. O. Tayyeb Tizini (Hrsg.), Farah Antun: Ibn Rushd wa falsafatuhu ma’a nusus als munazara baina Muhammad Abdu wa Farah Antun [Farah Antun: Ibn Rushd und seine Philosophie, mit den Texten zur Debatte zwischen Mohammad Abdu und Farah Antun], Beirut 1988. 446 Farah Antun, Ibn Ruschd wa Falsafatuhu, a. a. O., S. 123; zitiert nach Anke von Kügelgen, Averroes und die arabische Moderne, a. a. O., S. 81. 444 445

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zu, dass die Überlieferung wahr ist, räumt aber ein, dass man sie nicht begreife, und stellt ihren Inhalt Gott anheim; zweitens, man legt sie unter Beachtung der Regeln der Sprache dergestalt aus, dass schließlich ihr Sinn mit dem, was der Verstand bejahen kann, übereinstimmt. Dank diesem Prinzip, das auf den Koran, die echte sunna und die Handlungsweise des Propheten gegründet ist, wurde dem Verstand jeder erdenkliche Weg geebnet, wurden ihm alle Hindernisse beiseite geräumt, hat er ein unbegrenztes Betätigungsfeld. Was müsste die Spekulation eines Philosophen wohl erreichen, um noch hierüber hinauszugelangen? Welcher freie Raum könnte alle spekulativen Denker und alle, die sich der Wissenschaften befleißigen, umgreifen, wenn nicht dieser?« 447

Diese Art der Argumentation führt ’Abduh ebenfalls zur Ablehnung einer Teilung der politischen Gewalten, da sie nach seiner Ansicht de facto undurchführbar sei. 448 Solche Debatten wurden zwei Jahrzehnte später in Ägypten nach der Abschaffung des Kalifats und der Einführung des säkularen Staates in der Türkei (1924) wieder geführt und zum Anlass für eine tief greifende Auseinandersetzung mit dem islamischen Rechtssystem genommen. Das Buch von Ali Abd ar-Raziq (1888–1966) Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft (1925) ist hierfür ein paradigmatisches Beispiel, in dem die Kritik am religiösen Diskurs geübt wird. Es zeigt, dass die Trennung von religiöser Grundlehre und Herrschaftssystem längst vollzogen war, was die Institution des Kalifats obsolet machte. Deshalb plädiert Ali abd ar-Raziq zum Schluss für eine Reformierung des islamischen Rechtssystems und für die Einführung einer modernen politischen Verfassung. 449 In der Zeit danach hat sich bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein die Tendenz zur Öffnung für die philosophischen Diskurse des Westens in der arabisch-islamischen Welt und eine Rückbesinnung auf die islamischen Ursprünge fortgesetzt. Im Zuge der Emanzipation der Länder in dieser Region vom Kolonialismus wurde sie sogar verstärkt und hatte aufgrund der Bildung von Nationalstaaten die Debatte um ideologische Orientierung angeregt. Diese Öffnung wurde durch die Rezeption sowohl der Klassiker, wie DesMohammad ’Abduh, Al-A’mal al-kamila, a. a. O., Bd. III, S. 262. Eine Zusammenfassung der Thesen von Antun und ’Abduh liefert Anke von Kügelgen, Averroes und die arabische Moderne, a. a. O, S. 79–95. 449 Ali Abdar-Raziq, Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft, Frankfurt a. M.: Peter Lang 2010. 447 448

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cartes, Kant und Hegel, als auch von Nietzsche, Bergson, Heidegger und Sartre begünstigt, welche den philosophischen Diskurs mancher arabisch-islamischer Denker beeinflusst haben. Außerdem konnten gewisse Strömungen wie Positivismus, Pragmatismus, Marxismus und Existenzialismus in den Hochschulen Fuß fassen und Interesse bei den Intellektuellen wecken, die auf der Suche nach neuen Alternativen waren. Dies lässt sich exemplarisch an Abdul Rahman Badawi und Mohamed Aziz Lahbabi zeigen, die sich um eine interkulturelle Synthese im Sinne des Dialogs der Kulturen bemüht haben. Zweifellos gehört Abdul Rahman Badawi (1917–2002) zu den eminenten Philosophen Ägyptens im 20. Jahrhundert. Er studierte Philosophie und lehrte zunächst an der Universität Kairo, dann später in vielen Ländern der arabischen Welt. Mit über hundert Werken gilt er als einer der produktivsten Autoren seiner Zeit. Seine Schwerpunkte lagen in der Rezeption antiker Philosophie und ihrer Verbindung mit der arabisch-islamischen Philosophie des Mittelalters. Hier sind besonders seine Arbeiten über Das griechische Erbe in der islamischen Kultur, Aristoteles bei den Arabern und Die griechischen Wurzeln der politischen Theorien im Islam zu erwähnen. 450 Außerdem befasste er sich vorwiegend mit existenzphilosophischen Problemen und widmete ihnen mehrere Schriften, angefangen bei seiner Promotion über Existentialistische Zeit, in der er einen eigenen Weg zwischen Heidegger und Sartre entwickelte, über Humanismus und Existentialismus im arabischen Denken bis hin zu seinen Studien über Existentialismus. 451 Ferner kümmerte er sich um die Übersetzung und Rezeption deutscher Denker wie Kant, Schelling, Goethe und Nietzsche, die er hoch schätzte. Sein Beitrag zur interkulturellen Philosophie bezog sich nicht allein auf die Aneignung und Vermittlung westlichen Wissens, sondern schlug Brücken zwischen den unterschiedlichen Kontexten, u. a. aufgrund seiner Beherrschung mehrerer Sprachen. So verfasste er Bücher zum Humanismus und zur

Die meisten der Schriften von Badawi sind in arabischer Sprache erschienen, darunter: Das griechische Erbe in der islamischen Zivilisation, Kairo 1940; ders., Aristoteles bei den Arabern, Kairo 1943,;Die griechischen Wurzeln der politischen Theorien im Islam, Kairo 1955. 451 Abdul Rahman Badawi, Az-Zaman al-Wujudi [Existentialistische Zeit], Kairo 1945; ders., Al-insanawiyya wal Wujudia fil-Fikr al-’Arabi [Humanismus und Existentialismus im arabischen Denken], Kairo 1947; ders., Dirasat hawla al-Wujudia [Studien über Existentialismus], Kairo 1961. 450

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arabisch-islamischen Philosophie auf Französisch. 452 Insofern bildet Badawi mit seinem enzyklopädischen Wissen ein Bindeglied zwischen den beiden Kultursphären in Orient und Okzident. Einen anderen Weg als Badawi schlug zur selben Zeit der marokkanische Denker Mohamed Aziz Lahbabi (1923–1993) ein. Während seines Studiums der Physik, Philosophie und der orientalischen Sprachen Ende der vierziger Jahre in Paris wurde er von mehreren philosophischen Strömungen beeinflusst, besonders von den islamischen Philosophen des Mittelalters wie Ibn Sina, Ibn Ruschd und Ibn Khaldûn, aber auch von denjenigen der Reformbewegung der Nahdha, wie Jamal ad-Din Al-afghani, Muhammad Abduh und Rashid Ridha, sowie von den französischen Humanisten der Gegenwart wie Henri Bergson und Emmanuel Mounier. Der zuletzt genannte Denker hat mit seinem ethischen Personalismus einen starken Einfluss auf Lahbabis philosophische Entwicklung ausgeübt und somit seinen Denkprozess im Hinblick auf den Entwurf einer islamischen Anthropologie geprägt. Doch während Mounier zur Entwicklung seines Personalismus auf die christliche Theologiegeschichte zurückgriff, leitete Lahbabi die Grundlage seines islamischen Personalismus (alShakhsaniya al-islamiyya) unmittelbar aus den Quellen des Islams wie Koran und Sunna ab.453 Bei ihm gilt die Shahada, d. h. das Bekenntnis zum Islam, als Schlüssel für sein Verständnis islamischer Anthropologie, denn mit der Shahada verlässt der Mensch die Anonymität des Seins und tritt in einen Prozess der Selbstreflexion ein, der ihn sowohl seine Totalität als Person als auch ihre Überschreitung zu einer weiteren, nämlich zur Totalität der Gemeinschaft (Umma), erfahren lässt, und es ihm ermöglicht, durch den Bund mit den anderen Gläubigen in ein gemeinsames Wir einzutreten. Anders ausgedrückt: »Mit dem Islam erlangt der Mu’min (der Gläubige) ein Bewusstsein seiner selbst als Angehöriger der umma (der Gemeinschaft der Gesamtheit der 452 Abdul Rahman Badawi, Le Problème de la mort dans la philosophie existentielle, Publications de l’université Ain Shems, 1964; ders., Histoire de la Philosophie en Islam, Paris: Vrin 1972; ders., Quelques figures et thèmes de la philosophie islamique, Paris: éd. Maisonneuve et Larose 1979; ders., La transmission de la philosophie grecque au monde arabe, Paris: Vrin 1987. 453 Zur Unterscheidung zwischen den Positionen beider Denker siehe: Kneer, Markus, Person und shakhs, Grundbegriffe einer mediterranen Anthropologie, in: Dhouib, Sarhan (Hrsg.), Kultur, Identität und Menschenrechte, Transkulturelle Perspektiven, Göttingen: Velbrück Wissenschaft, 2012, S. 297–311.

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Gläubigen), das über das Individuum, den Stamm und die Rasse hinausgeht. Als solcher ist er aufgerufen, in individueller Weise alle seine Akte zu verantworten vor Gott, dem Absoluten Wesen, und vor allen menschlichen Wesen, welche, da alle von Gott, dem Universalen Wesen, geschaffen wurden, Mitmenschen, Brüder sind.« 454

Damit stellt der Islam ein bindendes Element zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft dar, welches auch das Prinzip der Individuation des modernen Denkens in Frage stellt und es zu überwinden sucht. Er schafft dadurch die Bedingungen für ein ethisch-soziales Klima, in dem sich die einzelnen Mitglieder in der Gemeinde miteinander solidarisch verbunden fühlen und wo sie gemäß gemeinsamer moralischer Werte handeln. Lahbabis Werke De l’être à la personne. Essai de personnalisme réaliste (Vom Sein zur Person. Versuch eines realistischen Personalismus), Liberté ou libération? (Freiheit oder Befreiung?) und Le personnalisme musulman (Der islamische Personalismus) weisen ganz deutlich in die Richtung einer alternativen Philosophie, deren Potential offensichtlich darin besteht, eine »wissenschaftliche und ›zweckbestimmte‹ Philosophie der Gesellschaft von morgen« 455 zu entwerfen. Darin verlässt das Individuum die Sphäre des bloßen Seins, um zur Person aufzusteigen, und geht infolgedessen eine soziale und ethische Bindung mit der Gemeinschaft ein. Dabei gilt die Freiheit für seinen Entschluss, das Zeugnis abzulegen, als Grundvoraussetzung seines Handelns. Die bewusste Stellungnahme des Bezeugenden macht sein Personenstatut aus. Dennoch stößt diese Perspektive, die Lahbabi zunächst realistischen, dann islamischen Personalismus nennt, aufgrund ihres partikularen Charakters wohl an ihre Grenze. In einer globalisierten Welt wie der gegenwärtigen fällt es nämlich schwer, sich allein auf die Grundsätze der Offenbarung zu stützen, um die Wirklichkeit zu erfassen und die Zukunft zu gestalten. Zwar ist mit der Rückkehr des religiösen Diskurses in den letzten Jahrzehnten als Reaktion auf die Moderne ein Aufstieg der religiös geprägten Ideologien zu verzeichnen, aber diese Phänomene können mit ihren partikularen Weltanschauungen und ethischen Normen keineswegs

454 Mohamed Aziz Lahbabi, Le personnalisme musulman, Paris 1964; zitiert nach der Übersetzung von Markus Kneer, Mohamed Aziz Lahbabi, Der Mensch: Zeuge Gottes, Entwurf einer islamischen Anthropologie, Freiburg im Breisgau: Verlag Herder 2011, S. 59. 455 Ebd. S. 53.

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eine Lösung im Sinne der Universalität bieten, die für alle Menschen gelten soll. Sie würden sich mit ihren Ansprüchen nur über einen Kampf der Kulturen behaupten können, wie ihn Samuel Huntington propagiert, und der fatale Konsequenzen für die Menschheit nach sich gezogen hat. Es bedarf stattdessen eher einer interkulturellen Perspektive, die den Dialog bzw. Polylog der Kulturen und Religionen fördert und den humanistischen Prozess unter Achtung der Menschenrechte unterstützt. Das hat Lahbabi offensichtlich erkannt, als er sich seit den sechziger Jahren politisch stärker engagierte und für eine ›aufgeschlossene‹ Philosophie gemäß der Dritten Welt eintrat, in der die Kultur vom Kolonialismus befreit werden sollte. 456

7.3. Zeitgenössische Kritik und Selbstkritik Schaut man nun auf die philosophischen Diskurse, die seit dem Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in der arabischen Welt geführt wurden, so stellt man eindeutig fest, dass sie sich entweder mit der Selbstkritik oder Kritik der eigenen historischen und ideologischen Situation befasst haben. Diese Paradigmen sind im Grunde nicht neu in dieser Region. Ihre Wurzeln reichen bis in die Zeit der Aufklärung, in der islamische Reform und geistige Erneuerung der Gesellschaft aus der Kraft des reinen Glaubens ebenfalls durch Kritik der damaligen Verhältnisse intendiert wurden. 457 Dennoch war diese islamische Reform, wie Gudrun Krämer zurecht anmerkt, »weniger die radikale Infragestellung des eigenen geistig-religiösen Erbes als vielmehr die Suche nach einer, wenn auch fiktiven, Kontinuität, die die innersten Werte des ›wahren‹, des reinen Islam erneut zur Richtschnur individueller Lebensführung und gesellschaftlicher Ordnung machen soll« 458. Erst im Laufe der sechziger Jahre des vorigen Jahr456 Markus Kneer, »Abgeschlossen« oder »aufgeschlossen«? Muhammad Aziz Lahbabis islamische Kulturphilosophie und die Frage nach einem universalen Humanismus, in: Mariane Heimbach Steins, Rotraud Wieland (Hrsg.), Was ist Humanität? Interdisziplinäre und interreligiöse Perspektiven, Würzburg 2008, S. 25–41. 457 Hischam Djait, Das arabisch-muslimische Denken und die Aufklärung, in: Edmute Heller / Hassouna Mosbahi (Hrsg.), Islam Demokratie Moderne, Aktuelle Antworten arabischer Denker, a. a. O., S. 29–46. 458 Gudrun Krämer, Kritik und Selbstkritik: Reformistisches Denken im Islam, in: Michael Lüders (Hrsg.), Der Islam im Aufbruch? Perspektiven der arabischen Welt, Piper Verlag, München 1992, S. 210.

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hunderts hat sich die Kritik radikalisiert und auf die tatsächlichen Gründe für die Krise im arabisch-islamischen Raum konzentriert. Sie erfasste alle Bereiche des Lebens: Kultur, Recht, Gesellschaftsund Wirtschaftsordnung sowie Religion und politische Verfassung. 459 Doch das Wesentliche betraf die Selbstkritik am eigenen Umgang mit dem kulturellen Erbe (turath) und mit der Moderne sowie die Frage, wie man aus den bisherigen dogmatischen Geschlossenheiten herauskommt. 460 Während einige arabische Intellektuelle wie Sadik Jalal al-Azm, Tayyeb Tizini, Fuad Zakariya und Hischam Sharabi für einen radikalen Bruch mit der Tradition plädieren und eine Säkularisierung des politischen Lebens fordern, 461 regen andere Denker, wie Mohammed Arkoun, Mohammed ’Abed al-Jabri und Hasan Hanafi, eine kritische Auseinandersetzung mit dem islamischen Erbe an und führen einen konstruktiven Dialog sowohl mit der eigenen Kultur als auch mit der Moderne. 462 Dabei wird das Augenmerk hauptsächlich auf die erkenntnistheoretischen Systeme gelegt, um die Defizite in der Wahrnehmung des Selbst und des Anderen – meistens des Westens – zu beheben und eine Neubegründung des Rationalismus in der islamischen Kultur zu initiieren, der wiederum den Anschluss an die

459 Hischam Djait, Kultur und Politik in der arabischen Welt, in: Edmute Heller / Hassouna Mosbahi (Hrsg.) Islam, Demokratie, Moderne, a. a. O., S. 94–109; Halim Barakat, Glaube und Herrschaft in der arabischen Gesellschaft von heute: eine Analyse, ebd., S. 110–129; Adonis, Kultur und Demokratie in der arabischen Gesellschaft, ebd., S. 130–137, Mohammed Arkoun, Religion und Demokratie: Das Beispiel Islam, ebd., S. 138–154. 460 Mohammed Arkoun, Reform oder Subversion? Zu einer Politik der Vernunft, in: S. Dhouib (Hrsg.), Arabisch-islamische Philosophie der Gegenwart, Concordia 2011, Nr 59, S. 5–13; Hisham Sharabi, Moderne und islamische Erneuerung: Die schwierige Aufgabe der arabischen Intellektuellen, in: Islam Demokratie Moderne, a. a. O., S. 47– 61; ders., Der Weg zur Moderne: Betrachtungen über die Macht, die Frau und die Armut; ebd., S. 211–217; Adonis, Die Sackgasse der Moderne in der arabischen Gesellschaft, ebd., S. 62–71. 461 Fuad Zakariya, Säkularisierung – eine historische Notwendigkeit, in: M. Lüders (Hrsg.), Der Islam im Aufbruch? A. a. O., S. 228–245; Sadik Jalal Al-Azm, Wider den fundamentalistischen Ungeist, ebd., S. 246–259. 462 Mohammed ’Abed al-Jabri, Kritik der arabischen Vernunft, Die Einführung, Perlen Verlag, Berlin 2009. Mohammed Arkoun, Pour une critique de la raison islamique, Paris, Maisonneuve et Larose, 1984; ders., Der Islam. Annäherung an eine Religion, Heidelberg: Palmyra Verlag 1999; ders., Humanisme et Islam. Combats et propositions, Paris: Vrin 2005; Nasr Hamid Abu Zaid, Islam und Politik, Kritik des religiösen Diskurses, Frankfurt a. M.: Dipa Verlag, 1996.

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Moderne ermöglichen soll. Anhand einiger Konzeptionen dieser Denker werden die Formen der Selbstkritik und Kritik sowie ihre Perspektiven nun veranschaulicht. Man kann die zwei Bücher des syrischen Philosophen Sadik Jalal al-Azm, Die Selbstkritik nach der Niederlage (1968) und die Kritik des religiösen Denkens (1969), als eine Pionierarbeit im Rahmen des Kritikprojektes innerhalb der arabischen Kultur der Gegenwart betrachten, weil sich damit eine historische Wende im arabisch-islamischen Denken vollzogen hat. 463 In der Tat war bis Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die Kritik hauptsächlich nach außen ausgerichtet und galt in erster Linie dem Westen als Kolonialmacht oder auch als Kulturhegemonie bzw. als ›intellektuellem Ansturm‹ (ghazw fikri), der eine »existentielle Bedrohung islamischer Identität und Lebensform« 464 darstellte. Nach der militärischen Niederlage von 1967 gegen Israel leitete Al- Azm die Kritik nach innen ein und versuchte schonungslos nach den Gründen der arabischen Krise im eigenen Denken und politischen Handeln zu suchen, d. h. nach den Anlässen für die »Unfähigkeit und Einflüsse, die dazu geführt haben, Makel und Unzulänglichkeiten sichtbar werden zu lassen« 465, zu fragen. Diese Kritik wird von Anfang an als ›Selbstkritik‹ (an-naqd adhati) bezeichnet und betrifft vor allem die Sichtweise, mit der bis dahin die eigene Wirklichkeit meistens apologetisch erfasst wurde. Mit anderen Worten, es geht hier um einen Pardigmenwechsel, der das methodische Verfahren bei der Analyse der sozialen und historischen Situation betrifft, und um die neue geistige Orientierung bei der Handhabung der jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen. 463 Sarhan Dhouib, Philosophische Wege zu Recht und Ethik. Beispiele aus der arabisch-islamischen Philosophie der Gegenwart, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Recht und Moral, Hamburg: Meiner Verlag 2010, S. 175. 464 Gudrun Krämer, Kritik und Selbstkritik: Reformistisches Denken im Islam, a. a. O., S. 211. 465 Als Pionier für diese Art der Kritik und Selbstkritik zu Beginn dieser Periode gilt der syrische Philosoph Sadik Jalal Al-Azm mit seinen beiden Büchern: An-naqd athati ba’da al-hazima [Die Selbstkritik nach der Niederlage], Beirut 1968 und Naqd alfikr ad-dini [Kritik des religiösen Denkens], Beirut 1969. Damit hat er eine bahnbrechende Richtung für die arabischen Intellektuellen geschlagen. Ihm ging aber der marokkanische Denker und führende Politiker Allal al-Fassi mit seinem Buch AlNaqd al-Dhati [Die Selbstkritik] Anfang der fünfziger Jahre voraus, in dem er eine Apologie der Freiheit vollzog und gleichzeitig »zurück zu den Quellen des Islam« rief. Siehe: Allal al-Fassi, Al-Naqd al-Dhati [Die Selbstkritik], Kairo 1951.

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Neben der Selbstkritik, die das Selbstgefühl der arabischen Intellektuellen empfindlich erschüttert hat, greift al-Azm noch das damals vorherrschende religiöse Denken an, welches nicht nur den Bereich des Glaubens erfasst, sondern vor allem die politischen und die gesellschaftlichen Strukturen weitgehend lenkt. Er kritisiert die Verstrickung von Religion und Staat und fordert eine säkulare Verfassung, die das politische Leben neu gestalten soll. Das gilt besonders für den Libanon, wo die politischen Instanzen nach konfessionellem Proporz aufgeteilt sind. Dieser Kritik begegnen jedoch die religiösen und politischen Autoritäten unterschiedlicher Richtungen mit Ablehnung und Diffamierung. Sie bezichtigen al-Azm, Aufruhr in die Gemeinschaft zu bringen und zur Störung des religiösen Friedens anzustiften. Zwar sind die Kritik am religiösen Denken und die Forderung nach einer Säkularisierung des politischen Lebens in der arabisch-islamischen Welt nicht fremd. Aber mit der zunehmenden Islamisierung von Gesellschaft und Staat sowie mit der Instrumentalisierung und Ausbreitung des politischen Islams wurde die Kritik am religiösen Diskurs immer schwerer vertretbar. Das hat Sadiq Jalal al-Azm deutlich gespürt, als gegen ihn Anklage erhoben wurde. 466 Dennoch ließ er sich davon nicht aufhalten. In seinen weiteren Schriften wie Das Unbehagen in der Moderne. Aufklärung im Islam und Islam und säkularer Humanismus 467 greift er die Problematik des Verhältnisses von Islam und Säkularismus wieder auf und setzte seine Kritik am politischen Islam bzw. am Islamismus fort. Gegenüber dem Letzteren vertritt er nun einen ›säkularen Humanismus‹, der die Trennung von Staat und Religion mit Nachdruck unterstreicht und den Menschenrechten in der Konzeption einer zukünftigen politischen Verfassung breiteren Raum gewährt. Diese Form der Selbstkritik setzt später der marokkanische Historiker Abdallah Laroui in seiner Studie über die Krise der arabischen Intellektuellen 468 fort, wo er schonungslos die Lage seiner arabischen Zur Debatte über den Prozess gegen Al-Azm vgl. Stefan Wild, Gott und Mensch im Libanon. Die Affäre Sadiq al-’Azm. In: Der Islam. Zeitschrift für Geschichte und Kultur des islamischen Orients, Jg. 1972, Bd. 48, S. 206–253. 467 Sadiq Jalal al-Azm, Unbehagen in der Moderne. Aufklärung im Islam, Frankfurt a. M. 1993; ders., Islam und säkularer Humanismus, Tübingen: Siebeck Verlag, 2005. 468 Abdallah Laroui, La Crise des intellectuels arabes, traditionalisme ou historicisme, Paris: Maspéro 1974; ders., L’idéologie arabe contemporaine: Essai critique, Préface de Maxime Rodinson, Paris: éd. Maspéro 1977. 466

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Zeitgenossen diagnostiziert und ihre Forschungsmethoden systematisch unter die Lupe nimmt. Laroui wirft ihnen Mangel an Objektivität und Historizitätssinn vor und spricht in diesem Zusammenhang von einem »historischen und kulturellen Rückstand« des Orients gegenüber dem Westen, der erst eingeholt werden müsse, damit der Orient als Partner wahr- und ernstgenommen werden könne. Außerdem bezeichnet er den Rückgriff auf den Traditionalismus seitens einiger Intellektueller, um ihre eigene kulturelle und religiöse Identität zu behaupten, als eine der fatalsten Formen der Entfremdung, die zwar den eigenen Rückstand verschleierte, ihn aber im Endeffekt vergrößerte. Deshalb plädiert Laroui für eine »historizistische Betrachtungsweise« der arabisch-islamischen Geschichte und Kultur, die es ermöglicht, den a-historischen Zustand zu erfassen und dagegen vorzugehen. Was die Situation der arabischen Intellektuellen direkt angeht, so beschreibt er sie zum Schluss seiner Studie folgendermaßen: »Der arabische Intellektuelle führt heute ein unglückliches Leben […], weil seine Gesellschaft nach einem infra-historischen Rhythmus lebt. Er wird seine Misere erst beenden, wenn er seine Forderungen nach einer radikalen Erneuerung deutlich erklärt und sie später mit all seinen Kräften verteidigt, damit der lange Winter der Araber schließlich aufhört zu existieren.« 469

Anders als al-Azm und Laroui, aber mit dem Anspruch einer ideologischen Wende in der Rezeption des arabisch-islamischen Kulturerbes, tritt der syrische Philosoph Tayyeb Tizini (geb. 1934) auf und gibt der Interpretation dieses Erbes eine materialistische Orientierung. Sein Projekt einer neuen Betrachtung des arabischen Denkens im Mittelalter 470 stützt sich auf die bereits veröffentlichte Promotion mit dem Titel Die Materieauffassung in der islamischen Philosophie des Mittelalters 471, in der er unter dem Einfluss von Blochs Werk Avicenna und die aristotelische Linke eine neue Lesart des philosophischen Kulturerbes eingeleitet hat. Diese marxistische Lektüre wirft einen anderen Blick auf die sozioökonomische und geistige Situation der arabisch-islamischen Gesellschaft im Mittelalter und zeigt andere Aspekte der damaligen Philosophie als den des VerhältEbd., S. 219 (eigene Übers., M. T.). So heißt auch sein erstes auf Arabisch veröffentlichtes Buch: Mashru’ Ru’ya jadida li at-Turath fi al-’Asr al-Wasit, Dar Dimashq 1971, womit er sein Projekt über 12 Bände begonnen und im Laufe der folgenden zwei Jahrzehnte vervollständigt hat. 471 Tayyeb Tizini, Die Materieauffassung in der islamischen Philosophie des Mittelalters, Berlin: Dietz Verlag, 1972. 469 470

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nisses von Glauben und Wissen, der bisher die Rezeption beherrscht hat. Es sind vor allem die von Aristoteles übernommenen Kategorien von Materie, Form und Bewegung und deren Einheit, die anhand der arabisch-islamischen Philosophen herausgearbeitet werden und deren Wirkung auf die Entwicklung der Naturwissenschaften hervorgehoben wird. Insofern gilt das Projekt von Tizini als ein Meilenstein in der Lektüre des Kulturerbes, der später andere Denker zur Nachahmung ermuntert hat. Allerdings lässt sich Tizinis Philosophie nicht allein auf diese Konzeption reduzieren. Sie zielt außerdem darauf, das arabisch-islamische Denken als einen Teil der menschlichen Philosophiegeschichte zu betrachten und entsprechend in einen evolutionären historischen Prozess zu integrieren. Damit nimmt es einfach am Werdegang der Menschheitsgeschichte teil und schließt ein Glied in der Kette zwischen der antiken Philosophie und der Neuzeit. So gehen die ersten Bände seines Projekts auf die vorislamische Zeit ein und behandeln die Entwicklung vom Beginn dieses Denkens in der Zivilisation Mesopotamiens bis hin zum Aufkommen des Islams. In diesem Zusammenhang wirft er der traditionellen Rezeptionsmethode von Koran und Hadith Starrheit und Mangel an historischer Wahrnehmung des Kontextes bei der Lektüre dieser Texte vor und erklärt, dass sie aufgrund ihrer spezifischen Struktur mehrere Ebenen der Lesart bieten. 472 Es kommt also auf die Methodologie bei der Textexegese und auf die hermeneutische Vorgehensweise in der Interpretation an. Tizini kommt bei seiner Analyse zu dem Schluss, dass jede Lektüre dieser Texte ihren ideologischen und sozialen Hintergrund hat sowie ihre Legitimität besitzt. 473 Von da aus leitet er sein Säkularismusverständnis ab, das aus der Funktion der Religion in der Gesellschaft hervorgeht. Je nachdem, ob die Religion eine ›Glaubensfunktion‹ oder eine ›zivilisatorische‹ Funktion in der Gesellschaft innehat, ändert sich sowohl ihre Rolle als auch ihr Einfluss. Im Fall der Glaubensfunktion steht die Beziehung allein zwischen dem Gläubigen und Gott, während bei der zivilisatorischen Funktion die Religion eine

472 Tayyeb Tizini, An-Nass al-qurani wa Ishkaliyat bunyatihi wa qira’atihi [Der koranische Text und seine Struktur und seine Lektüre], Damaskus: Dar al-Yanabee’, 1997, S. 101 ff. 473 Tayyeb Tizini, Al-Islam wa Tahaddiyat al-’Asr wa Afaquhu [Der Islam und die Herausforderungen der Epoche und ihre Horizonte], Damaskus: Dar al-Fikr, 1998, S. 128 ff.

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sozialintegrierende Rolle spielt. Aufgrund dieser Funktion ergibt sich ebenfalls die Möglichkeit des Säkularismus trotz der Präsenz der Religion. 474 Neben der Problematik der Rezeption und Auslegung des Kulturerbes befasst sich Tizini ebenfalls mit dem Thema der arabischen Renaissance und deren Wirkung auf die gegenwärtige Realität sowie auf das zeitgenössische Denken. Mit Bezug auf die Debatte zwischen Farah Antun und Mohammed ’Abduh bezüglich des Verhältnisses von Glauben und Wissen bei Ibn Ruschd nimmt Tizini Partei für den ersten und sieht in seiner Deutung des Säkularismus den Weg für das friedliche Zusammenleben in einem multireligiösen Staatgebilde. Außerdem bringt er in seiner Schrift Deklaration zur arabischen Renaissance und Aufklärung 475 seine Vorstellung von der Gestaltung der Zukunft zum Ausdruck. Darin formuliert er die theoretischen Bedingungen für das Gelingen einer zweiten Renaissance und weist auch auf die Gefahren hin. Besonders gegen diese marxistische Lesart des Kulturerbes (Turath) wendet sich der marokkanische Philosoph Mohammed Abed al-Jabri (1935–2010) und versucht dabei, die Schwächen aller gegenwärtigen Diskurse aufzudecken, ob diese nun traditionell, liberal oder marxistisch sind. In seiner bahnbrechenden Schrift Wir und das Kulturerbe (Nahnu wat-Turath) 476 kritisiert er die Art und Weise, wie der arabische Diskurs in der Gegenwart mit der Überlieferung umgeht, und zwar nicht im Sinne einer kulturellen Erinnerung, sondern vielmehr als etwas Gegenwärtiges, das diesen Diskurs beherrscht. Anders ausgedrückt: »Der moderne und zeitgenössische arabische Diskurs ist in Wahrheit ein Diskurs des Gedächtnisses, nicht ein Diskurs der Vernunft. Es ist nicht ein selbstbewusster Diskurs, der über Unabhängigkeit und die Ganzheit eines

474 Tayyeb Tizini, Fit-Tariq nahwa Wudhuh manhaji. Al-’Ilmania fil Fikr al-’Arabi [Auf dem Weg zur methodologischen Klarheit. Säkularismus im arabischen Denken], Beirut: Dar al-Farabi, 1989, S. 51 ff. 475 Tayyeb Tizini, I’lan hawla an -Nahdha al-’arabiyya wat-Tanwir [Deklaration zur arabischen Renaissance und Aufklärung], Beirut: Dar al-Farabi, 2005. 476 Mohammed ’Abed al-Jabri, Nahnu wat-Turath [Wir und das Kulturerbe], Beirut: Dar at-Tanwir, 1980; einige Auszüge dieser Schrift sind in Kritik der arabischen Vernunft, Naqd al-’Aql al-’arabi, Die Einführung, a. a. O., S. 65–73 übersetzt und übernommen worden.

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Zeitgenössische Kritik und Selbstkritik

Ich verfügt, sondern einer, der im Namen einer leitenden Autorität spricht, die die Überlieferung gebraucht und nicht die Vernunft.« 477

Aufgrund dieser Feststellung fordert al-Jabri eine Dekonstruktion des Erbes, die eine Distanz zur Überlieferung schafft und sie zum Objekt der historischen Forschung macht, anstatt sie weiterhin die Gegenwart bestimmen zu lassen. Dabei wagt er den Schritt, ebenso die Genese und Struktur wie auch die politischen Auswirkungen dieses arabisch-islamischen Diskurses genauer zu untersuchen. In Anlehnung an Kants Kritikprogramm der Vernunft setzt er sich mithilfe der strukturalistischen Methode mit den erkenntnistheoretischen Paradigmen des arabisch-islamischen Denkens und seiner Zielsetzungen auseinander. Seiner Meinung nach scheint die Spezifität dieses Denkens einer eigenen Rationalität zu folgen und nicht unbedingt den Paradigmen westlicher Vernunft zu entsprechen. In seinem dreibändigen Werk Kritik der arabischen Vernunft 478 weist al-Jabri darauf hin, dass es drei verschiedene Paradigmen gibt, die im arabisch-islamischen Kulturerbe gleichzeitig in Erscheinung treten und dem jeweiligen Denken und Handeln als Bezugssystem zugrunde liegen. Diese Paradigmen entspringen einem gewissen Modus von Rationalität und sind mit den folgenden arabischen Begriffen gekennzeichnet: – Al-Bayan, das zunächst das Offensichtliche bedeutet. Dieser Begriff erfasst das Erkenntnissystem des tradierten Wissens, d. h. der religiösen Texte (Koran und Hadith) mitsamt der erfolgten hermeneutischen Exegese. Er schließt aber auch die Sprache, die Grammatik sowie Rechtswissenschaft und spekulative Theologie (’Ilm al Kalam) mit ein. Es handelt sich also um einen Wissensbereich, der einer Rationalität religiöser Prägung folgt, die alJabri ›das religiöse Denkbare‹ – al Ma’qul addini – nennt. – Al-Irfan, das Synonym für den Weg der Illumination ist und die Gnosis, d. h. alle esoterischen Wissenschaften, kennzeichnet, die mit der Sufi-Lehre bzw. Mystik in Verbindung stehen und unter

Ebd., zitiert nach Hendrich, Islam und Aufklärung, a. a. O., S. 288. Muhammad ’Abid al Gabiri, Naqd al ’Aql al ’arabi, Beirut: Markaz Dirasat al Wehda al ’Arabia 1984; Kritik der arabischen Vernunft: Bd. 1: Taqwin al’Aql al Àrabi [Genese der arabischen Vernunft]; Bd. 2: Bunyat al ’Aql al ’Arabi [Struktur der arabischen Vernunft], Beirut 1986. Eine Auswahl der Texte von al-Jabri wurde in einem Band übersetzt und herausgegeben unter dem Titel Kritik der arabischen Vernunft, Die Einführung, a. a. O. 477 478

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›dem rational nicht Denkbaren‹ – al la ma’qul al ’aqli – subsumiert werden können. – Al-Burhan, das alle Erkenntnisse und Wissenschaften umfasst, die sich der logischen Beweisführung und Begründung bedienen. Dieses auf dem Burhan gegründete System nennt al-Jabri das ›rational Denkbare‹ (al Ma’qul al ’aqli), welches auf rationalen Prämissen aufgebaut ist und dessen erkenntnistheoretische Ergebnisse mithilfe empirischer Experimente nachgeprüft werden können. Beim Letzteren liegen zweifellos die Präferenzen von al-Jabri, der in diesem epistemischen Paradigma die Bedingungen für eine kritische Analyse des gesamten arabischen Kulturerbes für gegeben sieht und sie als Bedingung der Möglichkeit für eine Überwindung der gegenwärtigen Krise im arabisch-islamischen Denken erfasst. Voraussetzung für einen solchen Vorgang ist jedoch der epistemologische Schnitt – la coupure épistémologique –, der bei der Struktur der arabischen Vernunft im Zeitalter des Niedergangs der arabisch-islamischen Kultur angesetzt werden soll und folglich eine Umorientierung des Denkens auf der Basis rationalistischer Interpretationsmethoden initiiert. Daraus leitet er auch sein Projekt der ›Kritik der arabischen Vernunft‹ ab, das sich mit der Besonderheit der arabischislamischen Kultur befasst. Im ersten Band seiner Kritik mit dem Titel Die Genese der arabischen Vernunft definiert al-Jabri diesen Begriff folgendermaßen: »Die arabische Vernunft […] ist weder eine leere Kategorie noch ein metaphysischer Begriff noch ein ideologisches Schlagwort für Lob oder Tadel; wir verstehen darunter vielmehr die Summe der Begriffe und intellektuellen Leistungen, welche […] das Anschauungsvermögen des arabischen Menschen, seinen Umgang mit der Umwelt, seinen Wissenserwerb sowie die Produktion von Wissen bestimmen.« 479

Mit anderen Worten, die arabische Vernunft ist nichts anderes als der geistige Ausdruck bestimmter sozio-kultureller, d. h. geschichtlichreligiöser und sprachlicher Bedingungen, die wiederum die ideologische Anschauung der arabischen Menschen und infolgedessen auch ihre Identität ausbildeten. Doch dieser Rahmen hat sich im sog. ›goldenen Zeitalter‹ des Islam vom 8. bis zum 12. Jahrhundert gebildet und seitdem kaum verändert, was zu einer dogmatischen Erstarrung 479 Mohammed Abed Al-Jabri, Kritik der arabischen Vernunft. Die Einführung, a. a. O., S. 70.

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führte. Deshalb sei es heute al-Jabri zufolge notwendiger denn je, einen anderen methodischen Ansatz in Angriff zu nehmen, der sich eher an das Modell der positiven Wissenschaften anlehnt und auf den Bereich der Geisteswissenschaften angewandt werden sollte. Dieses vom Philosophen Gaston Bachelard für die Naturwissenschaften entwickelte, dann aber von den Strukturalisten wie Michel Foucault und Louis Althusser weiter auf die Geisteswissenschaften übertragene Modell des ›epistemologischen Schnitts‹ wird von al-Jabri als methodisches Verfahren übernommen und entsprechend auf die gesamte arabische Geistesgeschichte angewandt, um die Strukturen der arabischen Vernunft zu dekonstruieren. Das impliziert zunächst, Abschied vom bisherigen Erkenntniskriterium des Analogieschlusses bei der Betrachtung und Beurteilung der eigenen Geschichte zu nehmen, welches bis heute als eine zentrale islamische Rechtsquelle gilt. Demnach darf es keine Projektion der Vergangenheit auf die Zukunft gemäß des Analogieschlusses vom ›Bekannten‹ auf das ›Unbekannte‹ (qiyas al-gha’ib ’ala al-shahid) 480 mehr geben. Stattdessen müsse die Vergangenheit auf ein einfaches Objekt der Untersuchung reduziert und dürfe nicht weiter zum Modell für die Gestaltung der Zukunft herangezogen werden. Ferner sollen die angeführten Texte nicht allein nach ihrer Bedeutung befragt, sondern sie müssen auch auf ihre ideologische Funktion hin untersucht werden. So können sie Auskunft über den sozialen und ideologischen Kontext liefern. Ausgehend von diesen Thesen lässt sich der Schluss ziehen, dass al-Jabris Projekt einer Kritik der arabischen Vernunft das Ziel verfolgt, nicht nur die traditionellen Strukturen des arabisch-islamischen Diskurses und Wissens aufzudecken, sondern zugleich eine Modernisierung des Denkmodus der zeitgenössischen arabischen Intellektuellen einzuleiten, dessen Tragweite im hermeneutischen Verfahren der Lektüre des Kulturerbes sichtbar wird. Ihm geht es also, um mit Kant zu sprechen, um eine Neubegründung der ›Denkungsart‹, die allerdings nicht wie bei Kant auf einer universaleren Ebene Ebd., S. 74; Dabei wird den Herausgebern der Kritik der arabischen Vernunft zufolge (S. 14) »von einer Ähnlichkeit zweier Dinge oder Vorgänge auf eine Identität ihrer Eigenschaften geschlossen: A hat Ähnlichkeit mit B; B hat die Eigenschaft C; also hat auch A die Eigenschaft C«. Nach Al-Jabri wurde die Methode von »Wissenschaftlern auf dem Gebiet des Rechts und der Grammatik in der herausragenden wissenschaftlichen Arbeit angewandt, die zur Kodifizierung der arabischen Sprache und des religiösen Gesetzes führte«. Ebd.

480

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verfolgt wird, sondern auf das Feld der arabisch-islamischen Kulturund Geistesgeschichte beschränkt ist. 481 Mit dieser Reduktion fällt alJabri allerdings nach der Meinung von Tizini in die Partikularität des kulturellen Kontextes zurück und verliert damit den Blick für die Universalität des Denkens, das er mittels der Rationalität aufbauen will. Seine strukturalistische Methode entbehrt jeglichen historischen Bezugs zur gesellschaftlichen Realität und wirkt statisch wie ein auf das Kulturerbe aufgepropftes Modell. 482 Außerdem wirft Tizini al-Jabri vor, mit seiner Teilung des Kulturerbes in einem ›irrationalen‹ Diskurs des Mashriq und einem ›rationalen‹ maghribinischen Diskurs einen ideologischen Dualismus herbeigeführt zu haben, der durch keine epistemische Grundlage legitimiert werden kann. Insofern fällt er hinter den ›eurozentristischen‹ Diskurs zurück. Diese Kritik zeigt zwar die Schwächen der Konzeption von al-Jabri auf, darf jedoch die Wertschätzung seiner Leistung nicht schmälern, denn sie ist der Beginn eines epistemischen Diskurswechsels bzw. der Start in ein »Zeitalter der Neuformulierung«. Im Gegensatz zu al-Jabri tritt der ägyptische Philosoph Hasan Hanafi (geb. 1935) mit seiner Kritik dem gegenwärtigen Diskurs der Moderne unter Einbeziehung der phänomenologischen und hermeneutischen Methoden entgegen und versucht eine Erneuerung der islamischen Kultur in Angriff zu nehmen. Sein Projekt zielt auf die Erschließung eines revolutionären Modells von Denken und Handeln, das sich nicht am Konzept der westlichen Moderne orientiert, welches Hanafi bereits für gescheitert erklärt, sondern vielmehr eine eigene authentische Entwicklung in der Tradition der Reformer des 19. Jahrhunderts entfaltet. In seinen ersten Werken Das Kulturerbe und die Erneuerung (at-Turath wa at-Tajdid) und Vom Glauben zur Revolution (min al’Aqida ila Thawra) 483 zeichnet Hanafi die Grundlinien dieses Projekts nach, das er als Programm einer ›islamischen Linken‹ auffasst. DemAnke von Kügelgen, Averroes und die arabische Moderne. Ansätze zu einer Neubegründung des Rationalismus im Islam, Leiden: Brill 1994, S. 270. 482 Tayyeb Tizini, Min al-Istishraq al-gharbi ila al-Istighrab al-maghribi. Dirasa’ fi qira’at al-Jabri lil-Fikr al-’arabi wa afaquhu at-tarikhiyya, Homs: Dar al-Zakira, 1996, S. 46 ff. 483 Hasan Hanafi, at-Turath wa at-Tajdid [Das Kulturerbe und die Erneuerung], Dar at-Tanwir, Beirut 1981; ders., Min al-’Aqida ila-Thawrah [Vom Glauben zur Revolution], Beirut: Dar at-Tanwir, 1988. 481

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nach soll der Entwurf die emanzipatorischen Ansätze der Reformer wieder aufnehmen und beleben, mit dem Ziel, »die Muslime im Kampf gegen Kolonialismus und Unterentwicklung zu vereinen sowie Freiheit und soziale Gerechtigkeit unter den Völkern zu realisieren« 484. Mit anderen Worten: Hanafi scheint, wie sein Vorbild alAfghani, mithilfe einer islamischen Erneuerung nach einer Konkretisierung politischer Ziele zu streben. Doch bei näherer Betrachtung seiner Schriften wird auch sichtbar, dass er nicht allein an die islamischen Reformer anknüpft, sondern sich ebenso die positiven Aspekte der Aufklärung zunutze macht. Das lässt sich vor allem an seiner Übersetzung der Werke wichtiger Denker wie Spinoza, Lessing und Goethe verdeutlichen, die für ihn die Fortsetzung der christlichen Reformation darstellen. Dennoch hält Hanafi die Moderne in ihrer bisherigen Entfaltung als Wissenschaft und Macht des Westens für ein Phänomen der Entfremdung und Unterjochung der Völker der sog. ›Dritten Welt‹. Besonders in seinem Werk Okzidentalistik (al-Istighrab) 485, das den Titel in umgekehrter Anspielung an die westlichen Studien der Orientalistik trägt, setzt er sich mit dem Westen auseinander. Dabei wendet er die Hegel’sche Herr-Knecht-Dialektik in Gestalt von ›Zentrum‹ und ›Peripherie‹ an. Darin heißt es: »Das Ziel der Okzidentalistik ist es, ein Gegengewicht zur Verwestlichung der Dritten Welt herzustellen. Der Westen wurde zum Modell der Modernisierung außerhalb seiner selbst, in Afrika, Asien und Lateinamerika … Okzidentalistik als kulturelle Bewegung will die sich entwickelnden Gesellschaften vom bloßen Transfer von Wissen hin zur kulturellen Kreativität verändern. Seit der Phase der Befreiung basierte die Konstruktion des Nationalstaates auf den modernen Wissenschaften, die aus dem Westen kamen. Die Rolle der Intellektuellen und besonders der Naturwissenschaftler bestand im Transfer von Wissenschaften, Künsten und Literatur aus dem Westen in die außerwestliche Welt. Der Westen produzierte und wir konsumierten … Die Kultur des Zentrums strahlte in die Peripherie aus … Die Okzidentalistik hilft der Dritten Welt teilzuhaben an den Entdeckungen einer gemeinsamen zivilisatorischen Heimat der gesamten Menschheit.« 486 484 Hasan Hanafi, Madha ya’ni al-Yasar al-islami [Was heißt die islamische Linke?], in: Al-Yasar al-Islami, Nr. 1, Januar 1981, S. 5. 485 Hasan Hanafi, Muqaddima fi ’Ilm al-Istighrab, Kairo 1990, ders., Islam and the modern World, 2 Bde., Kairo 1995; ders., From Orientalism to Occidentalism, in: Concordia Nr. 59 (2011), S. 33–40 (kurze Zusammenfassung). 486 Hasan Hanafi, Islam in the Modern World, 2 Bde., Kairo 1995; zitiert nach Hendrich, Islam und Aufklärung, a. a. O., S. 269.

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Mit der Okzidentalistik entwirft Hanafi in der Tat ein alternatives Modell der Wissenschaft zur bisherigen Verwestlichung der Kultur in der Peripherie, indem er an die traditionelle Kulturkritik der Intellektuellen der Dritten Welt wie Fanon und an die Bewegung der »Négritude« in Afrika oder die Befreiungstheologie in Lateinamerika anknüpft, und er durchleuchtet damit kritisch die philosophischen Grundlagen der westlichen Moderne in ihrer globalisierten Form. So kommt er zu der Schlussfolgerung, dass die Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie nach derselben Dialektik des Herr-Knecht-Verhältnisses vonstatten geht, und zwar nicht nur auf politökonomischer Ebene, sondern auch kulturell. So werden die Kulturen der Peripherie ebenso Opfer der hegemonialen Macht des Westens und verlieren im Zuge der Verwestlichung ihre eigene Authentizität. Hanafis Standpunkt lässt sich in den folgenden Punkten zusammenfassen: – Durch die Moderne hält sich der Westen für das einzige Modell des Fortschritts und der Zivilisation. Er betrachtet sich somit als Stellvertreter der Menschheit insgesamt und schließt folglich die übrige Welt aus. – Als Zentrum der Macht übernimmt der Westen die Entscheidung und die Rolle der Oberaufsicht über Wissenstransfer und Entwicklung in andere Länder. Entsprechend bleibt die Peripherie von dessen Gunst abhängig. – Der Einfluss der Moderne wird systematisch gefördert, um die übrigen Formen des Denkens und Handelns in der Peripherie zurückzudrängen und nicht wirksam werden zu lassen. So hält der Westen seine Hegemonie aufrecht und schafft zugleich eine gewisse Eindimensionalität. Aufgrund dieser Vorbehalte soll die ›Okzidentalistik‹ als Wissenschaft auftreten, um die Auswüchse der modernen Rationalität zu enthüllen und ihre ideologischen Beweggründe zu entlarven. Allerdings fehlt bei seiner Kritik die Möglichkeit einer Überwindung des vorhin aufgezeichneten Dualismus von Zentrum und Peripherie bzw. von West und Ost im Sinne einer Aufhebung der Gegensätze durch einen interkulturellen Austausch oder Dialog. In ähnlicher Richtung wie Hanafi, aber etwas differenzierter, erscheint die Haltung des algerischen Islamwissenschaftlers Mohammed Arkoun (1928–2010) mit seiner Kritik an der islamischen Vernunft. In seinem Beitrag mit dem Titel ›Westliche‹ Vernunft kontra ›islamische‹ Vernunft? Versuch einer kritischen Annäherung vertritt 212 https://doi.org/10.5771/9783495807866 .

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Arkoun die These, dass die gegenwärtig herrschende Rationalität des Westens im Grunde nichts anderes als ein Zeichen hegemonialer Vernunft sei, welche die Welt geopolitisch und geohistorisch aufteilt, um sie zu beherrschen. Nach dem bekannten römischen Spruch ›divide et impera‹ hat sie die Welt in ein Zentrum und eine Peripherie geteilt, wobei der Westen aufgrund seiner technologischen und industriellen Entwicklung ebenso wie durch seine politökonomische Macht das Zentrum bildet, während die übrige Welt zur marginalisierten Peripherie zählt. Diese Dichotomie scheint ebenfalls für die Vernunft zu gelten, die man in ›westliche‹ und ›islamische‹ Vernunft unterteilt, ohne dabei zu verkennen, dass die Rationalität dem Westen zugerechnet wird, während der Irrationalismus auf der Seite des Islams steht. So hat es zumindest Samuel Huntington angedeutet, als er den ›westlichen Universalismus‹ dem Rest der Welt, und speziell dem ›Islam und China‹, gegenüber stellte. 487 Für Arkoun sind solche Benennungen jedoch unsachgemäß und unzutreffend, weil sie den Kern der Problematik nicht erfassen, genauso wenig wie die Gegenüberstellung von Säkularismus und religiösem Denken. Was unter dem Begriff der Moderne oder Rationalität heute subsumiert wird, bezeichnet Arkoun als die entfesselte Kraft der hegemonialen Vernunft, die zwar dem Westen als Zentrum der Macht »Fortschritt aus Technologie und Produktivität, Industrialisierung und Geldstreben« beschert, aber zugleich den Rest der zur Peripherie herabgestuften Welt wirtschaftlich weiterhin ausbeutet, militärisch unterjocht und ihn daran hindert, den Anschluss an die ›Gutes verheißende‹ Moderne zu finden. Denn was die Moderne an idealen Werten im Zuge der Aufklärung hervorgebracht hat, wie wissenschaftlichen Fortschritt, Emanzipation, Freiheit und Menschenrechte, wurden der Peripherie zuerst vorenthalten und danach nur bedingt zugelassen. Deshalb verlangt Arkoun eine Revision der Paradigmen, die unsere Denkweise bestimmen, damit wir die genauen Sachzusammenhänge erkennen und gegen das dualistische Denken vorgehen können. Diesen Vorgang erläutert er am folgenden Beispiel: »[U]m die Gewalttätigkeit zu verstehen, die unser Jahrhundert [das 20. Jahrhundert, M. T.] erschüttert hat, müssen wir ohne falsche RücksichtS. Huntington, Kampf der Kulturen, a. a. O., S. 294 ff.; Eine kritische Einschätzung dieses Buches liefert Dieter Senghaas in seinem Aufsatz: Die fixe Idee vom Kampf der Kulturen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 2 (1997), S. 215–221.

487

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nahme und frei von Polemik die wirksame Kraft der hegemonialen Vernunft zu verstehen versuchen« 488, d. h. die der Rationalität innewohnenden Strukturen und die sie begleitenden negativen Mechanismen aufdecken und analysieren, um dann die historische Wahrheit wieder herzustellen. Arkouns Vorhaben ist eigentlich nicht neu; er hat daran seit Jahrzehnten gearbeitet. Schon 1973 schreibt er in einem Buch mit dem Titel Essais sur la pensée islamique (Essays über das islamische Denken) unter der Überschrift L’islam face au développement (Der Islam gegenüber der Entwicklung): »La vraie recherche scientifique consiste à bien poser les vrais problèmes et non pas tant à définir des solutions plus ou moins durables« 489, d. h.: »Die wahre wissenschaftliche Forschung besteht darin, die wirklichen Probleme zu stellen, und nicht darin, mehr oder weniger langfristige Lösungen zu entwerfen.« Arkoun spricht in diesem Zusammenhang von ›falschen Problemen‹, die seit den fünfziger Jahren im Zuge einer raschen technologischen und industriellen Entwicklung und einer Ausweitung der Kluft zwischen dem Zentrum und der Peripherie entstanden sind. Sie drücken sich in Dichotomien bzw. in Gegensatzpaaren aus, wie z. B.: entwickelt/unterentwickelt, reich/arm, fortschrittlich/rückständig, Okzident/Dritte Welt. Aus eben diesen Korrelationen lassen sich die falschen Bezeichnungen und Stereotypen wie westliche/ arabische oder rationale/islamische Vernunft ableiten. Zur Überwindung solcher Denkschemata und begrifflicher Stereotypen, die sich gegenseitig ausschließen, schlägt Arkoun einige Bedingungen vor, darunter die Aufhebung der Opposition Orient/ Okzident, die wissenschaftliche Aufarbeitung der verschiedenen Schichten der islamischen Überlieferung und die genauere Betrachtung der dialektischen Wechselwirkung von kultureller Entfaltung und wirtschaftlicher Entwicklung. Das Instrumentarium für seine Methode entnimmt er den angewandten Wissenschaften wie der strukturellen Anthropologie und der Linguistik, die dem postmodernen Dekonstruktivismus den Weg geebnet haben. Mit Hilfe der vorhin genannten Postulate und der neuen wissenschaftlichen Methoden

488 M. Arkoun, »Westliche« Vernunft kontra »islamische« Vernunft? Versuch einer kritischen Annäherung, in: Der Islam im Aufbruch, Perspektiven der arabischen Welt, a. a. O., S. 264. 489 M. Arkoun, Essais sur la pensée islamique, Paris: Maisonneuve et Larose 1973, S. 297.

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kann das erkenntnistheoretische Feld nicht mehr linear bearbeitet werden; es bieten sich eher mehrere Dimensionen an, von denen das Objekt der Betrachtung näher beleuchtet werden kann. So erweist sich z. B. der gegenwärtige epistemologische Schnitt, der zwischen dem Westen und der islamischen Welt besteht, nicht als Zeichen einer kulturellen Differenz, sondern spiegelt vielmehr die Distanz der Völker im postindustriellen Zeitalter zu den noch an archaischen Strukturen festhaltenden Gesellschaften wider. 490 Insofern gelangt man über die soziopolitischen, ökonomischen und historisch- anthropologischen Analysen zu weiteren Ergebnissen und Schlussfolgerungen. Was die Korrelation westliche /islamische Vernunft anbetrifft, so muss hier klargestellt werden, dass beide denselben Anspruch auf Hegemonie erheben, denn wie Arkoun deutlich betont: »Die islamische Vernunft, in ihrer theologisch-juristischen Ausprägung des 7. bis 13. Jahrhunderts, war ihrerseits eine hegemoniale Kraft wie auch die christliche Vernunft jener Zeit.« 491 Sie galt ebenfalls als Herrschaftsinstrument dessen, der sie ihrer bediente, um seine machtpolitische Ziele durchzusetzen. Und wenn heute Islamisten oder andere Intellektuelle jene Vernunft des damaligen ›goldenen Zeitalters‹ als Referenz nehmen und für sich beanspruchen, dann geschieht dies gemäß der gleichen Logik, mit der die ›westliche‹ Vernunft sich heute behauptet. Mit Arkouns Worten: »Die ›islamische‹ Vernunft der Gegenwart erhebt den Anspruch, die an den Westen verlorene Hegemonie zurückzugewinnen« 492, obwohl unter den gegebenen Umständen ein solcher Anspruch jeglichen Realitätsbezugs entbehrt und nur auf den negativ utopischen Charakter der Weltanschauung seiner Träger hindeutet. Aus diesem Grund tritt Arkoun für eine kritische Vernunft ein, welche Kritik an jeder Art von hegemonialer Vernunft, einschließlich der islamischen und ihres gesellschaftlichen Umfeldes, übt und ein neues Verständnis ebenso vom Menschen wie von der Gesellschaft und Religion zu ergründen sucht. Arkoun formuliert es folgendermaßen: »Kritische Vernunft meint Beseitigung jedweder Hegemonie, sei es im theologischen, juristischen, ökonomischen oder politischen Bereich.« 493 Eine radikale Kritik der islamischen Vernunft hat daher die 490 491 492 493

Ebd., S. 308. Arkoun, »Westliche« Vernunft kontra »islamische« Vernunft?, a. a. O., S. 269. Ebd., S. 269. Ebd., S. 268.

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Aufgabe, nicht allein die fremdbestimmenden Strukturen der Gesellschaft aufzudecken, sondern ebenso die intern hemmenden Mechanismen ans Licht zu bringen, um sie zu beheben. In diesem Vorgang überwiegt sicherlich der Einfluss der postmodernen Denker, die sich mit den Machtstrukturen des Diskurses durch ›Dekonstruktion‹ eingehend befasst haben. Aber seine Kritik gilt auch als Antwort auf alJabiris Ansatz einer Kritik der arabischen Vernunft und dessen Beschäftigung mit dem Kulturerbe und seiner Rezeption.

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Ausblick

Wirft man heute einen Blick auf den Stand der Forschung der letzten Jahrzehnte, so wird offenkundig, dass die Versuche einer Auseinandersetzung mit dem arabisch-islamischen Kulturerbe sich weiterhin in zwei Richtungen bewegen und sich nicht allein auf die Denker der arabischen Welt beschränken, sondern auch von Philosophen und islamischen Gelehrten aus anderen Regionen unternommen werden. Die eine Tendenz schließt sich mehr dem Paradigma der Moderne an und entwickelt eigene Ansätze zur Universalität, mit dem Ziel, die bisherigen Gegensätze zwischen Tradition und Moderne zu überwinden und über Inter- bzw. Transkulturalität eine Basis für andere philosophische Diskurse zu schaffen sowie neue Perspektiven zur Gestaltung der Zukunft in der arabisch-islamischen Welt zu entwerfen. Namen wie Nassif Nassar, Mustafa al-Nashar, Mohamed Mesbahi oder Fathi Triki gehören zu dieser Strömung. 494 Während Nassif Nassar die noch bestehende Antinomie von Tradition und Moderne dialektisch aufheben will und für eine »zweite Renaissance« plädiert, die »das Erbe nicht eliminiert oder den Gegenwartbezug ignoriert, noch auch die Dialektik zwischen ihnen bestreitet, sondern sie […] in einer funktionalen Weise« 495 aufnimmt und dadurch das aktive Individuum von Abhängigkeit befreit, tritt Moha494 Aus der Fülle der Literatur zu diesem Thema werden hier nur exemplarisch einige Titel ausgeführt wie z. B.: Nassif Nassar, Nahwa Mujtama’ Jadid, Muqaddimat asasiyya fi Naqd al-Mujtama’ attaifi, Beirut 1995, Mohamed Mesbahi, In welchem Sinn könnte Ibn Rushd einen Zugang zum Dialog der Kulturen bieten?, in: Concordia Nr. 59 (2011), S. 57–70; ders., Das Recht auf Modernität als gemeinsamer Raum zwischen den Kulturen, in: Die Moderne im interkulturellen Diskurs, Perspektiven aus dem arabischen, lateinamerikanischen und europäischen Denken, hrsg. von H. Schelkshorn und J. Ben Abdeljelil, Weilerswist: Velbrück Verlag 2012, S. 86–98; Fathi Triki, Demokratische Ethik und Politik im Islam, Arabische Studien zur transkulturellen Philosophie des Zusammenlebens, Weilerswist: Velbrück Verlag 2011. 495 Nassif Nassar, Bab al-hurriyya (Das Tor der Freiheit), Beirut: Dar at-Tali’a 2003, S. 30.

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Ausblick

med Mesbahi ganz klar für ein »Recht auf Modernität als ›gemeinsamen Raum‹ zwischen den Kulturen« 496 ein, wo diese sich begegnen und die Moderne »zum Menschen als Mensch spricht, nicht als ein Mensch, der eine besondere Kultur und Identität hat«. So verliert die Moderne ihre Besonderheit als historisches Gebilde des Westens und erscheint wie eine kulturelle Triebkraft für die gesamte Menschheit. Dadurch kann die Moderne nach Mesbahi »die Tradition zwingen, sich selbst zu erneuern, um selbst ein aktives Element in der Entwicklung von Modernität werden und nicht als Hindernis dafür zu gelten« 497. Paradigmatisch dafür nennt er das Beispiel von Ibn Ruschd, dessen Einfluss sich gegenwärtig in der Erneuerung des Denkens, besonders im arabischen Averroismus, widerspiegelt und als Zugang zum »Dialog der Kulturen« dienen kann. 498 Auf derselben Linie fordert Mustafa al-Nashar in Anspielung auf Francis Bacons Novum Organon ein Arabisches Organon für die Zukunft 499 als Modus für die Überwindung des tradierten Denkens und als Mittel für die Gestaltung der Zukunft auf der Basis neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, während Fathi Triki in seinem Entwurf einer »Philosophie des Zusammenlebens« 500 die Alternative für ein Konzept des Zusammenseins sieht. Diese ist von der Anerkennung der kulturellen Vielfalt, der Differenz und der Alterität geprägt und auf ein menschenwürdiges Dasein ausgerichtet, welches von der Vernünftigkeit geleitet und von der phronésis als humaner Form des Lebens in der Gemeinschaft begleitet wird. Die andere Richtung folgt hingegen weiter dem Kurs der Erneuerung des Islams und der Identitätsfindung. Zu den arabischen Denkern, die in diesem Bereich weiter wirken, wie Abdelmajid Charfi, Muhammad Shahrur oder Taha Abderrahman, zählen auch andere

496 Mohamed Mesbahi, Das Recht auf Modernität als gemeinsamer Raum zwischen den Kulturen, a. a. O., S. 95. 497 Ebd. 498 Mohamed Mesbahi, In welchem Sinn könnte Ibn Ruschd einen Zugang zum Dialog der Kulturen bieten?, in: Concordia Nr. 59 (2011), S. 57–70; vgl. dazu auch: Sarhan Dhouib, »Dialog der Kulturen« versus »Kampf der Kulturen«? Die Aktualität von Ibn Ruschd in der arabisch-islamischen Philosophie der Gegenwart, in: Polylog Nr. 17 (2007), S. 61–75. 499 Mustafa al-Nashar, Al-Urghanun al’arabi lil-Mustaqbal [Das arabische Organon für die Zukunft], Kairo: Dar al-misriyya al-lubnaniyya, 2014. 500 Fathi Triki, Philosophie des Zusammenlebens, in: Demokratische Ethik und Politik im Islam, a. a. O., S. 95 ff.

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Ausblick

islamische Philosophen wie Seyyed Hossein Nasr und Abdolkarim Soroush aus dem Iran oder Farid Ishaq aus Südafrika. 501 Diese »neuen Denker des Islams«, wie sie Rachid Benzine in seiner gleichnamigen Monographie nennt, verbindet die gemeinsame Absicht, »den Islam selbst zu überdenken«, d. h. sie wollen der bisher von der islamischen Orthodoxie und z. T. von den westlichen Medien propagierten Vorstellung eines monolithischen Islam entgegen treten und auf der Grundlage einer neuen Hermeneutik der Koranexegese und der Interpretation ein differenziertes und plurales Bild vom Islam als Glaube und Kultur vermitteln. Mit anderen Worten, »sie wollen die späteren Auslegungen und Anwendungen, die aus der koranischen Botschaft und anderen Gründungstexten (Hadith, Sunna, das Textkorpus der großen Rechtssschulen usw.) abgeleitet wurden, überdenken und kritisch unter die Lupe nehmen.« 502 Doch angesichts der Umwälzungen, die seit dem »arabischen Frühling« in vielen Ländern der arabischen Welt stattgefunden haben und die politischen wie auch die gesellschaftlichen Strukturen radikal veränderten, befindet sich auch der philosophische Diskurs in einem Umbruch und sucht nach adäquaten Antworten auf die neuen Herausforderungen. Aber da die Philosophie wie die »Eule der Minerva« ihren Flug erst am Abend beginnt, fällt es heute schwer vorauszuahnen, wohin der zukünftige Diskurs steuert. Ob der bisherige Dualismus und die Zerrissenheit zwischen Anschluss an die Moderne oder Rückbesinnung auf die islamische Tradition fortbestehen werden, vermag keiner vorauszusagen. Aber der Anstoß für eine Wahrnehmung der Realität mit all ihren gegenwärtigen Wandlungen und für ein Umdenken in der arabisch-islamischen Welt ist bereits gegeben worden. Es kommt nun darauf an, die eigentlichen Probleme, mit denen sich die Gesellschaft konfrontiert sieht, ernst zu nehmen und die notwendigen Bedingungen für einen herrschaftsfreien Dialog zu schaffen, mittels dessen die dringenden Fragen nach Gerechtigkeit, 501 Katajun Amirpur / Ludwig Ammann (Hrsg.): Der Islam am Wendepunkt. Liberale und konservative Reformer einer Weltreligion. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder 2006. In seiner Einführung in die islamische Philosophie führt Hamid Reza Yousefi andere Namen, hauptsächlich aus dem Iran, an, und bietet damit einen Einblick in die gegenwärtige philosophische Diskussion in Iran. Siehe: Hamid Reza Yousefi, Einführung in die islamische Philosophie. Eine Geschichte des Denkens von den Anfängen bis zur Gegenwart, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag, 2014. 502 Rachid Benzine, Islam und Moderne, Die neuen Denker, aus dem Französischen übersetzt von Hadya Gurtmann, Berlin: Verlag der Weltreligionen, 2012, S. 14.

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Ausblick

Verantwortung, Menschenrechten und demokratischer Partizipation diskutiert und Lösungen für die Zukunft prospektiv eruiert werden. Der bloße Rückbezug auf die Identität kann der arabisch-islamischen Philosophie angesichts der enormen Herausforderungen durch die Globalisierung nicht helfen, ganz im Gegenteil: er wird sie eher in eine Sackgasse bzw. in die Identitätsfalle führen, die mehr dazu beiträgt, Verwirrung zu stiften und möglicherweise »die Welt in Flammen zu setzen« 503. Auf die Frage, weshalb man heute die arabisch-islamischen Philosophen lesen sollte, antwortet der Philosoph Ali Benmakhlouf in seinem kürzlich erschienenen Buch Pourquoi lire les philosophes arabes? L’héritage oublié (Weshalb die arabischen Philosophen lesen? Das vergessene Erbe): »[Sie] gehören zum integralen Bestandteil der intellektuellen Geschichte der Menschheit« und bieten »einen Zugang zur Geschichte der Wahrheit, die die Menschheit miteinander teilt« 504. Damit liefert er eine ähnliche Antwort wie diejenige, die in dieser Einführung dargelegt worden ist.

503 Amartya Sen, Die Identitätsfalle, Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2010, S. 32 ff. 504 Ali Benmakhlouf, Pourquoi lire les philosophes arabes? L’héritage oublié, Paris: Albin Michel 2015, S. 8.

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Bibliographie

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