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German Pages [368] Year 2023
Bernd Braun / Dirk Schumann (Hg.)
Eine europäische »Generation Ebert«? Politische Sozialisation und sozialdemokratische Politik der »1870er«
Schriften der Stiftung ReichspräsidentFriedrich-EbertGedenkstätte Band 20
Bernd Braun / Dirk Schumann (Hg.)
Eine europäische »Generation Ebert«? Politische Sozialisation und sozialdemokratische Politik der »1870er«
Vandenhoeck & Ruprecht
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Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2190-1953 ISBN 978-3-666-30235-0
Inhalt
Dirk Schumann/Bernd Braun Einleitung. Das Konzept der Generation und die europäische(n) Arbeiterbewegung(en) in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten des 20. Jahrhunderts .....................................................................................................7 Stefan Berger Gibt es die europäischen 1870er? Bemerkungen zum Zusammenhang von Generation und politischer Sozialisation im europäischen Sozialismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ...............................27 Christian Koller Organisation, Rebellion, Integration. Die »Spät-1870er« und die Entwicklung der Schweizer Arbeiterbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts .....................................................................................................51 Wolfgang Maderthaner Die Austromarxisten. Ein Pendant zur »Generation Ebert« in Deutschland? ...............................................................................................................71 Jean-Numa Ducange Pazifismus, Krieg, Republikanismus, Marxismus. Jean Jaurès und seine Erben auf dem Prüfstand der Geschichte ..................................................93 Andrew Thorpe Zwischen MacDonald und Attlee. Britische Labour-Führer der 1870er Jahrgänge .............................................................................................................117 Ad Knotter Generationswechsel und Elitenbildung in der niederländischen Sozial demokratie oder: Gab es eine »Generation Ebert« in den Niederlanden? .141 Jan Willem Stutje Hendrik de Man. Vordenker der ersten Generation des europäischen Sozialismus ............................................................................................173
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Inhalt
Stefano Musso Gab es in Italien eine »Generation Ebert«? Eine erste Sondierung ............197 Francesco Tacchi Deutsche und italienische Bischöfe der Kohorte Eberts und die sozialistische Bewegung. Vergleichende Bemerkungen ............................219 Till Kössler Generation und Konflikt im spanischen Sozialismus der Zwischenkriegszeit ..................................................................................................239 Felicitas Fischer von Weikersthal Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Eberts russländische Alterskohorte und ihre Imagined Community im europäischen Vergleich ........257 Thanos Angelopoulos Die griechischen Sozialisten der 1870er Jahre in vergleichender Perspektive. Geschichte einer Generation? ...........................................................279 Aschot Hayruni Die sozialistische politische Elite Armeniens vor und nach dem Ersten Weltkrieg ..............................................................................................................303 Thomas Kroll Sozialistische Eliten, Internationalität und Generationenverhältnisse im Zeitalter der Zweiten Internationale (1889–1914) ......................................327
Anhang Autorenverzeichnis .........................................................................................................352 Abkürzungsverzeichnis ..................................................................................................357 Personenverzeichnis .......................................................................................................360
Dirk Schumann/Bernd Braun
Einleitung. Das Konzept der Generation und die europäische(n) Arbeiterbewegung(en) in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten des 20. Jahrhunderts
Eine neue Generation mit markanten Kennzeichen zu entdecken, trifft in jüngerer Zeit, vor allem seit den 1990er Jahren, auf großes Interesse der medialen Öffentlichkeit. So macht gegenwärtig die für den Klimaschutz engagierte »Generation Greta« (auch als »Generation Z« bezeichnet) von sich reden, vorher war es die ins digitale Zeitalter hineinwachsende »Generation Y«; etwas früher galt die Aufmerksamkeit der vor allem über ihre Konsumgewohnheiten fassbaren »Generation Golf« oder der schon durch ihr Ausmaß herausragenden »Babyboomer«-Generation.1 Offenbar findet eine solche Generationenrede Resonanz in Zeiten, in denen Kriterien gesellschaftlicher Zugehörigkeit wie die der Klasse oder der Konfession ihre frühere Relevanz eingebüßt haben. Wo genau die Zeitgrenzen zwischen den bezeichneten Alterskohorten verlaufen, bleibt in der Diskussion allerdings vage. Ebenso wenig liegt auf der Hand, welche analytische Reichweite solche Kollektivcharakterisierungen in der Erfassung gemeinsamer Lebensentwürfe, Konsumweisen und politischen
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Neuere Beiträge zur Debatte: Klaus Hurrelmann/Erik Albrecht: Generation Greta. Was sie denkt, wie sie fühlt und warum das Klima erst der Anfang ist, Weinheim 2020; dies.: Die heimlichen Revolutionäre. Wie die Generation Y unsere Welt verändert, Weinheim 2014; Kim Andersen et al.: Generational Gaps in Political Media Use and Civic Engagement: From Baby Boomers to Generation Z, Abingdon/New York 2021; Christian Scholz/Lisa-Dorothee Grotefend (Hg.): Generation Z im Vier-Länder-Vergleich. Ein empirischer Vergleich von Deutschland, den Niederlanden, Österreich und Schweiz, Augsburg/München 2019; breit rezipiert wurde zuvor etwa Florian Illies: Generation Golf. Eine Inspektion, Berlin 2000; zur Popularisierung des Generationsbegriffs in der jüngeren öffentlichen Diskussion vgl. Kaspar Maase: Farbige Bescheidenheit. Anmerkungen zum postheroischen Generationsverständnis, in: Ulrike Jureit/Michael Wildt (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005, S. 220–242.
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Verortungen tatsächlich besitzen und wie sie damit die Selbstverständigung in den jeweiligen Alterskohorten befördern, insbesondere durch die verstärkte Sichtbarkeit politischer Handlungskollektive.
I. Zur Anwendbarkeit des Konzepts der Generation In der Geschichtswissenschaft war das Interesse an der Genese und Bedeutung von Generationen und dem analytischen Potential einer solchen Perspektive auf die Geschichte in den 2000er und 2010er Jahren besonders ausgeprägt und ging danach wieder zurück. Ausgangspunkt war die schon zuvor Beachtung findende Kategorie der »politischen Generation«, doch verschob sich der Schwerpunkt dann auf andere, vormals im Hintergrund stehende Aspekte des Gegenstandes: Dazu gehörten familiale Generationen und ihr Verhältnis zueinander, daneben stille, sich in öffentlicher Rede nicht als solche präsentierende und vornehmlich weibliche Generationen, die Relevanz von Kriegserfahrungen in der Kindheit für die Formierung von Generationen, migrations-, berufs- und konsumbezogene, populärkulturelle und damit zunächst unpolitische Elemente von Generationsbildung sowie insbesondere auch die diskursive Konstruktion von Generationen im öffentlichen Raum und die mit ihr verbundenen Zukunftserwartungen und Verweise auf andere Generationen.2 Im Ergebnis hat sich der analytische Zugriff auf den Gegenstand weiter aufgefächert. Was unter einer Generation zu verstehen ist und
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Wichtige Werke in Auswahl: Mark Roseman (Hg.): Generations in Conflict. Youth revolt and generational formation in Germany 1770–1968, Cambridge 1995; Bernd Weisbrod: Generation und Generationalität in der Neueren Geschichte, in: APuZ 8 (2005), S. 3–9; Jürgen Reulecke/Elisabeth Müller-Luckner (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003; Ulrike Jureit/Michael Wildt (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005; Lu Seegers/ Jürgen Reulecke (Hg.): Die »Generation der Kriegskinder«. Historische Hintergründe und Deutungen, Giessen 2009; Kirsten Gerland/Benjamin Möckel/Daniel Ristau (Hg.): Generation und Erwartung. Konstruktionen zwischen Vergangenheit und Zukunft, Göttingen 2013; Hartmut Berghoff et al. (Hg.): History by Generations. Generational Dynamics in Modern History, Göttingen 2013; Lu Seegers (Hg.): Hot Stuff. Gender, Popkultur und Generationalität in West- und Osteuropa nach 1945, Göttingen 2015; Benjamin Möckel: Die »Kriegsjugendgeneration« in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften, Göttingen 2014; zur Einführung: Ulrike Jureit: Generation, Generationalität, Generationenforschung, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 03.08.2017, http://docupedia.de/zg/Jureit_generation_v2_de_2017 [letzter Zugriff am 8. Mai 2023].
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welche Erklärungskraft ein derartiger Ansatz besitzt, bedarf deshalb einer noch genaueren Erläuterung und Kontextualisierung als zuvor. Für den vorliegenden Band bleiben freilich Karl Mannheims Überlegungen von 1928 zum »Problem der Generationen« grundlegend, ungeachtet der ihnen gegenüber mittlerweile geäußerten Kritik.3 Auch wenn hier nicht der Ort ist, sich ausführlich mit Mannheims Konzept auseinanderzusetzen, zumal dies insbesondere auch im Beitrag von Stefan Berger geschieht, ist es sinnvoll und geboten, seine Tauglichkeit für den Ansatz dieses Bandes darzulegen und dabei zugleich dessen Grenzen zu bestimmen. Mannheims einschlägiger Aufsatz entstand in einer Zeit, als im Kontext der »Konservativen Revolution« zu verortende Publizisten sich zu Sprechern einer »jungen Generation« erklärten und die intellektuellen Grundlagen für eine Beseitigung der Weimarer Republik zugunsten einer autoritär geführten politischen Ordnung zu legen suchten. Zwei Jahrzehnte zuvor hatte die Jugendbewegung, stilbildend mit ihrem bürgerlichen, vom »Wandervogel« ausgehenden Teil, ihren Aufschwung genommen.4 Insofern und angesichts des großen zeitgenössischen Interesses für Fragen der – Hoffnungen wie Ängste erzeugenden – Jugend überrascht es nicht, dass Mannheim jugendlichen Erfahrungen maßgebliche Bedeutung für die Herausbildung einer Generation zumaß. Sie, so Mannheim, brächten ein »natürliches Weltbild« hervor, auf das alle späteren Lebenserfahrungen – die von Mannheim so bezeichnete »Erlebnisschichtung« – bezogen blieben.5 Dieser Hypostasierung von Jugenderfahrungen wird man heute nur bedingt folgen und sie in ihrer Emphase als primär der zeitgenössischen Diskussion geschuldet einstufen. Um die gleichwohl bleibende Relevanz des Mannheimʼschen Ansatzes zu erfassen, ist es zunächst hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, dass es Mannheim nicht um Generationen an sich geht, sondern um ein differenzierteres, engeres Verständnis von Generation. In dessen Mittelpunkt steht die »Generations-
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Karl Mannheim: Das Problem der Generationen, in: ders.: Wissenssoziologie, hg. von Kurt H. Wolff, Darmstadt 1964 [zuerst 1928], S. 509–565; jüngster produktiver Diskussionsbeitrag: Benjamin Ziemann: Generationen im 20. und 21. Jahrhundert. Zur Kritik eines problembeladenen Begriffs, in: APuZ 52–53 (2020), S. 4–9. Wichtige zeitgenössische Debattenbeiträge: E. Günther Gründel: Die Sendung der Jungen Generation. Versuch einer umfassenden revolutionären Sinndeutung der Krise, München 1932; Leopold Dingräve: Wo steht die junge Generation?, Jena 1931; zur frühen Jugendbewegung: Ulrich Herrmann (Hg.): »Mit uns zieht die neue Zeit …«. Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung, Weinheim 2006. Mannheim, Problem der Generationen [wie Anm. 3], S. 536.
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einheit« als gesellschaftlich wahrnehmbare Akteursgruppe grundsätzlich olitischen Charakters. Mannheim geht also keineswegs, wie ihm manchmal p unterstellt wird, von der Annahme aus, dass sich eine Alterskohorte in ihrer Gesamtheit aufgrund von vermeintlich alle Angehörigen gleichartig prägenden Jugenderlebnissen in eine »Generation« verwandelt. Vielmehr erkennt er, dass die Herausbildung der ihn interessierenden Akteursgruppen nur unter bestimmten Voraussetzungen erfolgen kann. Dies erläutert er bekanntlich anhand von drei Schlüsselbegriffen. Eine »Generationslagerung« als Ausgangsbedingung ist demnach nur dann zu konstatieren, wenn die zur gleichen Zeit erfolgende Geburt auch »im selben historisch-sozialen Raume« stattfindet – ein solcher fehlt aber etwa der preußischen Jugend und der chinesischen um 1800.6 Welche Merkmale dafür und für die damit gegebene »historische[n] Lebensgemeinschaft« notwendig sind, führt Mannheim allerdings nicht weiter aus. Wichtiger für Mannheim ist die nächste Entwicklungsstufe, der »Generationszusammenhang«. Dieser beruht darauf, dass die Akteure – Mannheim geht, angesichts der politischen Verhältnisse seiner Zeit nicht wirklich überraschend, ganz offensichtlich von allein männlichen aus –, auf Basis entsprechender historisch-sozialer Voraussetzungen eine »Partizipation an gemeinsamen Schicksalen« aufweisen, sich also bewusst in Auseinandersetzungen intellektueller Art und der politisch-gesellschaftlichen Praxis hineinbegeben.7 Dies sieht er bei den deutschen Bauern der napoleonischen Zeit zunächst einmal nicht gegeben, während der Befreiungskriege dann im Prinzip jedoch schon, da »deren Elan die ganze Nation irgendwie ergriff.«8 Dies lässt zwar die Frage offen, welche konkreten Interessen solche (jungen) Bauern jenseits des Wunsches nach einer Befreiung von französischer Hegemonie leiten mochten. Mannheim geht jedoch auf die unterschiedlichen, sich schließlich auch politisch gegensätzlich artikulierenden intellektuellen Strömungen unter den Trägern des Generationszusammenhangs ein und unterscheidet eine »romantisch-konservative« und eine »liberal-rationalistische Jugend« voneinander.9 Sie sind die fassbaren, voneinander abgrenzbaren Produkte der Auseinandersetzungen im Rahmen eines Generationszusammenhangs, eben jene schon erwähnten »Generationseinheiten«. Dem Konstitutionsprozess solcher Kollektive widmet Mannheim weitere Überlegungen und betont insbesondere, dass ihre Verbundenheit nicht al6 Ebenda, S. 542. 7 Ebenda. 8 Ebenda, S. 543. 9 Ebenda, S. 544.
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lein aus geteilten Überzeugungen hervorgeht, sondern auch der »formenden Kräfte« bedarf, die ästhetische und emotionale Gemeinsamkeiten stiften – also eines »Generationsstil[s]« –, und sie ihre Basis in »konkreten Gruppen« finden, deren Angehörige sich »in vitaler Nähe« treffen.10 Hier sieht er Parallelen zur Ausbildung einer sozialen Klasse, ohne die Beziehung zwischen Klasse und Generation genauer auszuführen (aber auch ohne einen Gegensatz zwischen ihnen herzustellen). Eine gleichsam selbstläufige Entwicklung von jeglicher Generationslagerung zu klar erkennbaren Generationseinheiten mit bestimmbaren Zielen verneint Mannheim ausdrücklich und betont deren Abhängigkeit von der »jeweils besonders gearteten gesellschaftlichen Dynamik«, in der nicht zuletzt »Kollektivereignisse« ausschlaggebend sein können.11 Es ist also festzuhalten, dass Mannheim jenseits seiner beiden aus heutiger Sicht zu problematisierenden Annahmen, dass Jugenderfahrungen prägende Kraft zukomme und dass ihre Wirkungen zuallererst im männlichen Bildungsbürgertum zu finden seien, die aktive und damit auch kontingente Seite von Generationsbildung hervorhebt und die in der Öffentlichkeit präsenten unterschiedlichen Akteursgruppen in den Vordergrund stellt, gerade nicht aber eine vermeintlich die gesamte Alterskohorte erfassende Gemeinsamkeit. Insofern erweist sich sein Ansatz weiterhin von bleibendem Wert, wenn es um die genauere Erfassung der »Problemwahrnehmungen, Handlungsnormen und Ausdrucksformen«12 von insbesondere politisch in Erscheinung tretenden Akteursgruppen geht, wie dies im vorliegenden Band der Fall ist. Eine in der sozialistischen Arbeiterbewegung zu verortende Generationseinheit kann eben nicht ohne die gleichzeitige Bindung an ein politisch-soziales Milieu verstanden werden, das weltanschaulich-politische Überzeugungen auch in ästhetischer Form präsentiert und mit Emotionen auflädt. Generation steht hier also nicht in einem Gegensatz zu Klasse, sondern fungiert als zusätzliches Differenzierungskriterium. Ähnlich ließe sich auch für katholische Bischöfe und ihr in ähnlicher Weise festgefügtes Milieu argumentieren, die im Beitrag von Francesco Tacchi behandelt werden. Damit kann der in diesem Band verfolgte Ansatz deutlich unterschieden werden von der Fokussierung auf die Generationsrede in der jüngeren historischen Forschung. Denn Generation oder eben vielmehr »Generationseinheit« 10 Ebenda, S. 544–550, die Zitate S. 545, 550 und 547. 11 Ebenda, S. 550–553, die Zitate S. 553 und 552. 12 So die auch für den vorliegenden Band zutreffende Spezifizierung des Generationsansatzes durch die Herausgeber in: Klaus Schönhoven/Bernd Braun (Hg.): Generationen in der Arbeiterbewegung, München 2005, S. 8.
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als analytische Kategorie zielt auf verbindende Merkmale im beschriebenen Sinn, zunächst ganz unabhängig davon, ob sie von den untersuchten Akteurinnen und Akteuren selbst artikuliert werden oder nicht. Unter den in den folgenden Beiträgen behandelten verschiedenen Akteursgruppen findet sich die explizite Benennung einer Generation – in diesem Fall übrigens in abwertender Absicht – nur beim radikaleren Teil der Linken in Spanien; in den anderen Ländern und Regionen spielte eine solche Selbst- oder Fremdbezeichnung zeitgenössisch dagegen keine Rolle. Zu untersuchen – und das ist das Ziel der Befassung mit Generationsrede –, welche Akteurinnen und Akteure aus welchen Motiven und mit welchen Wirkungen eine Generation definieren, die eigene oder eine andere, etwa zur Untermauerung eigener politischer Ansprüche (bzw. zur Abweisung anderer) oder zur Herstellung einer Erinnerungsgemeinschaft, leistet somit zuallererst einen Beitrag zur Erhellung gesellschaftlicher Diskurse und ihrer Semantik. Zur Schärfung des Profils einer Akteursgruppe, um die es in diesem Band geht, kann eine solche Perspektive aber nur dann beitragen, wenn der Generationsbegriff Teil solcher Semantik ist und das ist bei den hier untersuchten Gruppen mit einer Ausnahme eben nicht der Fall. Ein letzter konzeptioneller Punkt verdient Erwähnung: Eine Fokussierung auf die Herausbildung von Generationseinheiten innerhalb eines Generationszusammenhangs schließt nicht die Annahme ein, dass diese Akteursgruppen innerhalb eines bestimmten Zeitraums die zeitgenössische Diskussion dominierten. Vielmehr ist davon auszugehen, dass zu einer gegebenen Zeit Generationseinheiten aus unterschiedlichen Generationszusammenhängen an öffentlichen Debatten teilnahmen, und somit ist erst herauszufinden, welche von ihnen wann und für welche Dauer die Diskurshegemonie errangen. Dass sie dabei von jeweils eigenen Vergangenheitskonstruktionen und Zukunftserwartungen geleitet wurden, divergente Zeitlichkeiten also koexistierten, ist bereits von Mannheim registriert worden und wird hier etwa im Beitrag von Stefan Berger unter Verweis auf Achim Landwehrs Begriff der »Pluritemporalität« unterstrichen.13
13 Vgl. Mannheim, Problem der Generationen [wie Anm. 3], S. 517 f., mit Verweis auf den Kunsthistoriker Wilhelm Pinder und die von ihm geprägte Formel der »Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen«; vgl. Achim Landwehr: Diesseits der Geschichte. Für eine andere Historiographie, Göttingen 2020, S. 43–46.
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II. D ie europäische(n) Arbeiterbewegung(en) in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten des 20. Jahrhunderts Divergente Zeitlichkeiten lassen sich auch für die Entwicklung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Europa insgesamt während des in diesem Band betrachteten Zeitraums konstatieren. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzog sie sich vornehmlich im Rahmen existierender Staaten, vor allem der bereits als Nationalstaaten konstituierten. Die Marxʼsche Lehre als ideologische Basis und die transnationalen Organisationen der Ersten und Zweiten Internationale erwiesen sich als dafür förderlich, aber von größerer Bedeutung waren zwei andere Faktoren: Zum einen hing die Herausbildung einer überregional schlagkräftigen, nicht vorrangig auf lokale Belange fixierten Arbeiterbewegung vom sozioökonomischen Entwicklungsstand des jeweiligen Landes ab. Hier bestanden bekanntlich große Unterschiede vor allem zwischen der agrarisch geprägten Peripherie im europäischen Süden und Osten einerseits und den fortgeschrittenen Industrienationen in West- und Mitteleuropa andererseits. Noch bedeutsamer für die Entstehung einer politisch wirkmächtigen, nicht nur gewerkschaftlich, sondern auch als Massenpartei organisierten Arbeiterbewegung war das jeweilige politische System. Je stärker ein Parlament die Macht der Monarchie – vor 1914 noch die mehrheitliche Staatsform in Europa14 – einschränkte und je weiter der Kreis der Wahlberechtigten reichte, desto größere Chancen besaß eine Partei, die den Kampf gegen soziale und politische Ungleichheit zu ihrer Sache machte. In dieser Hinsicht lassen sich die 1860er und frühen 1870er Jahre als Phase zäsurhaften, in Richtung wachsender Demokratisierung weisenden Verfassungswandels in Europa beschreiben. Er vollzog sich nicht nur, in unterschiedlicher Weise, in Großbritannien, Frankreich und Deutschland, sondern auch in kleineren Ländern wie Portugal und Griechenland. So wuchsen die Angehörigen der Ebertʼschen Alterskohorte in Europa einerseits in eine politische Landschaft hinein, die sich transnational in prinzipiell ähnlicher Weise entwickelte.15 Die Unterschiede der wirtschaftlichen Entwicklungsstände und der innerstaatlichen
14 Vgl. Bernd Braun (Hg.): Es lebe die Republik? Der Erste Weltkrieg und das Ende der Monarchien in Deutschland und Europa, Göttingen 2021. 15 Geoff Eley: Forging Democracy. The History of the Left in Europe, 1850–2000, Oxford 2002, S. 5, 31 und 62–64; genauer zur Verfassungsentwicklung: Johannes Paulmann: Globale Vorherrschaft und Fortschrittsglaube. Europa 1850–1914, München 2019, S. 300–311; Willibald Steinmetz: Europa im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2019, S. 590–602.
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Verfassungsbedingungen wirkten andererseits freilich auf eine Generationsformierung vornehmlich im Rahmen des jeweiligen Staates hin. Vor diesem Hintergrund bildeten sich, wie Geoff Eley dargelegt hat, bis 1914 drei »geographies of socialism« heraus, in denen Eberts Altersgenossen politisch sozialisiert wurden: ein Kerngebiet mit Mitteleuropa und Skandinavien, in dem seit den 1870er Jahren Arbeiterparteien entstanden, die einen großen Teil der Wählerschaft an sich binden konnten, daneben ein zweites Gebiet mit den Ländern des westlichen Mittelmeerraums, in denen sich die sozialistischen Parteien der starken Konkurrenz anarcho-syndikalistischer Gruppen gegenübersahen, und schließlich der osteuropäische Randbereich mit Russland, dem Balkan und Teilen Österreich-Ungarns, deren im Vergleich ökonomische und politische Rückständigkeit die Bildung von Arbeiterparteien hemmte oder sie in den Untergrund trieb. Großbritannien, in dem die Arbeiterbewegung als politische Kraft lange Zeit im Rahmen der Liberalen Partei wirkte, stellt einen Sonderfall dar. Zwar blieb der revolutionäre Anspruch überall im Prinzip erhalten, sah sich aber in den schon über einige Partizipationsmöglichkeiten verfügenden Staaten einer pragmatischen, auf eine Zusammenarbeit mit reformbereiten bürgerlichen Kräften zusteuernden Strömung gegenüber. Zu einer parlamentarischen Unterstützung liberaler Regierungen führte dies um 1900 in Frankreich und Italien, verbunden mit der Diskussion über eine auch direkte Beteiligung in Form der Übernahme eines Ministeramtes, die aber lediglich durch den Regierungseintritt von Alexandre Millerand 1899 in Frankreich vollzogen wurde. Diese partielle Kooperationsbereitschaft bildete sich freilich unter innenpolitischen Krisenbedingungen aus, blieb zeitlich beschränkt und vertiefte die Gegensätze innerhalb der jeweiligen Arbeiterbewegung.16 Im Gefolge des Ersten Weltkrieges und der Revolutionen an dessen Ende, insbesondere der bolschewistischen in Russland, die den Kommunismus als neue substantielle Konkurrenz etablierte, wandelte sich diese politische Landschaft fundamental. Sozialdemokratische Parteien verfügten nun über weitaus größere Chancen politischer Mitgestaltung als zuvor, mussten das Ausmaß von Kompromissen mit den bürgerlichen Parteien bestimmen und zugleich klären, wie eindeutig sie sich von der neuen Herausforderung von links abgrenzen wollten. Dies verstärkte die Tendenz, sich grundsätzlich als reformistische, nicht revolutionäre Kraft zu positionieren. Am deutlichsten und langfristig erfolgreich manifestierte sich diese Entwicklung in Skandinavien, 16 Vgl. Eley, Forging Democracy [wie Anm. 15], S. 65, 86–92; Sheri Berman: The Primacy of Politics: Social Democracy and the Making of Europeʼs Twentieth Century, New York 2006, S. 28–35 und 52–54.
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wo es im Gefolge der Weltwirtschaftskrise schließlich zu sozialdemokratisch geführten Regierungen kam. Maßgeblich dafür waren Bündnisse mit den Liberalen und den Bauernparteien, die, so in Schweden, als Gegenleistung für agrarprotektionistische Maßnahmen eine Wirtschaftsstimulierung nach Keynesianischem Muster ermöglichten; hinzu kamen umfassende Vereinbarungen zwischen den sich jetzt als Sozialpartner verstehenden Unternehmerverbänden und Gewerkschaften. Damit war hier zugleich das ursprüngliche Ziel einer Sozialisierung der Wirtschaft aufgegeben.17 Versuche, einen dritten Weg zwischen Revolution und Reform einzuschlagen, mit dem Ziel einer umfassenden Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft im parlamentarischdemokratischen Rahmen, scheiterten hingegen. Das »Rote Wien« mit seinen vielfältigen Wohlfahrts- und Bildungsprogrammen blieb eine Insel im sonst eher konservativen Österreich, und in Belgien fand der ambitionierte Plan Hendrik de Mans zur weitreichenden Wirtschaftskontrolle als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise letztlich keine politische Mehrheit.18 Auch vor dem Hintergrund der neuen faschistischen Bedrohung entstandene Regierungen einer »Volksfront« aus Sozialdemokraten und Kommunisten erwiesen sich, wie sich in Frankreich und Spanien zeigte, als instabil und kurzlebig.19 Der Erfolg sozialdemokratischer Politik hing letztlich davon ab, in welchem Maß sie sich in ein parlamentarisches Regierungssystem integrieren wollte und dort von Seiten der bürgerlichen Parteien akzeptiert wurde. Dies bedeutete zugleich eine stärkere Hinwendung zu jeweiligen nationalen Interessen und damit eine Schwächung internationaler Verbindungen, auch wenn sich namhafte Sozialdemokraten wie insbesondere der Österreicher Friedrich Adler nach den Verwerfungen des Ersten Weltkriegs um ein Wiederaufleben dieser Zu-
17 Vgl. Eley, Forging Democracy [wie Anm. 15], S. 247 f.; ausführlich zur Entwicklung in Schweden: Berman, Primacy of Politics [wie Anm. 16], S. 152–176; Jan-Werner Müller: Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Michael Adrian, Frankfurt a. M. 2013, S. 111–116, der hier auch auf die produktivitätsorientierte Sterilisierungspolitik als dunklen Aspekt dieses Konzepts hinweist. 18 Vgl. Müller, Zeitalter [wie Anm. 17], S. 97–103; Berman, Primacy of Politics [wie Anm. 16], S. 115–124; Eley, Forging Democracy [wie Anm. 15], S. 239 f.; zum »Roten Wien« und zur Person de Mans und seinem Einfluss auf die deutsche Sozialdemokratie siehe im Band die Beiträge von Maderthaner und Stutje. 19 Vgl. Eley, Forging Democracy [wie Anm. 15], S. 266–270; dazu und zu den Spannungen innerhalb der jeweiligen Arbeiterbewegung siehe im Band die Beiträge von Ducange und Kössler.
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sammenarbeit bemühten.20 Transnationale generationelle Gemeinsamkeiten konnten sich für die Kohorte der »1870er« so auch nach dem Ersten Weltkrieg nur begrenzt entwickeln.
III. Von der deutschen zur europäischen »Generation Ebert« Bereits im Jahr 2003 veranstaltete die Stiftung Reichspräsident-Friedrich-EbertGedenkstätte ein Symposium in Heidelberg mit dem Titel »Generationen in der Arbeiterbewegung«, deren Vorträge dann in einem 2005 veröffentlichten, gleichnamigen Sammelband einflossen.21 Den Organisatoren der Tagung wie den Herausgebern des Sammelbandes schien dabei ein eingrenzendes Adjektiv verzichtbar, weil man als selbstverständlich annahm, was tatsächlich Gegenstand der Tagung war, nämlich die deutsche Arbeiterbewegung. Dass darüber hinaus nicht die christliche, die anarchistische oder die kommunistische, sondern die sozialdemokratische Arbeiterbewegung gemeint war, stellt an einem Erinnerungsort, der einer der Zentralfiguren der SPD -Parteigeschichte gewidmet ist, die noch größere Selbstverständlichkeit dar. Das Weglassen einer nationalen Eingrenzung hat angesichts des Charakters der SPD als erster, größter und einflussreichster sozialdemokratischer Partei der Welt sogar eine gewisse definitorische Berechtigung. Die zum Teil Jahrzehnte später entstandenen Sozialdemokratien Europas blickten oder schielten zumindest auf ihr deutsches Vorbild, orientierten oder rieben sich an dessen theoretischen Vorgaben wie dem beispielgebenden Erfurter Programm und beobachteten die mitunter heftigen ideologischen Grabenkämpfe während des Revisionismus-Streites oder der Massenstreikdebatte. Nicht selten waren die im Entstehen begriffenen Organisationen der europäischen Bruderparteien auch auf finanzielle Zuwendungen aus der Berliner Parteikasse angewiesen. Insgesamt hat sich die Anwendung des Generationenansatzes auf die deutsche sozialdemokratische Arbeiterbewegung als fruchtbar herausgestellt. Die Abgrenzung dreier Führungsgenerationen von der Gründung der Arbeiterbewegung in den 1860er Jahren bis in die Wiederbegründungsphase nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihren jeweiligen, den Generationenzusammenhang 20 Vgl. Eley, Forging Democracy [wie Anm. 15], S. 244–248; Talbot C. Imlay: The Practice of Socialist Internationalism. European Socialists and International Politics, 1914–1960, Oxford 2018, S. 51–200; zur internationalen Zusammenarbeit vor 1914 siehe im Band den Beitrag von Kroll. 21 Schönhoven/Braun, Generationen [wie Anm. 12].
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fixierenden unterschiedlichen Erfahrungen mit den parteiinternen wie den nationalen Zäsuren hat sich als eine tragfähige Konstruktion erwiesen, die zwar auch Widerspruch auslöste, aber mehrheitlich im Sinne einer positiven Stimulanz wirkte. Die gewählten Begrifflichkeiten einer »Generation Bebel«, einer »Generation Ebert« und einer »Generation Schumacher« erscheinen zwar auf den ersten Blick plakativ, zumal es sich gerade bei der Persönlichkeit von Kurt Schumacher weniger um einen typischen Repräsentanten einer Generation, als um einen Einzelgänger handelte.22 Aber auch Schumacher steht für eine Generation, die in der Endphase der Weimarer Republik zu parlamentarischen Mandaten gelangte und nach dem Epochenbruch 1933 bis 1945 zwar den Wiederaufbau der Partei und der Gewerkschaften bewältigte, aber von den Schaltstellen der Macht – außer auf der Länder- und Kommunalebene – ausgeschlossen blieb. Die »Generation Ebert« wurde als diejenige charakterisiert, die nicht mehr zur Gründergeneration der Arbeiterbewegung gehörte, allenfalls noch marginale Verfolgung unter dem Sozialistengesetz erlitt und deren politische Karriere sich parallel zu der ab 1890 und vor allem ab 1900 expandierenden Sozialdemokratie vor dem Hintergrund einer sich stabilisierenden wirtschaftlichen und sozialen Lage der Arbeiterklasse vollzog. Diese Generation agierte theorieferner, organisationsaffiner und integrationsbereiter in das politische System des Kaiserreiches. Sie war es, die den Übergang zur ersten parlamentarischen Demokratie nach 1918 gestaltete, aber an deren Wiederbegründung nach 1945, sofern sie diese noch erlebte, nicht mehr beteiligt war. Die anregende und letztlich produktive Anwendung des Generationenansatzes der ersten Tagung im Jahr 2003 hatte dazu geführt, für ein Symposium im März 2021 mit dem Titel »Sozialisation und sozialistische Politik: Die ›1870er‹ in international vergleichender Perspektive« die Fragestellung von der damals nicht genannten deutschen auf die europäische Ebene auszuweiten und zu erörtern, ob diese historiographische »Expansion« ebenso hilfreich und sinnvoll zu bewerten sei.23 Dabei sind die »1870er« nicht in einem schematischen Sinn zu verstehen, der nur die Geburtsjahrgänge von 1870 bis 1879
22 Vgl. Thomas Welskopp: Die »Generation Bebel«, Bernd Braun: Die »Generation Ebert« und Meik Woyke: Die »Generation Schumacher«, in: Schönhoven/Braun, Generationen [wie Anm. 12], S. 51–67, 69–86, und 87–105. 23 Vgl. den Tagungsbericht von Linus Maletz: https://www.hsozkult.de/conferencereport/ id/fdkn-127508?title=sozialisation-und-sozialistische-politik-die-1870erin-internationalvergleichender-perspektive&recno=1&q=Maletz&sort=newestPublished&fq=&total=1, [letzter Zugriff am 29. August 2022].
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umfassen würde, sondern als prägnante Kollektivbezeichnung, deren genaue zeitliche Grenzen jenseits dieses Jahrzehnts jeweils für den untersuchten Raum zu definieren sind. Sie müssen deshalb auch nicht exakt mit der von Bernd Braun für Deutschland vorgenommenen Eingrenzung auf die Geburtsjahre 1861 bis 1884 übereinstimmen.24 Die Fragestellungen der Tagung und somit der Beiträge lauteten also zunächst, ob in den jeweiligen untersuchten Ländern und Regionen eine »Generation Ebert« identifizierbar ist oder ob sich je nach Gründung und Entfaltung der Arbeiterbewegung spätere Alterskohorten als eine solche zweite Generation definieren lassen. Die Beiträge sollten den Ähnlichkeiten und Unterschieden, aber auch den wechselseitigen Wahrnehmungen für Eberts Alterskohorte nachgehen und anhand ausgewählter Politiker älterer wie jüngerer Kohorten diesem Vergleich bzw. dieser Netzwerkgeschichte schärfere Konturen verleihen. Die Tagung wollte somit erstens einen Beitrag zur Geschichte des Sozialismus in europäischer Perspektive leisten, zweitens das Generationenkonzept erneut kritisch aufgreifen und drittens handelnde Akteure – und auch Akteurinnen – der Arbeiterbewegung individuell ernst nehmen, aber auch vergleichend und in kollektiven Zusammenhängen betrachten. Zusätzlich zu neun Vortragenden der Tagung (eine Absage war zu beklagen) wurden vier weitere Beiträger für den Band gewonnen. Dieses Unterfangen stellte sich als durchaus mühselig heraus, da »Geschichte der Arbeiterbewegung« seit der Epochenwende 1989/90 nicht mehr und drei Jahrzehnte später noch nicht wieder zu den Trendsparten der Historiographie zählt. So war es zum großen Bedauern der Herausgeber leider nicht möglich, die Staaten Skandinaviens mit ihren bedeutenden Sozialdemokratien, die ihre Länder als Regierungsparteien, wie angedeutet, zum Teil jahrzehntelang prägten, einzubeziehen.
IV. Die einzelnen Beiträge des Bandes In seinem einleitenden Beitrag gibt Stefan Berger einen Überblick über Chancen und Grenzen des Generationenkonzepts, gerade auch im Vergleich zu neueren konkurrierenden Ansätzen wie demjenigen der Pluritemporalität. Berger fragt danach, inwieweit sich die für Deutschland festgestellten Generationszusammenhänge sinnvoll auf die europäische Ebene übertragen lassen und legt dabei den Finger in die argumentative Wunde: Welche Ergebnisse sind für 24 Braun, Die »Generation Ebert«, in: Schönhoven/Braun, Generationen [wie Anm. 12], S. 69–86, hier S. 71.
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diejenigen Länder zu erwarten, die ohne für eine Generationsbildung wichtige Zäsuren ausgekommen sind, also diejenigen, die im Ersten Weltkrieg neutral blieben und/oder keine Revolution und keinen Systemwechsel erlebten wie die Niederlande oder die Schweiz? Kann man die sozialdemokratischen »1870er« in den beiden verspäteten Nationalstaaten Deutschland und Italien wirklich mit denjenigen in den tradierten Nationen wie Frankreich oder denjenigen in Teilstaaten supranationaler Imperien wie der Habsburgermonarchie, dem Russischen Zarenreich oder dem Osmanischen Reich vergleichen? Nach diesem gerüttelt Maß an Skepsis kommt Stefan Berger aber doch zu dem Fazit, dass ein transnationales Generationenkonzept ein fruchtbarer Ansatz sein kann, sofern eine allzu homogenisierende und verengende Argumentation vermieden und gleichzeitig Rücksicht auf die individuelle Entwicklung der einzelnen europäischen Sozialdemokratien genommen wird. Für die von außen betrachtet katastrophen- und zäsurenfreie Schweiz kommt Christian Koller zu dem Schluss, dass es mit dem Landesstreik 1918, der heute als schwerste innenpolitische Krise des modernen Schweizer Bundesstaates gilt, doch einen historischen Einschnitt von nationaler Tragweite gab. Der vom 12. bis 14. November 1918 dauernde Generalstreik, an dem sich bis zu 250.000 Arbeiter beteiligten und bei dem drei junge Streikende vom Militär erschossen wurden, führte zu nachhaltigen politischen und sozialen Veränderungen in der Eidgenossenschaft. Träger des Landesstreiks waren die von Koller diagnostizierten »Spät-1870er«. Diese Schweizer Variante der »Generation Ebert«, die man nach ihrem wichtigsten Protagonisten Robert Grimm auch die »Generation Grimm« nennen könnte, sei sogar die einzige homogene Generation innerhalb der helvetischen Arbeiterbewegung gewesen und habe bis in die 1950er Jahre hinein die Sozialdemokratie der Eidgenossenschaft, deren Parlamentsvertretungen und zum Teil selbst die Exekutive geprägt. Für Deutsch-Österreich stellt Wolfgang Maderthaner fest, dass dort auf den in seiner Stellung August Bebel entsprechenden Parteipatriarchen Victor Adler die mit der Alterskohorte Friedrich Eberts vergleichbare Generation der Austromarxisten gefolgt sei. Anders aber als ihr deutsches Pendant agierte sie von einem festen theoretischen Fundament aus, nicht zuletzt, weil ihr führende marxistische Theoretiker wie Otto Bauer und Rudolf Hilferding angehörten. Die Tatsache, dass mit Kautsky und Hilferding zwei Österreicher in der Sozialdemokratie des Deutschen Reiches Karriere machten, belegt deren theoretische Defizite. Ein weiterer Unterschied betrifft die jüdische Herkunft der allermeisten Austromarxisten und die herausragende Stellung der österreichischen Metropole, die nach 1918 dank ihrer sozial- und kulturpolitischen Aktivitäten als »Rotes Wien« weithin Beachtung fand. Dennoch war es der
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pragmatischste Vertreter dieser austromarxistischen Gruppe, Karl Renner, der auch aufgrund seiner Langlebigkeit als Staatskanzler bzw. erster Bundespräsident nach 1945 die Entstehung der Ersten wie der Zweiten Republik in Österreich maßgeblich mitgestaltete. Die französischen Sozialisten, die zunächst in mehreren Kleinparteien gegeneinander konkurrierten und sich erst 1905 zur SFIO zusammenschlossen, wurden gleich von zwei Parteipatriarchen – Jean Jaurès und Jules Guesde – geprägt. Ihre der Ebertʼschen Alterskohorte angehörenden Nachfolger, von denen JeanNuma Ducange die Politiker Paul Faure und Léon Blum hervorhebt, besaßen deutlich weniger Charisma und Autorität, eine mit Deutschland vergleichbare Beobachtung. Während sich die von der »Generation Ebert« geführte Sozialdemokratie von Beginn der Weimarer Republik an zur staatstragenden Partei entwickelte, folgte ihr in dieser Hinsicht ihr französisches Gegenstück nicht. Die SFIO suchte nach einem Mittelweg zwischen dem deutschen Modell und dem Bolschewismus und vertagte die Übernahme der Macht, die dann erst 1936 mit der sogenannten Volksfrontregierung erfolgte. Die traditionell starke Stellung der Kommunisten und der Radikalen in Frankreich verhinderte zudem eine ähnlich systemstabilisierende Rolle, wie sie die Sozialdemokratie in Deutschland spielte. Andrew Thorpe hat den Zeitraum der »1870er« enger gefasst und untersucht, welche nur in dieser Dekade geborenen Politiker in und durch die Labour Partei Karriere machten. Zwischen dem ersten Premier aus ihren Reihen, James Ramsay MacDonald (geb. 1866) und dem zweiten Regierungs- und Langzeitparteichef Clement Attlee (geb. 1883) besteht tatsächlich eine Lücke. Der Erste Weltkrieg kann keine Ursache dafür sein, da die 1870er Jahrgänge überwiegend zu alt waren, um noch als Soldaten zu dienen. Die in dieser Dekade geborenen Minister in den beiden Labour-Kabinetten der 1920er Jahre bewährten sich nicht, was individuelle und nicht generationelle Gründe hatte. Die beiden Ministerinnen kamen für den Parteivorsitz zu dieser Zeit als Frauen noch nicht in Frage; der Gewerkschafter Jimmy Thomas galt als Snob, dem sein Aufstieg zur Freude der englischen Karikaturisten zu Kopf gestiegen war. Auf der anderen Seite verdankte Attlee seine Karriere der Tatsache, dass er bei der desaströsen Wahlniederlage von Labour 1931 seinen Sitz im Unterhaus verteidigen konnte. Thorpe gibt zu bedenken, dass er bei großzügiger gefassten Altersgrenzen MacDonald und Attlee in ein- und derselben Generation hätte verorten können. In seinem Beitrag über die niederländische Sozialdemokratie kann Ad Knotter auf eine fast einmalige Quellenlage zurückgreifen, da für Städte wie Amsterdam oder Maastricht Daten über die einfachen Parteimitglieder der SDAP
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vorliegen. Dadurch kann Knotter zeigen, dass der Altersdurchschnitt der Parteimitglieder und derjenige der Parteiführung zunächst sehr nah beieinanderlagen. Für Amsterdam ist außerdem der sehr hohe Anteil der Diamantarbeiter an der Mitgliedschaft auffällig, die aus dem Industriezweig mit dem höchsten Prestige und den höchsten Löhnen kamen, also die Arbeiteraristokratie bildeten, und für die ein landesweiter Streik 1894 zum prägenden Ereignis wurde. Der Altersabstand zwischen Parteiführung und Mitgliedschaft wurde jedoch immer markanter; die Eintrittswellen überwiegend junger Mitglieder in den Jahren 1913, 1920 und 1930 bewirkten keinen Generationswechsel in der Parteiführung, die von der nach Willem Vliegen (1862–1947) benannten »Generation Vliegen«, welche Knotter als niederländische »Generation Ebert« definiert, dominiert wurde. Er sieht darin Robert Michelsʼ These von der generellen soziologischen Tendenz zur Verknöcherung innerhalb von Parteiführungen bestätigt. Im Unterschied zu seinem niederländischen Kollegen, der auch die Parteimitglieder in seine Überlegungen einbezogen hat, setzt sich Jan Willem Stutje mit einem einzigen, freilich transnational einflussreichen belgischen Sozialisten auseinander: Hendrik de Man (1885–1953). Für De Man gilt sicherlich, dass der Erste Weltkrieg die Zäsur in seinem Leben bildete, denn sie verwandelte den gegen den deutschen Einmarsch in Belgien kämpfenden Kriegsfreiwilligen, der lange Jahre in Deutschland gelebt und bei der »Leipziger Volkszeitung« als Journalist gearbeitet hatte, von einem radikalen in einen national denkenden Sozialisten. Ausdruck des Wandels war sein 1927 erschienenes Buch »Zur Psychologie des Sozialismus«, das mit seinem ethischen, national verwurzelten Sozialismus großen Einfluss etwa auf den Hofgeismarer Kreis in Deutschland ausübte. De Man kann somit in gewissem Sinn als Chefideologe der sozialdemokratischen Schützengrabengeneration gelten, auch wenn die meisten seiner früheren Anhänger seinen Wandel zum NS-Kollaborateur nicht nachvollzogen. Mit seinem Aufsatz über Italien betritt Stefano Musso nach eigenen Angaben »geschichtswissenschaftliches Neuland«, denn der Generationenansatz habe in der italienischen Historiographie bisher so gut wie keine Rolle gespielt. Die von ihm zusammengestellten Tabellen mit Arbeiterführern zeigten, dass es in einer der Ebertʼschen vergleichbaren Alterskohorte zwischen 1865 und 1879 eine Mehrheit von Reformsozialisten gab, während die nachfolgenden Jahrgänge radikaler agierten. Die starke Stellung der Anarchisten in Italien erschwert allerdings Vergleiche mit der deutschen Arbeiterbewegung. Anhand einiger ausgewählter Biographien vermag Musso zudem nachzuweisen, dass die politische Haltung von Angehörigen ein- und derselben Alterskohorte in Italien nicht statisch, sondern äußerst volatil war; ein überzeugter Sozialist
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konnte trotzdem ein Befürworter des Kolonialismus sein, ein Interventionist im Ersten Weltkrieg und später ein Antifaschist im Exil oder aber sogar ein Gefolgsmann Mussolinis. Diese gewisse ideologische »Beweglichkeit« lässt Musso an der Plausibilität eines weiter gefassten Generationenansatzes zweifeln, aber er konstatiert eben auch die Existenz einer reformsozialistischen Generationseinheit. Francesco Tacchi untersucht nicht die Arbeiterbewegung, sondern die Reaktion einer der damals gesellschaftlich relevantesten Kräfte, der katholischen Kirche, auf die stetig expandierende Sozialdemokratie. Sein Vergleich der Bischöfe aus der Alterskohorte Friedrich Eberts in Deutschland und Italien zeigt, dass diese nicht mehr von der jeweiligen Nationalstaatsbildung bzw. dem Verlust des Kirchenstaates geprägt wurden, im Deutschen Reich auch nicht mehr vom Kulturkampf. Verstärkt seit der Sozialenzyklika »Rerum novarum« (1891) von Papst Leo XIII. stand vielmehr der Kampf gegen den Sozialismus auf der Tagesordnung, der zweigleisig geführt wurde: einerseits durch die Anerkennung der sozialen Frage und andererseits durch die Stigmatisierung der sozialdemokratischen Parteien. Die gemeinsame Ablehnung von Modernismus, Liberalismus und Sozialismus erleichterte später in beiden Ländern die Kollaboration von weiten Teilen des Klerus mit den totalitären Regimen Mussolinis und Hitlers. Die Zugehörigkeit zu einer Alterskohorte war hier im Vergleich zur Arbeiterbewegung von geringerer Relevanz. Anders als in Italien wurde in Spanien der Begriff der Generation zeitgenössisch verwendet, wobei die »mittlere« Generation auf die Parteigründer um den charismatischen Pablo Iglesias folgte und die sozialistische Partei Spaniens (PSOE) bis zum Beginn der 1930er Jahre prägte. Die ihr nachfolgende dritte Generation, die von der russischen Revolution beeinflusst war und eine sozialistische Umgestaltung der zweiten Republik ab 1931 anstrebte, kritisierte an ihrer Vorgängerin fehlende Bodenhaftung und ideologische Verortung sowie eine zu liberale Nähe zu den Parteien des bürgerlichen Spektrums. Till Kössler listet in seinem Essay Argumente für und gegen das Generationenmodell auf: Dagegen sprächen die oft konträren politischen Standpunkte von Altersgenossen wie Francisco Largo Caballero und Julián Besteiro, ihre oft signifikanten Positionswechsel und ihre unterschiedliche Sozialisation; dafür spreche die Tatsache, dass die in Spanien traditionell starken Anarchisten durchweg aus jüngeren Alterskohorten stammten. So lassen sich in der »mittleren« Generation grundsätzlich zwei Generationseinheiten identifizieren, eine radikalere, gewerkschaftsnahe, die skeptisch war gegenüber dem Instrument demokratischer Wahlen und dem parlamentarischen System im Allgemeinen (was temporär sogar bis zu einem gewissen Grad an Kooperation mit dem
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Diktator Primo de Rivera führte), und eine reformistische bürgerlicher Herkunft, die von den Debatten über eine Erneuerung des Landes nach der Krise von 1898 stark beeinflusst war. Felicitas Fischer von Weikersthal lenkt den Blick auf die häufig innerhalb der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts übersehenen Frauen und verfolgt in ihrem Beitrag über Russland die Lebensläufe von vier prominenten Politikerinnen aus der Alterskohorte Friedrich Eberts innerhalb der bolschewistischen Bewegung: Nadežda Krupskaja, Anželika Balabanova, Aleksandra Kollontaj und Elena Stasova, die jeweils Autobiographien verfasst haben. Schon dieses Vorhandensein von Selbstzeugnissen deutet auf einen fundamentalen Unterschied zu den Altersgenossinnen in Deutschland hin; die russischen Sozialistinnen stammten aus wohlhabenden Elternhäusern und wiesen einen hohen Bildungsgrad auf. Sie fungierten als Führerinnen der russischen Arbeiterbewegung, ohne jemals Arbeiterinnen gewesen zu sein. Als generationsstiftend erwies sich für sie die permanente Verfolgung der Bolschewiki durch das Zarenregime bis 1917, was seinen Niederschlag in Jahren der Haft und des Exils fand. Dies war eine Erfahrung, die sie der »Generation Bebel« ähnlicher sein ließ als der »Generation Ebert«. Danach allerdings standen die Bolschewiki, einschließlich der erwähnten vier Protagonistinnen, in ununterbrochener (diktatorischer) Regierungsverantwortung. Thanos Angelopoulos weist in seinen Ausführungen über die griechische Arbeiterbewegung darauf hin, dass deren Ausgangslage sich kaum mit derjenigen der mitteleuropäischen Staaten, sondern eher mit derjenigen der Balkanländer vergleichen lasse. Zwar lagen deren Anfänge in den 1870er Jahren, aber erst 1890 wurde in Athen die erste sozialistische Organisation gegründet, deren Mitgliederzahl von anfangs 200 ihre marginale Bedeutung unterstreicht. Die zur Alterskohorte Friedrich Eberts gehörenden prominenten griechischen Sozialisten entstammten wohlhabenden bürgerlichen Elternhäusern, hatten zumeist ein Universitätsstudium absolviert und trugen das Etikett »Intellektuelle«. Trotzdem waren sie ideologisch nicht gefestigt, sondern schwankten zwischen Anarchismus, christlichem Sozialismus und Marxismus; etliche zogen sich auch aus nicht nachvollziehbaren Gründen aus der Politik zurück. Die mangelnde ideologische Konsistenz dürfte in erster Linie darauf zurückzuführen sein, dass in Griechenland noch über Jahrzehnte die soziale von der nationalen Frage, also der Befreiung griechischer Territorien von türkischer Besatzung, in den Hintergrund gedrängt wurde. Die Ergebnisse für Griechenland gelten in extremer Zuspitzung auch für den europäischen und christlichen Außenposten Armenien. Ashot Hayruni leistet mit seinem Beitrag Pionierarbeit; viele selbst einfachste biographische
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Fakten der zwischen den späten 1850er und den 1880er Jahren geborenen Protagonisten der beiden konkurrierenden Arbeiterparteien, der Huntschaken (gegründet 1887) und der Daschnaken (gegründet 1890), sind aufgrund der schwierigen Quellenlage bis heute unbekannt. Für beide Parteien, die den Kontakt zum Westen und zur Sozialistischen Internationale suchten, dominierte die nationale Frage über die soziale, da die armenische Bevölkerung auf drei Imperien verteilt war: Russland, das Osmanische Reich und Persien. Im Osmanischen Reich sahen sich die Armenier insgesamt zudem schon lange vor dem Ersten Weltkrieg mörderischer Gewalt von staatlicher Seite ausgesetzt. Keine andere sozialistische Bewegung in Europa hat auch deshalb ein solches Maß an Verfolgung erlitten. Zu Beginn des Völkermords an den Armeniern 1915 wurden allein 20 Anführer aus der Parteigründergeneration der HuntschakPartei in Konstantinopel öffentlich gehenkt. Für die Armenier ergibt sich der Spezialfall, dass die Zäsur des Völkermords jede Alterskohorte, auch die Nachgeborenen, bis heute maßgeblich beeinflusst und alle nachfolgenden Zäsuren wie die Unterwerfung durch die Bolschewisten nach 1918 und die staatliche Unabhängigkeit nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 in den Hintergrund der Wahrnehmung drängt. Für die Zweite Sozialistische Internationale kann Thomas Kroll eindeutig einen Gegensatz zwischen der Gründergeneration und der ihr nachfolgenden zweiten Generation identifizieren. Obwohl die elf Kongresse der Internationale bis 1914 von rund 6000 Delegierten besucht wurden, waren es doch einige wenige Politiker, welche diese Veranstaltungen inhaltlich und in der Wahrnehmung nach außen dominierten – die Parteipatriarchen aus der Gründergeneration. Als August Bebel 1913 starb, flehte Karl Kautsky geradezu den Österreicher Victor Adler an, die nun vakante Führungsrolle der Internationale zu übernehmen, da es der jüngeren Generation, darunter Friedrich Ebert, an Format fehle. Diese Position war nicht nur und nicht einmal in erster Linie Ausdruck objektiver Wahrnehmung, sondern eines letztlich den notwendigen Generationenwechsel nicht anerkennenden Beharrungsvermögens. Thomas Kroll deutet auch Kontroversen in und um die Internationale, etwa die heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der SPD um die Marokkokrise 1911, als Ergebnisse eines Generationenkonflikts.
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V. Fazit und Dank Gab es nun eine (gesamt-)europäische »Generation Ebert«? In einem pauschalen, länderübergreifenden Sinn wäre diese Frage eher mit nein zu beantworten. Zu bejahen ist sie aber grundsätzlich für diejenigen hier untersuchten Länder und Regionen, in denen die sozialdemokratische Arbeiterbewegung in Gewerkschafts- und Parteiform zumindest legal agieren durfte. Die Angehörigen der Ebert’schen Alterskohorte wiesen hier Gemeinsamkeiten auf, die sie von der vorherigen und der folgenden klar unterschieden und sich innerhalb der hier untersuchten sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Form zweier in Spannung zueinander stehender Generationseinheiten manifestierten. Anders als ihre Vorgänger machten die Angehörigen der »1870er« die Erfahrung kriegerischer und revolutionärer Gewalt in jüngeren Jahren hier nicht mehr, sondern erlebten ihre politische Sozialisation in einem vom erkennbaren Aufschwung der Bewegung gekennzeichneten Umfeld. Dabei konnte, wie der niederländische und, im Kontext des Weltkriegsendes, der Schweizer Fall zeigen, die gemeinsame Erfahrung eines weithin beachteten Arbeitskampfes besonderen Zusammenhalt stiften. Gemeinsamkeiten stiftete auch, wie vor allem die Beiträge zu Frankreich, Italien und auch Griechenland verdeutlichen, die aufmerksame Rezeption der Entwicklung in anderen Ländern. Wo die Arbeiterbewegung hingegen noch massiver Verfolgung ausgesetzt war, wie in Armenien und in Russland, trat die Relevanz der Geburtsjahrgänge zurück. Auch für die Vergleichsgruppe der katholischen Bischöfe lässt sich deren mangelnde Bedeutung konstatieren. Als zentral für das Selbstverständnis und damit für die Bildung von Generationseinheiten in der Kohorte der »1870er« erwies sich die Frage, ob sich die Arbeiterbewegung in Richtung einer Zusammenarbeit mit reformbereiten bürgerlichen Kräften bewegen oder, prinzipiell auf Basis der Marxʼschen Lehre, klare Distanz auch zu ihnen in Erwartung der bevorstehenden Revolution halten sollte. Diese Frage stellte sich in neuer Weise nach dem Ersten Weltkrieg – der einschneidenden Erfahrung für die folgende Kohorte –, als die Angehörigen der »Generation Ebert« erstmals die Chance besaßen, in größerem Ausmaß reale politische Macht auszuüben und zugleich mit der neuen Konkurrenz der Kommunisten konfrontiert waren. Die Generationseinheiten lösten sich damit nicht auf, sondern blieben gerade in den Ländern mit einer besonders gespaltenen Arbeiterbewegung erhalten. Aus ihren Reihen stammten großenteils die Führungsfiguren in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Ob jemand aus der Ebertʼschen Alterskohorte dann auch auf Regierungsebene im jeweiligen Land eine derart prominente und einflussreiche Position wie ihr
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Namensgeber erringen konnte, ergab sich aus der je spezifischen Konstellation von politischem System, Parteienstruktur und Wahlergebnissen. Insgesamt zeigen die Beiträge des Bandes, dass eine generationelle Perspektive auf die Geschichte der Arbeiterbewegung in den letzten Jahrzehnten des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts neue Einsichten in deren Handlungsmöglichkeiten gewährt und hergebrachte, auf Ideen, Organisationsstrukturen und Einzelpersönlichkeiten fokussierte Ansätze in produktiver Weise ergänzt. Die Herausgeber danken der Beiträgerin und den Beiträgern für die Bereitschaft, sich auf ein in der bisherigen Arbeiterbewegungsgeschichte noch weniger erforschtes Terrain zu begeben. Anerkennung gilt allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, die zum reibungslosen Ablauf der aufgrund der grassierenden Corona-Pandemie digital durchgeführten Tagung und zur Drucklegung dieses Sammelbandes produktiv beigetragen haben: von der Geschäftsführung, über die Wissenschaftler, die Verwaltung und das Sekretariat bis zu den studentischen Hilfskräften, welche beim Lektorat dieses Buches mitgeholfen haben. Namentlich sollen Lukas Armbruster und Sven Gareis genannt sein. Der Dank gilt auch der Vorbereitungsgruppe der Tagung, die aus den beiden Herausgebern, Christoph Cornelißen, Moritz Föllmer und Anja Kruke bestand. Für die Übersetzung der fremdsprachigen Beiträge ins Deutsche ist abschließend Christine Brocks sowie Susanne Schneider/Nicoline Erichsen zu danken.
Dirk Schumann, Bernd Braun Göttingen/Heidelberg im November 2022
Stefan Berger
Gibt es die europäischen 1870er? Bemerkungen zum Zusammenhang von Generation und politischer Sozialisation im europäischen Sozialismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts
Die Idee hinter dem hier vorliegenden Band ist es, auszuloten, inwiefern man von einer 1870er Generation von sozialistischen Führungspersönlichkeiten sprechen kann. Dabei steht zunächst einmal am Beginn der Analyse die Beobachtung, dass besonders nach dem Ersten Weltkrieg in einer Reihe von europäischen Ländern sozialistische Politiker:innen wichtige Positionen innerhalb von Parteien, aber auch politischen Systemen innehatten, die in den 1870er Jahren geboren wurden. Gefragt wird im Anschluss an diese Beobachtung nach generationellen Gemeinsamkeiten im Hinblick auf ideologische Einflüsse, Karrierewege, Erfahrungen von Exklusion und Inklusion, Weltwahrnehmung, Modernisierungsprozessen und anderen Erlebnishorizonten sowie ihren diskursiven Sinnkonstruktionen. In diesem Beitrag soll ein Problemaufriss vorgelegt werden, der in vier Schritten vorgeht. Zunächst soll kurz etwas zum Konzept von Generation gesagt werden. In einem zweiten Schritt wird die Frage erörtert, ob und inwiefern die Versuche, das Generationenkonzept für die deutsche Arbeiterbewegung fruchtbar zu machen, europäisch erweitert werden können. Der dritte Teil des Aufsatzes beschäftigt sich spezifischer damit, inwiefern man von einer europäischen 1870er Generation sprechen kann. Die abschließende Sektion untersucht unter Bezug auf neuere Ansätze aus der historischen Zeitforschung, besonders Achim Landwehrs Arbeiten, inwiefern die dort postulierten »Pluritemporalitäten« Auswirkungen haben auf unser Generationenverständnis und die Konstruiertheit desselben entweder von den Akteuren, die sich einer Generation zurechnen, oder den Wissenschaftlern, die mit dem Konzept der Generation arbeiten. Insgesamt fragt der Aufsatz nach den eine Generation konstituierenden und/oder negierenden Spannungsmomenten zwischen nationalen, regional-spezifischen und länderübergreifenden Entwicklungen in Europa.
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Konzepte politischer Generationen Konzepte politischer Generationen sind spätestens seit dem bahnbrechenden Text zum »Problem der Generationen« von Karl Mannheim aus dem Jahr 1928 unter Wissenschaftler:innen beliebt.1 Mannheim unterschied zwischen Generationszusammenhang, Generationslagerung und Generationseinheiten. Der Generationslagerung war jeder Mensch zwangsläufig qua Geburt unterworfen: ob er wollte oder nicht, er gehörte einer gewissen Zeitschicht an, aus der er nicht einfach hinaustreten konnte. Der Generationszusammenhang meint, dass im historisch-sozialen Raum kulturell vermittelte Zusammenhänge möglich werden, denen sich der einzelne bewusst sein kann oder nicht. Generationseinheiten entstehen dann aus Generationszusammenhängen, wenn sich Angehörige einer Generation auf Grund von Bewusstseinsprozessen von Generationszusammenhängen zu gemeinsamem Handeln entschließen. Dabei ist es nach Mannheim durchaus möglich, dass sich unterschiedliche, ja sogar gegensätzliche Generationseinheiten bilden können, die verschiedene Handlungsformen ausprägen. Generationseinheiten sind also mitnichten in jeder Hinsicht und unbedingt einheitlich.2 Für eine solche Generation sind dann auch ein oder mehrere eigene Stile, Habitus und Sprachen kennzeichnend. Für den Generationszusammenhang entscheidend waren in historischer Perspektive oftmals Großereignisse wie Kriege, Nationsbildungen, Staatenzerfall oder Revolutionen. Besonders in der Bildungs- und Erziehungssoziologie, aber auch in der Wissenssoziologie machte das Konzept der Generationen in der Nachfolge von Mannheim Karriere, wurde aber auch immer wieder in verschiedenen Disziplinen sehr unterschiedlich verwandt.3 In der deutschen Geschichtswissenschaft ist Generation als analytische Kategorie besonders im Zusammenhang mit den beiden Weltkriegen, dem Nationalsozialismus und verschiedenen Jugendbewegungen prominent diskutiert worden. Andreas Schulz und Gundula Grebner haben in einem von ihnen herausgegebenen
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Karl Mannheim: Das Problem der Generationen, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 7,2 (1928), S. 157–185 und 309–330. Vielen Dank an Dirk Schumann für diesen Hinweis. Siehe z. B. Ulrich Hermann: Das Konzept der »Generation«. Ein Forschungs- und Erklärungsansatz für die Erziehungs- und Bildungssoziologie und die Historische Sozialisationsforschung, in: ders. (Hg.): Jugendpolitik in der Nachkriegszeit. Zeitzeugen, Forschungsberichte, Dokumente, Weinheim 1993, S. 99–117.
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Sonderband der »Historischen Zeitschrift« versucht, das Generationenkonzept im Hinblick auf historische Wandlungsprozesse fruchtbar zu machen.4 Gerade der Verweis auf prägende Ereignisse relativiert allerdings wieder die Geburtsjahrgänge, denn zum Beispiel der Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte ja ohne Frage prägenden Einfluss auf unterschiedliche Geburtsjahrgänge. Die Generationenforschung hat darauf wiederum reagiert, indem sie sich wegbewegt hat von einer Überkonzentration auf Jahrgänge, so dass inzwischen auch ganz unterschiedliche Alterskohorten als Generationen bezeichnet werden können. Während die frühen historischen Forschungen zu Generation den Generationenbegriff ganz überwiegend auf eine Sozialisationsphase in Jugend und jungem Erwachsenenalter bezogen hat,5 ist man inzwischen, oft unter Bezugnahme auf die Kategorie der »Erfahrung«, zu dem Schluss gekommen, dass es sich dabei mitnichten um eine sinnvolle Verengung des Generationenbegriffs handelt. Insgesamt ist dem analytischen Konzept der Generation immer wieder konzeptionelle Unschärfe vorgeworfen worden. Wie repräsentativ waren die unter einer Generation Zusammengefassten denn tatsächlich für bestimmte Altersjahrgänge? Homogenisiert man letztere nicht über generationelle Konzepte unzulässig? Führt dies nicht wiederum zu groben Generalisierungen? Betont das Konzept der Generation nicht den Bruch oft zu sehr und vernachlässigt die Übergänge? Läuft man somit nicht Gefahr, Grenzziehungen überzubetonen und das eventuelle Vorhandensein von Zwischengenerationen zu übersehen? Der oftmals in Verbindung mit Generation verwandte Begriff der Mentalität hat die Unschärfe des Generationenbegriffs durch seine eigene Unschärfe eher noch vergrößert. Man darf sich vor diesem Hintergrund durchaus die Frage stellen, ob Generation, ähnlich wie Identität, eines jener von Uwe Pörksen so bezeichneten »Plastikwörter«6 ist, die eher einen ideologischen Gehalt haben und analytisch kaum zu verwenden sind, weil sie eben nicht scharf zu fassen sind. Die Forschung hat auf diese, dem Begriff inhärente Unschärfe reagiert, indem sie oftmals unter Generation nicht viel mehr versteht als eine Alterskohorte. Zudem hat sie daran gearbeitet, ihre Analyseinstrumente zu ver-
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Andreas Schulz/Gundula Grebner (Hg.): Generationswechsel und historischer Wandel, München 2003. 5 Zu dieser expliziten Jugendbezogenheit von Generation siehe auch Mark Roseman (Hg.): Generations in Conflict. Youth Revolt and Generation Formation in Germany, 1770–1968, Cambridge 1995. 6 Uwe Pörksen: Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur, Stuttgart 1992.
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feinern. Um nur ein Beispiel zu geben: Die zunehmende Beschäftigung mit Transgenerationalität bzw. mit generationellen Beziehungsmustern zwischen aufeinander folgenden Generationen versucht in den Blick zu bekommen, welche Auswirkungen das Weitergeben von spezifischen Problemen über eine Generation hinweg haben kann.7 Viele der Forschungen, die das analytische Konzept der Generation verwenden, bewegen sich in einem Dreieck von Erfahrung, Erzählung und Identität.8 Dabei wird Erfahrung als diskursiv vermittelt betrachtet und ist somit vor allem über Narrationen zugänglich.9 Hier ist die Nähe zur Erinnerung und damit zur Erinnerungsforschung mit Händen zu greifen. Eine Konstruktion von Erfahrung über narrativisierte Erinnerung führt ins Zentrum eines eher subjektiven Verständnisses von Generation, das anders gelagert ist als das eher objektive Mannheimʼsche. Jürgen Reulecke, einer der profiliertesten Historiker der Bundesrepublik Deutschland, hat immer wieder, in vorbildlich differenzierender Weise, auf die Bedeutung von Generation und Generationalität verwiesen.10 Reulecke weist einen objektiven Generationenbegriff als Bezeichnung ganzer Jahrgangskohorten zurück. Eine idealtypische Konstruktion von objektiv fassbaren Generationenstrukturen scheint ihm sinnlos. Stattdessen setzt er bei den subjektiven Selbstzuschreibungen ein und fragt danach, wie wirkmächtig diese in unterschiedlichen historischen Kontexten waren. Hier sind es also die Einzelnen, die ihrer erlebten Geschichte aus der Erinnerung heraus Sinn verleihen, indem sie sich einer Generation zuordnen und diese damit überhaupt erst entstehen lassen. Dieser Terminus ist damit eigentlich immer ein Begriff der Erinnerung in dem Sinne, dass Generation nur aus der Erinnerung heraus subjektiv konstituiert werden kann. Von daher hat nicht zuletzt die interdisziplinäre Erinnerungs- und Gedächtnisforschung, viel stärker als die
7 Siehe z. B. Gabriele Rosenthal (Hg.): Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern, Gießen 31999; Katinka Meyer: Wandel ostdeutscher Familiengedächtnisse. Erinnerungen der »Vertreibung« zwischen Nationalsozialismus, Wende und Gegenwart, Wiesbaden 2020, besonders Kapitel 8. 8 Andreas Kraft/Mark Weißhaupt (Hg.): Generation: Erfahrung – Erzählung – Identität, Konstanz 2009. 9 Der Aufsatz von Joan W. Scott: The Evidence of Experience, in: Critical Inquiry 17:4 (1991), S. 773–797, wurde zu einem der wichtigsten Referenzpunkte für all diejenigen, die Erfahrungen als diskursiv konstruiert wahrnahmen. 10 Aus seiner Vielzahl von Publikationen siehe z. B.: Jürgen Reulecke (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003.
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Geschichtswissenschaft, den Begriff der Generation aufgegriffen.11 Reulecke führt für diese subjektive Konstitution von Generation den Begriff der Generationalität ein. Für ihn ist dieser Begriff vor allem ein Mittel, um Subjektivität und Psychologie stärker in Politik- und Sozialgeschichte einzubetten.12 Generationelle Prägungen als Selbstzuschreibungen aus der Erinnerung heraus waren tendenziell eher situativ als über die Dauer stabil. In ihren Bedeutungsgehalten waren sie über die Zeit wandelbar. Hans Jäger hat darauf bereits 1977 hingewiesen, als er bemerkte, dass Generationszusammenhänge aus konkreten Problemen und Anforderungen erwachsen.13 Sie sind damit keine auf alle Zeiten festgelegten Verhaltensdispositionen, weder homogen noch stabil. Generationelle Selbstzuschreibungen sind oftmals verbunden mit identitärer Selbstverortung, die allerdings wiederum in ständigem Austausch steht mit anderen identitären Selbstverortungen, wie zum Beispiel denen von sozialer Klasse, Ethnizität, Religion, Geschlecht, ideologischen Überzeugungen und andere mehr. Gerade die Interkonzeptionalität von Generation wird aber oftmals zu wenig berücksichtigt. Prosopographischen Studien steht es gut an, die Zusammenhänge zwischen diesen unterschiedlichen identitären Konzepten im Blick zu behalten.14 Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass Generation ursprünglich ein sehr männlich geprägtes Konzept war: Es ging lange Jahre, wenn man von Generation sprach, um männliche Erfahrungen; inwiefern verschiedene, generationell prägende Erfahrungen gegendert waren, ist im Hinblick auf die allermeisten Generationserfahrungen erst seit den letzten vierzig Jahren in den Blick genommen worden, vor allem von der Geschlechterforschung, die hier wichtige Studien vorgelegt hat, zum Beispiel zu den Kriegskindern aus dem Zweiten Weltkrieg.15 Abschließend soll nicht unerwähnt bleiben, dass das DFG -Kolleg »Generationengeschichte« an der Universität Göttingen zu diesem Thema wichtige 11 Siehe z. B. Amy Corning/Howard Schuman: Generations and Collective Memory, Chicago 2015. 12 Vgl. allgemein Reulecke, Generationalität [wie Anm. 10]. 13 Hans Jäger: »Generationen in der Geschichte«, in: Geschichte und Gesellschaft 3 (1977), S. 429–452. 14 Zu Fragen, wie historisches Schreiben mit Fragen von kollektiver Identität umgeht, siehe Stefan Berger: History and Identity: How Historical Theory Shapes Historical Practice, Cambridge 2022. 15 Siehe u. a. Barbara Stambolis: Töchter ohne Väter. Frauen der Kriegsgeneration und ihre lebenslange Sehnsucht, Stuttgart 2012.
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Arbeiten hervorgebracht hat, die das Konzept der Generation wesentlich differenziert haben. Zwei Beispiele müssen hier genügen. So hat Benjamin Möckel beeindruckend gezeigt, dass es eine einheitliche, nationalsozialistisch geprägte Generationserfahrung von Jugendlichen im Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hat. Es waren weniger die gemeinsamen Erfahrungen im Krieg, sondern vielmehr die gemeinsamen Rückblicke auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs im Kontext der frühen Bundesrepublik Deutschland, die einen solchen Generationszusammenhang konstruierten. Dass dieser Prozeß in der DDR ganz unterschiedlich verlief, deutet laut Möckel darauf hin, dass es sich bei dem Konzept der Generation eher um eine aus spezifischen Kommunikationszusammenhängen hervorgehende Selbstinszenierung handelt.16 In dem von Anna von der Golz herausgegebenen Sammelband zur 68er-Generation, unser zweites Beispiel aus dem Göttinger Generationenkolleg, wird das Konzept auch eher als ein imaginierter und konstruierter Sinnzusammenhang gedeutet, der weniger mit Erfahrung und mehr mit Erinnerung zusammenhängt. Diese Szenarien waren zum Teil sehr unterschiedlich national flektiert, so dass der Leser dieses Bandes den Eindruck gewinnt, dass man wohl eher nicht von einer europäischen 68er-Generation sprechen kann.17 Dies ist wiederum ein Befund, der im Lichte unserer eigenen Fragestellung nach einer europäischen 1870er Generation unter Sozialisten interessant ist.
Generationen in der Arbeiterbewegung – national oder europäisch? In den Forschungen zur deutschen Arbeiterbewegung taucht das Konzept der Generation durchaus auf, ohne dass es jemals zu einem Leitkonzept der Forschung, etwa analog zu dem der sozialen Klasse, geworden wäre.18 Besonders die Eliten der Arbeiterbewegung sind unter der Kategorie der Generation hin und wieder untersucht worden, gerade weil sie sich, wie andere Eliten auch, selbst generationell verortet haben, um Sinnbildungsdiskurse zu produzieren. Im Hinblick auf die deutsche Sozialdemokratie ist der Versuch unternommen worden zwischen verschiedenen Generationen zu unterscheiden: einer »Ge-
16 Benjamin Möckel: Erfahrungsbruch und Generationsbehauptung. Die »Kriegsjugendgeneration« in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften, Göttingen 2014. 17 Anna von der Golz (Hg.): Talkin’ ›bout My Generation‹: Conflicts of Generation Building and Europe’s 1968, Göttingen 2011. 18 Siehe z. B. Klaus Schönhoven/Bernd Braun (Hg.): Generationen in der Arbeiterbewegung, München 2005.
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neration Bebel«, einer »Generation Ebert«, einer »Generation Schumacher« und einer »Generation Godesberg«. Gefragt wurde hier nach gemeinsamen Prägungen von Alterskohorten unter den Führern der deutschen Arbeiterbewegung im Hinblick auf Milieu, Organisation, Karrieren, Bürokratisierung, Professionalisierung, Mobilität, und Ideologie. Klaus Schönhoven und Bernd Braun warnten schon 2005 davor, das Generationenkonzept zu überdehnen, indem man allzu sehr auf eine dauerhafte Homogenität von Generationen über die Zeit rekurriert. Dennoch, so meinten sie, könne der Generationenbegriff sinnvoll sein im Hinblick auf gruppenbiographische Gemeinsamkeiten bei Problemwahrnehmungen, Handlungsnormen und Ausdrucksformen.19 Bereits im nationalen Rahmen kann man allerdings Zweifel anmelden, ob diese Gemeinsamkeiten über einen solch breiten Raum wie den der Nation hinweg und in Verbindung mit ganz unterschiedlichen, nicht-primär räumlichen Identifikationsmustern wie Geschlecht, Klasse, Religion, Ethnizität und anderen tatsächlich aussagekräftig sind. Weiterhin wäre über einen europäisch vergleichenden Blick auf Generationen in der Arbeiterbewegung zu fragen, welche länderübergreifenden Erfahrungen wie in Beziehung gesetzt werden müssen zu regional- und nationalspezifischen Entwicklungen und welche Spannungen sich aus beiden ergeben. Dabei gibt es ohne Frage transnational generationsprägende Ereignisse, die allerdings wiederum jeweils regional- und nationalspezifische Ausformungen bereithalten. Schon die 1848er-Revolutionen kann man als prägendes generationelles Ereignis für Repräsentant:innen der frühen Arbeiterbewegung in Teilen Europas bezeichnen: in den deutschen Landen, in verschiedenen Teilen der Habsburgermonarchie, im durch den Chartismus geprägten Großbritannien oder auch im revolutionären Frankreich.20 Die 1848er-Revolutionen müssen also durchaus auch in transnationalen Erfahrungsräumen im Hinblick auf ihre generationelle Prägekraft untersucht werden. Aber man wird nicht umhinkommen, zugleich zu kon statieren, dass es weite Teile Europas gab, in denen 1848 keine besondere Prägekraft für generationelle Zuordnungen entwickelte. Insgesamt gilt wohl: Je nationaler das generationsprägende Ereignis war, desto geringer war seine europäische Dimension. Nehmen wir zum Beispiel die »Generation Bebel«: Hier handelt es sich um die zwischen 1838 und 1850 Geborenen, neben Bebel Persönlichkeiten wie Ignaz Auer und Johann Heinrich Wilhelm Dietz. Für sie waren die Sozialistengesetze die generationsprägende Erfahrung. Nun könnte 19 Klaus Schönhoven/Bernd Braun, Vorwort der Herausgeber, in: ebenda, S. 7–16. 20 Dieter Dowe/Heinz-Gerhard Haupt/Dieter Langewiesche (Hg.): Europa 1848. Revolution und Reform, Bonn 1998.
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man in europäisch vergleichender Perspektive betonen, dass Verfolgungserfahrungen in weiten Teilen des europäischen Sozialismus gemacht wurden und damit auch in den betroffenen europäischen Staaten generationsprägend wirken konnten.21 Allerdings ereigneten sich diese Verfolgungsmaßnahmen in unterschiedlichen Staaten Europas nicht nur in unterschiedlicher Intensität, sondern auch zu unterschiedlichen Zeiten. Damit ist eine transeuropäische generationelle Verortung einer durch Verfolgungserfahrungen geprägten Generation in der Arbeiterbewegung höchstens partiell möglich. Ähnliches gilt für andere Generationen. Die »Generation Schumacher« etwa war ganz überwiegend in den letzten beiden Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende geboren. Für sie war der Erste Weltkrieg prägend. Aufgewachsen in einem starken sozialdemokratischen Milieu rieben sich viele Vertreter:innen dieser Generation an ihrer Vorgängergeneration, zumal letztere bis weit in die 1920er Jahre hinein die Führungspositionen im Funktionärsapparat der Sozialdemokratie besetzt hielt. In der Zwischenkriegszeit zeigten sich auch hier Unterschiede zwischen der sogenannten »Frontgeneration« und denjenigen, die dieses Fronterlebnis gerade verpasst hatten.22 Insgesamt wurden diese Generationskohorten bereits von Ernst Fraenkel 1930 als verlorene Generationen für die Sozialdemokratie bezeichnet, da beide eher den Weg zu den Nationalsozialisten oder den Kommunisten gefunden hätten.23 Dabei hat allerdings Siegfried Weichlein relativierend darauf hingewiesen, dass eine dichotomische Gegenüberstellung von vergreisender Weimarer Sozialdemokratie und jugendbewegtem Kommunismus einer empirischen Überprüfung kaum standhalten dürfte.24 In europäisch vergleichender Sicht kann man wiederum darauf verweisen, dass der Erste Weltkrieg für viele der teilnehmenden Staaten ein generationen-
21 Romain Bonnet/Amerigo Caruso/Alessandro Saluppo: The First Revolutions of the Twentieth Century: Fears of Socialism and anti-Labour Mobilizations in Europe after the Russian Revolution of 1905, in: Stefan Berger/Klaus Weinhauer (Hg.): Rethinking Revolutions from 1905 to 1934, Basingstoke 2022, S. 195–220. 22 Meik Woyke: Die »Generation Schumacher«, in: Schönhoven/Braun (Hg), Generationen [wie Anm. 18], S. 87–106. 23 Ernst Fraenkel: Jungsozialismus als Generationsproblem, in: Jungsozialistische Blätter, Heft 11, Nov. 1930. 24 Siegfried Weichlein: Milieu und Mobilität: Generationelle Gegensätze in der gespaltenen Arbeiterbewegung der Weimarer Republik, in: Schönhoven/Braun (Hg.), Generationen [wie Anm. 18], S. 165–192.
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definierendes Moment darstellte.25 Allerdings fallen dann zunächst einmal alle diejenigen Staaten aus dem europäischen Vergleich heraus, die neutral geblieben waren. Und selbst bei den Teilnehmerstaaten scheint die Unterscheidung zwischen denen, die den Weltkrieg verloren, und denen, die ihn gewonnen haben, wichtig zu sein, denn man wird davon ausgehen können, dass die generationelle Selbstverortung mit Sieg oder Niederlage entscheidend zu tun hatte. Zum anderen wäre konkret zu fragen, welche generationellen Selbstverortungen mit dem Weltkrieg verbunden waren? Gab es in Deutschland bereits verschiedene Generationskohorten, die sich in Verbindung mit dem Ersten Weltkrieg formierten, so wäre auch für andere europäische Staaten nach einer solchen Auffächerung zu suchen. Auch wenn es transnationale Erfahrungshorizonte im Zusammenhang mit Weltkrieg, Hunger, Systemänderung und Revolution gab, wie spezifisch waren jeweils deren nationale bzw. regionale Ausprägungen?26 Bei der »Generation Godesberg«, deren Vertreter weitgehend zwischen 1910 und 1925 geboren waren, weist Daniela Münkel selbst auf die altersmäßige Heterogenität dieser von ihr so bezeichneten »Nicht-Generation« hin.27 Ihre Sozialisationserfahrungen waren sowohl in Deutschland als auch im Exil sehr heterogen. Vor 1945 gab es hier kaum Gemeinsamkeiten. Prägend war eher die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Anschluss an diese Überlegungen würde es eher Sinn machen, von einer »Generation Kalter Krieg« zu reden. Dies wäre auch in transnational europäischer Sicht zumindest einer Überprüfung wert. Immerhin machte die europäische Sozialdemokratie unter dem Eindruck des Kalten Krieges ihren (zunehmenden) Frieden mit dem Kapitalismus, zumindest da, wo es ihr gelang, in Regierungsfunktionen aufzusteigen.28 Es ging ihr zunehmend nur mehr um eine Einhegung des Kapitalismus, nicht mehr um dessen Überwindung. Wobei auch hier einschränkend anzumerken wäre, dass dieser Trend in vielen europäischen Ländern dem Kal25 Sonja Levsen: Der Erste Weltkrieg und die Generationen. Historiographie und zeitgenössische Deutungen im deutsch-britischen Vergleich, in: Kirsten Gerland/Benjamin Möckel/Daniel Ristau (Hg.): Generation und Erwartung. Konstruktion zwischen Vergangenheit und Zukunft, Göttingen 2013, S. 109–132. 26 Helmut Konrad/Karin Maria Schmidlechner (Hg.): Revolutionäres Potential in Europa am Ende des Ersten Weltkriegs. Die Rolle von Strukturen, Konjunkturen und Massenbewegungen, Köln 1991. 27 Daniela Münkel: Wer war die Generation Godesberg?, in: Schönhoven/Braun (Hg.), Generationen [wie Anm. 18], S. 243–258. 28 John Callaghan: The Retreat of Social Democracy, Manchester 2000, besonders Kapitel 1, S. 1–25: »The Golden Age of Social Democracy«.
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ten Krieg vorgelagert war und weit in die Zwischenkriegszeit zurückreicht. Für die bundesrepublikanische SPD ist argumentiert worden, dass die sogenannte »HJ-Generation« eine besonders dem Reformismus und Lassalleanismus zustrebende Generation nach 1945 war.29 Auch hier könnte man in europäisch erweiterter Perspektive danach fragen, ob totalitäre Sozialisationserfahrungen in der Jugend der Zwischenkriegszeit einen besonderen Hang zum Reformismus nach sich zogen, wobei man die zum Teil doch erheblichen Unterschiede in den nationalen Sozialisationserfahrungen, etwa in Italien oder Spanien, mitreflektieren müsste.30
Die 1870er in der Arbeiterbewegung – eine deutsche oder eine europäische Generation? Wenden wir uns aber jetzt derjenigen Generation vertieft zu, um die es im Rahmen des hier vorgelegten Bandes geht: den 1870ern, oder für den deutschen Fall, der »Generation Ebert«.31 Ihre Vertreter wurden zwischen der zweiten Hälfte der 1860er und den späten 1870ern geboren und könnten von daher auch als »Reichsgründungsgeneration« bezeichnet werden. Ihr gehörten viele Prominente aus der Weimarer Republik an, darunter Philipp Scheidemann, Wilhelm Keil, Wilhelm Dittmann, Otto Wels, Gustav Noske, und Rudolf Breitscheid. Die Sozialistengesetze waren für sie in Kindheit und Jugend ein wichtiger Faktor der Generationenbildung ebenso wie später die Umsturz- und Zuchthausvorlagen, obwohl die Erinnerung daran überlagert wurde von den parlamentarischen und organisatorischen Erfolgen der Partei nach 1890. Zunächst einmal scheint es interessant hervorzuheben, dass die 1870er im Sinne von Jürgen Reulecke nie eine subjektive Selbstzuschreibung waren. Bereits Gerhard A. Ritter und Klaus Tenfelde haben in ihrem Band zu den »Arbeitern im Deutschen Kaiserreich« darauf hingewiesen, dass man in Arbeitermemoiren so gut wie nie Reflexionen über die eigene Zugehörigkeit
29 Everhard Holtmann: Die neuen Lassalleaner: SPD und HJ-Generation nach 1945, in: Martin Broszat (Hg.): Von Stalingrad zur Währungsreform, München 1988, S. 169–210. 30 Giorgia Priorelli: Italian Fascism and Spanish Falangism in Comparison. Constructing the Nation, Basingstoke 2020. 31 Bernd Braun, Die »Generation Ebert«, in: Schönhoven/Braun (Hg.), Generationen [wie Anm. 18], S. 69–86.
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zu Generationen findet.32 Das Generationenkonzept ist also im Hinblick auf die Arbeiterbewegung vielleicht mehr als an anderen Orten ein klassisches Ex-post-facto-Konstrukt von Historiker*innen, die auf einen Jahrgang schauen und danach fragen, welche Gemeinsamkeiten man bei Vertreter:innen dieses Jahrgangs finden kann. Für die deutschen 1870er hat Bernd Braun sie als nüchtern-technokratisch beschrieben. Sie, so Braun, seien weniger durch eine charismatische Autorität gekennzeichnet gewesen als durch einen Hang zu Fortschrittsdenken und Zukunftsglauben, der allerdings weniger visionär als reformistisch geprägt gewesen sei.33 Auch wenn die Heroenjahre der Sozialistengesetze in der Erinnerungskultur der Sozialdemokratie im Mittelpunkt standen, verblassten sie doch gerade in der 1870er Generation zunehmend.34 Die meisten verbanden eben keine eigenen traumatischen Erfahrungen von Verfolgung mit ihrer Lebensgeschichte und die transgenerationelle Weitergabe dieser Verfolgungserlebnisse, die ja immerhin durch im Kaiserreich fortbestehende vielfältige Diskriminierung (Stichwort: »vaterlandslose Gesellen«) untermauert wurden, waren nicht stark genug, den Drang der 1870er hin zu einer politischen Einbindung zu unterdrücken. So nutzten sie gerade die Kommunalpolitik im Kaiserreich, wo es ihnen manchmal möglich war, eine Politik der kleinen, reformerischen Schritte zu beschreiten.35 Obwohl, wie ich selbst in meinem Aufsatz in dem Sammelband von Klaus Schönhoven und Bernd Braun versucht habe zu zeigen, die Marxismus-Rezeption in der Sozialdemokratie wesentlich von der jeweils konkreten Erfahrung der Sozialistengesetze geprägt war, blieb doch, gerade auch befördert von der 1870er Generation, ein ideologischer Eklektizismus kennzeichnend für die deutsche Sozialdemokratie.36 In europäisch-vergleichender Perspektive wäre nun zu fragen, was überhaupt das konstituierende Moment einer solchen Generation, entweder als Fremdoder Selbstzuschreibung sein soll. Bestätigt sich nicht das Urteil von Gerhard A. Ritter und Klaus Tenfelde beim Blick auf Europa, dass auch die Führer:innen 32 Gerhard A. Ritter/Klaus Tenfelde: Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914, Bonn 1992, S. 647 f. 33 Braun, Generation Ebert [wie Anm. 31]. 34 Zur Geschichte der Sozialdemokratie unter den Sozialistengesetzen siehe Vernon L. Lidtke: The Outlawed Party. Social Democracy in Germany 1878–1890, Princeton 1966. 35 Heiner Flues: Kommunalpolitik im Kaiserreich und Sozialdemokratie. Zur Diskussion und Praxis der Kommunalpolitik in der SPD 1900–1914, Examensarbeit, Universität Freiburg 1979. 36 Stefan Berger: Marxismusrezeption als Generationserfahrung im Kaiserreich, in: Schönhoven/Braun (Hg.), Generationen [wie Anm. 12], S. 193–210.
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der Arbeiterbewegung, wie die Arbeiter insgesamt, selten in Generationen dachten? Hatte das wiederum nicht viel damit zu tun, dass andere identitäre Selbstzuschreibungen, vor allem die der Klasse, gerade in dieser Generation dominant blieben? Im Hinblick auf eine mögliche Fremdzuschreibung durch Historiker:innen könnte man fragen, ob starke Organisationen und Mitspracherechte innerhalb von politischen Systemen den Hang zum Reformismus auch an anderen Orten bekräftigten. Je stärker die Sozialist:innen an ihren jeweiligen nationalen Verfassungsstrukturen partizipieren konnten und je mehr sie durch ihre Stärke dazu befähigt waren, um so reformistischer war ihr Anstrich: Der deutschen Sozialdemokratie im späten Kaiserreich würden hier die britischen Sozialist:innen der Labour Party, die schwedischen Vertreter:innen der »Volksheim«-Ideologie und die französischen Sozialist:innen um Jean Jaurès hinzutreten, während in den stärker autoritär regierten Ländern Europas, in denen parlamentarisch-demokratische Mitwirkung auf jedweder Ebene ausgeschlossen blieb, der Reformismus wesentlich geringer ausgeprägt war.37 Allerdings wird man hier gleich fragen müssen, ob eine solche europäische Kategorisierung generationell bedingt war. Und selbst wenn sie es war: Sprechen wir überall in Europa von denselben Generationen? Oder hängt es dann nicht doch wieder davon ab, wann sich welches nationale politische System demokratisierte? Für die 1870er Generation in Deutschland ist sicher nicht zu unterschätzen, wie intensiv selbige durch die Reichsgründung 1871 beeinflusst war. Eine nach anfänglichen Schwierigkeiten überaus erfolgreiche Nationalstaatsbildung im Deutschen Reich, beflügelt durch die enormen Erfolge nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in wissenschaftlicher, rechtlicher und kommunalverwaltungstechnischer Hinsicht, führte gerade bei dieser Generation zu einem sich verstärkenden Integrationswunsch: Viele der 1870er wollten dazugehören, auch wenn sie nach wie vor andere Vorstellungen davon hegten, wie ein deutscher Nationalstaat in politischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht verfasst sein sollte.38 In europäisch vergleichender Perspektive stellt sich hier aber erneut die Frage, ob das nicht eine sehr deutsche Geschichte ist. In vielen Staaten Westeuropas war die nationale Frage bereits im Mittelalter oder der frühen Neuzeit »erledigt« worden. In Osteuropa herrschten vor 1914 noch weitgehend Imperien, die ihre jeweils eigenen nationalen Fragen hatten, die 37 Sheri Berman: The Social Democratic Moment. Ideas and Politics in the Making of Interwar Europe, Cambridge/Mass. 1998. 38 Stefan Berger: Social Democracy and the Working Class in Nineteenth and Twentieth Century Germany, London 2000, Kapitel 3: »Between Isolation and Integration 1871–1918«, S. 54–93.
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aber erst nach der Zerschlagung dieser Vielvölkerstaaten im Ersten Weltkrieg zu einer weitgehenden nationalen Neuordnung führten.39 Vergleichende Aspekte bietet der deutsche Fall hier wohl am ehesten mit der italienischen Einigung in den 1860ern, gerade was eine gewisse zeitliche Parallelität angeht. Allerdings stechen hier auch die Unterschiede gleich wieder stärker ins Auge. Anders als im Deutschen Reich wird man die nationalstaatliche Einigung in Italien nicht in gleichem Ausmaß als Erfolgsgeschichte werten können.40 Gerade auch unter Arbeiter:innen wurde der Nationalstaat selten zu einem positiven Bezugspunkt. Zwar spalteten sich sowohl die italienischen als auch die deutschen sozialistischen Parteien über der Frage einer Unterstützung ihrer jeweiligen Regierungen im Ersten Weltkrieg; dass aber einige Sozialist:innen um Benito Mussolini aus dieser Haltung heraus dann die faschistische Bewegung entwickelten, war ebenso bezeichnend wie die Tatsache, dass im Italien des »Biennio rosso« die Einheit Italiens viel stärker in Frage stand als das im besiegten Deutschland nach 1918 der Fall war. Eine maßgebliche Generationsbildung in der Arbeiterbewegung Italiens rund um die nationalstaatliche Einigung wird man kaum konstatieren können.41 Ganz anders dagegen im Deutschen Reich, wo Frank Engehausen für die jüngeren Parlamentarier in der SPD -Fraktion, die zunehmend häufig sich aus der 1870er Generation heraus rekrutierten, festgestellt hat, dass sie 1914 zu denjenigen gehörten, denen die Vaterlandsverteidigung am ehesten einleuchtete.42 Dies war ein weiteres deutliches Zeichen erfolgreicher Nationalisierung der deutschen Arbeiterbewegung vor 1914. Dass dagegen sowohl in Italien als auch in Spanien der Anarcho-Syndikalismus starke Wurzeln ausbilden konnte, hängt gerade mit der Schwäche nationalstaatlicher Orientierung in den industriell und ländlich-proletarischen Schichten zusammen, die hier, mit einigen Ausnahmen, wie zum Beispiel Asturien in Spanien, eher dem Anarcho-Syndikalismus als dem Sozialismus zuneigten.43 In denjenigen Staaten Westeuropas, in 39 Stefan Berger/Alexei Miller (Hg.): Nationalizing Empires, Budapest 2015. 40 Daniel Ziblatt: Structuring the State. The Formation of Italy and Germany and the Puzzle of Federalism, Princeton 2006. 41 Katharina Keller: Modell SPD? Italienische Sozialisten und deutsche Sozialdemokratie bis zum Ersten Weltkrieg, Bonn 1994. 42 Frank Engehausen: Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion im Wilhelminischen Kaiserreich: Altersstruktur und Generationenkonflikte, in: Schönhoven/Braun (Hg.), Generationen [wie Anm. 12], S. 145–164. 43 George R. Esenwein: Anarchist Ideology and the Working-Class Movement in Spain 1868–1898, Berkeley 1989; Nunzio Pernicone: Italian Anarchism 1864–1892, Princeton 1993.
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denen der Nationalstaat sozusagen fest im Sattel saß, waren nicht der nationale Rahmen, sondern Fragen der politischen Verfasstheit eine wichtige Bedingung für die pragmatische Orientierung der Arbeiterbewegung. Das gilt sowohl für den Parlamentarismus in Großbritannien als auch für den Republikanismus in Frankreich.44 Im Hinblick auf den Zusammenhang von Generation und nationaler Frage wird man in europäischer Perspektive bestenfalls formulieren können, dass die Haltung zur Nation und zu nationalen Rahmenbedingungen auch wichtige generationelle Erfahrungen darstellte, allerdings wiederum zu unterschiedlichen Zeiten und damit für unterschiedliche Generationen, sofern man Generationen als Alterskohorten auffasst. Deutschland war im europäischen Vergleich durchaus nicht einzigartig, aber es fällt doch dadurch auf, dass sich hier innerhalb von zwei Jahrhunderten die Formen der Nationalstaatlichkeit gleich mehrfach drastisch veränderten: 1806, 1815, 1848, 1866 bis 1871, 1918, 1938/39, 1945, 1949 und 1989. Zwar gab es vielfältige Häutungen der nationalen Gestalt auch in anderen Regionen Europas, aber so dramatisch und so häufig wie in Deutschland war es doch selten, so dass Tilman Fichter, vor allem mit Blick auf die Zeit nach 1945, eine große Bedeutung der nationalen Frage für unterschiedliche Generationen sozialdemokratischer Politiker ausgemacht hat.45 Die Verbindung nationaler Instabilität über viele Generationen verbindet die deutschen Sozialisten eher mit Osteuropa als mit Westeuropa. Für die deutschen 1870er gilt, dass sie, wie kaum eine Generation vor und nach ihnen, geprägt wurden durch einen rasant voranschreitenden technischen Fortschritt und durch bahnbrechende naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Die Folgen waren Technikgläubigkeit und Fortschrittsdenken, was wiederum Technokraten produzierte, die an den Fortschritt glaubten und den Aufbruch in die Moderne mit Nüchternheit und Sachlichkeit betrieben, wie es Bernd Braun beschrieben hat.46 Dieses Thema wäre in der Tat vielversprechend vergleichend zu erweitern, würde aber in seinen Dimensionen über Europa hinausweisen, denn auch die Arbeiterbewegung auf anderen Kontinenten teilte diese Prämissen und tat das auch noch in anderen Generationen als den 1870ern.
44 Ralph Miliband: Parliamentary Socialism. A Study in the Politics of Labour, London 1972; Pamela M. Pilbeam, Republicanism in Nineteenth-century France 1814–1871, London 1995. 45 Tilman Fichter: Die SPD und die Nation. Vier sozialdemokratische Generationen zwischen nationaler Selbstbestimmung und Zweistaatlichkeit, Berlin 1993. 46 Braun, »Generation Ebert« [wie Anm. 18], S. 82–84.
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Fragt man nach anderen Faktoren, welche die 1870er Generation maßgeblich beeinflusst haben, stößt man auf das Phänomen, dass die meisten europäischen Sozialist:innen sich der Bewegung früh, meist noch während der Ausbildung oder am Beginn ihres Berufsweges, anschlossen. Sie wurden in die Arbeiterbewegung hineinsozialisiert.47 Das stimmt aber nicht nur für die 1870er Generation, sondern auch für andere Generationen in der Arbeiterbewegung und wahrscheinlich nicht nur europa-, sondern weltweit. In den einführenden Bemerkungen zum Konzept der Generation wurde bereits davon gesprochen, dass Generationsforschung als Identitätsforschung zunehmend nach den Schnittstellen von Generation und anderen identitären Konzepten fragt. Bei der Arbeiterbewegung bietet sich besonders die soziale Klasse an, wobei Religion, Ethnizität und Geschlecht durchaus auch in ihrer jeweiligen Interkonzeptionalität mitzudenken sind. Die 1870er Generation in Deutschland war ihrer sozialen Herkunft nach eine Generation von männlichen Facharbeitern, kleinen selbstständigen Handwerkern und Handwerksgesellen, denen der Aufstieg zum Meister verwehrt geblieben war. Es gab wenige Frauen, wenige Bürgerliche und kaum proletarische Unterschichten, von denen man sich in der Sozialdemokratie nicht ohne Grund distanzierte. Die Rhetorik vom Lumpenproletariat spricht hier Bände.48 Diese soziale Herkunft verband die 1870er Generation in Deutschland allerdings eher mit ihrer Vorgängergeneration, als dass es ein spezifisches generationelles Merkmal war. In europäisch-vergleichender Perspektive wird man hier einerseits Gemeinsamkeiten feststellen können, denn in vielen Ländern Europas war der Sozialismus eine Sache der (gehobenen) respektablen männlichen Arbeiterschaft. Auf der anderen Seite gab es allerdings starke Unterschiede in Europa. Bereits Robert Michels stellte fest, dass der Sozialismus etwa in Italien sehr stark durch die Mittelschichten geprägt wurde.49 Die ländliche Arbeiterschaft
47 Für britische, französische und deutsche autobiographische Zeugnisse von Sozialist:innen vgl. Jon Lawrence: Labour – The Myths Labour Has Lived By. Life Stories and the Construction of Labour Identities, in: Duncan Tanner/Pat Thane/Nick Tiratsoo (Hg.): Labour’s First Century, Cambridge 2000, S. 341–366; David Vincent (Hg.): Testaments of Radicalism. Memoirs of Working-Class Politicians 1790–1885, London 1977; Mary Jo Maynes: Taking the Hard Road. Life Course in French and Germany Workers’ Autobiographies in the Era of Industrialization, Chapel Hill 1995. 48 Thomas Welskopp: Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn 2000. 49 Robert Michels: Die deutsche Sozialdemokratie I: Parteimitgliedschaft und soziale Zusammensetzung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 23 (1906), S. 471–556; ders.: Die deutsche Sozialdemokratie II: die deutsche Sozialdemokratie
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ließ sich in Süd- und Osteuropa oftmals besser von sozialistischen Parteien organisieren als in Nord- und Westeuropa, auch wenn Sozialrevolutionäre und Anarcho-Syndikalisten in Süd- und Osteuropa immer eine starke Konkurrenz für sozialistische Parteien waren.50 Ethnische und religiöse Diversität spaltete die Arbeiterbewegung in den meisten Orten der Welt. Die Rivalitäten zwischen sozialdemokratischem Alten Verband, Christlicher Bergarbeitergewerkschaft und einer polnischen Bergarbeitergewerkschaft im Ruhrgebiet vor 1914 sind hier bezeichnend.51 Dass asturische Migranten in Südwales wichtig für die Gründung der dortigen Bergarbeitergewerkschaft waren, ist eher eine Ausnahme.52 Aber all diese Phänomene sind kaum spezifischen Generationen zuzuordnen. Und die Dominanz männlicher Fach- und Industriearbeiter innerhalb von sozialistischen Parteien reproduzierte sich durchaus auch außerhalb Europas, ist also kaum ein europäisches Spezifikum einer Generation. Ebenfalls bedeutsam scheint zu sein, dass sich Klassengrenzen zur Mittelklasse dort besser überwinden ließen, wo es zu politischen Bündnissen zwischen Liberalismus und Arbeiterbewegung kam, wie klassischerweise in Großbritannien nach 1850 und nach 1918.53 Solche Allianzen waren allerdings in vielen Ländern Europas generationell unterschiedlich, da sie meist an spezifisch nationalstaatliche politische Kontexte rückgebunden waren. Die Verbindung von Generation und Klasse verliert zusätzlich an Bedeutung, wenn man sich bewusstmacht, dass Klassenbildungsprozesse in den verschiedenen Ländern Europas zu unterschiedlichen Zeiten stattfanden. Hartmut Zwahrs Studien über Leipzig haben gezeigt, dass die »geborenen« Arbeiter, die bereits in proletarisierten Verhältnissen aufgewachsen waren, den Kern der dortigen Arbeiterorganisationen im späten 19. Jahrhundert bil-
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im internationalen Verbande. Eine kritische Untersuchung, in: ebenda, 25 (1907), S. 148–231; Robert Michels: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Stuttgart 1957 [zuerst 1911 veröffentlicht]. Stefan Berger/David Broughton (Hg.): The Force of Labour. The Western European Labour Movement and the Working Class in Twentieth-Century Europe, Oxford 1995. Christoph Klessmann: Klassensolidarität und nationales Bewusstsein. Das Verhältnis zwischen der Polnischen Berufsvereinigung (ZZP) und den deutschen Bergarbeitergewerkschaften im Ruhrgebiet 1902–1923, in: IWK, Heft 2 (1974), S. 149–178. Hywel Francis/Dai Smith: The Fed. A History of the South Wales Miners in the Twentieth Century, Cardiff 1980. Chris Williams/Andrew Edwards (Hg.): The Art of the Possible. Politics and Governance in Modern British History, Manchester 2015.
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deten.54 Die generationelle Erfahrung verbindet sich mit dem Zeitpunkt der fortgeschrittenen Industrialisierung. Wenn dieser in Europa unterschiedlich ausfiel, dann gab es im Hinblick auf Klassenbildung und Generation eher keine gemeinsame europäische Erfahrung. Liegen Klassenbildungsprozesse ebenso wie Einordnungen nach Ethnizität, Religion und Geschlecht zumeist quer zu Fragen von Generation, so gilt dasselbe für ideologische Kategorisierungen. In seiner beeindruckenden Geschichte der europäischen Linken von 1850 bis 2000 hat Geoff Eley die europäische Arbeiterbewegung zunächst und vor allem als eine Demokratiebewegung dargestellt.55 In seiner Untersuchung stellt sie den wichtigsten Faktor für Demokratisierungsprozesse im 19. und 20. Jahrhundert dar. Damit ist aber zugleich gesagt, dass diese Entwicklung keinesfalls generationsspezifisch war, sondern sich über viele Generationen hinweg als Kontinuum der Geschichte der Arbeiterbewegung, sozusagen als Leitgedanke, eignet. Die Frage, zu welchem Zeitpunkt Klassenbildungsprozesse zur Entstehung von Arbeiterbewegungen führen, hat auch viel mit deren Jugendlichkeit zu tun. Wenn Klaus Tenfelde für Deutschland formuliert, dass hier die Arbeiterbewegung vor 1914 ein besonders jugendliches Aussehen hatte, während sie in der Zwischenkriegszeit bereits vergreiste,56 so kann man schwerlich von einem generationellen europäischen Phänomen ausgehen. Dafür erstreckten sich Klassenbildungsprozesse und die Formation von Arbeiterbewegungen über einen zu langen Zeitraum. Für die deutsche 1870er Generation wird man ihre feste Verwurzelung in einem spezifischen Parteimilieu hervorheben können: hier war man Sozialdemokrat »von der Wiege bis zur Bahre«. Dazu gehörte ein spezifischer Organisationspatriotismus der deutschen Sozialdemokratie. Gerade die 1870er gehörten zu denen, die in der Zeit nach dem Sozialistengesetz die Partei wieder aufbauten und sie zur größten demokratischen Massenpartei der Welt mit ausgeprägten Milieuorganisationen führten.57 Das war ohne Frage generationsprägend, aber inwiefern lässt es sich europäisch-vergleichend er54 Hartmut Zwahr: Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse. Strukturuntersuchungen über das Leipziger Proletariat während der industriellen Revolution, Berlin (Ost) 1978. 55 Geoff Eley: Forging Democracy. The History of the Left in Europe 1850–2000, Oxford 2002. 56 Klaus Tenfelde: Generationelle Erfahrungen in der Arbeiterbewegung bis 1933, in: Schönhoven/Braun (Hg.), Generationen [wie Anm. 12], S. 35. 57 Dieter Groh: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkriegs, Frankfurt a. M. 1973; Vernon L. Lidtke: The Alternative Culture. Socialist Labor in Imperial Germany, Oxford 1985.
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weitern? Der deutsche sozialdemokratische Organisationspatriotismus und die ausgeprägte Milieubildung hatte zwar so manche Bewunderer in anderen Ländern, aber doch wenig erfolgreiche Nachahmer, zum Teil, weil die spezifischen Bedingungen für diese Milieubildung im Deutschen Kaiserreich an anderen Orten nicht vorhanden waren. So haben Herbert Morrison und seine London Labour Party in der Zwischenkriegszeit durchaus versucht, die SPD zu kopieren, mussten aber am Ende einsehen, dass sich das deutsche Modell nicht einfach nach Großbritannien verpflanzen ließ.58 Außerdem fand der deutsche Organisationspatriotismus durchaus auch seine Kritiker, wie den Franzosen Jaurès, der darin den Hauptgrund für die politische Handlungsunfähigkeit der deutschen Genossen sah.59 Der deutsche sozialdemokratische Organisationspatriotismus, der in einer sehr deutschen Vereins- und Versammlungskultur wurzelte, erlaubte es allerdings gerade der 1870er Generation, oftmals in besoldete Funktionärsämter aufzusteigen. Somit bildete sich innerhalb der Sozialdemokratie des Kaiserreiches ein eigener Typ von besoldetem Arbeiterfunktionär mit spezifischem Expertenwissen heraus. Diese Art von Funktionselite war zumindest in diesem Ausmaß zum damaligen Zeitpunkt in weiten Teilen der europäischen und internationalen Arbeiterbewegung unbekannt.60 Sie verweist damit ein weiteres Mal auf die Bedeutsamkeit nationaler Faktoren für die Generationsbildung der 1870er. Wie wir in diesem Abschnitt gesehen haben, gibt es zahlreiche Spannungen zwischen Ansätzen einer politischen Generationenbildung im nationalen Rahmen und ihrer europäischen Ausweitung. Der Raum, in dem sich eine Generationenbildung vollzieht, changiert permanent zwischen unterschiedlichen räumlichen Ebenen – lokal/regional, national, supranational – wobei der europäische nur einer unter vielen transnationalen Räumen war und ist. Viele der bislang diskutierten generationellen Charakteristika waren stark nationalstaatlich geprägt, oder sie galten nur für einen Teil Europas, oder sie waren territorial nicht auf Europa einzugrenzen und wirkten auch darüber hinaus. Das zentrale generationsstiftende Ereignis von traumatischer Bedeutung im europäi58 Stefan Berger: Organising Talent and Disciplined Steadiness. The German SPD as a Model for the British Labour Party in the 1920s?, in: Contemporary European History 5 (1996), S. 171–190. 59 Marie-Louise Goergen: Les rélations entre les socialistes allemands et français a l’epoque de la deuxième internationale (1889–1914), Saint-Denis 1998, S. 854. 60 Jürgen Mittag: Zwischen Professionalisierung und Bürokratisierung. Der Typus des Arbeiterfunktionärs im Wilhelminischen Deutschland, in: Schönhoven/Braun (Hg.), Generationen [wie Anm. 12], S. 107–144.
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schen Kontext war für die 1870er Generation der Erste Weltkrieg,61 aber selbst hier war es nur eingeschränkt ein gesamteuropäisches Ereignis, das zudem noch in den kriegführenden Ländern sehr verschiedene Generationserfahrungen hervorbrachte, die oftmals miteinander im Wettstreit lagen, wie dies ja auch bei Mannheim als Möglichkeit angeführt wird. Insgesamt gab es also durchaus partielle Ansätze für eine politische Generationenbildung unter den Sozialist:innen Europas, aber diese blieben sowohl in der Selbstzuschreibung als auch in der Fremdzuschreibung durch die Historiker:innen eher problematisch – zumindest als alleinige Erklärung für politische Entwicklungen.
Generation und Zeitlichkeit Abgesehen von diesen räumlichen Problematiken im Hinblick auf die Existenz einer europäischen 1870er Generation in der Arbeiterbewegung sollen im letzten substantiellen Abschnitt dieses Aufsatzes noch einige Bemerkungen hinsichtlich des Verhältnisses von historischer Zeit und Generation gemacht werden. Es scheint, dass die Kongruität von Zeit, Raum und Erfahrung, wie sie dem Konzept der Generation zugrunde liegt, ein lineares Zeitverständnis voraussetzt, wie es in den boomenden Forschungen zu historischen Zeitvorstellungen der letzten Jahre stark hinterfragt wurde.62 Wenn man Generationen mit Alterskohorten gleichsetzt, die eine spezifische Generationslagerung miteinander verbindet und die auf der Grundlage von Generationszusammenhängen Generationseinheiten bilden, dann reiht man Generationen wie auf einer Perlenkette chronologisch hintereinanderliegend auf. Damit ignoriert man Achim Landwehrs überzeugenden Verweis auf die zu jeder historischen Zeit existierenden »Pluritemporalitäten«.63 Diese setzen ein weiteres geschichtstheoretisches Fragezeichen hinter die Vorstellung, man könne über das Konzept von aufeinander folgenden politischen Generationen einen Sinn hinter historischen Abläufen finden. Denn folgt man Landwehr, dann sind zu jeder Zeit viele historische Zeitvorstellungen wirksam, zwischen denen es zugleich Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten gibt:
61 Lutz Unterseher: Der Erste Weltkrieg. Trauma des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden 2014. 62 Zur Einführung vgl. Chris Lorenz/Berber Bevernage (Hg.): Breaking Up Time: Negotiating the Borders Between Present, Past and Future, Göttingen 2013. 63 Achim Landwehr: Diesseits der Geschichte. Für eine andere Historiographie, Göttingen 2020.
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»Um Zeit als historisches Phänomen angemessen zu fassen, ist es […] weniger ratsam, sie als eine durchgehende Linie zu begreifen, an der sich die historischen Veränderungen und Phänomene wie an einer Schnur aufreihen, um sich anschließend den Anfangs- und Endpunkten dieser Linie zu widmen und die Frage zu stellen, wie sich ›die Geschichte‹ dazwischen verhalten hat. Stattdessen wäre die Aufmerksamkeit auf jeweils synchron zueinander bestehende Zentren sozialen Lebens zu richten, um dort ausfindig zu machen, mit welchen Reichweiten temporalen Denkens operiert, welche Geschwindigkeiten angelegt und welche Taktungen der Zeitlichkeit vorausgesetzt wurden.«64 Für ein pluritemporales Verständnis von Generation wäre es somit entscheidend, sie nicht mehr als die chronologische Aufeinanderfolge von Alterskohorten zu verstehen, sondern als »ein Zentrum sozialen Lebens« im Sinne Landwehrs. Konstruieren sich diese Alterskohorten selbst als Generationen, dann wäre jeweils danach zu fragen, welche Zeitlichkeiten durch den konstruierten generationellen Zusammenhang wiederum konstruiert werden. Diese wären dann in einem zweiten Schritt in Beziehung zu setzen zu anderen Zentren sozialen Lebens, die wiederum Zugehörigkeiten bilden: Klasse, Religion, Nation, Ethnizität, Geschlecht und andere mehr wurden weiter oben schon angesprochen. Werden die jeweiligen Alterskohorten von außen als Generationen konstruiert, müssten sich die Konstrukteure, also in unserem Fall die Historiker:innen, fragen, welche Zeitvorstellungen damit mitkonstruiert werden und wie sich selbige verhalten zu parallel vorhandenen anderen Zeitvorstellungen anderer Zentren sozialen Lebens. Eine solche Vorgehensweise würde Zeitvorstellungen ebenso wie Raum- und Identitätsvorstellungen als kulturelle Konstrukte ernst nehmen.65 Zeit und Generation ist etwas Gemachtes: von den sich einer Zeit und einer Generation zugehörig Fühlenden und von den Historiker:innen. Verzeitlichungen sind soziale und kulturelle Produkte, und Pluritemporalität liegt begründet in zahlreichen Möglichkeiten von Historiker:innen, mit Zeit, Raum und Generation umzugehen. Ob sich von solchen Überlegungen aus sinnvolle Generationskonzepte entwickeln ließen, müsste wiederum eine empirische Forschung zeigen. Da das Konzept der Generation allerdings eng mit Fragen von 64 Ebenda, S. 54. 65 Zur kulturellen Konstruktion von Zeitvorstellungen vgl. Jan Assmann: Das Doppelgesicht der Zeit im altägyptischen Denken, in ders.: Stein und Zeit. Mensch und Gesellschaft im alten Ägypten, München 1991, S. 32–58.
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Zeitlichkeit verbunden ist, erschiene es lohnend, dies einmal auszuprobieren. Das Resultat wäre eine Pluralisierung von Generationsvorstellungen, bei denen die jeweils mit anderen Zeitlichkeiten operierenden Generationen zahlreiche Überschneidungen und Gegensätze zu anderen Generationen aufwiesen und situativ ihre jeweilige Wirkung entfalten würden. Zugleich müssten unterschiedliche Generationszusammenhänge mitsamt ihren Zeitlichkeiten in Beziehung gesetzt werden zu anderen oder auch denselben Zeitlichkeiten, die jeweils anderen Zentren sozialen Lebens innewohnen. Die Geschichte würde durch eine solche Pluralisierung eines einheitlichen Sinnzusammenhangs beraubt und könnte nurmehr als Kaleidoskop geschrieben werden. Andererseits würde die Möglichkeit der Konstruktion verschiedener Sinnzusammenhänge im Hinblick auch auf unterschiedliche generationelle Zeitlichkeiten die Geschichte pluralisieren und ihr eine höhere Selbstreflexivität im Hinblick auf ihren Konstruktcharakter geben.
Schluss Wenn Generation in Raum und Zeit immer plural konstruiert werden kann, dann sind Vorstellungen von Generation immer umstrittene Konzepte, die ganz wesentlich von der Perspektivität ihrer Konstrukteure abhängen. Allerdings verweist die Diskussion in diesem Aufsatz auch darauf, dass es eine Vielzahl von länderübergreifenden Entwicklungen und Ereignissen gab, die einer Konstruktion einer europäischen 1870er Generation zuträglich waren, auch wenn sie selbige nur immer partiell und unter Vorbehalt konstituieren konnten. Zu diesen länderübergreifenden Kontexten zählten der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg einer Moderne mit ihrem technisch-naturwissenschaftlichen Fortschrittsparadigma, der Erste Weltkrieg als zentraler Einbruch in dieser Fortschrittserzählung, sowie das Gespenst der proletarischen Revolution, das gerade zwischen der ersten russischen Revolution von 1905 und der asturischen Revolution von 1934 eine bis dahin unbekannte Dichte an revolutionären Erhebungen hervorbrachte – in Europa, aber auch im außereuropäischen Raum.66 Die Erfahrung des Aufstiegs der Arbeiterbewegung in weiten Teilen Europas mit ihrer Formierung von spezifischen Arbeiterbewegungskulturen und -milieus entfaltete generationsprägende Wirkungen ebenso wie die Erfahrung der Verfolgung und der Diskriminierung, die ihrerseits wiederum erheblichen Einfluss 66 Stefan Berger/Klaus Weinhauer (Hg.): Rethinking Revolutions from 1905 to 1934. Democracy, Social Justice and National Liberation around the World, Cham 2023.
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hatte auf die ideologische Orientierung der Arbeiterbewegung, die manchmal eine spezifische, allerdings selten wirklich homogene Generationslagerung aufwies. Ein ausgeprägter Persönlichkeits- und Führerkult entwickelte sich in den Organisationsmilieus der europäischen Arbeiterbewegung, die für viele ihrer Mitglieder eine Art von alternativer Heimat wurde, was allerdings in der Stärke des Gefühls wiederum von der Intensität von Verfolgungserfahrungen abhing. Transnational charakteristisch war auch ein hervorgehobener Männlichkeitskult, der transgenerationell prägend wurde und der immer in einem expliziten Spannungsverhältnis zur proletarischen Frauenbewegung stand. Lassen sich also durchaus eine Reihe von länderübergreifenden Charakteristika sozialistischer Bewegungen konstatieren, die zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Räumen generationsprägend wirksam sein konnten, wird man zugleich konstatieren, dass es immer auch regional und national spezifische Entwicklungen gab, die solche Generationenlagerungen konterkarierten. Viele für Generationenbildung wichtige Daten, Strukturen und Prozesse etablierten sich vor allem in regionalen und nationalen Räumen oder sie waren nur für Teile eines transnationalen europäischen Raumes konstitutiv: Der Agrarpopulismus in Süd- und Osteuropa, der Anarcho-Syndikalismus in Spanien, der Zarismus in Russland, der Landesstreik in der Schweiz, der habsburgische Vielvölkerstaat, der hohe Grad an Urbanisierung in Großbritannien sind nur einige wenige von zahlreichen Spezifika, die einer Generationenbildung im umfassenden europäisch-kontinentalen Sinne entgegenstanden und diese wiederum stark partikularisierten. Vor 1914 diente gerade die deutsche Sozialdemokratie oftmals als Modell für andere sozialistische Bewegungen in Europa.67 Dieses Modell war allerdings im Norden Europas viel stärker ausgeprägt als im Süden des Kontinents, und es gab immer auch gewichtige Kritiker:innen. Obwohl also einerseits der Modellcharakter der deutschen Sozialdemokratie auch transnationale Tendenzen, die dann wiederum zur transnationalen Generationsbildung beitrugen, verstärkte, blieb es andererseits dabei, dass das Modell zu oft adaptiert, verändert und auch kritisiert wurde, um überall in Europa wirklich modellbildend wirken zu können. Trotz aller Bedenken einem homogenisierenden Generationenkonzept gegenüber, scheint es somit insgesamt sinnvoll, die Fruchtbarkeit transnationaler Blicke auch als Chance für die Entwicklung eines transnationalen Generationenkonzepts zu nutzen. Dazu wird es notwendig sein, das Konzept 67 John P. Nettl: The German Social Democratic Party 1890–1914 as a Political Model, in: Past and Present 30 (1965), S. 65–95.
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der Generation sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht komplexer zu machen als es bislang ist, um eine stärkere Pluriperspektivität auf Generation in Verbindung mit einer Vielzahl von anderen Konzepten anzustoßen, die die Interkonzeptionalität aller konstruierten kollektiven Identitäten unterstreichen und dabei die vielfältigen Spannungsmomente zwischen unterschiedlichen Raum-, Zeit- und Identitätskonstruktionen nicht glattbügeln will, sondern sie Bestand haben lässt. In diesem Sinne könnte man dann auch vielleicht von einer 1870er Generation der Arbeiterbewegung in Europa sprechen.
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Organisation, Rebellion, Integration. Die »Spät-1870er« und die Entwicklung der Schweizer Arbeiterbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Klassentreffen der Spät-1870er: Das Oltener Aktionskomitee von 1918 In den Tagen der Novemberrevolution und des Regierungsantritts von Friedrich Ebert spielten sich in der Schweiz Ereignisse ab, die für helvetische Verhältnisse dramatisch waren: Als Reaktion auf die »revolutionspräventive« militärische Besetzung Zürichs trat am 9. November 1918 die organisierte Arbeiterschaft in 19 Städten in einen 24-stündigen Proteststreik. Als am folgenden Tag in Zürich, wo die lokale Arbeiterunion einen unbefristeten Generalstreik ausgerufen hatte, die Situation weiter eskalierte, proklamierten die Spitzen der Schweizer Arbeiterbewegung einen landesweiten Generalstreik mit einem Forderungskatalog, der ein politisches Reformprogramm formulierte. Wichtige Punkte waren die sofortige Neuwahl des Parlaments nach dem Verhältniswahlrecht, die Einführung des Frauenstimmrechts, einer Alters- und Invalidenversicherung und der 48-Stunden-Woche sowie Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensmittelversorgung. Nach einem Ultimatum der Regierung, die ein massives Militäraufgebot erlassen hatte, wurde der Landesstreik nach drei Tagen am 14. November abgebrochen.1 Der Landesstreik, der mit seinem Ursachenbündel aus strukturellen Verwerfungen der Vorkriegszeit, der massiven Versorgungs- und Verteilungskrise der letzten Kriegsjahre und wachsenden politischen Gegensätzen zwischen auf einen grundlegenden Wandel hoffender Arbeiterschaft und von Revolutions-
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Willi Gautschi: Der Landesstreik 1918, Einsiedeln/Köln 1968; Paul Schmid-Ammann: Die Wahrheit über den Generalstreik von 1918. Seine Ursachen, sein Verlauf, seine Folgen, Zürich 1968; Roman Rossfeld/Christian Koller/Brigitte Studer (Hg.): Der Landesstreik. Die Schweiz im November 1918, Baden 2018; Patrick Auderset et al. (Hg.): Der Landesstreik 1918. Krisen, Konflikte, Kontroversen, Zürich/Lausanne 2018; Jean-Claude Rennwald/Adrian Zimmermann (Hg.): La Grève générale de 1918 en Suisse. Histoire et repercussions, Neuchâtel 2018.
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ängsten geplagten bürgerlichen Eliten als helvetische Variante der von Jörn Leonhard postulierten »Global Revolution of Rising Expectations« ab 1917 gesehen werden kann,2 gilt als schwerste innenpolitische Krise des modernen Schweizer Bundesstaats. Von bürgerlicher Seite wurde er entgegen der Quellenevidenz bis in die 1960er Jahre (und in rechtspopulistischen Kreisen sogar bis in die Gegenwart) als gescheiterter Versuch einer von Russland gesteuerten Revolution betrachtet, seitens der Arbeiterbewegung mit Verweis auf den Forderungskatalog als Initialzündung des politischen und sozialen Fortschritts in der Schweiz.3 Die Streikleitung oblag dem Oltener Aktionskomitee, das Anfang Februar 1918 als Koordinationsgremium zwischen der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SPS) und dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) gegründet worden war, zunächst zur Bekämpfung einer von der Regierung geplanten zivilen Dienstpflicht.4 Dem bis 1919 existierenden Komitee gehörten für längere oder kürzere Zeit insgesamt 14 Personen (13 Männer und eine Frau) an. Ihre Geburtsjahre lagen zwischen 1873 und 1886. Sie können also als Spät-1870er bezeichnet werden und bildeten einen Teil jener Führungselite, die um 1900 zur Arbeiterbewegung gestoßen und im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg allmählich in leitende Positionen aufgerückt war. Von den 14 Komitee-Mitgliedern starben drei vor 1940, fünf in den 1940ern, vier in den 1950ern und zwei sogar erst in den 1960ern. Die stabile Entwicklung der Schweiz, die von direkter Beteiligung an den beiden Weltkriegen verschont blieb und im 20. Jahrhundert auch keine Bürgerkriege, Revolutionen oder Diktaturen erlebte, brachte es mit sich, dass Spät-1870er nach dem Landesstreik bis zur Jahrhundertmitte kontinuierliche Laufbahnen mit einer Vielzahl von Ämtern in der Partei, den Gewerkschaften, Parlamenten und teilweise Exekutiven absolvierten. Sie haben dadurch nicht nur die Arbeiterbewegung, sondern auch die politische und gesellschaftliche Entwicklung
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Jörn Leonhard: 1917–1920 and the Global Revolution of Rising Expectations, in: Stefan Rinke/Michael Wildt (Hg.): Revolutions and Counter-Revolutions. 1917 and its Aftermath from a Global Perspective, Frankfurt a. M./New York 2017, S. 31–51. 3 Christian Koller: Irrtum, Erkenntnis und Interessen. Die Erinnerung an den schweizerischen Landesstreik zwischen Geschichtswissenschaft und Memorialpolitik, in: conexus, 2 (2019), S. 175–195, URL: https://www.hope.uzh.ch/conexus/article/view/ conexus.2019.02.011/1161 [letzter Zugriff am 15. Mai 2023]. 4 Willi Gautschi: Das Oltener Aktionskomitee und der Landes-Generalstreik von 1918, Affoltern a. A. 1955; Bernard Degen: Oltener Aktionskomitee, in: Ute Daniel et al (Hg.): 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War, 29. Januar 2019, URL: https://encyclopedia.1914-1918-online.net/article/oltener_aktionskomitee [letzter Zugriff am 15. Mai 2023].
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der Schweiz während rund eines halben Jahrhunderts wesentlich mitgeprägt. Im Folgenden soll nach einem einführenden Abschnitt über die Schweizer Arbeiterbewegung vor den Spät-1870ern diese Entwicklung allgemein und anhand einiger Biographien nachgezeichnet werden im Hinblick auf die Frage, inwiefern die Schweizer Spät-1870er in der Tat als eine Generation betrachtet werden können.5
Die lange Pionierphase vor den Spät-1870ern Vor der Ära der Spät-1870er lassen sich in der Schweizer Arbeiterbewegung keine prägenden Alterskohorten, geschweige denn eigentliche Generationen ausmachen. Ab dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten Arbeiterbildungsvereine (so vor allem der 1838 als patriotischer Handwerksgesellenzirkel gegründete Grütliverein), Konsumgenossenschaften und Hilfskassen, dann auch Gewerkschaften und parteiähnliche lokale Arbeitervereine.6 Die Gründung der SPS auf Bundesebene gelang nach gescheiterten Anläufen 1870 und 1880 dauerhaft erst 1888, der SGB konstituierte sich 1880. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts pflegte die Arbeiterbewegung enge Verbindungen zum linken Flügel des seit der Bundesstaatsgründung von 1848 dominanten Liberalismus, etwa den demokratischen Bewegungen in Zürich und der Ostschweiz oder den Radicaux in Genf.7 Zugleich spielten transnationale Einflüsse eine wichtige Rolle: In den 1840er und 1850er Jahren beispielsweise durch die Rezeption der Werke Charles Fouriers und das Wirken Wilhelm Weitlings,8 in den 1860er und 1870er Jahren durch die Erste Internationale, die zahlreiche Schweizer Sektionen und mit der Fédération Jurassienne einen 5
Vgl. grundsätzlich dazu Klaus Tenfelde: Generationelle Erfahrungen in der Arbeiterbewegung bis 1933, in: Klaus Schönhoven/Bernd Braun (Hg.): Generationen in der Arbeiterbewegung, München 2005, S. 16–49. 6 Erich Gruner: Die Arbeiter in der Schweiz im 19. Jahrhundert. Soziale Lage, Organisation, Verhältnis zu Arbeitgeber und Staat, Bern 1968; Felix Müller: Lieber national als international. Der Grütliverein zwischen nationaler und sozialer Identifikation, in: Urs Altermatt et al. (Hg.): Die Konstruktion einer Nation. Nation und Nationalisierung in der Schweiz, 18.–20. Jahrhundert, Zürich 1998, S. 253–270. 7 Christian Koller: Vor 150 Jahren: Die Demokratische Bewegung pflügt den Kanton Zürich um, in: Sozialarchiv Info 6 (2018), S. 9–28. 8 René Roca (Hg.): Frühsozialismus und moderne Schweiz, Muttenz/Basel 2018; Jürg Haefelin: Wilhelm Weitling. Biographie und Theorie. Der Zürcher Kommunistenprozess von 1843, Bern/Frankfurt a. M. 1986; Hans-Ulrich Schiedt: Die Welt neu erfinden. Karl Bürkli (1823–1901) und seine Schriften, Zürich 2002, S. 60–66.
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transnational vernetzten antiautoritären Spin-Off erhielt.9 Während Bismarcks Sozialistengesetz übten deutsche Exilanten einen bedeutenden Einfluss auf die sich konstituierende Sozialdemokratie der Deutschschweiz aus;10 zeitgleich erhielten in der Romandie syndikalistische und anarchistische Strömungen der romanischen Länder in den Gewerkschaften eine gewisse Bedeutung. Die prägenden Figuren dieser Formationsphase mit ganz unterschiedlichen Jahrgängen (1810er bis 1860er Jahre) und Erfahrungshintergründen stellten keine »Generation« dar. Die »Vaterfigur« Herman Greulich stammte aus dem Jahrgang 1842.11 Der in Breslau geborene Greulich kam 1865 in die Schweiz, arbeitete in verschiedenen handwerklichen Berufen, engagierte sich in der Zürcher und Schweizer Arbeiterbewegung sowie der Ersten und Zweiten Internationale. 1887 wurde er eidgenössischer Arbeitersekretär, ab den 1890erJahren bis zu seinem Tod 1925 bekleidete er verschiedene politische Ämter. Er war ein Gegner der Linksverschiebung der Arbeiterbewegung durch die Spät-1870er und lehnte auch die Generalstreikidee ab, verteidigte aber 1918 im Parlament den Landesstreik.
Organisation und Rebellion Ab den 1890er-Jahren, also in der politischen Sozialisationsphase der Spät1870er, verzeichnete die Schweizer Arbeiterbewegung parallel zur definitiven Abnabelung vom Linksliberalismus ein rasches organisatorisches Wachstum. Insbesondere nach der Jahrhundertwende entstanden zahlreiche neue lokale Parteisektionen und Gewerkschaftsgruppen. 1901 erfolgte mit der »Solo 9 Erich Gruner: Die Erste Internationale und die Schweiz, in: Archiv für Sozialgeschichte 6/7 (1966/67), S. 199–239; Marc Vuilleumier: Bakounine, lʼ-Alliance Internationale de la Démocratie Socialiste et la Première Internationale à Genève (1868–1869), in: Cahiers Vilfredo Pareto 4 (1964), S. 51–94; Wilfried Haeberli: Der erste Klassenkampf in Basel (Winter 1868/69) und die Tätigkeit der Internationalen Arbeiter-Association (1866–1876), in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 64 (1964), S. 93–216; Florian Eitel: Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz. Mikrohistorische Globalgeschichte zu den Anfängen der anarchistischen Bewegung im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2018. 10 Markus Bürgi: Zürich. Stützpunkt der deutschen Sozialdemokratie während des Sozialistengesetzes, in: Peter Niederhäuser/Anita Ulrich (Hg.): Fremd in Zürich – fremdes Zürich? Migration, Kultur und Identität im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 2005, S. 153–165. 11 Eduard Weckerle: Herman Greulich. Ein Sohn des Volkes, Zürich 1947; Schweizerisches Sozialarchiv Ar 170 Herman Greulich.
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thurner Hochzeit« die Fusion der SPS mit dem Grütliverein. Die Mitgliederzahlen der dem SGB angeschlossenen Gewerkschaftsverbände sprangen von 3.500 im Jahre 1890 über 12.000 (1898) und 30.000 (1905) auf 86.000 im Jahr vor dem Kriegsausbruch. Die Mitgliedschaft der SPS stieg 1904 bis 1914 von 11.600 auf 33.200 Personen.12 Der sozialdemokratische Wähleranteil bei den Parlamentswahlen wuchs von 1890 bis 1911 von 3,6 auf 20 Prozent. Bei jeder Wahl legte die SPS um 2 bis 3 Prozent zu, wobei sich dies aufgrund des bis 1919 herrschenden Mehrheitswahlrechts nicht immer in entsprechenden Mandatsgewinnen niederschlug. Auch zogen ab den 1890er-Jahren erste Sozialdemokraten in (direkt gewählte) kommunale und vereinzelte kantonale Exekutiven ein. Bei ihrem Eintritt in die Arbeiterorganisationen um die Jahrhundertwende schlossen sich die Spät-1870er also einer rasch expandierenden Bewegung an, der die Zukunft zu gehören schien und die es auch ermöglichte, in relativ jungen Jahren in führende Rollen als Partei- oder Gewerkschaftsfunktionäre, Redakteure der Parteipresse oder politische Mandatsträger aufzurücken. Zugleich war es auch eine Zeit harter gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen. Die Phase von 1890 bis in die frühen 1920er-Jahre war die weitaus streikintensivste der bisherigen Schweizer Geschichte.13 Von 1880 bis 1914 fanden nicht weniger als 2.426 Streiks statt. Große Streikwellen, die wiederholt gewaltsamen Straßenprotest und Militäreinsätze nach sich zogen, gab es in den Jahren 1904 bis 1907 und von 1917 bis 1920. Zwischen 1902 und 1919 ereigneten sich eine Reihe lokaler Generalstreiks, unter anderem in den Metropolen Genf, Zürich und Basel. Auf zwei überregionale Proteststreiks am 30. August 1917 und 9. November 1918 folgte vom 12. bis 14. November 1918 der Landesstreik.
12 Arbeitsgruppe für Geschichte der Arbeiterbewegung (Hg.): Schweizerische Arbeiterbewegung. Dokumente zu Lage, Organisation und Kämpfen der Arbeiter von der Frühindustrialisierung bis zur Gegenwart, Zürich 1975, S. 403. 13 Hans Hirter: Die Streiks in der Schweiz in den Jahren 1880–1914. Quantitative Streikanalyse, in: ders. et al. (Hg.): Arbeiterschaft und Wirtschaft in der Schweiz 1880–1914. Soziale Lage, Organisation und Kämpfe von Arbeitern und Unternehmern, politische Organisationen und Sozialpolitik, Bd. II/2, Zürich 1988, S. 837–1008; Christian Koller: Streikkultur. Performanzen und Diskurse des Arbeitskampfes im schweizerisch-österreichischen Vergleich (1860–1950), Münster/Wien 2009, S. 43–191 und 325–344; ders./ Bernard Degen: Protest und Streiks in der Schweiz in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs, in: Journal of Modern European History 17/1 (2019), URL: https://journals. sagepub.com/doi/full/10.1177/1611894418820257 [letzter Zugriff am 15. Mai 2023].
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Auch parteipolitisch erfolgte um 1900 eine Fokussierung auf den Klassenkonflikt. Auf die Entfremdung zwischen Sozialdemokratie und dem zunehmend schrumpfenden Linksliberalismus folgte ein näheres Zusammenrücken der nichtsozialistischen Parteien und die nach dem Landesstreik intensivierte Formation des »Bürgerblocks«, bestehend aus den verschiedenen liberalen Strömungen, den von ihnen abgespaltenen rechtsgerichteten Bauernparteien und den antisozialistischen wie antiliberalen Katholisch-Konservativen. Die zunehmend rechte Schlagseite dieses Bündnisses wurde verstärkt durch verschiedene rechtsgerichtete Organisationen, so den ab 1905 entstehenden Arbeitgeberverbänden und nach Kriegsende den im Schweizerischen Vaterländischen Verband zusammengeschlossenen Bürgerwehren.14 Auf Seite der Arbeiterbewegung erfolgte im Zeichen sich verschärfender sozialer Konflikte nach der Jahrhundertwende und wesentlich getragen von jungen Spät-1870ern eine Wende nach links. Das Parteiprogramm von 1904 war im Gegensatz zum reformistischen Vorläuferprogramm von 1888 marxistisch inspiriert. Um 1905 machte sich gegen die offizielle Unterstützung der militärischen Landesverteidigung durch die SPS eine antimilitaristische Strömung hörbar, getragen etwa vom anarchistisch inspirierten Arbeiterarzt Fritz Brupbacher (Jahrgang 1874).15 An der durch die russische Revolution von 1905 in der internationalen Arbeiterbewegung entfachten Debatte über den politischen Massenstreik beteiligte sich in affirmativem Sinne auch Robert Grimm (Jahrgang 1881).16 Während des Ersten Weltkriegs organisierte Grimm dann die linkssozialistischen Konferenzen von Zimmerwald und Kiental17 und stieg in der SPS zur dominanten Figur auf. Das stark von Spät-1870ern geprägte 14 Erich Gruner: Die Arbeitgeberorganisationen – Spiegelbild oder Überbietung der Gewerkschaften?, in: Hirter, Arbeiterschaft [wie Anm. 13], S. 813–836; Andreas Thürer: Der Schweizerische Vaterländische Verband 1919–1930/3, 3. Bde., Diss., Univ. Basel 2010; Christian Koller: Vor 100 Jahren. Die Paramilitarisierung Europas und die Schweiz, in: Sozialarchiv Info 3 (2019), S. 5–25. 15 Christian Koller: Die Rückkehr der Kosaken. Ordnungsdiensteinsätze bei Streiks vor und im Ersten Weltkrieg und die Schweizer Arbeiterbewegung, in: Michael Olsansky (Hg.): Am Rande des Sturms. Das Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg, Baden 2018, S. 241–258; Karl Lang: Kritiker, Ketzer, Kämpfer. Das Leben des Arbeiterarztes Fritz Brupbacher, Zürich 1975, S. 109–130. 16 Robert Grimm: Der politische Massenstreik. Ein Vortrag, Basel 1906; Antonia Grunenberg (Hg.): Die Massenstreikdebatte, Frankfurt a. M. 1970; Christian Koller: Wetterleuchten des Umsturzes. Die russische Revolution von 1905 und die Massenstreikdebatte in der internationalen Arbeiterbewegung, in: Rote Revue 83/4 (2005), S. 38–42. 17 Bernard Degen/Julia Richers (Hg.): Zimmerwald und Kiental. Weltgeschichte auf dem Dorfe, Zürich 2015.
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linke Zentrum um Grimm brachte auf dem Parteitag von 1917 die Ablehnung der militärischen Landesverteidigung durch. Links von Grimm und seinen Anhängern standen linksradikale Parteikreise, die häufig ebenfalls den Spät1870ern entstammten, sowie die von Lenin beeinflusste Jugendorganisation, deren Mitglieder 1890er und frühe 1900er Jahrgänge aufwiesen.18 Die Parteirechte, deren Parlamentarier sich von der Ablehnung der militärischen Landesverteidigung distanzierten,19 bestand zu einem großen Teil aus 1840er bis 1870er Jahrgängen. 1916 löste der Grütliverein die Fusion mit der SPS auf. In den folgenden Jahren verließen verschiedene Exponenten der Parteirechten die SPS und traten teilweise auf separaten grütlianischen Listen zu Wahlen an. Wichtige Köpfe entstammten dabei Alterskohorten vor den Spät-1870ern, so die Abgeordneten Robert Seidel (Jahrgang 1850), Arnold Knellwolf (1865) und Paul Pflüger (1865).20 Während sich die Grütlianerpartei nach dem Landesstreik nur wenige Jahre hielt und lediglich in einigen Hochburgen gewisse Wahlerfolge erzielen konnte, erfolgte entsprechend dem internationalen Trend durch Abspaltung des linken Flügels die dauerhafte Bildung einer Kommunistischen Partei.21 Bereits 1918 war eine erste Kommunistische Partei (sog. Altkommunisten) entstanden, deren Mitgliedschaft hauptsächlich aus der ehemaligen sozialdemokratischen Jugendorganisation stammte. Sie war im Frühjahr 1919 an der Gründung der Komintern ebenso beteiligt wie Fritz Platten, prominenter Exponent des linken Flügels der SPS und mit Jahrgang 1883 ein Spät-1870er. Innerhalb der SPS ver-
18 Willi Gautschi: Lenin als Emigrant in der Schweiz, Zürich/Köln 1973, S. 193–200; Andreas Petersen: Radikale Jugend. Die sozialistische Jugendbewegung der Schweiz 1900–1930. Radikalisierungsanalyse und Generationentheorie, Zürich 2001, S. 335–492. 19 Jakob Manz: Die schweizerische Sozialdemokratie und Militärfragen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Lizentiatsarbeit, Univ. Bern 1974, S. 89–97; Mirko Greter: Sozialdemokratische Militärpolitik im Spannungsfeld von Vaterlandsliebe, Pazifismus und Klassenkampf. Der lange Weg der SPS hin zur Ablehnung der Landesverteidigung 1917, Berlin 2005, S. 138–143. 20 Brigitte Spillmann-Jenny: Robert Seidel 1850–1933. Aufstieg aus dem Proletariat, Zürich 1980; Markus Bürgi: Robert Seidel, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 11, Basel 2012, S. 412 f.; Christoph Zürcher: Arnold Knellwolf, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 7, Basel 2008, S. 300; Markus Bürgi: Paul Pflüger, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 9, Basel 2010, S. 695; Schweizerisches Sozialarchiv Ar 111 Paul Pflüger. 21 Hans Ulrich Jost: Die Altkommunisten. Linksradikalismus und Sozialismus in der Schweiz 1919 bis 1921, Frauenfeld/Stuttgart 1977; Peter Stettler: Die Kommunistische Partei der Schweiz 1921–1931. Ein Beitrag zur schweizerischen Parteiforschung und zur Geschichte der schweizerischen Arbeiterbewegung im Rahmen der Kommunistischen Internationale, Bern 1980.
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lief 1920/21 die Diskussion über den Beitritt zur Komintern sehr kontrovers. Nach der Ablehnung dieses Schritts spaltete sich die Parteilinke ab und vereinigte sich 1921 mit den Altkommunisten zur Kommunistischen Partei der Schweiz (KPS). Diese konnte in der Folge außerhalb weniger Hochburgen der SPS, die sich 1920 ein stark marxistisches Parteiprogramm gab, wähler- und mitgliedermäßig nirgends das Wasser reichen, stellte aber in Gewerkschaften und Arbeiterkulturorganisationen einen ständigen Unruhefaktor dar. Die SPS engagierte sich 1921 bis 1923 in der Internationalen Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien (»Zweieinhalbte Internationale«), wo sich Grimm zusammen mit anderen Spät-1870ern wie dem nachmaligen Generalsekretär der Sozialistischen Arbeiterinternationale Friedrich Adler vergeblich um eine Überwindung der Spaltung der internationalen Arbeiterbewegung bemühte. 1923 erfolgte dann der Beitritt der SPS zur Sozialistischen Arbeiterinternationale.
Integration In der Zwischenkriegszeit erfolgte unter maßgeblicher Führung von Spät1870ern einerseits ein organisatorischer Ausbau des sozialdemokratisch- gewerkschaftlichen Milieus mit einer Vielzahl neuer Kultur-, Freizeit-, Sportund Jugendorganisationen.22 Andererseits integrierte sich die Arbeiterbewegung ähnlich wie in anderen europäischen Demokratien zunehmend in den bürgerlichen Staat. Im Bereich der industriellen Beziehungen manifestierte sich dies ab den frühen 1920er-Jahren in einem merklichen Rückgang der Streiktätigkeit und einer Zunahme von Tarifverträgen.23 Auf der politischen Ebene stieg die SPS bis Ende der 1920er-Jahre mit einem Wähleranteil von 28 Prozent zur stärksten Partei auf, verzeichnete dann aber kein weiteres Wachstum mehr. Dem Anspruch auf Vertretung im Bundesrat, der Regierung der Schweiz, wurde trotz entsprechender Zusagen seitens des Bundespräsidenten anlässlich der Parlamentsdebatte während des Landesstreiks in der Zwischenkriegs22 Karl Schwaar: Isolation und Integration. Arbeiterkulturbewegung und Arbeiterbewegungskultur in der Schweiz 1920–1960, Basel/Frankfurt a. M. 1993; Pierre Jeanneret: Aspects de la culture ouvrière en Suisse, in: Cahiers dʼhistoire du mouvement ouvrier 10 (1994), S. 27–51; Christian Koller: Schweizer Arbeiterbewegungssport. Quellen und Forschung, in: ders./Thomas Busset/Michael Jucker (Hg.): Sportgeschichte in der Schweiz. Stand und Perspektiven, Neuchâtel 2019, S. 35–54. 23 Bernard Degen: Abschied vom Klassenkampf. Die partielle Integration der schweizerischen Gewerkschaftsbewegung zwischen Landesstreik und Weltwirtschaftskrise (1918–1929), Basel 1991.
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zeit von der bürgerlichen Parlamentsmehrheit nicht stattgegeben. Hingegen erfolgte ein vermehrter Einzug in (direkt vom Volk gewählte) kantonale Exekutiven, allerdings mit Ausnahme der städtisch geprägten Kantone Genf von 1933 bis 1936 (unter Führung des Spät-1870ers Léon Nicole) und Basel-Stadt von 1935 bis 1950 stets in einer Minderheitsposition.24 Sozialdemokratische Regierungsmehrheiten gab es in einer ganzen Reihe von Gemeinden, die eine Politik des »Gemeindesozialismus« mit kommunalen Sozialleistungen und Wohnbauprogrammen, dem Ausbau kommunaler Infrastrukturbetriebe, Kultur- und Freizeitangebote sowie in den 1930er-Jahren einer aktiven Arbeitsbeschaffungspolitik betrieben.25 Flaggschiff dieser Entwicklung war 1928 bis 1949 das in der meisten Zeit vom Spät-1870er Emil Klöti präsidierte »Rote Zürich«.26 Ab 1930 sah sich die Schweizer Arbeiterbewegung mit einer doppelten Herausforderung durch Wirtschaftskrise und Faschismus konfrontiert. Mit dem Aufkommen der »Fronten«, der in zahlreiche Gruppierungen zersplitterten faschistischen Bewegung der Schweiz, gab es in den frühen 1930ern gerade in Hochburgen der Arbeiterbewegung bürgerlich-frontistische Wahlallianzen, ebenso 1934/35 eine von mehreren »Fronten« und den Katholisch-Konservativen gemeinsam getragene, in der Volksabstimmung aber chancenlose eidgenössische Volksinitiative für eine Totalrevision der Bundesverfassung mit dem Ziel der Errichtung einer ständestaatlichen Ordnung.27 Ab Mitte der 1930erJahre rückten Sozialdemokraten und der demokratische Teil des Bürgertums zunehmend zusammen und betrieben unter dem »Leitbegriff« der »Geistigen Landesverteidigung« einen (in sich unter der Oberfläche allerdings sehr hetero24 Marie-Madeleine Grounauer: La Genève rouge de Léon Nicole 1933–1936, Genf 1975; Alex Spielmann: LʼAventure socialiste genevoise 1930–1936, Lausanne 1981; Charles Stirnimann: Die ersten Jahre des »Roten Basel« 1935–1938. Zielsetzungen und Handlungsspielräume sozialdemokratischer Regierungspolitik im Spannungsfeld von bürgerlicher Opposition und linker Kritik, Basel 1988. 25 Tobias Kästli: Das rote Biel. Theorie und Praxis des Gemeindesozialismus, in: Karl Lang et al. (Hg.): Solidarität, Widerspruch, Bewegung. 100 Jahre Sozialdemokratische Partei der Schweiz, Zürich 1988, S. 151–184; ders.: Das rote Biel, 1919–1939. Probleme sozialdemokratischer Gemeindepolitik, Bern 1988. 26 Steffen Lindig: »Der Entscheid fällt an den Urnen«. Sozialdemokratie und Arbeiter im Roten Zürich 1928 bis 1938, Zürich 1979; Christian Koller: Sozialismus in einer Stadt? Vor 75 Jahren entstand das rote Zürich, in: Rote Revue 81/2 (2003), S. 40–44. 27 Christian Koller: Der Frontenfrühling von 1933 und die Bürgerlichen. »… mit ihnen einverstanden, wenn sie es unternehmen, unsere Ratssäle vom russischen Ungeziefer zu säubern«, in: Rote Revue 85/1 (2008), S. 35–40; ders.: Vor 85 Jahren: Die »Wahlschlacht« um »Gross-Zürich«, in: Sozialarchiv Info 6 (2017), S. 9–22.
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genen) kulturellen Abwehrkampf gegen die Bedrohungen durch Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus.28 Eine wichtige Voraussetzung für diese Entwicklung war 1935 die Wiederanerkennung der militärischen Landesverteidigung durch die SPS, die auf ein vehementes Votum Grimms hin erfolgte. Im Kampf gegen die Wirtschaftskrise verfolgten der auf Austerität setzende Bundesrat und die protokeynesianisch agierenden »Roten Städte« zunächst gegenläufige Strategien. Die vom »New Deal« inspirierte gewerkschaftliche »Kriseninitiative« scheiterte 1935 in der Volksabstimmung, erreichte mit knapp 43 Prozent Zustimmung aber einen Achtungserfolg.29 In den letzten Friedensjahren erfolgte dann zur Abwehr staatlicher Eingriffsgelüste in die industriellen Beziehungen eine stärkere Hinwendung zu sozialpartnerschaftlichen Kooperationen. 1937 schlossen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände der Maschinen- und Metallindustrie das »Friedensabkommen« mit einer Verpflichtung des Verzichts auf Streiks, Aussperrungen und andere Kampfmaßnahmen. Wesentlichen Anteil an der Erzielung dieser Übereinkunft, die in der Folge immer wieder verlängert und zunehmend mit tarifvertraglichen Bestimmungen angereichert sowie als Geburtsurkunde der helvetischen Sozialpartnerschaft verklärt werden sollte, besaß mit dem Gewerkschaftsführer Konrad Ilg ein Spät-1870er.30 Im Jahr 1938 wurde im Baugewerbe der erste »Landesmantelvertrag« abgeschlossen, der Eckwerte zu Löhnen, Arbeitszeiten und anderen Fragen der Arbeitsverhältnisse festlegte. Erst während des Zweiten Weltkriegs und nach einem weiteren Erfolg der SPS bei den Parlamentswahlen 1943 erfolgte die Wahl des ersten Sozialdemokraten in den Bundesrat. Mit Ernst Nobs handelte es sich dabei um einen Spät-1870er. Ebenfalls erfolgten zu jener Zeit Vorarbeiten für die Einführung der von der Arbeiterbewegung und reformbürgerlichen Kreisen seit Jahrzehnten geforderten Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV ).31 Nach
28 Josef Mooser: Die »Geistige Landesverteidigung« in den 1930er Jahren. Profile und Kontexte eines vielschichtigen Phänomens der schweizerischen politischen Kultur in der Zwischenkriegszeit, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 47 (1997), S. 685–708. 29 Christian Koller: Vor 85 Jahren: Krisenlernen in der direkten Demokratie, in: Sozialarchiv Info 5 (2020), S. 7–24. 30 Schweizerisches Sozialarchiv Ar SMUV 02I-0006: Friedensabkommen vom 19. Juli 1937; Kurt Humbel: Treu und Glauben. Entstehung und Geschichte des Friedensabkommens in der schweizerischen Maschinen- und Metallindustrie, Bern 1987; Christian Koller: Vor 80 Jahren: Das »Friedensabkommen« in der Schweizer Metall- und Maschinenindustrie, in: Sozialarchiv Info 2 (2017), S. 7–18. 31 Christian Koller: Vor 70 Jahren: Grünes Licht für die AHV, in: Sozialarchiv Info 3 (2017), S. 14–23; Stefan Müller: Entstehung und Entwicklung der AHV von 1945 bis 1978. Aus
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dem Landesstreik war 1925 ein entsprechender Verfassungsartikel geschaffen worden; der erste Entwurf eines AHV-Gesetzes scheiterte aber 1931 in der Volksabstimmung. In der Wirtschaftskrise verschärfte sich das Problem der Altersarmut zusätzlich. 1942 erarbeitete ein von den Arbeiternehmerverbänden, Sozialdemokraten und Freisinnigen getragenes Komitee ein mehrheitsfähiges Modell und in der Neujahrsansprache 1944 versprach der freisinnige Bundespräsident Walther Stampfli die Einführung der AHV bis 1948. Hintergrund waren nicht zuletzt bürgerliche Ängste vor einem neuen »1918«. 1947 passierte das AHV-Gesetz die Volksabstimmung brillant mit 80 Prozent Zustimmung. Parallel zum Take-off des Sozialstaats erfolgte die Verfestigung der Sozialpartnerschaft. Eine große – allerdings quantitativ mit den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nicht zu vergleichende – Streikwelle 1945 bis 1948 führte nicht nur zum Ausgleich der kriegsbedingten Reallohnverluste, sondern auch zu einem massiven Ausbau der Gesamtarbeitsverträge. 1951 unterstanden 775.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einem Gesamtarbeitsvertrag, zwölfmal mehr als bei Ausbruch der Weltwirtschaftskrise. Damit trat die Schweiz in eine Ära weitgehenden »Arbeitsfriedens« ein. Diese Vorgänge der unmittelbaren Nachkriegszeit, zu denen noch das Einsetzen der »Zweiten Geistigen Landesverteidigung« des frühen Kalten Kriegs sowie der Übergang zur Konkordanz-Demokratie mit Einbindung aller wichtigen politischen Kräfte in die Regierungsverantwortung kam, gehörten zu den letzten Ereignissen, bei denen Spät-1870er eine Rolle spielten. Ab den frühen 1950er-Jahren lichteten sich deren Reihen zunehmend. Die nächsten drei sozialdemokratischen Bundesräte, die nach Nobs 1951 und 1959 ins Amt kamen, entstammten mit Jahrgängen 1897 (Max Weber), 1902 (Willy Spühler) und 1913 (Hans Peter Tschudi) nachfolgenden Alterskohorten und waren erst nach dem Landesstreik zur Arbeiterbewegung gestoßen.
Biographien führender »Spät-1870er« Die Entwicklung der führenden Spät-1870er von radikalen Jungspunden um die Jahrhundertwende zu jahrzehntelangen Führern der Arbeiterbewegung mit zunehmend staatstragendem Impetus und einer Vielzahl parallel ausgeübter Ämter und Funktionen bis zur Jahrhundertmitte lässt sich exemplarisch anhand einiger Biographien verdeutlichen. Zugleich kann dabei auch die Frage nach ökonomischer Sicht, dargestellt an Hand der Schaffung und Entwicklung des AHVGesetzes, Fribourg 1978.
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gemeinsamen Erfahrungshintergründen, die die Alterskohorte zur eigentlichen Generation machten, erörtert werden. Werden nachfolgend ausschließlich Arbeiterführer aus der Deutschschweiz vorgestellt, so ist zu betonen, dass die wesentlichen Persönlichkeiten, die ab der Jahrhundertwende die Arbeiterbewegung in der lateinischen Schweiz prägten, zum Aufstieg der Sozialdemokratie in diesen Sprachregionen stark beitrugen und teilweise bis nach dem Zweiten Weltkrieg politisch aktiv blieben, ebenfalls zu den Spät-1870ern gehörten. Zu nennen sind etwa für die Romandie Charles Naine (1874–1926),32 Ernest Paul Graber (1875–1956),33 Emile Nicolet (1879–1921)34 und Léon Nicole (1887–1965)35 und für das Tessin Guglielmo Canevascini (1886–1965).36 Auch die ersten Führungsfiguren der sozialistischen Frauenbewegung entstammten dieser Alterskohorte. Ihr Wirken, dem durch die fehlenden politischen Rechte der Frauen in der Schweiz bis 1971 ohnehin Grenzen gesetzt waren, brach aber frühzeitig ab. Rosa Bloch-Bollag (1880–1922), während des Ersten Weltkriegs Präsidentin der Frauenagitationskommission der SPS, Redakteurin der »Vorkämpferin«, Organisatorin von Frauendemonstrationen gegen die schlechte Versorgungslage in Zürich und als einzige Frau für kurze Zeit Mitglied des Oltener Aktionskomitees, wechselte bei der Parteispaltung zur KPS, verstarb aber schon kurz darauf.37 Margarethe Hardegger (1882–1963) war 1905 bis 1909 erste Frauensekretärin des SGB und gründete die Zeitschriften »Vorkämpferin« und »L’Exploitée«, bewegte sich dann aber nacheinander in anarchistischen, lebensreformerischen und okkultistischen Kreisen.38
32 Marc Perrenoud: Charles Naine, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 9, Basel 2010, S. 79. 33 Marc Perrenoud: Ernest Paul Graber, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 5, Basel 2006, S. 577. 34 Jacques Barrelet: Emile Nicolet, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 9, Basel 2010, S. 221 f. 35 André Rauber: Léon Nicole. Le franc-tireur de la gauche suisse, Genf 2007; Mauro Cerutti: Léon Nicole, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 9, Basel 2010, S. 220 f. 36 Nelly Valsangiacomo Comolli: Storia di un leader. Vita di Guglielmo Canevascini 1886– 1965, Bellinzona 2001; Gabriele Rossi: Guglielmo Canevascini, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 3, Basel 2004, S. 193 f. 37 Annette Frei Berthoud: Rosa Bloch-Bollag, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 2, Basel 2003, S. 496; Martha Rohner: »Was wir wollen!« Rosa Bloch und die Zürcher Frauendemonstrationen 1916–1919, Masterarbeit, Univ. Zürich 2007. 38 Ina Boesch: Gegenleben. Die Sozialistin Margarethe Hardegger und ihre politischen Bühnen, Zürich 2003; Patrick Schindler: Vie et luttes de Margarethe Faas Hardegger: Anarchiste, syndicaliste & féministe suisse. Pour le centenaire de LʼExploitée (1907– 2007), Paris 2007; Regula Bochsler: Ich folgte meinem Stern. Das kämpferische Leben
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Schließlich stellt sich auch die Frage nach der Bedeutung der Spät-1870er an der Basis von Partei, Gewerkschaften und anderen Arbeiterorganisationen. Wenn dazu keine quantitativen Angaben gemacht werden können, so lässt das rasche Wachstum lokaler Partei- und Gewerkschaftssektionen sowie der Gesamtmitgliederzahlen der Arbeiterorganisationen ab der Jahrhundertwende doch die Vermutung zu, dass dabei eine große Zahl von Mitgliedern mit Geburtsjahren in den 1870er und 1880er Jahren zur Arbeiterbewegung kamen und in deren Organisationen die Erfahrungen der intensiven Streiktätigkeit vor dem Ersten Weltkrieg, der entbehrungsreichen Kriegsjahre, des Landesstreiks und dann der allmählichen Integration in den bürgerlichen Staat mitmachten.
Der Kommunalpolitiker: Emil Klöti (1877–1963) Der 1877 in Töss bei Winterthur geborene Klöti hatte einen vergleichsweise gehobenen familiären und bildungsmäßigen Hintergrund.39 Sein Vater war Lehrer, Bezirksanwalt und Grütlianer – er selbst absolvierte ein Rechts- und Wirtschaftsstudium an der Universität Zürich sowie die Offiziersschule in der Schweizer Armee. 1900 trat er in die kantonale Verwaltung Zürichs ein, zwei Jahre darauf wurde er Mitglied der SPS. Zunächst engagierte er sich vor allem in der infolge mehrerer Volksinitiativen hochaktuellen Wahlrechtsdiskussion und entwickelte sich zu einem der wichtigsten Kenner und Propagandisten des Verhältniswahlrechts.40 1907 erfolgte seine Wahl in die Zürcher Stadtregierung, der er nicht weniger als 35 Jahre lang angehören sollte. In dieser Funktion engagierte er sich als Förderer des kommunalen und genossenschaftlichen Wohnbaus sowie der Stadtplanung. Während des Ersten Weltkriegs war er 1916/17 Präsident der SPS, dies als Exponent des rechten Parteiflügels. Zudem gehörte er 1908 bis 1911 und 1917 bis 1919 dem Zürcher Kantonsparlament an, 1919 bis 1930 dem Nationalrat und 1933 bis 1955 dem Ständerat (also der Abgeordnetenkammer bzw. der Kantonskammer im eidgenössischen Parlader Margarethe Hardegger, Zürich 2004; dies.: Margarethe Hardegger, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 6, Basel 2007, S. 107. 39 Paul Schmid-Ammann: Emil Klöti. Stadtpräsident von Zürich. Ein schweizerischer Staatsmann, Zürich 1965; Markus Bürgi: Emil Klöti, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 7, Basel 2008, S. 293. 40 Emil Klöti: Die Proportionalwahl in der Schweiz. Geschichte, Darstellung und Kritik, Zürich 1901; ders. (Hg.): Die Texte der schweizerischen Verhältniswahl-Gesetze, Zürich 1909; Christian Koller: Vor 100 Jahren: Der lange Weg zum Proporz, in: Sozialarchiv Info 4 (2019), S. 6–17.
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ment). Als bei den Kommunalwahlen 1928 die Sozialdemokraten erstmals die Regierungsmehrheit gewannen, wurde Klöti zum Stadtpräsidenten gewählt und blieb bis 1942 an der Spitze des »Roten Zürich«. Er war dabei treibende Kraft der Stadterweiterung von 1934 41 und »Gastgeber« der Landesausstellung von 1939, die einen Höhepunkt der »Geistigen Landesverteidigung« darstellte. Klöti hatte verschiedene Verwaltungsratsmandate inne, unter anderem bei den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) und den Elektrizitätswerken des Kantons Zürich (EKZ). Seine Kandidaturen für den Bundesrat blieben jedoch 1929 und 1938 erfolglos.
Der Gewerkschaftsführer: Konrad Ilg (1877–1954) Der als Sohn eines Handwerkers und einer Wäscherin und Putzfrau geborene Ilg wuchs bei Pflegeeltern und als Dienstbote bei Kleinbauern auf.42 Nach Abschluss einer Schlosserlehre und Wanderschaft trat er 1898 dem Schlosserfachverein Zürich und 1900 der SPS bei und wurde dann 1905 Präsident des Schlosserfachvereins Lausanne. 1908 wurde er Sektionspräsident der Lausanner Metallarbeiter und leitete im selben Jahr erstmals einen Streik. Von 1909 bis 1914 war er Zentralsekretär des Schweizerischen Metallarbeiterverbandes und 1915 die treibende Kraft der Fusion mehrerer Gewerkschaftsverbände zum Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverband (SMUV ), der über weite Teile des 20. Jahrhunderts mitgliederstärksten Schweizer Gewerkschaft. 1915 wurde er SMUV-Zentralsekretär für die französische Schweiz, von 1917 bis 1954 amtierte er als Zentralpräsident des SMUV. 1918/19 war er Vizepräsident des Oltener Aktionskomitees, 1937 Architekt des »Friedensabkommens« in der Maschinen- und Metallindustrie und 1937 bis 1941 Vizepräsident des SGB. An der Landesaustellung 1939 wurde das »Friedensabkommen« an prominentem Ort ausgestellt und 1942 verlieh die Universität Bern den beiden Initiatoren Konrad Ilg und Arbeitgeberpräsident Ernst Dübi die Ehrendoktorwürde. Seit der Zwischenkriegszeit verfocht Ilg eine sozialpartnerschaftliche Linie und griff gewerkschaftsintern gegen linksradikale Kräfte hart durch. Hinzu kamen verschiedene Ämter in der internationalen Gewerkschaftsbewegung und in 41 Emil Klöti: Zürichs 2. Eingemeindung vom Jahre 1934, Zürich 1956; Walter Akeret: Die Zweite Zürcher Eingemeindung von 1934, Bern 1977. 42 Das Friedensabkommen in der schweizerischen Maschinen- und Metallindustrie vom 19. Juli 1937. Ernst Dübi, 1884–1947/Konrad Ilg, 1877–1954, Zürich 1965; Peter Stettler: Konrad Ilg, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 6, Basel 2007, S. 578 f.
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der Politik: 1919 nahm er als Mitglied der Schweizer Delegation an der ersten ILO -Konferenz in Washington teil, 1921 bis 1954 fungierte er als Sekretär des Internationalen Metallarbeiterbundes. In dieser Funktion förderte er nach dem Zweiten Weltkrieg die Aufnahme der bundesdeutschen und US-amerikanischen Metallarbeiterverbände. Er gehörte 1910 bis 1939 dem Berner Stadtparlament, 1918 bis 1946 dem Berner Kantonsparlament und 1918 bis 1919 sowie 1922 bis 1947 dem Nationalrat an und war 1928 bis 1936 Vizepräsident der SPS.
Der Multifunktionale: Robert Grimm (1881–1958) Der in der ländlichen, aber auch industriell geprägten Gemeinde Wald im Kanton Zürich aufgewachsene Grimm entstammte ebenfalls einer Unterschichtenfamilie: Sein Vater war Fabrikschlosser, seine Mutter Weberin.43 Nach einer 1895 bis 1898 in Oerlikon bei Zürich absolvierten Buchdruckerlehre begab sich Grimm auf Wanderschaft in der Schweiz, Deutschland, Frankreich, der Donaumonarchie und Italien. Ab 1899 war er Partei- und Gewerkschaftsmitglied. Nach der Rückkehr von einem Aufenthalt in Berlin 1905/06 arbeitete er vollamtlich als Funktionär und Redakteur in der Arbeiterbewegung: 1906 bis 1909 war er Sekretär des Arbeiterbundes Basel und parallel dazu 1907 bis 1909 erster Sekretär des Verbandes der Handels- und Transportarbeiter, den er mitgegründet hatte. 1909 wurde er Chefredakteur der »Berner Tagwacht«. Zugleich gehörte er verschiedenen Legislativen an: 1907 bis 1909 dem Kantonsparlament von Basel-Stadt, 1909 bis 1918 dem Berner Stadtparlament, 1910 bis 1938 dem Berner Kantonsparlament und 1911 bis 1919 sowie 1920 bis 1955 dem Nationalrat (1936 bis 1945 als Präsident der SPS -Fraktion und 1946 als Ratspräsident). Zudem war er 1911 bis 1943 Präsident der Sozialdemokratischen Partei des Kantons Bern. Auf der internationalen Ebene war Grimm ebenfalls sehr aktiv: 1907, 1910 und 1912 nahm er an den Kongressen der Zweiten Internationale teil, ab 1912 war er Mitglied des Internationalen Sozialistischen Büros und ab 1915 Initiator der Zimmerwalder Bewegung, wobei ihm seine Rolle als Repräsentant der 43 Christian Voigt: Robert Grimm. Kämpfer, Arbeiterführer, Parlamentarier. Eine politische Biographie, Bern 1980; Adolf McCarthy: Robert Grimm. Der schweizerische Revolutionär, Bern/Stuttgart 1989; Bernard Degen/Hans Schäppi/Adrian Zimmermann (Hg.): Robert Grimm. Marxist, Kämpfer, Politiker, Zürich 2012; Peter Stettler: Robert Grimm, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 5, Basel 2006, S. 703 f.
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Arbeiterbewegung eines neutralen Landes sowie die vielfältigen internationalen Kontakte aus der Vorkriegszeit sowie als »Tagwacht«-Redakteur zugutekamen. Nach der russischen Februarrevolution war er trotz erheblicher politischer und persönlicher Differenzen mit Lenin, die sich auch auf den Konferenzen von Zimmerwald und Kiental gezeigt hatten, an der Organisation von dessen Rückkehr nach Russland beteiligt. Im Mai 1917 fuhr er selbst nach Stockholm und dann nach Petrograd; offiziell, um die Heimkehr russischer Exilanten aus der Schweiz vorzubereiten, effektiv aber im Bestreben (und in Absprache mit dem freisinnigen Außenminister Arthur Hoffmann), um als Vorstufe zur Beendigung des Weltkriegs die Möglichkeiten eines russisch-deutschen Separatfriedens zu sondieren. Nachdem diese Bemühungen publik wurden, forderte die provisorische Regierung Grimm zum Verlassen des Landes auf und Hoffmann musste zurücktreten.44 Innenpolitisch schadete diese Affäre Grimm, der in der zweiten Kriegshälfte zur bestimmenden Figur der Arbeiterbewegung aufstieg, nur kurze Zeit. Anfang 1918 übernahm er das Präsidium des neu gegründeten Oltener Aktionskomitees. Im selben Jahr wurde er in die Berner Stadtregierung gewählt, der er bis 1938 angehören sollte. Im Landesstreikprozess im Frühjahr 1919 verurteilte ihn das Militärgericht zu sechs Monaten Gefängnis. Diese Zeit nutzte er zur Abfassung des über 400 Seiten starken Buches »Geschichte der Schweiz in ihren Klassenkämpfen«.45 Bürgerliche Kreise unterstellten Grimm als führendem Kopf des Landesstreiks lange einen Umsturzversuch und verhinderten 1926 seine turnusgemäße Wahl zum Nationalratspräsidenten. Neben der Exekutivfunktion in der Stadt Bern und dem Nationalratsmandat betätigte sich Grimm 1921 bis 1923 in der Internationalen Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien, auf nationaler Ebene von 1919 bis 1936 auch als Mitglied der Geschäftsleitung der SPS. 1938 wurde er als erster Sozialdemokrat in die Berner Kantonsregierung gewählt, dies mit Unterstützung der im Kanton Bern tonangebenden rechtsgerichteten Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei, die ein Linksbündnis aus Arbeiterbewegung und oppositionellen Bauern befürchtete. Dieses Amt hatte Grimm bis 1946 inne. Parallel dazu fungierte er von 1939 bis 1946 als Leiter der Sektion »Kraft und Wärme« der kriegswirtschaftlichen Administration. Seine berufliche Laufbahn beendete er von 1946 bis 1953 als Direktor der Bern-Lötschberg-Simplon-Bahn (BLS), der nach den SBB zweitgrößten Eisenbahngesellschaft der Schweiz. 44 Paul Widmer: Bundesrat Arthur Hoffmann. Aufstieg und Fall, Zürich 2017, S. 239–323; Paul Stauffer: Die Affäre Hoffmann/Grimm, in: Schweizer Monatshefte 53 (1973), S. 1–30. 45 Robert Grimm: Geschichte der Schweiz in ihren Klassenkämpfen, Bern 1920.
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Vom Paradiesvogel zur tragischen Figur: Fritz Platten (1883–1942) Platten wuchs als Sohn eines aus Deutschland eingewanderten Schreiners und Wirts in St. Gallen und Zürich auf.46 Nach dem unfallbedingten Abbruch einer Schlosserlehre arbeitete er in verschiedenen Anstellungen. 1906 nahm er in Riga an der Russischen Revolution teil und verbrachte dann neun Monate im Gefängnis. In der Folge war er 1909 bis 1914 Sekretär der Sozialdemokratischen Landesorganisation der internationalen Arbeitervereine in der Schweiz. 1912 gehörte er der Streikleitung des ersten Zürcher Generalstreiks an. Im folgenden Jahr spielte er eine wichtige Rolle bei der Organisation der Trauerfeierlichkeiten für August Bebel in Zürich, denen Zehntausende beiwohnten. 1912 bis 1919 war Platten Mitglied der Geschäftsleitung und 1915 bis 1919 Sekretär der SPS. 1916 bis 1919 und 1922 bis 1923 gehörte er dem Zürcher Stadtparlament an, 1917 bis 1919 und 1920 bis 1922 dem Nationalrat. 1915/16 nahm er an den Konferenzen von Zimmerwald und Kiental teil, wo er zur »Zimmerwalder Linken« zählte. Ab 1916 stand er in engem Kontakt zu Lenin, der ihn allerdings als wenig pflichtbewusst und arbeitsam einschätzte. 1917 spielte er eine wesentliche Rolle bei der Organisation von Lenins Rückkehr nach Petrograd. Im folgenden Jahr betätigte er sich im Oltener Aktionskomitee. Im Frühjahr 1919 gehörte Platten dem Gründungspräsidium der Komintern an. Zugleich wurde er im Landesstreikprozess in Abwesenheit zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, die er 1920 verbüßte. 1917 bis 1924 reiste er mindestens siebenmal nach Russland und erlebte verschiedene abenteuerliche Episoden: Im Januar 1918 rettete er Lenin bei einem Attentat in Petrograd das Leben, bei der Rückkehr vom Komintern-Gründungskongress wurde er in Finnland verhaftet, im Sommer 1919 kam er nach einer Notlandung in Bessarabien auf einem Flug als Komintern-Gesandter von Russland in die Kapitale der ungarischen Räterepublik fünf Monate in rumänische Gefängnisse, aus denen er schließlich nach Moskau entwich, im Frühling 1920 musste er auf
46 Peter Huber: Stalins Schatten in die Schweiz. Schweizer Kommunisten in Moskau. Verteidiger und Gefangene der Komintern, Zürich 1994, S. 275–293; Ingrid Stuker: Fritz Platten. Der vergessene Revolutionär, in: Eva Mäder/Peter Niederhäuser (Hg.): Käser, Künstler, Kommunisten. Vierzig russisch-schweizerische Lebensgeschichten aus vier Jahrhunderten, Zürich 2009, S. 129–133; Jean Ziegler: Fritz Platten. Diese strahlende, unbeugsame Hoffnung. Vom Genossen Lenins zum Opfer Stalins, in: Stefan Howald (Hg.): Projekt Schweiz. Vierundvierzig Porträts aus Leidenschaft, Zürich 2021, S. 73–83; Markus Bürgi: Fritz Platten, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 9, Basel 2010, S. 775; Schweizerisches Sozialarchiv Ar 198.7.2 Schweizer Kommunisten: M–Z.
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einem Flug von Russland nach Deutschland erneut notlanden und kam für drei Monate in polnische Gefangenschaft.47 1921 zählte Platten zu den Gründungsmitgliedern der KPS und wurde deren Sekretär. 1923 rief er die Vereinigung der Auswanderer nach Sowjetrussland ins Leben.48 Die Schweizer Behörden förderten damals Emigration als Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und unterstützten das erste Auswanderungskontingent finanziell. Etwa hundert Schweizerinnen und Schweizer gründeten in Russland mehrere landwirtschaftliche Genossenschaften. Platten selbst lebte hauptsächlich in Moskau, wo er ab 1931 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Agrarinstitut sowie als Lehrer am Pädagogischen Institut für Fremdsprachen tätig war. Ab den späten 1920er-Jahren geriet er politisch ins Abseits, gelangte in den späten 1930ern in den Strudel der stalinistischen Säuberungen, wurde 1938 festgenommen, im Folgejahr als angeblicher Spion zur vier Jahren Lagerhaft verurteilt und 1942 erschossen. Der Weltöffentlichkeit blieb Plattens Schicksal lange verborgen. An der Zürcher Maidemonstration 1948 wurde ein Grüppchen mit dem Transparent »Befreit Fritz Platten aus den Kerkern Stalins« von Kommunisten tätlich attackiert.49 1951 behaupteten Mitglieder einer aus der Sowjetunion zurückgekehrten kommunistischen Delegation, mit Platten gesprochen zu haben.50 Erst 1956 wurde sein Tod offiziell bestätigt.51 Dessen genaue Umstände blieben aber bis zum Ende der Sowjetunion, die ihn nach der Rehabilitation im Zuge der Entstalinisierung verschiedentlich ehrte, unbekannt.52
47 Christian Koller: »Eine der sonderbarsten Revolutionen, die die Geschichte kennt«. Die Schweiz und die ungarische Räterepublik, in: ders./Matthias Marschik (Hg.): Die ungarische Räterepublik 1919. Innenansichten – Außenperspektiven – Folgewirkungen, Wien 2018, S. 229–248, hier S. 244. 48 Barbara Schneider: Schweizer Auswanderer in der Sowjetunion. Die Erlebnisse der Schweizer Kommunarden im revolutionären Russland (1924–1930), Schaffhausen 1985; Christian Koller: Moskau retour. Ankunft der Russlandschweizer und Abreise der Sowjetschweizer vor 100 Jahren, in: Sozialarchiv Info 5 (2018), S. 10–20. 49 Schweizerisches Sozialarchiv F_5047-Fb-093. 50 Die Nation, 7. Februar 1951. 51 Schweizerisches Sozialarchiv Ar 140.20.1 Edgar Woog: Allgemeines. 52 Fritz N. Platten: Glasnost für Fritz Platten (1883–1942), in: Horch und Guck 11 (1994), S. 35–42.
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Ein Bürgerschreck wird Bundespräsident: Ernst Nobs (1886–1957) Nobs wuchs als Sohn eines Schneiders und einer Uhrenarbeiterin in Grindelwald in bescheidenen Verhältnissen auf, konnte aber nach der obligatorischen Schule das Lehrerseminar absolvieren.53 1906 bis 1912 versah er verschiedene Stellen als Volksschullehrer. Im Anschluss war er bis 1915 Redakteur sozialdemokratischer Zeitungen in Luzern und St. Gallen, dann bis 1935 des »Volksrecht« in Zürich. Zudem war er 1921 Mitbegründer und Redakteur der sozialdemokratischen Theoriezeitschrift »Rote Revue«. 1916 bis 1918 sowie 1919 bis 1923 war er Präsident der Sozialdemokratischen Partei der Stadt Zürich, 1917 bis 1919 Mitglied der Geschäftsleitung der SPS. Im Landesstreikprozess 1919 wurde er – obwohl nicht Mitglied des Oltener Aktionskomitees, sondern dieses von links her kritisierend – zu vier Wochen Gefängnis verurteilt. Im Ersten Weltkrieg begann auch seine Laufbahn als Parlamentarier: 1916 bis 1919 sowie 1920 bis 1933 gehörte er dem Zürcher Stadtparlament an, 1919 bis 1943 dem Nationalrat. 1935 wurde Nobs, der inzwischen vom linken Flügel der SPS ins reformistische Zentrum gerückt war, in die Kantonsregierung gewählt, der er bis 1942 angehörte. 1942/43 war er als Nachfolger Klötis Zürcher Stadtpräsident, bevor er Ende 1943 als erster Sozialdemokrat in den Bundesrat einzog und die Leitung des Eidgenössischen Finanz- und Zolldepartements übernahm. Turnusgemäß war er 1949 Bundespräsident. 1951 trat er aus dem Bundesrat zurück und war in der Folge bis zu seinem Tod Präsident des Verwaltungsrates des AHV-Ausgleichsfonds und der Kommission für Arbeitsbeschaffung bildender Künstler sowie Mitglied des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz.
Fazit Insgesamt bilden die Spät-1870er in der schweizerischen Arbeiterbewegung nicht nur eine jahrgangsmäßige Kohorte, sondern aufgrund prägender Erfahrungen auch eine Generation. Sie schlossen sich um die Jahrhundertwende
53 Tobias Kästli: Ernst Nobs. Vom Bürgerschreck zum Bundesrat. Ein politisches Leben, Zürich 1995; Hans Rudolf Frick: Zwischen Klassenkampf und Demokratie. Der erste sozialdemokratische Bundesrat Ernst Nobs als Redaktor am Zürcher »Volksrecht«, 1915–1935, Clausthal-Zellerfeld 1975; Karl Lang: Ernst Nobs, 1886–1957, in: Urs Altermatt (Hg.): Die Schweizer Bundesräte. Ein biographisches Lexikon, Zürich/München 1991, S. 427–430; Markus Bürgi: Ernst Nobs, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 9, Basel 2010, S. 273.
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der Partei und den Gewerkschaften an, als diese in nuce konstituiert waren und – auch aufgrund sich verschärfender Klassenkonflikte – rasch anwuchsen, und machten dann gemeinsam die Erfahrungen der Entbehrungen des Ersten Weltkriegs, des Landesstreiks und der zunehmenden Integration in den bürgerlichen Staat im Angesicht von Faschismus, Weltwirtschaftskrise, Zweitem Weltkrieg und frühem Kalten Krieg. Die führenden Figuren wiesen auch von ihrem Sozialprofil her Ähnlichkeiten auf: Sie waren in der Regel männlich und Nichtakademiker, von der Ausbildung her meistens Facharbeiter (teilweise mit Erfahrung der transnationalen Gesellenwanderung) oder Volksschullehrer und zeichneten sich durch ein hohes Maß autodidaktischer Weiterbildung aus, so auch bei der Rezeption des Marxismus. Die weitreichendsten Entwicklungen des »Zeitalters der Extreme« betrafen sie in der Schweiz nicht unmittelbar, sie nahmen sie aufgrund ihrer transnationalen Vernetzung aber dennoch stark wahr. Bereits vor 1914 rückten sie in der Arbeiterbewegung in Funktionärsund Redaktionsposten auf. Von den 1910er- bis 1950er-Jahren durchliefen sie dann Karrieren mit großer und langjähriger Ämterkumulation in Partei, Gewerkschaften, Parlamenten und teilweise Exekutiven in Kantonen, Gemeinden und auf Bundesebene sowie auch in internationalen Gremien und staatsnahen Betrieben. Diese Laufbahnen reflektierten die zunehmende Integration der Arbeiterbewegung in die bürgerlich-demokratische Schweiz und trugen zugleich zu dieser bei. Als eigentliche Generation bildeten die Spät-1870er dabei in der Geschichte der Schweizer Arbeiterbewegung eher eine Ausnahme. Die Pioniere vor ihnen waren jahrgangs-, ausbildungs- und erfahrungsmäßig keine homogene Generation, nach ihnen folgten bis zu den durch »68« geprägten Genossinnen und Genossen kontinuierlich jüngere Führungskräfte ohne einschneidende generationenabgrenzende Erfahrungshintergründe.
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Die Austromarxisten. Ein Pendant zur »Generation Ebert« in Deutschland?
Am 16. Februar 1913 bewegte sich ein riesiger Trauerzug durch Wien – die wohl größte und imposanteste Massenmanifestation, welche die Donau-Metropole bis dahin erlebt hatte. Die sozialdemokratische Bezirksorganisation Ottakring, vom eben Verstorbenen Anfang der 1890er Jahre mit ein paar Dutzend Mitarbeitern ins Leben gerufen, stellte allein 2600 Vertrauenspersonen als Ordner. Hier wurde, so die zeitgenössische Wiener Tagespresse, ein Souverän, ein Volkstribun zu Grabe getragen. Bei der Trauerfeier im Ottakringer Arbeiterheim waren Spitzenvertreter aus Politik, Bürokratie, Diplomatie und Heer anwesend, und als der Sarg geschlossen wurde, ertönte der Trauermarsch aus der »Götterdämmerung«, gefolgt von Franz von Suppés »Ruhe, müder Wanderer«, intoniert vom Posaunenchor der Hofoper und 400 Arbeitersängern. Hierauf wurde der Sarg in einen prunkvollen Glasgalawagen mit einer Bürgerkrone an der Spitze gehievt; vor den Wagen waren sechs Rappen mit Kutschern und Reitern in altspanischer Tracht gespannt. Dem Trauerkondukt, der über gut sieben Kilometer führte, zogen 18 Kranzwagen, vier Trauerkutschen, eine Unzahl Blumenträger sowie zwei – ebenfalls in altspanische Tracht gekleidete – berittene Laternenträger voran. Bereits seit den Vormittagsstunden waren aus allen Bezirken schier endlose, nach Branchen gegliederte und radial auf das Ottakringer Arbeiterheim hin ausgerichtete Kolonnen aufmarschiert, mit Fahnen, Standarten und Blumengewinden, 400.000 Menschen (also ein Fünftel der Wiener Bevölkerung) waren gekommen. Entlang des gesamten Weges hatten sich sechs- bis zehnfache Spalierreihen gebildet, eine, wie es hieß, »große, endlose, unheimlich schweigende Masse«. Am Grab selbst sprach der nachmalige erste sozialdemokratische Bürgermeister Wiens, Jakob Reumann, Richard Wagners »Pilgerchor« aus dem »Tannhäuser« beendete die Trauerfeier.1 Die pompöse Todesinszenierung galt Franz Schuhmeier, der einem politischen Attentat zum Opfer gefallen war und der als der wohl populärste 1
»Arbeiter-Zeitung. Zentralorgan der Deutschen Sozialdemokratie in Österreich«, Nr. 47 vom 17. Februar 1913 (»Franz Schuhmeiers letzte Fahrt«).
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Wiener Sozialdemokrat an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gelten kann – ein Massenpolitiker neuen Stils, ein ebenso begabter wie mitreißender Agitator, ein Kind der Vorstadt aus ärmlichsten Verhältnissen in den höchsten politischen Funktionen. Schuhmeier wurde nicht nur zu Grabe getragen, er wurde vielmehr als politische Ikone befestigt; zugleich aber wurde das Volk in seiner neuen sozialen Organisation und seinem politischen Ausdruck öffentlich gemacht: Die weithin sichtbare und wirksame Demonstration der politischen Identität einer modernen Massenbewegung und die bereits latente Präsenz eines anderen, eines »Roten Wien«. Es ist die Schaustellung einer politischen Gegenkultur, die Visualisierung der Arbeiterschaft als zukunftsorientierte, visionäre Gegengesellschaft. Die geordnete, disziplinierte und arrangierte große Zahl der Teilnehmer demonstriert sich selbst als Gemeinschaft ebenso wie als Gegenkraft zum kleinbürgerlich-populistischen Wien des antisemitischen Bürgermeisterpatriarchen Karl Lueger.2 Schuhmeier und Reumann sind – ebenso wie ein Albert Sever (nach Ende des Ersten Weltkriegs niederösterreichischer Landeshauptmann), die Textilarbeiterin Anna Boschek (eine der ersten Frauen im Parlament überhaupt) oder der Fiaker-Gewerkschafter August Forstner – prototypische Exponenten einer »organischen«, überwiegend der Alterskohorte der Mitte der 1860er bis Mitte der 1870er Geborenen zugehörigen, aus dem anarchistischen Handwerkermilieu stammenden Arbeiterintelligenz. In den ausgehenden 1880er und beginnenden 1890er Jahren werden sie eine eigensinnige Koalition mit radikaldemokratischen, freisinnigen, jüdisch-großbürgerlichen Intellektuellen eingehen. Zu eben dieser Zeit hatte sich um den Neurologen, Sozialreformer und Armenarzt Victor Adler eine neue Führungsgarnitur mit neuen politischen Konzepten formiert: Massenorganisation, demokratisch-konstitutionelle Strategie, gesellschaftliche Modernisierung. Es sollte dieser Koalition in der Folge eindrucksvoll gelingen, eine reformistisch-demokratische Massenpartei der (industriellen) Arbeiterschaft, und damit ein qualitativ neues Gebilde in der österreichischen Parteiengeschichte, aufzubauen. Die Sozialdemokratie entwickelte sich zu einer ebensolchen modernen Massenpartei in einem Milieu der beschleunigten Zersetzung des altösterreichischen Staates, in einem Milieu der Zerstörung überlieferter Parteien und staatlicher Formen. In einem primär agrarisch-kleinbürgerlich dominierten Land, in dem wie in kaum einem zweiten die verschiedenen Stufen industrieller und kultureller Entwicklung
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Wolfgang Maderthaner/Lutz Musner: Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt a. M./New York 2000, S. 176 ff.
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neben- und ineinander existierten, repräsentierte sie die Massenbedürfnisse einer sich schnell entwickelnden industriellen Gesellschaft.3 Das Fortwirken feudaler Traditionen, die wirtschaftliche Uneinheitlichkeit, nationale Zerrissenheit, Stagnation und politische Krise dieses Staates fanden ihre Entsprechung in Gesetzgebung und Recht. Auf dem Internationalen Sozialistenkongress in Paris 1889 hatte Victor Adler dies als Zustand der »gesetzlichen Gesetzlosigkeit« und des »permanenten Gesetzbruches« charakterisiert: »Wir haben den Despotismus, gemildert durch Schlamperei.«4 Von Frankreich und England abgesehen, habe Österreich die freisinnigsten Gesetze, das auch im internationalen Vergleich sehr liberale Staatsgrundgesetz würde jedoch durch eine Fülle von Regierungsverordnungen permanent unterlaufen und de facto außer Kraft gesetzt. Alle politischen Rechte, Presse-, Vereins-, Koalitionsgesetz usw. fanden sich im Strafgesetz; und die Anwendung der durchweg extensive Interpretationen zulassenden Gesetze oblag den unteren Verwaltungsbehörden und dem jeweiligen Polizeikommissär, der gleichsam befugt war, alle gesetzlichen Freiheiten zu konfiszieren: »Dieser absonderliche Zustand raubt der Arbeiterbewegung in Österreich alle Gleichartigkeit im Fortgang, alle Sicherheit im Beschließen und Handeln.«5 Als einziges realpolitisches Wirkungsfeld war der bis dahin noch schwach, in vielerlei Hinsicht lediglich provisorisch organisierten Bewegung das Instrumentarium der Politik der Straße verblieben: Aufmärsche, Demonstrationen, Kundgebungen. Zugleich gestaltete die vom allgemeinen Wahlrecht und einer adäquaten parlamentarischen Vertretung ausgeschlossene junge Sozialdemokratie ihre Politik zu einer Art »Gesamtkunstwerk«. Volksbildungseinrichtungen, Sportvereine, Kultur- und Bildungsorganisationen, lebensreformerische Vereinigungen etc. eröffneten der Arbeiterschaft den Zugang zu den Erkenntnissen der modernen Wissenschaften, den Zugang zur Literatur und der durchgehend hochgehaltenen Tradition der (deutschen) Aufklärung im Allgemeinen. Wissenschaftler, Literaten, Musiker (wie Arnold Schönberg oder Anton von Webern) traten so ihrerseits über dieses Organisationsgeflecht in einen ersten Kontakt mit der Arbeiterschaft. Es sei die »Revolutionierung der Gehirne«, wie es Adler
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Vgl. Hannes Androsch/Heinz Fischer/Wolfgang Maderthaner (Hg.): Vorwärts. Österreichische Sozialdemokratie seit 1889, Wien 2020, S. 44 ff. Victor Adlers Aufsätze, Reden und Briefe. Heft 6 (Victor Adler der Parteimann), Wien 1929, S. 18; zu Person und Werk Victor Adlers siehe: Wolfgang Maderthaner/Siegfried Mattl: Victor Adler, in: Walter Euchner (Hg.): Klassiker des Sozialismus, Bd. 1, München 1991, S. 218–232. Adler, Aufsätze Reden und Briefe [wie Anm. 4], Bd. 6, S. 18.
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formulierte, die das nächste Ziel, die eigentliche Aufgabe der Sozialdemokratie darstelle.6 Aber nicht der Revolutionierung der Gehirne allein, auch der gefühlsmäßigen, der emotionalen Bindung breiter Massen an die Bewegung kam ein entscheidender Stellenwert in diesem Organisationskonzept zu. Über einen genau umschriebenen, ritualisierten Kanon von Feiern und Festen wurde eine regelrechte Liturgie politischen Handelns entworfen – eine Ästhetisierung der Politik, wofür die alljährlichen, von hunderttausenden Demonstranten in Festtagskleidung besuchten Feiern des »Ersten Mai« das wohl bekannteste Beispiel darstellen. Vornehmlich in Zeiten realpolitischer Stagnation sollte sich derlei emotionale Bindung, die Demonstration der großen Zahl, die öffentliche Repräsentation einer, wie es hieß, »gewaltigen Zukunftsarmee«, als probates Mittel für den Aufbau einer Massenpartei erweisen: Eine Konzeption, die nicht zuletzt in der Wagner-Verehrung (und dessen Vorstellung einer gewaltigen, allumfassenden Volkserhebung) einer in der Tradition der bürgerlichen Revolution von 1848 stehenden Führungsschicht begründet ist. So verstand sich die sozialdemokratische Arbeiterpartei in Österreich von Anbeginn an und in teilweise konfliktbeladener Spannung zu den übrigen Parteien der II. Internationale vor allem auch als eine kulturelle, präziser: gegenkulturelle Bewegung. Es war ein komplexer Machtentwurf, dessen Ziel über die Herausbildung einer »modernen« Arbeiterklasse europäischen Zuschnitts hinaus auf die Modernisierung der gesamten Gesellschaft gerichtet war. Die Sozialdemokratie sah sich nicht nur als Anwältin des Prozesses der Modernisierung, sie machte vielmehr die wissenschaftliche, kulturelle und ästhetische Moderne zu ihrem Programm. In diesem Sinn wurde dem Proletariat die Funktion des Trägers und Vollenders der Zukunftsgesellschaft zugewiesen, während die Intellektuellen als Bildende und Lehrende mit dem Ziel auftraten, die Arbeiterschaft »aus sich heraus« mit jenen geistigen und moralischen Qualitäten auszustatten, die Voraussetzung sind für die Entwicklung der höchsten Stufe des politischen Gemeinwesens, der sozialen Demokratie.7 Victor Adler, der geradezu synonym für diese Konzeption steht, verkörperte und repräsentierte – auch und gerade als exponierter Sozialdemokrat, als, wie er Friedrich Engels gegenüber einmal ironisch bemerkt hat, »Hofrat der Revolution« – vieles von dem, was ein akkulturiertes und assimiliertes großbürgerliches Wiener Judentum in seiner sozialen Qualität und kulturellen
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Ebenda, S. 27 f. Androsch/Fischer/Maderthaner, Vorwärts [wie Anm. 3], S. 55 f.
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Signifikanz ausmachte.8 Tatsächlich war es die jüdische Bourgeoisie, die als treibende Kraft, als soziale Trägerschicht jener wohl einmaligen, plötzlichen Bündelung an Kreativität und Intellektualität im Wiener Fin de Siècle gelten kann – sowohl, was die Produzierenden, die Publizierenden als auch das Mäzenatentum und die Kritik betrifft. Die Generation von Sigmund Freud, Arthur Schnitzler, Gustav Mahler, Theodor Herzl, Alfred Adler, die (einer folgenden Alterskohorte zuzuzählenden) Arnold Schönberg, Karl Kraus, Max Reinhardt, Otto Bauer und Ludwig Wittgenstein, die »jüngeren« Karl Popper, Billy Wilder und viele andere mehr: Sie alle entstammten einem assimilierten jüdischen Herkunftsmilieu. Sie dominierten die Salon- und die Kaffeehauskultur, sie dominierten in den verschiedenen intellektuellen Zirkeln, in der psychoanalytischen und individualpsychologischen Bewegung, bei den Literaten des »Jung-Wien«, bei den Theoretikern des Austromarxismus. Es war ein in jeder Hinsicht hochgradig sensibilisiertes, hoch nervöses, in seiner Identität und Selbstwahrnehmung gefährdetes, und eben deshalb in gesteigertem Ausmaß produktives und kreatives Milieu; es ist, um auf einen von Malachi Hacohen geprägten Begriff zurückzugreifen, das Milieu der »nicht-jüdischen« Wiener Juden.9 Modern, urban, säkularisiert war dieses Milieu mehr als alles andere geprägt von der mit dem Spekulations- und Finanzcrash im Weltausstellungsjahr 1873 virulent gewordenen Krise des Liberalismus, der Krise des liberalen Ich, und der daraus resultierenden generationellen Auflehnung gegen die liberalen Väter – eine Auflehnung, die die Form einer politisch-kulturellen Revolte annahm. In ihr und durch sie fand, wie etwa Carl Schorske argumentiert, dieses assimilierte Wiener Judentum, die Generation der 1870er, zum autochthonen Ausdruck seiner selbst.10
8 Vgl. allgemein: Joachim Riedl (Hg.): Wien, Stadt der Juden. Die Welt der Tante Jolesch, Wien 2004. 9 Malachi Chaim Hacohen: Karl Popper. The Formative Years 1902–1945. Politics and Philosophy in Interwar Vienna, Cambridge/New York 2000, S. 52; zu den Wiener Juden der Jahrhundertwende und der Zwischenkriegszeit siehe unter anderem Ivar Oxaal: The Jews of Young Hitler’s Vienna: Historical and Sociological Aspects, in: Ivar Oxaal/ Gerhard Botz (Hg.): Jews, Antisemitism, and Culture in Vienna, London/New York 1987, S. 11–38; sowie Wolfgang Maderthaner/Lisa Silverman: »Wiener Kreise«. Jewishness, Politics, and Culture in Interwar Vienna, in: Deborah Holmes/Lisa Silverman (Hg.): Interwar Vienna. Culture Between Tradition and Modernity, Rochester/New York 2009, S. 59–80. 10 Carl E. Schorske: Fin de Siècle Vienna – Politics and Culture, New York 1980, hat eben diese generationelle Revolte zum Ausgangspunkt seiner berühmt gewordenen Analysen der kulturellen und intellektuellen Errungenschaften des Wiener Fin de Siècle gemacht.
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Unzweifelhaft: Die Wiener Juden befanden sich auf einem Weg ins Freie, doch wohin genau sollte dieser Weg führen, was genau sollte »das Freie« bezeichnen und bedeuten? Es ging jedenfalls um die Ablösung von einer als rückständig, vormodern und reaktionär erachteten jüdischen Kollektividentität, es war, nicht zuletzt, ein Traum auch einer vollständigen Akkulturation, einer Assimilation an die als am weitesten fortgeschrittene und höchst entwickelt erachtete Kulturnation, an ein als ideal imaginiertes Deutschtum – ein Deutschtum, das in sich die unverfälschten Werte und Prinzipien der Aufklärung, der Emanzipation, des Fortschritts, des gleichen Rechts, der Freiheit, der Kultur verkörperte. Karl Kautsky, der zu Beginn der 1880er Jahre in Wien lebte und versuchte, in der kaum existenten und durch massive Fraktionskämpfe beinahe paralysierten Arbeiterbewegung Fuß zu fassen, lernte um diese Zeit auch Victor Adler und dessen sozial-liberalen Freundeskreis kennen: »Um ihn sammelte sich eine Corona von Intellektuellen – Ärzte, Advokaten, Musiker, Journalisten […]. Alle, die ihm [dem Kreis um Adler, Anm. des Verf.] angehörten, waren sozialistisch interessiert, mancher war fast Sozialist. Nur eines schied sie alle von mir: ihr ausgesprochener intensiver deutscher Nationalismus. […] Die österreichischen Juden waren damals die feurigsten Vertreter des Anschlussgedankens […].«11 Der Nachhall der bürgerlichen Revolution von 1848, die Ideale der radikalen Demokratie, der allgemeinen bürgerlichen Freiheiten und der großdeutschen Einigung faszinierten den Kreis um Adler, ja schlugen ihn förmlich in ihren Bann. Dem so bezeichneten Adlerhorst gehörten unter anderem die beiden Brüder von Adlers Frau Emma an, Adolf und Heinrich Braun, die beide späterhin vor allem als Publizisten eine gewichtige Rolle in der deutschen Arbeiterbewegung spielen sollten. Den Kreis einten leidenschaftliche Debatten über Literatur und Kulturtheorie, die soziale Problematik sowie eine hingebungsvolle Wagner- und Nietzsche-Verehrung – im Besonderen auch nach der Übersiedlung in Adlers neues Domizil in der Berggasse 19 (später bekanntlich Freuds Ordination und Privatwohnung), als so prominente Teilnehmer wie Gustav Mahler, Hugo Wolf, Hermann Bahr und Rudolf Krzyzanowski, nachmaliger Hofkapellmeister in Weimar, oder auch ausgewiesene Sozialisten wie Emanuel Sax und Leo Frankel hinzutraten.
11 Karl Kautsky: Erinnerungen und Erörterungen, hg. von Benedikt Kautsky, The Hague 1960, S. 530.
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Der »Adlerhorst« hat sich im Verlauf der 1880er Jahre differenziert: Ein Teil fand über seine Distanzierung von der deutschnationalen Bewegung – die zunehmend von einer rassenantisemitischen Programmatik dominiert wurde – zu einer sich neuformierenden Sozialdemokratie; ein anderer Teil, vornehmlich repräsentiert von Gustav Mahler und Hugo Wolf, ging völlig in der Kunst auf. Aus der eingeschworenen Bayreuth-Gesellschaft aber scherte keiner aus, und insbesondere nicht der als eigentlicher Parteigründer der österreichischen Sozialdemokratie geltende Victor Adler. Das Bayreuther Mysterium habe für Adler, wie sein Biograph Max Ermers etwas pathetisch formuliert, »ein Stück vorweggenommener Sonne des Zukunftsstaates« bedeutet.12 Und in der Tat: Diese Wagnerianische Grunddisposition kommt in Adlers Entwürfen und Visionen des Politischen deutlich zum Ausdruck.13 Er knüpfte dabei an überbrachte liberale Konzepte der national-kulturellen Individualität und Identität an, widersetzte sich gleichzeitig aber mit aller Deutlichkeit der von den Liberalen getroffenen traditionellen Gleichsetzung von Nation und bürgerlichen Besitz- und Bildungsschichten, um den Nationalgedanken auf die Arbeiterschaft auszudehnen und klassenübergreifend weiterzudenken. Er besetzte und artikulierte die Zwischenräume, die eine liberale Elitendemokratie zwischen sich und den von ihr marginalisierten Gruppen geschaffen hatte. Die Sozialdemokratie habe der Arbeiterschaft im Wege der Befreiung aus ihrer sozialen Not den Zugang zu den Gütern der nationalen Kultur zu eröffnen. Es formierte sich dieserart eine Gegenstrategie zum partikularistischen Universalismus der Liberalen; nicht, um diesen zu zerstören, sondern um seine unerfüllte politische Agenda einzulösen. Die großen Versprechungen der Moderne – Bildung, Gleichheit, Fortschritt, Wohlstand, Kultur – sollten nicht nur einer schmalen Elite vorbehalten sein, sondern zum wahren Universalismus des gesamten Volkes werden; wobei das Volk vornehmlich als eine politisch bewusste und disziplinierte Arbeiterklasse gedacht war, die unter Anleitung und Erziehung einer Avantgarde sich selbst schafft und so überhaupt erst geschichtsmächtig werden kann: Ein Konzept, das auf Zivilisierung, Kulturali-
12 Max Ermers: Victor Adler. Aufstieg und Größe einer sozialistischen Partei, Wien/Leipzig 1932, S. 236. 13 William McGrath: Dionysian Art and Populist Politics in Austria, New Haven 1974, S. 210 spricht von Adlers »continued exploitation of the artistic dimension of politics so basic to the Wagnerian outlook […] even within the context of socialist, workingclass politics Adler’s attitudes and actions continued to be influenced by his youthful enthusiasm for the cultural theories of Wagner and Nietzsche.«
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sierung und Hygienisierung der Massen, also auf die umfassende Hebung ihrer lebensweltlichen und sozialen, vor allem aber kulturellen Standards abzielte.14 Adler hat diese Politik der symbolisch angeleiteten und aufgeladenen Vorwegnahme eines künftigen Besseren, die Grundlagen und prinzipiellen Leitlinien der von ihm entworfenen politischen Konzeption niemals theoretisch begründet. Als politischer Arzt, der er Zeit seines Lebens geblieben ist, hat er den individuellen zum sozialen Körper erweitert, den es zu heilen und eben zu »kulturalisieren« galt. Gegen alles, wie er es nannte, »Hypothetische«, gegen das abstrakt Konstruierte, gegen »alle schroffen Entscheidungen, die man ›prinzipielle‹ nennt«, hegte der politische Empiriker eine ausgeprägte Abneigung, ja eine regelrechte Aversion. An Friedrich Engels, mit dem ihn seit Ende der 1880er Jahre eine überaus enge Freundschaft verband, schätzte er vor allem dessen Fähigkeit zur »Anwendung der Theorie in corpore vivo«.15 Für sich selbst, dem, so Adler, »das Organ beinahe fehlt für die Theorie«, nahm er lediglich in Anspruch, ein »ganz brauchbarer Colporteur fremder Ideen« zu sein.16 Der Gründer und Organisator einer demokratischen Massenpartei neuen Stils, die er zu einer im innerösterreichischen Vergleich unerreichten Durchschlags- und Mobilisierungskraft führte; der Zeitungsherausgeber, der mit aufrüttelnden Sozialreportagen über das Los etwa der Ziegelarbeiter oder der Tramway- Bediensteten einen direkten Blick in einen für undenkbar gehaltenen sozialen Abgrund nur wenig abseits des Ringstraßenglanzes eröffnet hatte; der Dandy, Gesellschaftslöwe, Stammgast literarischer Salons und gelegentliche Gast des Casinos in Monaco; schließlich der Elder Statesman, der als Außenminister im November 1918 den »verbliebenen Rest« der Habsburgermonarchie in eine demokratische Republik überführte, ist einen Tag vor deren Ausrufung an den Folgen einer grassierenden Pandemie (»Spanische Grippe«) verstorben.
14 Maderthaner/Mattl, Adler [wie Anm. 4], S. 229 ff. 15 Die gesamte Korrespondenz ist abgedruckt in: Gerd Callesen/Wolfgang Maderthaner (Hg.): Victor Adler/Friedrich Engels Briefwechsel, Berlin 2019. 16 Victor Adler, Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky. Gesammelt und erläutert von Friedrich Adler, Wien 1954, S. 15. Es berührt diese Form der Selbstwahrnehmung allerdings eine viel weiterführende Problematik jüdischer Identität im Wiener Fin de Siècle im Allgemeinen. Selbst Ludwig Wittgenstein war überzeugt, in seinem Denken nur reproduktiv sein zu können: »Ich glaube, ich habe nie eine Gedankenbewegung erfunden, sondern sie wurde mir immer von jemand anderem gegeben. Ich habe sie nur sogleich leidenschaftlich zu meinem Klärungswerk aufgegriffen. […] Es ist dem jüdischen Geist typisch, das Werk eines anderen besser zu verstehen, als der es selbst versteht.« Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlaß, hg. von Georg H. Wright, Frankfurt a. M. 1977, S. 43 f.
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Während es aber der Gründergeneration des Austrosozialismus weniger um wissenschaftliche Ansprüche, sondern vielmehr um die Schaffung von politischen Symbolen zur emotionalen Bindung breiter Volksmassen gegangen war, zielten die Austromarxisten eine Generation später (mithin die in den 1870er Jahren Geborenen, also die eigentliche »Generation Ebert« in der österreichischen Sozialdemokratie) auf Verwissenschaftlichung, Rationalisierung und Entemotionalisierung – Konzepte, die das aufklärerische Projekt der Moderne paradigmatisch definieren.17 Ende der 1890er Jahre war aus der Wiener sozialistischen Studentenbewegung eine junge marxistische Schule hervorgegangen, deren bekannteste Vertreter Max Adler, Karl Renner und Rudolf Hilferding waren; etwas später schlossen sich Gustav Eckstein, Fritz Adler und Otto Bauer an. Gelegentlich besuchte auch Leo Trotzki während seines sieben Jahre andauernden Wiener Exils die Diskussionsrunden, die in einem legendären Kaffeehaus stattfanden. Trotzki sollte in seinen Memoiren schreiben: »Das waren sehr gebildete Menschen, die auf verschiedenen Gebieten mehr wußten als ich. Ich habe mit lebhaftestem, man kann schon sagen mit ehrfurchtsvollem Interesse ihrer ersten Unterhaltung im Café ›Zentral‹ zugehört. Doch schon sehr bald gesellte sich zu meiner Aufmerksamkeit ein Erstaunen. Diese Menschen waren keine Revolutionäre.«18 Trotzki trifft damit den Sachverhalt überaus präzise: Die austromarxistische Schule entstand um die Jahrhundertwende, in permanenter Auseinandersetzung mit der literarischen Avantgarde, der österreichischen Schule der Nationalökonomie (Emil Lederer, Eugen Böhm-Bawerk), der naturwissenschaftlichen Erkenntnislehre Ernst Machs, dem Empiriokritizismus, der Neubegründung der Psychologie (Freud und Alfred Adler) und der reinen Rechtslehre Hans Kelsens. Die Austromarxisten standen daher, wie Otto Bauer in einem Nachruf auf Max Adler schrieb, von vornherein auf »akademischem Boden, in der Auseinandersetzung mit den Geistesströmungen der akademischen Welt dieser Jahre.«19 Sie lehnten die Vorstellung eines starren Systems ab, anstatt dessen ging es den Austromarxisten um die bewusste Verknüpfung der marxistischen Denkresultate mit dem gesamten modernen Geistesleben, 17 Zentrale Texte des Austromarxismus finden sich in: Rob McFarland/Georg Spitaler/Ingo Zechner: The Red Vienna Sourcebook, Rochester/New York 2020. 18 Leo Trotzki: Mein Leben. Versuch einer Autobiographie, Berlin 1930, S. 198. 19 Otto Bauer: Max Adler. Ein Beitrag zur Geschichte des Austromarxismus, in: Der Kampf. Internationale Revue, Jg. 4, Nr. 8/August 1937, S. 297–302, Zitat S. 297 f.
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also mit den Inhalten der philosophischen und sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse ihrer Zeit. Für sie stellte sich der Marxismus weniger als Welt anschauung dar, sondern vielmehr als Tatsachenwissenschaft, anzustreben war die Kulturbeziehung mit der modernen Intelligenz. In Anknüpfung an den Neokantianismus kam es ihnen in erster Linie darauf an, eine Erkenntnislehre oder Wissenschaftstheorie zu entwickeln, die den Marxismus als positive Sozialwissenschaft begriff und für neue empirische Erkenntnisse offenstand.20 Die Ablehnung eines einseitigen ökonomischen Determinismus (also der ausschließlichen Ableitung alles Sozialen und Kulturellen aus den Gesetzmäßigkeiten des Wirtschaftslebens) führt die Austromarxisten in mehrere Richtungen: Zunächst der Versuch, gesellschaftliche Prozesse in ihrer Gesamtheit zu erklären, also unter expliziter Einbeziehung der so genannten Überbauphänomene. Wie dominant auch immer die ökonomische Komponente auch bleiben mochte, so wurde doch der menschlichen Subjektivität und Intentionalität im historischen Prozess eine zentrale Rolle zugeschrieben. Einen bedeutenden Stellenwert nahm zudem die Analyse sozialer Schichtung in entwickelten industriell-kapitalistischen Gesellschaften ein, die soziale Zusammensetzung der Arbeiterschaft selbst und die Formierung eines entsprechenden »Klassenbewusstseins« als Voraussetzung für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft. Denn dies blieb die Prämisse austromarxistischen Politikverständnisses: Gleichsam als Erbe der liberalen Tradition blieb die Sozialdemokratie dem Prinzip einer graduellen Machterlangung durch demokratische Wahlen prinzipiell verbunden. Diktatur und Anwendung von Gewalt allerdings zur Erreichung dieses Ziels lehnte sie prinzipiell ab.21 War Karl Renner der Staats- und Rechtstheoretiker, Max Adler der Philosoph, so war der praktische Arzt Rudolf Hilferding der Ökonom des Austromarxismus (Hilferding war zweimaliger Finanzminister der Weimarer Republik, am 12. Februar 1941 kam er als politischer Häftling in einem Pariser Gestapo-Gefängnis ums Leben). Endgültig in die erste Reihe der Theoretiker des internationalen Sozialismus stieg er mit dem 1910 veröffentlichten Buch »Das Finanzkapital« auf, das er im Wesentlichen bereits als 28-Jähriger vollendet hatte und das von Karl Kautsky als der »vierte Band des Kapitals« bezeichnet
20 Otto Bauer: Max Adler. Ein Beitrag zur Geschichte des »Austromarxismus«, in: »Der Kampf. Internationale Revue«, 4 (1937), S. 297 ff. 21 Vgl. Wolfgang Maderthaner: Austro-Marxism. Mass Culture and Anticipatory Socialism, in: »Austrian Studies« 14 (2006), (Culture and Politics in Red Vienna), S. 21–36.
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wurde.22 Hilferdings Auffassung, dass es in der kapitalistischen Entwicklung objektive Tendenzen zu einem gleichsam quantitativen »Hineinwachsen« in den Sozialismus gäbe, findet sich – wenn auch mit differenter politischer Implikation – in den politisch-ökonomischen Schriften Bauers und Renners immer wieder; eine Auffassung, die geradezu zum Leitmotiv austromarxistischer Politik der Zwischenkriegszeit wurde. So spricht Otto Bauer in einer jener überaus raren konkreten Darlegungen einer als ideal imaginierten sozialistischen Zukunft von einer »vollen und wahren«, sich selbst bestimmenden »Kulturgemeinschaft« als ein Produkt gesellschaftlichen Schaffens, Erzeugnis sowohl der Erziehung wie der solidarischen Kooperation in der gesellschaftlichen Arbeit. Der Sohn aus großbürgerlichem, jüdisch-assimiliertem und paradigmatisch liberalem Hause, Protegé Victor Adlers, hatte 1907 im Alter von 26 Jahren seine monumentale Studie »Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie« vorgelegt und war mit einem Schlag zu einem der wichtigsten Theoretiker der Sozialdemokratie aufgestiegen. Im Kapitel über die »Verwirklichung der nationalen Kulturgemeinschaft durch den Sozialismus« entwirft er die Vision einer qualitativ neuartigen Kultur aller »Glieder der künftigen Gesellschaft«, der Identität von »Arbeitenden« und »Genießenden«, die gänzlich neue Persönlichkeiten – »Neue Menschen« – entstehen lassen werde. Eine authentische, integrale, hybride Kultur, geschaffen im bewussten Willensakt der Gesamtheit des Volkes, in ihrer »Wesenheit« durch das Alte mitbestimmt, Erbin aller früheren Kulturen. »Was je Menschen erdacht und ersonnen, gedichtet und gesungen haben, wird nun zum Erbe der Massen.«23 Unter der Führung Otto Bauers, dessen historisch-politisches Werk eine hohe Affinität zu den Theorien Antonio Gramscis aufweist, versuchte die österreichische Sozialdemokratie jedenfalls ein Konzept der kulturellen Hegemonie zu entwickeln, das sich sowohl vom passiven Reformismus der II. Internationale wie auch vom putschistischen Bolschewismus strikt abgrenzte. Nur die geschulte und disziplinierte Arbeiterschaft, die eine geistige und kulturelle Hegemonie über eine von ihr geführte Volksmehrheit erlangt hatte, konnte demnach Garant für die Eroberung der Demokratie sein. Dem Feld der Bildung 22 Rudolf Hilferding: Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus, Wien 1910. 23 Otto Bauer: Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie (Marx-Studien. Blätter zur Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus, Bd. 2), Wien 1907, S. 103. Siehe vor allem auch Richard Saage: Im Schatten Utopias. Utopische und kontraktualistische Elemente im Austromarxismus bei Max Adler und Otto Bauer, in: ders.: Utopische Horizonte. Zwischen historischer Entwicklung und aktuellem Geltungsanspruch, Berlin 2010, S. 107–122.
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wurde somit überragende Bedeutung zugeordnet. Man müsse die Arbeiterschaft in den Stand setzen, »in sich selbst« jene moralischen und intellektuellen Qualitäten zu entwickeln, ohne die »der Sozialismus« nicht zu verwirklichen sei.24 Machtwille und Kulturwille wären derart zu synthetisieren, aus dem »Zustand der Kulturlosigkeit« würde sich eine »geistig regsame«, »nach immer größerem Kulturbesitz ringende Elite« entwickeln. Die Umgestaltung der Gesellschaft war somit an die Veränderung, die umfassende Kulturalisierung des Individuums, an die Vorwegnahme eines, wie er pathetisch apostrophiert wurde, Neuen Menschen im Rahmen der Strategie eines antizipatorischen Sozialismus, eines »Infreiheitsetzen(s) der Elemente der neuen Gesellschaft« innerhalb der bestehenden Verhältnisse gekoppelt.25 Dieses Konzept hat im Wien der Zwischenkriegszeit für eineinhalb Jahrzehnte eine erstaunlich adäquate Umsetzung erfahren.26 Wenige Tage vor den Gemeinderatswahlen am 24. April 1927 erschien in der »Arbeiter-Zeitung« eine in dieser Form bis dahin einmalige »Kundgebung des geistigen Wien«. Der geistig wirkende Mensch, hieß es darin, stehe zwischen und über den Klassen und könne sich keinem politischen Dogma beugen, »denn der Geist allein ist es, der die neuen Wirklichkeiten schafft, deren sich die Politik erst später bemächtigt.« Man wolle demnach keineswegs in den »Kampf der Wirtschaftsauffassungen« eingreifen oder Steuerfragen kommentieren. Allerdings gelte es, das »überpolitische Werk« der großen sozialen und kulturellen Leistung der Wiener Stadtverwaltung anzuerkennen, zu erhalten und zu fördern. Dieses Werk betreue die Bedürftigen, erziehe und entwickle die Jugend nach besten Prinzipien und leite den Strom der Kultur in die Tiefe. »Das Ringen um eine höhere Menschlichkeit und der Kampf gegen Trägheit und Verödung wird uns immer bereit finden. Er findet uns auch jetzt bereit.« Unterzeichnet war die aufsehenerregende Stellungnahme unter anderem von Alfred Adler, Karl Bühler, Sigmund Freud, Hans Kelsen, Alma Maria Mahler, Margarete Minor, Robert Musil, Alfred Polgar, Helene Rauchberg, Anton Webern, Egon Wellesz und Franz Werfel.27 24 Protokoll des Sozialdemokratischen Parteitages 1926. Abgehalten in Linz vom 30. Oktober bis 3. November 1926, Wien 1926, S. 273. 25 Anson Rabinbach: Vom Roten Wien zum Bürgerkrieg, Wien 1989, S. 44 ff. (US-amerikanische Originalausgabe: The Crisis of Austrian Socialism. From Red Vienna to Civil War, Chicago 1983). 26 Werner M. Schwarz/Georg Spitaler/Elke Wikidal (Hg.): Das Rote Wien 1919–1934. Ideen, Debatten, Praxis, Wien 2020. 27 »Arbeiter-Zeitung. Zentralorgan der Sozialdemokratie Deutschösterreichs, Nr. 108 vom 20. April 1927 (»Eine Kundgebung des geistigen Wien«).
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Damit hatten hervorragende Exponenten des Wiener Kultur- und Geisteslebens ein nicht zu übersehendes und keineswegs selbstverständliches Zeichen ihrer Solidarisierung und Übereinstimmung mit einem der außergewöhnlichsten, kreativsten und mutigsten kommunalen Experimente der neueren europäischen Geschichte annonciert. Gerade in seinen kulturpolitischen Dimensionen weist dieses Experiment weit über seinen ursprünglichen, pragmatischen Charakter eines wohlfahrtsstaatlichen und sozialpolitisch inspirierten kommunalen Modells hinaus. Als exemplarisches Unternehmen der Spätaufklärung kann es, in seinem radikal aufklärerischen Gestus, mit gutem Grund als Parallelaktion zum tiefenpsychologischen Projekt Freuds gelten – insofern, als es, ähnlich der Psychoanalyse, die Massenobjekte in selbstbewusste Individuen und (proletarische wie bürgerliche) Subjekte zu transformieren suchte.28 Es sollte dabei nicht übersehen werden, dass das kommunale Experiment des »Roten Wien« eigentlich auf einer doppelten Ironie gründet: Erst der Machtverlust auf Bundesebene 1920 und die damit verbundene Verhinderung der Realisierung weiterer Sozialisierungen oder sozialstaatlicher Maßnahmen brachten die Sozialdemokratie dazu, ihr gesamtes politisches Potenzial auf Wien zu konzentrieren. Und erst dieses Scheitern einer von sozialdemokratischer Seite in den Verfassungsverhandlungen stark forcierten zentralstaatlichen Lösung zugunsten einer stärkeren Autonomie der Bundesländer ermöglichte es dem Bundesland Wien ab 1922, mittels partieller finanzpolitischer Souveränität eine über die Notstandsmaßnahmen und pragmatischen Notwendigkeiten der unmittelbaren Nachkriegszeit hinausweisende Politik der qualitativen kommunalen Reformen zu entwickeln. Die Politik der Gemeinde konzentrierte sich in der Folge vor allem auf den Reproduktionsbereich und hatte eine gänzliche Reorganisation der administrativen wie technischen Funktionen der Stadt zur Voraussetzung. Doch ist das kommunale Experiment, der Versuch des Aufbaus eines »Sozialismus in einer Stadt« nach eineinhalb Jahrzehnten in der Großen Depression der frühen 1930er Jahre zersetzt und schließlich zerstört worden. Bürgermeister Karl Seitz hatte anlässlich der Eröffnung des gewaltigen Wohnkomplexes am Friedrich-Engels-Platz im Juli 1933 ein leidenschaftliches Plädoyer für die Selbstorganisation der Massen gegen jeglichen Führerkult gehalten. Angesichts der akut gewordenen tiefen Krise des Ökonomischen, Sozialen und Kulturellen klingt dieses Plädoyer wie ein vorweg genommener Nachruf: »Und wenn die Welt voll Teufel wäre, dieses Wien wird stehen kühl bis 28 Wolfgang Maderthaner/Lutz Musner: Wiener Beiträge zur historischen Metropolenforschung, in: Historische Anthropologie 10 (2002), S. 436 und 443.
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ans Herz, ein Hort der Demokratie, ein Hort des Geistes, ein Hort der Freiheit, ein Bollwerk gegen Fascismus und Diktatur.«29 Seitz – der Vorsitzende einer gemessen an der Zahl ihrer Mitgliedschaft unerreichten demokratischen Massenpartei – sollte nicht Recht behalten. Jene von der desaströsen globalen Finanz- und Spekulationskrise bereits freigesetzten Dämonen erwiesen sich als fürchterlich effizient und nicht länger kontrollierbar; sie haben dem Wiener Experiment einer Veralltäglichung der sozialen Utopie ein abruptes Ende gesetzt. Es war – seiner praktisch-politischen Intention wie seinem theoretischen Bezugsrahmen nach – von einer Generation, ja von einer Generationseinheit im Mannheimʼschen Sinne getragen worden, an deren äußeren zeitlichen Polen Karl Renner (geb. 14. Dezember 1870) und Otto Bauer (geb. 5. September 1881) stehen.30 In Wien zur Welt gekommen, verbrachte Bauer einen Gutteil seiner Jugend in der nordböhmischen Industriestadt Reichenberg, wo sein Vater, ein geradezu paradigmatischer Liberaler, eine bedeutende Textilproduktion betrieb und wo er sich bereits in jungen Jahren in der politischen Arbeiterbewegung aktiv engagierte. An der Universität Wien studierte er Staatswissenschaften, unter anderem bei Eugen Böhm-Bawerk, dessen legendäres Privatseminar er – neben anderen so prominenten Teilnehmern wie Otto Neurath, Josef Schumpeter oder Ludwig von Mises – regelmäßig besuchte. Bauer schloss sich der sozialdemokratischen Studentenbewegung und dem Sozialwissenschaftlichen Bildungsverein an, trat in engen Kontakt mit bereits etablierten marxistischen Theoretikern und wurde 1907, dem Jahr der ersten Wahlen nach dem allgemeinen und gleichen Männerwahlrecht, Sekretär des sozialdemokratischen Parlamentsclubs und Herausgeber des theoretischen Organs des Austromarxismus »Der Kampf«. In diesem Jahr veröffentlichte er außerdem seine erweiterte Dissertation »Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie« als zweiten Band der von Hilferding und Max Adler herausgegebenen
29 »Arbeiter-Zeitung. Zentralorgan der Sozialdemokratie Deutschösterreichs«, Nr. 195 vom 17. Juli 1933 (»Wien, ein Bollwerk gegen Fascismus und Diktatur«). 30 Die Angehörigen einer Generationseinheit verarbeiten, nach Mannheim, die geistigen Strömungen ihrer Zeit in gleicher oder stark ähnlicher Weise, zeichnen sich durch weitgehend einheitliche Reaktion auf diese Zeitströmungen aus, und teilen Grundintentionen ebenso wie Gestaltungsprinzipien. Siehe: Ulrike Jureit: Karl Mannheim. Das Problem der Generationen: https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0100_gen&object=context&l=de [letzter Zugriff am 18. März 2022].
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»Marx-Studien«; eine Publikation, die, wie bereits oben erwähnt, seinen Ruhm als Theoretiker begründete.31 Im Ersten Weltkrieg kam Bauer als Offizier an der russischen Front zum Einsatz (unter anderem bei Grodek, in der berüchtigten zweiten Schlacht um Lemberg) und geriet noch 1914, nachdem er mehrere Male wegen Tapferkeit vor dem Feind ausgezeichnet worden war, in Gefangenschaft.32 Er hat im sibirischen Kriegsgefangenenlager mit »Das Weltbild des Kapitalismus« einen weiteren Meilenstein der theoretischen Literatur des internationalen Sozialismus geschaffen. Ausgeführt als reine Gedächtnisleistung, ohne die Zuhilfenahme jeglicher Primär- oder Sekundärliteratur, ist es ein Versuch der Konzeption einer zeitgemäß reformulierten marxistischen Erkenntnistheorie, und zugleich Bauers definitive Auseinandersetzung mit der Erfahrung des Krieges, in dem er das letzte Mittel der kapitalistischen Konkurrenz, die ultima ratio der kapitalistischen Produktionsweise schlechthin erblickte. Es war ihm offensichtlich darum zu tun gewesen, ein in letzter Instanz Politik begründendes und Politik anleitendes theoretisches Instrumentarium zu entwickeln, ein auf die kommenden revolutionären Umbrüche anwendbares Theoriegerüst; denn ein europäischer Krieg dieser Dimension und vollkommen neuen Qualität werde, ja müsse notwendigerweise in einen erneuten Zyklus sozialer und nationaler Revolutionen umschlagen.33 1917 aus der Gefangenschaft entlassen, wurde er, nach Wien zurückgekehrt, zum Kopf der Parteilinken, unterstützte jedoch zugleich Victor Adler bei dessen Bemühungen zur Reorganisierung der durch ihre Haltung im Krieg schwer diskreditierten Partei. Im Zuge der revolutionären Umwälzungen am Kriegsende avancierte Bauer zum Staatssekretär des Äußeren, verantwortlich für die strikt an einem Anschluss an die Deutsche Republik orientierte Ausrichtung der österreichischen Außenpolitik. Es war Bauers tiefste Überzeugung, dass der neu geschaffene, von fünf Sechsteln seines alten Wirtschaftsgebietes abgeschnittene Staat ökonomisch und politisch lebensunfähig sein würde. Das in den Friedensverhandlungen zu St. Germain erlassene Anschlussverbot führte zu seiner Demission als Außenminister. Bauer wurde in der Folge zu dem politischen und theoretischen Kopf der österreichischen Sozialdemokratie, der für einen Kurs
31 Einen präzisen biographischen Überblick bietet Richard Saage: Otto Bauer. Ein Grenzgänger zwischen Reform und Revolution, Berlin 2021, S. 11–27. 32 Zu Bauers Kriegskarriere siehe Ernst Hanisch: Der große Illusionist. Otto Bauer (1881– 1938), Wien/Köln/Weimar 2011, S. 80 ff. 33 Wolfgang Maderthaner: Otto Bauer und die russische Revolution, in: Verena Moritz: 1917. Österreichische Stimmen zur Russischen Revolution, Salzburg/Wien 2017, S. 234 ff.
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der fundamentalen Opposition gegen die bürgerlichen Regierungsmehrheiten verantwortlich zeichnete, niemals aber deren formaler Vorsitzender – nicht zuletzt auch deshalb, um einem ständig aggressiver werdenden Antisemitismus keinen weiteren Vorwand zu liefern, die Sozialdemokratie als »verjudet« und »Judenpartei« zu denunzieren.34 Somit steht Bauer geradezu paradigmatisch für die Vielzahl von Angehörigen des freiheitlichen, demokratischen und hoch gebildeten assimilierten Wiener jüdischen Bürgertums der zweiten und dritten Generation, die sich der Sozialdemokratie angeschlossen hatten; sie haben den politischen Reformismus, den kulturellen Optimismus und nicht zuletzt den im kommunalen Experiment des »Roten Wien« evident werdenden »realen Utopismus« der zwischenkriegszeitlichen Bewegung entschieden geprägt. Wie kaum ein zweiter hat Bauer diesen sozialen Typus in all seiner Faszination und Widersprüchlichkeit verkörpert. So fundiert und gefestigt er in seinem Weltbild auch gewesen ist, so klar und überzeugend er als führender Theoretiker des Austromarxismus auch aufgetreten sein mag, als praktischer Politiker blieb er, jedenfalls in den entscheidenden Momenten, zögerlich, zaudernd und von eigentümlicher Unbestimmtheit. Wie überhaupt Widersprüche und Gegensätze die Person und die politische Figur Otto Bauer durchziehen. Wie alle Großen in einem hohen Maß uneitel, konnte er, der bereits im Alter von zehn Jahren ein in klassischem Versmaß gehaltenes Drama »Napoleons Ende« als Weihnachtsgabe für seine Eltern verfasst hatte, vor allem Intellektuellen gegenüber bis zur Grobheit abweisend sein und seine geistige Überlegenheit bis hin zur Arroganz ausspielen. Den in seiner Partei organisierten Massen zollte er hingegen jeden Respekt, und als hinreißender Redner konnte er über sich hinauswachsen. Er galt gemeinhin als Theoretiker und hat dennoch mehr Artikel über die Fragen des praktischen Lebens der arbeitenden Menschen geschrieben als irgendwer sonst in seiner Gesinnungsgemeinschaft. Er war ein überzeugter Internationalist und dennoch blieb er zugleich deutschnational. Sein (primär kulturell determinierter) Deutschnationalismus verstand sich in der Tradition der 1848er-Revolution als republikanisch und demokratisch; und wenn er als erster Außenminister der Republik den Anschluss an ein demokratisches Deutschland anstrebte, so wurde eben auch auf sein Betreiben hin der Anschlussparagraph nach Hitlers Machtübernahme 1933 aus dem Parteiprogramm der österreichischen Sozialdemokratie gestrichen. Bauers tragische Rolle in den Bürgerkriegstagen des Februar 1934 ist in der Historiographie bis 34 Joachim Riedl: Sozialdemokratie und Judentum, in: Androsch/Fischer/Maderthaner, Vorwärts [wie Anm. 3], S. 224–231.
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in jedes einzelne Detail durchleuchtet worden. Er, der mit einem sicheren Todesurteil zu rechnen gehabt hätte, hat sich den austrofaschistischen Häschern durch seine Flucht in das Brünner Exil entzogen.35 Die tiefgreifenden ökonomischen wie gesellschaftlichen Verwerfungen im Gefolge der globalen Finanz- und Spekulationskrise der frühen 1930er Jahre, die »reaktionäre Konjunktur« dieser Zeit, die psychischen Erschütterungen und politischen Unwägbarkeiten des Exils werden fürderhin sein gesamtes analytisches Denken und politisches Wollen bestimmen. Zum einen hat er in seinem 1936 verfassten Spätwerk »Zwischen zwei Weltkriegen?« die Perspektive eines »Integralen Sozialismus« entwickelt.36 Zum anderen ging es Bauer in einer Vielzahl von Beiträgen um die strukturelle Durchleuchtung jener plebejischen, von antikapitalistischen und antisozialistischen Ressentiments getragenen Rebellion der »Deklassierten aller Klassen«, die im Gefolge der großen Depression Massencharakter annahm. In Paris, der zweiten Station seines Exils, hat Bauer bis zum Tag seines Ablebens am 4. Juli 1938 an einer postum im »Sozialistischen Kampf« erschienenen Analyse der Arbeits-, Wirtschafts- und Staatsverfassung des deutschen Faschismus gearbeitet. Die Ausgestaltung der Staatsmacht zu schrankenloser totalitärer Gewalt, im Zusammenspiel mit den Mitteln der »dirigierten Ökonomie« – also der planmäßigen gesellschaftlichen Steuerung und Regulierung des Wirtschaftslebens auf Basis des weiter aufrecht erhaltenen Privateigentums an Produktions- und Zirkulationsmitteln – hatte ein bemerkenswert dynamisches wirtschaftliches und militärisches Erstarken Deutschlands in die Wege geleitet. Der kapitalistische Etatismus erlangt, so Bauer, im faschistischen Staat seine vollkommenste Entwicklung. Dazu tritt ein weiteres, entscheidendes Moment, das dem deutschen Faschismus ein enormes Attraktivitätspotenzial eröffnen sollte: die barbarische, durch keinerlei ethische oder zivilisatorische Schranken gehemmte Realisierung antisemitischer Programmatik. Darin entstand das wohl wirksamste Mittel zur Mobilisierung breiter Massen und zu deren Bindung an den Nationalsozialismus: Die Enteignung der jüdischen Kapitalisten, die Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschafts- und Gesellschaftsleben überhaupt. Bauers sublime, wenngleich, wie die Nachgeborenen wissen, durchweg illusorische Argumentation orientiert sich nunmehr an einer möglichen Zerstörung der gesellschaftlichen Wurzeln des Antisemitismus im Akt seiner 35 Otto Bauer. Zum 60. Todestag. Dokumentation 4/1998 des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung. 36 Otto Bauer: Zwischen zwei Weltkriegen. Die Krise der Weltwirtschaft, der Demokratie und des Sozialismus, Bratislava 1936.
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brutalen Verwirklichung selbst – war doch dadurch das grundsätzliche Ausbeutungsverhältnis keineswegs aufgehoben und erschien die Perspektive einer massenhaften Erhebung gegen den faschistischen Zwangs- und Gewaltapparat zum Zeitpunkt der Abfassung des Manuskripts, und aus der Perspektive der Pariser politischen Emigration, nicht zur Gänze irreal. Otto Bauer konnte diese seine Argumentation, diese seine theoretische Fundierung einer großen antifaschistischen »Volksbewegung« nicht mehr zu Ende führen; abrupt und unvermittelt reißt der Gedankengang mitten im Satz ab.37 Zu Bauers großem innerparteilichen Gegenspieler war sein enger Weggefährte aus der Früh- und Formationsperiode der austromarxistischen Denkschule, Karl Renner, herangewachsen. Tatsächlich erweist sich in der Retrospektive die historisch-politische Figur Karl Renner, gleich Bauer, als ebenso widerspruchsvoll wie von außergewöhnlicher Größe. Der Theoretiker, Wissenschaftler, pragmatische Parteipolitiker, Staatsmann, Genuss- und Sinnenmensch, der sowohl die erste wie auch die zweite österreichische Republik an entscheidender Stelle mitbegründete, hat wie kein zweiter Proponent des Austromarxismus Zustimmung und Widerspruch, Bewunderung und Ablehnung hervorgerufen. Lenin hat ihn als einen der »verächtlichsten Lakaien des deutschen Imperialismus« und als »Verräter am Sozialismus« gebrandmarkt,38 und war doch fasziniert von Renners These einer im Weltkrieg »durchstaatlichten« Ökonomie, die, ihrer Eigendynamik gemäß, zum »Hebel des Sozialismus« werden könne. Für Fritz Adler und die österreichische Kriegslinke wurde Renner zum Inbegriff eines prinzipienlosen Pragmatismus und Adler handelte in seiner berühmten Verteidigungsrede vor dem Ausnahmegericht die fundamentale Kritik an Burgfriedenspolitik und Sozialpatriotismus explizit an der Person Renners ab.39 Stalin fühlte sich – nach einem halbjährigen Aufenthalt in Wien 1913 – zu einer überaus kruden und polemischen Kritik an den Thesen Renners zur Nationalitätenfrage (wie auch an jenen Bauers) berufen – und erinnerte sich des alten Sozialdemokraten im April 1945, als es darum ging, aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs heraus so rasch als möglich eine funktionierende Zivilverwaltung aufzubauen.40 37 Otto Bauer: Der Faschismus. Vom Weltkrieg zum Faschismus, in: Der Sozialistische Kampf/La Lutte Socialiste, Nr. 4, Paris, 16. Juli 1938, S. 75–83. 38 Lenin, Brief an die österreichischen Kommunisten, in: ders., Werke, Bd. 31, Berlin 1959, S. 256–258. 39 Michaela Maier/Georg Spitaler (Hg.): Friedrich Adler vor dem Ausnahmegericht. Das Attentat gegen den Ersten Weltkrieg, Wien 2016. 40 Karl Renner (1870–1950). An der Wende zweier Zeiten. Dokumentation 4/2000 des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung, S. 2 f. Eine brillante Einführung in das
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Renner selbst hat sich durchaus ironisch als den »letzten Monarchisten« bezeichnet, waren es doch seine theoretischen Arbeiten und praktischen Vorschläge zur Nationalitätenproblematik gewesen, die dem zerfallenden habsburgischen Vielvölkerstaat eine Perspektive in letzter Instanz hätten bieten können. Nach Renners Vorstellungen sollte – auf der Grundlage personeller Autonomie und unabhängig von territorialen Bindungen – jeder Bürger der Monarchie Mitglied autonomer nationaler Selbstverwaltungskörper sein (Personalitätsprinzip). Explizites Ziel war die Umformung des Vielvölkerstaates in eine »Eidgenossenschaft« der österreichischen Nationen, eine »demokratische Schweiz im Großen mit monarchischer Spitze«. Seinem Ideal eines großräumigen, übernationalen Wirtschafts- und Staatenverbandes blieb er bis weit über das Ende des Habsburgerstaates hinaus treu. Die vehemente Ablehnung der »Kleinstaaterei« und ein virulenter Deutschnationalismus mögen (wenn auch nicht die einzigen) Gründe dafür gewesen sein, dass er, trotz unbezweifelbarer Gegnerschaft zum Nationalsozialismus, den 1938 vollzogenen Anschluss als historischen Fortschritt begrüßte. In einem Zeitungsinterview kündigte er an, bei der am 10. April 1938 anstehenden Volksabstimmung über den Anschluss mit »Ja« stimmen zu wollen.41 Er hat diesen Schritt ausführlich und mit großer Zivilcourage in der englischen »World Review« noch im Mai desselben Jahres begründet und von den Zwängen eines diktatorischen »militärischen Staatssozialismus« und einem »unfassbaren Rassenregime« gesprochen: »Nicht meine Schuld, noch die der österreichischen Sozialdemokratie ist es, dass der Anschluss nicht auf demokratischem Weg verwirklicht ist, dass eine wirtschaftliche Entente der Donaustaaten gescheitert ist.«42 Und selbst Otto Bauer, der in dem im Pariser Exil erscheinenden »Sozialistischen Kampf« vehement gegen Renners Ankündigung aufgetreten war, merkte in einem Brief an Arnold Steinbach in den USA an, dass die Erklärung unter dem Druck von Drohungen und Erpressungen zustande gekommen, inhaltlich aber immerhin nicht ohne Würde gewesen sei. Renners imposantes theoretisches Werk ist jedenfalls von hoher inhaltlicher Konsistenz. Es postuliert den überragenden Wert selbst der formalen Demokratie, zeichnet sich durch Fixierung auf Wesen und Funktion des Staates aus und greift methodologisch auf einen durchaus offen konzipierten Werk Renners bietet Richard Saage: Der erste Präsident. Karl Renner – eine politische Biographie, Wien 2016. 41 Siegfried Nasko (Hg.): Karl Renner in Dokumenten und Erinnerungen, Wien 1982, S. 131. 42 Ebenda, S. 136 f. (Originalbeitrag in: »World Review«, Bd. 5/Mai 1938, S. 22–27).
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Marxismus zurück. Renners induktiver Sozialismus kommt präzise in seinen wohl bedeutendsten Monographien zum Ausdruck: »Die soziale Funktion der Rechtsinstitute«43 sowie »Die Wirtschaft als Gesamtprozess und die Sozialisierung«.44 Eine Prämisse aber durchzieht sein gesamtes Werk: sein Glaube an eine fortschrittlich-evolutionäre Entwicklung und seine Absage an jeglichen »Revolutionarismus«. Die Idee eines Staatsstreichs von unten und einer Verordnung des Zukunftsstaates per Dekret von oben geißelte er als »kindsköpfige Illusion« und als »Dekretinismus«. Renner wurde in Untertannowitz nahe Nikolsburg an der deutsch-tschechischen Sprachgrenze als, wie er in seinen Erinnerungen schreibt, 17. oder 18. Kind einer bettelarmen Weinbauernfamilie geboren.45 Immer wieder sollte er in späteren Jahren davon berichten, welch prägenden Einfluss das Schicksal seiner Eltern, ihre Verarmung, ihre Vertreibung von Haus und Hof und ihre Einlieferung in ein Armenhaus auf seine spätere politische Einstellung genommen hat. Er promovierte in Wien, wurde Parlamentsbibliothekar und veröffentlichte unter diversen Pseudonymen eine Reihe Aufsehen erregender volkswirtschaftlicher und staatspolitischer Studien. 1907 wurde er für die Sozialdemokratie in den Reichsrat gewählt, ein Jahr darauf auch in den niederösterreichischen Landtag. Der Mitbegründer der »Naturfreunde« trat 1911 an die Spitze der Konsumgenossenschaftsbewegung und 1922 an die Spitze der Arbeiterbank; schon während des Ersten Weltkrieges war er, als Direktor des Ernährungsamtes, erster österreichischer Sozialdemokrat in einer Regierungsfunktion gewesen. Am 31. Oktober 1918 wurde Karl Renner Staatskanzler und führte in dieser Funktion die österreichische Delegation bei den Friedensverhandlungen in St. Germain. Die Bestimmungen des »Diktatfriedens« waren dann entscheidender Anlass für einen merklichen Rückzug aus dem politischen Tagesgeschäft; erst nach der Katastrophe des Justizpalastbrandes am 15. Juli 1927 wurde er wieder stärker aktiv und im Parteivorstand zum großen Gegenspieler Otto Bauers, zu einer Art Galionsfigur der Parteirechten.46
43 Karl Renner (Pseudonym Josef Karner): Die soziale Funktion der Rechtsinstitute, besonders des Eigentums, Wien 1904 (erschienen als Separatdruck des ersten Bandes der Marx-Studien, der zudem Beiträge von Rudolf Hilferding zu Böhm-Bawerks »MarxKritik« und Max Adler zu »Kausalität und Teleologie im Streite um die Wissenschaft« enthielt). 44 Karl Renner: Die Wirtschaft als Gesamtprozess und die Sozialisierung, Berlin 1924. 45 Ders.: An der Wende zweier Zeiten. Lebenserinnerungen, Wien 1946, S. 11 f. 46 Androsch/Fischer/Maderthaner, Vorwärts [wie Anm. 3], S. 222f; zu den Ereignissen des 15. Juli 1927 siehe Wolfgang Maderthaner/Lutz Musner: Der Aufstand der Massen –
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Im April 1931 zum Ersten Nationalratspräsidenten gewählt, bemühte Renner sich nach dem im März 1933 unternommenen Staatsstreich des christlichsozialen Kanzlers Engelbert Dollfuß ebenso intensiv wie aussichtslos um den Ausgleich mit den nunmehr autoritär regierenden, »austrofaschistischen« Machthabern. Er ging schließlich so weit, einen Verfassungsentwurf zu präsentieren, der die Aufgabe jeglicher sozialdemokratischer Positionen und ein mehr oder minder friedliches Hineinwachsen in einen christlich-autoritären Ständestaat bedeutet hätte. Dennoch wurde auch er im Zuge der Bürgerkriegsunruhen des Februar 1934 verhaftet und hatte als bereits 63-Jähriger eine einhunderttägige Haft durchzumachen. Er ertrug sie mit der ihm eigenen ironischen Gelassenheit, zog sich aber nach seiner Freilassung gänzlich ins Privatleben zurück. Die Nazi-Zeit überstand er – weitgehend unbehelligt, Außenkontakte nur im engsten Freundeskreis pflegend – in seinem Anwesen in der niederösterreichischen Kleinstadt Gloggnitz.47 Im April 1945 kehrte er in überaus eindrucksvoller Manier auf die politische Bühne zurück, durchbrach im Moment des Zusammenbruchs des Naziregimes die »innere Emigration« und reaktivierte spektakulär sein Konzept einer freiheitlich-demokratischen sozialen Republik. Er stelle sich, wie Renner bei Kriegsende, am 17. April 1945, an den ehemaligen christlich-sozialen Finanzminister und Bürgermeister von Baden Josef Kollmann schrieb, mit aller Entschiedenheit »auf den Standpunkt der Verfassung von 1920«, bestreite die Legalität wie die Vernunft aller Novellen dazu, »insbesondere jener seit 1934«, und wolle, dass »die zweite Republik in allem und jedem die Traditionen der ersten Republik von 1918 bis 1920« aufnehme, und zwar »ohne die untergrabenden Einflüsse der Faschisten aller Spielarten.«48 Es ist diese Position eines auf eine lange Traditionslinie verweisenden sozialdemokratischen Reformismus, auf die Renner die in den Apriltagen 1945 neu begründete Partei festzulegen vermochte, während der linke Rigorismus der Illegalität erstaunlich wirkungs- und folgenlos blieb. Als letzter frei gewählter Parlamentspräsident nahm Renner sofort Kontakt mit den Sowjets auf; andererseits hatte Stalin explizit nach ihm suchen lassen, in der Hoffnung, in dem beliebten, aber betagten Sozialdemokraten eine willige Marionette für seine weiteren Pläne zu finden. Nicht nur in diesem Punkt sollten sich die Sowjets getäuscht haben. Unbeirrbar setzte RenPhänomen und Diskurs im Wien der Zwischenkriegszeit, in: Roman Horak et al. (Hg.): Stadt.Masse.Raum. Wiener Beiträge zur Archäologie des Popularen, Wien 2001, S. 9 ff. 47 Für einen konzisen Überblick zu Renners Biographie siehe Michael Rosecker: Karl Renner. Ein republikanisches Fundament (1870–1950), Bad Vöslau 2020. 48 Nasko, Karl Renner [wie Anm. 41], S. 151.
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Wolfgang Maderthaner
ner freie Wahlen noch im Jahr der Befreiung durch, am 2. Dezember 1945 wurde er mit einstimmigem Votum der Volksvertretung zum Präsidenten der wiedererstandenen Republik Österreich gewählt. Mit der Person dieses an Jahren ältesten Exponenten der zweiten Generation der Arbeiterbewegung ragt die – andernfalls mit der »Generation Ebert« durchaus vergleichbare – austromarxistische Kohorte noch in die Konstituierungsjahre der »Sozialistischen Partei Österreichs« wie auch der Zweiten Republik insgesamt hinein. Schon 1930, im ersten Jahr der Großen Depression, hatte Bauer Renners Fähigkeit angesprochen, mit »beneidenswerter Intuition das Neue, das Werdende rings um uns zu erfassen.«49 Renner war, wie alle anderen Austromarxisten auch, von der Überlegenheit, ja der Notwendigkeit des übernationalen Staates zutiefst überzeugt. Nunmehr wird er, in dem ihm verbleibenden halben Jahrzehnt, diese erstaunliche intellektuelle wie pragmatisch-politische Wendigkeit zur Erlangung einer letzten großen Zielsetzung mobilisieren: Der Etablierung der Neutralität/Blockfreiheit des wiedererstandenen republikanischen Kleinstaates wie auch, in ersten Ansätzen, einer sozialen Wohlfahrtsstaatlichkeit.
49 Otto Bauer: Ein Brief an Karl Renner, in: Der Kampf. Sozialdemokratische Monatsschrift, Jg. 23, Nr. 8/August 1930, S. 305–311, Zitat S. 307.
Jean-Numa Ducange
Pazifismus, Krieg, Republikanismus, Marxismus. Jean Jaurès und seine Erben auf dem Prüfstand der Geschichte*
Die 1870er Jahre waren in Frankreich von großen politischen Umbrüchen gekennzeichnet. Die Pariser Kommune (von März bis Mai 1871) war Revolution und Bürgerkrieg zugleich und prägte das Land nachhaltig. Die am 4. September 1870 ausgerufene Dritte Republik blieb bis 1879 sehr konservativ, bis sich eine republikanische Mehrheit durchsetzte und Jules Grévy zum Präsidenten der Republik gewählt wurde.1 Während dieser Zeit bestand der Sozialismus aus kleinen, stark zerstreuten Gruppierungen, die eine absolute Minderheit darstellten. Ab den 1880ern und vor allem in den 1890er Jahren gewannen die verschiedenen von sozialistischen Ideen inspirierten politischen Gruppierungen langsam Anhänger und Wähler in größerem Stil.2 Die Generation der künftigen sozialistischen Führungsriege, die in den 1870er Jahren geboren wurde, war von dieser Entwicklung geprägt. Diese Leitfiguren, die 1905, zum Zeitpunkt der Gründung der Vereinigten Sozialistischen Partei (SFIO, französische Sektion der Arbeiter-Internationale), in ihren Dreißigern waren, standen an der Spitze einer ab da fest im ganzen Land etablierten Organisation, die mit der Zeit einen immer stärkeren Einfluss auf die Geschichte des Landes nehmen würde. Drei Merkmale sind kennzeichnend für diese Generation der Sozialisten und tragen zu ihrem besseren Verständnis bei. Der erste Aspekt betrifft die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg zwischen 1914 und 1918. Obwohl sie * 1 2
Der Beitrag wurde von Susanne Schneider und Nicoline Erichsen vom Französischen ins Deutsche übersetzt. Vincent Duclert: La République imaginée 1870–1914, Paris/Berlin 2010. Zwei ältere Werke können als chronologische Referenz herangezogen werden: Georges Lefranc: Le mouvement socialiste sous la Troisième République (1875–1940), Paris 1963; Daniel Ligou: Histoire du socialisme en France, Paris 1962; meine Biographie über Jules Guesde beschäftigt sich mit der Entstehung dieser Gruppen: Jules Guesde. The Birth of Socialism and Marxism in France, New York 2020; es empfiehlt sich das »Dictionnaire biographique du mouvement ouvrier français«, um sich über die in diesem Artikel zitierten Personen zu informieren. Der »Maitron« ist auch online verfügbar: https://maitron.fr/ [letzter Zugriff am 15. Mai 2023].
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sich 1914 einmütig der »heiligen Union« (union sacrée) anschlossen [dem französischen Gegenstück zum deutschen »Burgfrieden«, Anm. d. Hg.], verliefen ihre Wege danach in sehr unterschiedliche Richtungen. Aus der Zeit des Ersten Weltkriegs nahmen sie aber fast alle den Wunsch nach einer friedlichen Weltordnung mit.3 Das sollte den Pazifismus zu einem tragenden Element ihrer Politik machen. Der zweite Aspekt betrifft ihr Verhältnis zur Republik und zum Marxismus.4 Der französische Sozialismus kennzeichnete sich damals durch den Versuch einer originären Synthese von althergebrachten republikanischen Einflüssen, darunter vor allem den Forderungen der Französischen Revolution von 1789, sozialistischen Theorien, die zu Anfang des 19. Jahrhunderts aufkamen, und dem Marxismus, der zu eben jener Zeit, also zwischen 1870 und 1880, entstand. Dieses Erbe wurde auf den Prüfstand der Realität gestellt, als die Sozialisten 1936 zum ersten Mal an die Macht kamen. Der dritte und letzte zentrale Aspekt betrifft den Internationalismus: Der französische Sozialismus dieser Generation war weit von einer isolierten Existenz entfernt und beruhte – vor allem nach 1917 – auch auf externen Modellen und Gegenmodellen (aus Deutschland, Österreich und Großbritannien)5 sowie auf der Herausforderung, einen Umgang mit der Russischen Revolution und dem Aufkommen einer kommunistischen Partei in Frankreich zu finden.6 Alle sozialistischen Zeitgenossen in Frankreich wurden von zwei zentralen Figuren geprägt, welche die beiden Hauptströmungen innerhalb des Sozialismus zu Anfang des 20. Jahrhunderts repräsentierten: Jean Jaurès (1859–1914)7 und Jules Guesde (1845–1922). Ersterer verkörperte einen in der Republik verankerten Sozialismus und war eher ein Reformer, der zugleich am Ideal der Revolution festhielt. Er wollte die Institutionen mit ihren eigenen Mitteln demokratisieren. Der Zweite stand eher für einen vom Marxismus geprägten Sozialismus, eine Rhetorik, die vom Klassenkampf bestimmt war, und schlug den Weg des Revolutionärs ein. Das stand einem gewissen Pragmatismus aber nicht im Wege, wenn die Sozialisten auf lokaler Ebene (bzw. vor allem auf 3
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Zum Verständnis dieser Ansätze aus transnationaler und komparativer Sicht vgl. Elisa Marcobelli: Internationalism Toward Diplomatic Crisis. The Second International and French, German and Italian Socialists, New York 2021. Thierry Hohl: »Le Marx des socialistes. L’époque de Léon Blum«, in: Jean-Numa D ucange/ Antony Burlaud (Hg.): Marx, une passion française, Paris 2018, S. 52–61 (erscheint 2023 auch auf Englisch). Zu den methodologischen Aspekten siehe Talbot Imlay: The Practice of Socialist Internationalism. European Socialists und International Politics 1914–1960, Oxford 2017. Jean Vigreux et al.: Le parti rouge. Une histoire du PCF 1920–2020, Paris 2020. Gilles Candar/Vincent Duclert: Jean Jaurès, Paris 2014.
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kommunaler Ebene) Machtpositionen errangen. Die Geschichtswissenschaft tendiert dazu, die Anhänger von Jaurès überzubewerten, vor allem Léon Blum (1872–1950), den späteren Regierungschef der Volksfront, der 1936 als erster Sozialist in der Geschichte Frankreichs eine derart verantwortungsvolle Position innehaben sollte.8 Auch den »Guesdisten« (geprägt von Guesde) kommt Bedeutung zu. Insgesamt entwickelte sich diese Generation im Schatten der Leitfiguren aus der vorherigen Generation: Vor 1914, zur Zeit von Jean Jaurès, Jules Guesde und Édouard Vaillant (1840–1915; als Ältester und ehemaliges Mitglied der Kommune verfolgte er die Ideale aus der Zeit des großen Umbruchs von 1871 weiter) war es schwierig, sich durchzusetzen. Alle drei waren berühmte Persönlichkeiten, denen man für ihr Engagement Respekt entgegenbrachte. Ihren Durchbruch sollten ihre Nachfolger Anfang der 1920er Jahre schaffen, als die drei Anführer verstorben waren (Guesde lebte bis 1922). Der Historiker Georges Lefranc bezeichnete Jaurès als »Kopf und Herz der Partei« (tête et cœur du parti) in den Jahren vor 1914.9 Der Einfluss von Guesde wurde seitdem von der Geschichtswissenschaft neu bewertet. Nichtsdestotrotz steht Jaurès dominierende Rolle außer Frage. 1919 war die Partei gespalten zwischen Blum, dem Kopf der Partei, und Paul Faure (1878–1960), dem Herz der Partei, so Lefranc weiter.10 Seine Ausführungen verdeutlichen, dass zwei Männer ab diesem Zeitpunkt die beiden Flügel der Sozialistischen Partei (Parti Socialiste) verkörperten: Paul Faure und Léon Blum.11 Der Werdegang dieser beiden Schlüsselfiguren, die die SFIO von 1919 bis 1940 als Doppelspitze anführten, soll der Hauptgegenstand dieses Artikels sein. Daneben finden immer wieder auch andere Personen dieser Generation Erwähnung, die denselben Problemen gegenüberstanden, und deren Biographien herangezogen werden sollen. Pierre Renaudel (1871–1935), Nachfolger von Jean Jaurès an der Spitze der Zeitung »l’Humanité«, stand für den »rechten« Flügel der SFIO und die »Neo-Reformer«; Jean Longuet (1876–1938), Enkel von Karl Marx, suchte einen Mittelweg zwischen einer gemäßigten Sozialdemokratie und dem Kommunismus;12 Albert Thomas (1878–1932), erklärter Reformer, Minister während des Kriegs, engagierte sich zudem stark in inter-
8 Frédéric Monier: Léon Blum. La morale et le pouvoir, Paris 2016. 9 Georges Lefranc, Le mouvement socialiste [wie Anm. 2], S. 242 f. 10 Ebenda. 11 Zu Paul Faure siehe Bernard Dougnac: Paul Faure (1878–1960), Doktorarbeit im Fachbereich für zeitgenössische Geschichte an der Université de Bordeaux III, 2006. 12 Gilles Candar: Jean Longuet. Un internationaliste à l’épreuve de l’histoire, Rennes 2007.
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nationalen Organisationen.13 Zu diesen fünf Männern kommen aus derselben Generation hinzu: Jean-Baptiste Lebas (1878–1944) stand für den Sozialismus des Nordens, während André Morizet (1876–1944), Bürgermeister von Boulogne-Billancourt, denjenigen auf kommunaler Ebene repräsentiert. Das Milieu war eindeutig männlich geprägt. Die einzige Frau von nationaler Bedeutung war Louise Saumoneau (1875–1950), die als Propagandabeauftragte erst spät eine Schlüsselposition in der SFIO übernahm. Neben den verschiedenen individuellen Werdegängen soll das Augenmerk auch auf ihrer jeweiligen Rolle auf den Kongressen der SFIO und deren programmatischen Ausarbeitungen sowie – wo dieses existiert – ihrem intellektuellen Werk liegen.
Vom Sozialismus über den Krieg bis hin zum Pazifismus Wenden wir unsere Aufmerksamkeit zunächst den beiden Leitfiguren Léon Blum und Paul Faure zu. Als Friedrich Ebert im Februar 1919 zum ersten Reichspräsidenten Deutschlands gewählt wurde, lenkten sie die Geschicke der Sozialistischen Partei in Frankreich. Vor 1914 war ihre Bedeutung noch eher zweitrangig. Nachdem sie in den Vordergrund gerückt waren, führten sie die Linie der zwei Gründerväter der SFIO von 1905, Jean Jaurès und Jules Guesde, fort. Der im April 1872 geborene Blum stammte aus einer jüdisch-elsässischen Familie und schien anfangs nicht dafür prädestiniert, eine zentrale Rolle in der sozialistischen Politik zu übernehmen. An der École Normale Supérieure erwies er sich als brillanter Student, verzichtete jedoch zugunsten einer juristischen Karriere auf eine Stelle als Professor. Sein Interesse für Literatur ging anfangs auch mit anarchistischen Überzeugungen einher. 1898 näherte er sich schließlich dem Sozialismus an. 1902 wurde er Mitglied der Französischen Sozialistischen Partei (Parti Socialiste Français).14 Seit dieser Zeit stand er Jean Jaurès nahe. Dieser vertraute ihm den Feuilletonteil seiner 1904 gegründeten Zeitung »l’Humanité« an. Blum kannte sich damals mit den internen Querelen der Sozialistischen Partei kaum aus und wirkte eher wie ein literarischer Dandy,
13 Adeline Blaszkiewicz: Albert Thomas. Le socialisme en guerre 1914–1918, Rennes 2015. 14 Die PSF war eine Partei mit reformistischen Tendenzen, die als Opposition zur »Sozialistischen Partei Frankreichs« (»Parti Socialiste de France«) auftrat und in der der Marxist Jules Guesde aktiv war. Die Sozialistische Partei Frankreichs und die Französische Sozialistische Partei verschmolzen 1905 zur französischen Sektion der Sozialisten-Internationale (Vereinigte Sozialistische Partei).
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fernab der großen Entscheidungen des politischen Apparats. 1907 erlangte er Bekanntheit mit der Veröffentlichung seines Buches »Du Mariage«, in dem er die offene Ehe verteidigte. Das Buch löste einen Skandal aus, in dessen Folge sich Blum heftigsten Angriffen nicht nur von rechts, sondern auch aus dem eigenen Lager ausgesetzt sah.15 Paul Faures Werdegang verlief hingegen ganz anders. Er wurde im Februar 1878 als Sohn eines republikanischen Anwalts geboren und fand über Jules Guesde zum Sozialismus. 1901 trat er der französischen Arbeiterpartei bei, aus der, unterstützt durch weitere Strömungen, 1902 die Sozialistische Partei Frankreichs hervorging. Im guesdistischen Sozialismus wurden Revolution und Klassenkampf leidenschaftlich verteidigt. Der Kreis um Jaurès fügte dort, wo die Befürworter von Guesde, wie Faure, auf dem Marxismus und dem Klassenkampf bestanden, auch republikanische Elemente hinzu. Doch ihre ideologischen Überzeugungen hielten die Guesdisten nicht davon ab, sich zur Wahl aufstellen zu lassen. Faure wurde 1904 Bürgermeister der Stadt Grignols in seiner Heimat, der Dordogne. Die Teilnahme an Wahlen und das Stellen von Abgeordneten waren Punkte, bei denen sich alle Sozialisten einig waren. Zwischen den Standpunkten von Jaurès und Guesde gab es allerdings auch große Unterschiede. Guesde und die Guesdisten bildeten eine strukturierte und organisierte Strömung, ohne die die Sozialistische Partei nicht existiert hätte. Man sprach von Guesdisten, nicht aber von Jauresisten. Jaurès begründete genau genommen keine eigene Strömung innerhalb der Partei. Seine Anhänger – zu denen auch Blum gehörte – sind als »Jaurèsiens« bekannt. Wenn die Sozialistische Partei Jaurès auch zweifellos eine größere Wählerschaft zu verdanken hatte, so war es der Kreis um Guesde, der dafür sorgte, dass die Partei in den größten Verbänden vertreten war. Die Loyalität von Paul Faure widerspricht zudem der Vorstellung, dass Jaurès die guesdistischen Tendenzen im französischen Vorkriegssozialismus gänzlich an den Rand gedrängt hätte. 1914 kam es zu einem grundlegenden Bruch. Auch wenn es noch bis Juni 1936 dauern sollte, bis eine sozialistische Regierung zustande kam, so übernahmen die Sozialisten doch schon vorher Machtpositionen.16 1899 waren sich die Guesdisten und Anhänger Jaurès uneins darüber, ob ein sozialistischer Minister Teil einer Allparteienregierung werden sollte. Guesde war dagegen,
15 Léon Blum: Du mariage, Paris 1907. 16 Zur Bedeutung des Bruchs, den der Krieg für die Sozialisten mit sich brachte, siehe die ersten Kapitel von Romain Ducoulombier: »Camarades! La naissance du Parti communiste en France«, Paris 2010.
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Jaurès dafür. Mit Beginn des Krieges stellten sich alle Sozialisten hinter die »heilige Union« (»union sacree«). Paul Faure war anfangs, wie Léon Blum, überzeugt von der Notwendigkeit nationaler Verteidigung. Faure unterstützte sein Vorbild Jules Guesde, der Ende August 1914 den Regierungsposten als Verteidigungsminister übernahm. Blum seinerseits wurde Kabinettsleiter unter Marcel Sembat, der zwischen August 1914 und Dezember 1916 zweimal als Minister für öffentliche Arbeiten amtierte.17 Alle Vertreter der 1870er Generation unterstützten die »heilige Union«, vom linken bis zum rechten Flügel. Manche blieben ihr bis zum Kriegsende treu, wie Pierre Renaudel; andere, wie Paul Faure, näherten sich ab 1915 der pazifistischen Minderheit an.18 Albert Thomas legte mit Sicherheit den weitesten Weg zurück: Ab 1910 war er Abgeordneter für das Department Seine und zwischen 1914 und 1917 erst Unterstaatssekretär und dann Rüstungsminister. In seinen Aufgabenbereich fielen vor allem die Armee und die Kriegführung, doch gab ihm der Ministerposten auch die Gelegenheit, seine reformistischen Überzeugungen umzusetzen und zwischen Arbeitgebern und Arbeitern zu vermitteln. Aber diese Beteiligung löste während des Krieges auch Unzufriedenheit und Proteste aus. Ein Teil der Sozialisten fand langsam wieder zu seiner Abneigung gegenüber dem Militarismus zurück und verlieh seinen pazifistischen Überzeugungen Ausdruck. Am Ende des Krieges standen der Pazifist Jean Longuet und Pierre Renaudel, der bis zum bitteren Ende kämpfen wollte, auf gegnerischen Positionen. Vor allem die Russische Revolution von 1917 schuf einen Graben zwischen den beiden Männern. In der Nachkriegszeit war der Bolschewismus für viele sozialistische Anhänger eine Art Wiedergeburt, eine Rückkehr zu den Ursprüngen, die im Gegensatz zu der Entwicklung stand, die Albert Thomas verkörperte. Auf dem 18. Kongress der SFIO im Dezember 1920 entschied sich die Mehrheit der Abgeordneten der Partei, der Dritten Kommunistischen Internationale beizutreten, und so entstand die Französische Sektion der Kommunistischen Internationalen, die 1922 zur Kommunistischen Partei Frankreichs (Parti Communiste Français, PCF) wurde. Léon Blum argumentierte auf dem Kongress von Tours dagegen, während Longuet versuchte, einen Mittelweg einzuschlagen, womit er jedoch scheiterte. Die Mehrheit der gewählten Vertreter (Abgeordnete und Bürgermeister) blieb in der Sozialis17 Denis Lefebvre: Marcel Sembat. Franc-maçonnerie, art et socialisme à la Belle époque, Paris 2017. 18 Bezüglich der pazifistischen Minderheit siehe Julien Chuzeville: Zimmerwald. L’internationalisme contre la Première Guerre mondiale, Paris 2015.
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tischen Partei, im »alten Haus«, wie Léon Blum die Partei im Gegensatz zur Kommunistischen Partei nannte.19 Nichtsdestotrotz wechselten zahlreiche militante Anhänger die Seite. Von diesem Zeitpunkt an ist die Entwicklung der Sozialistischen Partei von der kommunistischen Konkurrenz geprägt, auch wenn diese anfangs von eher geringer Bedeutung war. Die große Partei, die zwischen mitte-links und mitte-rechts schwankte und oft als »Dreh- und Angelpunktpartei« (Parti pivot) der Dritten Republik bezeichnet wurde, war die Radikale Partei (Parti radical) bzw. die Radikalsozialisten, 1901 gegründet, zu der die Sozialistische Partei enge Verbindungen unterhielt. Die Bedeutung dieser radikalen und radikal-sozialistischen Partei (»sozialistisch« meint hier eindeutig links, aber in Abgrenzung zum Sozialismus, der den Privatbesitz kritisiert), mit der die Sozialisten erst bei den lokalen Wahlen Ende des 19. Jahrhunderts und dann ab 1914 auch auf nationaler Ebene Allianzen eingingen, gilt es zu unterstreichen.20 Einige bekannte Leitfiguren dieser Partei gehörten ebenfalls zur 1870er Generation. Der bekannteste unter ihnen war Edouard Herriot (1872–1957). Wie Jean Jaurès schloss er die École Normale Supérieure mit der Agrégation ab, die zur Lehrtätigkeit an höheren Schulen und Universitäten berechtigte; anders als Jaurès allerdings in Literatur, nicht in Philosophie. Herriot stand zwischen den beiden Weltkriegen für eine MitteLinks-Politik und war einer der Grundpfeiler der französischen Politik.21 Er war Autor mehrerer Werke und erlangte einen Doktortitel der Universität. Trotzdem zog er die politische Karriere der universitären vor. In der Dreyfus-Affäre erlangte er erstmals Bekanntheit und wurde 1905 Bürgermeister von Lyon, der zweitgrößten Stadt Frankreichs. Während des Ersten Weltkrieges diente er als Minister und trug nach 1918 zur Neugründung und Neuaufstellung der Radikalen Partei bei. Im Wissen um die neuen Kräfteverhältnisse schmiedete er 1924 eine Allianz mit den Sozialisten und stieg im »Linkskartell« (Cartel des gauches) – auf das wir später noch zurückkommen – zum Regierungschef auf. Der Misserfolg dieser Erfahrung sollte ihn prägen. Danach stand er einer Allianz mit den Sozialisten verhaltener gegenüber, während er den Kommunisten sehr feindlich gesinnt blieb. Als er 1932 erneut für kurze Zeit Regierungschef wurde, äußerte er sich zurückhaltend zu den Ansichten der Volksfront, ohne aber offenen Widerspruch verlauten zu lassen. Nach Herriot 19 Siehe die kürzlich erschienene Neuausgabe seiner Reden: Léon Blum: Le congrès de Tours. Le socialisme à la croisée des chemins 1919–1920, Paris 2020. 20 Serge Berstein: Histoire du parti radical, Paris 1980. 21 Bruno Benoit (Hg.): Édouard Herriot en quatre portraits: le Lyonnais, l’humaniste, le politique et l’européen, Villeneuve-d’Ascq, 2020.
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übernahm Edouard Daladier (1884–1970) die Parteiführung. Er gehörte zu einer neuen Generation innerhalb der Radikalen Partei, die die Volksfront 1936 zu ihrem Erfolg führen sollte, bevor der unvermeidbare Niedergang der Partei 1945 endgültig besiegelt wurde. Zahlreiche weitere Leitfiguren der Radikalen Partei entstammten ebenfalls der 1870er Generation, darunter etwa Albert Lebrun (1871–1950), der 1932 nach verschiedenen lokalen Mandaten Präsident Frankreichs wurde und sowohl mit der Rechten als auch mit der Linken gut regieren konnte. Ein weiterer Vertreter, Albert Sarraut (1872–1962), war dagegen stärker links geprägt, radikal-sozialistisch und sozialen Forderungen zugeneigt, aber gleichzeitig ein leidenschaftlicher Verfechter des Kolonialismus (Er amtierte zwischen 1920 und 1924 sowie im Jahr 1932 als Minister für die Kolonien). Sarraut, wie die meisten Mitglieder der Radikalen Partei aus seiner Generation, zeichnete sich zudem durch einen starken Antikommunismus aus. Am 23. April 1927 hielt er seine berühmte Rede in Constantine, im damaligen Kolonial-Algerien: »Der Feind ist der Kommunismus!« (»Le communisme, voilà l’ennemi!«) Diese Generation des Führungskaders der Radikalen Partei war fest entschlossen, den Aufstieg eines sowjetischen Kommunismus in Frankreich zu verhindern. Der Kommunismus gehörte nämlich zur neuen Realität, der man Rechnung tragen musste. Der Krieg hatte in Frankreich eine kommunistische Partei entstehen lassen, aber gleichzeitig auch den Friedensbestrebungen, wie es sie auch schon vor 1914 gegeben hatte, wieder deutlich Auftrieb verliehen. Um 1900 war der Begriff »Pazifismus« unter Sozialisten kaum gebräuchlich, da er als »bürgerlich« galt. Man bevorzugte den Begriff »Antimilitarismus.«22 Nichtsdestotrotz lag der Machtgewinn der Sozialistischen Partei zwischen 1905 und 1914 unter anderem in ihrer Rolle bei der Organisation von Friedensdemonstrationen begründet. Jean Jaurès griff diese Thematik in seinen bedeutendsten Reden oft auf. 1913 fand in Pré-Saint-Gervais, einer kleinen Gemeinde nahe Paris, eine Kundgebung gegen das »Gesetz der drei Jahre« statt, das alle Bürger im wehrtauglichen Alter zu drei Jahren Militärdienst verpflichtete. Diese Demonstration stellte die Macht der Sozialisten besonders eindrücklich zur Schau. Die pazifistischen Bestrebungen manifestierten sich insbesondere in den 1920er Jahren nach den Schrecken des Ersten Weltkrieges. Für die Sozialisten wurde der Pazifismus zu einem festen Ziel, doch die großen internationalen Krisen und die Kriegsgefahr sollten die Partei erneut spalten. Einzelne trafen im Namen des Friedens Entscheidungen, denen widersprüch-
22 Vgl. Marcobelli, Internationalism [wie Anm. 3], S. 15.
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liche Taten folgten. Auch hier illustriert das Duo Paul Faure und Léon Blum bestens die divergierenden Entscheidungen. Paul Faure, der bis 1940 Generalsekretär der Partei war, zeichnete sich durch einen radikalen Pazifismus aus. Seit 1915 gehörte er zur kleinen Minderheit der Sozialisten, die sich dem Pazifismus verschrieben. Ab 1919 gehörte der Kampf für den Frieden zu seinen Prioritäten. Auch als Parlamentsabgeordneter bildete das Thema den zentralen Bestandteil seiner Reden. Er zählte zu denjenigen Sozialisten, die den Konflikt mit Nazi-Deutschland um jeden Preis vermeiden wollten. Faure hegte eine Abneigung gegenüber der stalinistischen UdSSR und hielt seit jeher auch nichts vom »Antifaschismus«, weil er darin den verlängerten Arm Moskaus sah. Léon Blum vertrat bei diesem Thema eine gegensätzliche Position und sprach sich für ein hartes Vorgehen gegen Adolf Hitler aus. Bei dieser Frage traten die Meinungsverschiedenheiten der beiden Parteivorsitzenden schließlich offen zu Tage. Auf dem Kongress der SFIO im Dezember 1938 in Montrouge sprach sich Blum vehement gegen Faures Politik der Zugeständnisse aus. Doch dessen »Pazifismus« war in der Partei weit verbreitet und mit ein Grund, warum Marschall Pétain im Jahr 1940 eine unbegrenzte Vollmacht ausgestellt wurde, die dann zur Kollaboration mit der nationalsozialistischen Wehrmacht führte, welche französische Gebiete besetzt hatte. Faure war zwar bei dieser Abstimmung abwesend, wurde aber in den Nationalrat des »Französischen Staats« (»État français«) von Vichy gewählt. 1944 wurde er aus der Sozialistischen Partei ausgeschlossen. Faures Entscheidungen führten dazu, dass er aus dem kollektiven Gedächtnis der Franzosen verschwunden ist; mittlerweile kennen nur noch Historiker seinen Namen, die sich auf diese Periode spezialisiert haben, obwohl er zwischen den Weltkriegen eine entscheidende Rolle spielte. Der 1936 einsetzende Spanische Bürgerkrieg offenbarte in der Zwischenkriegszeit ein anderes heikles Problem mit dem »Frieden«, und ließ weitere Gräben in der Sozialistischen Partei entstehen.23 Nach dem Putsch Francos gegen die spanische Republik sah sich die Regierung der Volksfront in Paris mit dem Problem konfrontiert, ihrem spanischen Gegenstück in Madrid helfen zu müssen. Die Kommunisten führten daher eine Kampagne »der Kanonen, der Waffen für Spanien« (des canons, des armes pour lʼEspagne). Einige Mitglieder des linken Flügels der Sozialistischen Partei hegten Sympathien für diese Position. Doch würde ein militärisches Eingreifen Frankreichs nicht zu einem europaweiten Krieg führen? Genau das war die Sorge der französischen
23 Jean Vigreux: Le Front Populaire, Paris 2016.
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Regierung unter Führung von Léon Blum. Dieser stand in der pazifistischen Tradition der Anhänger Jaurès und entschied sich im Sinne des Friedenserhalts gegen ein offizielles Eingreifen; stattdessen verfolgte er eine Politik der NichtEinmischung. Die Partei war in zwei Lager gespalten: Paul Faure und eine Mehrheit standen für eine pazifistische Politik, während der linke Flügel der Partei den Positionen der PCF nahestand. So kam es zur Spaltung der SFIO und zum Koalitionsbruch innerhalb der französischen Volksfront. Die Geschichtswissenschaft hat seither nachgewiesen, dass Frankreich trotzdem Waffen an Spanien geliefert hat. Größtenteils herrschte jedoch eine »Friedenspolitik« vor, da die ganze Generation von den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs geprägt war und einen weiteren Konflikt um jeden Preis verhindern wollte. Kann man also sagen, dass Anfang der 1920er eine neue Generation die politische Macht übernahm? In gewisser Weise ja. Der Kongress von Tours hat den Sozialismus gespalten. Die zwei großen Namen, die dort auftauchten, gehörten beide der 1870er Generation an: Marcel Cachin (geboren 1869), ehemaliger Guesdist, der zum Symbol für den Anschluss an den Kommunismus wurde, und Léon Blum. Doch keiner der beiden hatte das Charisma oder die Autorität eines Guesde oder eines Jaurès. Zwar erwiesen sie sich als treue Anhänger, aber ihnen fehlte das Alleinstellungsmerkmal. Die heldenhafte Generation, Zeitzeugen des Krieges von 1870 bzw. der Kommune von 1871, rückte immer weiter in den Hintergrund. Die neue Generation hatte zwar den Ersten Weltkrieg miterlebt, was für sie jedoch eine negative und belastende Erfahrung gewesen war. Sie leiteten eine Partei, die sich ihrer Regierungsverantwortung stellte; die Utopie des sozialistischen Projekts war in Teilen verpufft. Sie waren schon eher Profipolitiker, auch wenn sie der Revolution noch nicht offiziell den Rücken gekehrt hatten. Zwar hatten Guesde und Jaurès diese Professionalisierung der Politik vorhergesehen, angesprochen haben sie diese aber nur selten. So gesehen gab es Parallelen zwischen Jaurès und Bebel, aber auch zwischen Blum und Faure auf der einen und Friedrich Ebert auf der anderen Seite.
Zwischen Marx und der Republik – der Sozialismus definiert sich neu Der Sozialismus der 1920er war davon geprägt, dass man sich alten Fragen, die die Kongresse seit den 1880ern beschäftigt hatten, unter neuen Umständen stellen musste. Neben dem Frieden war das auch die Frage nach der Teilhabe an der Macht. 1899 hatte Jaurès die Beteiligung des Sozialisten Alexandre Millerand an einer Allparteienregierung unterstützt. Guesde und andere mit ähnlichen Überzeugungen lehnten dies ab: es sei unmöglich mit den »bürgerlichen«
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Parteien zu regieren. Man spricht in diesem Zusammenhang vom »Ministerialismus«, der die Einheit der Sozialisten um mehrere Jahre verzögern sollte. Zwischen 1902 und 1905 unterstützten die Sozialisten die radikalsozialistische Regierung von Emile Combes im Parlament, verweigerten aber die Regierungsbeteiligung. Man hätte meinen können, dass die Sache nach 1914 erledigt gewesen sei. Doch für die Guesdisten war eine Beteiligung nur unter besonderen Umständen, wie sie während des Krieges bestanden, gerechtfertigt. Die Sozialisten wollten nur zurück an die Macht, um sie zu erobern, sie wollten keine Allianzen oder Koalitionen mehr eingehen. 1924 kamen die Radikale Partei und die Sozialisten auf eine Mehrheit: Es entstand das »Linkskartell«.24 Eine Mehrheitsbildung im Parlament war für die Sozialisten zwar akzeptabel, doch eine Regierungsbeteiligung lehnten sie ab. Zehn Jahre nach 1914 trat damit die besondere und einzigartige Natur des Konflikts von 1914 bis 1918 erneut zu Tage. Im Jahr 1932, acht Jahre später, tauchte die Frage ein weiteres Mal auf und löste diesmal eine schwere Krise, nämlich die »neo-sozialistische« Krise, aus.25 Bei den Wahlen von 1932 erzielten die Radikale Partei und die Sozialisten ohne die Kommunisten die Majorität. Die Mehrheit der Parlamentsfraktion der Sozialisten, angeführt von Renaudel, stand einer Regierungsbeteiligung positiv gegenüber. Doch die SFIO insgesamt lehnte dies ab. Der Nationalrat der Partei vom 6. November 1932 sowie der außerordentliche sozialistische Kongress von Avignon im April 1933 machten erneut deutlich, dass die Sozialistische Partei eine »Klassenkampfpartei« war, die den »Ministerialismus« verurteilte: Es tauchten also dieselben Standpunkte wie 1899 auf. Manche gewählten Vertreter blieben jedoch hartnäckig und gingen sogar so weit, eine Regierungskoalition zu unterstützen. Sie gehörten zur »neo-sozialistischen« Strömung. Diese abtrünnigen »Neos« wurden von Pierre Renaudel angeführt und gründeten eine Splitterpartei: die »Sozialistische Partei Frankreichs«. Renaudel verstarb zwei Jahre später und viele der »Neos« schlugen eine Laufbahn ein, die sie weit vom Sozialismus entfernen sollte. Der bekannteste unter ihnen war Marcel Déat, der schließlich während des Zweiten Weltkrieges mit dem Nazi-Regime kollaborierte. Um diese Unterschiede zu verstehen, muss man sich in Erinnerung rufen, dass diese Generation von der Einheit des Sozialismus und dem Entstehen der »Französischen Sektion der Arbeiter-Internationale« (1905) – so der offizielle 24 Jean-Noël Jeanneney: Leçons d’histoire pour une gauche au pouvoir. La faillite du Cartel (1924–1926), Paris 2003. 25 Alain Bergounioux: Le néo-socialisme. Marcel Déat: réformisme traditionnel ou esprit des années trente, in: Revue historique, Oktober–Dezember 1978, S. 389–412.
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Name der Sozialistischen Partei bis 1969 – geprägt war. Außerdem trug die Partei auch stark marxistische Züge, unterschied sich aber gleichzeitig deutlich von der oft kritisierten deutschen Sozialdemokratie.26 Die französische Tradition der Revolution ebenso wie die Ereignisse vor 1789 bis hin zur Pariser Kommune spielten hier eine große Rolle. Doch der Marxismus und diese revolutionäre Tradition standen in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander. Die am stärksten marxistisch geprägten Strömungen, darunter vor allem der Kreis um Jules Guesde, sowie andere Richtungen, darunter der gewerkschaftliche Syndikalismus des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes (Confédération générale du travail, CGT ), strebten eine neue, proletarische Revolution an.27 Die geistige Inspiration von 1789 bedeutete, das Schicksal der Arbeiter weiterhin eng mit demjenigen des Bürgertums zu verknüpfen. Im Versuch, diese Schicksale zu verbinden, bestand die Kunst von Jean Jaurès. Er war Herausgeber einer umfangreichen Zeitgeschichte Frankreichs (»Histoire de la France contemporaine«), dem Werk, das die ideologische Legitimation für die Verbindung von Französischer Revolution, Republik und Marxismus lieferte.28 Viele führende sozialistische Politiker teilten dieses Ziel, manche waren stärker marxistisch geprägt, andere stärker republikanisch. In der neuen vereinigten Partei von 1905 lehnte jedoch niemand die beiden Richtungen wirklich ab. Das Thema spielte auch 1920 auf dem sozialistischen Kongress von Tours eine Rolle, auf dem sich die Mehrheit der Abgeordneten auf die Seite Moskaus schlagen sollte. Léon Blum sprach sich gegen den Bolschewismus aus und verteidigte eine demokratische und französische Version der »Diktatur des Proletariats« (dictature du prolétariat). Sein Ziel blieb zwar das revolutionäre Ideal, doch der Bruch mit dem Bolschewismus machte weitere Anpassungen erforderlich. Die Distanzierung von den Gründungserklärungen von 1905 war trotz mehrfacher Abmahnungen spürbar. Auf dem Kongress der SFIO von 1921 (29. Oktober bis 1. November) etwa war diese graduelle Entwicklung deutlicher zu erkennen als in den Vorkriegserklärungen:
26 Jean-Numa Ducange: La Révolution française et la social-démocratie. Transmissions et usages politiques de l’histoire en Allemagne et en Autriche, Rennes 2012. (Englische Ausgabe: Leyden 2018). 27 Victor Griffuelhes, Generalsekretär der CGT von 1901 bis 1909, gehört zur selben Generation: Er wurde 1874 geboren und starb 1922. 28 Die ersten Bände über die Jahre 1789 bis 1794 wurden von Jean Jaurès selbst verfasst: Jean Jaurès, Histoire socialiste de la Révolution française, Paris 2014 (Originalausgabe: 1900 bis 1904).
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»Die Partei unterstreicht mit größtem Nachdruck ihren Doppelcharakter bestehend aus revolutionärem Idealismus und dessen positiver Umsetzung. Während wir auf die totale Transformation warten, die unser erklärtes Ziel ist, der wir uns aber mit unseren Bemühungen nur annähern können, und über deren unmittelbares Bevorstehen wir das Proletariat nicht täuschen wollen, verfolgt die Partei ihre methodische Arbeit zur Verbesserung der materiellen, moralischen und intellektuellen Situation des Proletariats weiter.«29 Eine fundamentale Erneuerung der Doktrin blieb allerdings weiter ausgeschlossen. Auf der Konferenz der Bundessekretäre der Partei am 27. Juni 1921 stellte sich Paul Faure gegen jene, die wie Pierre Renaudel, »Tendenzen verkörpern, die auf eine Abänderung des traditionellen Programms der Partei abzielen, während die Partei zwar Reformen erreichen möchte, aber ihre revolutionären Ideale nicht aufgeben will«.30 Aber was genau war eigentlich das »traditionelle Programm der Partei«? Festhalten lässt sich, dass der Marxismus, trotz der starken Opposition zum sowjetischen Modell, nicht verschwand. Lässt sich dies durch das Gewicht der PCF und den von ihr proklamierten »Marxismus-Leninismus« erklären? Der Druck, den die Kommunisten auf ihren Freundfeind, die Sozialisten, ausübten, ist Thema unzähliger Studien. Die französische Geschichtswissenschaft hat dieser Dimension ab 1960 viel Bedeutung beigemessen und dabei auf die »langen Schuldgefühle der Macht« verwiesen, um die Worte von Alain Bergounioux und Gérard Grunberg zu bemühen.31 Laut dieser Theorie verhinderte das Ausmaß der marxistischen Rhetorik, die bei der PCF und dem linken Flügel der SFIO zum Einsatz kam, ganz zu schweigen von den extremen Linken und den revolutionären Gewerkschaften, die in Frankreich immer noch ein gewisses Gewicht haben, lange Zeit, dass die Sozialistische Partei ungehindert regieren konnte.32 Diese Lesart der Geschichte liegt in der großen Bedeutung der PCF nach 1945 begründet. Die Kommunisten wurden von 1945 bis zum Ende der 1970er Jahre zur bedeutendsten linken Kraft und übten Einfluss auf die Sozialistische Partei aus, die von François Mitterrand 1971 neu gegründet wurde. Doch dabei handelt es sich um eine retrospektive Lesart, die einem 29 Zitiert bei Lefranc, Le mouvement socialiste [wie Anm. 2], S. 251. 30 Zitiert bei Ligou, Histoire du socialisme [wie Anm. 2], S. 353. 31 Alain Bergounioux/Gérard Grunberg: Le long remords du pouvoir. Le Parti socialiste français, 1905–1992, Paris 1992. 32 Thierry Hohl: A gauche! La gauche socialiste 1921–1947, Dijon 2004.
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Verständnis der Sozialistischen Partei der 1920er Jahre und der Generation der in den 1870er Jahren geborenen Führungsriege sowie ihrer Anhänger, im Wege steht. Die PCF blieb bis 1935/1936 recht marginal, weshalb kein Beobachter der französischen Politik damals gedacht hätte, dass diese Partei politisch und ideologisch an Bedeutung gewinnen würde. Die Kommunisten hatten zwar 1920 auf dem sozialistischen Kongress in Tours den Sieg davongetragen, doch die institutionellen Gegebenheiten hatten sich zugunsten der Sozialisten verschoben. Von den 68 im Jahr 1919 gewählten sozialistischen Vertretern traten nach der großen Spaltung von 1920 nur 13 den Kommunisten bei. Dasselbe gilt auch für die Mehrzahl der Bürgermeister und Generalräte. Die Mehrheit des Kaders blieb in der SFIO, und auch wenn die Kommunisten Jean Jaurès’ Zeitung »l’Humanité« übernahmen, so blieben doch die meisten der großen sozialistischen Regionaltageszeitungen in den Händen der Sozialisten (»Le Midi Socialiste« aus Toulouse oder »Le Cri du Nord« aus Lille). Die Kantonalwahlen vom Mai 1922 zeigten, dass die SFIO einen großen Teil der Arbeiterwählerschaft behalten hatte. Die Ergebnisse der Region Paris waren der einzige Wermutstropfen für die SFIO. Dort hatten die Kommunisten deutlich gewonnen. Das symbolische, kulturelle, gesellschaftliche und politische Gewicht von Paris und den Banlieues innerhalb der französischen Politik war zudem beachtlich. Doch in der Summe war dies in den 1920er Jahren kein wirkliches Gegengewicht zur klaren Dominanz der Sozialistischen Partei. Ganz im Gegenteil, die Kommunisten waren eher eine Randerscheinung. Mehr als ein Jahrzehnt lang schienen sie das Gleichgewicht der Kräfte nicht zu bedrohen. Die Erfahrung mit dem Linkskartell von 1924 und der Versuch, 1932 eine Mehrheit zustande zu bringen, zeigten, dass es möglich war, eine Koalition ohne die Kommunisten zu bilden. Bei den Wahlen von 1924 holte die SFIO mit 750 000 Stimmen 101 Sitze für ihre Vertreter. Die Kommunisten kamen gerade einmal auf 16 Sitze und ließen die SFIO nur in einigen wenigen Ausnahmefällen hinter sich. Nach dem Aufwind von 1928 mussten die Kommunisten 1932 einen Rückschlag zugunsten der SFIO hinnehmen, weil ihre Strategie »Klasse gegen Klasse«, mit der sie sowohl der extremen Rechte als auch der Sozialistischen Partei einen Schlag versetzen wollten, bei einem Großteil ihrer Wählerschaft nicht gut ankam. Nicht zu vernachlässigen ist auch die Tatsache, dass in keinem anderen vergleichbaren Land, also in keiner westlichen marktwirtschaftlichen Demokratie, die Macht der Sozialdemokraten bedroht war. Selbst in Deutschland, wo die KPD Ende der 1920er zu einer Massenpartei angewachsen war, konnte der Kommunismus in puncto Anhänger und Wahlergebnisse nicht ernsthaft
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mit der Sozialdemokratie mithalten.33 Erst die Krise von 1929 und vor allem der Aufstieg der Nationalsozialisten außerhalb Deutschlands sollten die Lage ändern. Doch selbst dann blieben die kommunistischen Parteien Kräfte von geringer Bedeutung. Die Generation der 1870er dachte, dass sie den Durchbruch des Sozialismus und damit ein neues politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches Regime erleben würde. Sie war im Sinne einer Utopie mit Aussicht auf eine Gesellschaft ohne soziale Ungleichheiten geformt worden.34 Die französischen Sozialisten blieben davon überzeugt, dass es ihnen mit der Zeit gelingen würde, ein endogenes sozialistisches Regime »à la française« zu etablieren. Vor diesem geistigen und ideologischen Hintergrund muss man die Verweigerung der Regierungsbeteiligung 1924 sowie Léon Blums Unterscheidung von »Ausübung« (exercice) und »Eroberung« (conquête) der Macht verstehen. 1924 ging es darum, der »antiministerialistischen« Linie von vor 1914 treu zu bleiben: Der Krieg hatte die »heilige Union« gerechtfertigt, doch nach der Rückkehr zum Frieden durfte keine weitere Regierungsbeteiligung erfolgen. Mit seiner »Ausübung« der Macht sprach sich Blum dafür aus, den revolutionären Ansatz nicht außen vor zu lassen und unterstrich, dass die aktuelle Legalität nicht auf ewig Bestand haben würde. Die Eroberung der Macht durch die Sozialisten wurde vertagt. In diesem Sinne fand man unter den französischen Sozialisten nicht dieselbe Verfassungsstreue wie unter den deutschen oder österreichischen Sozialdemokraten. Blum und die SFIO waren natürlich in ideologischer Hinsicht zutiefst republikanisch, will heißen Anhänger der Vorstellung, dass eine sozialistische Revolution in der Tradition der französischen Revolution von 1789 bis 1794 stehen müsse. Doch auf lange Sicht strebten sie eine soziale Republik an, die mit den bürgerlichen Aspekten der aktuellen Republik brechen musste. Léon Blum gehörte mit Sicherheit immer zu jenen, die zu Marx und dem Marxismus eher auf Distanz gingen, und zwar bereits vor der Russischen Revolution von 1917. Doch er konnte die Bezüge zum Marxismus auch einfach diskret durchgehen lassen, weil ihm bewusst war, dass diese unter Anhängern und Sympathisanten, denen der Marxismus weiter wichtig war, viel Triebkraft besaßen. Man könnte sogar die Hypothese aufstellen, dass der doktrinäre 33 Für einen Überblick über die Geschichte der Sozialdemokratien siehe Imlay, The Practice [wie Anm. 5]. Ebenfalls wichtige Beiträge zu dieser Periode finden sich bei Marcel van der Linden (Hg.): Cambridge History of Socialism, Cambridge 2022. 34 Marc Angenot: L’utopie collectiviste. Le grand récit socialiste sous la Deuxième Internationale, Paris 1993.
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Marxismus und seine damalige Anziehungskraft das Fehlen eines konsensfähigen charismatischen Nachfolgers von Jaurès oder Guesde kompensierten. Kurzum: Der ausgeprägte Antikommunismus der Sozialisten war kein Antimarxismus. In gewisser Hinsicht war das Gegenteil der Fall: Viele Sozialisten fanden, man müsse Marx und den Marxismus den Klauen der Moskau nahestehenden Kommunisten entreißen, indem man den Kommunismus mit der französischen Tradition der Revolution verband. Weil aber ein politisch und ideologisch klar definiertes Projekt fehlte, verstrickte sich der demokratische Sozialismus regelmäßig in Widersprüche.35
Ausländische und internationale Modelle Die Konkurrenz des sowjetischen Modells zeigte, dass es unmöglich war, den französischen Sozialismus vom internationalen Kontext zu isolieren. Damit soll aber nicht nur die Bedeutung der transnationalen und der globalen Geschichte untermauert werden, die in jüngster Zeit an Aufmerksamkeit gewonnen haben.36 Wenn sich eine politische Ideologie besonders mit Ansätzen zur Internationalisierung beschäftigen musste, dann der Sozialismus.37 Nichtsdestotrotz dominierten lange Zeit nationale Ansätze seine Geschichte, obwohl die Sozialisten zumindest bis in die 1960er Jahre stark von einer »internationalistischen Praxis« geprägt waren, um die Worte Talbot Imlays zu bemühen.38 Diese internationalistische Praxis stand bei der Generation der 1870er im Zentrum, weil sie der sozialistischen Internationale sowie ihrer Funktion und Rolle in den verschiedenen sozialistischen Parteien große Bedeutung beimaßen. Für die damalige Führungsriege hatten die Resolutionen und Entscheidungen der 1889 in Paris gegründeten Internationale Gewicht. Aber natürlich blieb der nationale Rahmen von zentraler Bedeutung. Mit der wachsenden Verankerung des Sozialismus stieg auch die Zahl der gewählten Vertreter deutlich an, vor allem auf kommunaler Ebene. Die »Kommunalisierung« des Sozialismus galt als bekanntes, vor allem von Patrizia Dogliani untersuchtes Phänomen, das
35 Jacques Droz: Le socialisme démocratique 1864–1960, Paris 1968. 36 Siehe die Einleitung von van der Linden, Cambridge History [wie Anm. 33]. 37 Jean-Numa Ducange/Razmig Keucheyan/Stéphanie Roza (Hg.): Histoire globale des socialismes, Paris 2021. 38 Imlay, The Practice [wie Anm. 5]
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von einem Prozess der Nationalisierung begleitet wurde.39 Doch der Sozialismus blieb nicht auf seine lokale und nationale Verankerung beschränkt. Die Geschichtswissenschaft hat dem Phänomen der Nationalisierung des Sozialismus große Bedeutung beigemessen. Dieser Prozess fand trotz sehr unterschiedlicher Verläufe sowohl in Deutschland als auch in Frankreich statt. Bei dieser Lesart geht man davon aus, dass der Internationalismus ideologischer Natur geblieben ist und kaum praktischen Folgen hatte, wie 1914 die »heilige Union« in Frankreich und der »Burgfrieden« in Deutschland eindrücklich zeigten. Wenn die Dimension der Nationalisierung auch nicht bestritten werden kann, so ging sie in Wirklichkeit jedoch Hand in Hand mit einer internationalistischen Praxis, wie jüngste Forschungen zeigen. So wurde der Munizipalsozialismus bereits vor dem Ersten Weltkrieg durch internationalen Austausch genährt und bereichert. 1912 wurde Jean-Baptiste Lebas Bürgermeister von Roubaix. Dort war er in einer Gemeinde tätig, die stark von Immigration geprägt war und in der er ein sozialistisches Umfeld aufbaute, das von belgischen und deutschen Modellen inspiriert war. Während die Guesdisten in dieser im Norden gelegenen Gemeinde viel dazu beigetragen hatten, eine sozialistische Struktur zu schaffen und zu fördern, und Gewerkschaften und Kooperativen mit der Partei verknüpft waren, waren die Strukturen in anderen Regionen Frankreichs deutlich lockerer. Diese internationale wechselseitige Beeinflussung hatte auch in der Nachkriegszeit Bestand. André Morizet etwa war einige Zeit bei der PCF, kehrte dann zur SFIO zurück und wurde Bürgermeister von Boulogne-Billancourt.40 Er war den Entwicklungen des Sozialismus in Österreich sowie der Stadtverwaltung im »Roten Wien« sehr zugetan. (Ab 1919 regierten die österreichischen Sozialdemokraten Wien und brachten insbesondere ein ehrgeiziges Wohnungsbauprogramm auf den Weg.)41 Das Lokale konnte also eine bedeutende globale Dimension annehmen, was allerdings der nationalen Verankerung der sozialistischen Ordnung nicht entgegen stand. Aber für eine Partei, die auf kommunaler Ebene zahlreiche Städte regierte und sich Internationalismus auf die Fahne geschrieben hatte, gleichzeitig jedoch nur selten auf nationaler Ebene regierte, war die Doppeldimension »lokal – international« von essentieller Bedeutung.
39 Patrizia Dogliani: Le socialisme municipal en France et en Europe de la Commune à la Grande Guerre, Nancy 2018. 40 Pascal Guillot: André Morizet. Un maire constructeur dans le Grand Paris, Paris 2012. 41 Werner Michael Schwarz/Georg Spitaler/Elke Wikidal (Hg.): Das Rote Wien 1919–1934. Ideen, Debatten, Praxis, Basel 2019.
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Ein weiteres Zeichen dieser wechselseitigen Beeinflussung lässt sich in der schrittweisen Weiterentwicklung der Programme der SFIO ausmachen. Die Erklärung von 1905 mit ihren starken Bezügen zum Marxismus und dem Klassenkampf war bereits das Produkt dieses internationalen Austauschs. Auch wenn der Marxismus in Frankreich verankert war (vor allem durch die gues distische Strömung), kam der deutschen Sozialdemokratie weiterhin eine Vormachtstellung zu, und das trotz der Spuren, die der Deutsch-Französische Krieg hinterlassen hatte. Zahlreiche französische Sozialisten, allen voran Jaurès, waren der Meinung, ohne eine deutsch-französische Freundschaft gäbe es keine Zukunft, und nur die Sozialisten könnten diese Freundschaft im Laufe der Zeit aufbauen. Nach 1918, zu Zeiten des »blauen Horizonts« (bleue horizon), einer deutlich rechtsorientierten Mehrheit in der Abgeordnetenkammer, und des omnipräsenten Nationalismus, positionierte sich der Sozialismus auch in einem internationalen Kontext neu. Die Vorbereitungen der Parlamentswahlen von 1924 erwiesen sich in dieser Hinsicht als aufschlussreich. Ein wesentlicher Punkt fand den Weg in das Programm der SFIO: Die Idee der Sozialisierung und Verstaatlichung strategischer Sektoren. Dieser Punkt war ein entscheidender Schritt in Richtung Sozialismus. Es handelte sich um einen bedeutenden Einschnitt, weil dieser Programmpunkt bis in die 1980er Jahre essentieller Teil der Parteiidentität bleiben sollte. Das staatliche Eingreifen in den Markt, um die Wirkung des Kapitals zu begrenzen, wurde oft als bedeutender Aspekt sozialdemokratischer Denkansätze angesehen. Tatsächlich aber wurde dieses Vertrauen in den Staat in Frankreich erst mit der Führungsriege der 1870er Generation selbstverständlich. Zuvor herrschte unter den Sozialisten vielfach ein strukturelles Misstrauen gegenüber staatlichem Handeln. Vor allem unter den Guesdisten blieb man gegenüber Maßnahmen des »bürgerlichen Staates« vorsichtig. Zwar waren sie auf kommunaler Ebene zu ein paar Zugeständnissen bereit, doch auf nationaler Ebene blockierten sie die Zustimmung zu diesen Forderungen nach Sozialisierung. Egal ob Kapitalismus oder Etatismus, für sie war der Klassencharakter des Staates ausschlaggebend. Wenn der Staat bürgerlich war, so konnte er grundsätzlich nicht im Sinne der Arbeiterklasse handeln. Léon Blum stand der Vorstellung nicht weniger ablehnend gegenüber, auch wenn er als Anhänger von Jaurès eher geneigt war, die Idee eines regulierenden Staates zu akzeptieren. Er war von einer gewissen libertären Kultur geprägt, die vor 1914 sehr verbreitet war, und die er lange Zeit vertrat. Man kannte diese Vertreter als »Possibilisten« (also Anhänger des »jetzt Möglichen«), die diese Ideen schon vor 1914 verbreitet hatten. Damals allerdings noch zögerlich, weil diese Projekte alles andere als unumstritten waren. Auf struktureller Ebene hinderte eine anti-
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staatliche und proudhonistische Strömung, die sich vor allem aus der starken Unterdrückung der Arbeiterbewegung zwischen 1870 bis 1910 erklärte, große Teile der französischen Arbeiterbewegung lange Zeit daran, sich für derartige Lösungen auszusprechen.42 Doch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs hatten die Rolle des Staates auch auf sozialer Ebene bestätigt: Trotz der Schrecken des Krieges hatten die Sozialisten Albert Thomas unterstützt und seine Bemühungen um eine regulierende Rolle des Staates im für die Arbeiter positiven Sinne zur Kenntnis genommen. Vor allem die wechselseitige internationale Beeinflussung war auch an dieser Stelle von Bedeutung. Deutschland und Österreich wurden zwischen 1918 und 1920 von einer revolutionären Welle erfasst, und die sozialdemokratischen Regierungen strebten eine Verstaatlichung von Wirtschaftssektoren an. Weil die Oppositionsparteien in beiden Ländern solche Pläne ablehnten, konnten sie nicht verwirklicht werden. Aber auch, als die Sozialdemokraten an der Macht waren, verfolgten sie diese Pläne eher halbherzig. Ab diesem Zeitpunkt schlugen jedoch viele europäische Sozialisten Teil-Verstaatlichungen vor. Wenn die deutsche Sozialdemokratie in dieser Hinsicht auch relativ gemäßigt blieb, so überzeugten die Pläne des Österreichers Otto Bauer, der 1923 ein bahnbrechendes Werk über die »Österreichische Revolution« verfasste, und einiger anderer austromarxistischer Theoretiker, mit denen mehrere Führungsfiguren Frankreichs in engem Austausch gestanden hatten, die französischen Sozialisten von der Bedeutung eines derartigen Programms.43 Das sowjetische Modell war in dieser Hinsicht nicht zu vernachlässigen, denn auch wenn die junge UdSSR großer Kritik ausgesetzt war, schien das massive staatliche Eingreifen im sozialistischen Sinne nach dem Bürgerkrieg ihre Rettung gewesen zu sein.44 Auch die Haltung der britischen Labour-Party, die ab 1918 Verstaatlichungen verlangte, soll in diesem Kontext Erwähnung finden. Noch gibt es keinen Überblick über die Verbreitung von Doktrinen, in denen eine Verstaatlichung der Wirtschaftssektoren gefordert wurde. Als die französischen Sozialisten sich dafür entschieden, war dieser Schritt allerdings zweifellos das Ergebnis eines Austausches der Doktrinen auf transnationaler Ebene. An dieser Stelle sei erneut auf die bedeutende und entscheidende Rolle von Albert Thomas verwiesen, der sein während des Krieges begonnenes Werk gewissermaßen 42 Patrice Rolland: A propos de Proudhon: une querelle des influences, in: Revue française d’histoire des idées politiques 2 (1995), S. 275–300. 43 Pierre-Henri Lagedamon: »Otto Bauer«, in: Ducange. Histoire globale [wie Anm. 37] S. 794–802. 44 Eric Hobsbawm: L’âge des extrêmes: le court vingtième siècle, Brüssel 1999.
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fortsetzte. Als ehemaliger Minister und Deutschlandkenner, der den von Otto Bauer geforderten Erneuerungen des Sozialismus zugeneigt war, fand er bei einem Teil des sozialistischen Führungskaders Gehör. In diesem Zusammenhang sei ein Aspekt betont, der von Historikern, die sich mit dem französischen Sozialismus dieser Epoche beschäftigen, eher verkannt wird: Die SFIO suchte damals nach einem Mittelweg zwischen der Sozialdemokratie, in der alle Einschränkungen eines verfassungstreuen bürgerlichen Regimes akzeptiert wurden, und dem bolschewistischen Modell. Daher brachte die französische Partei bestimmten Erfahrungen in Europa, die einen derartigen Weg aufzeigen konnten, lebhaftes Interesse entgegen. Auch wenn sie ihre Ziele nicht formalisierten, strebten die französischen Sozialisten den Wiederaufbau eines internationalen Netzwerks an, mit dem sie das von der Internationalen Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien nach Kriegsbeginn aufgegebene Projekt wiederaufnehmen und diesmal nachhaltig konkretisieren wollten. Auch wenn sie in diesem Zusammenhang die wachsende Unterordnung der PCF unter den Moskauer Apparat der Komintern kritisierten, so blieben sie doch immer der Meinung, dass es einer strukturierten internationalen Organisation bedurfte. Es erscheint besonders wichtig, diesen Aspekt zu unterstreichen, weil diese Dimension nach 1945 für die Sozialistische Partei mehr und mehr an Bedeutung verlor, mit Ausnahme der 1970er Jahre, als es wieder zu einem starken Austausch mit ausländischen sozialdemokratischen Modellen, erneut aus Österreich, aber auch aus Schweden, kam.45 In den 1920er Jahren wandten sich einige Leitfiguren der französischen Sozialisten den Erfahrungen aus Österreich zu. »Le Populaire« berichtete regelmäßig über das »Rote Wien«; sowohl der bereits erwähnte Fall von Morizet als auch die Stadt Wien wurden oft als Beispiel zitiert. Immer mehr Reden und Broschüren einiger österreichischer Leitfiguren wurden von der SFIO übersetzt und verbreitet, vor allem vom linken marxistischen Flügel, der seine Positionen auf internationaler Ebene legitimieren wollte. Außerdem hatte Österreich den Vorteil, nicht Deutschland zu sein, und die germanophoben Tendenzen in Frankreich konzentrierten sich vor allem auf Berlin und das preußische Militärerbe. Dem süddeutschen Raum wurden in der französischen Öffentlichkeit größere Sympathien entgegengebracht. Ein weiteres Beispiel ist die Bedeutung des belgischen Sozialismus in der sogenannten »Neo«-Krise Anfang der 1930er Jahre. Die planwirtschaftliche Strömung unter Führung des Belgiers Hendrik de Man feierte nämlich vor 45 Gilles Vergnon: Le »modèle« suédois. Les gauches françaises et l’impossible socialdémocratie, Rennes 2015.
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allem nach der Wirtschaftskrise von 1929 einige Erfolge.46 Dieser »Neo-Sozialismus« wollte sich vom Klassenkampf und dem Marxismus emanzipieren und strebte stattdessen einen technokratischen Sozialismus an, in dem – unterstützt von Experten – einige wirtschaftliche und politische Aufgaben planwirtschaftlich organisiert werden sollten. Dieses radikale und elitäre Verstaatlichungsprogramm stieß auf große Resonanz. Aufgrund der späteren Entwicklung mehrerer Persönlichkeiten (Hendrik de Man etwa kollaborierte mit den Nazis, genauso wie der ihm nahestehende Marcel Déat in Frankreich), geriet diese Strömung jedoch gänzlich in Verruf. Doch zu Anfang zeugte sie von dem lebendigen Austausch zwischen Belgien und Frankreich, wie eine erste Studie zur Rezeption der Planwirtschaft in der sozialistischen Presse Frankreichs zeigt.47 Junge Sozialisten der nachfolgenden Generationen, die Anfang des 20. Jahrhunderts geboren wurden, wie etwa der spätere bedeutende Anthropologe Claude LéviStrauss (1908–2009), waren hierfür sehr empfänglich. Die belgische Arbeiterpartei verfügte auch jenseits der planwirtschaftlichen Ideen über einzigartige Ressourcen, wie etwa ihre Verlage, darunter »Éditions de l’Églantine«, der unveröffentlichte Texte deutscher Autoren wie Karl Kautsky auf Französisch herausbrachte. Die belgische Partei war zudem eine Art Sprachmittler zwischen verschiedenen Ländern und Frankreich. Diese Rolle ist relativ wenig bekannt. Es existiert vermutlich keine Studie zu diesem Thema, da der methodologische Nationalismus zu einer dauerhaften Trennung der Geschichtswissenschaften von Brüssel und Paris geführt hat. In der Generation der 1870er mussten sich auch die Mitglieder der Führungsriege, die international wenig vernetzt waren, irgendwann einmal mit anderen nicht-französischen sozialistischen Strömungen auseinandersetzen.
Fazit: Die Entstehung einer Generation Diese zuletzt genannte internationale Dimension verdient es, hervorgehoben zu werden. Dabei handelt es sich wahrscheinlich um den am meisten verkannten Aspekt dieser sozialistischen Generation. Mehrere ihrer Vertreter hatten einen, viele sogar zwei Weltkriege miterlebt. Sie waren geprägt von 46 Siehe die Einleitung in Henri De Man: Au-delà du marxisme, Paris, 1974 (Erstausgabe 1926). 47 Siehe die Präsentation auf der Website der digitalen Presse der Bibliothèque Nationale de France: https://www.retronews.fr/politique/long-format/2019/10/23/les-neo-socialistes [letzter Zugriff am 25. April 2023].
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den Kriegserfahrungen und vom Nationalismus, verschlossen sich aber den transnationalen Ansätzen und dem Internationalismus nicht. Diese Einstellung wurde zwar einer harten Prüfung unterzogen, überdauerte jedoch während der gesamten Epoche. Es bleibt zu untersuchen, welchen Beitrag der Sozialismus zum Austausch der internationalen Modelle genau geleistet hat. Einige neuere Arbeiten haben in der Tat gezeigt, dass die konservativen und nationalistischen Strömungen sich ebenfalls mithilfe der Internationale strukturierten, insbesondere in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen.48 Der Internationalismus hatte also auch seine Grenzen, die bei genauerer Betrachtung der Haltung der Sozialisten gegenüber den Kolonien recht schnell zu Tage traten. Kein einziges Mitglied der Führungsriege gestand den Rechten der im Kontext des französischen Imperiums kolonialisierten Völker politische Priorität zu.49 Die Volksfront blieb in Bezug auf diese Fragen verhalten, was zu einem Bruch zwischen den nationalen Emanzipationsbewegungen und der Sozialistischen Partei führte. Der von ihnen erdachte Sozialismus blieb vor allem durch den europäischen Horizont beeinflusst. Insbesondere die Geschichte der Sozialistischen Partei sollte noch zahlreiche weitere Verwerfungen erleben. Die Generation der 1870er überstand den Zweiten Weltkrieg nur mit Mühe. Die Wege der einzelnen Vertreter zeugen von der Vielfältigkeit der Positionen innerhalb der Partei: Auch hier illustrieren die zwei vollkommen gegensätzlichen Werdegänge von Léon Blum und Paul Faure diese Spaltung bestens. Ersterer wurde vom Vichy-Regime auf das Schärfste verurteilt, der zweite entwickelte sich zum akzeptierten Kollaborateur. Während der Zeit des Widerstands gegen Nazi-Deutschland genoss die PCF ein besonders hohes Ansehen. Nach 1945 schnitt die PCF bei Wahlen über 30 Jahre lang besser ab als die SFIO, was ein sichtbares Zeichen der Schwäche der Sozialisten war. Ihre Mitgliederzahl und ihre Verwurzelung ließ die PCF in gewisser Weise die Rolle der großen Arbeiterpartei übernehmen. Diese Rolle konnte die SFIO nie einnehmen, wohingegen die SPD in der Bundesrepublik Deutschland und die Labour-Partei in Großbritannien einen Großteil der Stimmen der Arbeiter auf sich vereinigen konnten. Zwar führte Léon Blum das Land Ende 1946 für kurze Zeit als Regierungschef, doch diese Position hatte er nur zwei Monate inne. Das Gleichgewicht hatte sich verschoben. Eine historische Persönlichkeit des Sozialismus, die einige Jahre vor Blum geboren wurde, 48 Eric Anceau/Jacques-Olivier Boudon/Olivier Dard (Hg.): Histoire des Internationales – Europe XIXe–XXème siècles, Paris 2017. 49 Claude Liauzu: Histoire de l’anticolonialisme en France. Du XVIe siècle à nos jours, Paris 2012.
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verkörperte dieses neue Kräfteverhältnis: Marcel Cachin. Vor 1914 gehörte er zum Kreis um Jules Guesde, bevor er 1920 zum Kommunismus wechselte. Er blieb bis zu seinem Tod 1958 Herausgeber der Zeitung »l’Humanité«. Zu diesem Zeitpunkt kam General De Gaulle an die Macht. Sein Hauptgegner war immer noch die PCF. Es sollte noch eine weitere Generation dauern, bis die Französische Sozialistische Partei neu entstand, die dann 1981 an die Macht kam und sich langfristig halten konnte.
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Zwischen MacDonald und Attlee. Britische Labour-Führer der 1870er Jahrgänge*1
Das Generationenkonzept als Ganzes ist umstritten. Dennoch hält es sich hartnäckig an der Spitze der Populärkultur, und eine Menge Publikationen erscheinen nach wie vor zu diesem Thema.2 Entsprechend kann das Konstrukt von politischen Generationen den Blick auf bestimmte politische Entwicklungen schärfen.3 In Deutschland gilt dabei ein besonderes Interesse der »Generation Ebert«, also derjenigen Kohorte führender Politiker der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung, die wie der SPD -Vorsitzende und Reichspräsident der Weimarer Republik Friedrich Ebert in den 1870er Jahren geboren wurden (Ebert selbst war Jahrgang 1871).4 In Großbritannien hat sich das Interesse an politischen Generationen über die Zeit hinweg zwar verändert, einige wichtige Beiträge sind aber auch hier zu diesem Thema erschienen. In einem Ende der 1960er Jahre publizierten Klassiker der britischen Politikwissenschaft stellen die Autoren David Butler und Donald Stokes die These auf, dass die Zeit der Politisierung eines Individuums besonders ausschlaggebend für dessen politische Meinungsbildung sei: die Partei, der Erstwähler und Erstwählerinnen ihre Stimme gaben, blieb Butler und Stokes zufolge mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bei folgenden Urnengängen deren bevorzugte Wahl.5 Ungefähr eine Generation später plädierte Michael Childs für die Anwendung eines * 1
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Dieser Beitrag wurde von Christine Brocks aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Die meisten der hier genannten Politiker haben einen Eintrag im Oxford Dictionary of National Biography, online unter: https://www.oxforddnb.com/(im Folgenden ODNB). Eine kleinere Anzahl werden im Dictionary of Labour Biography (15 Bände, 1972–2019, im Folgenden DLB) erwähnt. Um nur ein Beispiel für einen der jüngsten »Bestseller« zu nennen: Bobby Duffy: Generations. Does When You’re Born Shape Who You Are?, London 2021. Klaus Schönhoven/Bernd Braun (Hg.): Generationen in der Arbeiterbewegung, München 2005. Bernd Braun: Die »Generation Ebert«, in: ebenda, S: 69–86. Zu Ebert siehe auch Walter Mühlhausen: Friedrich Ebert 1871–1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn 2006. David Butler/Donald Stokes: Political Change in Britain. Forces Shaping Electoral Choice, London 1969, vor allem S. 44–64 und 263–274.
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Generationenansatzes bei der Frage nach den Gründen für den Niedergang der Liberalen und den Aufstieg der Labour Partei. Seiner These zufolge wurden die Ausbildungs- und Lebenserfahrungen junger und jugendlicher Angehöriger der Arbeiterklasse seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert immer homogener, so dass das »Erwachsenwerden der Arbeiter zwischen der Jahrhundertwende und dem Beginn des Ersten Weltkriegs zum Teil auch das Erwachsenwerden der Labour Partei erklären« könne. Eine Definition des Begriffs Generation ist Childs aber in diesem Zusammenhang schuldig geblieben.6 Ramsay MacDonald und Clement Attlee waren die ersten Premierminister der Labour Partei und sind noch immer ihre bekanntesten Führer aus der ersten Hälfte der Parteigeschichte. MacDonald war von 1911 bis 1914 Vorsitzender der Labour-Fraktion und von 1922 bis 1931 Parteivorsitzender. Er war außerdem zweimal, 1924 und von 1929 bis 1931, Premierminister von zwei Minderheitsregierungen. Nach seinem Bruch mit der Labour Partei bildete er eine von den Konservativen dominierte »Nationale Regierung«, welche die britische Politik fast ein Jahrzehnt lang nach den finanziellen und politischen Krisen von 1931 bestimmte. Attlee ist bis heute der am längsten amtierende Parteivorsitzende der Labour Partei (1935–1955), war als Stellvertretender Premierminister unter Winston Churchill Mitglied der Kriegskoalition (1940–1945) und bildete die erste Labour-Mehrheitsregierung (1945–1951). MacDonald war 1866 geboren und damit fünf Jahre älter als Friedrich Ebert; Attlee, 1883 geboren, war zwölf Jahre jünger. Doch es gab keinen LabourParteiführer, der im gleichen Jahrzehnt wie Ebert auf die Welt gekommen war – also in den 1870er Jahren. Sowohl Arthur Henderson (1931–1932) als auch George Lansbury (1932–1935), die zwischen MacDonald und Attlee die Partei leiteten, waren in den 1860er bzw. 1850er Jahren geboren und damit beide älter als MacDonald. Die Betrachtung der Labour-Generation der 1870er Jahrgänge kann Aufschluss über eine Reihe von Besonderheiten in der Entwicklung der Partei während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geben. Im Folgenden soll insbesondere gefragt werden, warum niemand aus dieser Generation zum Parteivorsitzenden aufstieg und ob sich diese Kohorte ganz generell durch etwas auszeichnete, das hierfür den Ausschlag gab.
6
Michael Childs: Labour grows up. The electoral system, political generations, and British politics 1890–1929, in: Twentieth Century British History 6 (1995), S. 123–144, hier S. 143.
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I. Anfang 1931 hatte die Labour-Regierung mit massiven Problemen, darunter wirtschaftlichen, zu kämpfen, was MacDonald in eine schwierige Situation brachte. Dazu kamen ein dezimiertes Kabinett und eine Reihe von Kollegen, die entweder ins Oberhaus einziehen oder sich gänzlich aus der Politik zurückziehen wollten. Ein Tagebucheintrag vom 2. Februar des Jahres drückt MacDonalds Verzagtheit aus: »Ich wünschte, ich könnte das Rücktrittsgesuch eines jeden, der darüber redet, annehmen.«7 Einige Wochen später kam er auf dieses Thema zurück: »Wenn ich die Leute für eine Kabinettsumbildung hätte, würde ich es jetzt tun.«8 Mitte Mai war seine Stimmung noch düsterer geworden. Er notierte in sein Tagebuch: »Ich muss nun über einen Kabinettsumbau nachdenken und bin so überarbeitet, dass ich mich dabei besser aus demselben heraus umbauen sollte.«9 Am 14. Juli schließlich schrieb er Kolonialminister Lord Passfield (Sidney Webb) als Antwort auf dessen Ruhestandsgesuch: »Wir haben in unserer Partei nicht das Material, das wir haben sollten. Die Lösung dieses Problems wird, fürchte ich, Schritte erfordern, die Sie alle überraschen werden.«10 Dies sollte Webb später glauben machen, MacDonald habe schon zu diesem Zeitpunkt eine Nationale Regierung geplant.11 Das war zwar nicht der Fall, doch die Bemerkung des Premierministers zeigt in jedem Fall einen Mangel an Vertrauen in die Labour-Abgeordneten der »Generation Ebert«. MacDonald hatte selbstredend seine Kritiker, die seine Führungsqualitäten in Zweifel zogen, und niemand war in dieser Hinsicht unbequemer als Beatrice Webb, Sidneys Ehefrau und Partnerin in politischen und sozialen Fragen. Sie hielt MacDonald in gewissem Sinne für einen Hochstapler. Im August 1926 schrieb sie in ihr Tagebuch: »Die Arbeiterbewegung hat bisher noch keine Führungspersönlichkeiten hervorgebracht, die es an Intellekt und persönlichem Charakter mit den größten Männern der älteren Parteien – Gladstone, Disraeli, [Joseph] 7 Ramsay MacDonald papers, PRO 30/69/1753/1, Fasz. 355–6, Tagebuch, Eintrag vom 2.2.1931. 8 Ramsay MacDonald papers, PRO 30/69/1753/1, Fasz. 362, Tagebuch, Eintrag vom 15.3.1931. 9 Ramsay MacDonald papers, PRO 30/69/1753/1, Fasz. 373, Tagebuch, Eintrag vom 20.5.1931. 10 Passfield papers (online), Tagebuch Beatrice Webb, Eintrag vom 20.7.1931, Zitat MacDonald an Passfield, Eintrag vom 14.7.1931. 11 Sidney Webb: What Happened in 1931. A Record, London 1932, S. 3–5.
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Chamberlain und Balfour und sogar Lloyd George – aufnehmen könnten. Herausragend sind wir dagegen auf der Ebene der Unteroffiziere – der weiblichen sowohl wie der männlichen. Ich bezweifele, dass es jemals eine Massenbewegung gegeben hat, deren Basis ein so hohes Maß an moralischer Verfeinerung und intellektueller Aufklärung miteinander verbindet. Doch unsere Bewegung hat noch keine adäquaten Führungspersönlichkeiten gefunden. Ramsay MacDonald ist ein großartiger Ersatz eines Führers. Er hat eine ideale äußere Erscheinung … Aber er ist von minderwertigem Charakter und Intellekt. Unser großer Anführer steht noch aus. Werde ich ihn noch erleben? Oder wird es eine sie sein, der wir folgen werden?«12 Was beide Sichtweisen vereint, ist die Vermutung, dass ein verbindendes Glied in der Abfolge der Führungspersönlichkeiten fehlte. Man kann mit Recht annehmen, dass dieses fehlende Bindeglied die Altersgruppe der in den 1870er Jahren Geborenen war.
II. Tabelle 1: Geburtsdekaden von Kabinettsangehörigen der Zwischenkriegszeit einschließlich der von 1945. Regierung
Geburtsdekade 1850er
1860er
1870er
Gesamt
1880er
1890er
Erste Regierung 1924
5
9
6
0
0
20
Zweite Regierung 1929–31 (bei Amtsantritt 1929)
3
7
6
3
0
19
Zweite Regierung 1929–31 (bei Amtsende 1931)
3
8
5
5
0
21
Zweite Regierung 1929–31 (alle Kabinettsminister)
3
9
8
5
0
25
Dritte Regierung 1945 (bei Amtsantritt 1945)
0
1
2
15
2
20
Quelle: eigene Zusammenstellung auf Basis der biographischen Lexika
12 Passfield papers (online), Tagebuch Beatrice Webb, Eintrag vom 2.8.1926.
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Die Schlüsselfiguren der ersten Labour-Regierung waren fast alle in den 1860er Jahren geboren, einschließlich MacDonald als Premierminister, Henderson als Innenminister, Philip Snowden als Finanzminister und John R. Clynes als Führer des Unterhauses. Die beiden Kabinettsangehörigen des linken Flügels, John Wheatley (dessen Wohngesetz das bedeutendste Gesetzgebungswerk dieser Regierung werden sollte) und Fred Jowett waren ebenfalls Angehörige der 1860er Kohorte, so wie die weniger wichtigen William Adamson, Noel Buxton (ein Überläufer der Liberalen) und der noch immer zu den Konservativen gehörende Erste Lord der Admiralität Viscount Chelmsford. Zusätzlich zu diesen neun Politikern gab es fünf, die in den 1850er Jahren geboren waren: zwei Fabianische Sozialisten (Sidney Webb und Lord Olivier), ein Gewerkschafter (Stephen Walsh) und mit dem Ex-Liberalen Kabinettsminister Lord Haldane und dem ehemaligen Konservativen Lord Parmoor zwei Neuzugänge von anderen Parteien. Den Rest des ersten Labour-Kabinetts bildeten sechs in den 1870er Jahren geborene Minister. Drei von ihnen waren durch ihre Arbeit in der Gewerkschaftsbewegung bekannt geworden: James Henry Thomas von der »Nationalen Eisenbahnergewerkschaft« (National Union of Railwaymen, NUR), Tom Shaw von der »Vereinigten Textilfabrikarbeiter Assoziation« (United Textile Factory Workers’ Association, UTFWA) und Vernon Hartshorn von der »Bergarbeitervereinigung Süd Wales« (South Wales Miners’ Federation, SWMF), die dem »Bergarbeiterverband Großbritanniens« (Miners’ Federation of Great Britain, MFGB) angehörte. Die drei anderen waren Neuzugänge aus der Oberund Mittelschicht: die ehemaligen Radikalliberalen Charles P. Trevelyan und Josiah C. Wedgwood sowie Christopher Birdwood Thomson, ein ehemaliger Armeeoffizier, den MacDonald 1924 in das Oberhaus berief, so dass er das Luftfahrtministerium übernehmen konnte. Von diesen sechs Männern kann nur Thomas als ein Politiker der vordersten Front in der ersten Labour-Regierung betrachtet werden. Er übernahm das Amt des Kolonialministers und gehörte zu den »Big Six« (zusammen mit MacDonald, Henderson, Snowden, Clynes und Webb), die das Kabinett dominierten. Doch MacDonalds erste Regierung hatte keine Mehrheit im Parlament – Labour war nicht einmal die größte Partei – und brach schon im Oktober 1924, nach nur neun Monaten im Amt, auseinander.13 Als Labour 1929 erneut in die Regierung gewählt wurde, war die Position der Partei im Parlament stärker. Zwar hatte sie noch immer keine absolute
13 John Shepherd/Keith Laybourn: Britain’s First Labour Government, London 2005.
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Mehrheit, stellte aber mit 287 von 615 Sitzen zumindest die stärkste Fraktion, und die neue Regierung sollte, zum Teil mit Unterstützung der Liberalen, mehr als zwei Jahre im Amt bleiben.14 In dem neuen 19-köpfigen Kabinett hatten zwölf schon 1924 als Minister gedient. Sieben waren in den 1860er Jahren geboren. Die Führungsriege wurde durch Adamson und Noel Buxton ergänzt, die auch schon 1924 im Kabinett gewesen waren, sowie durch Lordkanzler Lord Sankey, der 1929 ins Kabinett nachrückte. Wie 1924 waren sechs Mitglieder des neuen Kabinetts in den 1870er Jahren geboren; zu den Rückkehrern Thomas, Shaw, Thomson und Trevelyan kamen Margaret Bondfield, die erste Frau im Rang einer Ministerin, die ihre Karriere in der Gewerkschaftsbewegung des Einzelhandels gemacht hatte, und der 1927 von den Liberalen zur Labour Partei übergewechselte William Wedgwood Benn. Die Erwartung liegt nahe, dass Alter und Invalidität die Anzahl der in den 1850ern geborenen Minister deutlich dezimiert hätte (tatsächlich verstarb Haldane 1928 und Walsh Anfang 1929), doch Parmoor und Webb kamen zurück und Lansbury, 1859 geboren, trat 1929 seine erste Dienstzeit als Minister an. Drei Männer, die sich 1924 durch ihre Arbeit als Junior-Minister [Junior-Minister in Großbritannien sind Regierungsmitglieder ohne Sitz im Kabinett, Anm. d. Hg.] ausgezeichnet hatten, wurden nun ins Kabinett aufgenommen: Albert Victor Alexander als Erster Lord der Admiralität, William Graham als Präsident der Handelskammer (Board of Trade) und Arthur Greenwood als Gesundheitsminister. Bezeichnenderweise waren sie alle in den 1880er Jahren geboren – und nicht in den 1870ern. Es begann fast auszusehen, als ob die Partei, wenn sie nicht auf die alteingeführte Führungsmannschaft um MacDonald und seine in den 1860er Jahren geborenen Kollegen zurückgriff, sich auf Politiker wie Alexander, Graham, Greenwood oder ihre Zeitgenossen konzentrierte und dabei die 1870er Kohorte gänzlich überging. »Entmutigt durch den Mangel an möglichen Nachfolgern«, erklärte Henderson im September 1931 in einem vertraulichen Gespräch, dass für ihn »Alexander, Morrison, Dalton, in dieser Reihenfolge, die vielversprechendsten möglichen Führer« seien – alle waren in den 1880er Jahren geboren.15 Sechs weitere Minister dienten in der zweiten Labour-Regierung infolge von Rücktritten, altersbedingtem Ausscheiden und Todesfällen; von diesen sechs waren je zwei in den 1860er (Christopher Addison und Lord Amulree), 14 Neil Riddell: Labour in Crisis. The Second Labour Government 1929–31, Manchester 1999; Philip Williamson: National Crisis and National Government. British Politics, the Economy and Empire 1926–1932, Cambridge 1992. 15 Passfield papers (online), Tagebuch Beatrice Webb, Eintrag vom 20.9.1931.
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den 1870er und den 1880er Jahren geboren (Thomas Johnston und Herbert Morrison). Einer der beiden in den 1870er Jahren Geborenen war Hartshorn. Von 1927 bis 1930 gehörte er der »Statutory Commission of India« oder Simon-Kommission an, die unter der Leitung von Sir John Simon mit dem Entwurf einer Verfassungsreform für Britisch-Indien beauftragt war, und kam daher 1929 für ein Ministeramt nicht in Frage. Im Mai 1930 stand er aber nach einer Kabinettsumbildung und dem Rücktritt des Junior-Ministers Sir Oswald Mosley wieder für ein Ministeramt zur Verfügung. Hartshorn verblieb allerdings weniger als ein Jahr im Amt, da er im März 1931 verstarb. Der zweite war H.B. »Bertie« Lees-Smith, der als Nachfolger von Trevelyan im März 1931 zum Erziehungsminister ernannt wurde. Keiner von ihnen hatte nachhaltigen Einfluss auf die zweite Labour-Regierung. Als das Kabinett im August 1931 angesichts der schweren Finanzkrise keine Einigung über eine Kürzung der Arbeitslosenunterstützung erzielen konnte, trat Labour aus der Regierung aus. MacDonald bildete mit Unterstützung der Konservativen und der Liberalen eine Nationale Regierung. Die Mehrheit der Labour-Abgeordneten ging in die Opposition. In den nächsten zwei Monaten rief die Regierung Neuwahlen aus, die sie mit einer Mehrheit von 554 Sitzen gegenüber 46 für die Labour Partei gewann, dem größten Erdrutschsieg in der Geschichte der britischen Wahlen.16 Fast neun Jahre lang blieb Labour in der Opposition, bis die Partei im Mai 1940 dem Allparteienbündnis unter Churchill während des Zweiten Weltkriegs beitrat. Erst im Juli 1945 sollte Labour unter Premierminister Attlee wieder die Regierungspartei stellen, erstmals als Labour-Mehrheitsregierung. Mittlerweile war für die 1870er Kohorte viel Zeit ins Land gegangen. Selbst jemand, der 1879 geboren war, vollendete 1945 sein 66. Lebensjahr. Wie wir gesehen haben, war die 1880er-Kohorte schon unter MacDonald in den späten 1920er Jahren im Aufstieg begriffen gewesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war von den 1870ern so gut wie nichts mehr zu sehen. Einer von Attlees Ministern war in den 1860er Jahren geboren: Christopher Addison sollte der Labour Partei als Lord Addison noch bis 1951 im Oberhaus dienen. Nur zwei Kabinettsmitglieder waren in den 1870er Jahren geboren: Benn, der wieder das Luftfahrtressort übernahm, und Frederick William Pethick-Lawrence, der Minister für Indien und Burma wurde. Bezeichnenderweise war keiner der beiden Männer politisch erfolgreich. Benn wurde 194617, Pethick-Lawrence 16 Andrew Thorpe: The British General Election of 1931, Oxford 1991. 17 Ben Pimlott (Hg.): The Political Diary of Hugh Dalton, 1918–40, 1945–60, London 1987, S. 385, Eintrag vom 4.10.1946.
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1947 nur wenige Monate vor der Unabhängigkeit Indiens entlassen.18 Selbst 1945 gab es ebenso viele Kabinettsminister, die in den 1890er Jahren geboren waren – nämlich Aneurin Bevan und Ellen Wilkinson – wie solche aus der 1870er Kohorte. Noch bemerkenswerter ist allerdings, dass nicht weniger als 15 der 20 Mitglieder des Kabinetts von 1945 in den 1880er Jahren geboren waren. Die »1870er« hatten ihre besten Jahre hinter sich, wobei diese auch nicht eben glorreich ausgefallen waren. Wenn Benn und Pethick-Lawrence schon ihre besten verbleibenden Vertreter waren, werden nur wenige den 1870ern nachgetrauert haben.
III. Es stellt sich daher die Frage, warum es die Kohorte der 1870er in der Partei nicht weiter nach oben brachte und welche Faktoren ihren Aufstieg verhinderten. Wie lässt sich ihre Abwesenheit in der Parteispitze erklären? Waren sie mittlerweile gestorben? Wurden sie übergangen, blieben ihre Karrieren in untergeordneten Positionen stecken, wenn sie eigentlich im Kabinett hätten sein sollen? Oder waren sie vielleicht anderswo im politischen Spektrum aktiv, zum Beispiel in der Kommunistischen Partei? Um es noch einmal zusammenzufassen: nur zehn der in den 1870er J ahren geborenen Politiker schafften es in ein Labour-Kabinett: Benn, Bondfield, Hartshorn, Lees-Smith, Pethick-Lawrence, Shaw, Thomas, Thomson, Trevelyan und Wedgwood. Einige von ihnen kamen aus dem gehobenen Bürgertum (Benn, Lees-Smith, Pethick-Lawrence, Thomson) oder, wie Wedgwood (Keramikhersteller) und Trevelyan (Landadeliger), aus der Oberschicht. Sie sind manchmal als »Rekruten« der Labour Partei oder geringschätzig als »Klassenverräter« bezeichnet worden.19 Es ist auffallend, dass niemand von ihnen ein Amt in beiden Labour-Regierungen von 1924 und 1929/31 innehatte. Von den Mitgliedern des 1924er Kabinetts fungierte Wedgwood von 1921 bis 1922 als Stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Labour Partei. Seine Karriere erfuhr
18 Kenneth O. Morgan: Labour in Power 1945–1951, Oxford 1985, S. 227; Nicholas Owen: The British Left and India. Metropolitan Anti-Imperialism 1885–1947, Oxford 2007, S. 286. 19 Mehr zu diesem Phänomen bei Catherine Ann Cline: Recruits to Labour. The British Labour Party 1914–1931, Syracuse, NY 1963; Martin Pugh: »Class traitors«. Conservative recruits to Labour 1900–30, in: English Historical Review, Bd. 113, Nr. 450 (1998), S. 38–64.
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einen Rückschlag, als er mit MacDonald bei dessen Rückkehr ins Parlament und noch vor dessen Regierungs- und Kabinettsbildung aneinandergeriet. Schon vor Labours Ausscheiden aus der Regierung war Wedgwood, der gemeinhin einen Ruf als lautstarker Langweiler hatte, für seine politischen Versäumnisse, sein »Ungestüm und seine Indiskretion« bekannt. Er wurde bei der Kabinettsbildung im Jahr 1929 nicht wieder berücksichtigt.20 Trevelyan galt 1924 als durchaus erfolgreich, doch nicht mehr nach 1929. Anfang 1931 musste er erleben, wie die von ihm vorangetriebene Verlängerung der Schulpflicht bis zum 15. Lebensjahr wegen verschiedener, hauptsächlich religiöser Faktoren ausgebremst wurde. Unter Groll und mit massiven Vorwürfen gegen MacDonald und seine Ministerkollegen trat er zurück.21 Beide, Wedgwood und Trevelyan, kandidierten interessanterweise 1931 wieder für die Unterhauswahlen (Wedgwood mit Erfolg), waren aber nicht bereit, die neue Geschäftsordnung der Partei zu akzeptieren, so dass sie ohne Labours offizielle Unterstützung in den Wahlkampf gingen.22 Trevelyan wurde 1939 zusammen mit Sir Stafford Cripps und Aneurin Bevan aus der Partei ausgeschlossen, weil er für Wahlbündnisse mit anderen Parteien gegen die Wiederwahl der Nationalen Regierung bei den nächsten Unterhauswahlen plädiert hatte.23 Thomsons Regierungsbeteiligung fand im Oktober 1930 durch den Unfall des R101 Luftschiffs, bei dem er getötet wurde, ein plötzliches Ende.24 Thomson hatte sich aber schon vorher in privaten Gesprächen sehr kritisch gegenüber MacDonald geäußert, auch wenn dieser ihn weiterhin als engen Freund ansah.25
20 Paul Mulvey: The Political Life of Josiah C. Wedgwood. Land, Liberty and Empire 1872–1943, Woodbridge 2010, S. 132 u. 151. 21 Dalton, mit dem er Mitte der 1920er Jahre sehr befreundet war, war 1930 äußerst kritisch; siehe z. B.: The Political Diary [wie Anm. 17], S. 119 u. 136; siehe auch Andrew J. A. Morris: C. P. Trevelyan 1870–1958. Portrait of a Radical, London 1979. 22 Andrew Thorpe: The British General Election of 1931, Oxford 1991, S. 182. 23 Ben Pimlott: Labour and the Left in the 1930s, Cambridge 1977, S. 177–181. 24 Die R101 stellte den Höhepunkt der britischen Produktion von mit Wasserstoff gefüllten Luftschiffen in Starrbauweise dar. Es galt als Meisterleistung britischer Ingenieurskunst und war als das erste einer ganzen Flotte gedacht, die den Transit durch das britische Empire erleichtern sollte. Doch auf seiner Jungfernfahrt im Oktober 1930 nach Karachi stürzte es in der Nähe von Beauvais, Frankreich, ab und fing Feuer. 47 Passagiere und Crew-Mitglieder wurden getötet, einschließlich Lord Thomson. Das Programm wurde daraufhin eingestellt. 25 David Marquand: Ramsay MacDonald, London 1977, S. 568; Onslow, bearb. von Robin Higham: Thomson, Christopher Birdwood, Baron Thomson, ODNB, https:// doi.org/10.1093/ref:odnb/36500 [letzter Zugriff am 15. Mai 2023].
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Auch die drei anderen aus der Mittelschicht stammenden Minister kamen nicht einmal in die Nähe der Parteispitze oder einer führenden Rolle in der Regierung. Benn war ursprünglich ein Abgeordneter der Liberalen gewesen, bevor er sich aus Karrieregründen und wegen politischer Erwägungen für einen Wechsel zur Labour Partei entschloss. Er hatte 1927 sein Mandat für die Liberalen aufgegeben und bei den nächsten Wahlen einen Sitz für die Labour Partei in einem anderen Wahlkreis gewonnen. Ebenso wie William Jowitt und Joseph M. Kenworthy gehörte er damit zur zweiten Überläuferwelle der Zwischenkriegszeit von den Liberalen zu Labour. Aus dieser Kohorte brachte es Benn am Weitesten: Von Anfang an hatte er MacDonald beeindruckt, der ihn 1929 zum Minister für Indien machte. In dieser Funktion brachte er einige wichtige Entwicklungen auf den Weg, jedoch nicht als Alleinverantwortlicher, da MacDonald großes Interesse für die Angelegenheiten seines Ressorts zeigte und sich aktiv an der ersten Round-Table-Konferenz 1930 beteiligte. Manche nahmen an, dass es seine Unterwürfigkeit gegenüber MacDonald war, die ihm seinen Posten überhaupt erst eingebracht hatte.26 Der Verlust seines Mandats 1931 war ein herber Rückschlag für jegliche Ambitionen auf eine Karriere innerhalb der Partei, die er gehegt haben mochte. Die Kandidatur in einem für ihn ungünstigen Wahlkreis führte 1935 zu einer weiteren Niederlage. Als er schließlich durch eine Nachwahl im Februar 1937 wieder ins Parlament einzog, hatte Attlee bereits eine Führungsgruppe ohne ihn zusammengestellt. Er konnte sich dennoch eine Position im Schattenkabinett sichern, wo er verblieb.27 Pethick-Lawrence war ein Veteran der Frauenwahlrechtskampagne, der schon viel früher als viele andere »Rekruten« von der Liberalen Partei zum Sozialismus gewechselt war. Bei der Bildung der ersten Labour-Regierung wurde er übersehen, weil er gerade erst zum Abgeordneten gewählt worden war, doch er fungierte von 1929 bis 1931 im Rang eines Staatssekretärs als Snowdens Stellvertreter im Finanzministerium, eine Position, die gemeinhin als der wichtigste Posten auf dieser Ebene galt. Der Verlust dieses Amtes im Jahr 1931 machte den Verlust seines Parlamentsmandats im gleichen Jahr noch schmerzlicher. 1935 kehrte er ins Parlament zurück und wurde danach jedes Jahr erneut ins Schattenkabinett gewählt. Während der Koalitionszeit unter Churchill überging ihn dieser aber für ein Regierungsamt. Bei der Regierungsbildung unter Attlee im Jahr 1945 war Pethick-Lawrence bereits eine Art Relikt: 26 Siehe Ben Pimlott (Hg.): The Second World War Diary of Hugh Dalton 1940–45, London 1986, S. 158, Eintrag vom 13.2.1941. 27 Leslie Hale, bearb. von Mark Pottle: Benn, William Wedgwood, first Viscount Stansgate’, ODNB, https://doi.org/10.1093/ref:odnb/30705 [letzter Zugriff am 15. Mai 2023].
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Schon 1940 hatte Attlee ihn für zu alt für das Koalitionskabinett gehalten.28 So musste er sich glücklich schätzen, dass er, nun bereits 73 Jahre alt, überhaupt für ein Kabinettsamt in Betracht kam. Als Minister für Indien blieb er allerdings farblos und wurde 1947 entlassen. Er galt als kompetenter Administrator mit einigem Intellekt, doch es fehlte ihm an wesentlichen Führungsqualitäten wie Schwung, Charisma und der Fähigkeit, sich zu vernetzen.29 Lees-Smith, der letzte dieser Gruppe, war Universitätsdozent, der während der zweiten Labour-Regierung weniger als sechs Monate im Erziehungsministerium (als Nachfolger Trevelyans) diente. Er war keine unwichtige Figur: 1910 war er als Liberaler ins Parlament gewählt worden und, aus ähnlichen Gründen wie Trevelyan und andere, zur Labour Partei übergewechselt. Hätte er in den Wahlen von 1923 nicht sein Parlamentsmandat verloren, wäre er sicher für ein Amt als Junior-Minister in der ersten Labour-Regierung in Betracht gekommen. Nach seinem Wiedereinzug ins Parlament wurde er zwischen 1924 und 1928 jährlich wiederkehrend ins Schattenkabinett gewählt, erhielt aber erst 1929 einen Posten im Rang eines Junior-Ministers (Postminister), bevor er 1931 Trevelyans Nachfolger wurde. Er verlor sein Mandat bei den Wahlen 1931, kehrte aber 1935 ins Parlament zurück und wurde sofort ins Schattenkabinett gewählt, wo er bis zum Ende des Jahrzehnts verblieb. 1940/41 diente er in Abwesenheit Attlees, der nun der Regierung angehörte, als amtierender Fraktionsvorsitzender der Labour Partei und hatte damit als »Oppositionsführer« die Aufgabe, die Koalitionsregierung im Parlament zur Verantwortung zu ziehen.30 Sein Tod infolge einer Atemwegserkrankung im Dezember 1941 wurde sehr betrauert, doch war er niemals ein ernstzunehmender Anwärter auf die obersten Führungspositionen in der Labour Partei gewesen.31 Attlee hatte ihn nicht einmal für ein Amt in der Koalition in Betracht gezogen, weil er ihn für »zu langsam« hielt.32 Damit bleiben nur noch die vier in den 1870er Jahren geborenen Gewerkschafter, die den ersten beiden Labour-Kabinetten angehörten: Bondfield, 28 The Second World War Diary [wie Anm. 26], S. 12, Eintrag vom 18.5.1940. 29 Brian Harrison: Lawrence, Frederick William Pethick-, Baron Pethick-Lawrence’, ODNB, https://doi.org/10.1093/ref:odnb/35491 [letzter Zugriff am 15. Mai 2023]; siehe auch F. W. Pethick-Lawrence: Fate Has Been Kind, London 1942. 30 Robert Crowcroft: Attlee’s War. World War II and the Making of a Labour Leader, London 2011, S. 57–61, 85 u. 116. 31 David E. Martin: Lees-Smith, Hastings Bertrand, DLB IX (1993), S. 175–181; Andrew Thorpe: Smith, Hastings Bertrand Lees-, ODNB, https://doi.org/10.1093/ ref:odnb/66087 [letzter Zugriff am 15. Mai 2023]. 32 The Second World War Diary [wie Anm. 26], S. 12, Eintrag vom 18.5.1940.
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Hartshorn, Shaw und Thomas. Die ersten drei stellen für die Beantwortung unserer Leitfragen keine großen Probleme dar. Tom Shaw verließ mit zwölf Jahren die Schule, um in einer Textilmühle zu arbeiten. Über die Textilarbeitergewerkschaft kam er zur Politik und zur Labour Partei. Kurse in Erwachsenenbildung, vor allem in Fremdsprachen, halfen ihm auf diesem Weg. 1911 wurde er Sekretär der »Internationalen Vereinigung der Textilarbeiter-Assoziationen« (International Federation of Textile Workers’ Associations), eine Position, die er mit Unterbrechungen bis zu seinem Tod im Jahr 1938 behielt. Zusammen mit dem Österreicher Friedrich Adler war er außerdem von 1923 bis 1925 Sekretär der Sozialistischen Arbeiterinternationale. Während des Ersten Weltkriegs fungierte er als Direktor des »National Service« für den Bereich West Midlands. Als Kandidat für Preston wurde er 1918 ins Parlament gewählt und entwickelte sich bald zu einem Glanzlicht der ansonsten eher blassen Labour-Fraktion. Seine stetig wachsende Reputation wurde mit der Ernennung zum Arbeitsminister im Labour-Kabinett von 1924 gekrönt. Er galt als zuverlässig, man traute ihm aber nicht das Zeug für einen Führungsposten zu. Als er 1929 ins Kabinett zurückkehrte, bekam er den Posten als Kriegsminister – kaum der geeignetste Ausgangspunkt, um seinen Führungsanspruch in der Partei anzumelden. Nach dem Verlust seines Sitzes im Jahr 1931 kehrte er nicht mehr ins Parlament zurück.33 Vernon Hartshorn saß ebenfalls in beiden Kabinetten. Er war ein Bergarbeiter aus Süd-Wales, der zunächst zum Büroarbeiter und später zum Gewichtskontrolleur aufstieg. Im Bergarbeiterstreik von 1912 wurde er zu einer prominenten Figur. 1918 gewann er einen Sitz im Parlament, wo er Eindruck zu machen begann. So war es keine Überraschung, als MacDonald ihn in seinem ersten Kabinett zum Postminister machte. Dass er 1927 zum Mitglied der oben erwähnten Simon-Kommission ernannt wurde, ist Beweis für das Ansehen, das er genoss. Nachdem die Kommission 1930 ihre Arbeit abgeschlossen hatte, berief ihn MacDonald bei der Kabinettsumbildung nach Mosleys Rücktritt ins Kabinett. Als intelligenter, sachkundiger und pragmatischer Moderater erwartete man von ihm eine führende Rolle im Kabinett. Trotz dieser vielversprechenden Anzeichen blieb ihm bis zu seinem vorzeitigen Tod im März 1931 kaum Zeit, Fuß zu fassen.34 Zum Zeitpunkt seines Todes sahen ihn zwar 33 J. S. Middleton, bearb. von Marc Brodie, Shaw, Thomas, ODNB, https://doi.org/10.1093/ ref:odnb/36052 [letzter Zugriff am 15. Mai 2023]. 34 Joyce Bellamy/John Saville, Hartshorn, Vernon, DLB, I (1972), S. 150–152; W. L. Cook, bearb. von Robert Ingham, Hartshorn, Vernon, ODNB, https://doi.org/10.1093/ ref:odnb/33744 [letzter Zugriff am 15. Mai 2023].
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nur wenige als einen aussichtsreichen Kandidaten für den Parteivorsitz. Doch behielt Labour bei den Parlamentswahlen 1931 in seinem südwalisischen Wahlkreis Ogmore mit Leichtigkeit die Mehrheit. Hätte er also länger gelebt, wäre er zusammen mit Lansbury einer der beiden einzigen noch im Amt verbliebenen Minister gewesen. Unter diesem Blickwinkel war die Nachfolge Hendersons als Parteivorsitzender im Jahr 1932 vielleicht weniger selbstverständlich als sie in der Tat schien (siehe unten). Margaret Bondfield stammte aus Somerset und arbeitete im Einzelhandel, wo sie sich für die Interessen von Arbeitnehmerinnen einsetzte und bald in der Gewerkschaftsbewegung aktiv wurde. Sie arbeitete vor allem eng mit Mary Macarthur im »Nationalen Verband für Arbeitnehmerinnen« (National Federation of Women Workers, NFWW) zusammen. Nach dem Krieg wurde sie eine prominente Figur in der »Gewerkschaft für Allgemeine und Kommunalarbeiter« (National Union of General and Municipal Workers, NUGMW), mit der sich der NFWW zusammengeschlossen hatte. Als Macarthur 1921 unerwartet verstarb, übernahm Bondfield ihr Amt als Frauenbeauftragte (women’s officer). Zu diesem Zeitpunkt saß sie schon als erste Frau im Vorstand des TUC und wurde 1923 dessen erste weibliche Vorsitzende. Im selben Jahr wurde sie ins Unterhaus gewählt und erhielt 1924 als Parlamentarische Staatssekretärin im Arbeitsministerium unter Shaw als erste Frau in Großbritannien einen Regierungsposten. Ihre Ernennung zur ersten weiblichen Arbeitsministerin im Kabinett der zweiten Labour-Regierung 1929 war zu dieser Zeit sicher gewagt, machte aber angesichts ihrer Leistungen und ihrer fortgesetzten Arbeit für die Gewerkschaftsbewegung durchaus Sinn. Anfänglich waren die Hoffnungen groß, dass sie als Arbeitsministerin Erfolge verbuchen könnte, doch das Amt erwies sich als vergiftetes Geschenk. Die Staatsausgaben für Arbeitslosenunterstützung schraubten sich im Zuge der massiven wirtschaftlichen Krise in die Höhe und ihr Verhältnis zu anderen führenden Ministern und Gewerkschaftsführern verschlechterte sich. Gerechterweise darf man nicht vergessen, dass sie außerdem mit einer gehörigen Portion Sexismus konfrontiert war. So oder so war ihre Karriere um 1931 belastet. Zu diesem Zeitpunkt war die Idee einer Frau an der Spitze einer der dominierenden Parteien Großbritanniens ohnehin so gut wie unvorstellbar; und was Bondfield anging, hatte sie 1931 überhaupt keine Chance.35 35 Marion Miliband, Bondfield, Margaret Grace, DLB II (1974), S. 39–45; Philip Williamson, Bondfield, Margaret Grace, ODNB, https://doi.org/10.1093/ref:odnb/31955 [letzter Zugriff am 15. Mai 2023]; siehe auch Margaret Bondfield: A Life’s Work, London 1948; Tony Judge: Margaret Bondfield. First Woman in the Cabinet, London 2018.
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Der vierte im Quartett der Gewerkschafter war Jimmy Thomas, dessen Fall völlig anders lag. Die Nachwelt hatte nichts als Herablassung für ihn übrig. Für den Karikaturisten David Low war er ganz einfach »Lord Dress Suit«, eine Witzfigur: ein Aufsteiger aus der Arbeiterklasse mit Starallüren, der sich und damit indirekt auch seine Partei lächerlich machte. Es ging das Gerücht, dass er ein Favorit von König George V. war, da beide eine Vorliebe für derben Humor hatten.36 So enthalten Thomasʼ Memoiren von 1937 auch ein ganzes Kapitel mit der Überschrift »Some Cherished Memories of the Royal House« (Einige besondere Erinnerungen an das Königshaus).37 In seinem 1929 veröffentlichten Buch über die Labour Partei beschrieb der deutsche sozialistische Journalist Egon Wertheimer Thomas als »eine der seltsamsten Figuren der internationalen Arbeiterbewegung«: »Er ist britisch durch und durch und stolz auf seine Nationalität in einem Ausmaß, wie es ein kontinentaler Führer nie wagen würde zuzugeben, es sei denn er wäre ein ausgesprochener Chauvinist. Er erzeugt um sich herum eine Atmosphäre vulgärer Herzlichkeit und plumper Vertraulichkeit, die das gesamte britische Empire mit Ausnahme von etwa einem Dutzend Kommunisten für sich eingenommen haben. […] Die etwas vage Vorstellung von ›nationaler Einheit und nationaler Homogenität‹ hat in diesem Mann seine lebendige Verkörperung gefunden und gleichzeitig ein absurdes Ausmaß erreicht.«38 »Schon aus ästhetischen Gründen«, schloss Wertheimer missbilligend, »wäre es vielleicht besser, wenn der Aufstieg der britischen Arbeiterklasse nicht für Millionen durch diesen Mann und seine äußeren Gewänder symbolisiert würde.«39 Bei all dem war, wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, ein gewisses Maß an Berechnung mit im Spiel: Thomas war auf die Konstruktion einer politischen Persona bedacht, die ihm innerhalb seiner Gewerkschaft – und später auch im ganzen Land – breite Zustimmung einbringen würde. Er hatte die Fähigkeit, nicht nur »typische« Labour-Anhänger anzusprechen und Labour-Politik mit einem breiten, wenn auch etwas unausgereiften Patriotismus und einem Toryismus der Arbeiterklasse zu verbinden, womit er seinen Wahlkreis Derby fest im Griff behielt.40 Heutige Labour-Politiker, die den verlorengegangen Einfluss der Partei in den Midlands und im Norden des Landes
36 37 38 39 40
Kenneth Rose: King George V, London 1983, S. 361. James H. Thomas: My Story, London 1937, S. 144–166. Egon Wertheimer: Portrait of the Labour Party, London 1929, S. 178. Ebenda., S. 181. Andrew Thorpe: J. H. Thomas and the rise of Labour in Derby 1880–1945, in: Midland History 15 (1990), S. 111–128.
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zurückgewinnen wollen – in den Wahlkreisen der so genannten »Red Wall«, die bei den Parlamentswahlen 2019 in großer Zahl an die Konservativen abgegeben werden mussten – könnten möglicherweise etwas von Thomasʼ erfolgreicher Karriere lernen.41 Dennoch zeigt all dies, dass er als Parteivorsitzender niemals in Betracht gekommen wäre. 1916 war David Lloyd George erpicht darauf, ihn in seinem neuen Kriegskabinett zu haben, doch Thomas zog seine Gewerkschaftsarbeit vor, möglicherweise unter der Annahme, dass die neue Regierung keine lange Lebensdauer haben würde. Aus den Wahlen von 1918 ging er als ein führender Labour-Abgeordneter hervor, war aber im Weiteren vor allem mit Gewerkschaftsangelegenheiten beschäftigt, beispielsweise mit dem großen Eisenbahnerstreik von 1919, und zeigte kaum Ambitionen, die schwache und wenig einfallsreiche Labour-Fraktion zu leiten. Als 1922 die nächsten Wahlen anstanden, war Thomas für viele auf der Labour-Linken bereits völlig unakzeptabel geworden. Viele sahen in ihm einen »Verräter« der Bergarbeiter bei dem Zusammenbruch der »Triple Industrial Alliance« am »Schwarzen Freitag im April 1921«.42 Noch schlimmer wurde ihm angekreidet, dass er nachträglich eine kommunistische Zeitung verklagte, die sein Vorgehen kritisiert hatte, und unter Eid schwor, dass er kein Sozialist sei. Seine Mitarbeit in der Regierung von 1924 als Kolonialminister konnte sein Renommee in der Partei kaum steigern, und als er erneut in einen Fall von Verrat und Kapitulation verwickelt war – dieses Mal als Hauptperson bei der Entscheidung des Generalrats des TUC, den Generalstreik im Mai 1926 nach neun Tagen zu beenden – wurde er zu einer Art Hassfigur für die Labour-Linke. Doch seine Beziehungen zu MacDonald waren weiterhin gut, und er verblieb in seiner Position als politischer Generalsekretär der NUR. All dies brachte ihm 1929 einen Ministerposten ein – MacDonald hätte sogar lieber ihn als Henderson zum Außenminister gemacht, der am Ende diese
41 Zur »Red Wall« siehe z. B. Deborah Mattinson: Beyond the Red Wall. Why Labour Lost, How the Conservatives Won, and What Will Happen Next?, London 2020. 42 Die »Triple Alliance« war eine seit 1914 bestehende Dreier-Allianz zwischen Bergarbeiter-, Eisenbahner- und Transportarbeitergewerkschaft. Die Vereinbarung zwischen ihnen sah vor, dass, wenn eine dieser Gewerkschaften einen Streik ausrief, sie die anderen beiden zur Unterstützung aufrufen konnte. Im April 1921 sperrten die Grubenbesitzer streikende Bergarbeiter aus, um geringere Löhne und längere Arbeitszeiten durchzusetzen. Die Bergleute forderten die Unterstützung der anderen beiden Gewerkschaften, doch aus verschiedenen Gründen kamen diese ihrer Verpflichtung nicht nach. Die Bergleute kämpften alleine weiter, mussten sich aber vier Monate später geschlagen geben. Thomas insbesondere galt als Gegner der Erfüllung der Bedingungen der Allianz, was ihm große Verachtung einbrachte.
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Funktion bekleidete. Doch seine kläglichen Misserfolge als Minister bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in den Jahren 1929/30 nahmen ihm seine Aufstiegschancen in der Partei ein für alle Mal, ungeachtet seiner Ambitionen, Snowden als Finanzminister abzulösen, nachdem dieser Anfang 1931 schwer erkrankte. Im Verlauf dieses Jahres trat er, ebenso wie MacDonald, aus der Labour Partei aus und fungierte als Minister in der Nationalen Regierung, bis er wegen Verletzung des Haushaltsrechts 1936 zurücktreten musste.43 Von den in den 1870er Jahren geborenen Politikern war Thomas zweifellos derjenige, der am ehesten in die Nähe der Parteispitze hätte kommen können. Am Ende war aber die von ihm vertretene Form von Labour-Politik zu eigentümlich, um ihn zu einem genuinen Anwärter auf den Vorsitz zu machen. Dazu wurden seine Schwächen und Fehlschläge im Laufe seiner Karriere in den 1920er Jahren immer deutlicher. Auch wenn sich die Partei 1931 nicht gespalten hätte, ist kaum vorstellbar, dass er MacDonald als Vorsitzenden abgelöst hätte; wenige hielten dies für denkbar – auch MacDonald selbst nicht.44
IV. Gab es vielleicht andere in den 1870er Jahren geborene Politiker, die unter anderen Umständen hätten Bedeutung erlangen können? Kontrafaktische Überlegungen sind zwar immer riskant, aber von denjenigen, die starben, bevor sie ihr volles Potenzial entfalten konnten, war William C. Anderson der wichtigste »verlorene Führer« der 1870er Kohorte. Anderson, 1877 in Schottland geboren, war von 1910 bis 1913 Vorsitzender der »Unabhängigen Labour Partei« (Independent Labour Party, ILP), nachdem er erfolgreich zwischen den miteinander in Disput liegenden Parteiführern, allen voran MacDonald und Snowden, vermittelt hatte. Im Dezember 1914 wurde er als Labour-Abgeordneter für Sheffield Attercliffe ins Parlament gewählt. Er machte sich bald als scharfer Kritiker des Krieges und vor allem der Einführung der Wehrpflicht 1916 einen 43 Überraschenderweise ist die jüngste Vollbiographie schon älteren Datums: Gregory Blaxland: J. H. Thomas. A Life for Unity, London 1964; für eine aktuellere Sichtweise siehe Philip Williamson: Thomas, James Henry, ODNB, https://doi.org/10.1093/ ref:odnb/36477 [letzter Zugriff am 15. Mai 2023]. 44 Im Herbst 1929 äußerte Lord Thomson in einem Gespräch mit Beatrice Webb, dass man von Thomas erwarte, »Premierminister zu werden, bevor er 60 ist«, doch sie tat dies ab mit den Worten: »›Jimmy‹ hat keinen Rückhalt in der Partei, wenn er auch noch so beliebt ist bei den Großindustriellen« siehe: Passfield papers (online), Tagebuch Beatrice Webb, Eintrag vom 23.9.1929.
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Namen. Auf dem berühmten Parteitag in Leeds 1917 war es Anderson, der in einer sehr positiv aufgenommenen Rede die umstrittene vierte Resolution vorbrachte, die im Interesse des Friedens und der Arbeiterklasse und in Anlehnung an die erste russische Revolution von 1917 zur Bildung von »Arbeiter- und Soldatenräten« in ganz Großbritannien aufrief.45 Zwar wurde nichts aus dem Vorschlag von »britischen Sowjets«, doch die Tatsache, dass Anderson Teil eines Rednerfeldes mit Starbesetzung war, deutet auf sein wachsendes Ansehen in der Bewegung hin. Viele hielten ihn für einen wahrscheinlichen zukünftigen Führer der Partei. Er und seine Ehefrau Mary Macarthur, die prominenteste weibliche Labour-Persönlichkeit ihrer Zeit, bildeten ein »Labour-Powerduo«, das mit der Zeit sicherlich mit den noch bekannteren Paaren wie Margaret und Ramsay MacDonald oder Aneurin Bevan und Jennie Lee hätten konkurrieren können. Doch von diesem Zeitpunkt an war Andersons Stern am Sinken. Wie die meisten Labour-Abgeordneten, die den Krieg kritisierten, verlor er bei den Wahlen im Dezember 1918 sein Mandat. Im Februar 1919 erkrankte er an der Spanischen Grippe und starb im Alter von nur 42 Jahren.46 Selbst gemessen an den Maßstäben der bei vorzeitigen Todesfällen üblichen Ergüsse wurde Anderson von einer breiten Masse der Arbeiterbewegung betrauert. Selbst mehr als ein Jahrzehnt später ließ Snowden keinen Zweifel an seinen Qualitäten aufkommen: »Es gibt nur weniges, das man mit Sicherheit vorhersehen kann, doch ich kann ohne Umschweife sagen, dass er aus der damaligen Generation jüngerer Männer in der Labour-Partei in Bezug auf all die Qualitäten, die einen Staatsmann ausmachen, weit herausstach. Zur Zeit seines Todes hatte er noch nicht seine volle Reife entwickelt, obwohl er schon 15 Jahre lang im öffentlichen Leben gestanden hatte. Er war in ständiger Entwicklung begriffen, sowohl in seiner Rednergabe, seiner Urteilskraft und seinem Vorstellungsvermögen. Niemand, der ihn näher kannte, hätte die Grenzen seiner Möglichkeiten aufzeigen können. Ich bin sicher, dass es im politischen Leben dieses Landes keinen Mann gab, der so sichere Aussichten auf das höchste Staatsamt hatte wie er.«47
45 https://www.marxists.org/history/international/social-democracy/1917/leeds.htm [letzter Zugriff am 5. März 2021]. 46 Cathy Hunt: Righting the Wrong. Mary Macarthur 1880–1921. The Working Woman’s Champion, Alcester 2019, S. 146 f. 47 Philip Viscount Snowden: An Autobiography, 2 Bde., London 1934, Bd. II., S. 549.
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Besonders bemerkenswert an Anderson war nicht nur seine Fähigkeit, bei der Linken Anklang zu finden, sondern auch seine sich vor allem im Verlauf seines letzten Lebensjahres herauskristallisierende Einsicht, dass er auch die breitere Parteibasis ansprechen und mit dem Partei-Establishment zusammenarbeiten müsse, hier vor allem mit Henderson, dem Parteisekretär, der die Leitung der Organisation in der Hand hatte. In gewissem Sinne war dies der Ansatz, den MacDonald dann erfolgreich in den 1920er Jahren als Parteivorsitzender anwenden sollte. Wäre Anderson am Leben geblieben, hätte ihn MacDonald bei seiner Kabinettsbildung kaum übergehen können und am Ende des Jahrzehnts hätte er durchaus dessen Nachfolger werden können. Es ist fraglich, ob Vernon Hartshorn jemals als einer der »verlorenen Führer« galt. Dennoch war er derjenige von den in den 1870er Jahren geborenen Labour-Politikern, der vielleicht die größte Chance auf den Vorsitz hatte. Wie oben erwähnt, saß er im ersten und zweiten Labour-Kabinett, starb aber bereits im März 1931. Wäre er am Leben geblieben, hätte sich eine interessante kontrafaktische Konstellation ergeben. Ogmore in Süd-Wales, das er im Parlament vertrat, war ein sicherer Labour-Wahlkreis und wurde auch von seinem Nachfolger bei den Parlamentswahlen 1931 mit großer Mehrheit verteidigt. Wäre Hartshorn also in den Jahren nach 1931 ein Abgeordneter in der winzigen Labour-Fraktion gewesen, hätte er 1931/32 mit Lansbury um den Fraktionsvorsitz konkurriert, und, als sich Henderson 1932 nicht wieder zur Wahl stellte, auch um den Parteivorsitz. Lansbury hätte hier natürlich immer noch gewinnen können, doch sollte man berücksichtigen, dass der LabourParteivorsitzende nur von den Abgeordneten gewählt wurde, und dass von den 46 Labour-Abgeordneten 23 von Hartshorns Gewerkschaft, der MFGB, unterstützt wurden, was ihm einen ziemlichen Vorteil verschafft hätte. Dieser Punkt ist natürlich nicht verifizierbar, aber höchst interessant. Andere Personen, deren vorzeitiger Tod den Aufstieg an die Parteispitze verhinderte, lassen sich nur schwer ausmachen. Vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges war der Topos von der »verlorenen Generation« in der Zwischenkriegszeit sehr beliebt. Beatrice Webb hat oft und gern darüber spekuliert, ob der »echte« Labour-Führer, für den MacDonald nur ein »Ersatz« war, nicht im Grabenkrieg zwischen 1914 und 1918 gefallen war. Das ist natürlich eine Frage, die sich nicht beantworten lässt. Doch falls dies tatsächlich der Fall gewesen wäre, hätte es sich um jemanden gehandelt, der vor 1914 keinen nennenswerten Einfluss auf die Politik der Labour Partei gehabt hatte. Für die 1870er Jahrgänge war der Tod auf dem Schlachtfeld ohnehin kein sehr wahrscheinliches Ende. Einige von ihnen hatten sich 1914 und 1915 freiwillig gemeldet und die Wehrpflicht galt ab 1916 für Männer bis 49 Jahre (also für die 1867
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und danach Geborenen). Doch der größte Teil der Mannschaften und auch der Verluste betraf sehr viel jüngere Männer. Es gab allerdings eine Reihe von in den 1870er Jahren geborenen Politikern, die ihren Weg zumindest in das weitere Umfeld der Parteispitze machten. Zehn fungierten als Junior-Minister in der ersten Labour-Regierung und zwölf in der zweiten, ohne allerdings jemals einen Kabinettsposten zu bekleiden. In Erfahrung, Fähigkeiten und Potenzial unterschieden sie sich erheblich. Rhys Davies war 1924 eine enttäuschende Nummer zwei nach Henderson im Innenministerium, der ihn nicht besonders schätzte. Davies wurde in der zweiten Regierung keine Funktion, nicht einmal eine untergeordnete, angeboten.48 Es gab einige, die achtbar, aber eher glanzlos agierten, beispielsweise Frederick O. Roberts, der als Minister für Renten in beiden Labour-Regierungen diente, ohne jemals für einen Kabinettsposten in Frage zu kommen.49 [Im britischen System unterscheidet man, wie bereits angemerkt, zwischen senior ministers oder secretaries of state, die einen Sitz im Kabinett haben, und junior ministers, die nicht im Kabinett vertreten sind, Anm. d. Ü.] Sydney (später Lord) Arnold, der sowohl 1914 als auch 1929 in das Amt eines Junior-Ministers berufen wurde, war ein persönlicher Freund MacDonalds, trat aber frustriert und desillusioniert Anfang 1931 als Generalzahlmeister zurück.50 Arthur Ponsonby, ein »Rekrut« von den Liberalen, der über die »Union für demokratische Kontrolle« (Union of Democratic Control, UDC) zur Labour-Partei gekommen war und großes Interesse an außenpolitischen Fragen hatte, musste sich 1924 mit einem Posten als MacDonalds Staatssekretär im Außenministerium und von 1929 bis 1931 als Morrisons Stellvertreter im Ministerium für Transport begnügen. Seine Ambitionen auf den Posten als britischer Botschafter in der Sowjetunion nach der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen im Jahr 1929 wurden enttäuscht, als Henderson einen Berufsdiplomaten für diesen Posten ernannte.51 Am Ende wurde er nach 1931 Vorsitzender der winzigen
48 Keith Gildart: Davies, Rhys John, DLB XII (2005), S. 64–72; Hugh Dalton: Call Back Yesterday. Memoirs 1887–1931, London 1953, S. 215. 49 Zu Roberts siehe Herbert Tracey (Hg.): The Book of the Labour Party. Its History, Growth, Policy, and Leaders, 3 Bde., London 1925, Bd. III, S. 255–258; Labour Party (Hg.): Report of the Annual Conference of the Labour Party 1942, London 1942, S. 31. 50 Mark Pottle: Arnold, Sydney, Baron Arnold, ODNB, https://doi.org/10.1093/ ref:odnb/40219 [letzter Zugriff am 15. Mai 2023]. 51 Brian Bridges: Red or expert? The Anglo-Soviet exchange of ambassadors in 1929, in: Diplomacy and Statecraft 27, 3 (2016), S. 437–452, besonders S. 444–446.
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Labour-Fraktion im Oberhaus.52 Andere wie George Gillett (der MacDonald 1931 in die Nationale Regierung folgte),53 William Leach,54 Charles Ammon,55 Fred Montague,56 William Lunn57 und William R. Smith58 bekleideten leitende Funktionen, hatten aber kaum das Zeug für einen Kabinettsposten, geschweige denn die Parteispitze. Die einzige, die es von den in den 1870er Jahren geborenen Junior-Ministern hätte weiterbringen können, war Susan Lawrence. Lawrence begann ihre Karriere vor dem Krieg als konservatives Mitglied des London County Council, der höchsten kommunalen, seit 1889 bestehenden und direkt gewählten Behörde der Hauptstadt. Beeinflusst von Mary Macarthur konvertierte sie zur Labour Partei, für die sie von 1913 bis 1927 im London County Council saß. Als sie bei den Parlamentswahlen 1923 den Wahlkreis East Ham North gewann, war sie noch zu jung für eine Position in der ersten Labour Regierung. 1929 wurde sie dann jedoch zur Parlamentarischen Staatssekretärin im Gesundheitsministerium unter Arthur Greenwood ernannt, wo sie großes Ansehen genoss. Auch in der Parteiorganisation war sie aktiv und arbeitete mehr als ein Jahrzehnt im Vorstand der Labour-Partei, dem National Executive Committee (NEC), in dem sie 1929/1930 auch den Vorsitz innehatte. MacDonald glaubte allerdings, dass er sich mit der Ernennung Bondfields schon weit vorgewagt hatte und wollte 1929 keine zweite Frau an seinem Kabinettstisch
52 Raymond A. Jones: Arthur Ponsonby. The Politics of Life, London 1989; Raymond A. Jones: Ponsonby, Arthur Augustus William Harry, first Baron Ponsonby of Shulbrede, ODNB, https://doi.org/10.1093/ref:odnb/35566 [letzter Zugriff am 15. Mai 2023]. 53 »The Times« vom 11.8.1939, Nachruf auf »Sir George Gillett«. 54 Zu Leach siehe Samuel V. Bracher: The Herald Book of Labour Members, London 1923, S. 104 f.; Labour Party (Hg.): Report of the Annual Conference of the Labour Party 1950, London 1950, S. 38. 55 Joyce Bellamy/Bryan Sadler/John Saville: Ammon, Charles (Charlie) George, DLB I (1972), S. 21–24; Alan Clinton: Ammon, Charles George, Baron Ammon, ODNB, https://doi.org/10.1093/ref:odnb/47321 [letzter Zugriff am 15. Mai 2023]. 56 Zu Montague siehe »The Times« vom 17.10.1966, Nachruf auf »Lord Amwell«; Labour Party (Hg.): Report of the Annual Conference of the Labour Party 1966, London 1966, S. 39. 57 Andrew Taylor: Lunn, William, ODNB, https://doi.org/10.1093/ref:odnb/65952 [letzter Zugriff am 15. Mai 2023]. 58 Zu Smith siehe »The Times« vom 28.2.1942, Nachruf auf »Mr W. R. Smith«; Labour Party (Hg.): Report of the Annual Conference of the Labour Party 1942, London 1942, S. 31.
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sitzen haben. Lawrences Niederlage bei den Wahlen 1931 schloss ihre weitere Berücksichtigung dann praktisch aus.59 Man könnte nun annehmen, dass es die Labour-Partei aus einem wie immer gearteten Grund nicht schaffte, die in den 1870er Jahren Geborenen für sich zu gewinnen, und dass aufstrebende Politiker dieser Kohorte deshalb in anderen politischen Organisationen eine Heimat suchten. Engagierten sie sich vielleicht eher bei der extremen Linken und seit 1920 in der »Kommunistischen Partei Großbritanniens« (Communist Party of Great Britain, CPGB)? Diese Frage muss man verneinen. Auf der Ebene der Parteiführung war der Kommunismus in dieser Zeit eine Angelegenheit der jungen Leute. Zwar war der Radikale Tom Mann (1856 geboren) ein Veteran der Bewegung und eine kommunistische Berühmtheit. Doch die wirkliche Macht in der Partei, sei es in der Parteiführung während der 1920er Jahre oder in der unter Harry Pollitt nach 1929, lag in den Händen von Jüngeren. Zwar war William Gallacher, der der bekannteste Abgeordnete der Partei werden sollte, schon 1881 geboren und damit ein relativ alter Mann. Andere Schlüsselfiguren in der Führungsriege der Kommunisten waren in den späten 1880er (Arthur Macmanus, John Thomas Murphy) oder 1890er Jahren geboren (Andrew Rothstein, Harry Pollitt, John Ross Campbell). Rajani Palme Dutt und William Rust, zwei wichtige Persönlichkeiten der Partei, waren 1896 bzw. 1903 geboren.60 Die einzige zentrale, in den 1870er Jahren geborene Figur war der eher schattenhafte Bob Stewart, ein in Dundee geborener Prohibitionist, der sich in den Anfangsjahren der Partei als eine Führungsfigur präsentierte und den Vorsitz in der Kontrollkommission der Partei hatte, aber später Meisterspion und Drahtzieher ihrer geheimen Verbindungen nach Moskau werden sollte.61 Unter hochrangigen Vertretern der Gewerkschaftsbewegung waren die 1870er Jahrgänge zahlreich vertreten. Der Generalrat der TUC hatte von seiner Gründung im Jahr 1921 bis 1950 etwa 120 Mitglieder; von diesen waren 33 in den 1870er Jahren geboren. Neben Bondfield und Thomas gab es eine Reihe prominenter Personen, so John Bromley, Charlie Cramp und Alexander G. Walkden von den Eisenbahnergewerkschaften, Arthur Pugh als Vertreter der 59 David Howell: Lawrence, (Arabella) Susan, ODNB, https://doi.org/10.1093/ref:odnb/34434 [letzter Zugriff am 15. Mai 2023]. 60 Andrew Thorpe: The British Communist Party and Moscow 1920–1943, Manchester 2000. 61 Zu Stewart siehe Nigel West: MASK: MI5’s Penetration of the Communist Party of Great Britain (2005), S. 215–218. Selbstverständlich gibt es in seinen verharmlosenden Memoiren keinen Hinweis auf diese geheimen Aktivitäten: Bob Stewart: Breaking the Fetters, London 1967.
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Stahlarbeiter, Julia Varley von der TGWU und George Hicks von den Bauarbeitern. Obwohl einige von ihnen auch gleichzeitig als Abgeordnete im Parlament saßen, wurde es immer schwieriger, eine gewerkschaftliche Spitzenposition mit einer parlamentarischen Karriere zu vereinen. Viele fühlten sich gezwungen, zwischen einer möglicherweise sehr kurz bemessenen ministeriellen Karriere und der gesicherten Position eines Gewerkschaftsfunktionärs zu wählen, wobei erstere zunehmend abschreckender schien. Auch wenn er nicht zu den 1870er Jahrgängen gehört, ist Frank Hodges von der MFGB ein gutes Beispiel für diesen Spagat: Er trat 1924 von seinem Posten als Gewerkschaftssekretär zurück, um eine Position als Civil Lord der Admiralität (ein Untergebener des Marineministers) zu übernehmen. Ende desselben Jahres war er arbeitslos. Es war nur seinen besonderen Fähigkeiten zu verdanken, dass er trotzdem erfolgreich wurde und Karriere machte – nicht jedoch als Labour-Führer, sondern als Geschäftsmann.62
V. Wie eingangs erwähnt, ist die Idee von politischen Generationen umstritten. Der vorliegende Beitrag hat jedoch gezeigt, dass die Frage, warum in Großbritannien die in der gleichen Dekade wie Friedrich Ebert Geborenen nicht in die Führungsriege der Labour Partei aufstiegen, interessante Ergebnisse zum Vorschein bringt. Es ist durchaus möglich, dass sich die politische Sozialisation der 1870er Jahrgänge von der der 1860er und 1880er, die weit mehr führende Labour-Politiker hervorbrachten, unterschied. Die Labour Partei, die sich zwischen 1900 und 1914 formierte, wurde ganz überwiegend von den in den 1850er und 1860er Jahren Geborenen dominiert. Insgesamt gesehen gab es diejenigen, die frühzeitig als LabourAbgeordnete ins Parlament einzogen und damit die besten Chancen hatten, sich in der sich wachsenden Organisation zu etablieren. Es gab vor 1922 nicht allzu viele Labour-Abgeordnete; und um die Zeit von Labours Durchbruch an den Wahlurnen stießen schon einige der 1880er Kohorte vor. Hätte es keinen Krieg gegeben und hätte Labour bei den Wahlen von 1915 um die 150 Sitze gewonnen, hätte es möglicherweise eine gute Chance für die 1870er Kohorte gegeben, deren Angehörige dann zwischen 36 und 45 Jahre alt gewesen wären.
62 Chris Williams: The Odyssey of Frank Hodges, in: Transactions of the Honourable Society of Cymmrodorion 5 (1999), S. 110–130.
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Außerdem war die 1870er Kohorte in den unteren ministeriellen Rängen der ersten beiden Labour-Regierungen nicht unbedeutend. Doch es ließ für die 1870er Jahrgänge nicht Gutes erahnen, dass diejenigen, die 1924 die Ränge von Staatssekretären und Junior-Ministern bekleidet hatten und 1929 in Kabinettspositionen aufstiegen, eher aus den 1880er als aus den 1870er Jahrgängen kamen, was darauf schließen lässt, das letztere möglicherweise schon als »jenseits von Gut und Böse« und am Ende ihrer Schaffensperiode galten. Gleichwohl spielten auch die Wahlen von 1931 eine Rolle. Labours katastrophale Niederlage, welche die Fraktion mit nur 46 Sitzen zurückließ, setzte den Karrieren einer Reihe von Junior-Ministern wie Susan Lawrence ein Ende. Ohne ein Parlamentsmandat hatten sie kaum Aussicht auf eine Fortsetzung ihrer Laufbahn. Der große Gewinner von 1931 war Attlee, der nur aufgrund seines erfolgreich verteidigten Parlamentssitzes und weil er nach Lansbury der ranghöchste Minister aus MacDonalds zweitem Kabinett war, stellvertretender Parteivorsitzender wurde. Er musste hart für seinen Aufstieg zum Vorsitzenden arbeiten, doch 1931 hatte ihm die Chance dafür gegeben. Für die Vertreter der 1870er Kohorte, die es 1931 ins Parlament schafften und von 1931 bis 1935 Mitglieder des Schattenkabinetts waren – Lunn, Neil Maclean63 und George Hicks64 – war es nunmehr äußerst unwahrscheinlich, jemals eine leitende Funktion in der Partei zu übernehmen. Man muss hinzufügen, dass es in gewissem Sinne überhaupt keine »1870er Kohorte« gibt: Wir haben es hier mit Individuen zu tun, die zufälligerweise im gleichen Jahrzehnt geboren wurden. Biologisch können zehn Jahre ohnehin keine Generation sein. Selbst wenn man das Künstliche dieser Definition zulässt, könnte man die Grenzlinien auch anders ziehen. Würden wir zum Beispiel die Kohorten anders anlegen, etwa von 1866 bis 1875 und von 1876 bis 1885, ergäbe sich ein ganz anderes Bild. In diesem Falle wäre MacDonald, 1866 geboren, der herausragende Politiker der älteren Generation; Attlee (1883 geboren) der der jüngeren. Eine Lücke zwischen ihnen wäre dann nicht erkennbar. Doch eine solche Einteilung würde ignorieren, dass beispielsweise Henderson (1863 geboren) und MacDonald in vielerlei Hinsicht zu ein und derselben Generation gehörten.
63 Zu Maclean siehe T. N. Shane, Neil Maclean, CBE, MP, in: The British Labour Party [wie Anm. 49], S. 125–127; Labour Party (Hg.): Report of the Annual Conference of the Labour Party 1953, London 1953, S. 35. 64 Eric de Normann, bearb. von Marc Brodie: Hicks, (Ernest) George, ODNB, https://doi. org/10.1093/ref:odnb/33856 [letzter Zugriff am 15. Mai 2023].
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Wo immer man auch die Grenze zwischen den Generationen zieht, es lässt sich nicht leugnen, dass in den 1870er Jahren geborene Labour-Politiker nicht im gleichen Maße in den Parteirängen aufstiegen wie die vorhergehenden und nachfolgenden Jahrgänge. Vielleicht waren sie dazu bestimmt, als »Unteroffiziere« zu dienen, um in Beatrice Webbs Terminologie zu bleiben.65 Sie leisteten ihren Beitrag, der aber insgesamt nicht besonders einflussreich oder herausragend war. Bedeutendere Beiträge kamen dagegen von den in den Jahrzehnten davor und danach Geborenen.
65 Passfield papers (online), Tagebuch Beatrice Webb, Eintrag vom 2.8.1926.
Ad Knotter
Generationswechsel und Elitenbildung in der niederländischen Sozialdemokratie oder: Gab es eine »Generation Ebert« in den Niederlanden?* »Ihr Jungen, wie könnt ihr niedergeschlagen sein, wenn die Alten fröhlich sind?«1
Wer war die »Generation Ebert«? Gab es in der Geschichte der sozialdemokratischen Bewegung klar umrissene Generationen, die nicht nur von dieser geprägt waren, sondern sie auch aktiv und auf ihre eigene Weise beeinflussten? Eine Bewegung, deren Existenz sich über mehr als 150 Jahre erstreckt, muss notwendigerweise verschiedene Alterskohorten umfassen. Es ist daher legitim zu fragen, inwieweit diese aufeinanderfolgenden Kohorten »Generationen« bildeten, die nicht nur durch ein gemeinsames Alter, sondern auch durch gemeinsame Erfahrungen während der Jugendzeit geprägt waren und dementsprechend als eine Altersgruppe ein ähnliches Verhalten an den Tag legten. Bekanntlich kann man der Generationentheorie zufolge erst dann von einer »Generation« sprechen, wenn dies bei einer bestimmten Alterskohorte der Fall ist.2 In dem 2005 von Klaus Schönhoven und Bernd Braun herausgegebenen Band »Generationen in der Arbeiterbewegung« argumentieren die Auto-
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Dieser Beitrag wurde von Christine Brocks aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Der Fraktionsvorsitzende der SDAP Johan Willem Albarda auf deren Parteikonferenz im April 1930, zitiert nach: Hendrik Floris Cohen, Om de vernieuwing van het socialisme. De politieke oriëntatie van de Nederlandse sociaal-democratie 1919–1930, Leiden 1974, S. 74. Neben dem nachgerade obligatorischen Hinweis auf das grundlegende Werk von Karl Mannheim: Das Problem der Generationen, in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie 7 (1928), S. 157–185 u. S. 309–330, kann man auch verweisen auf die Einleitung von Lex Heerma van Voss in: Aad Blok u. a. (Hg.): Generations in Labour History. Papers presented to the Sixth British-Dutch Conference on Labour History Oxford 1988, Amsterdam 1989, S. 9–19 und die verschiedenen Beiträge in: Klaus Schönhoven/Bernd Braun (Hg.), Generationen in der Arbeiterbewegung, München 2005.
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ren, dass der Generationswechsel in der deutschen Sozialdemokratie mit verschiedenen politischen Führungsgenerationen verknüpft war: die »Generation Bebel« als die Generation der Gründer, die »Generation Ebert« als diejenige, die während der Weimarer Republik (1918–1933) das Zepter in der Hand hielt, und die »Generation Schumacher« für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Autoren der verschiedenen Beiträge ziehen allerdings unterschiedliche Grenzen zwischen den einzelnen Alterskohorten, die diese Generationen bildeten. So beschreibt Klaus Tenfelde in dem einleitenden Beitrag des Bandes die »Generation Bebel« als die zwischen 1840 und 1850 geborene »Pioniergeneration«,3 während Thomas Welskopp in seinem Aufsatz über die »Generation Bebel« den Beginn dieser Avantgarde-Generation deutlich eher ansetzt, indem er auch Wilhelm Liebknecht (geboren 1826) in diese Gruppe einbezieht.4 Tenfelde unterscheidet außerdem eine zweite Pioniergeneration mit zwischen 1850 und 1865 geborenen Vertretern sowie eine dritte, für die er die Bezeichnung »Generation Ebert« einführt und welche die um die Gründung des Deutschen Reiches herum, also die zwischen 1865 und 1875, Geborenen einschließt. Bernd Braun dagegen fasst für diese Generation die Geburtsjahre von 1861 bis 1884 zusammen.5 Für Braun war die »Generation Ebert« eine Art »Zwischengeneration«: zu jung, um zur »Generation Bebel« zu gehören und zu alt für die »Generation Schumacher«. Während die »Generation Bebel« die Jahre der Verfolgung unter den Sozialistengesetzen zwischen 1878 und 1890 zusammen erlebte und die »Generation Schumacher« durch ihre gemeinsamen Erfahrungen als junge Männer im Ersten Weltkrieg geprägt war, lässt sich ein solch gemeinsamer Erfahrungshorizont für die »Generation Ebert« nur schwer finden. Braun definiert das Jahr 1861 als das erste Geburtsjahr der »Generation Ebert«, da der zu Beginn der Sozialistengesetze jüngste Parlamentarier (und damit der jüngste Vertreter der »Generation Bebel«) 1860 geboren war. Das Jahr 1884 als das Geburtsjahr des jüngsten SPD -Abgeordneten, der vor der Revolution von 1918 gewählt wurde, markiert für Braun den letzten Geburtsjahrgang der »Generation Ebert«. Braun zufolge rückte die »Generation Ebert« nach der Revolution von 1918 in die Parteispitze auf und hielt ihre Führungspositionen bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933.
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Klaus Tenfelde: Generationelle Erfahrungen in der Arbeiterbewegung bis 1933, in: Schönhoven/Braun, Generationen [wie Anm. 2], S. 17–49, hier S. 37 f. Thomas Welskopp: Die »Generation Bebel«, in: ebenda, S. 51–67, hier S. 52. Bernd Braun: Die »Generation Ebert«, in: ebenda, S. 69–86, hier S. 70 f.
Generationswechsel und Elitenbildung
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Diese Definition von Generationen ist verknüpft mit der Abfolge der Parteiführer. Dabei kann die Parteiführung kontinuierlich über viele Jahre hinweg die gleiche bleiben, sobald eine bestimmte Altersgruppe die Macht übernommen hat. Der Generationswechsel in der Parteispitze war eng verbunden mit der Bildung von Eliten innerhalb der Partei. Schon 1911 veranschaulichte der Soziologe Robert Michels sein umstrittenes »ehernes Gesetz der Oligarchie« mit der »Stabilität des die Partei leitenden Personenkreises« am Beispiel der 30-jährigen Karrieren Wilhelm Liebknechts und August Bebels: »In Deutschland leben die Führer der Sozialdemokratie in der Partei, ergrauen in ihren Diensten und sterben, wie sie gelebt.«6 Die Abfolge von Generationen innerhalb der Parteispitze spiegelt daher nicht notwendigerweise einen Generationswechsel bei den Mitgliedern wider. Es ist möglich, dass die Parteibasis unterhalb der Parteiführung im Zusammenhang mit einzelnen Wachstumsschüben der Mitgliedschaft generationell sehr viel breiter gefächert war und andere generationelle Muster aufwies. Klaus Tenfelde argumentiert in seinem Beitrag, dass die Parteiführung, die sich während der Bismarck-Periode aus den ersten zwei Pioniergenerationen formierte, ihre Machtposition bis 1914 hielt, wobei sich jedoch in den Vorkriegsjahren eine neue Generation rekrutierte, die in der Partei und den Gewerkschaften aktiv wurde. Tenfelde zufolge lassen sich generationelle Konfliktlinien innerhalb der Gewerkschaften, nicht aber in der Partei erkennen, wo aus Respekt vor der »Generation Bebel« niemand »an ihren Stühlen« zu sägen wagte.7 Nach dem Krieg verjüngte sich die Partei durch den Zulauf neuer Mitglieder zwischen 1918 und 1922 weiter.8 Diese Neuzugänge wurden bekannt als »November-Mitglieder« oder »Kriegsgeneration«. Während der Weimarer Jahre spiegelte sich diese neue Generation jedoch nicht in der Parteiführung wider, die nach einer Übergangsperiode unmittelbar nach dem Krieg fest in den Händen der »Generation Ebert« verblieb. Tenfelde und Braun weisen übereinstimmend darauf hin, dass in den frühen 1930er Jahren in Bezug auf die Führung der »Generation Ebert« von »Vergreisung« oder sogar von »Arterienverkalkung«9 gesprochen wurde und sich das Schlagwort von der »Gerontokratie« einbürgerte.10 Die »November-
6 Robert Michels: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Leipzig 1911, S. 87 f. 7 Tenfelde, Generationelle Erfahrungen [wie Anm. 3], S. 41. 8 Ebenda, S. 45 f. 9 Ebenda, S. 47. 10 Braun, Die »Generation Ebert« [wie Anm. 5], S. 73.
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Generation« betrachtete die Älteren als ein Hindernis, wie ein von Braun zitierter junger Sozialist 1929 feststellte: »Geradezu katastrophal ist das zahlenmäßige Verhältnis der jungen zu den alten Kräften in allen Organisationen der Arbeiterbewegung. Überall finden wir an entscheidenden Stellen in der Bewegung sechzig bis siebzig Jahre alte Genossen, die schon lange Zeit pensioniert sein mußten.«11 Zwar ist die genaue Stärke der »November-Generation« innerhalb der Mitgliedschaft der Partei während der Weimarer Jahre nicht bekannt, doch wäre es aus sozialhistorischer Perspektive durchaus lohnenswert, zwischen verschiedenen Generationswechseln in der Parteiführung und der Partei als Ganzes zu unterscheiden.
Generationswechsel und »Erneuerung« in der niederländischen Sozialdemokratie während der 1930er Jahre In den 1920er und 1930er Jahren gehörte der Kern der Führungsriege der niederländischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) der gleichen Gruppe an wie die deutsche »Generation Ebert« in der SPD. Ihre Mitglieder waren zwischen 1859 und 1877 geboren. Einige von ihnen gehörten zu den Mitbegründern der Partei im Jahr 1894, andere waren kurz darauf zur Partei gestoßen. Wie in Deutschland ist die niederländische Führungsspitze ebenfalls als »Greisenherrschaft« charakterisiert worden.12 Noch 1933 waren mit dem Fraktionsvorsitzenden Johan Willem Albarda (1877–1957), dem Parteivorsitzenden Jan Oudegeest (1870–1950) und dem Herausgeber der Parteizeitung »Het Volk« Johan Fredrik Ankersmit (1871–1942) führende Politiker im Amt, die in den 1870er Jahren geboren waren. Innerhalb dieser Generation war der etwas ältere Willem Vliegen (1862–1947), der sein gesamtes Leben in den Dienst der Partei stellte, sogar noch eine Ausnahme. Während der Zwischenkriegsjahre stellte er die dominierende Figur in der SDAP dar. 1862 in Gulpen bei Maastricht geboren, hatte er sich 1883 in Amsterdam als junger Buchdrucker der SDAP-Vorläuferorganisation, dem »Sozialdemokratischen Bund« (Sociaal Democratische Bond, SDB), angeschlossen und war Mitglied in dessen Zentralrat geworden. In den späten 1880er Jahren baute er eine 11 Zitiert nach Braun, Die »Generation Ebert« [wie Anm. 5], S. 74. 12 Rob Hartmans: Van »wetenschappelijk socialisme« naar wetenschap en socialisme. De ideologische heroriëntering van de SDAP in de jaren dertig, in: Het twaalfde jaarboek voor het democratisch socialisme. Om de vernieuwing van het socialisme. Een drieluik, Amsterdam 1991, S. 17–45, hier S. 18.
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Niederlassung der Partei in Maastricht auf. 1894 war er einer der Mitbegründer der SDAP, von 1906 bis 1926 ihr Parteivorsitzender und bis 1939 Vorstandsmitglied. Er war noch immer dabei, als sich die SDAP 1946 auflöste und mit anderen Organisationen zur »Partei der Arbeit« (Partij van de Arbeid, PvdA) fusionierte.13 1919 war er der erste sozialistische Parteiführer in Europa nach dem Ersten Weltkrieg, der mit dem SPD -Vorsitzenden Friedrich Ebert Kontakt aufnahm, um den Wiederaufbau der Sozialistischen Internationale einzuleiten (was allerdings erst 1923 gelang).14 Vliegen schrieb außerdem eine fünfbändige Geschichte des SDB und der SDAP, die noch immer eine wichtige Quelle für Historiker der niederländischen Arbeiterbewegung darstellt.15 Die so genannte »erste Generation« von SDAP-Führern, die man in Analogie zur deutschen »Generation Ebert« auch die »Generation Vliegen« nennen könnte, sollte erst in den 1930er Jahren nach und nach von einer »zweiten Generation« abgelöst werden.16 Als Symbol für den Generationswechsel übernahm nach dem seit 1927 amtierenden Vorsitzenden und ehemaligen Gewerkschaftsführer Jan Oudegeest der frühere Jugendbewegungsführer und Lehrer Koos Vorrink (1891–1955) den Vorsitz der Partei, wobei er von Vertretern der »zweiten Generation«, einschließlich der Jugendbewegung »Arbeiders Jeugd Centrale« (AJC), unterstützt wurde.17 Vorrink war im Jahr 1918 zur SDAP gekommen, gehörte also zur niederländischen »November-Generation«. 13 Jos Perry: De voorman. Een biographie van Willem Hubert Vliegen, Amsterdam 1994. 14 Perry, De voorman [wie Anm. 13], S. 287 f. 15 Willem H. Vliegen, De dageraad der volksbevrijding. Schetsen en taferelen uit de socialistische beweging in Nederland, 2 Bde., Amsterdam 21921; Die onze kracht ontwaken deed. Geschiedenis der Sociaaldemocratische Arbeiderspartij in Nederland gedurende de eerste 25 jaren van haar bestaan (vervolg op »De dageraad der volksbevrijding«) 3 Bde., Amsterdam 1924. 16 Cohen, Om de vernieuwing [wie Anm. 1], S. 231–233; Ad Knotter: Generational Change and the Reorientation of Dutch Social-Democratic Economic Policy in the Early 1930s, in: Blok, Generations [wie Anm. 2], S. 81–91; die Idee, dass die ideologische Wende in der SDAP in den 1930er Jahren mit einem Generationenwandel zu tun hatte, ist erstmals aufgeworfen worden von: Hilda Verwey-Jonker: Vijfentwintig jaar socialistische theorie, in: Ir. J.W. Albarda. Een kwart eeuw parlementaire werkzaamheid in dienst van de bevrijding der Nederlandse arbeidersklasse. Een beeld van de groei der Nederlandse volksgemeenschap, Amsterdam 1938, S. 345–348; Verwey-Jonker unterscheidet zwischen einer ersten Generation (in den 1860er Jahren geboren) und einer zweiten (in den 1870er Jahren geboren). In Analogie zu Brauns »Generation Ebert« ziehe ich es vor, sie zusammenzufassen, da diese beiden Altersgruppen bis weit in die 1930er Jahre hinein die Führungsspitze der Partei dominierten. 17 Cornelis H. Wiedijk: Koos Vorrink. Gezindheid – Veralgemening – Integratie. Een biografische studie (1891–1940), Groningen 1986, S. 248 f.
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Nach dem Vorbild der Sozialistischen Arbeiterjugend führte er in der Jugendbewegung einen »deutschen Stil« ein, was nicht in jedermanns Sinne war.18 Die Parteizeitung »Het Volk« pries ihn als einen »jungen Vorsitzenden, nicht einmal vierzig Jahre alt; er ist das Symbol der sich ewiglich verjüngenden Sozialdemokratie«.19 Dass die SDAP vierzig Jahre brauchte, um einen Vertreter der neuen Generation (der selbst schon vierzig Jahre alt war) in ihre Führungsriege aufzunehmen, entspricht allerdings nicht ganz diesem emphatischen Eigenlob. Vorrink war nicht nur mehr als zwanzig Jahre jünger als sein Vorgänger, er repräsentierte auch einen völlig anderen, durch den Belgier Hendrik de Man (1885–1953) inspirierten Sozialismus.20 Vertreter von Vorrinks Generation trieben eine »Erneuerung« des Sozialismus im Sinne De Mans voran, so auch eine Übernahme des belgischen De Man-Plans (»Plan van de Arbeid«) von 1935. Er markierte das Ende des traditionellen Bernsteinschen Reformismus innerhalb der SDAP (die sich noch immer auf eine »Revision« des Marxismus stützte) und dessen Ablösung durch eine ethische Fundierung des Sozialismus, wie er von De Man propagiert wurde.21 Während in Frankreich die so genannten Neosozialisten (néo-socialistes), die von De Man inspiriert waren und sich mit ihm und Vorrink eng verbunden fühlten,22 1933 aus der sozialistischen Partei SFIO als »Rechte« ausgeschlossen wurden (was der »Volksfront«, deren politische Ausrichtung Vorrink entschieden ablehnte, den Weg ebnete), erfuhr die SDAP unter Vorrinks Führung einen deutlichen Rechtsrutsch, der sich in ihrer Nachfolgerorganisation, der »Partei der Arbeit«, fortsetzte. Dies wurde erst möglich durch den Ausschluss einer linksgerichteten Opposition im Jahr 1932, die vor allem aus noch jüngeren Parteimitgliedern bestand. Nach dem Vorbild der britischen »Unabhängigen Arbeiterpartei« (Independent Labour Party, ILP) gründeten diese eine neue Linkspartei, die »Unabhängige
18 Ebenda, S. 66–72; Leo Hartveld/Frits de Jong/Dries Kuperus: De Arbeiders Jeugd Centrale AJC, 1918–1940/1945–1959, Amsterdam 1982, S. 40–42. 19 Zitiert in Wiedijk, Koos Vorrink [wie Anm. 17], S. 249. 20 Vgl. zu De Man Jan-Willem Stutje: Hendrik de Man. Een man met een plan, Kalmthout 2018 und seinen Beitrag in diesem Band. 21 Vgl. Knotter, Generational Change [wie Anm. 16]; Hartmans, Van »wetenschappelijk socialisme« [wie Anm. 12]; Marcel Boumans, De constructie van de samenleving. Tinbergen en de vroege planning, in: Beleid en Maatschappij 16 (1989), S. 230–245. 22 Cornelis H. Wiedijk: Het »nieuwe socialisme« van de jaren dertig. Frans en Nederlands neo-socialisme gedurende de grote depressie, IISH Research papers 38, Amsterdam 2000: siehe auch Wiedijk, Koos Vorrink [wie Anm. 17], S. 313–315.
Generationswechsel und Elitenbildung
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Sozialistische Partei« (Onafhankelijke Socialistische Partij, OSP).23 Für den marxistischen Parteiveteranen Sam de Wolff (1878–1960) stellte dies einen Wendepunkt in der Geschichte der SDAP dar: »Nach der Abspaltung der OSP rückte die SDAP schwerpunktmäßig noch weiter nach rechts; dies hatte zur Folge, dass es nach 1933 keinen wirklichen Kampf mehr zwischen einer rechten und einer linken Parteiströmung gab, einem einzigartigen Zustand innerhalb der internationalen Sozialdemokratie […].Tatsächlich entstand die PvdA nicht 1946, ihr ideelles Geburtsjahr ist 1933, dem Jahr der zweiten Parteispaltung der SDAP, als sich nämlich die OSP abspaltete […].«24
Wie lässt sich der Generationswechsel in der niederländischen Sozialdemokratie erforschen? Obwohl sich die vorherigen Überlegungen auf eine spezifisch niederländische Entwicklung beziehen, drängt sich angesichts der Gleichzeitigkeit der ersten Generation SDAP-Führer (der »Generation Vliegen«) mit der »Generation Ebert« ganz generell die Frage nach der Ausbildung von Generationen innerhalb der Arbeiterbewegung in beiden Ländern auf. In welchem Zusammenhang stehen die Generationen der führenden deutschen Sozialdemokraten, wie sie in dem Band von Schönhoven und Braun definiert werden, mit den Generationen der sozialistischen Bewegung in den Niederlanden? Da es in den Niederlanden keine Sozialistengesetze gab (auch wenn die Phase von 1878 bis 1890 ebenfalls harte Repressalien mit sich brachte) und das Land sich nicht am Ersten Weltkrieg beteiligte, teilten die verschiedenen Generationen der Sozialdemokratie nicht die gleichen gemeinsamen Erfahrungen, die ihre Kollegen in Deutschland prägten. Dennoch gab es entscheidende Wendepunkte, die stark durch die Entwicklungen in Deutschland beeinflusst waren, so beispielsweise die Gründung des »Sozialdemokratischen Bundes« 1878, die Bildung der SDAP als Folge der Abspaltung im Jahr 1894, die Kontroversen zwischen »Marxismus« und »Revisionismus« im frühen 20. Jahrhundert, die 1909 die Abspaltung 23 Menno Eekman/Herman Pieterson: Linkssocialisme tussen de wereldoorlogen. Twee studies, Amsterdam 1987; Bart de Cort: Solidariteit in anonimiteit. De geschiedenis van de leden van de Onafhankelijke Socialistische Partij, Breda 2004. 24 Sam de Wolff: Voor het land van belofte. Een terugblik op mijn leven, Bussum 1954, S. 193 u. S. 122.
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und Gründung der marxistischen »Sozialdemokratischen Partei« (Sociaal Democratische Partij, SDP) zur Folge hatten, die sich 1919 in »Kommunistische Partei Hollands« (Communistische Partij Holland, CPH) umbenannte,25 und schließlich der unbedachte Revolutionsversuch des SDAP-Vorsitzenden Pieter Jelles Troelstra (1860–1930) im November 1918. Der vorliegende Aufsatz zielt darauf ab, diese Fragen durch eine Analyse des Generationswechsels innerhalb der niederländischen Sozialdemokratie in Zusammenhang mit einer Diskussion der von Schönhoven und Braun in dem oben erwähnten Band eingeführten generationellen Perspektive zu beantworten. Inwieweit hingen Entwicklungen und Wendepunkte der Bewegung in den Niederlanden mit einem Generationswechsel zusammen, und, falls dies der Fall war, wie sahen diese im Vergleich mit Deutschland aus? Ist es möglich, zwischen einem Generationswechsel der Führungsriege und einem der einfachen Parteimitglieder zu differenzieren? Wie hingen diese zusammen und wie lassen sich Unterschiede zwischen ihnen erklären? Die Analyse beruht auf Angaben der Geburtsjahrgänge von Parteiführern, Parlamentsabgeordneten und Gemeinderäten aus biografischen Lexika und Datenbanken der Parteimitglieder in Amsterdam und Maastricht. Amsterdam war das Zentrum der niederländischen Arbeiterbewegung, und die für diese Region vorliegenden Daten sind daher auch für die Bewegung als Ganzes aussagekräftig. Maastricht, wo wie oben erwähnt Willem Vliegen eine Parteiniederlassung gründete, wurde zu einer sozialdemokratischen Hochburg – der einzigen im katholischen Süden des Landes. Sowohl die Amsterdamer als auch die Maastrichter Datenbank wurden auf der Basis von ergänzenden Angaben aus Mitgliederlisten der kommunalen Bevölkerungsregister (siehe Anhang) zusammengestellt. Die Einteilung der Geburtskohorten folgt soweit wie möglich den Grenzziehungen im deutschen Fall. Dabei wird, um die unterschiedlichen Definitionen von Tenfelde und Braun gewissermaßen zusammenzuführen, die Kohorte 1861 bis 1884 in zwei Untergruppen unterteilt: 1861 bis 1874 und 1875 bis 1884.
25 Henny Buiting: Richtingen en partijstrijd in de SDAP. Het ontstaan van de SociaalDemocratische Partij in Nederland, Amsterdam 1989.
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Generationswechsel im Sozialdemokratischen Bund (1878–1894) Der Beginn der sozialdemokratischen Bewegung in den Niederlanden geht auf das Jahr 1878 zurück, als eine Gruppe von etwa 30 Männern in Amsterdam die »Sozialdemokratische Vereinigung« (SDV ) gründete. Die meisten von ihnen waren Anfang der 1870er Jahre in der Amsterdamer Sektion der Ersten Internationale aktiv gewesen. Die Gruppe stand in engem Kontakt mit Flüchtlingen aus Deutschland, die das Land wegen der dort herrschenden Sozialistengesetze verlassen hatten.26 Während London das Zentrum der Flüchtlinge war, entwickelte sich Amsterdam zu einer Durchgangsstation und für manche auch zu einem neuen Wohnort. Mit dem »Arbeiter-Bildungsverein« gründeten die in Amsterdam lebenden Deutschen ihre eigene Organisation, die in dem Ruf stand, 1882 sogar mehr Mitglieder als die Sozialdemokratische Vereinigung gehabt zu haben. Deutsche Flüchtlinge waren auch in der SDV aktiv. Unter ihrem direkten oder indirekten Einfluss übernahm die SDV das Gothaer Programm der deutschen SAPD von 1875.27 In den folgenden Jahren wurden weitere sozialdemokratische Vereinigungen in Den Haag (1880), Haarlem (1880), Rotterdam (1881) und in weiteren Orten gegründet, die sich 1882 zum »Sozialdemokratischen Bund« (SDB) zusammenschlossen. Unter ihrem charismatischen Vorsitzenden, dem früheren lutherischen Pastor Ferdinand Domela Nieuwenhuis (1846–1919), rekrutierte der SDB in den 1880er und frühen 1890er Jahren eine rasch wachsende Anhängerschaft. Nach einem zögerlichen Start bis zum Jahr 1884 nahm die Mitgliedschaft in zwei Wellen zu: zunächst in den Jahren von 1884 bis 1886 und noch einmal zwischen 1892 und 1893.28 Beides waren wirtschaftliche Krisenperioden mit starker politischer Agitation, Massenmobilisierung und revolutionären Erwartungen in den Großstädten im Westen und in den ländlichen Regionen im Norden des Landes.
26 Dennis Bos: Waarachtige volksvrienden. De vroege socialistische beweging in Amsterdam 1848–1894, Amsterdam 2001, S. 169–172. 27 Siehe zum deutschen Einfluss auf den niederländischen Sozialismus in diesem Zeitraum: Jolijn C. Groothuizen, »Laat dat voorbeeld u bezielen«. De Duitse invloed op het Nederlandse socialisme 1878–1894, unveröffentlichte MA-Arbeit, Leiden University 2013: »Laat dat voorbeeld u bezielen« Research Master scriptie Jolijn C. Groothuizen (universiteitleiden.nl). 28 Mitgliederzahlen wurden veröffentlicht in: Paul van Horssen/Dick Rietveld, De Sociaal Democratische Bond, appendix 3 (siehe Anhang).
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Die meisten der Parteigründer waren bereits zehn Jahre zuvor Aktivisten der Ersten Internationale gewesen. Während der Anfangsjahre seines Bestehens rückte im SDB eine neue Generation immer mehr in den Vordergrund. Die Wahl des jungen Jan Fortuijn (1855–1940) zum Präsidenten des Amsterdamer SDB im Jahr 1883 – Fortuijn war zu diesem Zeitpunkt erst 28 Jahre alt – als Nachfolger des früheren Internationalisten Hendrik Gerhard (1829–1886) gegen den sehr viel älteren Internationalisten Klaas Ris (1821–1902) war ein deutliches Signal. Willem Vliegen, der dem SDB im selben Jahr im Alter von 21 Jahren beigetreten war, nahm an der Wahlversammlung teil. Als Historiker der Arbeiterbewegung schrieb er später über dieses Ereignis: »Es liegt immer ein Hauch von Tragödie in dem sich immer und immer wiederholenden Schauspiel, bei dem man zusieht, wie diejenigen, die eine Sache manchmal ihr Leben lang durch harte Arbeit vorbereitet haben, schließlich von den Jüngeren überflügelt werden.«29 Die Geburtsjahrgänge der meisten Gründer der Amsterdamer Sozialdemokratischen Vereinigung im Jahr 1878 sind bekannt und lassen sich mit denen der neuen Mitglieder vergleichen, die der lokalen Organisation in den Jahren zwischen 1879 und 1884 beitraten. Dieser Vergleich zeigt, dass ein beträchtlicher Teil der neuen Mitglieder aus jüngeren Alterskohorten bestand (Tabelle 1). Während 93 Prozent der Gründer vor 1851 geboren waren, traf dies nur für weniger als die Hälfte der neuen Amsterdamer Mitglieder zu, die zwischen 1879 und 1884 rekrutiert wurden. Vliegen beschrieb die »hitzköpfigen jungen Elemente, die um 1884 relativ stark in der Bewegung repräsentiert waren, vor allem in Amsterdam und Den Haag«.30 Tabelle 1: Geburtsjahrgänge der neuen Mitglieder des Sozialdemokratischen Bundes in Amsterdam, 1878, 1879 bis 1884, 1885 bis 1887 und 1888 bis 1894 Geburtsjahrgang
1878
1879–1884
1885–1887
1888–1894
Vor 1851
93%
43%
36%
24%
1851–1860
7%
43%
35%
36%
14%
29%
40%
63
105
238
1861–1874 Gesamtzahl
29
Quelle: Datenbank Van Horssen und Rietveld (siehe Anhang).
29 Vliegen, De dageraad I [wie Anm. 15], S. 13 f. 30 Ebenda, S. 117.
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Bei dieser in Wellen verlaufenden Zunahme der Mitgliedschaft gelang es dem Bund in Amsterdam, immer jüngere Alterskohorten anzuziehen, was zu einer stetigen Verjüngung der Organisation führte: Zwischen 1888 und 1894 waren 76 Prozent der neuen Mitglieder nach 1850 geboren, also in ihren Zwanzigern oder Dreißigern. Diese im Wandel begriffene Altersstruktur der Mitgliedschaft spiegelte sich allerdings nur langsam in der Führungsriege des SDB wider. 1883 wurde beschlossen, dass alle Mitglieder des Zentralrats zweckmäßigerweise an einem Ort wohnen sollten. Bis 1890 war dies Den Haag, im Jahr danach wurde der Sitz des SDB nach Amsterdam verlegt. Die Alterszusammensetzung des Zentralrats in Den Haag war dem der Mitglieder der frühen Periode von 1879 bis 1884 recht ähnlich, änderte sich jedoch nicht parallel zu der Verjüngung der Organisation in den Folgejahren, wie Tabelle 2 zeigt. Der Umzug nach Amsterdam hatte nicht nur eine vollständige Erneuerung des Zentralrats, sondern auch seine dramatische Verjüngung zur Folge. Die beiden jüngsten Mitglieder, die Diamantenarbeiter Henri Polak und Dolf de Levita, waren beide 1868 geboren. Sie wurden 1893, also als 25-jährige, in den Zentralrat gewählt, aber schon bald darauf von der antiparlamentarischen Mehrheit wegen ihrer Übereinstimmung mit der deutsch-orientierten marxistischen Opposition in der Partei wieder entfernt.31 Wie er später berichtete, war sich Polak seines jungen Alters sehr wohl bewusst. Als Repräsentant des Amsterdamer SDB auf dem Parteitag von 1891 fühlte er sich »wie ein junger Bruder, der mit unverhüllter Bewunderung zu den gros bonnets [Parteibonzen] emporblickte und ihnen zuhörte, ohne es zu wagen, selbst ein Wort zu äußern.«32 Tabelle 2: Geburtsjahrgänge der Zentralratsmitglieder des Sozialdemokratischen Bundes in Den Haag (1883–1890) und Amsterdam (1891–1893). Geburtsjahrgang
1883–1890
1891–1893
44%
9%
1851–1860
33%
36%
1861–1874
22%
55%
Gesamtzahl
18
11
Vor 1851
Quelle: Vliegen: Dageraad; Van Horssen und Rietveld: De Sociaal Democratische Bond.
31 Salvador Bloemgarten: Henri Polak, sociaal democraat 1868–1943, Amsterdam 1993, S. 46–49; ders.: De Tweede Internationale en de geboorte van de SDAP (1889–1896), in: Tijdschrift voor Sociale Geschiedenis 7 (1981), S. 101–141, hier S. 118 f. 32 H. P[olak]: Uit den oertijd, in: Na tien jaar. Gedenkschrift bij het tienjarige bestaan der Sociaal Democratische Arbeiderspartij 1894–1904, Amsterdam 1904, S. 8–17, hier S. 15.
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Während der Zeit der sozialen Unruhen Anfang der 1890er Jahre radikalisierte sich der SDB. Vor allem im Norden des Landes herrschte die weit verbreitete Erwartung einer unmittelbar bevorstehenden Revolution. Anarchismus, oder allgemeiner ein Sozialismus der »direkten Aktion«, gewann an Popularität, und zwar sowohl bei den Mitgliedern des SDB als auch innerhalb der Führung, einschließlich Domela Nieuwenhuis als ihrem prominentesten Vertreter. Auf internationalen Kongressen stieß er des Öfteren mit den hier dominierenden deutschen Parteiführern wie Wilhelm Liebknecht zusammen und arbeitete mit den antiparlamentarischen »Jungen« innerhalb der SPD zusammen.33 Eine oppositionelle Gruppe deutschorientierter Intellektueller innerhalb des SDB, darunter zum Beispiel Frank van der Goes (1859–1939), Henri van Kol (1852–1925) und Pieter Jelles Troelstra (1860–1930), war in engem Kontakt mit der deutschen SPD und Liebknecht persönlich, von denen sie heimlich unterstützt wurde. Nachdem die Mehrheit des SDB auf seinem Parteitag von 1893 und in einem Referendum kurz danach jegliche Beteiligung an parlamentarischen Wahlen, auch als Form der Agitation, abgelehnt hatte, beschlossen die Marxisten innerhalb des SDB (nach der Auslegung der deutschen SPD), eine neue Partei, die »Sozialdemokratische Arbeiterpartei« (Sociaal Democratische Arbeiders Partij, SDAP) zu gründen. Ihr Programm war im Wesentlichen eine Kopie des Erfurter Programms der SPD von 1891.34 »Wir waren vollständig unter deutschem Einfluss«, schrieb der Parteivorsitzende Troelstra später in seinen Memoiren.35 Domela Nieuwenhuis tat die SDAP ab als einen »Ableger der Deutschen, finanziert aus deutschem Säckel, der nicht die niederländische Arbeiterklasse repräsentiert«.36 Der bereits erwähnte Van der Goes war in engem Kontakt mit dem Amsterdamer Diamantenarbeiter Henri Polak, und Van Kol unterhielt enge Beziehungen mit dem Buchdrucker Willem Vliegen in Maastricht. Zusammen mit dem Teppichweber Willem Helsdingen (1850–1921) aus Rotterdam, dem Maler Jan Schaper (1868–1934) und dem Buchdrucker Hendrik Spiekman (1874–1917) aus Groningen waren sie die Arbeiter unter den zwölf Gründern der SDAP, die später auch »die zwölf Apos33 Jan Willem Stutje: Ferdinand Domela Nieuwenhuis. Een romantisch revolutionair, Amsterdam 2012, S. 186–193, S. 202–208 u. S. 230–235; Dirk H. Müller: Idealismus und Revolution – Zur Opposition der Jungen gegen den Sozialdemokratischen Parteivorstand, Berlin 1975. 34 Vliegen, De dageraad I [wie Anm. 15], S. 103. 35 Pieter Jelles Troelstra: Gedenkschriften II: Groei, Amsterdam 1927, S. 235, zitiert nach: Derk Johan Wansink: Het socialisme op de tweesprong. De geboorte van de S.D.A.P., Haarlem 1939, S. 202. 36 Zitiert nach: Bloemgarten, Henri Polak [wie Anm. 31], S. 190.
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153
tel« genannt wurden. Vliegen, unterstützt von Van Kol, schrieb das Programm der neuen Partei und führte den Vorsitz bei der konstituierenden Sitzung.37
Die frühe SDAP in Amsterdam: Eine neue Generation Wenn man Vliegen glauben will, waren es vor allem die Jüngeren, die den SDB in den 1890er Jahren stärker am Anarchismus ausrichten wollten. »Als Bewegung in die inaktiven Massen kam, geriet eine Anzahl vor allem jüngerer sozialistischer Propagandisten in wilde Aufregung und bildete sich ein, die Revolution stünde unmittelbar bevor.«38 Einer dieser »sozialistischen Propagandisten« war der Anarchist Tjerk Luitjes (1867–1946), der auf dem Parteitag von 1893, also mit 26 Jahren, den antiparlamentarischen Antrag eingereicht hatte.39 Zwar hatte Vliegen (der zu diesem Zeitpunkt 31 Jahre alt war) mit seiner Bemerkung über die »Jungen« Troelstra, Van der Goes, Polak und andere gemeint, »die als Anführer der sozialdemokratischen Strömung galten«.40 Doch die »zwölf Apostel« repräsentierten keineswegs die jüngere Generation des SDB – die Hälfte von ihnen war in den 1850er Jahren geboren. Sie standen aber auch nicht für eine tief verwurzelte politische Strömung unter den Mitgliedern. 1902 zog Vliegen mit sichtbarem Bedauern die Schlussfolgerung: »[…] diese zwölf, die sicherlich einen wichtigen Teil der intellektuellen und agitatorischen Kräfte innerhalb des niederländischen Sozialismus ausmachen, hatten erwartet, dass ein wichtiger, und zwar der fortschrittlichste Teil der sozialistischen Arbeiter ihnen folgen würde, wenn vielleicht auch nicht sofort, dann doch nach einer gewissen Zeit. Doch bald stellte sich heraus, dass sie sich in dieser Einschätzung getäuscht hatten. Selbst heute kommen überraschend wenig Mitglieder der SDAP aus der alten Bewegung.«41 37 Das Parteiprogramm ist abgedruckt in: Vliegen, Die onze kracht [wie Anm. 15], S. 11–15 und in: Na tien jaar. Gedenkschrift bij het tienjarige bestaan der Sociaal Democratische Arbeiderspartij 1894–1904, Amsterdam 1904, S. 4–7; Zum kulturellen Unterschied zwischen »Herren« und »Arbeitern« unter den »zwölf Aposteln«: W.H. Vliegen, Persoonlijke herinneringen uit den geboortetijd der S.D.A.P., in: Na tien jaar [wie Anm. 32], S. 148–163, hier S. 153. 38 Vliegen, De dageraad II [wie anm. 15], S. 349. 39 Jannes Houkes: Travailleur. Een politieke biographie van de Groninger anarchist Tjerk Luitjes 1884–1910, Groningen 1985. 40 Vliegen, De dageraad I [wie Anm. 15], S. 80. 41 Ebenda, S. 60.
154
Ad Knotter
Vliegen schätzte, dass nur zehn Prozent der SDAP-Mitglieder vormals dem SDB angehört hatten. Infolgedessen blieb die SDAP in ihren Anfangsjahren »ein Stab ohne Armee«42 und wurde erst später »eine neue Bewegung mit neuen Leuten«.43 Der SDB, der sich aus rechtlichen Gründen in »Sozialistenbund« umbenannte (Socialistenbond, SB), blieb mehrere Jahre hinweg die stärkste Partei auf der Linken, trotz seiner rasch abnehmenden Mitgliederzahlen. Erst 1898 übertraf die SDAP den SDB/SB.44 Interne Konflikte zwischen den im SB verbliebenen Sozialisten und Anarchisten führten zum Austritt von Domela Nieuwenhuis und seinen anarchistischen Anhängern, die 1897 die so genannten »Freien Gruppen« gründeten. Im Jahr 1900 schlossen sich die verbliebenen 190 Mitglieder des SB mit der SDAP zusammen.45 Nur 18 der Amsterdamer SDAP Mitglieder von 1898 lassen sich als ehemalige Mitglieder des SDB identifizieren, weitere vier als SB-Mitglieder. Der weitaus größte Teil der 277 Mitglieder der SDAP in diesem Jahr bestand aus Neurekrutierungen. Selbst Jan Fortuijn, der ehemalige SDB -Vorsitzende und einer der »zwölf Apostel« von 1894, der 1883 als junger Mann der Nachfolger des Internationalisten Gerhard wurde und der »in Amsterdam jahrelang ein Mann des Volkes gewesen war […], wechselte ohne einen weiteren seiner Anhänger zur SDAP über«.46 Tabelle 3: Geburtsjahrgänge von Mitgliedern des Amsterdamer Sozialdemokratischen Bundes (SDB), 1888 bis 1894; des Sozialistenbundes (SB), 1894; der »Anarchisten«, 1901 und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP), 1898 und 1902. Geburtsjahrgang
SDB 1888-1894
SB 1894
»Anarchis ten« 1901
SDAP 1898
SDAP 1902
Vor 1851
30%
32%
26%
7%
1%
1851–1860
35%
28%
33%
6%
4%
1861–1874
35%
39%
36%
74%
53%
42 Vliegen, Die onze kracht [wie Anm. 15], S. 41. 43 Vliegen, De dageraad II [wie Anm. 15], S. 486. 44 Nach Mitgliederzahlen in: Van Horssen/Rietveld, De Sociaal Democratische Bond, appendix 3 (siehe Anhang) und SDAP ledentallen (1895–1939) | Documentatiecentrum Nederlandse Politieke Partijen (DNPP). 45 Vliegen, Die onze kracht [wie Anm. 15], S. 239. 46 Jos Loopuit: Tien jaren Amsterdamsche beweging, in: Na tien jaar [wie Anm. 32], S. 72–84, hier S. 80.
Generationswechsel und Elitenbildung Geburtsjahrgang
155
SDB 1888-1894
SB 1894
»Anarchis ten« 1901
SDAP 1898
SDAP 1902
1875–1884
1%
1%
4%
13%
42%
1861–1884
36%
40%
40%
87%
95%
Gesamtzahl
362
125
356
277
572
Quelle: Datenbank Van Horssen und Rietveld (siehe Anhang). NB: Die Prozentangaben des SDB 1888 bis 1894 weichen von denen in Tabelle 1 ab, da sie sich auf die Gesamtheit der Mitglieder beziehen, während Tabelle 1 nur neue Mitglieder umfasst.
Im Unterschied zu den Mitgliedern von SDB und SB gehörten die meisten Angehörigen der SDAP in Amsterdam zu einer klar definierten Alterskohorte: 74 Prozent waren zwischen 1861 und 1874 geboren (siehe Tabelle 3). Dies lässt sich hauptsächlich durch die Beschäftigungsstruktur dieser neuen Mitglieder erklären: Mehr als die Hälfte von ihnen (52 Prozent) war in der Diamantenindustrie beschäftigt, und 77 Prozent der Diamantenarbeiter in der Partei gehörten zu der Alterskohorte 1861 bis 1874 (also drei Prozent mehr als innerhalb der gesamten Mitgliedschaft). Wie bereits ausgeführt, macht erst eine prägende gemeinsame Erfahrung eine Alterskohorte zu einer »Generation«, und für diese Kohorte ist eine solche leicht aufzufinden: Am 7. und 8. November 1894 streikten alle der 10.000 Diamantenarbeiter in Amsterdam unerwartet, und zehn Tage später, am 18. November 1894, wurde die »Allgemeine Niederländische Diamanten-Gewerkschaft« (Algemeene Nederlandsche Diamantbewerkers Bond, ANDB) gegründet. Die Bedeutung der ANDB für die Geschichte der SDAP und der Gewerkschaftsbewegung kann kaum überschätzt werden, doch hier ist nicht der Platz, um deren außergewöhnliche Errungenschaften näher zu erörtern. Die führenden Gewerkschafter des ANDB waren (in der Mehrheit junge) Sozialdemokraten. Henri Polak, 26 Jahre alt und einer der Gründer der SDAP, wurde ihr Präsident auf Lebenszeit. Seinem Biografen Salvador Bloemgarten zufolge war der überproportional hohe Anteil an Diamantenarbeitern in der frühen SDAP möglicherweise dem Einfluss Polaks geschuldet,47 doch in Wahrheit war dieser ein primus inter pares unter gleichgesinnten jüdischen und nicht-jüdischen Kollegen.48 Die meisten Streikführer und Gründer des ANDB waren überzeugte 47 Bloemgarten, Henri Polak [wie Anm. 31], S. 81. 48 Im Jahr 1889 waren in der Diamantenindustrie etwa gleichviel Juden wie Christen beschäftigt (wenn auch in unterschiedlichen Branchen). Unter den Mitgliedern des ANDB
156
Ad Knotter
Sozialdemokraten und Anhänger der parlamentarischen Richtung. Zehn Jahre später erinnerte sich einer von ihnen, Jos Loopuit (1864–1923), der zu dieser Zeit der Vorsitzende der Amsterdamer SDAP war: »Wir gewannen Mitglieder, vor allem unter Diamantenarbeitern, der am besten bezahlten und fortschrittlichsten Gruppe von Arbeitern in Amsterdam. Manche glaubten sogar, dass die Amsterdamer SDAP nur aus Diamantenarbeitern bestand. Darin irrten sie, [doch] die Bewegung der Diamantenarbeiter […] hat sicherlich gewaltig zum Wachstum unserer Macht und unseres Einflusses beigetragen.«49 Theo van Tijn, ein Historiker der Diamantenindustrie, hat behauptet, die Streikbewegung von 1894 sei vor allem vom »jugendlichen Enthusiasmus« der Masse der Diamantenarbeiter getragen worden, die aufgrund des Wachstums dieses Industriezweigs in den vorhergehenden Jahren relativ jung waren.50 Ausgehend von der Volkszählung konnte berechnet werden, dass im Jahr 1889 62 Prozent der Beschäftigten in diesem Industriezweig zwischen 1865 und 1877 geboren waren, also zu dieser Zeit zwischen 12 und 24 Jahre alt waren, und viele von ihnen in ihren Zwanzigern standen, als fünf Jahre später der Streik begann. 1899 war dieser Geburtsjahrgang 23 bis 35 Jahre alt und machte noch immer 57 Prozent der Beschäftigten aus.51 1902 erhöhte sich der Anteil der noch jüngeren Alterskohorte der Diamantenarbeiter in der Amsterdamer SDAP, nämlich der zwischen 1875 und 1884 Geborenen, von 17 auf 36 Prozent. Zusammengenommen machten die 1861er bis 1874er und die 1875er bis 1884er Kohorte nun 98 Prozent der Diamantenwaren jedoch zwischen 1898 und 1913 68,5 Prozent Juden; siehe Karin Hofmeester: The impact of the diamond industry and the Diamond Workers’ Union on Jewish life in Amsterdam 1894–1920, in: Shofar. An Interdisciplinary Journal of Jewish Studies 38 (2020), S. 46–69, hier S. 50. Von den 144 Diamantenarbeitern unter den SDAP-Mitgliedern konnte nur eine Minderheit von 23 als Christen identifiziert werden; die anderen waren registriert als Angehörige einer der beiden israelitischen Glaubensrichtungen. 49 Loopuit, Tien jaren [wie Anm. 46], S. 80; siehe auch Luuk Brug: Het district waar oprees hun burcht, in: Martin van Amerongen u. a.: Voor buurt en beweging. Negentig jaar sociaaldemocratie tussen IJ en Amstel, Amsterdam 1984, S. 12–68; und Adriaan. P. van Veldhuizen: De Partij. Over het politieke leven in de vroege SDAP, Amsterdam 2015, S. 57–73. 50 Theo van Tijn: Geschiedenis van de Amsterdamse diamanthandel en –nijverheid 1845– 1897, II, in: Tijdschrift voor Geschiedenis 87 (1974), S. 160–201, hier S. 184. 51 Berechnungen in: Ad Knotter: Economische transformatie en stedelijke arbeidsmarkt. Amsterdam in de tweede helft van de negentiende eeuw, Amsterdam 1991, appendix 2.
Generationswechsel und Elitenbildung
157
arbeiter in der SDAP aus. Zwar war ihr Anteil in der Mitgliedschaft der SDAP 1902 geringer als 1898, doch mit 41 Prozent immer noch hoch genug, um die Altersstruktur der Amsterdamer Partei insgesamt stark zu beeinflussen. Auch der Anteil anderer Beschäftigungsgruppen war angestiegen, einschließlich derjenige der Lehrer von sieben auf neun Prozent. Interessanterweise ähnelte die Altersstruktur der Lehrer in der SDAP derjenigen der Diamantenarbeiter: Im Jahr 1898 waren 75 Prozent von ihnen zwischen 1861 und 1874 geboren; 1902 waren es 94 Prozent der zwischen 1861 und 1884 Geborenen. Ebenso wie die Diamantenarbeiter schlossen sich also auch die Lehrer der Partei in relativ jungen Jahren an. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die im Jahr 1898 bestehende Altersstruktur der Amsterdamer SDAP-Mitgliedschaft maßgeblich auf den Streik der Diamantenarbeiter von 1894 und den darauffolgenden Aufstieg ihrer auf einer jungen Arbeitnehmerschaft basierenden Gewerkschaft, der ANDB, zurückzuführen war. Dieser generationelle Effekt auf die Altersstruktur der SDAP-Mitgliedschaft war 1902 noch immer erkennbar, doch nun erschien neben der zwischen 1861 und 1874 geborenen ersten Kohorte eine zweite, zwischen 1875 und 1884 geborene Altersgruppe (siehe Tabelle 3). In Übereinstimmung mit der von Braun definierten »Generation Ebert« machten diese beiden Alterskohorten (1861–1884) im Jahr 1902 95 Prozent der SDAP-Mitgliedschaft aus. Die Geschichte der Diamantenarbeiter-Gewerkschaft ist ein Paradebeispiel für die Kontinuität von Eliten in der Arbeiterbewegung, die sich aus einer neuen Generation herausbildeten. Sein Biograf Salvador Bloemgarten hat Henri Polak treffend als einen »Gewerkschaftsführer auf Lebenszeit« bezeichnet: Er wurde fast automatisch alle zwei Jahre als Vorsitzender wiedergewählt, bis ihn die deutschen Besatzer im Mai 1940 in Haft nahmen.52 Auch die Zusammensetzung der Führung in ihrer Gesamtheit änderte sich kaum: Alle waren von Beginn an Mitglied der ANDB gewesen und viele gehörte außerdem der SDAP an. Demzufolge stieg ihr Altersdurchschnitt stetig an. Zum Teil war dies eine Auswirkung der alternden Belegschaft in der während der Zwischenkriegszeit kontinuierlich rückläufigen Amsterdamer Diamantenindustrie. Hinzu kam aber vor allem, dass Polak und seine Anhänger, die von ihren alternden Mitgliedern verehrt wurden, die jüngeren Mitglieder stark bevormundeten. Polak, der während der deutschen Besatzung in Haft war, starb nach seiner Freilassung eines natürlichen Todes. Die jüdischen Vorstandsmitglieder teilten das Schicksal der großen Mehrheit der Diamantenarbeiter und der jüdischen 52 Salvador Bloemgarten: Henri Polak: Trade-union leader for life, in: Blok, Generations [wie Anm. 2], S. 53–65.
158
Ad Knotter
Bevölkerung in Amsterdam: Sie wurden von den nationalsozialistischen Besatzern umgebracht. Während es der SDAP gelang, zunehmend mehr junge Menschen für sich zu gewinnen, so dass 42 Prozent ihrer Mitglieder in Amsterdam im Jahr 1902 zwischen 18 und 27 Jahre alt waren, war diese Altersgruppe 1894 innerhalb des Sozialistenbundes und 1901 unter den als »Anarchisten« identifizierten Personen auffällig gering vertreten (siehe Tabelle 3). Umgekehrt waren 60 bzw. 59 Prozent der Mitglieder dieser Gruppierungen vor 1861 geboren, gegenüber nur 13 Prozent in der Amsterdamer Mitgliedschaft der SDAP im Jahr 1898 und 5 Prozent im Jahr 1902. Die Altersstruktur des Sozialistenbundes und der »Anarchisten« ähnelte weiterhin sehr derjenigen des Sozialdemokratischen Bundes in seiner Endphase von 1888 bis 1894. Dies war nicht nur ein Zeichen für die Stagnation dieser Gruppierungen, sondern auch dafür, dass ehemalige SDB -Mitglieder ihrer einmal gewählten Organisation und ihrem Vorsitzenden Domela Nieuwenhuis treu blieben. Beschäftigungsgruppen, welche die Gewerkschaftsbewegung in Amsterdam während der SDB -Periode vorangetrieben hatten, vor allem das Baugewerbe, aber auch Buchdrucker und Zigarrenmacher,53 waren weiterhin stärker im SB und unter den »Anarchisten« als in der SDAP vertreten. Beschäftigte des Baugewerbes machten beispielsweise 27 Prozent im SDB aus und 18 bzw. 19 Prozent unter SB-Mitgliedern und »Anarchisten«, gegenüber nur sieben und neun Prozent in der SDAP. Ungelernte Arbeiter (werklieden) gab es so gut wie keine in der SDAP (1902: 1 Prozent), sie machten dagegen 12 Prozent der »Anarchisten« aus. Diamantenarbeiter und Lehrer waren dagegen bei letzteren nur sehr geringfügig vertreten.
Die SDAP bis 1920: Altersunterschiede zwischen Mitgliedschaft und Führung Es wäre allerdings ein Fehler, aus der Alterung der von der Polizei 1901 als »Anarchisten« klassifizierten Personen zu schließen, dass der durch sie repräsentierte Radikalismus im Rückgang begriffen gewesen wäre. Die verbliebenen 53 Ad Knotter: From artisanal associations to collective bargaining agents. Two phases of early trade unionism in Amsterdam (1864–1894), in: Transformations of Trade Unionism. Comparative and Transnational Perspectives on Workers Organizing in Europe and the United States, Eighteenth to Twenty-First Centuries, Amsterdam 2018, S. 101–132.
Generationswechsel und Elitenbildung
159
SDB -Mitglieder waren eine heterogene Gruppe, vereint durch ihre Aversion gegen die parlamentarische SDAP und durch ihre revolutionären Prinzipien, aber uneins darin, wie diese umzusetzen seien. Viele fanden eine Heimat in der 1893 gegründeten syndikalistischen Gewerkschaft »Nationales Arbeitersekretariat« (Nationaal Arbeids Secretariaat, NAS).54 Diese Organisation war stark beeinflusst von dem revolutionären Syndikalisten Christiaan Cornelissen (1864–1942), einem früheren Verbündeten von Domela Nieuwenhuis, der nun enge Beziehungen mit der französischen syndikalistischen Gewerkschaft »Confédération Générale du Travail« (CGT ) und ihrem Vorsitzenden Fernand Pelloutier (1867–1901) aufnahm.55 Während der ersten zehn Jahre ihres Bestehens musste die SDAP, vor allem in Amsterdam, mit dem radikalen Erbe des »Anarchismus« innerhalb der Arbeiterklasse konkurrieren, was seinen Höhepunkt in einem erbitterten Kampf um den gescheiterten Generalstreik von 1903 fand.56 Zwei Jahre später formierten sich auf Initiative der ANDB die größten Gewerkschaften, die bis dahin dem NAS angeschlossen waren, im »Niederländischen Gewerkschaftsbund« (Nederlandsch Verbond van Vakverenigingen, NVV ). Henri Polak wurde sein erster Präsident. Organisationen wie diejenigen der Buchdrucker, der Zigarrenmacher und der Tischler, die während der SDB -Periode die Träger der Gewerkschaftsbewegung gewesen waren, hatten einen eng an der ANDB orientierten Gewerkschaftsstil entwickelt, und gingen nun zu dem neugegründeten NVV über. Das NAS blieb ein Sammelbecken für Gruppierungen links von der SDAP (Syndikalisten und später auch Kommunisten), vergleichbar mit der französischen »Confédération Générale du Travail Unitaire« (CGTU). Während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg wuchs die NAS -Mitgliedschaft von fast 10.000 im Jahr 1914 auf ihren höchsten Stand von 51.570 im Jahr 1920: ein Zeichen für die neuerliche Radikalisierung in mehreren Teilen des Landes während dieses Zeitraums. Nach 1920 gingen
54 Piet Hoekman/Jannes Houkes: Het Nationaal Arbeids-Secretariaat 1893–1940. De geschiedenis van de eerste vakcentrale in Nederland, Amsterdam 2016. 55 Bert Altena/Homme Wedman: Tussen anarchisme en sociaaldemocratie. »Het Revolutionaire Kommunisme« van Christiaan Cornelissen (1864–1943), Bergen 1985; Homme Wedman, Christiaan Cornelissen: Marxism and revolutionary syndicalism, in: Marcel van der Linden (Hg.): Die Rezeption der Marxschen Theorie in den Niederlanden, Trier 1992, S. 84–105; siehe auch Christiaan Cornelissen/Jeremy Jennings: Fernand Pelloutier and Revolutionary Syndicalism, in: Syndicalism in France. A Study of Ideas, New York 1990, S. 11–55. 56 Adolf J. C. Rüter: De spoorwegstakingen van 1903. Een spiegel der arbeidersbeweging in Nederland, Leiden 1935.
160
Ad Knotter
die Mitgliederzahlen jedoch wieder zurück. Während des gleichen Zeitraums konnte der NVV seine Mitgliedschaft von 84.261 im Jahr 1914 auf 247.748 im Jahr 1920 steigern, eine Zahl, die erst 1930 wieder erreicht wurde. Der Niederländische Gewerkschaftsbund, der eng mit der SDAP verbunden war, wurde zu einer wichtigen Machtbasis der Partei. Streikwellen und Mitgliederwachstum des NVV trugen zum Wachstum der SDAP in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg und dann noch einmal Ende der 1920er Jahre bei. Das Wachstum von SDAP-Mitgliedschaft vollzog sich in Wellen: Zunächst stiegen die Mitgliederzahlen bis 1910 nur langsam auf 10.000. Ab 1911 gab es dann einen plötzlichen Wachstumsschub mit einem ersten Höhepunkt von 25.000 Mitgliedern im Jahr 1913.57 Der wichtigste Katalysator dieser Entwicklung war die landesweite Kampagne der SDAP und des NVV für ein allgemeines Wahlrecht in Form eines Volksbegehrens und großen, jährlich stattfindenden Demonstrationen in Den Haag.58 Während des Krieges stagnierten die SDAP-Mitgliederzahlen, stiegen aber nach dem Krieg abrupt an und erreichten einen weiteren Höhepunkt im Jahr 1920 mit 47.870. Es liegen keine Informationen darüber vor, wie alt die Parteineuzugänge während der Wachstumsschübe von 1912/13 und 1919/20 waren, doch es ist mehr als wahrscheinlich, dass sie im Vergleich mit der bestehenden Mitgliedschaft und der Führungsriege zu jüngeren Alterskohorten gehörten. Diese Vermutung kann überprüft werden, indem man die Altersstruktur der landesweiten Parteiführung (Vorstandsmitglieder, Parlamentsabgeordnete und Parteiprominente, deren Glückwünsche 1919 zum Anlass des 25-jährigen Bestehens der SDAP veröffentlicht wurden) mit denen der Gesamtmitgliedschaft in Maastricht in den Jahren 1918 bis 1920 (für diesen Zeitraum liegen nur aus dieser Stadt Zahlen vor) vergleicht (Tabelle 4).59 Die Entwicklung der Mitgliederzahlen verlief in Maastricht in etwa so wie im gesamten Land. Sie erreichten 1919 einen Höhepunkt, wobei hier der
57 Nach SDAP ledentallen (1895–1939) | Documentatiecentrum Nederlandse Politieke Partijen (DNPP). 58 Tom van der Meer/Steven van Schuppen/Sjoerd Veen: De SDAP en de kiesrechtstrijd. De ontwikkeling van de Nederlandse sociaaldemocratie 1894–1913, Amsterdam 1981. 59 Im »Gedenkboek ter gelegenheid van het vijfentwintig jarig bestaan« sind Gratulationsgrüße von Partei- und Gewerkschaftsführern, regionalen Vertretern und Parteiprominenten abgedruckt. Hier gab es auch Berichte über die Präsidiumsmitglieder auf festlichen Kongressen. Die Geburtsjahre der meisten von ihnen finden sich in der digitalen Version des BWSA.
24% 72%
15%
65%
-
26
1875–1884
1861–1884
1885–1900
Gesamtzahl
19%
22
-
82%
41%
41%
14%
5%
Parlament 1918
26
-
80%
38%
42%
15%
4%
Kongresspräsidium 1919
73
7%
80%
29%
51%
11%
3%
Glückwünsche 25 Jahre 1919
273
49%
51%
33%
18%
1%
-
männlich
199
47%
53%
40%
13%
1%
-
weiblich
Maastrichter Mitglieder 1918–20
Quellen: Vliegen: Die onze kracht ontwaken deed; IISG, Archiv SDAP (Archiv-Nr. 1292) Inventar-Nummern 238–316 (jährliche Berichte); Gedenkboek ter gelegenheid van het vijfentwintig jarig bestaan van de Sociaal-Democratische Arbeiderspartij in Nederland opgericht 26 augustus 1894, Amsterdam 1919; Biografisch Woordenboek van het Socialisme en de Arbeidersbeweging in Nederland (BWSA); Maastricht database Schoot Uiterkamp (siehe Anhang).
21
-
48%
23%
50%
1861–1874
10%
Parlament 1897–1913
1851–1860
12%
Vorstand 1894–1914
vor 1851
Geburtsjahrgang
Tabelle 4: Altersverteilung der SDAP-Führung (1894–1919) und unter Maastrichter Mitgliedern (1920).
Generationswechsel und Elitenbildung
161
162
Ad Knotter
Wachstumsschub vor dem Krieg schon 1908 begann.60 Das Volksbegehren für das allgemeine Wahlrecht 1911 war ein großer Erfolg in Maastricht: 4.100 Unterschriften wurden hier gesammelt; in der gesamten Provinz Limburg waren es insgesamt 5.393.61 Die Maastrichter Daten deuten an, dass die Neuzugänge der Partei vor und nach dem Ersten Weltkrieg erheblich jünger waren als die Führungsriege: Fast die Hälfte der Maastrichter Mitglieder war nach 1885 geboren, aber keiner innerhalb der Parteiführung, von denen 80 Prozent noch immer der Kohorte 1861 bis 1884 angehörten. Dies war ein erstes Zeichen für die Verknöcherung der Parteielite, die sich in den folgenden Jahren noch intensivieren sollte.
Die SDAP in den 1930er Jahren: Politische Unstimmigkeiten und Generationswechsel Ausgehend von den Maastrichter Zahlen für den Zeitraum von 1918 bis 1920 lässt sich mit Sicherheit schlussfolgern, dass sich die Altersverteilung bei den einfachen Mitgliedern und innerhalb der Führung der Partei zunehmend auseinanderentwickelte. Tabelle 5 zeigt, dass zumindest bis 1927 das Übergewicht der Alterskohorte 1861 bis 1884 innerhalb der Parteiführung – ebenso wie bei der »Generation Ebert« in Deutschland – bestehen blieb. Ihr Anteil hielt sich bei mehr als 70 Prozent, und damit in etwa auf dem gleichen Niveau wie im Zeitraum vor und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg (Tabelle 4), und kaum weniger als um 1900 in der Amsterdamer Mitgliedschaft der frühen SDAP insgesamt. Anfang der 1930er Jahre machte die Alterskohorte 1861 bis 1884 innerhalb der Parteiführung nur langsam der nächsten Platz: Bis 1934 (als Koos Vorrink zum Vorsitzenden gewählt wurde, siehe oben) machte ihr Anteil noch immer 67 Prozent des Vorstands aus, im Parlament sogar 74 Prozent. Auf kommunaler Ebene brachten die Gemeindewahlen von 1931 mehr Kandidaten der nächsten Alterskohorte 1885 bis 1900 in die Stadträte von Amsterdam und Maastricht, doch die Mehrheit (57 Prozent) war noch immer in der Hand der älteren Mitglieder. Die Alterung der Parteiführung war nicht nur ein Symptom der Kontinuität auf personeller Ebene, sondern auch von Elitenbildung und politischer 60 Maastricht Mitgliederzahlen nach IISG, Archiv SDAP (arch.nr. 1292) Inventarnummern 659–633; 1268–1270. 61 Jos Perry: Roomsche kinine tegen roode koorts. Arbeidersbeweging en katholieke kerk in Maastricht 1880–1920, Amsterdam 1983, S. 219.
Generationswechsel und Elitenbildung
163
Abgeschlossenheit. Von Anfang an musste sich die Parteiführung gegen verschiedene Formen radikaler linker Opposition durchsetzen – zunächst gegen die »Anarchisten«, dann gegen die antirevisionistischen Marxisten, was 1909 im Ausschluss der Gruppe um die Wochenzeitung »De Tribune« gipfelte, und schließlich gegen die Radikalisierungstendenzen während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg. Diese fanden ihren Höhepunkt in dem gescheiterten Revolutionsversuch des SDAP-Führers Troelstra im November 1918 und in Stimmengewinnen für die von der SDAP abgespaltene revolutionäre SDP, die bald die Kommunistische Partei werden sollte. Der Widerstand von Seiten dieser linken Gruppierungen wurde von den ursprünglichen Parteiführern als ein beständiger Kampf um den Fortbestand der Partei wahrgenommen. In diesem Prozess glaubte nicht nur diese Personengruppe, die in etwa der gleichen Alterskohorte entstammte, sondern auch die Mehrheit der Parteimitglieder, dass nur erstere erfahren genug und fähig wären, diese gewaltige Aufgabe zu meistern. Unter diesem Blickwinkel gesehen war die Formierung einer »Generationeneinheit« dieser Alterskohorte in der Führungsspitze eine Konsequenz aus der gemeinsamen Erfahrung bei der Verteidigung der Partei gegen linken Radikalismus verschiedenster Art und während unterschiedlicher Zeiträume. Als Ende der 1920er Jahre erneut linke Tendenzen in der Partei auftauchten, konnte die alternde Führungsspitze der Partei dies nur als eine Wiederholung oder eine Art déja vu ihrer früheren Erfahrungen mit oppositionellen Marxisten und der Parteispaltung von 1909 interpretieren.62 Abgesehen von anderen Unterschieden, gab es allerdings einen entscheidenden Faktor, der in den Kontroversen zu Beginn des 20. Jahrhunderts fehlte: der Altersunterschied. Marxisten und Revisionisten waren mehr oder weniger gleichaltrig; auch wenn die Gründer der »Tribune« und des SDS David Wijnkoop (1876–1941), Jan Ceton (1875–1943) und Willem van Ravesteyn (1876–1970) etwas jünger als die mehrheitlich in den 1860er Jahren geborenen SDAP-Führer waren, gegen die sie opponierten, gehörten alle zu der erweiterten Alterskohorte 1861 bis 1884. Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre waren dagegen die Anhänger des linken Flügels mehrheitlich sehr viel jünger als die alternde Führung, ein weiteres Anzeichen für das Auseinanderklaffen der Altersstruktur zwischen Führungsspitze und Gesamtmitgliedschaft.
62 Dies wird sehr deutlich in De Wolffs Memoiren, Voor het land [wie Anm. 24]; siehe auch Cohen, Om de vernieuwing [wie Anm. 1], S. 174 u. S. 232.
26% -
1%
-
22
1885–1900
Nach 1900
Gesamtzahl
37%
18
6%
44%
50%
28%
22%
-
1935–39
34
-
20%
74%
50%
24%
6%
1922–33
23
3%
30%
57%
48%
9%
-
1937–39
Parlament
36
-
25%
72%
44%
28%
3%
1919–27
26
-
42%
57%
42%
15%
-
1931
29
17%
48%
35%
35%
-
-
1935–39
Gemeinderäte Amsterdam + Maastricht
Quellen: IISG, Archiv SDAP (Archiv-Nr. 1292) Inventarnummern 35–109 [Protokoll der Sitzung des Ausschusses]; Peter Hofland: Leden van de Raad. De Amsterdamse Gemeenteraad 1814–1941, Amsterdam 2002; H. Th. Dumoulin: Naamlijst der leden van de Maastrichtse vroedschap vanaf de inwerkingtreding van de Gemeentewet van 29 juni 1851 tot heden, Maastricht 1967.
27
67%
36%
77%
1875–1884
1861–1884
30%
41%
1861–1874
7%
1927–34
22%
1920–26
Parteivorstand
1851–1860
Geburtsjahrgänge
Tabelle 5: Altersverteilung der SDAP-Führung (1920–1939).
164 Ad Knotter
Generationswechsel und Elitenbildung
165
Dies wird besonders deutlich, wenn man die Altersverteilung der »Unabhängigen Sozialistischen Partei« (Onafhankelijke Socialistische Partij, OSP) betrachtet, die 1932 nach dem Parteiausschluss des linken Flügels der SDAP gegründet worden war. Die OSP stand in engem Kontakt mit der 1931 ins Leben gerufenen deutschen »Sozialistischen Arbeiterpartei« (SAP), vor allem nach 1933, als die OSP Hilfe und Unterstützung für die in den Niederlanden Zuflucht suchenden SAP-Mitglieder organisierte. Willy Brandt, der über Amsterdam nach Norwegen floh, ist der bekannteste von ihnen.63 Etwa 4.000 aktive Mitglieder verließen die SDAP und schlossen sich der neuen Partei an. Viele von ihnen waren Sozialdemokraten der zweiten Generation und zwar auch in einem biologischen Sinne als Söhne und Töchter älterer Parteimitglieder. Um nur ein Beispiel zu nennen: Antoinette Rogge-Fortuyn war eine Tochter von Jan Fortuyn, dem Präsidenten des Amsterdamer SDB ab 1883 und einer der »zwölf Apostel« der SDAP.64 Tabelle 6: Altersverteilung der SDAP-Führung (1922–1934) und der OSP-Mitglieder (1932). Vorstand SDAP 1927–1934
Parlament SDAP 1922–1933
OSP 1932
1861–1884
67%
74%
6%
1885–1900
26%
20%
37%
Nach 1900
-
-
57%
Gesamtzahl
27
34
298
Quelle: siehe Tabelle 5; IISG, Biographien De Cort (siehe Anhang).
Im Juli 1932 gaben in einer Umfrage unter den nunmehr 7.000 OSP-Mitgliedern 57 Prozent an, früher der SDAP angehört zu haben; 61 Prozent von ihnen waren jünger als 35 Jahre.65 Für sein Buch über die OSP »Solidariteit in anonimiteit« (Solidarität in Anonymität) hat Bart de Cort aus einer Reihe verschiedener Quellen Informationen zu deren Mitgliedern zusammengetragen.66 63 Bart de Cort: Solidariteit in anonimiteit: de geschiedenis van de leden van de Onafhankelijke Socialistische Partij (1932–1935). Een documentaire, Breda 2004, S. 120–131; siehe auch Willy Buschak: Das Londoner Büro. Europäische Linkssozialisten in der Zwischenkriegszeit, Amsterdam 1985. 64 De Cort, Solidariteit [wie Anm. 63], S. 52 u. S. 84. 65 Eekman/Pieterson, Linkssocialisme [wie Anm. 23], S. 21. 66 IISG, Archiv-Nr. 2891: Biographieën van de leden van de Onafhankelijke Socialistische Partij (OSP, 1932–1935), samengesteld door Bart de Cort (2006).
166
Ad Knotter
Seine Datenbank beinhaltet auch die Geburtsjahrgänge von fast 300 Personen, die mit denen der SDAP-Führung verglichen werden können (Tabelle 6). Der Unterschied in der Altersverteilung ist bemerkenswert: Mehr als die Hälfte der OSP-Mitglieder waren nach 1900 geboren, aber niemand von den führenden SDAP-Politikern. Obwohl ein Teil der OSP keine ehemaligen SDAP-Mitglieder waren und das Ergebnis der Umfrage durch noch jüngere Personen von außerhalb der SDAP leicht verzerrt sein kann, zeigt der Unterschied zwischen beiden Parteien, dass es innerhalb und außerhalb der SDAP eine völlig neue, sich nach links orientierende Alterskohorte gab, welche die Partei weder in der Führung noch im Parlament vertrat. Zwischen 1927 und 1934 wurden einige jüngere, seit den 1880er Jahren geborene Mitglieder zum Vorstand der SDAP zugelassen, der jüngste von ihnen, Piet Schmidt (1896–1952), im Jahr 1930. Er gehörte dem linken Flügel an und verließ den Vorstand 1931 nach einem Konflikt über einen Textilarbeiterstreik.67 Willem Banning (1888–1971), Pfarrer der niederländischen Reformierten Kirche, wurde 1931 gewählt, und Willem Drees (1886–1988), Den Haager Ratsherr, saß seit 1927 im Vorstand; sie sollten beide nach dem Zweiten Weltkrieg sehr prominente Mitglieder der »Partei der Arbeit« werden. Während Banning dabei als Parteiideologe einen ethischen (»personalistischen«) Sozialismus propagierte,68 wurde Drees Fraktionsvorsitzender und Ministerpräsident (1948–1958). Aufgrund seiner dominierenden Rolle in den späten 1940er und 1950er Jahren innerhalb der Partei und in den Niederlanden im Allgemeinen, kann man auch von einer »Generation Drees« als Äquivalent zur »Generation Schumacher« in Deutschland sprechen.69 Vor dem Ersten Weltkrieg hatte Banning zusammen mit Vorrink ein Lehrerseminar in Leiden besucht und teilte dessen Bewunderung für De Mans Neosozialismus. In seinen Memoiren betonte Banning die generationellen Wurzeln seines politischen Denkens als Angehöriger einer »Generation, die Anfang des 20. Jahrhunderts jung und idealistisch« war.70 Er war 1914 in die SDAP 67 Eekman/Pieterson, Linkssocialisme [wie Anm. 23], S. 14. 68 Dick Pels/Willem Banning: voor en tegen, in: Het negende jaarboek voor het democratisch socialisme, Amsterdam 1988, S. 134–170; Arie L. Molendijk: Willem Banning and the Reform of Socialism in the Netherlands, in: Contemporary European History 29 (2020), S. 139–154. 69 Maarten Brinkman: Willem Drees, de SDAP en de PvdA, Amsterdam 1998; Jelle Gaemer: De rode wethouder. Willem Drees 1886–1988. De jaren 1886–1940, Amsterdam 2006. 70 Willem Banning: Terugblik. Op leven en strijd van althans een deel der generatie die idealistisch-jong was aan het begin der twintigste eeuw toegelicht aan de ontwikkelingsgang van één hunner, Amsterdam 1958.
Generationswechsel und Elitenbildung
167
eingetreten. Nach Vorrinks Ernennung zum Vorsitzenden im Jahr 1934 bemühten sich beide um die Durchsetzung der Ideen De Mans, zum Teil auch gegen den Widerstand älterer Mitglieder des Partei-Establishments. Auch vielen einfachen Mitgliedern gingen die ideologischen Veränderungen zu schnell.71 Vorrink und Banning gelang es 1935, jüngere Intellektuelle wie den Nationalökonomen Jan Tinbergen (1903–1994) und Hein Vos (1903–1972) für den Entwurf des später so genannten De Man-Plans für die Niederlande (»Plan van de Arbeid«) zu gewinnen. Außerdem wurden der Rechtsanwalt Marinus van der Goes van Naters (1900–2005), der Historiker Herman B. Wiardi Beckman (1904–1945), der Linguist Henk Brugmans (1906–1997) und die Soziologin Hilda Verwey-Jonker (1908–2004) bei der Abfassung des Parteiprogramms 1937 als Berater hinzugezogen.72 Diese jungen Intellektuellen bildeten durch ihre gemeinsame Zeit in den sozialdemokratischen Studentenvereinigungen im Umfeld der Zeitschrift »Kentering« (1924–1930) eine Generationseinheit. Hier wurden die Arbeiten von De Man ausführlich diskutiert und begierig aufgenommen, wobei manche der liberal-protestantischen Diskutanten außerdem ein besonderes Interesse für Bannings religiösen Sozialismus entwickelten.73 Zwar wurden sie im Vorstand von einigen älteren, einflussreichen Parteigenossen wie Vliegen und Albarda unterstützt, doch die ideologischen Wende der SDAP kann bis zu einem gewissen Grad als ein generationeller Putsch gegen die ältere Generation verstanden werden, die durch die Wirtschaftskrise, den Aufstieg des Faschismus, schwindende Mitgliederzahlen und einen Wählerrückgang verbraucht war. Eine weitere Verjüngung des Vorstandes erfolgte 1937 durch die Wahl von – neben anderen – Wiardi Beckman und Van der Goes van Naters. Ihr vergleichsweise fortgeschrittenes Alter von 33 bzw. 37 Jahren ist ein weiterer Hinweis auf die Schwierigkeiten der jüngeren Generation, in die führenden Gremien der
71 Wiedijk, Koos Vorrink [wie Anm. 17], S. 39. 72 Johann S. Wijne: Op weg naar de Partij van de Arbeid. Het Beginselprogramma van de SDAP van 1937 en het streven naar een democratisch-socialistische volkspartij, in: Het vierde jaarboek van het democratisch socialisme, Amsterdam 1983, S. 148–175; Johann S. Wijne, Stuuf Wiardi Beckman. Patriciër en sociaal-democraat, Amsterdam 1987; Margrit van der Steen: Drift & Koers. De levens van Hilda-Jonker (1908–2004), Amsterdam 2011; Erwin Dekker: Jan Tinbergen. Een econoom op zoek naar vrede, Amsterdam 2021. 73 Knotter, Generational Change [wie Anm. 16], S. 83; bereits 1932 waren Mitglieder dieser Gruppe eingebunden in die Arbeit von Vorrinks AJC: Wiedijk, Koos Vorrink [wie Anm. xx], S. 149; Hartveld/De Jong/Kuperus, De Arbeiders [wie Anm. 18], S. 140 u. S. 179 f.
168
Ad Knotter
SDAP vorzudringen. Wiardi Beckman, der als Sekretär für Troelstra gearbeitet und in den 1920er Jahren dessen Memoiren bearbeitet hatte, wurde 1945 in Dachau ermordet. Die »Partei der Arbeit« feierte ihn nach dem Krieg als einen ideologischen Vorreiter: die Wiardi Beckman Stiftung, das wissenschaftliche Institut der Partei, wurde nach ihm benannt. Van der Goes von Naters wurde nach dem Krieg Fraktionsvorsitzender der PvdA (1945–1951). Beide Männer kamen aus aristokratischen Oberschichtfamilien, die in Nijmegen nahe der deutschen Grenze ansässig waren. Hier hatten sie sich im örtlichen Gymnasium kennengelernt. Van der Goes führte seine und Wiardi Beckmans »Bekehrung« zum Sozialismus auf die Vorgänge in Deutschland im November 1918 zurück:
»Für die junge Generation bedeutete der November 1918 einen emotionalen und intellektuellen Bruch […]. Wiardi Beckman und ich waren vollkommen überwältigt von den Nachrichten aus Deutschland: überall Arbeiter- und Soldatenräte […], Wilhelm dankte ab […], Friedrich Ebert wurde Reichskanzler und die Republik wurde ausgerufen.« Van der Goes und Beckman waren nicht die einzigen: »Der November 1918 machte viele Jugendliche aus intellektuellen Kreisen wie mich zu Sozialisten«, schrieb Van der Goes.74 Es ist schwierig, das Ausmaß dieser »November- Generation« genau zu bestimmen, aber in der Folge des Ersten Weltkriegs erlebten viele niederländische Intellektuelle einen »humanitären Moment«, der sich auch in einem wachsenden Interesse an dem von Banning propagierten »religiösen Sozialismus« ausdrückte.75 Willem Drees, unbestrittener Führer der PvdA in der Nachkriegszeit bis weit in die 1950er Jahre hinein, war mindestens 14 Jahre älter als Van der Goes van Naters und seine Altersgenossen. Er kann also nur dann zur gleichen Generation gerechnet werden, wenn man das Konzept sehr weit ausdehnt. Drees war in Amsterdam geboren und dort als Sohn von orthodoxen protestantischen Eltern aufgewachsen. Er kam schon früh Anfang des 20. Jahrhunderts durch seine Klassenkameraden vom Gymnasium, Söhne von Diamantenarbeitern,
74 Marinus van der Goes van Naters: Met en tegen de tijd. Een tocht door de twintigste eeuw, Amsterdam 1980, S. 23–27: siehe auch: Herman B. Wiardi Beckman: En die twee jongens zijn wij. Brieven aan M. van der Goes van Naters, Amsterdam 2007. 75 Marjet Brolsma: »Het humanitaire moment«: Nederlandse intellectuelen, de Eerste Wereldoorlog en het verlangen naar regeneratie van de Europese cultuur (1914–1930), Hilversum 2016.
Generationswechsel und Elitenbildung
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mit dem Sozialismus in Kontakt. Und so schließt sich der Kreis: In der Person Drees kommen Anfang und Ende der SDAP zusammen.
Schlussfolgerung Der langjährige Fraktionsvorsitzende Johan Willem Albarda war ein »SpätBekehrter«, was die Erneuerung der ideologischen Ausrichtung seiner Partei angeht, die er erst seit Ende der 1930er Jahre unterstützte. Zehn Jahre zuvor, im Jahr 1928, hatte er sein Zögern gegenüber dem allzu großen Einfluss der »Jungen« ausgedrückt: »Es gibt heutzutage zu viele Jugendliche, die der Geschichte nicht genug Aufmerksamkeit schenken, die sich selbst überschätzen und die die Ankunft einer neuen Kultur predigen, ohne sich um die Vergangenheit zu kümmern. In der heutigen Zeit brauchen die Jungen vor allem die Lehren der Älteren. Unsere älteren Parteimitglieder haben Engels und Marx gelesen. Dies tun die Jungen nicht mehr.«76 Diese Bemerkungen machen deutlich, dass sich Albarda zu einer Generation gehörig fühlte, die aufgrund ihrer Erfahrung einen Wissensvorsprung vor den Jüngeren für sich geltend machte. Die zitierten Sätze richteten sich direkt gegen Vorrink und andere Anhänger von De Man, dessen Ideen mit den »Jungen« assoziiert wurden, obwohl Vorrink zu diesem Zeitpunkt auch schon Ende Dreißig war. Zehn Jahre später hatten Vorrink und seine Mitstreiter, und damit auch seine Vorstellungen von einer kulturellen »Erneuerung«, die Oberhand gewonnen. Die »Jungen« – und aus der Perspektive der alternden Führungsriege war sogar Vorrink »jung« – bekamen nun ihre Chance, denn, wie es der Historiker der niederländischen Sozialdemokratie Frits De Jong ausgedrückt hat, »die Führung wurde alt und müde«. Für die Zeit der 1930er Jahre, nach der Parteispaltung von 1932, identifizierte de Jong zahlreiche unterschiedliche Strömungen in der Partei: Da waren einige »dogmatische Marxisten« [Anhänger Kautskys, Anm. d. Verf.]; die »alte Belegschaft«, zu der Vliegen und Albarda gehörten, die alte reformistische Taktiken verteidigte; ethische 76 IISG, Archiv SDAP (Archiv-Nr. 1292) Inventar-Nr. 59, Protokoll der Vorstandssitzung vom 30.11.1928, zitiert nach: H. van Hulst/Arie Pleysier/Age Scheffer: Het roode vaandel volgen wij. Geschiedenis van de S.D.A.P. van 1880–1940, The Hague 1969, S. 175; auch in: Cohen, Om de vernieuwing [wie Anm. 1], S. 220 f.
170
Ad Knotter
Sozialisten wie Banning und Vorrink und zu guter Letzt die »Getreuen«: einfache Parteimitglieder, die bei großen Demonstrationen mitmachten und die mit der Partei durch Dick und Dünn gingen.77 De Jongs Bemerkungen berühren implizit den Kern des generationellen Problems in der Sozialdemokratie (und auch in anderen politischen Strömungen wie dem Kommunismus). Die Art und Weise, wie die Partei aufgebaut war und wie sie sich selbst sah, setzte eine Differenzierung zwischen Führung und einfachen »getreuen« Parteimitgliedern voraus. Es handelte sich um eine von oben nach unten gegliederte Organisation, die auf »Treue« gegenüber der Führung beruhte, nicht um eine Bewegung mit einer von unten nach oben ausgerichteten Machtstruktur. Diese Tendenz verstärkte sich mit jeder neuen Konfrontation zwischen Führung und radikalen oppositionellen Gruppierungen des linken Flügels, denen trotz all ihrer Unterschiede gemeinsam war, dass sie von der Basis und ihren Bewegungen vorangetrieben oder zumindest unterstützt wurden. Aus diesem Grund gelang es der Partei nicht, den bei jedem Wachstumsschub der Mitgliedschaft erfolgten Generationswechsel (um 1913, 1920 und 1930) in einen der Führung zu transponieren. Der Generationswechsel in der Führungsriege erfolgte »lebenszyklisch«, allerdings in Wechselwirkung mit ideologischen Veränderungen, wie die Entwicklungen in der SDAP in den 1930er Jahren gezeigt haben. Generationswechsel und ideologischer Wandel fielen in dieser Zeit zusammen mit einer Krise traditioneller Denkrichtungen in der Sozialdemokratie, die sich während der politischen und wirtschaftlichen Krise der 1930er Jahre manifestierte.78 Die Verbindung zwischen generationellem und ideologischem Wandel ist jedoch, so die Hypothese dieses Beitrags, ein universelles Phänomen in der Geschichte sozialer Bewegungen und politischer Parteien, die aus diesen hervorgehen: Man denke nur an die Komsomol, die den Aufstieg Stalins und des Stalinismus gegen die alten Bolschewiki in der Sowjetunion der 1930er Jahre unterstützten oder an die Studentenmobilisierung während der Kulturrevolution zur Unterstützung Maos und des Maoismus in China Ende der 1960er Jahre, ebenfalls in Opposition zu einer alten Führung. Die Entwicklungen in der SDAP in den 1930er Jahren verliefen selbstredend weitaus friedlicher (und die Beteiligten würden über diesen Vergleich sicher nicht glücklich sein), doch aus soziologischer Perspektive ist es auffällig, dass die neue Generation (und zwar sowohl die Gruppierung um Vorrink und Banning als auch die ehemaligen 77 Frits de Jong: De Nederlandse sociaaldemocratie en de dreiging van het fascisme 1930–1940, in: Socialisme en Democratie 41 (1984), S. 197–205, hier S. 198 f. 78 Knotter, Generational Change [wie Anm. 16].
Generationswechsel und Elitenbildung
171
Mitglieder der Studentenvereinigungen) von zwei Vertretern der alten Garde, Albarda und Vliegen, so aktiv ermutigt und unterstützt wurden. So lässt sich also schlussfolgern, dass es ganz gewiss eine »Generation Ebert« in der niederländischen Sozialdemokratie gegeben hat, trotz der signifikanten Unterschiede zwischen den Entwicklungen in Deutschland und den Niederlanden. Der Grund dafür ist, wie oben schon erwähnt, die generelle soziologische Tendenz zur Verknöcherung innerhalb der Führungsgeneration einer Partei, auf die Michels schon vor langer Zeit hingewiesen hat. Die Ausbildung einer niederländischen »Generation Ebert« unterschied sich allerdings von ihrem deutschen Gegenstück, da diese »Generation Vliegen«, wie sie hier genannt worden ist, gleichzeitig die Gründergeneration der SDAP war, der Nachfolgepartei des Sozialdemokratischen Bundes, dessen Anführer das Äquivalent zur »Generation Bebel« darstellten. Aus diesem Grund fiel die Ausbildung der »Generation Vliegen«, die ihre Führerschaft über einen langen Zeitraum von vor bis nach dem Ersten Weltkrieg behaupten konnte, mit der Ausbildung der ersten Generation während der ersten (kleinen) Wachstumswelle der SDAPMitgliedschaft um 1900 zusammen, wie am Fall Amsterdam gezeigt werden konnte. Zu dieser Zeit gab es ein klares Übergewicht der Alterskohorte 1861 bis 1884 sowohl unter den führenden Politikern als auch innerhalb der Mitgliedschaft. Soweit die Daten über die Altersverteilung der Maastrichter Mitglieder und der abgespaltenen OSP Schlüsse zulassen – und ich behaupte, dass dies der Fall ist – wuchs der Altersabstand zwischen der Führung und den Mitgliedern während der 1920er und 1930er Jahre. Wie Tenfelde und Braun in ihren Beiträgen zu dem Band »Generationen der Arbeiterbewegung« andeuten, liegt die Vermutung nahe, dass die sozialdemokratische Bewegung in Deutschland einen ähnlichen Altersunterschied aufwies.
Anhang: Benutzte Datenbanken zur Rekonstruktion der Alterskohorten in Amsterdam und Maastricht Die Namen der Amsterdamer Mitglieder des Sozialdemokratischen Bundes (SDB) sind von Paul van Horssen und Dick Rietveld unter Hinzuziehung verschiedener Quellen, allen voran der Parteizeitung »Recht voor Allen« (»Gerechtigkeit für Alle«), zusammengestellt worden. 1894 benannte sich der SDB in »Sozialistenbund« (Socialistenbond, SB) um. Van Horssen und Rietveld entdeckten in den Archiven der Amsterdamer Städtischen Polizei (Stadsarchief Amsterdam, Gemeentepolitie, Archivnummer 5225, Inventarnummer 860) Mitgliederlisten von so genannten »Anarchisten«. Schon vor seiner formalen
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Ad Knotter
Auflösung im Jahr 1900 hatte der anarchistische Flügel den Sozialistenbund aus eigenem Antrieb verlassen und die sogenannten »Freien Gruppen« gegründet. Eine 1901 vom Innenministerium zusammengestellte Liste mit »Anarchisten« diente zur Identifizierung solcher in Amsterdam (Nationaal Archief Den Haag, Ministerie van Justitie [Periode 1876–1914], Archivnummer 2.09.05, Inventarnummer 6506). Siehe auch Jan Willem Stutje, Ferdinand Domela Nieuwenhuis. Een romantisch revolutionair, Amsterdam 2012, S. 292 f. Listen von SDAPMitgliedern aus den Jahren 1898 und 1902 liegen in den Archiven der Partei beim Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISH) in Amsterdam vor (IISH, archives SDAP Federatie Amsterdam, Archivnummer 1268, Inventarnummer 15–16). Die von Van Horssen und Rietveld erstellten Datenbanken gehen über die in ihren früheren Publikationen benutzten hinaus: De Sociaal Democratische Bond. Een onderzoek naar het ontstaan van haar afdelingen en haar sociale structuur, and Socialisten in Amsterdam 1878–1898. Een sociaal profiel van de SDB - en SDAP-aanhang, in: Tijdschrift voor Sociale Geschiedenis 1 (1975), S. 5–71, und: 16 (1990), S. 387–406. Eine Datenbank zum sozialen Profil der 274 männlichen und 202 weiblichen Mitglieder der SDAP-Ortsgruppe Maastricht um 1920 ist vor einigen Jahren von Annet Schoot Uiterkamp zusammengestellt worden. Siehe Annet Schoot Uiterkamp/ Jos Perry: Herkomst, gezindte en beroep van SDAP-leden in Maastricht, in: Tijdschrift voor Sociale Geschiedenis 14 (1988), S. 247–273 und Ad Knotter: Het Boschstraatkwartier in Maastricht in de eerste decennia van de twintigste eeuw. Een socialistisch (vrouwen)bolwerk, in: Stadsgeschiedenis 11 (2016), S. 24–48. Ich bin den genannten Autoren sehr dankbar für die Erlaubnis zur Benutzung dieser Datenbanken.
Jan Willem Stutje
Hendrik de Man. Vordenker der ersten Generation des europäischen Sozialismus
Aus der modernen Soziologie haben Theorien zur »Generationenidentität« und zum »Generationenkonflikt« ihren Weg in die Geschichtswissenschaft gefunden.1 Der in Budapest geborene Karl Mannheim (1893–1947), Begründer der Wissenssoziologie, schrieb 1928 den Aufsatz »Das Problem der Generationen«, in dem er die These aufstellte, dass die Menschen in ihrer Jugend entscheidend von ihrem sozialgeschichtlichen Umfeld geprägt werden.2 Eine Argumentation, die ebenso plausibel wie schwer nachvollziehbar erscheint, denn schließlich steht es den Menschen frei, sich gegen alles zu wehren, selbst gegen den extremsten Druck. Wenn dies für ein Individuum gilt, dann gilt es auch für eine Gruppe von Individuen, von Menschen ungefähr gleichen Alters, die in ihrer Jugendzeit bemerkenswerte soziale und politische Ereignisse erlebt haben. Es ist fraglich, ob die daraus resultierenden Mentalitäten und Weltanschauungen so tiefgreifend sind, dass wir eine solche Sammlung als Generation bezeichnen können (wenn auch nur für einen begrenzten Zeitraum). Diese Komplexität tut der Tatsache keinen Abbruch, dass sich der Begriff »Generation« nicht nur in soziologischen oder sozialpsychologischen Zeitdokumenten, sondern auch in der Geschichtsschreibung einer gewissen Beliebtheit erfreut, selbst in der der Sozialdemokratie, wo Begriffe wie »Klasse«
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Eine klassische Darstellung des Problems findet sich in Karl Mannheim: Das Problem der Generationen, in: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, Neuwied 1964, S. 509–565; vgl. Nia Perivolaropoulou: Temps socio-historique et générations chez Karl Mannheim, in: L’Homme et la société 111–112 (1994), S. 23–33. Mannheim unterscheidet zwischen Generationenpositionierung und Generationenkohäsion, eine Unterscheidung, die mit Marxʼ Begriff der Klasse an sich und der Klasse für sich verglichen werden kann. In einem solchen Generationenzusammenhang finden sich die Menschen organisatorisch zu – wie Mannheim es nennt – Generationseinheiten zusammen, die die prägende Grunderfahrung nicht unbedingt in eine einheitliche politische Option umsetzen müssen. Auf ein und dieselbe historische Erfahrung sind gegensätzliche Reaktionen möglich.; vgl. Mannheim, Das Problem der Generationen [wie Anm. 1], S. 541–544.
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Jan Willem Stutje
und »Klassenbewusstsein/-konflikt« traditionell eine heuristische Präferenz genießen. Wenn wir uns vor dem Missverständnis hüten, dass Generationen ein Leben lang gleichartig denken und handeln, und wenn wir Jahreszahlen nur als einen der Faktoren betrachten, die das Dasein – neben sozialen, politischen, kulturellen und religiösen Elementen – prägen, dann ist der Begriff »Generation« auch für die Untersuchung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung eine nützliche Forschungskategorie. Dieser Artikel konzentriert sich auf Generationen, die ihre Basis in ihrer eigenen nationalen Realität haben, und untersucht auch, ob internationale Ereignisse wie der Erste Weltkrieg, Revolutionen und die wirtschaftliche Depression der 1930er Jahre zu Erfahrungen geführt haben, die den kognitiven Rahmen transnationaler Netzwerke mit generationellen Merkmalen geprägt haben.3 Die Lebensgeschichte von Hendrik de Man (1885–1953), Kriegsfreiwilliger in den Jahren 1914 bis 1918 und Autor des berühmten Werks »Zur Psychologie des Sozialismus«, dient als Leitfaden.4 Hendrik de Man, der ursprünglich aus Antwerpen stammte, fand weit über die Grenzen Belgiens hinaus eine Leserschaft, die sich für einen neuen, ethisch begründeten emotionalen Sozialismus empfänglich zeigte.5 Bevor seine politische Karriere ab 1933 in Belgien Fahrt aufnahm, lebte und arbeitete er fast zwei Jahrzehnte lang in Deutschland, nur unterbrochen durch die Jahre des Ersten Weltkriegs. Am stärksten war sein Einfluss in den Jahren, in denen die zwischen 1860 und 1880 geborene und in der Reichsgründungszeit aufgewachsene »Generation Ebert« ab 1920 die führenden Positionen im Staat, in der SPD und in der Gewerkschaftsbewegung besetzte.6 Wie ihre Vorgängerin – die »Gründergeneration Liebknecht-BebelBernstein«, Jahrgang 1825 bis 1850 – war die »Generation Ebert« tief im sozialdemokratischen Parteimilieu und in der sozialdemokratischen Kultur verwurzelt, kannte aber nicht die traumatischen Erfahrungen der massiven Ausgrenzung und Verfolgung durch die Bismarckʼschen Sozialistengesetze (1878 bis 1890). Ihr fehlte auch die unmittelbare revolutionäre Erwartung und das von Karl Marx inspirierte, proletarisch orientierte Erlösungsbewusstsein der
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Dan S. White: Lost Comrades. Socialists of the Front Generation 1918–1945, Cambridge/Mass. 1992. Jan Willem Stutje: Hendrik de Man. Een man met een plan, Kalmthout 2018. Hendrik de Man: Zur Psychologie des Sozialismus, Jena 1926. Für eine Bibliographie der Werke von Hendrik de Man siehe: Wouter Steenhaut: Hendrik De Man. Bibliographie, Antwerpen/Amsterdam 1977. Bernd Braun: Die »Generation Ebert«, in: Klaus Schönhoven/Bernd Braun (Hg.): Generationen in der Arbeiterbewegung, München 2005, S. 69–86.
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früheren Generation.7 Ihr pragmatisch-bürokratischer Führungsstil spiegelte einen starken Glauben an revisionistische Positionen und reformistische Lösungen wider. Obwohl die in der Weimarer Republik stark von De Man geprägte gefühlssozialistische Generation mit Nachdruck an die Türen des Partei- und Gewerkschaftsapparats klopfte, hielt die Ebert-Gruppe sie verschlossen, was nicht ohne Spannungen ablief. De Man gehörte nicht zum selben Jahrgang wie die Ebert-Generation, doch war er mit einigen von ihnen verbunden, wie Paul Lensch, Konrad Haenisch, Hermann Wendel, Ludwig Frank und Karl Liebknecht. Er traf sie in den Redaktionen der »Leipziger Volkszeitung« und in der sozialistischen Jugendbewegung. Sein Engagement wird durch seinen Bericht über den Jenaer SPD -Parteitag 1905 im Organ der belgischen Arbeiterpartei »Vooruit« (»Vorwärts«), das in Gent erschien, illustriert: »Alle Richter des Jenaer Parteitages sind sich einig, dass das Streben nach einer theoretischen Vertiefung des Klassenbewusstseins das Gebot der Stunde ist. […] Es ist dieser Teil der […] Tätigkeit, der den tiefsten Eindruck auf den ausländischen Sozialdemokraten macht. Er ist überzeugt, dass die […] Kraft der deutschen Sozialdemokratie nicht in erster Linie in ihrer ständigen Organisation liegt […], sondern in dem klaren Bewusstsein ihrer Anhänger, geschult durch […] eine beharrliche Arbeit der moralischen Erhebung!«8 In seinen Memoiren erzählt De Man, wie er schon früh vom Darwinismus beeindruckt war und aufgrund dieser evolutionären Sichtweise der Bildungsarbeit große Bedeutung beimaß.9 Er erzählt auch, wie Karl Kautsky seinen Glauben an die Gesetze der sozioökonomischen Entwicklung stärkte und die Bedeutung von Erziehung und Bildung hervorhob. Ohne Einsicht in die Bewegungsgesetze des Kapitals, die den »normalen Augen« verborgen blieben, könnten »Entschlossenheit und Besonnenheit« nicht an die Massen vermittelt werden.10 De Man kann in dieser Zeit kaum zur Ebert-Generation gezählt werden, dazu war sein Aufenthalt in Leipzig zu sehr von Unsicherheiten geprägt und
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Thomas Welskopp: Die »Generation Bebel«, in: ebenda, S. 51–67. »Vooruit« vom 26. Oktober 1905. Herinneringen van Hendrik de Man, Antwerpen/Arnhem 1941, S. 57. »Die Klassenlage des Proletariats erzeugt sozialistisches Wollen, nicht aber sozialistisches Erkennen.« Brief von Karl Kautsky an Victor Adler vom 25. Oktober 1901, in: Victor Adler: Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky, u. a., Wien 1954, S. 375.
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seine politischen Vorstellungen (anarchistisch/romantisch) zu sehr im Fluss, aber er hatte die Möglichkeit, sich in die rationalistische sozialdemokratische Kultur und das marxistische Parteimilieu einzufügen und allmählich seinen politischen Platz im Umfeld des Zentrums um Karl Kautsky zu finden.
I. Hendrik de Man stammte aus dem liberalen Antwerpener Bürgertum. Als Enkel des Dichters Jan Van Beers, eines Verfechters der flämischen Emanzipation, teilte er dessen Haltung. Doch am Königlichen Athenäum in Antwerpen entwickelte er sich nicht nur von der flämischen zu einer sozialen Denkhaltung, sondern interessierte sich auch für Deutschland. Die deutsche Reichseinigung 1871 und der Sieg über Frankreich wurden in progermanischen Kreisen mit Beifall aufgenommen. De Man war siebzehn Jahre alt, als er 1902 der »Belgischen Arbeiterpartei« (BWP) beitrat. De Man war nicht der einzige Sohn des wohlhabenden Bürgertums, der den Schritt zur Sozialdemokratie machte. Hector Denis, César de Paepe, Emile Vandervelde, Modeste Terwagne, Louis de Brouckère und Jules Destrée, Mitbegründer der BWP, gingen ihm in den 1880er Jahren voraus. Während für diese erste Generation die Grenze zwischen antiklerikalen, progressiven Liberalen und Sozialisten eher unscharf war und der Übergang zum Sozialismus keinen radikalen Bruch mit dem alten Milieu bedeutete, änderte sich dies nach 1894.11 Die Enttäuschung über die nur begrenzte Ausweitung des Wahlrechts und die schwache Haltung der Liberalen in dieser Frage führte dazu, dass die neu rekrutierten sozialistischen Intellektuellen einen härteren Schnitt mit dem alten Milieu vollziehen mussten. Während die Vanderveldes einem bürgerlichen und luxuriösen Lebensstil verhaftet blieben, brachte De Mans Abneigung gegen Prunk und Pomp ihn von vornherein mit solchen Parteimitgliedern in Konflikt – eine Quelle der Irritation und des Streits während seiner späteren politischen Karriere. In der BWP schloss sich De Man dem marxistischen Flügel an, der befürchtete, dass die proletarische Revolution dem liberal-sozialistischen Wahlkartell und dem Wunsch nach Regierungsbeteiligung um jeden Preis geopfert werden würde.12 In jenen Jahren fühlte sich De Man zu dem niederländischen 11 Émile Vandervelde: Souvenirs d’un militant socialiste, Paris 1939, S. 20. 12 Hendrik De Man: Het tijdvak der demokratie. Met eene voorrede door Henriette Roland Holst, Gent 1907.
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Anarchisten Ferdinand Domela Nieuwenhuis und der Dichterin Henriette Roland Holst, aber auch zu Peter Kropotkin, Jean Grave und Leo Tolstoi hingezogen. Dass er kein abstrakter Wortradikaler war, wurde deutlich, als er 1905 in Gent gegen die Niederschlagung des Aufstandes (»Blutsonntag«) in Sankt Petersburg demonstrierte. Die Aktion endete für De Man mit einer Gefängnisstrafe wegen Vandalismus. In den Augen seiner Familie und vor allem seines autoritären Vaters war es eine Schande, dass sein Sohn sein Studium vernachlässigte und häufiger in der Fabrik arbeitete, als dass er das College besuchte. Seine Vorliebe für diese Art von Arbeit spiegelte schon in jungen Jahren einen ausgeprägten Voluntarismus und die Überzeugung wider, dass Intellektuelle eine wichtige Rolle bei der Verbesserung des Loses des Proletariats zu spielen haben. Noch im selben Jahr zwang sein Vater den Zwanzigjährigen, sein Studium in Deutschland fortzusetzen (Leipzig, 1905 bis 1910). Im Jahr 1909 schloss De Man seine Dissertation über die Genter Tuchindustrie des 14. Jahrhunderts ab.13 Während dieser Zeit gelang es ihm, Mitarbeiter der »Leipziger Volkszeitung« zu werden, die von Franz Mehring geleitet wurde. Er machte sich einen Namen als überzeugter Verfechter des Generalstreiks, des politischen Massenstreiks nach der Methode von Rosa Luxemburg.14 Er war dabei, als die Sozialistische Internationale auf ihrem Kongress in Stuttgart 1907 diese Waffe in ihr taktisches Arsenal aufnahm. Am Rande des Treffens hielten auch die sozialistischen Jugendorganisationen ihre erste internationale Konferenz ab. Hendrik de Man vertrat die belgische Sozialistische Jugendgarde (SJW ) und eröffnete die Sitzung. Karl Liebknecht (1871–1919) hielt seine berühmte Rede über Militarismus und Antimilitarismus, die ihm eineinhalb Jahre Gefängnis einbrachte.15 De Man lieferte Liebknecht Material zu dieser Rede und wurde neben ihm und Henriette Roland Holst (1869–1952) in den Vorstand der Jugendinternationale gewählt.16 Es war der Beginn von De Mans langer Karriere in der Sozialdemokratie und seiner Freundschaft mit Henriette Roland Holst, obwohl die Künstlerin 1912 aus der SDAP austrat, nachdem sie sich dem Reformismus vergeblich widersetzt hatte.17 13 Hendrik de Man: Das Genter Tuchgewerbe im Mittelalter, Leipzig 1909. 14 Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, Hamburg 1906. 15 Karl Liebknecht: Militarismus und Antimilitarismus unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Jugendbewegung, Leipzig 1907. 16 Hendrik de Man: Wie wir die Jugendinternationale gründeten, in: »Arbeiter-Jugend«. Monatsschrift der sozialistischen Arbeiterjugend 24 (1932), Heft 10, S. 297–299. 17 Elsbeth Etty/Jan Willem Stutje: Hendrik de Man en Henriette Roland Holst. De schande en het geweten van twee naties, in: Zacht Lawijd, literair-historisch tijdschrift, Bd. 14, Nr. 4, Oktober/November/Dezember 2015.
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In De Mans Bild des leidenden Proletariats waren die romantischen Gefühle der entscheidende Faktor. »Ich habe«, so gestand er in seinen »Erinnerungen«, »die rebellische Kraft der Tradition eher begriffen als die der Revolution.«18 De Man ließ sich von Henri Pirennes Dissertation über die Entstehung Belgiens inspirieren, die sich auf das frühe Mittelalter, die Ära der vermeintlich egalitären flämischen Gesellschaft und auf das Heldentum der Schlacht von Courtrai, besser bekannt als die Schlacht der Goldenen Sporen (Guldensporenslag, 1302), konzentriert.19 De Man sollte seine Doktorarbeit diesem Thema widmen. Seine These, seit dem 14. Jahrhundert habe sich die Welt nur verschlechtert, verkündete er 1911 in seinem berühmt-berüchtigten Artikel in der »Neuen Zeit«: »Die Eigenart der belgischen Arbeiterbewegung«.20 In diesem Text war »die Nähe des heimatlichen Bodens und die lebendige Präsenz eines historischen Erbes, das gleichsam durch das Blut weitergegeben wird«, spürbar.21 Diese Art von Nostalgie kennzeichnete De Mansʼ antikapitalistisches Engagement. Er wandte sich gegen die belgische Gesellschaft im Namen eines organisch gewachsenen Flanderns, in dem die direkten und persönlichen menschlichen Beziehungen noch nicht verloren gegangen waren. Er lernte sie als Kind im familiären Umfeld, in den Beziehungen zu den Dienstmädchen und Putzfrauen und zu den Arbeitern in der Außenwelt kennen. Alle, so betonte er, behandelten sich gegenseitig als Gleichberechtigte.22 Später vertiefte sich diese Geisteshaltung in der Beziehung zu Freunden und Verwandten, Malern, Bildhauern, Literaten und Musikern, die zur klassischen Intelligenz gehörten. Um die Jahrhundertwende gerieten sie mehr und mehr in die Enge und reagierten auf ihren sozialen Abstieg, indem sie qualitativen Werten – ethischer und ästhetischer Art – eine überragende Bedeutung beimaßen. Über Geld wurde nicht gesprochen; dies war ein Tabuthema. Der romantische Gefühlskomplex erklärt De Mans spätere Ablehnung einer Gesellschaftsordnung, in der »eine völlig andere Werteskala vorherrschte«.23 Als Alternative stellte er sich eine Welt vor, in der die verschwundenen Ideale der Gleichheit und der sozialen Gerechtigkeit wiedergefunden werden könnten. Eine Nostalgie, für die im »unhistorischen« kautskyanischen Marxismus mit seinem mechanistischen,
18 De Man: Herinneringen [wie Anm. 9], S. 22. 19 Henri Pirenne: Histoire de Belgique, 7 Bände, Bruxelles 1899–1932. 20 Hendrik de Man: Die Eigenart der belgischen Arbeiterbewegung, Ergänzungshefte zur Neuen Zeit, Nr. 9 vom 10. März 1911, S. 1–28. 21 De Man: Herinneringen [wie Anm. 9], S. 23. 22 Ebenda, S. 12 f. 23 Ebenda, S. 13.
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deterministischen und evolutionistischen Weltbild kein Platz war.24 Ein Heimweh, das ihn später auch für die ideologische Welt der Kulturpessimisten wie Oswald Spengler, Hermann Graf Keyserling und Ernst Jünger öffnen sollte.
II. De Man hat sich nicht nur in Deutschland Gehör verschafft. Er meldete sich auch andernorts zu Wort, etwa in den Niederlanden, wo er die Zeitung »Die Tribüne« (»De Tribune«) aktiv unterstützte – eine Opposition, die der SDAPFührung Sympathien für den Revisionisten Eduard Bernstein vorhielt. Außerdem engagierte er sich 1910 in London in der »Sozialdemokratischen Föderation«, der Partei, die von William Morris (1834–1896) gegründet worden war, dem Designer und geistigen Vater der Arts-and-Crafts-Bewegung, der wie De Man ein leidenschaftlicher Neoromantiker war.25 Im Vorgriff auf seine Abreise nach London widmete De Man im September 1909 einen kritischen Essay dem, was Belgien in den Augen von Karl Marx zum »Paradies der Kapitalisten« machte. De Man sah das Fehlen einer modernen zentralisierten Gewerkschaftsbewegung als die Achillesferse des belgischen Sozialismus. Das niedrige theoretische Niveau, die einseitige Ausrichtung auf die Genossenschaften und das Parlament wirkten lähmend. Nur der marxistische Flügel sah die Bedeutung von Zentralisierung und Disziplin, Methoden, die, so De Man, in Deutschland »zu so wunderbaren Ergebnissen geführt hatten«. De Man blieb keine andere Wahl, als den Text an die in Chicago erscheinende »International Socialist Review« zu schicken.26 Denn der Genter Parteiführer Edward Anseele, einer der Gründer der BWP im Jahr 1885, boykottierte den Aufsatz wegen seines parteifeindlichen Charakters.27 Nur vier Monate später lehnte ein Vertreter der belgischen Parteiführung in den »Sozialistischen Monatsheften«, einem Sprachrohr von Eduard Bernstein und des interna-
24 Vgl. Michael Löwy/Robert Sayre: Révolte et mélancolie. Le romantisme à contre-courant de la modernité, Paris 1992, S. 83–121. 25 Edward P. Thompson: William Morris. Romantic to Revolutionary, [Postscript 1976], London 1955 (1977), S. 779. 26 Hendrik de Man: The Working Class Movement in Belgium, in: The International Socialist Review (Vol. X), April 1910, S. 907–914. 27 Brief von Hendrik de Man an Léon Delsinne vom 2. Dezember 1909. Amsab-ISG, Archiv Delsinne.
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tionalen Revisionismus, den Aufsatz De Mans erwartungsgemäß ab.28 Die Tatsache, dass die Beiträge in deutschen und US-amerikanischen Zeitschriften erschienen, verriet, dass die Debatte auch außerhalb Belgiens als wichtig angesehen wurde. Eine überarbeitete Fassung des Artikels erschien auch in der »Neuen Zeit«, der führenden marxistischen Zeitschrift, die von Karl Kautsky herausgegeben wurde.29 Der Sturm, der nach der Veröffentlichung ausbrach, legte die gegensätzlichen Positionen in allen Einzelheiten offen. In Belgien kam es nicht zu einer Spaltung wie in den Niederlanden, wo die Marxisten 1909 mit der SDAP brachen und die Sociaal-Democratische Partij (SDP) gründeten, den Vorläufer der Communistische Partij in den Niederlanden (CPN).30 Der Parteivorsitzende Émile Vandervelde fand versöhnliche Worte und lud De Man ein, ein von der Partei und der Gewerkschaftsbewegung zu gründendes Ausbildungsinstitut (Centrale voor Arbeidersopvoeding) nach deutschem Vorbild zu leiten. Der Industrielle Ernest Solvay steuerte 100.000 Franc zur Unterstützung des Projektes bei. Widerstand kam vor allem aus Gent, der Hochburg der Genossenschaft »Vooruit«, insbesondere von Veteranen wie Edward Anseele und Louis Bertrand, die international auf der Seite von Kautskys Rivalen Eduard Bernstein standen. Vandervelde brauchte drei turbulente Sitzungen, um den »Draufgänger Anseele« mit seinen »terroristischen Provokationen« (so De Man) zum Einlenken zu bewegen. Von nun an hielt sich auch De Man an die Spielregeln. De Man zeigte keinerlei Interesse an der revolutionären Gewerkschaftsbewegung, die sich zur gleichen Zeit um den ehemaligen Sekretär Joseph Jacquemotte (1883–1936) und die Brüsseler Zeitschrift »LʼExploité, organe socialiste dʼaction directe«, entwickelte.31 Und als 1912 in Lüttich und im Hennegau ein neuer Generalstreik für das Wahlrecht ausgerufen wurde, behinderten De Man und seine ehemaligen Oppositionsfreunde unverhohlen die Vorbereitungen. Als der Streik im April 1913 endlich beendet war, blieb De Man sogar drei Wochen lang von der Bildfläche verschwunden.32 Die Ursa28 Louis Bertrand: Die reformistische Tätigkeit der Belgischen Arbeiterpartei, in: Sozialistische Monatshefte, 1910, Heft 14–16, 10. August 1910, S. 1044–1047. 29 De Man, Die Eigenart der belgischen Arbeiterbewegung [wie Anm. 19]. 30 Zur Gründung der SDP durch die marxistischen Mitglieder der SDAP im Jahr 1909, siehe: Henny Buiting: Richtingen – en partijstrijd in de SDAP. Het ontstaan van de Sociaal-Democratische Partij in Nederland (SDP), Amsterdam 1989. 31 José Gotovitch: Jacquemotte, Joseph, in: Dictionnaire biographique des Kominterniens, Belgique, France, Luxembourg, Suisse, Paris 2011. CD Rom (Sammlung Maitron). 32 Gita Deneckere: De algemene staking in 1913. Geraffineerde conflictbeheersing aan de vooravond van de Eerste Wereldoorlog, in: BTNG-RBHC, XXII, 1991, 3–4, S. 451–520.
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che kennen wir nicht, denn De Man schweigt darüber in seinen Memoiren. Karl Kautsky hatte sich bereits drei Jahre zuvor mit Rosa Luxemburg über die Wirksamkeit des Generalstreiks gestritten;33 De Man wiederholte es gegenüber seinem Lehrer: Belgien war nicht Russland!34 Nach der russischen Revolution von 1905, so Kautsky, sei das revolutionäre Potenzial in den wichtigsten europäischen Ländern erschöpft gewesen. Der Kampf müsse in erster Linie auf parlamentarischer Ebene geführt werden.35 De Man willigte ein; anhaltender Widerstand hätte ihn für immer außer Gefecht gesetzt. Er versöhnte sich mit der Parteiführung, die sich durch die bei einem Massenstreik zu erwartende Gewalt bedroht fühlte. Seine revolutionäre Ungeduld wich dem Vertrauen in das emanzipatorische Versprechen der Bildungsarbeit. In dieser Vorkriegszeit hat sich die Sozialdemokratie, und nicht nur die belgische, allenfalls am Rande mit dem Generationenproblem befasst. In Deutschland war es nicht anders, auch wenn es durch das Bismarckʼsche Sozialistengesetz (1878 bis 1890) eine Zäsur zwischen dem alten radikaldemokratischen Assoziationssozialismus und der »wilhelminischen« Sozialdemokratie gab.36 Es stimmt, dass eine eher eklektische Lassalleʼsche Ideologie einer rasch zunehmenden marxistischen Orientierung wich und dass unter der neuen Führung der Generation Ebert die unmittelbaren revolutionären Erwartungen, die unter Bebel zwischen 1878 und 1890 gehegt wurden, in eine ferne und unbestimmte Zukunft verschoben wurden. Doch mit Ausnahme der marxistischen SDP (1909) in den Niederlanden kam es zu keinen Abspaltungen. Bis 1918 beschränkte sich die Zahl der Mitglieder dieser SDP jedoch auf nur einige hundert.37 33 Karl Kautsky: Eine neue Strategie, in: Die Neue Zeit 28/2 (1909/10), S. 365. 34 Für eine Kritik von Rosa Luxemburg siehe: Rosa Luxemburg: Das belgische Experiment I-III, in: »Leipziger Volkszeitung« vom 15, 16. und 19. Mai 1913, in: Gesammelte Werke, Bd. 3, Juli 1911 bis Juli 1914, Berlin 1984, S. 195–207; und die Antwort: Hendrik de Man: Der belgische Wahlrechtsstreik, in: Die Neue Zeit 31 (33), Bd. 2, 16. Mai 1913, S. 244–252. 35 Karl Kautsky: Der Weg zur Macht. Politische Betrachtungen über das Hineinwachsen in die Revolution, Berlin 1909. 36 Zum Assoziationssozialismus siehe: Thomas Welskopp: Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn 2000; vgl. Stefan Berger: Marxismusrezeption als Generationserfahrung im Kaiserreich, in: Schönhoven/Braun, Generationen in der Arbeiterbewegung [wie Anm. 6], S. 193–209, hier S. 197–203. 37 Gerrit Voerman/Joost Wormer: De CPN in cijfers, 1909–1991, in: Margreet Schrevel/ Gerrit Voerman, (Hg.): De communistische erfenis. Bibliographie en bronnen betreffende de CPN, Amsterdam 1997, S. 161–170, hier S. 164 f.
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Bis 1914 kämpften ältere und jüngere Menschen vor allem gemeinsam gegen soziale Missstände und für ein besseres Leben. Ernsthafte Konflikte traten nicht auf, was wichtig war, weil Konflikte für Generationen konstitutiv sind.38 Auch wenn sich um 1900 allmählich ein pluralistischerer Sozialismus entwickelte (Luxemburg, Lenin, Rudolf Hilferding, Otto Bauer, Eduard Bernstein), unterschied sich der Anteil von Jung und Alt an der politischen Mobilisierung gegen den siegreichen Reformismus nicht wesentlich. Erst im Kampf gegen den Militarismus verspürten die Jugendlichen das Bedürfnis nach einer eigenen Organisation, wie die Gründung der SJW in Belgien, von »De Zaaier« (»Der Sämann«) in den Niederlanden und ähnlicher Gruppen in Deutschland, Frankreich und Italien um die Jahrhundertwende zeigten.39 Die Gruppen blieben jedoch in die Parteiarbeit integriert. Ihre Erfahrungen waren nicht sehr unterschiedlich, solange es den jungen Menschen aufgrund der gesellschaftlichen Bedingungen nicht möglich war, lange jung zu bleiben, und es den älteren Menschen nicht vergönnt war, alt zu werden. Darüber hinaus hatten die sozialdemokratischen Parteien selbst überwiegend junge Mitglieder.40 Als Liebknecht, De Man und Roland Holst 1907 an die Spitze der Jugendinternationale gewählt wurden, waren sie 36, 22 bzw. 38 Jahre alt, was darauf hindeutet, dass es kaum Anzeichen für Spannungen zwischen den Generationen gab. Fünf Jahre später lagen die Dinge anders. Während der erfolgreichen Wahlkämpfe im Januar 1912 strömten viele junge Mitglieder nach, doch die Sitze im Reichstag wurden hauptsächlich von älteren SPD -Kadern besetzt.41 Von den 110 Parlamentssitzen, die der SPD zustanden, wurden nur 10 Prozent von Neulingen eingenommen. Das Durchschnittsalter der SPD -Abgeordneten betrug 49 Jahre. Im August 1914 ging es ihren Wortführern daher vor allem um die Anerkennung der Leistungen der sozialistischen Bewegung. Als Gegenleistung für den Burgfrieden strebte ein Teil von ihnen Ministerämter an. Die Arbeiterjugend hat sich nicht damit abgefunden; in diesem Sinne kann die von Karl Liebknecht ausgelöste Debatte über Massenstreik, Revisionismus, Reformismus und Zentrismus mit einigen Vorbehalten generationell inter38 Vgl. Hans Mommsen: Generationskonflikt und Jugendrevolte in der Weimarer Republik, in: Thomas Koebner/Rolf-Peter Janz/Frank Trommler (Hg.): Mit uns zieht die Neue Zeit. Der Mythos Jugend, Frankfurt a. M. 1985, S. 50–67. 39 Vgl. Liebknecht, Militarismus und Antimilitarismus [wie Anm. 15]. 40 Für die deutsche Sozialdemokratie siehe: Klaus Tenfelde: Generationelle Erfahrungen in der Arbeiterbewegung bis 1933, in: Schönhoven/Braun (Hg.), Generationen in der Arbeiterbewegung [wie Anm. 6], S. 17–49, hier S. 35; Welskopp, Die »Generation Bebel«, in: ebenda, S. 56. 41 Tenfelde, Generationelle Erfahrungen, in: ebenda, S. 43.
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pretiert werden. Auch Hendrik de Man, der eine Regierungsbeteiligung und den Parlamentarismus ablehnte, beteiligte sich zunächst an dieser Debatte, zeigte sich aber nach seiner Rückkehr in die Heimat und seiner ersten Berufung in ein bezahltes Parteifunktionärsamt (CAO) als Pragmatiker, indem er sich der Parteiführung fügte und, wie bereits ausgeführt, während des allgemeinen Wahlrechtsstreiks von 1913 unsichtbar blieb.
III. Der Slogan »Der Arbeiter hat kein Vaterland« war für die meisten belgischen Sozialdemokraten überholt: Sie waren gegen Militarismus und Kriegstreiberei, aber nicht unbedingt gegen die Verteidigung ihres Landes. Im Jahr 1900 war der erste Band von Henri Pirennes Hauptwerk »Histoire de Belgique« erschienen. Er ließ die Geschichte Belgiens im frühen Mittelalter beginnen, indem er die Entstehung einer spezifischen belgischen Identität an der Schnittstelle zwischen der römischen und der germanischen Kultur betonte. Das jahrhundertelange friedliche Zusammenleben von Flamen und Wallonen schien eine starke Legitimation für Belgien als Nationalstaat zu sein. Trotz internationalistischer Rhetorik und Antimilitarismus stimmten die Sozialisten damit überein, deren Kampf für die Ausweitung des Wahlrechts und die weitere Demokratisierung des öffentlichen Lebens paradoxerweise die Identifikation mit dem Nationalstaat gefördert hatte. Die Vergesellschaftung der Nation fand ihr natürliches Gegenstück in der Nationalisierung des Sozialismus, wie der britische Historiker Edward Carr den Prozess der Integration zusammenfasste.42 Viele Belgier griffen am Montag, dem 3. August 1914, zu den Waffen, darunter auch der fast 30-jährige Hendrik de Man, der sich als einer von 20.000 Freiwilligen meldete. »An diesem Tag war man stolz, Belgier zu sein«, schrieb Louis Bertrand.43 Der Krieg sollte das Denken von De Man tiefgreifend beeinflussen. Er beschrieb seine ersten vier Monate an der Yser als die glücklichsten seines Lebens, nicht zuletzt wegen »der Wärme der Kameradschaft […] und der heiteren fatalistischen Unbekümmertheit, die durch die ständige Gefahr in den Schützengräben hervorgerufen wurde. Ich fühlte mich wie ein sorgloses 15-jähriges Kind«.44 In den Schützengräben erlebte De Man aber auch die 42 Edward H. Carr: Nationalism and after, London 1968, S. 17. 43 Louis Bertrand: Souvenirs d’un meneur socialiste, Bruxelles 1927, Band 2, S. 231. 44 Hendrik de Man: The Remaking of a Mind. A Soldier’s Thoughts on War and Reconstruction, London 1919, S. 61.
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Orgien der Gewalt sowie moralische Regression. Seine von Kautsky inspirierte Idee des »Sozialismus von oben« mit ihrem Streben nach Einfluss auf und innerhalb des Staates hatte bereits seinen Glauben an die Selbstorganisation und Selbstbefreiung des Proletariats untergraben. Auf dem Schlachtfeld wurde De Man darin noch bestärkt: Nur eine kleine Minderheit von Soldaten, die sich des »Volkswillens« bewusst war, verteidigte die Demokratie. »Die Idee der Selbstverwaltung der Massen ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Mythos«, schrieb er in »The Remaking of a Mind«, seinen 1919 veröffentlichten Reflexionen über den Krieg. Ernüchtert kam er zu dem Schluss, dass »Mehrheiten die Instrumente sind, mit denen Minderheiten herrschen«.45 De Man verlor endgültig den Glauben an die moralische Überlegenheit der Arbeiterklasse. Die Befreiung wurde zum Privileg einer begrenzten intellektuellen Elite. Hendrik de Man war nicht der einzige Sozialist, der den Krieg als Paradigmenwechsel erfuhr. In Deutschland kamen Carlo Mierendorff (1897–1943) und sein Parteifreund Theodor Haubach (1896–1945), beide Kriegsfreiwillige, zu ähnlichen Schlussfolgerungen, ebenso wie Oswald Mosley (1896–1980) und die Fabians in England, in Frankreich der erst zwanzigjährige Anthropologiestudent Claude Lévi-Strauss (1908–2009) und der Soziologe Marcel Déat (1894–1955), und in den Niederlanden der Vorsteher der religiös-sozialistischen Bewegung Willem Banning (1888–1971) und der Jugendführer Koos Vorrink (1891–1955). Henriette Roland Holst kam auch zu dem Schluss, dass die Klasseninteressen nicht alles bestimmen, dass die Arbeiter auch von Gefühlen und Impulsen angetrieben werden, die »im Bewussten und Unbewussten, in allen Schichten des Gemüts« liegen.46 In einem Brief an Benito Mussolini im August 1930 bezeichnete De Man diese Sozialisten als die »Frontgeneration« des europäischen Sozialismus.47 Der Altersunterschied zur Elite der Sozialdemokratie war zwar nicht groß, aber der Krieg hatte eine so tiefe mentale Kluft hinterlassen, dass die Generationen einander nicht mehr verstanden. Die Jüngeren, die in den Schützengräben aufgewachsen waren, forderten ihren Platz ein. In der SPD schoben die Arbeiterjugendvereine auf dem ersten Reichsjugendtag in Weimar 1920 das von Erwachsenen entworfene Tagungsprogramm mit den Worten »Wir wollen mehr, wir wollen höheres« beiseite; ihrer Meinung nach war die Partei 45 Ebenda, S. 176. 46 Henriette Roland Holst: Das sozialistische Proletariat und der Frieden (1), in: De Nieuwe Tijd 19 (1914), S. 744. 47 Brief von Hendrik de Man an Benito Mussolini vom 23. August 1930, Amsab-ISG, HdM-Archiv, 922.
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so rational und materialistisch orientiert, dass sie die irrationalen Gefühle, die in der Jugend vorhanden waren und durch den Krieg zum ersten Mal erlebt wurden, nicht zufriedenstellen konnte.48 De Man analysierte im Juli 1921, dass es sich bei dem Konflikt um die Rebellion des »Nachkriegssozialismus gegen den Vorkriegssozialismus« handelte, wobei die »fürchterlich erschütternde« Kriegserfahrung die Trennlinie darstellte.49 Die Jugend erwartete, dass der Sozialismus ein »Seelenerlebnis« sein würde. Genau das war das Ziel von De Mans Buch »Zur Psychologie des Sozialismus«, das er nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1926 fertigstellte: »Ich wünsche von diesem Buche nicht weniger und nicht mehr, als daß es dem Jungsozialismus zum Arbeitsprogramm werden möge.«50 Das Buch wurde ein internationaler Bestseller, der innerhalb von drei Jahren mit vierzehn Auflagen und fast einem Dutzend Übersetzungen in ganz West- und Mitteleuropa eine Debatte über die Frage auslöste, was einen Menschen zum Sozialisten macht. De Man wollte sich vom wirtschaftlichen Determinismus lösen und definierte den Sozialismus als eine Gesinnung, als ein moralisches Ideal, das aus der Empörung über die Ungerechtigkeit geboren wurde, als eine ethische Frage, für die im Prinzip alle gesellschaftlichen Gruppen empfänglich waren. Der Sozialismus sei eine Forderung nach Gerechtigkeit, im tiefsten Sinne »Kraft und Wille und Sehnsucht des menschlichen Herzens«, wie er 1927 vor Brüsseler Studenten sagte.51 Der Erfolg des Buches ist auf diesen attraktiven Voluntarismus zurückzuführen. Theodor Haubach stimmte ihm sofort zu und betonte, dass es beim Generationenkonflikt nicht um alt oder jung im biologischen Sinne gehe, sondern um politische Mentalitäten: Das biologische Alter verbürge noch keinen »Veränderungswillen«.52 In seinem Buch »Zur Psychologie des Sozialismus« war tatsächlich Ungeduld zu hören. De Man stellte seine Entfremdung vom Marxismus nicht als allmählichen Revisionismus dar, sondern als absoluten Bruch, als Wiedergeburt und innere Befreiung; als Wille einer jungen Generation, die sich nach dem Schutz der Nation sehnte und die abgenutzten internationalistischen 48 Franz Osterroth: Der Hofgeismar-Kreis der Jungsozialisten, in: Archiv für Sozialgeschichte 4 (1964), S. 525–569, besonders S. 529. 49 Hendrik de Man: Notre journée de la jeunesse, in: Éducation-Récreation, Nr. 29 vom 1. Oktober 1921. 50 De Man, Zur Psychologie des Sozialismus [wie Anm. 5], S. 7. 51 Hendrik de Man: La crise du socialisme. Conférence faite au Groupement Universitaire d’Etudes Sociales à la Maison du Peuple de Bruxelles le 21 juin 1927, Bruxelles 1927. 52 Theodor Haubach: Die Generationenfrage und der Sozialismus, in: Soziologische Studien. Zur Politik, Wirtschaft und Kultur der Gegenwart. Alfred Weber gewidmet, Potsdam 1930, S. 106–120.
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Doktrinen der alten Ebert-Garde hinter sich ließ, als Wille, sich ganz anders zu fühlen als diese. Was an diesem Buch auffällt, so der niederländische Historiker Ernst Kossmann, ist »das Gefühl der Eile, der Dringlichkeit und der Notwendigkeit«.53 Dank der Atmosphäre der Wiederbelebung und Bekehrung erlangte De Man den Ruf, zumindest für einen Teil der sozialistischen Kriegsgeneration inspirierend zu sein, in Mannheims Terminologie der Schöpfer ihres »Generationenzusammenhangs«. Und zwar nicht nur durch Worte, sondern auch durch Taten. Als belgische und französische Truppen im Januar 1923 das Ruhrgebiet besetzten, kochten die Emotionen hoch. Im hessischen Hofgeismar mobilisierte die Sozialistische Arbeiterjugend (SAJ) mit einer Fülle aktivistischer Symbolik, um ihre Sympathie für »ein neues positives Nationalbewusstsein« und »ein klares und entschiedenes Nationalgefühl« zu bezeugen.54 Die Redner spickten ihre Reden mit Begriffen wie Volk, Gemeinschaft und Nation, Bausteine dessen, was bald als reformorientierter ethischer Sozialismus bezeichnet werden sollte. Carlo Mierendorff, Redakteur des »Hessischen Volksfreunds« und einer der Organisatoren, wies auf De Man hin. Als »Zur Psychologie des Sozialismus« erschien, nannte er es ein »Geschenk des Himmels«, einen »Wendepunkt in [meinem] Leben. Jedes Jahr hatten wir mehr das Gefühl, […] dass die Partei von Grund auf neu aufgebaut werden musste.«55 Die Tatsache, dass Mierendorff im Plural sprach, zeigt, dass er nicht allein stand. De Man gewann die Herzen auch durch sein Verständnis von Nationalismus: Die Sozialdemokratie müsse die Nation als »Hüterin des Sozialismus« anerkennen, schrieb er insbesondere für die Jungsozialisten.56 Er ließ seinen Worten Taten folgen und trat 1923 aus Protest gegen die Invasion durch seine belgischen Landsleute als Reserveoffizier zurück.57
53 Ernst H. Kossmann: De Lage Landen 1780–1940, Anderhalve eeuw Nederland en België, Amsterdam 1976, S. 474. 54 Osterroth, Der Hofgeismar-Kreis [wie Anm. 47], S. 545; Jürgen Reulecke (Hg.): August Rathmann, Ein Arbeiterleben. Erinnerungen an Weimar und danach, Wuppertal 1983, S. 65 ff.; Peter Zimmermann: Theodor Haubach (1896–1945). Eine politische Biographie, München/Hamburg 2004, S. 126–131. 55 Brief von Carlo Mierendorff an Hendrik de Man vom 26. Februar 1926, IISG, Archiv Hendrik de Man (HdM), 190. 56 Hendrik de Man: Nation und Sozialismus, in: Freie sozialistische Jugend 2 (1926), S. 38–41, hier S. 41. 57 Brief von Hendrik de Man an den Ministre de la Défense Nationale vom 12. Januar 1923, Amsab-ISG, Fonds Lambiotte De Man C2, Akte 4/5.
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Dass die »Generation Ebert« aus einem anderen Holz geschnitzt war als die Frontgeneration, wird aus einem Gespräch deutlich, das Hendrik de Man 1930 mit Gustav Noske (1868–1946) führte, der in dem zweifelhaften Ruf stand, im Januar 1919 als Reichswehrminister den sogenannten kommunistischen Spartakusaufstand niedergeschlagen zu haben. Noske trat 1884 in die SPD ein und erlebte, wie sich die Partei ab 1890 zur größten Massenbewegung der deutschen Geschichte entwickelte. Er stellte De Mans Ansichten über »Inspiration, Phantasie und die ›Kraft der Utopie‹« in Frage: »Ich bin vor vierzig Jahren der Gewerkschaft beigetreten und kurz darauf der Partei. Aber irgendwelche Utopien haben dabei nie eine Rolle gespielt. […] Vom Marxismus habe ich gar keine Ahnung gehabt«. De Man wollte wissen, warum er dann Sozialist geworden sei: »Sehr einfach. Ich arbeitete 12 bis 13 Stunden für M. 18,50 pro Woche. Das war zu viel Arbeit und zu wenig Lohn. […] Ich wollte ein besseres Leben für mich – und für die anderen, weil es eben ohne Organisation nicht ging. Also Aufstiegswille – habe mir auch damals schon gesagt, ich würde eines Tages Minister werden. […] Aussicht auf Aufstieg geben […], daß wir das können, ist heute unsere große Macht.«58 Der nüchterne Noske mochte keine Tagträumereien. Für ihn war der Sozialismus eine Sache des Bauches, nicht der Seele oder der Leidenschaft, wie es bei De Man der Fall war. De Man wies die Tatsache zurück, dass seine »MarxKritik« der Partei geschadet habe. Die Kritik an De Man kam von Kautsky, der für viele immer noch der wichtigste marxistische Theoretiker war.59 Er warnte die Jungsozialisten davor, sich in die Irre führen zu lassen. De Man wurde eine Replik verweigert. Rudolf Hilferding, Chefredakteur der Zeitschrift »Die Gesellschaft«, schob dem einen Riegel vor.60 De Mans Antwort wurde vom Eugen Diederichs Verlag, dem Herausgeber von »Zur Psychologie des Sozialismus«, veröffentlicht. 58 Hendrik de Man: Aufzeichnung eines Gesprächs mit Gustav Noske vom 29. August 1930, Bad Pyrmont, Amsab-ISG, Archiv HdM, 189. 59 Karl Kautsky: De Man als Lehrer. Eine Nachlese, in: Die Gesellschaft, 1927, S. 62–77; Hendrik de Man: Ist Marxkritik parteischädigend? Von der Kritik der Psychologie zur Psychologie der Kritik, in: Die Gesellschaft, 1926, S. 458–472; vgl. Stutje, Hendrik de Man [wie Anm. 4], S. 124. 60 Brief von Hendrik de Man an Rudolf Hilferding vom 17. Januar 1927, IISH, Archiv HdM, 200; Brief von Rudolf Hilferding an Hendrik de Man vom 29. Januar 1927, IISH, Archiv HdM, 200.
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Der Verlauf der Ereignisse verdeutlichte die Spaltung der Partei. Die national gesinnten Jungsozialisten in der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) standen einer Mehrheit von pragmatischen Technokraten und Realpolitikern gegenüber, die sich gegen jede Ideologie wandten, und auf der anderen Seite einer linken Minderheit, die das Erbe von Marx und den Glauben an den Klassenkampf verteidigte. Es gelang ihnen, den nationalistischen Hofgeismarer Kreis zu neutralisieren und den Einfluss von De Man zurückzudrängen. Dennoch hat der ethische Sozialismus einen nachhaltigen Einfluss ausgeübt. Er fand immer wieder prominente Wortführer und Sympathisanten, wie die ehemaligen Minister Gustav Radbruch und Wilhelm Sollmann, religiöse Sozialisten wie den Theologen Paul Tillich (1886–1965), den Ökonomen Eduard Heimann, den Arbeitsrechtler Hugo Sinzheimer und namhafte Parteiführer wie Hermann Müller, Carl Severing und den Berliner Polizeipräsidenten Albert Grzesinski. Diese Generation junger national gesinnter Sozialisten verfügte über ein Netzwerk, das bis in die Spitze der Partei reichte. De Man wollte nicht nur eine neue Gesellschaft, sondern auch einen »neuen Menschen«, nicht als Ideal für die Zukunft, sondern hier und jetzt, geschult und erzogen zu sozialistischem Bewusstsein, zu geistiger und körperlicher Disziplin und schließlich zu Humanismus und Solidarität. Diesem Wunsch verlieh er in dem Massenstück »Wir« künstlerischen Ausdruck.61 »Wir« war eine Übung in Körperbeherrschung, eine Kombination aus Musik und Tanz, aus Gesang, Sprache und bewegtem Chor; ein Gesamtkunstwerk aus Dramaturgie, bildender Kunst, Filmprojektion und Fotomontage. Das Stück wurde anlässlich des Maifestes 1932 in der Festhalle in Frankfurt am Main uraufgeführt. Die Trennung zwischen Saal und Bühne war aufgehoben. Das Stück »Wir« war eine Ode an die Jugend. Auf die Frage aus dem Chor der Redner im Publikum »Wer gibt uns neue Kraft?«, antwortete »die Jugend« mit einem überwältigenden »Wir, Wir, Wir«. Die 20.000 Zuschauer reichten sich die Hände und stimmten gemeinsam in den befreienden Schlusschor ein: »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit!«62 In De Mansʼ Vorstellung war der Sozialismus kein inszenierter paradiesischer Endzustand, sondern eine heroische »Gegenwartsleistung«: »Der Sozialismus bedeutet Gegenwartsglück lebendiger Gegenwartsmenschen, oder er bedeutet 61 Wir! Ein sozialistisches Festspiel. Text von Hendrik de Man. Musik von Ottmar Gerster, Berlin 1932. Jef Rens: Wir. Een socialistisch Feestspel van Rik de Man, in: »Opgang«, zweiter Jahrgang, 15. August 1932. 62 Hendrik de Man: Die Handlung des Festspiels, in: Maifestspiel, Sonntag, den 1. Mai 1932, Kulturkartell der modernen Arbeiterbewegung, Frankfurt am Main 1932.
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gar nichts«, notierte er in »Zur Psychologie des Sozialismus«.63 Der Begriff der Jugend, oder besser gesagt der ewigen Jugend, verlor in De Mans Konzept sogar seine generationelle Bedeutung. Wie der Begriff der Masse oder des Volkes erhielt er eine sozial inklusive politische Aufladung als Gegenpol zum sozial exklusiven Begriff der Klasse, der zentralen Kategorie in der marxistischen Arbeiterbewegung, die von der »Generation Ebert« angeführt wurde. »Sozialismus ist organisierter Jugendwille«, der Slogan verdeutlichte das veränderte Selbstverständnis dieses Teils der SPD, der im Banne nationalistischer und ethisch-religiöser sozialistischer Ideen stand.
IV. De Man lehrte in Frankfurt am Main an der Akademie der Arbeit, die der Goethe-Universität angeschlossen war. Junge Arbeitnehmer wurden auf einen Verwaltungsposten in der Gewerkschaftsbewegung vorbereitet. Der Arbeitsrechtler Hugo Sinzheimer, einer der Referenten in Hofgeismar, gehörte ebenso zu den Gründern des Instituts wie der Sozialpädagoge und religiöse Sozialist Carl Mennicke. Die Teilnehmer des Hofgeismarer Kreises suchten 1927 zusammen mit ethischen und religiösen Sozialisten nach einer Möglichkeit, ihren Einfluss auszuweiten. Zu den Initiatoren gehörten Hendrik de Man, August Rathmann (1895–1995) und Carlo Mierendorff, aber auch der Frankfurter Paul Tillich (1886–1965) und der Theologe Emil Fuchs (1874–1971). Am Pfingstsonntag 1928 trafen sie sich in Heppenheim in der Nähe von Heidelberg. Auch aus der Schweiz, Frankreich und den Niederlanden war das Interesse groß, freute sich De Man.64 Über hundert Zuhörer verfolgten die vier Einführungen, unter anderem von Henriette Roland Holst, die über »Sozialismus und Lebensgestaltung« sprach, und Hendrik de Man, der den Hauptvortrag über »Die Begründung des Sozialismus« hielt.65 Die Vorstellungen lagen jedoch so weit auseinander, dass es nicht gelang, eine Grundlage für einen neuen Sozialismus zu schaffen. Vor allem zwischen De Man und dem sogenannten Tillichkreis, einer Gruppe von eher kontemplativen Intellektuellen, die sich an Marx orien-
63 De Man: Psychologie des Sozialismus [wie Anm. 5], S. 418. 64 Brief von Hendrik de Man an Leonhard Ragaz vom 27. Oktober 1927, Amsab-ISG, Sammlung Michel Brélaz. 65 Sozialismus aus dem Glauben. Verhandlungen der sozialistischen Tagung in Heppenheim a. B. Pfingstwoche 1928, Zürich/Leipzig 1929.
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tierten, prallten die Meinungen aufeinander.66 Dennoch ist das Feuer der Einheit nicht ganz erloschen. De Man hatte seit 1926 an einer Zeitschrift gearbeitet, die den »Sozialismus als Seelenerlebnis« popularisieren sollte.67 Paul Tillich war interessiert, ebenso wie die Freunde aus der ehemaligen Hofgeismarer Gruppe. Die religiösen Sozialisten waren sogar bereit, ihre eigenen »Blätter für religiösen Sozialismus« aufzugeben.68 De Man wollte mit der Zeitschrift alle inspirieren, die nicht mit der offiziellen Parteilinie übereinstimmten; er hat sich den Titel »Jungsozialismus« ausgedacht.69 De Man war bereit, Chefredakteur zu werden. Doch die Krankheit eines seiner Kinder machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Das hinderte andere nicht daran, den Plan weiterzuverfolgen. Mit August Rathmann als Herausgeber erschien die erste Ausgabe der »Neuen Blätter für den Sozialismus« im Januar 1930 in einer Auflage von 5.000 Stück.70 Carlo Mierendorff, »einer der künftigen führenden Politiker«, war laut Eduard Heimann (1889–1967), der zusammen mit Paul Tillich Herausgeber war, ebenfalls beteiligt.71 Der sozialistische Reichsinnenminister Carl Severing (1875–1952) ermöglichte das Erscheinen der Zeitschrift mit einer Startsubvention von 5.000 Mark.72 De Man wurde Mitglied der Redaktion und kümmerte sich um die Sektion Sozialpsychologie, allerdings ohne Begeisterung. Die Zeitung sei zu abschätzig gegenüber der SPD -Führung, beklagte er.73 Infolgedessen ignorierten der »Vorwärts« und »Die Gesellschaft«, das theoretische Organ der SPD, den Neuling. Die Zeitschrift befasste sich ausführlich mit dem Zusammenbruch der Großen Koalition im März 1930, der letzten von einem Sozialdemokraten (Her-
66 Paul Tillich: Hendrik de Man: Zur Psychologie des Sozialismus, in: »Blätter für religiösen Sozialismus«, Nr. 4–6, Oktober 1927, S. 21–25, hier S. 24. Offener Brief an Paul Tillich, der Verf. fand das Manuskript in: Gerichtsakte Hendrik de Man, BOT 2. 67 Hendrik de Man: Vorschläge zu der Gestaltung der neuen Zeitschrift, in: Denkschrift vom 23. März 1926 mit Anlage: Entwurf eines Einführungsartikels, IISH, Archiv HdM, 195. 68 Brief von Hendrik de Man an Paul Tillich vom 6. Februar 1926, IISH, Archiv HdM, 195; Rathmann, Ein Arbeiterleben [wie Anm. 54], S. 161–170. 69 Martin Martiny: Die Entstehung und politische Bedeutung der »Neuen Blätter für den Sozialismus« und ihres Freundeskreises, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Heft 3/1977, S. 373–419. 70 Neue Blätter für den Sozialismus. Zeitschrift für geistige und politische Gestaltung, erschienen im Alfred Protte Verlag, Potsdam. 71 Brief von Eduard Heimann an Fritz Klatt vom 29. Mai 1929, IISH, Archiv HdM, 197. 72 Stefan Vogt: Nationaler Sozialismus und Soziale Demokratie. Die sozialdemokratische Junge Rechte 1918–1945, Bonn 2006, S. 152. 73 Hendrik de Man: Notiz vom 15. November 1930, Amsab-ISG, Sammlung Michel Brélaz.
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mann Müller) geführten Regierung, und mit der sogenannten Katastrophenwahl vom 14. September 1930. Die SPD verlor über 5 % der Stimmen, während Hitlers NSDAP 18,3 % der Stimmen erzielte und die Zahl ihrer Sitze von 12 auf 107 erhöhte. Laut Rathmann bedeutete das Ergebnis das Ende des sozialen Friedens. Er rief die Partei dazu auf, in die Mittelschichten vorzudringen und alle antikapitalistischen Kräfte zu vereinen, auch die vom Nationalsozialismus verführten. Carlo Mierendorff kritisierte die mangelhafte Parteiendemokratie.74 Den jüngeren Generationen müsse mehr Gehör geschenkt werden. Ohne ein kämpferisches nationalistisches Profil würde die Partei die Jugend an die Nationalsozialisten verlieren. Viele neue Leser kamen aus der konservativen bürgerlichen Jugendbewegung und der Kampfgemeinschaft Revolutionärer Nationalsozialisten (»Schwarze Front«) von Otto Strasser (1897–1974), die 1930 mit der Hitlerpartei brach. Auch im Kreis um den Antisemiten Theodor Duesterberg, Leiter des »Stahlhelms«, der Organisation ehemaliger Frontsoldaten, wuchs das Interesse. Die Kampfgemeinschaft von Strasser verstand sich als der sogenannte antikapitalistische Flügel der NSDAP.75 Die Zeitung hegte die Illusion, dass eine geeinte Opposition möglich sei.76 Im Gegensatz zu allen anderen sozialdemokratischen Publikationen erschienen die »Neuen Blätter« nach der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933 noch fast ein halbes Jahr lang (bis Juni 1933). Es ging nicht mehr darum, die rechten Revolutionäre in die SPD zu holen, sondern die sogenannte sozialistische Ideologie in der NSDAP zu stärken, um den »Führer« und seinen prokapitalistischen Kurs zu entlarven. Rathmann argumentierte in der letzten Ausgabe, dass »die Einheitsfront aller deutschen Sozialisten nur eine Frage der Zeit« sei.77 Und im Dezember 1933 erklärte Otto Strasser, dass er bestrebt sei,
74 Neue Blätter für den Sozialismus, Nr. 9/1930, S. 412. 75 Fritz Borinski: »Die Neuen Blätter für den Sozialismus«. Ein Organ der jungen Generation von 1930 bis 1933, in: Rathmann: Ein Arbeiterleben [wie Anm. 54], S. 173–201, hier S. 176, S. 182 f. 76 Vgl. Fritz Borinski: Schlusswort, in: Mit oder gegen Marx zur Deutschen Nation? Diskussion zwischen Adolf Reichwein, Wilhelm Rössle, Otto Strasser und dem Leuchtenburgkreis, Leipzig 1932, S. 30 (zitiert in: Vogt: Nationaler Sozialismus [wie Anm. 72], S. 151); Otto Strasser: Leuchtenberg-Tagung, in: Mit oder gegen Marx zur deutschen Nation, S. 28. 77 Fritz Borowski: »Auf, Sozialisten, schließt die Reihen!«, in: Neue Blätter für den Sozialismus 4 (1933), S. 319–321, hier S. 320.
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mit De Man »eine feste geistige Übereinkunft« zu erzielen.78 Wenn sich die Redakteure der Illusion hingegeben hatten, dass eine Opposition mit Strasser gegen Hitler möglich sei, so wurde diese Illusion enttäuscht, als Hitler in der Nacht der langen Messer am 30. Juni 1934 endgültig mit den Rivalen abrechnete. Otto Strassers Bruder Gregor Strasser war der Partei treu geblieben, hatte sich aber in den Augen Hitlers desavouiert, als er 1932 Verbindungen zu den rechtsgerichteten Sozialdemokraten einging.79 »Sozialismus ist organisierter Jugendwille« – mit solchen Parolen hatten auch rechte Sozialdemokraten wie Theodor Haubach und Hendrik de Man versucht, die verzweifelte krisengeschüttelte Jugend zu verführen. Doch weit davon entfernt, die Weimarer Republik zu verteidigen, kam ihr Appell an die SPD -Führung, für einen aggressiven nationalistischen autoritären Staat einzutreten, der von Hitler angestrebten Gesellschaftsordnung nahe. In diesem Sinne spielte ihre Kritik den Nationalsozialisten in die Hände und leistete nach Ansicht des Historikers Stefan Vogt, der die Junge Rechte erforscht hat, deren Machtübernahme Vorschub.80
V. Der Einfluss von Hendrik de Man auf die national gesinnten Jungsozialisten von Mitte der 1920er Jahre bis 1933 zeigt ein widersprüchliches Bild. Sein Einfluss stieg und fiel umgekehrt proportional zur Stabilität der Weimarer Republik. Ideologisch und organisatorisch war er am stärksten in der krisenhaften Atmosphäre der Ruhrbesetzung und dem Aufflammen des Nationalismus um 1923/1924. Mit seinem Buch »Zur Psychologie des Sozialismus« und anderen ideologischen Werken trug De Man zur politischen Konsolidierung der jungen nationalistischen Bewegung im Hofgeismar-Kreis bei. In der mittleren Periode der Republik, der Phase der relativen Stabilität, zerfiel diese Strömung, und De Man kompensierte die Stagnation, indem er die Debatte mit jungen Wortführern des rechten SPD -Flügels wie Carlo Mierendorff, Theodor Haubach und August Rathmann vertiefte und den Kontakt zu religiös-sozialistischen Kreisen suchte. Die Heppenheimer Pfingstkonferenz von 1928 war ein Ergebnis davon.
78 Brief von Otto Strasser an Hendrik de Man vom 1. Dezember 1933, Amsab-ISG, Archief Bureau voor Sociaal Onderzoek, S. 140–92. 79 Peter D. Stachura: Gregor Strasser and the Rise of Nazism, London 1983, S. 121. 80 Vgl. Vogt, Nationaler Sozialismus [wie Anm. 74], S. 355 und S. 458.
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Die Spaltungen, die auf der Konferenz zum Vorschein kamen, wurden in der krisenhaften Endphase der Republik Anfang der 1930er Jahre überwunden. Mit den »Neuen Blättern für den Sozialismus« erhielten die national gesinnten Jungsozialisten die Möglichkeit, ihre Bewegung wiederaufzubauen. Paul Tillich und Hendrik de Man spielten dabei eine wichtige Rolle. Sie gaben nicht nur wichtige organisatorische Impulse und sicherten die Kontinuität des antimarxistischen Diskurses, sie unterstützten »die junge Rechte« auch in ihrer praktischen Versöhnungspolitik gegenüber dem linken Flügel des Nationalsozialismus. Bis Ende 1932 gab sich De Man der Illusion hin, dass eine Einigung mit dem sogenannten sozialen Flügel der NSDAP möglich sei, um Hitler zu stoppen. Die Tatsache, dass De Man, der Held einer Generation unorthodoxer Sozialisten, einem autoritären Nationalismus intellektuelle Glaubwürdigkeit verschaffte, war ein Hindernis für den Widerstand gegen den Faschismus. Darf man daraus schließen, dass mit dem Einfluss von De Man auf neue Denker und unorthodoxe Sozialisten in Ländern wie den Niederlanden, Deutschland und Frankreich auch eine bewusste und organisierte Generationseinheit im Geiste Karl Mannheims Gestalt annahm, sogar mit transnationalem Charakter? Nach Mannheim liegt ein Generationenzusammenhang oder ein Generationengefühl vor, wenn Individuen aus etwa demselben Geburtsjahrgang an den historischen Ereignissen einer bestimmten Epoche teilgenommen haben und konkrete soziale oder geistige Solidarität bei der Ablösung alter und der Schaffung neuer Lebens- und Gefühlswerte gezeigt haben; er präzisierte, dass die prägenden sozialen und kulturellen Grunderfahrungen der Individuen, die an diesem Zusammenhalt teilgenommen haben, nicht notwendigerweise zu einer einheitlichen politischen und ideologischen Perspektive führen müssen. Die Erfahrungen des Krieges von 1914 bis 1918, die Entwicklungen in Russland nach 1917 und das Ausbleiben der Revolution in Westeuropa waren in dieser Hinsicht kristallisierende Schlüsselerlebnisse. Um den sozialistischen Traum nicht aufzugeben, war eine kritische Reflexion über den vorherrschenden offiziellen Marxismus sowohl der II. als auch der III. Internationale (gekennzeichnet durch Evolutionismus, Positivismus und Industrialismus) unabdingbar. Die Umdeutungen führten zu einer Reihe von politischen Ideen und Ideologien, die von aktiven und bewussten Generationseinheiten getragen wurden, die sich manchmal diametral gegenüberstanden: neue marxistische und libertär-humanistische Strömungen, wie die von Walter Benjamin, Herbert Marcuse oder Gustav Landauer, gegenüber autoritären Ideologien, die im Laufe der Zeit immer faschistischer wurden, wie das Elitedenken von Hendrik de Man, der Kulturpessimismus von Oswald Spengler und der revolutionäre Konservatismus von Carl Schmitt und Ernst Jünger. Gegensätzliche Ideen
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und Bewegungen, die bei allen politischen und ideologischen Unterschieden ein gemeinsames Merkmal aufwiesen: eine von romantischer Melancholie inspirierte Kritik am Industriekapitalismus und der rationalistischen Moderne. Dies ist nicht unbemerkt geblieben. 1936 verwies Marcel Mauss in einem Brief an den französischen Philosophen und Historiker Élie Halévy auf die verblüffende Ähnlichkeit zwischen den »aktiven Minderheiten«, deren Angehörige den Krieg als Soldaten miterlebt hatten, den Bolschewiken in Russland und den Nazis in Deutschland, jungen Männern, die Geheimbünde bildeten und trotz aller Widersprüche und Unterschiede eine Leidenschaft für Aktivismus und Gewalt hegten.81 Eine Gesinnung, der Persönlichkeiten wie Ernst Jünger entschieden weniger neutral gegenüberstanden als Mauss. In den höchsten Tönen rühmte der Schriftsteller die Geburts-DNA der Frontgeneration: »Der Krieg ist es, der die Menschen und ihre Zeit zu dem machte, was sie sind. Ein Geschlecht wie das unsere ist noch nie in die Arena der Erde geschritten, um unter sich die Macht über sein Zeitalter auszuringen. Denn noch nie trat eine Generation aus einem Tore so dunkel und gewaltig wie aus dem dieses Krieges in das lichte Leben zurück. Und das können wir nicht leugnen, so gern mancher wohl möchte: Der Krieg, aller Dinge Vater, ist auch der unsere; er hat uns gehämmert, gemeißelt und gehärtet zu dem, was wir sind.«82 Mit dieser Stellungnahme veranschaulichte Jünger damals einen wichtigen Aspekt des europäischen politischen Kontextes. De Mansʼ Affinität zum Hofgeismarer Kreis – der SPD -Jugend, die sich für eine »wahrhafte nationale Volksgemeinschaft« begeisterte – deutet darauf hin, dass sich um den ethischemotionalen Sozialismus eine konkrete transnationale Generationseinheit bildete. Ein ähnlicher Hinweis findet sich in De Mans Zusammenarbeit mit Neosozialisten wie Marcel Déat in Frankreich und einer Gruppe junger Intellektueller der Révolution constructif.83 In ihrer Mitte, neben dem erst zwanzigjährigen Claude Lévi-Strauss, damals Generalsekretär der Étudiants Socialis81 Élie Halévy: The Era of Tyrannies. Essays on Socialism and War, London 1967, S. 223; vgl. Enzo Traverso: Fire and Blood. The European Civil War 1914–1945, London 2017, S. 204 f. 82 Ernst Jünger: Der Kampf als inneres Erlebniss, Berlin 1926, S. 3. 83 Marcel Déat und Georges Lefranc sagten später aus, dass sie ihre politische Entwicklung zum Teil De Man zu verdanken haben. Marcel Déat: Mémoires Politiques, Paris 1989; Georges Lefranc: La diffusion des idées planistes en France, in: Revue Européenne des sciences sociales 12 (1974), S. 151–167.
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tes, Persönlichkeiten wie Georges Lefranc, Robert Marjolin und Guy Mollet, prominente Politiker in Frankreich nach 1945, die zum Teil vom englischen Fabianismus inspiriert waren.84 Der Parlamentarismus war verpönt. Andererseits scheint eine solche Generationseinheit mit religiösen Sozialisten wie Henriette Roland Holst und Paul Tillich, trotz eines kurzen Flirts, weniger plausibel. Auch nach ihrer Abkehr vom Marxismus lehnten sie den Nationalsozialismus in Wort und Tat ab, im Gegensatz zu De Man, der sich den autoritären Staat zu eigen machte und 1940 mit den Besatzern seines Heimatlandes kollaborierte. Auch die Marxisten des Frankfurter Instituts für Sozialforschung blieben auf Distanz, obwohl sie unter demselben Stern standen und von der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit denselben politischen und theoretischen Problemen konfrontiert wurden.85 Im Frühjahr 1932 behauptete De Man in einer öffentlichen Debatte mit den liberalen Mitarbeitern und Studenten des Instituts erfolglos, dass die ersten Bausteine für seinen ethischen Sozialismus und sein Elitedenken von Marx selbst gelegt worden seien, angeblich in den 1844 geschriebenen, aber bisher nicht veröffentlichten ökonomisch-philosophischen Manuskripten. Die Theoretiker hatten keine Mühe, das Argument von De Man zu widerlegen.86 Anders als De Man, für den die jüdischen Kollegen am Institut in der Viktoria-Allee ein »Element der geistigen Unruhe, des Ungleichgewichts und der störenden Analyse« darstellten,87 wurde der Faschismus in ihrem Kreis nicht unterschätzt.88 Am Schluss seines Aufsatzes »Das Problem der Generationen« argumentiert Karl Mannheim, dass das Generationenphänomen einer der grundlegendsten Faktoren für die Entstehung der historischen Dynamik ist.89 Sein Aufsatz zeigt, dass das Thema bereits Mitte des neunzehnten Jahrhunderts von Positivis84 Stephane Clouet: De la rénovation à l’utopie socialistes. Révolution constructive, un groupe d’intellectuels socialistes des années 1930, Nancy 1991, S. 93; Stutje, Hendrik de Man [wie Anm. 4], S. 211–215. 85 Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, München 1988. 86 Stutje, Hendrik de Man [wie Anm. 4], S. 149–152; Jürgen Rojahn: Marxismus – Marx – Geschichtswissenschaft. Der Fall der sog. »Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte aus dem Jahre 1844«, in: International Review of Social History 28 (1983), S. 2–49; für einen ironischen Kommentar siehe Ernest Mandel: La formation de la pensée économique de Karl Marx. De 1843 jusqu’ à la rédaction du »Capital«, Paris 1967, S. 166. 87 De Man, Herinneringen [wie Anm. 9], S. 158; zum Antisemitismus von De Man siehe: Stutje, Hendrik de Man [wie Anm. 4], S. 328–332. 88 Michael Löwy: Walter Benjamin: Avertissement d’incendie. Une lecture des theses »sur le concept d’Histoire«, Paris 2001, S. 1–21. 89 Vgl. Karl Mannheim: Das Problem der Generationen [wie Anm. 1], S. 565.
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ten wie August Comte und dem deutschen Historismus aufgegriffen wurde. Mannheim lehnte die einseitige Vorstellung ab, dass Generationen direkt aus biologischen Tatsachen oder geistigen Umwälzungen entstehen. Er betonte, dass die Bildung von Generationen mit der sozialen Dynamik zusammenhängt. Hendrik de Mans Engagement für die Generation der national gesinnten Jungsozialisten in der SPD und der Neosozialisten in der SFIO verdeutlicht die Komplexität dieser Verbindung.
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Gab es in Italien eine »Generation Ebert«? Eine erste Sondierung*
1. Generationen in der italienischen Geschichtswissenschaft Es gibt in der italienischen Geschichtswissenschaft nur wenige Studien, die einen Generationenansatz verwenden, was umso mehr gilt, je weiter wir uns von der Zeitgeschichte in die Vergangenheit zurückbewegen. Bestehende soziologische und historische Generationenanalysen konzentrieren sich fast ausschließlich auf Jugendliche und ihre Rolle in bestimmten historischen und soziokulturellen Kontexten sowie auf Jugendsubkulturen während spezifischer Zeiträume.1 Den wenigen Untersuchungen zufolge, die sich mit Generationen in Italien um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beschäftigen, waren Schulerziehung, Geschichtsbücher und männlich-militärische Freizeitpraktiken maßgebliche Faktoren für die nationale Mobilisierung bürgerlicher Jugendlicher. Danach floss dieser in den zwanzig Jahren vor Beginn des Ersten Weltkriegs gehegte Nationalismus in die interventionistische Bewegung von 1914/15 ein. Insbesondere von Studenten initiierte gewalttätige Demonstrationen veränderten das politisch-institutionelle Gleichgewicht und zogen Italien in den Krieg hinein. Am Ende des militärischen Konfliktes setzten studentische Kriegsveteranen die während des Krieges eingeübte Gewalt in internen politischen
* 1
Dieser Beitrag wurde von Christine Brocks aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. John Rendall Gillis: I giovani e la storia. Tradizione e trasformazioni nei comportamenti giovanili dall’ Ancièn Regime ai giorni nostri, Milano 1981; Michael Mitterauer: I giovani in Europa dal Medioevo a oggi, Roma/Bari 1991; Giovanni Levi/Jean Claude Schmitt (Hg.): Storia dei giovani. 1. Dall’antichità all’età moderna, Roma/Bari 1994; Patrizia Dogliani: Storia dei giovani, Milano 2003. Dem italienischen Soziologen Alessandro Cavalli zufolge sprechen wir von Generationen, wenn wir damit meinen, dass jemand in eine bestimmte Periode hineingeboren ist und die entscheidenden und formativen Jahre in einer bestimmten Kultur, geprägt von bestimmten historischen Ereignissen, verlebt hat, und dass dies Spuren hinterlässt in Bezug auf die Art und Weise, wie eine individuelle Person fühlt, denkt und handelt. Die prägenden Lebensjahre sind diejenigen zwischen 16 und 25; Alessandro Cavalli: Generazioni, in: Parole chiave 16, April 1998, S. 17.
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Kämpfen fort, während die faschistische Propaganda lange die Idee einer gegen den bürgerlichen Materialismus gerichteten Jugendrevolution wach hielt.2 In den Jahren 1914/15 kam es zwischen interventionistischen Studenten und jungen sozialistischen Arbeitern, die gegen den Kriegseintritt Italiens waren, zu gewaltsamen Zusammenstößen. Beide Gruppen wurden zu Hauptakteuren des Kampfes im so genannten »Biennio Rosso« (»rotes Doppeljahr«) von 1919 bis 1920, was die Bedeutung von Klassenunterschieden für unterschiedliche Verhaltensweisen von gleichaltrigen Angehörigen einer Generation unterstreicht. Die Protagonisten dieser Konflikte waren um die Jahrhundertwende geboren. Die republikanisch-demokratischen Erfahrungen der Freiheitskämpfe des Risorgimento waren nicht mehr Bestandteil ihrer Identität. Begeistert griffen sie aggressive politische Ideologien auf, die liberal-demokratische Prinzipien weit hinter sich ließen, was einerseits einem aggressiven Nationalismus, andererseits revolutionären Zuständen Vorschub leistete. Es liegen mittlerweile einige Untersuchungen vor, die sich mit Jugendlichen im Ersten Weltkrieg beschäftigen und die Lebenserfahrungen von Kindern und jungen Heranwachsenden rekonstruieren, wobei insbesondere deren Einbindung in die Aktivitäten der Heimatfront, ihre Beteiligung an der Kriegsproduktion und der Versorgung der Armee mit Nachschub im Zentrum stehen.3 Das faschistische Regime bemühte sich vor allem um die ideologische Durchdringung der ganz jungen Generation zur Schaffung des »neuen, faschistischen Menschen«. Den anfänglichen Erfolg dieser Bemühungen und die dann einsetzende Ernüchterung, die darin kulminierte, dass sich viele Vertreter der in der Zwischenkriegszeit geborenen Generation nach links orientierten, hat Ruggero Zangrandi in einer Ende des Zweiten Weltkriegs verfassten Monographie eindringlich beschrieben.4 2
Catia Papa: L’Italia giovane dall’Unità al fascismo, Bari 2013; Bruna Bianchi/Marco Fincardi: Giovani e ordine sociale. Miti e ruoli, in Europa e in Italia, tra XIX e XX secolo, in: Storia e problemi contemporanei XIV, Nr. 27 (2001), S. 7–33; Elena Papadia: Verso una nuova destra. Forme e obiettivi della partecipazione giovanile ai movimenti nazionalisti europei (1890–1915), in: ebenda, S. 65–83; Bruno P. F. Wanrooij: Una generazione di guerra e rivoluzione. I giovani e il fascismo delle origini, in: ebenda, S. 109–127; Giovanni Sabbatucci: Le generazioni della guerra, in: Parole chiave, Generazioni, Nr. 16, 1998; Dianella Gagliani: Giovinezza e generazioni nel fascismo italiano. Dalle origini alla RSI, in: ebenda. 3 Matteo Ermacora: Minori al fronte della grande guerra. Lavoro e mobilità minorile, Milano 2004; Bruna Bianchi: Crescere in tempo di guerra. Il lavoro e la protesta dei ragazzi in Italia 1915–1918, Venezia 1995. 4 Ruggero Zangrandi: Il lungo viaggio. Contributo alla storia di una generazione, Torino 1948.
Gab es in Italien eine »Generation Ebert«?
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Die Nachkriegs- und die Baby-Boomer-Generation, die zu den Protagonisten der 1968er Bewegung und den Mobilisierungswellen der 1970er Jahre wurden, sind ausgiebig untersucht worden.5 Zu diesen Studien gehören verfeinerte Analysen der Verflechtung von öffentlicher und privater Sphäre, die vor allem individuelle und kollektive Erfahrungen und Entscheidungen in den Blick nehmen. Sie verwenden meist den Begriff der »Gruppe« anstatt denjenigen der »Generation« und eröffnen mit der Untersuchung von »kollektiven Autobiographien« einen neuen Weg für die historische Analyse.6 Forschungen zur Geschichte der Frauenbewegung skizzieren darüber hinaus die Entstehung verschiedener Feminismus-Wellen, angefangen mit den ersten, um die Wende zum 20. Jahrhundert gegründeten Gruppen von Aktivistinnen bis hin zu aktuellen Entwicklungen.7 In Bezug auf die Geschichte der Arbeiterbewegung ist entsprechend auf den Generationswechsel in der Führung von Parteien und Gewerkschaften hingewiesen worden, zum Beispiel auf den Übergang von Widerstandsaktivisten gegen den Nationalsozialismus zu denjenigen, die für eine solche Beteiligung zu jung waren. Wegen ihres entscheidenden Beitrags zur Entstehung der Kommunistischen Partei im Jahre 1921 haben einige Forscher der »Föderation Junger Sozialisten« der italienischen Sozialistischen Partei vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt.8 In seiner Monumentalgeschichte der Kommunistischen Partei Italiens betont Paolo Spriano nicht nur die Rolle Jugendlicher bei der Entstehung der Partei, sondern er widmet auch einige Seiten der »Kommunistischen Jugendföderation« und den jungen Italienern, die in der 1929 beginnenden Wirtschaftskrise ihren eigenen Weg vom Korporatismus zu Sozialismus und Kommunismus fanden, und betrachtet den Aktivismus Jugendlicher während der letzte Krisenjahre des Faschismus.9 In diesen Geschichten der linken Par5 6 7
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Diego Giachetti: Un Sessantotto e tre conflitti: generazioni, genere, classe, Pisa 2008. Luisa Passerini: Autoritratto di gruppo, Firenze 1988. Maria Teresa Mori/Alessandro Pescarolo/Anna Scattigno/Simonetta Soldani (Hg.): Di generazione in generazione. Le italiane dall’Unità a oggi, Roma 2013; vgl. zu den jüngsten Tendenzen Sveva Magaraggia/Giovanna Vingelli (Hg.): Genere e partecipazione politica, Milano 2015. Gaetano Arfé: Il movimento giovanile socialista. Appunti sul primo periodo (1903–1912), Milano 1973; Giovanni Gozzini: Alle origini del comunismo italiano. Storia della Federazione giovanile socialista (1907–1921), Bari 1979; Patrizia Dogliani: Un partito di giovani. La gioventù internazionalista e la nascita del Partito Comunista d’Italia (1915–1926), Firenze 2021. Paolo Spriano: Storia del Partito comunista italiano. Da Bordiga a Gramsci, Torino 1967, S. 37–45; ders.: Storia del Partito comunista italiano. Gli anni della clandestinità, Torino 1969, S. 339–354; ders.: Storia del partito comunista italiano. I fronti popolari, Stalin,
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teien stehen Jugendliche wegen ihres Tatendrangs und ihres Strebens nach Wandel zwar im Blickpunkt, doch auf einen genuinen Generationenansatz wird auch hier verzichtet. Gleiches gilt für Forschungen zur Gewerkschaftsgeschichte, welche die aktive Rolle von Jugendlichen in den Arbeitskämpfen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre betonen.10 Dieser kurze Überblick über die italienische Forschungsliteratur zeigt, dass »Generationen« im Sinne Mannheims bisher eher unterbelichtet geblieben sind.11 In Bezug auf den Sozialismus des 19. Jahrhunderts lagen thematische Schwerpunkte einerseits auf der Organisation und den Kämpfen der Arbeiterbewegungen, andererseits auf den politischen Ideen der Führung, meist ohne Bezugnahme auf wichtige Ereignisse bei ihrer Formierung. Mit der Frage nach der Existenz einer »Generation Ebert« in Italien betritt man daher geschichtswissenschaftliches Neuland, dessen Erforschung durch einen Mangel an Autobiographien und Ego-Dokumenten noch erschwert wird.
2. Aktivistenkohorten zu Beginn der Arbeiterbewegungen in Italien Ausgangspunkt für die Untersuchung einer potenziellen »Generation Ebert« im Italien der 1870er Jahre ist eine von mir erstellte Liste mit Protagonisten der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, die zwischen der Vereinigung des Landes zum Königreich Italien (1861) und dem Aufkommen des Faschismus (1922) aktiv waren. Hinzugefügt wurden einige einflussreiche Intellektuelle, die in politische und kulturelle Debatten involviert waren. Die Auswahl mag ein gewisses Maß an Beliebigkeit aufweisen, wobei jedoch versucht wurde, dieses auf ein Minimum zu reduzieren und keine der Persönlichkeiten auszulassen, denen die Hauptwerke zur Geschichte der Parteien, Bewegungen und Gewerk-
la guerra, Torino 1970, S. 181–206; ders.: Storia del Partito comunista italiano. La fine del fascismo. Dalla riscossa operaia alla lotta armata, Torino 1973, S. 70–91. 10 Lorenzo Bertucelli/Adolfo Pepe/Maria Luisa Righi: Il sindacato nella società industriale, Roma 2008; Gian Primo Cella/Bruno Manghi/Paola Piva: Un sindacato italiano negli anni Sessanta. La Fim Cisl dall’associazione alla classe, Bari 1972; Uil (Hg.): Breve storia del movimento sindacale italiano. I 104 anni del sindacalismo confederale, i 60 anni della fondazione della Uil, Spoleto 2010. 11 Mannheim benutzt den Begriff der »Generationseinheit« für die Angehörigen einer bestimmten Altersgruppe mit den gleichen politischen oder ideologischen Positionen, im Unterschied zu anderen Angehörigen der gleichen Altersgruppe, die andere Meinungen vertreten und daher eine andere »Generationseinheit« innerhalb der gleichen Alterskohorte darstellen.
Gab es in Italien eine »Generation Ebert«?
201
schaften nationale Bedeutung beimessen. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf Akteuren, die um die Jahrhundertwende aktiv waren, so dass die in den 1870er Jahren bzw. kurz davor oder danach geborenen Protagonisten gegenüber solchen aus vorherigen oder späteren Perioden überrepräsentiert sind. Das Ergebnis ist eine Liste mit 80 Namen, von denen 30 im zentralen Zeitraum zwischen 1870 und 1879 geboren wurden, sieben in der zweiten Hälfte der 1860er Jahre und zehn in der ersten Hälfte der 1880er Jahre. Hinzu kommen 22 ältere Personen wegen ihres Einflusses auf die folgenden Generationen, und elf Persönlichkeiten mit Geburtsdaten in der zweiten Hälfte der 1880er oder der ersten Hälfte der 1890er Jahre, die während des Ersten Weltkrieges besondere Bekanntheit erlangten. Für die letzten beiden Gruppen wurden nur explizit berühmte Persönlichkeiten miteinbezogen, während die Gruppe der 47 zwischen 1865 und 1884 geborenen Individuen inklusiver ist, auch wenn sie ebenfalls nur prominente Vertreter umfasst. Tabelle 1: Die nach Jahrgängen zusammengestellte Liste mit den ältesten, vor 1865 geborenen Protagonisten enthält die folgenden Namen. Baldini, Nullo
1862–1945
Bignami, Enrico
1844–1921
Bissolati, Leonida
1857–1920
Cafiero, Carlo
1846–1892
Chiesa, Pietro
1858–1915
Ciccotti, Ettore
1863–1939
Colajanni, Napoleone
1847–1921
Costa, Andrea
1851–1910
Croce, Giuseppe
1853–1915
Cugnolio, Modesto
1863–1917
Dell’Avalle, Carlo
1861–1917
Ferri, Enrico
1856–1929
Garibaldi, Giuseppe
1807–1882
Gnocchi-Viani, Osvaldo
1837–1917
Labriola, Antonio
1843–1904
Lazzari, Costantino
1857–1927
Loria, Achille
1857–1943
Malatesta, Errico
1853–1932
Mazzini, Giuseppe
1805–1872
202
Stefano Musso
Merlino, Francesco Saverio
1856–1930
Prampolini, Camillo
1859–1930
Turati, Filippo
1857–1932
All diese Persönlichkeiten können in verschiedener Hinsicht als Lehrmeister gelten, welche die folgenden Generationen beeinflussten. Nur vier von diesen 22 kamen aus einfachen Verhältnissen, die anderen stammten aus bürgerlichen Familien unterschiedlicher sozialer Prägung und hatten in einer Zeit, in der nur eine kleine Elite über einen Hochschulzugang verfügte, ein Universitätsstudium absolviert. Sie sind repräsentativ für die verschiedenen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auftauchenden politischen Strömungen innerhalb der Linken, wobei die hier vorgeschlagene, eher schematische Einordnung die Unterschiede zwischen einzelnen Protagonisten innerhalb dieser jeweiligen Strömungen unberücksichtigt lässt: Republikaner/Demokraten (Mazzini, Garibaldi, Colajanni); Anarchisten (Cafiero, Malatesta); Anarchisten, die sich später dem Sozialismus zuwandten (Costa, Merlino); revolutionäre Sozialisten (Ferri, Lazzari, Gnocchi Viani); und Reformsozialisten (Baldini, Bignami, Bissolati, Chiesa, Ciccotti, Giuseppe Croce, Cugnolio, Dell’Avalle, Prampolini, Turati). Der marxistische Theoretiker Antonio Labriola war der schärfste italienische Kritiker von Eduard Bernsteins Revisionismus. Der Nationalökonom Achille Loria kritisierte die marxistische Werttheorie. In der Mehrheit handelte es sich um Reformisten, die den Sozialismus positivistisch und evolutionär interpretierten. Enrico Bignami war der Gründer der 1882 ins Leben gerufenen »Italienischen Arbeiterpartei« (»Partito Operaio Italiano«), der wichtigsten unter den verschiedenen Gruppierungen, die sich 1892 unter der Führung von Filippo Turati zur »Sozialistischen Partei Italiens« zusammenschlossen. Tabelle 2: Der Einfluss der Reformisten auf die nachfolgende Kohorte der in der zweiten Hälfte der 1860er Jahre geborenen Personen (fünf Jahre, 1865 bis 1869) ist offensichtlich. Altobelli, Argentina
1866–1942
Cabrini, Angiolo
1869–1937
Croce, Benedetto
1866–1952
Montemartini, Giovanni
1867–1913
Morgari, Oddino
1865–1944
Rigola, Rinaldo
1868–1954
Treves, Claudio
1869–1933
Gab es in Italien eine »Generation Ebert«?
203
In dieser Periode lässt sich kein Revolutionär auffinden. Sechs Personen gehörten zum reformistischen Flügel sozialistischer Organisationen. Einige von ihnen waren hauptsächlich in den Gewerkschaften aktiv (Altobelli, Rigola, Cabrini), andere in der Partei (Morgari, Treves). Der sozialistische Nationalökonom Giovanni Montemartini war ein prominentes Mitglied der »Humanitären Gesellschaft« (»Società Umanitaria«), dem wichtigsten reformistischen Zentrum für die Entwicklung von Sozialpolitiken im Italien des frühen 20. Jahrhunderts. Der Philosoph Benedetto Croce, der der Liberalen Partei beitrat, stand dem Marxismus kritisch gegenüber und gilt als einer der wichtigsten Revisionisten Italiens. Tabelle 3: Reformistische Sozialisten überwogen auch unter den in den 1870er Jahren Geborenen. Baldesi, Gino
1879–1934
Bombacci, Nicola
1879–1945
Bonomi, Ivanoe
1873–1951
Calda, Ludovico
1874–1947
D’Aragona, Ludovico
1876–1961
De Ambris, Alceste
1874–1934
Einaudi, Luigi
1874–1961
Fabbri, Luigi
1877–1935
Giulietti, Giuseppe
1879–1953
Graziadei, Antonio
1873–1953
Labriola, Arturo
1873–1959
Leone, Enrico
1875–1940
Longobardi, Ernesto Cesare
1877–1943
Meschi, Alberto
1879–1958
Miglioli, Guido
1879–1954
Modigliani, Giuseppe Emanuele
1872–1947
Momigliano, Riccardo
1879–1961
Mondolfo, Rodolfo
1877–1976
Murri, Romolo
1870–1944
Pagliari, Fausto
1877–1960
Pasella, Umberto
1870–1957
Quaglino, Felice
1870–1935
Reina, Ettore
1871–1958
204
Stefano Musso
Rensi, Giuseppe
1871–1941
Salvemini, Gaetano
1873–1957
Schiavi, Alessandro
1872–1965
Serrati, Giacinto Menotti
1872–1926
Valente, G. Battista
1872–1944
Zibordi, Giovanni
1870–1943
Zocchi, Pulvio
1878–mind. 1945
Zwölf der hier genannten 30 Personen waren Reformisten: Baldesi, Calda, DʼAragona, Pagliari, Quaglino und Reina waren vor allem in der Gewerkschaftsbewegung aktiv und übernahmen Führungsfunktionen im 1906 gegründeten »Allgemeinen Gewerkschaftsbund« (»Confederazione Generale del Lavoro«, CGdL). Bonomi, Modigliani, Momigliano, Rensi und Zibordi waren prominente Mitglieder des Reformflügels der Sozialistischen Partei. Zu der Liste gehören auch vier Führungspersönlichkeiten des revolutionären Flügels der Sozialistischen Partei: Bombacci, Graziadei, Longobardi und Serrati. In dieser Dekade tauchen fünf revolutionäre Gewerkschafter (Alceste De Ambris, Arturo Labriola, Leone, Pasella und Zocchi) und zwei Anarchisten (Fabbri und Meschi) auf. Der anarchistischen Bewegung kann außerdem der eklektische Giuseppe Giulietti, ein Aktivist der Eisenbahnergewerkschaft, zugeordnet werden. Es gab drei Sozialkatholiken: Miglioli, Murri und Valente. Den Schluss machen Gaetano Salvemini und Rodolfo Mondolfo, zwei einflussreiche demokratische Intellektuelle und kritische Sozialisten, sowie Luigi Einaudi, der spätere Präsident der Italienischen Republik, der sich um die Jahrhundertwende an der Debatte über Sozialismus und Gewerkschaften beteiligte. Zehn Personen wurden für die Gruppe der in den folgenden fünf Jahren, also in der ersten Hälfte der 1880er Jahre Geborenen ausgewählt. Vier von diesen waren revolutionäre Syndikalisten (Bianchi, Ciardi, Amilcare De Ambris und Rossoni), nur zwei Reformsozialisten, die beide in der Gewerkschaftsbewegung aktiv waren (Buozzi und Colombino), einer war Republikaner (Zuccarini), einer Anarchist (Borghi) und einer Sozialkatholik (Grandi). Benito Mussolini, der 1912 zum Führer des revolutionären Flügels der Sozialistischen Partei aufstieg, war 1883 geboren. Tabelle 4: Unter den 1880 bis 1885 Geborenen bildeten die Reformsozialisten eine Minderheit. Bianchi, Michele
1883–1930
Borghi, Armando
1882–1968
Gab es in Italien eine »Generation Ebert«? Buozzi, Bruno
1881–1944
Ciardi, Livio
1881–1943
Colombino, Emilio
1884–1933
De Ambris, Amilcare
1884–1951
Grandi, Achille
1883–1946
Mussolini, Benito
1883–1945
Rossoni, Edmondo
1884–1965
Zuccarini, Oliviero
1883–1971
205
Unter den in der zweiten Hälfte der 1880er und der ersten Hälfte der 1890er Jahre auf die Welt gekommenen Personen finden sich die Mitbegründer der Kommunistischen Partei (Bordiga, Gramsci, Tasca, Terracini und Togliatti). Di Vittorio, der spätere kommunistische Gewerkschaftsführer des CGdL, hatte als junger Mann seine Karriere als revolutionärer Gewerkschafter begonnen. Carlo Rosselli und Lussu waren die Gründer der liberal-sozialistisch inspirierten Bewegung »Gerechtigkeit und Freiheit« (»Giustizia e libertà«), die sich aktiv am Widerstand gegen den Faschismus beteiligte. Corridoni war revolutionärer Gewerkschafter. Nenni, ein Sozialist des linken Flügels und in seiner Jugend Republikaner, wurde später Vorsitzender der Sozialistischen Partei. Matteotti ist der einzige, der zum Reformflügel der Sozialistischen Partei gehörte. Tabelle 5: In der zweiten Hälfte der 1880er Jahre Geborenen befinden sich die ersten späteren Kommunisten. Bordiga, Amadeo
1889–1970
Corridoni, Filippo
1887–1915
Di Vittorio, Giuseppe
1892–1957
Gramsci, Antonio
1891–1937
Lussu, Emilio
1890–1975
Matteotti, Giacomo
1885–1924
Nenni, Pietro
1891–1980
Rosselli, Carlo
1899–1937
Tasca, Angelo
1892–1960
Terracini, Umberto
1895–1983
Togliatti, Palmiro
1893–1964
206
Stefano Musso
3. Interpretation Generell lässt sich in den Kohorten der zwischen 1865 und 1879 Geborenen tendenziell ein Übergewicht von angehenden Reformsozialisten und eine Minderheit revolutionärer Syndikalisten ausmachen. Letztere bildeten allerdings unter den in der ersten Hälfte der 1880er Jahre Geborenen die Mehrheit. In der folgenden Dekade, also in der zweiten Hälfte der 1880er und der ersten Hälfte der 1890er Jahre, überwogen junge Sozialisten, die später die Kommunistische Partei gründen sollten. Man kann daher eine Radikalisierung der nach der »Generation Ebert« geborenen Personen feststellen, die sich auf einen grundlegenden Wandel im philosophischen Denken seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zurückführen lässt. Angesichts innerer sozialer Spannungen und einem wachsenden, in imperialistischen Konflikten ausgetragenen internationalen Wettstreit schwand der für den Positivismus typische optimistische Glaube an ökonomischen und sozialen Fortschritt. Der abnehmende Einfluss von positivistisch-evolutionären Konzepten unter Intellektuellen und Künstlern begünstigte die Verbreitung einer etwas verworrenen und eklektischen Mischung aus Idealismus, Nationalismus, Voluntarismus, ja sogar Irrationalismus, was die Verbreitung radikaler politischer Einstellungen forcierte. Die jüngsten Kohorten in der vorliegenden Auswahl, das heißt die ab 1880 Geborenen, hatten die harschen Repressionen des italienischen Staates im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts nicht mehr unmittelbar miterlebt. In dieser Dekade, die mit den Anfangsjahren der Sozialistischen Partei zusammenfiel, waren die Polemiken der verschiedenen Strömungen gegeneinander noch moderat. Nach den gescheiterten Versuchen, die sich formierende Arbeiterbewegung zu unterdrücken, bemühten sich die neuen Regierungen unter Giovanni Giolitti seit 1900 um eine Einigung mit den Reformisten. Während der ersten 15 Jahre des 20. Jahrhunderts, die geprägt waren von sich intensivierenden Kämpfen der Arbeiter und Bauern, trug dies zu einer erbitterten Frontstellung zwischen Reformisten und Revolutionären bei, die junge Sozialisten immer mehr in die Richtung revolutionärer Positionen trieb. Die vorliegenden Listen beinhalten nur Aktivisten, die als Erwachsene, also erst zu einem späteren Zeitpunkt, Bedeutung erlangten. Zwar besteht die Möglichkeit, dass es unter den zwischen 1886 und 1895 geborenen Prota gonisten der zweiten Reihe auch solche mit moderateren Tendenzen gab. Eine Untersuchung dieser Akteure ist allerdings so gut wie unmöglich. Die Geschichte der Sozialistischen Partei unterstützt aber die Hypothese einer allgemeinen Radikalisierung: Nach einer Anfangsphase, in der auf Parteitagen
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der Reformflügel und der revolutionäre Flügel abwechselnd die Oberhand gewannen, setzte sich letzterer schließlich als der stärkere durch und dominierte seit 1912 kontinuierlich die Parteiführung. Werfen wir nun einen Blick auf die Kohorten 1866 bis 1884, einschließlich der »Generation der 1870er« und der Kohorten unmittelbar davor und danach. Hier finden sich 20 Reformisten, fünf revolutionäre Sozialisten und neun revolutionäre Syndikalisten. Zwar gab es innerhalb dieser drei Strömungen auch Persönlichkeiten, die aus einfachen Verhältnissen stammten – überwiegend Arbeiter-Autodidakten, die später in die Führungsriege der CGdL aufstiegen (Baldesi, Buozzi, Calda, Chiesa, Colombino, Quaglino, Reina, Rigola). Doch die Mehrheit der sozialistischen Aktivisten kam, wie Robert Michels schon 1908 feststellte, aus dem Bürgertum.12 Eine vorläufige Erklärung für die Anziehungskraft des Sozialismus auf das mittlere und gehobene Bürgertum Italiens geht von zwei miteinander zusammenhängenden Phänomenen aus. Erstens wurde das Vereinigte Italienische Königreich trotz der umfangreichen radikalen und republikanischen Mobilisierung während der Risorgimento-Kriege vor allem von moderaten Eliten geführt. Der Mangel an revolutionären Errungenschaften, allen voran die nichterfolgte Gründung einer Republik als Basis für eine regulative Sozialpolitik, erhöhte die Attraktivität des Sozialismus. Zweitens unterstützte die Wahrnehmung und das Wissen um die außerordentlich harten Lebensbedingungen der italienischen Proletarierklassen, bestehend aus Land- und Industriearbeitern, diese Entwicklung. Dies gilt insbesondere für die neapolitanischen Sozialisten, die zu den wichtigsten Trägergruppen des revolutionären Flügels gehörten. Die äußerst schlechten Lebensbedingungen der Stadtbevölkerung waren der Auslöser für ein politisches Engagement, welches das Elend und die Rückständigkeit der Städte anprangerte und angetrieben wurde von einem instinktiven Geist der Rebellion gegen die herrschende Klasse, die für diesen Zustand verantwortlich war, wie Arturo Labriola in seinen Memoiren schreibt.13 Schließlich entwickelten viele der von den demokratischen und republikanischen Ideen des Risorgimento beeinflussten Italiener erbitterten Widerwillen gegen die herrschende Elite, die seit Ende des 19. Jahrhunderts die im Entstehen begriffene Arbeiterbewegung gewaltsam unterdrückte und sich jeglicher Form sozialer Sicherungsmaßnahmen verweigerte. Viele der in den zwei Jahrzehnten um die 1870er Jahre herum geborenen Protagonisten begannen ihr politisches Engagement als Republikaner, bevor 12 Robert Michels: Il proletariato e la borghesia nel movimento socialista italiano. Saggio di scienza sociografico-politica, Torino 1908. 13 Arturo Labriola: Spiegazioni a me stesso, Napoli 1945.
208
Stefano Musso
sie zu Sozialisten wurden, obwohl es Arturo Labriola zufolge um 1895 auf lokaler Ebene sogar »mehr oder weniger das gleiche war, ob man Republikaner, Sozialist oder Anarchist« war.14 Dies war umso mehr der Fall, weil auf dem 18. Arbeiterkongress in Palermo im Jahr 1892 eine kollektivistische Strömung die Führung der republikanischen Bewegung übernahm. Mazzinis ideologische Orthodoxie der Klassenzusammenarbeit unterlag dieser neuen Richtung und das Prinzip des Klassenkampfes als Instrument der politischen Aktion wurde angenommen. Junge, lokal agierende Intellektuelle setzten sich leidenschaftlich für soziale Themen und Probleme ein, die beim nationalen Vereinigungsprozess unbewältigt geblieben waren. Sie bildeten den Bezugsrahmen für die nachfolgende intellektuelle und politische Abkehr von Mazzinis Ideen und die Hinwendung zum Sozialismus. In unserer vorliegenden Auswahl, die sich vor allem auf den Sozialismus konzentriert, bleibt der Anarchismus unterrepräsentiert. Gleichwohl hatte die anarchistische Bewegung um die Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Anhänger. Gaetano Arfé, Autor der ersten grundlegenden Geschichte der Italienischen Sozialistischen Partei von ihren Anfängen bis zum Aufstieg des Faschismus, verwendet das Wort »Generationen« nur selten, benutzt es aber in Bezug auf den erbitterten Kampf um »die Führung der jungen Generation« zwischen Mazzini (geboren 1805) und Bakunin (geboren 1814), den »beiden alten Lehrmeistern«.15 Dem früheren Anarchisten und ersten sozialistischen Abgeordneten des italienischen Parlaments Andrea Costa zufolge fand die Pariser Commune großen Anklang besonders bei den Mitte des 19. Jahrhunderts geborenen Kohorten. In seinen 1900 publizierten Memoiren »Bagliori di socialismo« erklärt Costa (geboren 1851), die Commune habe viele Jugendliche mit Enthusiasmus erfüllt. Für sie, die nicht an den Kämpfen des Risorgimento teilgenommen hatten, lebte die Idee der Revolution in Paris wieder auf. Etwas verworren und stark vereinfachend verbanden sie Anarchismus und Sozialismus, was zu einem Bruch mit Mazzini führte.16 Der führende Anarchist Carlo Cafiero, 1846 geboren, schrieb 1876: »[…] wir bemühten uns, wir fragten, wir sahen uns um, als schließlich die Pariser Commune […] wie der Beginn eines neuen Lebens war, dem wir uns widmen mussten. Was bis dahin nur eine Vorahnung gewesen war – ich 14 Labriola, Spiegazioni [wie Anm. 13], S. 19. 15 Gaetano Arfé: Storia del socialismo italiano (1892–1926), Torino 1965, S. 23 f. 16 Emilio Gianni: L’Internazionale italiana fra libertari ed evoluzionisti (1872–1880), Milano 2008.
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spreche von uns als der Generation, die nach der Einführung der Verfassung des Italienischen Königreichs aufwuchs –, wurde zu einer Idee.«17 Doch der Einfluss des Anarchismus wurde nach und nach schwächer, vor allem nach dem Scheitern einiger anarchistischer Aufstände in den 1870er Jahren. Zwei der wichtigsten führenden Anarchisten, Andrea Costa und Francesco Saverio Merlino, blieben in den 1890er Jahren der Sozialistischen Partei verbunden. Die Pariser Kommune inspirierte die Anarchisten und den revolutionären Flügel des italienischen Sozialismus, nicht jedoch die Reformisten. Es sollte darauf hingewiesen werden, dass die Kohorten der um die 1870er Jahre Geborenen zwei grundlegende Ereignisse der Geschichte Italiens – die Vereinigung des Königreichs im Jahre 1861 und die Eroberung Roms 1870 – sowie die Pariser Kommune nicht selbst miterlebt hatten. Sie kannten diese nur aus Bildern und durch die Weitergabe von Erwachsenen und das Bildungssystem, also durch Familie, Schule und Organisationen. In Bezug auf die Einheit Italiens waren es vor allem die Schule und andere Institutionen, die patriotische Gefühle vermittelten. Doch die Vereinigung Italiens war nicht nur das Ergebnis der Eroberung durch das Königreich der Savoyer. Einen wesentlichen Anteil hatten auch die Kriege des Risorgimento und revolutionäre Aufstände republikanischer Bewegungen, die stark patriotisch ausgerichtet waren und nachhaltigen Einfluss ausübten – bis zu einem gewissen Grad auch auf sozialistische Aktivisten. Trotz der strukturellen Rückständigkeit der italienischen Wirtschaft, die noch immer weitgehend agrarisch geprägt war, haben Forschungen zu den Anfängen der italienischen Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert diesen als Folge der Politisierung der Handwerker durch ihre Beteiligung an den Kämpfen des Risorgimento eine »ideologische Frühreife« zugeschrieben. Arbeiter mit handwerklichem Hintergrund, deren Zahl aufgrund der nur langsam voranschreitenden industriellen Entwicklung noch gering war, beispielsweise Drucker, Tischler, Glasmacher oder Schuhmacher, stellten die sozialen Bezugspunkte und damit die Basis der republikanischen, anarchistischen und später sozialistischen Kreise dar.18 Der italienische Patriotismus konnte nationalistisch konnotiert werden. Es ist hilfreich, an dieser Stelle auf den Unterschied zwischen Patriotismus und Nationalismus hinzuweisen. Während sich ersterer demokratisch, offen 17 Enrico Zanette: Criminali, martiri, refrattari. Usi pubblici del passato dei comunardi, Roma 2014, S. 29. 18 Gastone Manacorda: Il movimento operaio italiano, Roma 1963; Giuliano Procacci: La lotta di classe in Italia agli inizi del secolo XX, Roma 1970.
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gegenüber den Rechten anderer Nationen, tendenziell pazifistisch und internationalistisch präsentierte, war letzterer geprägt durch Aggressivität und Angriffslust. Das unterschiedliche Verständnis von Patriotismus und Nationalismus hatte zwei Spaltungen der sozialistischen Bewegung zur Folge. Bei der ersten stand der Kolonialismus im Allgemeinen und der Libyenkrieg von 1911/12 im Besonderen im Mittelpunkt. Nicht nur moderate Reformisten, auch revolutionäre Syndikalisten unterstützen die Eroberung Libyens. Bonomi und Bissolati, die zu ersteren gehörten, wurden aus der Sozialistischen Partei ausgeschlossen, welche mit großer Mehrheit den Krieg ablehnte. Die revolutionären Syndikalisten hatten die Sozialistische Partei schon 1908 verlassen. Die Befürworter kolonialer Eroberungen hatten unterschiedliche Motive, unter anderem auch die Vision, utopische Gesellschaften sozusagen »auf der grünen Wiese« aufzubauen. Doch die Unterstützer des Libyenkriegs waren ebenfalls für den Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg. Nachdem die Sozialistische Partei den Kampf um den Pazifismus verloren hatte, macht ihr Motto von 1915 – »Weder beitreten noch sabotieren« – ihre zwiespältige Position zum Ersten Weltkrieg deutlich. Doch die meisten pazifistischen Sozialisten schlossen sich nach der Niederlage von Caporetto im Jahr 1917 der patriotischen Sache an, um eine Invasion Italiens durch österreichische Truppen zu verhindern. Eng verbunden mit dem Prozess der nationalen Einheit war die Eroberung Roms, die als Symbol des gebrochenen Widerstands der katholischen Kirche nicht nur gegen die nationale Einheit, sondern auch gegen alles, was auf der politischen und sozialen Bühne modern war, entscheidende Bedeutung besaß. Der Konservatismus der Kirche, ihre unermüdliche Verteidigung traditioneller Werte und ihre Lehren von Verzicht und Unterordnung unter traditionelle soziale Hierarchien mündeten in einer zunehmend antiklerikalen Stimmung unter Sozialisten. In der Folge richtete sich ihre distanzierte und ablehnende Haltung gegenüber der Kirche auch gegen den Sozialkatholizismus, der nach der von Papst Leo XIII. 1891 erlassenen Enzyklika »Rerum Novarum« auf der politischen und gewerkschaftlichen Bühne auftauchte. Die von der Partei unterstützte reformistische Führung des CGdL lehnte eine Beteiligung der katholischen Gewerkschaften an den Verhandlungen mit Arbeitgebern und in den Dreier-Gremien (Staat, Gewerkschaften und Arbeitgeber), die vor und während des Krieges als erste korporative Institutionen in Italien entstanden, stets ab. Nach dem Ersten Weltkrieg konnten sowohl die Sozialistische Partei als auch die neu gegründete katholische »Volkspartei« (»Partito Popolare«) aufgrund der Einführung eines proportionalen Wahlsystems Wahlgewinne verzeichnen. Damit war zwar die traditionell liberale Mehrheit im Parlament in Frage gestellt, doch eine Zusammenarbeit der beiden Massenparteien bei
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der Lösung der Nachkriegsprobleme scheiterte, was den Aufstieg des Faschismus beförderte. Generell kann man sagen, dass die zwischen den späten 1860er und frühen 1890er Jahren Geborenen, die später revolutionäre Syndikalisten wurden, von Marx und Sorel beeinflusst waren. Sie vertraten ein Konzept des Streiks als einer »Schulung zur Revolution«, den Mythos vom Generalstreik und die Überhöhung revolutionärer Gewalt. Meist aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammend, verwandelte sich ihre anfängliche Unterstützung des Krieges, den sie vor allem als eine Gelegenheit zur Revolution sahen, bald in eine Hinwendung zum Nationalismus. Nach dem Ersten Weltkrieg schlossen sie sich der faschistischen Bewegung an und stiegen in die Führung der faschistischen Gewerkschaften auf, wie beispielsweise Edmondo Rossoni, der deren Generalsekretär wurde. Die revolutionären Strömungen innerhalb der Sozialistischen Partei waren von Marx beeinflusst und lehnten jeden Revisionismus ab. Trotz ihrer revolutionären Strategie eines »Maximalprogramms« – im Gegensatz zum »Minimalprogramm« der Reformisten – hielten sie, wie auch die meisten Anarchisten, dem Internationalismus und Pazifismus die Treue. Sie unterstützten die revolutionäre Minderheit innerhalb des CGdL und verfolgten mit Interesse das Vorgehen des französischen Allgemeinen Gewerkschaftsbundes. Die Reformisten lehnten Aufstände und gewalttätige Proteste ab. Sie prophezeiten den Aufstieg des Sozialismus als Ergebnis einer sich evolutionär vollziehenden Modernisierung des Industriekapitalismus. Beeinflusst von einem evolutionären Positivismus bewegten sie sich zwischen den Positionen Bernsteins und Kautskys, mit einer Präferenz für ersteren. Der Revisionismus von Achille Loria war ebenfalls einflussreich, vor allem auf Turati, Bissolati und Bonomi.19 Ein weiterer Bezugspunkt waren die französischen Reformisten um Jean Jaurès.20 Neuen Impetus erhielt der reformistische Minimalismus durch Friedrich Engelsʼ »Einleitung« zur 1895er Ausgabe von Karl Marxʼ »Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848–1850«. Engels nahm hier eine Neubewertung der Strategie der europäischen Arbeiterbewegung vor und fasste zur Eroberung der Macht nun auch die durch den bürgerlichen Staat und seine Gesetzesgrundlagen vorgegebenen Möglichkeiten ins Auge. Das eher schematische Bild, das hier gezeichnet wurde, lässt Nuancen und Differenzierungen individueller Positionen als auch sich verändernde Ideen 19 Gianfranco Ragona/Achille Loria: Pietà per la sua scienza, in: Il nostro Gramsci. Antonio Gramsci a colloquio con i protagonisti della storia d’Italia, hg. von Angelo d’Orsi, Roma 2011, S. 235–242. 20 Enzo Santarelli: La revisione del marxismo in Italia, Milano 1964.
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Stefano Musso
und politische Haltungen einzelner Persönlichkeiten außer Acht. Ideologische Schwankungen wie auch das Nebeneinander verschiedener Gruppierungen in der Partei wurden begünstigt durch den mangelhaften theoretischen Unterbau, der von Seiten der italienischen Sozialistischen Partei vorgegeben wurde, was Antonio Labriola scharf kritisierte.21 Die verfügbaren Biographien der hier vorgestellten Protagonisten zeigen, dass individuelle und politische Lebenswege komplex und fein gegliedert waren. Durch Auslandsreisen, vor allem in die Schweiz, die Vereinigten Staaten von Amerika, nach Frankreich, Großbritannien, Spanien, Kanada, Brasilien und Argentinien, versuchte man staatlichen Repressalien zu entkommen. Auslandsaufenthalte ermöglichten die Kontaktaufnahme mit verschiedenen Aktivisten- und Gelehrten-Netzwerken, was politische Haltungen beeinflusste. Die individuellen Lebenswege variieren in so vielen Aspekten, dass es fast unmöglich ist, hier gemeinsame Muster zu entdecken.
4. Eine »Generation Ebert« in Italien? Es ist dennoch durchaus möglich, eine Generation von zwischen den Mitt1860er und Mitt-1880er Jahren Geborenen auszumachen, die laut dem Modell Mannheims aus mindestens vier Generationseinheiten bestand: reformistischen Sozialisten, maximalistischen Sozialisten, revolutionären Syndikalisten und Anarchisten. Die ersten drei dieser Generationseinheiten umfassen Personen, die, von unterschiedlichen Ausgangslagen kommend, zum Sozialismus fanden und sich aus verschiedenen Gründen für bestimmte politische Handlungen entschieden. Sie verblieben zunächst in der Sozialistischen Partei als einer gemeinsamen Heimat für verschiedene politische Haltungen, bevor sie sich von dieser trennten und ganz unterschiedliche politische Wege gingen. Ihre Geburts- und Wohnorte waren äußerst breitgefächert, doch es gab eine Fülle an Möglichkeiten für Kontakt und Austausch untereinander, durch Briefe, Reisen, die Zusammenarbeit bei Rezensionen und gemeinsame Treffen im Rahmen ihrer Kämpfe. Die Gründung der Sozialistischen Partei im Jahre 1892 fand unter Federführung der moderaten Strömungen und als Ergebnis einer Distanzierung von verschiedenen anarchistischen Kreisen statt. Doch die Partei blieb offen für revolutionäre Gruppierungen und umfasste während der ersten 15 Jahre ihres Bestehens neben »Maximalisten« auch »Minimalisten«
21 Arfé, Il movimento giovanile [wie Anm. 8], S. 95.
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und revolutionäre Syndikalisten, die sich erst 1908 abspalteten, da die Führung des 1906 gegründeten Allgemeinen Gewerkschaftsverbands fest in der Hand der Reformisten war. Angesichts der Tatsache, dass der Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein damals früher als heute stattfand, erreichte die Generation der in den 1870er Jahren Geborenen zwischen den 1880er und frühen 1890er Jahren ihr prägendes Alter. Es stellt sich die Frage, welche historischen Ereignisse diese italienische »Generation Ebert« kennzeichneten. In Bezug auf die Geschichte Italiens waren dies der Beginn der Kolonialpolitik bis hin zum Erwerb von Eritrea und Somalia, unterbrochen durch die traumatische Niederlage beim Versuch der Eroberung Äthiopiens im Jahr 1896, die protektionistische Wende von 1887 und der Bankenskandal Anfang der 1890er Jahre. Es ist schwer abzuschätzen, welchen Effekt diese Ereignisse auf die intellektuelle Entwicklung junger Sozialisten hatten, abgesehen davon, dass sie deren negative Sicht der herrschenden Klasse bestätigten. Auf sozialer und politischer Ebene schwächten die gescheiterten anarchistischen Aufstände in Bologna (1874) und Matese (1877) den Einfluss des Anarchismus und trieben die Hinwendung zum Sozialismus voran, ebenso wie die wachsende Streikbewegung, die nach und nach Unruhen und Erhebungen vom Typ früherer Bauernaufstände ablöste. Die im Jahr 1888 entstandene Bewegung für die Bildung einer Arbeiterkammer nach dem Beispiel der französischen »Bourses du travail« untermauerte die Führungsrolle der Reformisten bei der Gründung der Sozialistischen Partei. Die Revolte des Sizilianischen Bundes (»Fasci Siciliani«)22 im Jahr 1893, die Repressionspolitik der Regierung, die Beschießung von Demonstranten in Mailand, die 1898 gegen die Erhöhung des Brotpreises protestierten, und die dadurch ausgelöste Verhaftung einiger sozialistischer Führer vom moderaten Flügel, die mit der spontanen Entstehung des Aufstandes nichts zu tun hatten – all dies bestätigte die Wahrnehmung, dass die herrschende Klasse die soziale Frage nicht in den Griff bekam und auf durch sozialen und wirtschaftlichen Wandel hervorgerufene Probleme lediglich mit Repressalien reagierte. Während dieser Ereignisse koexistierten reformistische Sozialisten und revolutionäre Syndikalisten in der Partei. Obwohl viele von ihnen zu den gleichen Kohorten gehörten, unterschieden sich ihre politischen Positionen aufgrund verschiedener Einflüsse durch persönliche Beziehungen und kulturelle Bezüge, so dass dieselben Ereignisse unterschiedlich erlebt und entsprechend der jeweiligen individuellen Befindlichkeiten verschieden interpretiert wurden. So 22 Die Fasci Siciliani waren keine faschistische Bewegung, sondern eine volkstümliche Protestbewegung, die in den frühen 1890er Jahren ihr Ende fand.
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waren beispielsweise die aus wohlhabender Familie stammenden Brüder Alceste (geboren 1874) and Amilcare De Ambris (geboren 1884) beide führende revolutionäre Syndikalisten. Alceste lehnte den Libyenkrieg ab, unterstützte die Intervention Italiens im Ersten Weltkrieg und nahm an der nationalistischen Besetzung von Fiume teil, entwickelte sich aber zu einem Gegner des Faschismus und aktiven Antifaschisten, der schließlich nach Paris ins Exil ging. Im Gegensatz dazu schloss sich sein Bruder 1926 den faschistischen Gewerkschaften an. Nicola Bombacci und Arturo Labriola sind weitere Beispiele für komplexe Lebenswege. Bombacci (geboren 1879), ein ehemaliger Grundschullehrer, war in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ein führender Vertreter des maximalistischen Flügels der Sozialistischen Partei und Gefährte Mussolinis. Berühmt für seine harsche revolutionäre Rhetorik, wurde er mehrere Male verhaftet und in den »zwei roten Jahren« zwischen 1918 und 1920 zum stellvertretenden Vorsitzenden der Sozialistischen Partei gewählt. Er befürwortete die Abspaltung von Livorno – also die Trennung des kommunistischen Flügels von der sozialistischen Partei auf dem Parteitag in Livorno im Januar 1921 – und wurde zum Mitbegründer der Kommunistischen Partei. Nachdem er 1927 wegen Opportunismus aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen worden war, gründete er mit finanzieller Unterstützung der Faschisten eine Zeitschrift, die das Bild eines proletarischen, gegen den kapitalistischen Imperialismus kämpfenden Italiens vermitteln sollte. Schließlich schloss er sich Mussolini in der Italienischen Sozialrepublik in Salo an. Als wichtiger Akteur des komplexen Linksfaschismus war Bombacci der Hauptinspirator der Charta von Verona, dem Parteiprogramm der »Republikanisch-Faschistischen Partei« (»Partito Fascista Repubblicano«, PFR). 1944 veröffentlichte er ein Pamphlet mit dem Titel »Questo è il comunismo« (»Das ist der Kommunismus«) in Anlehnung an das Konzept der »Sozialisierung« der Italienischen Sozialrepublik. Er folgte Mussolini bei seiner Flucht aus Mailand, wurde bei Dongo von Partisanen aufgegriffen und am 28. April 1945 hingerichtet. Arturo Labriola, geboren 1873 in Neapel, war der Sohn eines Handwerkers. Gaetano Arfé zufolge war Sorel der einzige, den Labriola als Lehrmeister akzeptierte.23 In seinem theoretischen Werk verteidigte er das Selbstverständnis des revolutionären Syndikalismus als Teil der sozialistischen Orthodoxie. Der Staat und juristische Institutionen müssten seiner Auffassung nach gewaltsam gestürzt werden, was durch die direkte, revolutionäre Aktion der Massen 23 Gaetano Arfé: I socialisti del mio secolo, hg. von Donatella Cherubini, Manduria/Bari/ Roma 2002, S. 244.
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geschehen solle, und zwar unter der Führung der Gewerkschaften und nicht der Partei, die lediglich Propagandaaufgaben zu erfüllen habe. 1908 verließ er die Sozialistische Partei. 1911 befürwortete er den Libyenkrieg, unterstützte Italiens Expansionspolitik im Mittelmeerraum und sprach sich 1915 für die Intervention Italiens im Ersten Weltkrieg neben Frankreich und England aus. Im Februar 1917 begrüßte er begeistert den Beginn der Russischen Revolution und war einer der Delegierten, welche die italienische Regierung im Mai nach Russland sandte, um die Revolutionäre zur Fortsetzung des Krieges anzuspornen. Im Juni 1920 wurde er Arbeitsminister. Mit dem Ziel, die sozialistischen Kräfte gegen den Faschismus zu vereinigen, bat er Turati 1923, der Vereinigten Sozialistischen Partei beitreten zu dürfen, die 1922 von aus der Sozialistischen Partei ausgeschlossenen Reformisten gegründet worden war. Als Verfolgter des Faschismus emigrierte Labriola 1927 nach Frankreich und kollaborierte mit der »Antifaschistischen Konzentration«. Bald schon distanzierte er sich jedoch von der Widerstandsbewegung und betonte erneut die Bedeutung des Krieges für die Revolution. 1935 unterstützte er den Krieg in Äthiopien und kehrte nach Italien zurück. 1946 wurde er wegen seiner Anhängerschaft zum faschistischen Regime während der zweiten Hälfte der 1930er Jahre aus dem Provisorischen Legislativrat ausgeschlossen. Zunächst als Vertreter des Nationalen Blocks, später als Senator, näherte er sich der linken Opposition an und stand schließlich bei den Kommunalwahlen 1956 in Neapel auf dem ersten Platz der Liste der Kommunistischen Partei, bevor er 1959 verstarb. Solch widersprüchliche Lebenswege waren unter Revolutionären nicht ungewöhnlich, während sich diejenigen der Reformisten meist kohärenter ausnahmen. Dennoch zeigen viele Biographien, dass sich Meinungen und Haltungen im Laufe eines individuellen Lebens ändern konnten, so dass die Zugehörigkeit einer Person zu einer Generationseinheit oft zeitlich begrenzt war. Man kann die in den zwanzig Jahren zwischen 1865 und 1884 geborenen Kohorten in zwei Generationen aufteilen. In der ersten Dekade von 1865 bis 1874 finden sich 14 Reformisten, zwei Maximalisten und drei revolutionäre Syndikalisten. In der zweiten Dekade von 1875 bis 1884 verringert sich die Zahl der Reformisten auf sechs, die Zahl der Maximalisten steigt auf drei und die der revolutionären Syndikalisten verdoppelt sich auf sechs. So lässt sich folglich annehmen, dass eine Generation von Reformisten, geboren zwischen 1865 und 1874, und eine nachfolgende Generation, auf die Welt gekommen in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre, die oben bereits erwähnte fortschreitende revolutionäre Radikalisierung der zwischen der zweiten Hälfte der 1880er und frühen 1890er Jahre Geborenen vorwegnahm.
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Werfen wir nun einen Blick auf die Reformisten. Sie verfochten mehrheitlich weiterhin pazifistische Positionen, lehnten den Libyenkrieg von 1911/12 ebenso ab wie die Intervention im Ersten Weltkrieg im Jahr 1915. Die pazifistische Mehrheit der Sozialistischen Partei schloss Bissolati und Bonomi 1912 wegen ihrer Unterstützung der Eroberung Libyens aus der Partei aus. Die beiden Politiker, ehemals führende Vertreter des moderaten Flügels, sollten in den folgenden Jahren Regierungsposten bekleiden. In den 15 Jahren vor Beginn des Ersten Weltkriegs brachten die Reformisten zahlreiche fundierte sozialpolitische Projekte auf den Weg. Sie arbeiteten dabei eng zusammen mit anderen im europäischen reformistischen »Nebelfeld« (»nébuleuse«), wie Christian Topalov das Netzwerk europäischer Reformisten wegen seiner unscharfen Konturen genannt hat; dessen Mitglieder hingen verschiedenen politischen Positionen an, wobei die wichtigste Gruppe aus moderaten Sozialisten bestand, zu der aber auch Liberale und sogar Nationalisten gehörten.24 Die italienischen Reformisten griffen auf den reichen Erfahrungsschatz anderer europäischer Länder zurück. Die von ihnen in der Kriegszeit eingeführten Sozialversicherungen und Sozialleistungen blieben allerdings auf recht bescheidenem Niveau.25 Schließlich inspirierten die Vorschläge der Reformisten eine Arbeits- und Sozialgesetzgebung, die von der Regierung während des turbulenten »Biennio Rosso« unter dem Druck von Streiks und sozialen Aufständen verabschiedet wurden. Mit dem Aufstieg des Faschismus wurden die Sozialreformgesetze von 1919/20 allerdings abgeschwächt und an das autoritäre Regierungssystem angepasst.26 Die während der Nachkriegszeit konzipierten institutionellen Reformprojekte der reformistischen Sozialisten bildeten ein System, das man, vor allem in Bezug auf Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen, als »demokratischen Korporatismus« bezeichnen kann. Diese Vorschläge stießen jedoch nicht nur bei der liberalen herrschenden Klasse auf taube Ohren, sondern fanden auch bei der maximalistischen Mehrheit der Sozialistischen Partei keine Unterstützung. Von allen Machtpositionen ausgeschlossen verblieben einige der führenden Reformisten des CGdL, allen voran der frühere Generalsekretär Rinaldo Rigola, in Italien, und arbeiteten auf eine Art konstruktiver Kritik am
24 Christian Topalov (Hg.): Laboratoires du nouveau siècle. La nébuleuse réformatrice et ses réseaux en France (1880–1914), Paris 1999. 25 Giovanna Procacci: Warfare-welfare. Intervento dello Stato e diritti dei cittadini (1914– 1918), Roma 2013. 26 Stefano Musso: Le regole e l’elusione. Il governo del mercato del lavoro nell’industrializzazione italiana (1888–2003), Torino 2004, S. 171–211.
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Faschismus hin, indem sie seine sozialen Aspekte betonten. Andere Mitglieder der reformistischen Führung des CGdL hielten an ihrer Ablehnung des Faschismus fest und mussten, um Repressalien zu entgehen, nach Frankreich ins Exil fliehen, wie beispielsweise der Führer der Metallarbeitergewerkschaft Bruno Buozzi. Auch die führenden Reformisten der Sozialistischen Partei blieben bei ihrer entschiedenen Ablehnung des Faschismus, nachdem sie 1922 von der maximalistischen Mehrheit ausgeschlossen worden waren. Wie Filippo Turati gingen viele von ihnen ins französische Exil. Ein weniger glückliches Schicksal ereilte Giacomo Matteotti, der 1924 von einem faschistischen Kader getötet wurde. Insgesamt gesehen wurde die reformistische Generation der 1870er durch den Aufstieg des faschistischen Regimes außer Gefecht gesetzt und konnte keine Führungspositionen in der Regierung Italiens besetzen. Die revolutionären Syndikalisten, die sich dem Faschismus anschlossen, gingen einen anderen Weg. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die komplexe Verflechtung von grundverschiedenen, sich im Verlauf eines individuellen Lebens ständig verändernden Einflüssen, welche die politische und kulturelle Zugehörigkeit einer Person bestimmen, deutet darauf hin, dass generationelle Analysen in historischen Untersuchungen kontrovers und schwer anzuwenden sind. Diese Schwierigkeiten lassen sich überwinden, wenn man Generationen, wie von Mannheim vorgeschlagen, in einem engeren Sinne versteht als eine Gruppe von Menschen mit ganz bestimmten politischen und kulturellen Haltungen, die sich von denen anderer Gruppen unterscheiden, auch wenn die verschiedenen Gruppen den gleichen Kohorten, sozialen Klassen und selbst dem gleichen gattungsmäßigen Bezugsideal – in unserem Fall dem Sozialismus – angehören, so wie dies für die um die 1870er Jahre geborenen Reformisten und revolutionären Syndikalisten der Fall war. Die Frage nach einer »Generation Ebert« in Italien kann man insofern bejahen, wenn damit eine Gruppe reformistischer Sozialisten gemeint ist, die in den fünfzehn Jahren zwischen 1865 und 1880 geboren wurden und um die Jahrhundertwende zu führenden Mitgliedern des moderaten Flügels der sozialistischen Partei aufstiegen. Die französischen »Bourses du travail«, das belgische »Genter System«, die deutschen sozialdemokratischen Institutionen und das Erfurter Programm, die britische Gewerkschaftsbewegung und die Fabian Society waren ihre wichtigsten internationalen Bezugspunkte.27 Die nebulösen Netzwerke der europäischen Reformisten, die um die Jahrhundertwende aktiv waren, diskutierten und sti27 Paolo Mattera: Le radici del riformismo sindacale. Società di massa e proletariato alle origini della CGdL (1901–1014), Roma 2007.
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mulierten Staatsinterventionen in Bereichen wie Hygiene, Berufskrankheiten, Erziehung, Wohlfahrt und Sozialschutz, Arbeitsrecht, Arbeitslosigkeit und Migration. Wendet man das Konzept der Generation mit der nötigen Vorsicht an, lassen sich in diesem »Nebelfeld« möglicherweise auch die Spuren einer europäischen 1870er Generation erkennen.
Francesco Tacchi
Deutsche und italienische Bischöfe der Kohorte Eberts und die sozialistische Bewegung. Vergleichende Bemerkungen
1. Einleitung Nach dem Generationenbegriff Karl Mannheims (1928) konstituiert sich ein Generationszusammenhang »durch eine Partizipation der derselben Generationslagerung angehörenden Individuen am gemeinsamen Schicksal und an den dazugehörenden, irgendwie zusammenhängenden Gehalten«.1 Im Fall der deutschen und italienischen Bischöfe der Alterskohorte Friedrich Eberts, die zwischen etwa 1866 und 1879 geboren wurden,2 muss dieses »gemeinsame Schicksal« unter zwei Gesichtspunkten betrachtet werden. Einerseits erlebten sie die gesellschaftlichen und politischen Großereignisse ihres jeweiligen nationalen Kontexts, andererseits wurden sie von Jugend an in die transnationale Struktur der katholischen Kirche eingebunden und vom kirchlichen Lehramt und der neuscholastischen Philosophie maßgeblich beeinflusst. Ihre Identität wurde von dieser »doppelten Zugehörigkeit« stark geprägt. Wenn man sich auf ihre Haltung zur sozialistischen Bewegung bzw. zum Sozialismus als Weltanschauung fokussiert, muss man demzufolge nicht nur die soziale und politische Lage in Deutschland und Italien, sondern zuerst die diesbezügliche Einstellung des Heiligen Stuhls bzw. seinen entschiedenen Antisozialismus berücksichtigen.3 Im Laufe des 19. Jahrhunderts positionierte sich Rom auf einer Linie der scharfen Ablehnung der Moderne bzw. des Säkularisierungsprozesses, der 1 2
3
Karl Mannheim: Das Problem der Generationen, in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie 7 (1928), S. 157–185 u. S. 309–330, hier S. 313. Der Schwerpunkt der »Generation Ebert« liegt gerade auf der zweiten Hälfte der 1860er bis Ende der 1870er Jahre; vgl. Bernd Braun: Die »Generation Ebert«, in: Klaus Schönhoven/Bernd Braun (Hg.): Generationen in der Arbeiterbewegung, München 2005, S. 69–86, besonders S. 71. Zu diesem Thema siehe besonders Francesco Tacchi: Katholischer Antisozialismus. Ein Vergleich zwischen Deutschland und Italien zur Zeit Pius’ X. 1903–1914, Paderborn 2021.
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im wesentlichen als antichristlich wahrgenommen wurde. Diesem Prozess wurde das Ziel einer christlichen »Wiedereroberung« der Gesellschaft, einer »Rückkehr« zu einem zur mittelalterlichen societas christiana analogen Gesellschaftsmodell entgegengesetzt, in dem die katholische Religion das Fundament des zivilen Zusammenlebens bilden sollte.4 Im Rahmen dieser allgemeinen Absage an die Moderne und der Sehnsucht nach einer hierokratischen Gesellschaftsordnung fiel auch die lehramtliche Verurteilung des Sozialismus, die sich bereits in den 1840er Jahren mit Papst Pius IX. (1846–1878) abzeichnete. Der Sozialismus wurde als letztes Glied in einer genealogischen Kette von glaubensfeindlichen Irrtümern ausgelegt, die ihre Anfänge im Renaissance-Humanismus und in der Reformation hatte, und zu einer Ideologie gestempelt, die die göttliche Offenbarung und das Naturrecht leugnete. Eine besondere Rolle in der Ausarbeitung der römischen Stellungnahme zum Sozialismus spielte Papst Leo XIII. (1878–1903), der sich bereits am Anfang seines Pontifikats mit den sozialistischen »Sekten« im Rundschreiben »Quod apostolici muneris« befasste.5 Im Jahr 1891 promulgierte er dann die Enzyklika »Rerum novarum«, die bekanntlich den Ausgangspunkt der katholischen Soziallehre darstellte. Hier wurde die katholische Lösung der sozialen Frage dargeboten und der Sozialismus vor allem wegen seiner Haltung zum Privateigentum verworfen.6 Sowohl das sehr negative Urteil über die Moderne, das unter anderem dazu führte, Modernisierungsdynamiken wie Urbanisierung und Industrialisierung mit sicheren Gefahren für Glauben und Sittlichkeit zu identifizieren, als auch der dezidierte Antisozialismus waren also Elemente, die zum mentalen Inventar der deutschen bzw. italienischen Geistlichen gehörten, deren Sozialisation und theologisch-philosophische Ausbildung am Ende des 19. Jahrhunderts stattfand. Hier ist eine erste und wichtige Ähnlichkeit zwischen den beiden Ländern zu erkennen. Meine folgende Analyse wird den Zeitraum bis zum Beginn der 1930er Jahre umfassen, das heißt bis zum Scheitern der Weimarer Republik in Deutschland einerseits und der Auseinandersetzung zwischen Kirche und Faschismus über die »Azione Cattolica« in Italien andererseits. Der Fokus liegt dabei ausschließlich auf dem Episkopat und nicht auf den gesellschaftlichen 4
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Vgl. Daniele Menozzi: La Chiesa cattolica e la secolarizzazione, Torino 1993, S. 15–71; Giovanni Miccoli: Fra mito della cristianità e secolarizzazione. Studi sul rapporto chiesasocietà nell’età contemporanea, Casale Monferrato 1985, S. 21–92. Vgl. Leo XIII.: Quod apostolici muneris (28. Dezember 1878), in: Acta Sanctae Sedis [ASS] 11 (1878), S. 372–379. Vgl. Leo XIII.: Rerum novarum (15. Mai 1891), in: ASS 23 (1890–1891), S. 641–670; zur Entstehung dieses Dokuments siehe Giovanni Antonazzi (Hg.): L’enciclica Rerum novarum. Testo autentico e redazioni preparatorie dai documenti originali, Roma 21991.
Deutsche und italienische Bischöfe der Kohorte Eberts
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Ausprägungen der katholischen Weltanschauung wie z. B. dem politischen und dem sozialen Katholizismus.
2. Die Bischöfe Deutschlands Die deutschen Geistlichen, die in den 1890er Jahren zum Priester geweiht wurden, wurden notwendigerweise vom Geist der Enzyklika »Rerum novarum« beeinflusst, die jedoch in Deutschland nicht das gleiche Gewicht wie in Italien besaß. Das gilt auch für die künftigen Bischöfe der Kohorte Eberts. Zu ihnen gehören z. B. Michael Faulhaber (1869–1952), Joannes Baptista Sproll (1870– 1949), Ludwig Maria Hugo (1871–1935) und Karl Joseph Schulte (1871–1941). Alle erhielten die Priesterweihe zwischen 1892 und 1895, also in den Jahren unmittelbar nach der Promulgation der sozialen Enzyklika Leos XIII. Faulhaber wurde 1910 zum Bischof von Speyer, 1917 zum Erzbischof von München und Freising, 1921 zum Kardinal ernannt;7 Sproll war ab 1916 Weihbischof und ab 1927 Bischof von Rottenburg;8 Hugo leitete von 1921 bis 1935 das Bistum
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Die vorhandene Literatur zu Faulhaber ist sehr umfangreich. Zu seiner Biographie siehe wenigstens Peter Pfister (Hg.): Michael Kardinal von Faulhaber (1869–1952). Beiträge zum 50. Todestag und zur Öffnung des Kardinal-Faulhaber-Archivs. Predigt und Vorträge, Ansprachen und Berichte, Regensburg 2002; ders.: »Für den Bischof ist die Seelsorge höchstes Gesetz«. Michael Kardinal von Faulhaber 1869–1952, in: Maria Anna Zumholz/Michael Hirschfeld (Hg.): Zwischen Seelsorge und Politik. Katholische Bischöfe in der NS-Zeit, Münster 2018, S. 513–526; Dominik Schindler: Der Kairos im Chronos der Geschichtlichkeit. Michael Faulhaber als Bischof von Speyer (1911–1917), Stuttgart 2018; Georg Schwaiger: Kardinal Michael von Faulhaber. Erzbischof von München und Freising (1917–1952), in: ders. (Hg.): Christenleben im Wandel der Zeit, Bd. 2, München 1987, S. 290–305; Ludwig Volk (Bearb.): Akten Kardinal Michael von Faulhabers 1917–1945, Bd. 1, Mainz 1975, S. XXXV–LXXXI (Lebensbild); ders.: Michael Kardinal von Faulhaber (1869–1952), in: Rudolf Morsey (Hg.): Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 2, Mainz 1975, S. 101–113; außerdem die digitale Edition seiner Tagebücher: https://www.faulhaber-edition.de/index.html [letzter Zugriff am 15. Mai 2023]. Zu Sproll vgl. Claus Arnold: Gesellschaftliche Konfliktlinien und katholische Mobilisierung im württembergischen Oberland. Ein kirchenhistorisches Koordinatensystem für die religiös-politische Sozialisation von Joannes Baptista Sproll, in: Edwin Ernst Weber u. a. (Hg.): Die Bischöfe Conrad Gröber und Joannes Baptista Sproll und der Nationalsozialismus, Ostfildern 2021, S. 86–96; Dominik Burkard: Joannes Baptista Sproll. Bischof im Widerstand, Stuttgart 2013; Paul Kopf: Joannes Baptista Sproll (1870–1949), in: Jürgen Aretz/Rudolf Morsey/Anton Rauscher (Hg.): Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 5, Mainz 1982, S. 104–117; ders./Max Miller (Hg.): Die Vertreibung von Bischof
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Mainz;9 Schulte wurde 1909 zum Bischof von Paderborn gewählt und 1920 auf den erzbischöflichen Stuhl von Köln transferiert: 1921 wurde er außerdem in das Kardinalskollegium berufen.10 Die Sozialisation dieser Bischöfe fand in den ersten Jahrzehnten des Deutschen Kaiserreichs statt. Für sie stellte der Bismarckʼsche Kulturkampf kein entscheidendes mentalitätsbestimmendes Moment mehr dar, wie das für die älteren Generationen von Katholiken der Fall gewesen war. Die akuteste Phase der Auseinandersetzung zwischen Kirche und Staat in den 1870er Jahren erlebten sie nicht bewusst, ferner hatte der Kulturkampf auch keine besonderen Auswirkungen auf ihre priesterliche Tätigkeit. Im Grunde ist festzustellen, dass er für sie nur indirekt mental prägend war. Zugleich aber trug der Kulturkampf maßgeblich zur Abgrenzung und Stabilisierung jenes katholischen Milieus bei, innerhalb dessen sich die Sozialisation der künftigen Bischöfe vollzog. Der Soziologe Mario Rainer Lepsius sprach bekanntlich von einem katholischen Milieu, das in der wilhelminischen Gesellschaft neben drei anderen Milieus stand, darunter dem sozioökonomisch und soziokulturell homogeneren sozialdemokratischen Milieu.11 Das Milieu vermittelte Werte und
Joannes Baptista Sproll von Rottenburg 1938–1945. Dokumente zur Geschichte des kirchlichen Widerstands, Mainz 1971; Jürgen Schmiesing: »Fortiter in Fide«. Joannes Baptista Sproll 1870–1949 – Bischof von Rottenburg 1927–1949, in: Zumholz/Hirschfeld (Hg.), Zwischen Seelsorge und Politik [wie Anm. 7], S. 461–489; Hubert Wolf: Die Affäre Sproll. Die Rottenburger Bischofswahl von 1926/27 und ihre Hintergründe, Ostfildern 2009. 9 Biografische Informationen über Hugo in [Karl Faustmann]: Dr. Ludwig Maria Hugo, Bischof von Mainz 1921–1935. Erinnerungen. Aufgezeichnet von einem Priester der Diözese Mainz, Mainz 1935; Ludwig Lenhart: Dr. Ludwig Maria Hugo (1871–1935). Ein theologisch-religiös markanter, den Nationalsozialismus frühzeitig durchschauender Rheinpfälzer auf dem Mainzer Bischofsstuhl (1921–1935), in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 18 (1966), S. 119–199. 10 Zur Biographie Schultes siehe Ulrich von Hehl: Artikel »Schulte, Karl Joseph«, in: Erwin Gatz (Hg.): Die Bischöfe der deutschsprachigen Ländern 1785/1803 bis 1945. Ein biographisches Lexikon, Berlin 1983, S. 680–682; ders.: Karl Joseph Kardinal Schulte (1871–1941), in: Jürgen Aretz/Rudolf Morsey/Anton Rauscher (Hg.): Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 10, Münster 2001, S. 61–73; Ulrich Helbach: Dienst im tiefen Ernst der Gegenwart. Karl Joseph Kardinal Schulte 1871–1941 – Erzbischof von Köln 1920–1941, in: Zumholz/Hirschfeld (Hg.): Zwischen Seelsorge und Politik [wie Anm. 7], S. 133–171. 11 Vgl. Mario Rainer Lepsius: Parteiensystem und Sozialstruktur: Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Wilhelm Abel u. a. (Hg.): Wirtschaft, Geschichte und Wirtschaftsgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Friedrich Lütge, Stuttgart 1966, S. 371–393.
Deutsche und italienische Bischöfe der Kohorte Eberts
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Wirklichkeitserklärungen: Es war jene soziale Einheit, in der die persönliche und gesellschaftliche Identitätsbildung der Milieuangehörigen stattfand.12 Die Sozialisation der Bischöfe der Kohorte Eberts wurde darüber hinaus von der Nationalisierung im Kaiserreich bzw. vom Integrationsprozess der katholischen Minderheit in den Nationalstaat beeinflusst, der sich zur Zeit des Ersten Weltkriegs vollendete. Dieser Prozess begann tatsächlich erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, das heißt nach der Beilegung des Kulturkampfes. Zur selben Zeit überholte die »rote« Gefahr den liberalen Staat in der Rangfolge der Bedrohungen für die katholische Kirche: Der deutsche Katholizismus erkannte damals seinen Hauptgegner in der Sozialdemokratie, und das Thema Sozialismus fand bei den deutschen Katholiken große Beachtung, auch infolge der Propagandaarbeit des 1890 gegründeten »Volksvereins für das katholische Deutschland«.13 Während des Pontifikats von Pius X. (1903–1914) wurde das katholische Deutschland durch den sogenannten »Gewerkschaftsstreit« innerlich gespalten, der den Gegensatz zwischen »Kölner« und »Berliner« Richtung bzw. zwischen zwei verschiedenen Auffassungen des Gewerkschaftswesens für Katholiken offenbarte. Im Mittelpunkt der Kontroverse stand die Frage, ob die katholischen Arbeiter zur Verfolgung ihrer materiellen Interessen legitimerweise interkonfessionellen, von der kirchlichen Autorität unabhängigen Gewerkschaften beitreten durften, oder ob sie sich dagegen nur in rein katholischen
12 Im Rahmen der wissenschaftlichen Debatte über das katholische Milieu sind vor allem folgende Studien zu nennen: Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte [AKKZG]: Katholiken zwischen Tradition und Moderne. Das katholische Milieu als Forschungsaufgabe, in: Westfälische Forschungen 43 (1993), S. 588–654; ders.: Konfession und Cleavages im 19. Jahrhundert. Ein Erklärungsmodell zur regionalen Entstehung des katholischen Milieus in Deutschland, in: Historisches Jahrbuch 120 (2000), S. 358–395; Michael Klöcker: Das katholische Milieu. Grundüberlegungen – in besonderer Hinsicht auf das Deutsche Kaiserreich von 1871, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 44 (1992), S. 241–262; Wilfried Loth: Integration und Erosion: Wandlungen des katholischen Milieus in Deutschland, in: ders. (Hg.): Deutscher Katholizismus im Umbruch zur Moderne, Stuttgart 1991, S. 266–281; ders.: Milieus oder Milieu? Konzeptionelle Überlegungen zur Katholizismusforschung, in: Othmar Nikola Haberl/Tobias Korenke (Hg.): Politische Deutungskulturen. Festschrift für Karl Rohe, Baden-Baden 1999, S. 123–136. 13 Zur antisozialistischen Tätigkeit des Volksvereins vgl. Horstwalter Heitzer: Der Volksverein für das katholische Deutschland im Kaiserreich 1890–1918, Mainz 1979; Gotthard Klein: Der Volksverein für das katholische Deutschland 1890–1933. Geschichte, Bedeutung, Untergang, Paderborn 1996.
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Vereinigungen unter der direkten Kontrolle des Klerus organisieren sollten.14 Die Mehrheit der Bischöfe – darunter Faulhaber in Speyer und Schulte in Paderborn – unterstützte die interkonfessionellen christlichen Gewerkschaften, nicht zuletzt wegen der ihnen zugeschriebenen Funktion als Damm gegen die Verbreitung des Sozialismus in den Arbeitermassen und Alternative zu den »freien« Gewerkschaften. Dem Papst teilte Schulte im Sommer 1912 mit, dass die mit den christlichen Gewerkschaften verbundenen katholischen Arbeitervereine die Sozialdemokraten in seiner Diözese viel wirksamer bekämpften als die »Berliner« Organisationen.15 Damals wies auch Faulhaber auf die Bedeutung der interkonfessionellen Gewerkschaften im Kampf gegen die »freien« Gewerkschaften hin und zeigte sich zugleich darum besorgt, dass der Sozialismus im Rahmen des innerkatholischen Streits der lachende Dritte sein könnte.16 Nach den Kriegsjahren stellte die Novemberrevolution von 1918 für die katholische Kirche in Deutschland einen echten Schock dar, umso mehr angesichts der damaligen Situation in Russland. In diesem Kontext beeilte sich der Episkopat, die Möglichkeit einer bevorstehenden »Entchristlichung« von Staat und Schule offen anzuprangern.17 Interessant zu bemerken ist, dass 1919 – also im Jahr der Weimarer Verfassung – nur vier amtierende Bischöfe zwischen 1866 und 1879 geboren worden waren (16,7 %): Wilhelm Berning (Osnabrück, *1877), Edmund Dalbor (Gnesen-Posen, *1869), Faulhaber (München und Freising) und Schulte (Paderborn). 45,8 % der Oberhirten gehörten der
14 Vgl. Rudolf Brack: Deutscher Episkopat und Gewerkschaftsstreit 1900–1914, Köln/ Wien 1976; Horstwalter Heitzer: Georg Kardinal Kopp und der Gewerkschaftsstreit 1900–1914, Köln 1983; Francesco Tacchi: Curia romana e Gewerkschaftsstreit. Prime considerazioni sull’origine dell’enciclica »Singulari quadam« (1912), in: Rivista di storia e letteratura religiosa 54,2 (2018), S. 351–388. 15 »Aperte et candide fateor, in meae jurisdictionis territorio societates operariorum catholicas syndicatibus christianis aggregatas contra socialistas et atheos multo felicius et efficacius pugnare quam societates operariorum ex Berolino directas«. Schulte an Pius X., 3. Juli 1912, in: Archivio Apostolico Vaticano [AAV], Segr. Stato, 1914, Rubr. 255, Fasz. 13, Bl. 74r–88v, hier Bl. 83r–83v; zur Stellung Schultes im Gewerkschaftsstreit siehe Wilfried Loth: Bischof Karl Joseph Schulte von Paderborn (1910–1920) und der Streit um die christlichen Gewerkschaften, in: Westfälische Zeitschrift 142 (1992), S. 345–360. 16 Vgl. Faulhaber an Pius X., 21. Juli 1912, in: AAV, Segr. Stato, 1914, Rubr. 255, Fasz. 13, Bl. 26r–28v. 17 Dazu vgl. Heinz Hürten: Die Kirchen in der Novemberrevolution. Eine Untersuchung zur Geschichte der Deutschen Revolution 1918/19, Regensburg 1984.
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Generation der »Wilhelminer« an,18 37,5 % waren sogar älter. Als die sozialdemokratische Parteiführergeneration Eberts die Fundamente der Weimarer Republik legte, stand ihr daher ein katholischer Episkopat gegenüber, der in seiner Mehrheit die gesamte Geschichte des Bismarckreichs bewusst erlebt hatte. Wenige Tage vor der Wahl zur Nationalversammlung im Januar 1919 erließ Bischof Schulte mit den anderen Oberhirten der niederrheinischen Kirchenprovinz einen gemeinsamen Hirtenbrief, der die Unvereinbarkeit von Sozialismus und Christentum verdeutlichte. Laut der Bischöfe glaubte die Sozialdemokratie »in den Wirrnissen der Gegenwart die Stunde für gekommen, um auch in katholische Volkskreise tiefer einzudringen«.19 Im Hirtenbrief kamen einige Topoi der katholischen Sozialismuskritik zum Ausdruck, die auch im italienischen Katholizismus auffindbar sind: Der Sozialismus sei eine Irrlehre, die auf dem Materialismus aufgebaut sei; er wolle die katholische Sittenlehre zertrümmern, die Schule verweltlichen und die christliche Ehe und Familie zerstören; schließlich gehe sein Plan, das Privateigentum zu beseitigen, gegen Gottes Anordnung. Daher sei der Sozialismus im Grunde »ein unversöhnlicher Gegner von Christentum und Kirche«.20 Die bischöflichen Vorbehalte gegen den neuen demokratischen Staat hingen nicht zuletzt von der wichtigen Rolle ab, welche die Sozialdemokratie in ihm spielte. Hinzu kam die Tatsache, dass er aus einem revolutionären Akt entstanden war, der zum Sturz der alten Herrscherhäuser geführt hatte. Die katholische Mentalität bevorzugte eindeutig die Ordnung gegenüber der Unordnung, die Tradition gegenüber der Neuerung. Zweifellos waren jedoch die Positionen im Episkopat, auch unter den Bischöfen der Kohorte Eberts, nicht undifferenziert. Schulte hegte beispielsweise keine erhebliche Aversion gegen den Weimarer Staat, im Gegensatz zu Faulhaber. Der Erzbischof von München war ein überzeugter Monarchist und erlebte die Novemberereignisse von 1918 mit tiefer Bestürzung.21 Auf dem Münchener Katholikentag von 1922 18 Diese Generation taxierte Martin Doerry bekanntlich auf die Jahrgänge 1853 bis 1865; vgl. Martin Doerry: Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs, München 1986. 19 Hirtenwort der Bischöfe der niederrheinischen Kirchenprovinz, 8. Januar 1919, in: Heinz Hürten (Bearb.): Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1918–1933, Bd. 1, Paderborn u. a. 2007, S. 47–50, hier S. 47. 20 Ebenda, S. 50. 21 Siehe dazu besonders Antonia Leugers: »Weil doch einmal Blut fließen muss, bevor wieder Ordnung kommt«. Erzbischof Faulhabers Krisendeutung in seinem Tagebuch 1918/19, in: Dies. (Hg.): Zwischen Revolutionsschock und Schulddebatte. Münchner Katholizismus und Protestantismus im 20. Jahrhundert, Saarbrücken 2013, S. 61–115.
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brandmarkte er die Revolution öffentlich als »Meineid und Hochverrat«, eine Aussage, von der sich der Präsident der Generalversammlung Konrad Adenauer (1876–1967) distanzieren wollte.22 Wenige Wochen später erläuterte Faulhaber dem Substituten im vatikanischen Staatssekretariat Giuseppe Pizzardo (1877– 1970) seine Absichten: Er habe nicht die republikanische Staatsform verdammt, die Revolution aber als eine Sünde gegen das vierte Gebot Gottes erklärt. Sie bleibe Unrecht.23 In der öffentlichen Äußerung vom Jahr 1922 kann man einen impliziten Angriff auf die Sozialdemokratie bzw. auf den Sozialismus als umstürzlerische Weltanschauung erkennen. Ein weiterer Beleg für Faulhabers Abneigung gegen die Weimarer Ordnung fällt mit seiner Weigerung zusammen, 1925 in der Erzdiözese München und Freising ein kirchliches Trauergeläute für den verstorbenen – und katholisch getauften – Reichspräsidenten Friedrich Ebert anzuordnen. Als der Erzbischof seine Entscheidung gegenüber dem Diözesanklerus begründete, bezeichnete er Ebert als »Mitglied und Führer einer politischen grundsätzlich religions- und kirchenfeindlichen Partei«.24 In den Anfangsjahren der Weimarer Republik beschäftigte sich der deutsche Episkopat mit dem Problem der seelsorglichen Behandlung derjenigen Katholiken, welche die Sozialdemokratie irgendwie unterstützten. Die Fuldaer Bischofskonferenz verabschiedete im August 1921 die »Winke betreffend Aufgaben der Seelsorger gegenüber glaubensfeindlichen Vereinigungen«, die für die Geistlichkeit bestimmt waren. An der Konferenz nahmen Schulte als Erzbischof von Köln, Faulhaber als Vertreter des bayerischen Episkopats und zum ersten Mal auch Hugo als Bischof von Mainz teil. Die Oberhirten sprachen ganz allgemein von »glaubensfeindlichen Vereinigungen«, doch waren die »Winke« in erster Linie für die Mitglieder der sozialdemokratischen Organisationen gedacht.25 Im darauffolgenden September wurden sie auch von der Freisinger Bischofskonferenz übernommen.26 Zum ersten Mal gab es also eine einheitliche
22 Vgl. Andreas Holzem/Antonia Leugers: Krieg und Frieden in München 1914–1939. Topographie eines Diskurses – Darstellung und Dokumente, Paderborn 2021, S. 295– 299; Ludwig Volk: Kardinal Faulhabers Stellung zur Weimarer Republik und zum NSStaat, in: Stimmen der Zeit 177 (1966), S. 173–195, besonders S. 177–179. 23 Vgl. Faulhaber an Pizzardo, 19. September 1922, in: Volk (Bearb.), Akten Kardinal Michael von Faulhabers [wie Anm. 7], Bd. 1, S. 278–280, besonders S. 278. 24 Faulhaber an die Pfarrämter, 3. März 1925, in: ebenda, S. 364–365, hier S. 364. 25 Vgl. Protokoll der Fuldaer Bischofskonferenz (23.–25. August 1921), in: Hürten (Bearb.), Akten deutscher Bischöfe [wie Anm. 19], Bd. 1, S. 341–356, besonders S. 351. 26 Vgl. Protokoll der Konferenz des bayerischen Episkopats (6.–7. September 1921), in: Volk (Bearb.), Akten Kardinal Michael von Faulhabers [wie Anm. 7], Bd. 1, S. 202–213, besonders S. 208–209.
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Stellungnahme des deutschen Episkopats bezüglich der Seelsorge für die dem Sozialismus nahestehenden Katholiken. Die »Winke« verboten den Gläubigen den Eintritt in sozialistische Parteien bzw. Vereinigungen und schlossen ausdrücklich die Verweigerung der Sakramente nicht aus. Zugleich legitimierten sie jedoch die Zusammenarbeit zwischen Zentrum und Sozialdemokratie auf der politischen Bühne, und zwar ad evitanda maiora mala (zur Vermeidung schlimmerer Übel). Bekanntlich bewegte sich die Zentrumspartei in den Jahren der Weimarer Republik zwischen den zwei Polen der ideologischen Auseinandersetzung mit dem Sozialismus einerseits und der parlamentarischen Zusammenarbeit mit seiner politischen Verkörperung andererseits.27 Für die deutschen Bischöfe konnte das sozialistische bzw. kommunistische Wirtschaftsmodell selbstverständlich keine Alternative zum kapitalistischen System darstellen. Letzteres wurde durch die sogenannten »Kölner Richtlinien« gerechtfertigt, die zwischen Dezember 1926 und Januar 1927 unter der Leitung von Kardinal Schulte erarbeitet wurden. Sie lehnten »irregeleitete und glaubensfeindliche Bestrebungen« ab, die auf eine Überwindung der Missbräuche im wirtschaftlichen Leben »durch eine rein mechanische Beseitigung der gegenwärtigen kapitalistischen Wirtschaftsordnung« abzielten. Laut der »Kölner Richtlinien« war der Kapitalismus, wenigstens theoretisch bzw. »technisch« berücksichtigt, vom christlichen Standpunkt aus nicht zu verwerfen; dagegen sollte aber seine Entartung in den »Mammonismus« bzw. die zügellose Gewinnsucht ohne Rücksicht auf das Schicksal der Arbeitnehmer verurteilt werden.28 Die wirtschaftliche Sphäre durfte nach der katholischen Auffassung von der religiös-sittlichen Dimension nicht getrennt werden. In den 1920er Jahren wuchs die Angst des deutschen Episkopats vor dem Bolschewismus, der zum »Kampfbegriff zur Identifizierung und Stigmatisierung religions- und kirchenfeindlicher Zielsetzungen« wurde.29 Diese Angst erreichte ihren Höhepunkt im Zusammenhang mit der schwierigen sozialen Lage nach der Weltwirtschaftskrise von 1929. In kirchlichen Kreisen entstand damals der Eindruck, dass der gottlose und materialistische Bolschewismus seinen Einfluss tatsächlich von Sowjetrussland auf andere Länder, einschließlich
27 Zum Thema vgl. Heinz Hürten: Deutsche Katholiken 1918–1945, Paderborn 1992, S. 49–62; Stefan Ummenhofer: Wie Feuer und Wasser? Katholizismus und Sozialdemokratie in der Weimarer Republik, Berlin 2003. 28 Soziale Richtlinien Schultes, 15. Dezember 1926, in: Hürten (Bearb.), Akten deutscher Bischöfe [wie Anm. 19], Bd. 2, S. 777–780, hier S. 779. 29 Horstwalter Heitzer: Deutscher Katholizismus und »Bolschewismusgefahr« bis 1933, in: Historisches Jahrbuch 113 (1993), S. 355–387, hier S. 355.
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Deutschland, ausdehnen könnte. Der Brief vom Februar 1930, in dem Papst Pius XI. (1922–1939) die Katholiken der Welt zu einem Kreuzzug des Gebetes (»crociata di preghiere«) gegen die Religionsverfolgung in Russland aufrief,30 gab der Mobilisierung der deutschen Katholiken gegen die »Bolschewismusgefahr« weiteren Auftrieb. Ab Sommer desselben Jahres interessierte sich die Fuldaer Bischofskonferenz – an der nun auch Bischof Sproll teilnahm – intensiv für diese Frage. Gleichzeitig waren die deutschen Oberhirten über die Entwicklung des Nationalsozialismus alarmiert, der ebenfalls als unchristliche Weltanschauung, und zwar als »brauner« Bolschewismus wahrgenommen wurde. Im September 1930 war das Mainzer Ordinariat von Hugo die erste bischöfliche Behörde, die den Katholiken die Mitgliedschaft in der nationalsozialistischen Partei verbot.31 Diese »Mainzer Position« stellte eine klare und kompromisslose Ablehnung der Hitler-Bewegung dar, so sehr, dass sie von Faulhaber als »für die praktische Seelsorge untragbar« betrachtet wurde.32 Darauf folgten in den ersten Monaten von 1931 gemeinsame Stellungnahmen deutscher Bischöfe, die den Nationalsozialismus aus einer religiös-sittlichen Perspektive verwarfen. Im Fe bruar wurde eine pastorale Anweisung des unter Faulhabers Leitung stehenden bayerischen Episkopats verabschiedet,33 dann im März die Kundgebungen der Bischöfe der Kölner Kirchenprovinz (angefangen von Schulte),34 der Paderbor-
30 Vgl. Acta Apostolicae Sedis [AAS] 22 (1930), S. 89–93, hier S. 93. 31 Dazu vgl. Lenhart, Dr. Ludwig Maria Hugo [wie Anm. 9], S. 181; außerdem die Dokumente in Sigrid Duchhardt-Bösken: Das bischöfliche Ordinariat Mainz und der Nationalsozialismus bis 1933. Eine Dokumentation, Mainz 1983. 32 Faulhaber an den bayerischen Episkopat, 6. Dezember 1930, in: Bernhard Stasiewski (Bearb.): Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933–1945, Bd. 1, Mainz 1968, S. 789–791, hier S. 789. 33 Vgl. Pastorale Anweisung des bayerischen Episkopates, 10. Februar 1931, in: ebenda, S. 806–809. 34 Vgl. Kundgebung der Bischöfe der Kölner Kirchenprovinz, 5. März 1931, in: ebenda, S. 814–818. Die Oberhirten behaupteten unter anderem: »Wir Bischöfe der Kölner Kirchenprovinz haben unserer Hirtenpflicht eingedenk durch eine eigene gemeinsame Kundgebung vom 8. Januar 1919 nachdrücklich und freimütig vor dem katholikenfeindlichen Sozialismus und damit auch vor dem aus ihm hervorgegangenen Kommunismus gewarnt und warnen heute mit unverändertem Nachdruck. Ebenso pflichtbewusst handeln wir jetzt, wenn wir unsere Diözesanen auf die mit der nationalsozialistischen Bewegung für katholisches Denken und Leben entstandene Gefahr aufmerksam machen und mahnend unsere Stimme erheben«. Ebenda, S. 815–816.
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ner Kirchenprovinz35 und schließlich der oberrheinischen Kirchenprovinz (diese wurde sowohl von Sproll als auch von Hugo unterzeichnet).36 Die damals von den Bischöfen formulierten pastoralen Grundsätze knüpften explizit an die bereits zuvor für den Sozialismus aufgestellten Richtlinien an. Im Sommer 1931 beschloss die Fuldaer Bischofskonferenz zudem, eine erweiterte, aktualisierte Neuauflage der »Winke« von 1921 zu veröffentlichen, in der es nun hieß: »Sinngemäß sind die vorstehenden Grundsätze wie auf den Sozialismus und Kommunismus, so auch auf den Nationalsozialismus anzuwenden«.37 Die deutschen Oberhirten, darunter jene der Kohorte Eberts, brachten den Rechtextremismus mit der Linken in Verbindung, da sie von einer Wesensverwandtschaft zwischen »rotem« und »braunem« Bolschewismus überzeugt waren. Nach Hitlers Machtergreifung 1933 entschied sich trotzdem der deutsche Episkopat bekanntlich für eine Neupositionierung im Verhältnis zum Nationalsozialismus, nicht zuletzt angesichts der stark antikommunistischen Ausrichtung des Dritten Reichs.38
3. Die Bischöfe Italiens Was die italienische Situation angeht, ist zunächst ein grundlegender Unterschied zum deutschen Kontext bezüglich der kirchlichen Geographie festzustellen. In Italien war die Zahl der Bistümer erheblich größer: Nach dem Ersten Weltkrieg betrug sie kaum weniger als dreihundert.39 Daher kann sich hier die Untersuchung einiger, wenn auch bedeutender Bischöfe der Kohorte Friedrich Eberts als nicht so aussagekräftig erweisen wie im deutschen Fall. Zu dieser Kohorte gehören u. a. Giovanni Cazzani (1867–1952), Gabriele Vettori 35 Vgl. Kundgebung der Bischöfe der Paderborner Kirchenprovinz, 10. März 1931, in: ebenda, S. 818–824. 36 Vgl. Kundgebung der Bischöfe der oberrheinischen Kirchenprovinz, 19. März 1931, in: ebenda, S. 824–828. 37 Winke der Fuldaer Bischofskonferenz (Cura impendenda), [5. August 1931], in: ebenda, S. 832–843, hier S. 838. 38 Vgl. dazu Andreas Wirsching: Antikommunismus als Querschnittsphänomen politischer Kultur, 1917–1945, in: Stefan Creuzberger/Dierk Hoffmann (Hg.): »Geistige Gefahr« und »Immunisierung der Gesellschaft«. Antikommunismus und politische Kultur in der frühen Bundesrepublik, München 2014, S. 15–28, besonders S. 27; Walter Ziegler: Die deutschen katholischen Bischöfe unter der NS-Herrschaft. Religiöses Amt und politische Herausforderung, in: Historisches Jahrbuch 126 (2006), S. 395–437, besonders S. 408–410. 39 Vgl. Annuario Pontificio per l’anno 1919, Roma 1919, S. 709–711.
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(1869–1947), Elia Dalla Costa (1872–1961) und Maurilio Fossati (1876–1965). Cazzani war von 1904 bis 1914 Bischof von Cesena, danach fast vierzig Jahre lang Bischof von Cremona in der Lombardei;40 Vettori wurde zunächst zum Bischof von Tivoli (1910), dann zum Bischof von Pistoia und Prato (1915) und schließlich zum Erzbischof von Pisa (1932) ernannt;41 Dalla Costa war von 1923 bis 1931 Bischof von Padua und von 1931 bis zu seinem Tod Erzbischof von Florenz: 1933 wurde er in das Kardinalskollegium berufen;42 Fossati, der zuerst das Bischofsamt in Sardinien ausübte, wurde ebenfalls 1931 zum Erzbischof von Turin und zwei Jahre später zum Kardinal ernannt.43 Diese Persönlichkeiten erhielten alle zwischen 1889 und 1898 die Priesterweihe. Gerade im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts erlebten sie das durch die Enzyklika »Rerum novarum« erzeugte kulturelle Klima, da das päpstliche Dokument einen entscheidenden Anstoß für das Interesse der italienischen Katholiken an der Arbeiterfrage und für ihre Mobilisierung auf sozialem Gebiet 40 Zur Biographie Cazzanis siehe besonders Andrea Foglia (Hg.): Giovanni Cazzani: la vita e l’episcopato cremonese. Nel cinquantesimo anniversario della morte (1952–2002), Cremona 2003; Natale Mosconi: Giovanni Cazzani. Vescovo della libertà, Rovigo 1961; Angelo Robbiati: Artikel »Cazzani, Giovanni«, in: Dizionario storico del movimento cattolico in Italia [DSMCI], Bd. 3/1, Casale Monferrato 1984, S. 206–207. 41 Zu Vettori vgl. Claudio Caponi: Artikel »Vettori, Gabriele«, in: DSMCI, Bd. 3/2, Casale Monferrato 1984, S. 889; Stefano Sodi: Gabriele Vettori e la pace, in: ders./Gianluca Fulvetti (Hg.): Abbiamo fatto quello che dovevamo. Vescovi e clero nella provincia di Pisa durante la Seconda guerra mondiale, Pisa 2009, S. 29–54; ders./Matteo Baragli: Vince in bono malum. Gabriele Vettori (1869–1947), un vescovo tra le due guerre, Pisa 2015. 42 Die wissenschaftliche Literatur über Dalla Costa ist verhältnismäßig reich: Siehe besonders Enrico Baruzzo: Obbedienza e parola. Vita e azione pastorale di Elia Dalla Costa, Roma 2020; Bruna Bocchini Camaiani: Ricostruzione concordataria e processi di secolarizzazione. L’azione pastorale di Elia Dalla Costa, Bologna 1983; Dies.: Un profilo pastorale di Elia Dalla Costa, in: Francesca Cavarocchi/Elena Mazzini (Hg.): La Chiesa fiorentina e il soccorso agli ebrei. Luoghi, istituzioni, percorsi (1943–1944), Roma 2018, S. 47–73; Dies.: Il cardinale Dalla Costa arcivescovo di Firenze 1931–1938, in: Francesco Margiotta Broglio (Hg.): La Chiesa del Concordato. Anatomia di una diocesi: Firenze 1919–1943, Bologna 1977, S. 285–335; Antonio Grossi: Il cardinale Dalla Costa vescovo di Padova (1872–1931), in: ebenda, S. 263–284. 43 Zu Fossati vgl. Giuseppe Boano: Un umile prete vestito di porpora (Card. Maurilio Fossati arcivescovo di Torino 1930–1965). Annotazioni biografiche, Vigone 1991; Giuseppe Tuninetti: Artikel »Fossati, Maurilio«, in: DSMCI, Bd. 3/1 [wie Anm. 40], S. 377–378; ders.: Strategie pastorali, guerra e Resistenza nella diocesi di Torino: l’opera dell’arcivescovo Maurilio Fossati e dei suoi principali collaboratori, in: Bartolo Gariglio/ Riccardo Marchis (Hg.): Cattolici, ebrei ed evangelici nella guerra. Vita religiosa e società 1939–1945, Milano 1999, S. 118–148.
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gab. Zugleich fand die Sozialisation der Bischöfe der Kohorte Eberts in der Zeit nach der nationalen Einigung statt, so dass das Ende des jahrhundertealten Kirchenstaates für sie keine prägende Erfahrung darstellte. Für die weltliche Macht der Päpste empfanden sie keine Nostalgie: Im Gegenteil wirkte die Entwicklung eines katholischen Patriotismus auf sie ein, der vor allem während des Ersten Weltkriegs öffentlich zum Ausdruck kam.44 Doch kann es nicht geleugnet werden, dass auch diese Bischöfe von einem starken Misstrauen gegenüber der liberalen Ordnung geprägt waren, die in der italienischen katholischen Kultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Ausgeburt der religions- und kirchenfeindlichen Freimaurerei dargestellt wurde. Die »Sekte« wird häufig in den Enzykliken Leos XIII. erwähnt.45 Die traditionelle Ablehnung des Säkularisationsprozesses kennzeichnete das Lehramt dieses Papstes, das die kirchliche Ausbildung der künftigen Bischöfe tief beeinflusste: Von Leo XIII. wurde aber eine solche Ablehnung nun mit der Aufforderung verbunden, sich der Errungenschaften der Moderne zu bedienen, um sie wirksamer zu bekämpfen und die Gesellschaft wieder zu verchristlichen. Dadurch entstand eine kulturelle Diskrepanz zwischen der Generation von Klerikern, die das »Trauma« des Risorgimento direkt erlebt hatte und auf eine klare Abschottung nach außen hin orientiert war, und den jüngeren, in der zweiten Hälfte der 1860er bzw. im Laufe der 1870er Jahre geborenen Geistlichen, die von der Bedeutung der Mobilisierung der katholischen Kräfte zum Zweck einer stärkeren Einflussnahme der Kirche auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens überzeugt waren. An der Jahrhundertschwelle wurde der Sozialismus auch im italienischen Katholizismus als ernstere Bedrohung als der Liberalismus und als Hauptkonkurrent bei der Organisation der arbeitenden Massen wahrgenommen. Im Gegensatz zur deutschen Sozialdemokratie war der italienische Sozialismus nicht nur durch eine beachtliche Verbreitung auf dem Lande, sondern auch durch einen heftigen Antiklerikalismus gekennzeichnet: Diesen prangerte Dalla Costa 1911 bei seinem Eintritt als Pfarrer in die Industrie- und Arbeitergemeinde Schio (in Venetien) an, indem er bemerkte, dass damals die katho44 Zur Position des italienischen Episkopats im Ersten Weltkrieg siehe Marcello Malpensa: I vescovi davanti alla guerra, in: Daniele Menozzi/Giuliana Procacci/Simonetta Soldani (Hg.): Un paese in guerra. La mobilitazione civile in Italia (1914–1918), Milano 2010, S. 295–315; Alberto Monticone: I vescovi italiani e la guerra 1915–1918, in: Giuseppe Rossini (Hg.): Benedetto XV, i cattolici e la prima guerra mondiale, Roma 1963, S. 627– 659. 45 Zum Thema siehe besonders Giovanni Miccoli: Leone XIII e la massoneria, in: Studi Storici 47,1 (2006), S. 5–64.
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lischen Priester »odiati, insultati, perseguitati« (»gehasst, beleidigt, verfolgt«) wurden.46 In den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts musste sich auch Vettori in seiner Pfarrei San Michele a San Salvi in Florenz mit den Aktivitäten von Sozialisten auseinandersetzen.47 Die Verurteilung des Sozialismus beruhte meist auf religiös-sittlichen Bewertungen und spiegelte die geringen sozialwirtschaftlichen Kenntnisse des italienischen Klerus wider. Dies wird auch durch den Hirtenbrief belegt, den der junge Bischof von Cesena Cazzani im Januar 1907 veröffentlichte, um seinen eigenen Standpunkt zur Agitation der Landarbeiter in seiner Diözese darzulegen. Das Schreiben fand ein nationales Echo und war von »Rerum novarum« deutlich beeinflusst.48 Cazzani forderte Landwirte und Grundbesitzer dazu auf, eine Verständigung auf der Basis des Dialogs zu finden. Laut dem Bischof stand die Berechtigung der Forderungen der Landarbeiter nach einer Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen nicht in Frage, dieser Zweck musste aber mit legalen Mitteln und auf friedliche Weise verfolgt werden. Für den Klassenkampf konnte es keinen Platz geben. Der Hirtenbrief von 1907 enthielt zugleich negative Anspielungen auf die Anhänger des Sozialismus. Von Cazzani wurden die Bauern unter anderem dazu ermahnt, auf diejenigen nicht zu hören, »che gridano contro la tirannia dei vostri padroni, e poi vogliono farvi schiavi di certe sette, che per farvi sperare un pane di più, ve lo fanno pagare […] col sacrificio della vostra coscienza, dell’anima vostra e di quella dei vostri figliuoli« (»die gegen die Tyrannei eurer Arbeitgeber protestieren und euch dann zu Sklaven gewisser Sekten machen wollen, die euch die Hoffnung auf mehr Brot […] mit dem Opfer eures Gewissens, eurer Seele und der Seele eurer Kinder bezahlen lassen«).49
46 Omelia nel giorno dell’ingresso a Schio, 21. Januar 1911, in: Vita e ministero sacerdotale negli scritti del Servo di Dio, il card. Elia Dalla Costa arcivescovo di Firenze, Firenze 1985, S. 18–26, hier S. 25; zur Wahrnehmung des Antiklerikalismus im italienischen Katholizismus am Anfang des 20. Jahrhunderts siehe Francesco Tacchi: The persecution of hatred. A study of the perception and interpretation of anticlericalism in Italian Catholicism (1904–1914), in: Rivista di storia del cristianesimo 16,2 (2019), S. 445–468. 47 Vgl. Sodi/Baragli, Vince in bono malum [wie Anm. 41], S. 24–29. 48 Zu diesem Hirtenbrief Cazzanis siehe Marino Mengozzi/Claudio Riva (Hg.): Mons. Giovanni Cazzani e la Lettera ai lavoratori della terra (1907), Cesena 2017. 49 Giovanni Cazzani: Nel Nome di Cristo – Ai lavoratori della terra – Ai proprietari – Al clero, prosperità e pace nella giustizia e nella carità, Cesena 1907, S. 8.
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Der Bischof von Cesena brachte damit die kulturelle Prägung des am Ende des 19. Jahrhunderts ausgebildeten Klerus zum Ausdruck, die Ausrichtung des Heiligen Stuhls war damals jedoch ganz anders als zur Zeit Leos XIII. Hauptanliegen des Pontifikats von Pius X. (1903–1914) war die Repression des sogenannten Modernismus – ein Begriff, mit dem man im Wesentlichen auf das Eindringen »moderner« Prinzipien innerhalb der katholischen Kirche verwies.50 Diese päpstliche Fokussierung auf das kirchliche Innenleben hatte wichtige Folgen für die Tätigkeit der italienischen Geistlichen, die davon abgehalten wurden, sich auf sozialem51 und politischem Gebiet einzusetzen. Das antimodernistische Klima und die Beschlüsse Pius’ X. in Bezug auf die Priesterausbildung führten zu einer kulturellen Kluft zwischen den Generationen: Die katholischen Priester, die zur Zeit der Modernismuskrise das Seminar besuchten, waren später durch Angst vor Neuerungen, eine geringe intellektuelle Neugier und eine starke Tendenz zur Folgsamkeit gegenüber den Autoritäten gekennzeichnet.52 Ihre Grundhaltung unterschied sich stark vom Modell des sozialen Pfarrers, das von Leo XIII. gefördert worden war. Auf den Ersten Weltkrieg, der von Papst Benedikt XV. (1914–1922) als eine göttliche Strafe für die Apostasie der modernen Gesellschaft ausgelegt wurde,53 folgte eine Zeit sehr heftiger Arbeiter- und Bauernunruhen, die in der italienischen Geschichtsschreibung als »Biennio Rosso« bekannt ist und vor allem Mittel- und Norditalien betraf.54 Gegenüber den sozialistischen Initiativen
50 Für eine Einführung zum Thema siehe Claus Arnold: Kleine Geschichte des Modernismus, Freiburg i. Br. 2007; Giovanni Vian: Il modernismo. La Chiesa cattolica in conflitto con la modernità, Roma 2012. 51 Seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und insbesondere nach der Verkündigung der Enzyklika »Rerum novarum« entwickelte sich auch in Italien ein katholisches Vereinswesen sozialer und wirtschaftlicher Art, das sehr oft eine ausdrückliche antisozialistische Zielsetzung verfolgte. Zielgruppen waren sowohl die Land- als auch die Fabrikarbeiter, zum Beispiel mit Hilfsvereinen auf Gegenseitigkeit und Kooperativen. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts entstand außerdem ein katholisches Gewerkschaftswesen. Für eine Einführung zum Thema und weitere bibliografische Hinweise vgl. Tacchi: Katholischer Antisozialismus [wie Anm. 3], S. 380–416. 52 Vgl. Maurilio Guasco: Storia del clero in Italia dall’Ottocento a oggi, Roma/Bari 1997, S. 154 f., auf denen der Autor spricht von »paura delle novità, pochi stimoli intellettuali, spesso una vera e propria diffidenza verso lo studio, una spiritualità piuttosto individuale, una forte tendenza all’ossequio dell’autorità«. 53 Vgl. Daniele Menozzi: Chiesa, pace e guerra nel Novecento. Verso una delegittimazione religiosa dei conflitti, Bologna 2008, S. 15–46. 54 Vgl. dazu Giuseppe Maione: Il biennio rosso. Autonomia e spontaneità operaia nel 1919–1920, Bologna 1975.
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blieben die Bischöfe der Kohorte Eberts selbstverständlich nicht gleichgültig, sondern sie brachten oft ihren entschiedenen, auf dem katholischen Lehramt beruhenden Antisozialismus zum Ausdruck. In der Diözese Pistoia und Prato, wo die sozialistische Bewegung tief verwurzelt war, unterstützte Bischof Vettori 1919/1920 die Forderungen der Halbpächter und richtete »Uffici del lavoro« (»Arbeitsbüros«) ein, die die Streitigkeiten zwischen Kapital und Arbeit schlichten sollten. In seinem Hirtenbrief vom März 1920 bezeichnete er die Gottvergessenheit als den großen Irrtum des Jahrhunderts: Diese Vergessenheit führe dazu, dass jeder nach materiellen Gütern beharrlich strebe und zugleich die geistlichen Güter vernachlässige. Die sozialen Unruhen würden eine zügellose Aufsässigkeit beweisen und Hass gegen die Autorität erregen. Vettori äußerte damit seine Ablehnung des Materialismus, der vor allem den Anhängern des Sozialismus zugeschrieben wurde.55 Ebenfalls 1920 erklärte Cazzani, der nun Bischof von Cremona war, dass die katholische Kirche jene Organisationen und jene Organisatoren verurteile, die den Massen ein »concetto materialistico della vita« (»eine materialistische Lebensauffassung«) vermitteln und den Klassenhass in den Seelen nähren.56 Der »sozialistische Geist« (»spirito socialistico«) wurde von ihm als Geist »di materialismo, di sensualità, di odio sociale, di ribellione all’autorità« (»des Materialismus, der Sinnlichkeit, des sozialen Hasses, der Rebellion gegen die Autorität«) bezeichnet.57 Während sich der deutsche Episkopat in der Nachkriegszeit kollektiv mit dem Problem der seelsorglichen Behandlung der Sozialisten beschäftigte, so geschah dies in Italien nicht. Die wirtschaftliche und politische Lage war keineswegs identisch. Abgesehen davon, gestaltete sich eine einheitliche Initiative angesichts der hohen Anzahl von Diözesen und des Fehlens einer nationalen Bischofskonferenz als durchaus schwierig. Auf der italienischen Halbinsel gab es damals nur Regionalkonferenzen, die überdies kaum mehr als Transmissionsriemen zwischen Zentrum und Peripherie der katholischen Kirche dienten. Der einzige gemeinsame Bezugspunkt für alle Bischöfe war der Papst: Der Heilige Stuhl realisierte die Einheit unter ihnen und leitete sie nach der römischen Grundausrichtung.58 Dieses Element stellt einen wichtigen Unterschied zur
55 Vgl. Sodi/Baragli, Vince in bono malum [wie Anm. 41], S. 106. 56 Scritti pastorali di S. E. Mons. Giovanni Cazzani arcivescovo di Cremona, Cremona 1952, S. 160. 57 Ebenda, S. 161. 58 Zu diesem Punkt vgl. Andrea Riccardi: Pio XI e l’episcopato italiano, in: Achille Ratti, pape Pie XI. Actes du colloque de Rome (15–18 mars 1989), Roma 1996, S. 529–548, besonders S. 530–532.
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deutschen Situation dar und erklärt sich natürlich auch aus der historischkulturellen Abhängigkeit vom Papsttum, welche die italienische Kirche in besonderer Weise charakterisierte. Der Heilige Stuhl selbst beeinflusste tiefgreifend die allgemeine Haltung der italienischen Bischöfe zum Faschismus.59 Schon in den ersten Monaten seiner Regierung gab Benito Mussolini (1883–1945) den ursprünglichen Antiklerikalismus der »Fasci«-Bewegung auf und schaffte die Voraussetzungen für die spätere Politik der Verständigung und Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche. Papst Pius XI. befürwortete seinerseits eine »religiöse« und apolitische Linie für die Katholische Aktion. Elia Dalla Costa, der wenige Monate nach dem Marsch auf Rom (1922) zum Bischof von Padua ernannt wurde, verkörperte das vom Papst gewünschte bischöfliche Modell angesichts der Faschisierung der italienischen Gesellschaft besonders gut. Im Mittelpunkt seines Episkopats standen der Religionsunterricht, der eucharistische Kult und die Förderung der Katholischen Aktion als Mittel der religiösen und moralischen Erziehung der Jugend.60 Dieser »Rückzug« in die rein religiöse Sphäre war ein charakteristisches Merkmal der italienischen Kirche während der 1920er Jahre. Der Klerus wandte sich von seiner Tätigkeit auf sozialem und vor allem auf politischem Gebiet ab. Der Heilige Stuhl wollte sich des Faschismusʼ für eine katholische »Wiedereroberung« der italienischen Gesellschaft, für die Konfessionalisierung des Staates bedienen: ein Ziel, das sich am Ende als illusorisch erwies, doch im Moment der Lateranverträge vom Februar 1929 konkret erreichbar schien. Dalla Costa, Fossati, Vettori und Cazzani begrüßten dieses Ereignis mit großer Befriedigung, ebenso wie die anderen italienischen Prälaten. Der Bischof von Cremona verabschiedete damals sogar einen Hirtenbrief mit dem Titel »La pace d’Italia« (»Der Friede Italiens«), in dem er behauptete, dass das Abkommen zwischen Pius XI. und Mussolini die
59 Zum Verhältnis des Vatikans zum italienischen Faschismus siehe wenigstens Lucia Ceci: L’interesse superiore. Il Vaticano e l’Italia di Mussolini, Roma 2013; Alberto Guasco: Cattolici e fascisti. La Santa Sede e la politica italiana all’alba del regime (1919–1925), Bologna 2013; Pietro Scoppola: La Chiesa e il fascismo. Documenti e interpretazioni, Bari 1971. 60 Vgl. Enrico Baruzzo: Elia Dalla Costa e il fascismo italiano (1923–1943), in: Raffaella Perin (Hg.): Pio XI nella crisi europea. Atti del colloquio di Villa Vigoni, 4–6 maggio 2015, Venezia 2016, S. 141–156; Antonio Grossi: Il vescovo Dalla Costa e la diocesi di Padova nel primo decennio fascista. Dagli atti delle due visite pastorali (1924, 1931), in: Paolo Pecorari (Hg.): Chiesa, Azione Cattolica e fascismo nell’Italia settentrionale durante il pontificato di Pio XI (1922–1939), Milano 1979, S. 730–748.
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Francesco Tacchi
Einheit und Integrität des italienischen Vaterlandes endlich zu einer tatsächlichen Vollendung gebracht habe.61 Dem Interesse der katholischen Kirche für eine Zusammenarbeit mit dem faschistischen Regime und für die Überwindung von kulturpolitischen Spannungen lagen auch andere Faktoren zugrunde: Einerseits waren kulturelle Aspekte des Faschismus der katholischen Mentalität gemein, andererseits wurde er als wirksamer Damm gegen die sozialistische Bewegung gesehen. Während seines Episkopats in Padua machte sich Dalla Costa weniger Gedanken über den Faschismus als über das mögliche Wiederauftauchen des glaubensfeindlichen Sozialismus.62 Und in der Tat brachte der Faschismus mit seinen Gewalttaten und repressiven Maßnahmen die sozialistische Bewegung auf der italienischen Halbinsel zum Schweigen. In den 1920er Jahren stellte sie also kein dringendes Problem mehr für den Episkopat und den Klerus dar. In Mai 1931 promulgierte Papst Pius XI. die Sozialenzyklika »Quadragesimo anno«, die unter anderem die lehramtliche Verurteilung des Sozialismus und des Kommunismus wiederholte und gleichzeitig auf die Unmöglichkeit hinwies, guter Katholik und Sozialist zu sein.63 Erst wenige Wochen später entstand der Konflikt zwischen dem Vatikan und dem Regime Mussolinis wegen der Auflösung der Jugendorganisationen der Katholischen Aktion. In diesem Kontext nahmen die italienischen Bischöfe der Kohorte Eberts gegen die faschistischen Übergriffe Stellung, darunter der neue Erzbischof von Turin Fossati, der sich dann über die Beilegung des Streits freute.64 Gute Beziehungen zwischen Staat und Kirche bestanden seitdem bis zum Ende der 1930er Jahre.
4. Schlussbemerkungen Ist es abschließend möglich, von einem Generationenspezifikum der deutschen und italienischen Bischöfe der Kohorte Eberts zu sprechen, was ihre Haltung zur sozialistischen Bewegung angeht? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten: Darüber hinaus ist große Vorsicht geboten, da eingehende Studien zu Generationen im katholischen Episkopat bzw. Klerus sowohl in Italien als
61 Vgl. Giovanni Cazzani: La pace d’Italia. Trattato e Concordato del Laterano, Cremona 1929, S. 16. 62 Vgl. Baruzzo, Elia Dalla Costa [wie Anm. 60], S. 144 f. 63 Vgl. Pius XI.: Quadragesimo anno (15. Mai 1931), in: AAS 23 (1931), S. 177–228. 64 Zu Fossati und dem Streit von 1931 vgl. Mariangiola Reineri: Cattolici e fascismo a Torino 1925/1943, Milano 1978, S. 137–164.
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auch in Deutschland noch ein Desiderat sind. Trotzdem lässt sich mit gewisser Sicherheit sagen, dass der Antisozialismus im Allgemeinen für diese Bischöfe ein ausgeprägterer kultureller Zug als für jene der früheren Generationen war. An der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert stellte der Sozialismus den weltanschaulichen Hauptgegner für die deutschen und die italienischen Katholiken dar. Damals wurden die jungen Kleriker von einem in der katholischen Kultur auf verschiedenen Ebenen verbreiteten antisozialistischen Diskurs stark beeinflusst, der ihre Mentalität lebenslang prägen sollte. Zugleich ist jedoch auf einige Umstände hinzuweisen, die die Feststellung einer Besonderheit der untersuchten Bischöfe innerhalb der jeweiligen Episkopate in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschweren. Einerseits ermöglichte in Deutschland die kleine Anzahl von Bistümern und die Existenz zweier gut strukturierter Bischofskonferenzen (das heißt der Fuldaer und der Freisinger Bischofskonferenz) mit weitreichenden Aufgaben, den Bischöfen, gemeinsame Richtlinien zum Sozialismus zu erarbeiten, die eine Synthese zwischen den verschiedenen Befindlichkeiten und generationellen Erfahrungen darstellten. Andererseits darf im Fall Italiens das entscheidende Gewicht des päpstlichen Lehramts für die theoretische und praktische Orientierung der einzelnen Oberhirten nicht unberücksichtigt bleiben. Aus diesen Gründen ist es nicht einfach – und vielleicht auch nicht angebracht –, das antisozialistische Handeln der Bischöfe der Kohorte Eberts aus dem allgemeinen Kontext des deutschen bzw. italienischen Episkopats herauszulösen. Die vergleichende Untersuchung der Situation in den beiden Nationen bringt zudem einen deutlichen Unterschied in Bezug auf die 1920er Jahren zum Vorschein: Während sich die italienischen Bischöfe damals in ihren Diözesen mit dem Sozialismus bzw. Kommunismus nicht mehr auseinandersetzten mussten, bildeten die verschiedenen »glaubensfeindlichen« Weltanschauungen in der Weimarer Republik einen ernsten Alarmfaktor für den Episkopat. Schließlich trug die rote Gefahr in beiden Ländern dazu bei, dass die Bischöfe einen Modus Vivendi mit den totalitären Regimen suchten.
Till Kössler
Generation und Konflikt im spanischen Sozialismus der Zwischenkriegszeit
Im Jahr 1935 publizierte der links-sozialistische Intellektuelle und Politiker Luis Araquistáin in der von ihm gegründeten Monatszeitschrift »Leviatán« einen polemischen Aufsatz zum Zustand des spanischen Sozialismus, in dem er drei Generationen sozialistischer Politiker unterschied.1 Einer Gründergeneration um den charismatischen Parteiführer des »Partido Socialista Obrero Español« (PSOE), Pablo Iglesias (*1850), gebühre der Verdienst, die spanischen Arbeiter mit dem Marxismus vertraut gemacht zu haben. An diese heroische Generation und ihre revolutionären Werte knüpfe in der Gegenwart eine durch die russische Revolution geprägte dritte, junge Generation an. Diese arbeite nach Gründung der Zweiten Republik im April 1931 an einer sozialistischen Umgestaltung Spaniens. Während Araquistáin diese beiden Generationen mit großer Sympathie beschrieb, kritisierte er eine mittlere Generation scharf, die Anfang der 1930er Jahre die wichtigsten Positionen in der PSOE und der mit ihr eng verbundenen Gewerkschaft »Unión General de Trabajadores« (UGT ) einnahm. Diese Generation, so die Kritik, sei in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg durch liberales Gedankengut infiziert worden und habe sich in der Folge von der Arbeiterklasse entfernt. Sie habe nach Einführung der Demokratie versagt, tatsächlichen politischen und sozialen Wandel herbeizuführen und die Lage der arbeitenden Bevölkerung in Stadt und Land zu verbessern, obwohl sie wichtige Staatsämter bekleidete. Araquistáins Analyse darf selbstverständlich nicht als wissenschaftliche Studie verstanden werden. Sie war vielmehr Teil eines politischen Richtungsstreits innerhalb der sozialistischen Partei in den frühen 1930er Jahren. Die PSOE war nach dem Rücktritt des Diktators Miguel Primo de Rivera im Jahr 1930 ein Bündnis mit republikanischen Parteien eingegangen, die vor allem ein laizistisch eingestelltes städtisches Bürgertum vertraten, um Spanien in eine Republik zu überführen. Tatsächlich triumphierte ein sozialistisch-republikanisches Wahlbündnis bei hastig einberufenen Lokalwahlen im April 1931, in deren Folge 1
Luis Araquistáin: Los socialistas en el primer bienio, in: Leviatán, Bd. 3, Nr. 12–19, Mai–Dez. 1935, S. 346.
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die Zweite Republik ausgerufen wurde. Zwischen 1931 und 1933 stellte das Bündnis dann auch die erste Regierung der neuen Republik mit einer ganzen Anzahl von Sozialisten als Ministern.2 Gegen diese Zusammenarbeit und Regierungsbeteiligung richtete sich jedoch bald schon innerparteiliche Kritik, die ausbleibende Reformerfolge monierte und eine wahrhaft revolutionäre, über die Grenzen der politischen Ordnung der Republik hinausweisende Politik forderte. In der Folgezeit konnte ein Bruch zwischen beiden Strömungen nur mit äußerster Mühe verhindert werden.3 Wenn er somit nicht als zuverlässige Beschreibung politischer Wirklichkeit verstanden werden darf, so erweist sich der Text Araquistáins doch als aufschlussreich für die historische Analyse. Er gibt nicht nur einen Hinweis darauf, dass spanische Sozialisten in der Zwischenkriegszeit Politik auch in Kategorien von Generationalität fassten – wobei der Begriff der Generation allerdings kaum theoretisch reflektiert wurde.4 Vielmehr stellt er auch die Bedeutung einer »mittleren« Generation für die Politik der Partei in der Zwischenkriegszeit und besonders in den kritischen Jahren der Zweiten Republik und des Spanischen Bürgerkriegs heraus. Dieser Befund wird durch die neuere historische Forschung gedeckt. Der spanische Historiker Julio Aróstegui hat argumentiert, dass von einer ersten Gründergeneration der um 1850 Geborenen sehr deutlich eine zweite Generation von Sozialisten unterschieden werden könne, die zumeist in den 1880er Jahren geboren wurden, wobei auch einige ältere Parteiführer mit Geburtsjahrgängen um 1870 zu dieser Generation gezählt werden müssen.5 Tatsächlich entstammte fast das gesamte Spitzenpersonal der sozialistischen Partei der frühen 1930er Jahre dieser Geburtskohorte. Der 2
Zur Epoche sieh: Walther L. Bernecker: Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 119–135; Julián Casanova: The Spanish Republic and Civil War, Cambridge 2010, S. 7–149; Stanley Payne: Spain’s First Democracy. The Second Republic 1931–1936, Madison/Wi 1993. 3 Helen Graham: The Spanish Republic at War 1936–1939, Cambridge 2002, S. 43–78; Victor Manuel Arbeloa: El quiebro del PSOE (1933–1934). Bd. 1: Del gobierno a la revolución, Madrid 2015. 4 Eine Geschichte generationeller Zuschreibungen und Selbstbeschreibungen im spanischen Sozialismus der Zwischenkriegszeit kann hier nicht geleistet werden. Siehe aber als Ansatzpunkte: Manuel Cordero: La reunión del Comité de la UGT, »El Socialista«, 7.2.1932; Luis Araquistáin: La crisis del Socialismo, »El Socialista«, 1.5.1933; Final del discurso de nuestro camarada Prieto, »El Socialista«, 2.5.1936. 5 Julio Aróstegui: Largo Caballero. El tesón y la quimera, Barcelona 2013, S. 55 f.; auch der Historiker Paul Heywood spricht von einer »second generation« von Sozialisten: Marxism and the Failure of Organised Socialism in Spain 1879–1936, Cambridge 2003, S. 25.
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erste Arbeitsminister der Republik und langjährige Vorsitzende der UGT, Francisco Largo Caballero, war Jahrgang 1869 und damit ein fast unmittelbarer Altersgenosse Friedrich Eberts. Nach Beginn des Bürgerkrieges übernahm er im September 1936 für ein knappes Jahr das Amt des Regierungschefs der Republik.6 Julián Besteiro, der nach dem Tod von Pablo Iglesias im Jahr 1925 die Parteiführung der PSOE übernahm und 1931 zum Präsidenten des spanischen Parlaments gewählt wurde, war Jahrgang 1870. Der erste republikanische Justiz- und spätere Bildungsminister sowie Botschafter in den USA, Fernando de los Ríos, war mit seinem Geburtsjahr 1879 etwas jünger, ebenso wie der Gewerkschafter und spätere Abgeordnete Manuel Cordero Pérez (*1881) und der Wirtschaftsminister und bedeutende Parteiführer Indalecio Prieto (*1883). Auch Politiker und Intellektuelle wie Luis Araquistáin selbst (*1886), der Jurist und Strafrechtsreformer Luis Jiménez de Asúa (*1889) oder auch der letzte Ministerpräsident der Republik im Bürgerkrieg Juan Negrín (*1892) können noch zu den »mittleren« Geburtsjahrgängen derjenigen gezählt werden, welche die sozialistische Politik nach 1931 maßgeblich mitgestalteten.7 Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie ihre ersten politischen Erfahrungen in der Restaurationsmonarchie vor dem Ersten Weltkrieg machten. Sie unterschieden sich damit deutlich von einer großen Gruppe von Sozialisten, die erst seit den 1920er Jahren der Partei beigetreten waren.8 Lassen sich nun vor diesem Hintergrund typische politische Lebenswege sowie generationsspezifische politische Auffassungen und Handlungsformen identifizieren, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, von einer »mittleren« Generation spanischer Sozialisten und vielleicht sogar von einer politischen Generation der »1880er« in Spanien zu sprechen? Oder anders gefasst: Was kann ein generationshistorischer Zugang zu einer Geschichte des spanischen Sozialismus zwischen den Weltkriegen beitragen? Diese Fragen sollen im Folgenden diskutiert werden. Dabei werden zunächst Argumente diskutiert, die tatsächlich oder vermeintlich gegen die Betonung von Generation in der Geschichte des spanischen Sozialismus sprechen (I.). In einem zweiten Schritt 6 7
Julio Aróstegui, Largo Caballero [wie Anm. 5]. Enrique Moradiellos: Negrín. Una biografía de la figura más difamada de la España del siglo XX, Barcelona 2006; Gabriel Jackson: Juan Negrín. Médico, socialista y jefe del Gobierno de la II República Española, Barcelona 2009. 8 Biographische Angaben finden sich in Heywood, Marxism [wie Anm. 5]; Helen Graham: Socialism and War. The Spanish Socialist Party in Power and Crisis, Cambridge 1991; Santos Juliá: Historia del Socialismo español, Bd. 3 1931–1939, Barcelona 1989; Arbeloa, Quiebro [wie Anm. 3], S. 17–21; eine generationelle Unterteilung der vor 1900 geborenen Sozialisten nimmt Julio Aróstegui vor: Largo Caballero [wie Anm. 5], S. 56 f.
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sollen im Anschluss die Vorteile eines generationshistorischen Zugangs herausgestellt werden (II.) und am Ende der Blick zugleich über das Spitzenpersonal auch auf die weitere Mitgliedschaft gerichtet werden (III.). Das Generationenkonzept ist in der spanischen Geschichte und Geschichtsschreibung nicht unbekannt. Im Unterschied zur deutschen Geschichte wird der Begriff jedoch hauptsächlich kultur- und literaturhistorisch verwendet, kaum dagegen zur Bezeichnung politischer Kohorten. In der Literaturgeschichte ist der Begriff der »goldenen Generation« für eine Gruppe herausragender Schriftsteller der Frühen Neuzeit ebenso fest etabliert wie die Bezeichnung der »generación del 27« für eine Gruppe modernistischer Künstler, deren prominentester Vertreter Federico García Lorca war. Oft wird auch die Künstlergeneration Spaniens im frühen 20. Jahrhundert als »silberne Generation« bezeichnet.9 Kultur- und ideenhistorische Arbeiten haben vor allem die Niederlage Spaniens im Krieg gegen die USA im Jahr 1898 als eine generationenbildende Zäsur herausgestellt und sprechen von einer »Generation von 98«, die nach der Niederlage eine grundlegende Kritik spanischer »Dekadenz« formulierte und über Mittel und Wege einer nationalen Regeneration nachdachte.10 Dieser »Generation von 98« wird dann häufig eine »Generation von 1914« um José Ortega y Gasset und von »1927« an die Seite gestellt, die ebenfalls das »Problem Spanien« verhandelten und auf eine Europäisierung der spanischen Kultur und Gesellschaft setzten.11 In der politischen Geschichte hat demgegenüber eher das wirkungsmächtige Deutungsmuster der »zwei Spanien« Verbreitung gefunden, dass eine politisch-weltanschauliche Polarisierung in zwei antagonistische Lager als Grundtatsache der spanischen Geschichte seit dem 19. Jahrhundert behauptet.12 Allerdings verwenden Historikerinnen und
9 Siehe nur Felipe Díaz Pardo: Breve historia de la generación del 27, Madrid 2018. 10 Martin Franzbach: Die Hinwendung Spaniens zu Europa. Die generación del 98, Darmstadt 1988; zum weiteren Kontext Vicente L. Salavert Fabiani/Manuel Suárez Cortina (Hg.): El regeneracionismo en España. Política, educación, ciencia y sociedad, Valencia 2007. 11 Manuel Menéndez Alzamora: La Generación del 14. Una aventura intellectual, Madrid 2006; Francisco José Martín (Hg.): Intelectuales y reformistas. La generación de 1914 en España y América, Madrid 2014. 12 Santos Juliá: Historias de las dos Españas, Madrid 2004; Manuel Suárez Cortina: Sociedad, Cultura y Política en la España de entre Siglos, in: ders./Vicente L. Salavert Fabiani: El Regeneracionismo en España, Valencia 2007, S. 21–46; José Alvarez Junco: Mater Dolorosa. La idea de Espana en el Siglo XIX, Madrid 2001.
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Historiker öfter den Begriff der Generation zur Beschreibung von politischen Gruppen, ohne ihn jedoch in der Regel weiter zu diskutieren.13
I. Vor diesem historiographischen Hintergrund spricht zunächst einiges gegen den Versuch, durch das Konzept der Generation neue Aufschlüsse über den spanischen Sozialismus zu erhalten. Insbesondere drei Argumente sprechen zunächst gegen die Verwendung des Generationenbegriffs im Allgemeinen und die These einer »1870er«-Generation im Speziellen. Erstens lassen sich deutliche politisch-weltanschauliche Differenzen zwischen den sozialistischen Politikern der »mittleren« Generation ausmachen. So standen etwa die beiden prominenten Parteiführer Largo Caballero und Besteiro, die beide fast im selben Jahr geboren worden waren, Mitte der 1930er Jahre für zwei grundlegend unterschiedliche politische Optionen, die sich um die Parlamentsfraktion und die UGT gruppierten.14 Largo Caballero führte einen radikalen Flügel an, der nach dem Scheitern der ersten sozialistisch-bürgerlichen Koalitionsregierung jegliche weitere Zusammenarbeit mit den republikanischen Parteien aufgeben wollte und nun auf die Bildung einer sozialistischen Einheitsregierung unter Einschluss der Kommunisten drang. Nur diese würde in der Lage sein, mit der Hilfe weitreichender Sozial- und Wirtschaftsreformen die desolate Lage der städtischen und ländlichen Unterschichten langfristig zu verbessern. In der Forschung ist es zwar umstritten, inwieweit Largo Caballero und seine Mitstreiter tatsächlich bereit waren, ihre revolutionäre Rhetorik in die Praxis umzusetzen. Es steht aber fest, dass sie der Partei- und Gewerkschaftsarbeit ein höheres Gewicht als der Parlamentsarbeit zuwiesen. Im Zweifelsfall überwogen die Interessen und die Zukunft der sozialistischen Bewegung eine Regierungsbeteiligung und die Sicherung der parlamentarischen Demokratie.15 Demgegenüber verteidigten »Reformisten« wie Besteiro und de los Ríos auch nach 1933 die Zusammenarbeit mit den links-bürgerlichen Parteien. Sie sahen 13 So spricht etwa Julián Sanz Hoya in einem Überblick über die Geschichte des Faschismus in Spanien von einer »36-Generation«: Falangismo y dictadura. Una revisión de la historiografía sobre el fascismo español, in: Miguel Angel Ruiz Carnicer (Hg.): Falange, las culturas políticas del fascismo en la España de Franco (1936–1975), Saragossa 2013, S. 25–60, hier S. 55. 14 Graham, Socialism [wie Anm. 8], S. 15–52; Paul Preston: The Origins of the Socialist Schism in Spain 1917–31, in: Journal of Contemporary History 12 (1977), S. 101–132. 15 Graham, Socialism [wie Anm. 8], S. 16.
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eine Regierungsbeteiligung als Voraussetzung dafür an, langfristig Reformziele zu erreichen. Zugunsten einer Stabilisierung des republikanischen Regimes waren sie bereit, marxistische Glaubenssätze zurückzustellen.16 Die Konflikte zwischen den Flügeln und ihren jeweiligen politischen Strategien erreichten einen Höhepunkt nach dem gescheiterten Aufstand vom Oktober 1934, mit dem die politische Linke unter maßgeblicher Beteiligung der Sozialisten einen Eintritt der rechts-katholischen CEDA-Partei in die Regierung abwehren und damit, so die Rechtfertigung, einen spanischen Faschismus verhindern wollte. Der Aufstand brach jedoch in den meisten Landesteilen schnell zusammen. Nur in der Bergbauregion Asturiens war er für einige Wochen erfolgreich, bevor er mit enormer Brutalität niedergeschlagen wurde. Diese Niederlage bildete in der Folgezeit den Ausgangspunkt für erbitterte Flügelkämpfe in der sozialistischen Bewegung über die Lehren des Aufstands und die zukünftige politische Strategie.17 Zweitens lassen sich nicht nur grundlegende politische Differenzen innerhalb der »mittleren« Generation erkennen. Vielmehr zeichnen sich die einzelnen politischen Lebensläufe ihrer Angehörigen oftmals durch politische Positionswechsel aus, die zunächst gegen die These generationstypischer politischer Grundüberzeugungen zu sprechen scheinen. Die politische Karriere Largo Caballeros kann diesen Punkt verdeutlichen. Der gelernte Stukkateur schloss sich in jungen Jahren der Gewerkschaft und Partei in Madrid an und stieg bald zu einem einflussreichen Gewerkschaftsführer und sozialistischen Politiker auf.18 Nach dem Beginn der Militärdiktatur Primo de Riveras im Jahr 1923 gehört er zu denjenigen Parteiführern, die nicht den Weg von Opposition und Widerstand wählten, sondern sich zu einer Zusammenarbeit mit der Rechtsdiktatur als einem vermeintlich kleineren politischen Übel bereit erklärten – zumal er ein tiefes Misstrauen gegen die bürgerlichen Republikaner und ihre politische Loyalität hegte. Er nahm sogar einen Posten in den neuen industriellen Schlichtungsstellen der Diktatur an. Largo wollte Gewerkschaft und Partei vor einer Zerschlagung schützen und zugleich ihren Handlungsspielraum erweitern und die rechtliche Stellung der Arbeiter stärken. Die Mitwirkung in
16 Graham, Spanish Republic [wie Anm. 3], S. 62–64. 17 Casanova, Spanish Republic [wie Anm. 2], S. 105–112; Gabriel Jackson (Hg.): Octubre 1934. Cincuenta años para la reflexión, Madrid 1985. 18 Zur Biographie: Aróstegui, Largo Caballero [wie Anm. 5]; Fransisco Largo Caballero: Mis recuerdos. Cartas a un amigo, Mexico 1976; siehe auch Paul Heywood: The Labour Movement in Spain before 1914, in: Richard Geary (Hg.): Labour and Socialist Movements in Europe before 1914, Oxford, 1989, S. 231–260.
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der Ausgestaltung einer neuen Arbeitsgesetzgebung und des industriellen Schlichtungswesens schienen in dieser Hinsicht Möglichkeiten eines Ausbaus der sozialistischen Bewegung zu bieten, die zu nutzen waren.19 Während er somit in den 1920er Jahren gewissermaßen als »rechter« Sozialist auftrat, der eine Zusammenarbeit mit einem rechts-autoritären Diktator nicht scheute, verfocht er wenige Jahre später nach dem Scheitern der ersten sozialistischrepublikanischen Regierung 1933 eine radikale, revolutionäre Position, die ihm sogar den Spitznamen eines »spanischen Lenin« eintrug.20 Er war eine der treibenden Kräfte hinter dem Aufstand im Oktober 1934 und setzte sich in den folgenden Jahren vehement für ein Wahlbündnis mit der Kommunistischen Partei ein. Als Regierungschef der Republik im Bürgerkrieg berief er Kommunisten und, bis dahin undenkbar, Anarchisten in seine Regierung.21 Der historischen Forschung hat dieser politische Richtungswechsel und die Radikalisierung Largo Caballeros in den 1930er Jahren immer wieder Rätsel aufgegeben. Der prominente Zeithistoriker Santos Juliá hat dabei sogar die These aufgestellt, es habe nach 1933 »zwei Largos« gegeben, einen radikalverbalen Volkstribun und einen gemäßigten, vorsichtigen Gewerkschaftsführer.22 Umgekehrt hatte Indalecio Prieto, einer der wichtigsten innerparteilichen Kontrahenten Largos und nur unwesentlich jünger als dieser, eine Zusammenarbeit mit der Diktatur strikt abgelehnt, da er einen Prestigeverlust der Partei befürchtete. In den 1930er Jahren repräsentierte er dann – seine ursprüngliche Unterstützung der »Oktoberrevolution« von 1934 einmal ausgeklammert – eine politische Fraktion innerhalb der PSOE, die auf eine Politik der parlamentarischen Bündnispolitik setzte.23 Ein drittes Argument scheint gegen das Konzept einer sozialistischen »1880er«-Generation in Spanien zu sprechen: Die »mittlere« Generation zeichnete sich durch Unterschiede in der sozialen Herkunft und in den politi-
19 Heywood, Marxism [wie Anm. 5], S. 85–107; Eduardo González Calleja: La España de Primo de Rivera. La modernización autoritaria 1923–1930, Madrid 2005; Alejandro Quiroga: Making Spaniards. Primo De Rivera and the Nationalization of the Masses 1923–30, Basingstoke 2007; Karin Nowak: Spanien zwischen Diktatur und Republik. Korporatismus, organisierte Interessen und staatliche Sozialpolitik 1919–1936, Essen 2004. 20 J. F. Fuentes: Largo Caballero, el Lenin español, Madrid 2005. 21 Helen Graham, Spanish Republic [wie Anm. 3], S. 131–138. 22 Santos Juliá: Largo Caballero y la lucha de tendencias, in: Enzo Collotti (Hg.): L’lnternazionale Operaia e Socialista tra le due guerre, Mailand 1985, S. 857–885, hier S. 858. 23 Heywood, Marxism [wie Anm. 5], S. 86; Graham, Socialism [wie Anm. 8], S. 16 f. u. 25 f.
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schen Sozialisationswegen aus. Largo Caballero und andere waren über eine frühe Lohnarbeit und die Gewerkschaftsbewegung zur Partei gestoßen und verfügten in der Regel nur über eine Elementarbildung. Largo, dessen Eltern sich früh getrennt hatten, musste schon mit sieben Jahren die Schule wieder verlassen, um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Noch als Kind trat er nach mehreren Aushilfstätigkeiten in das Baugewerbe ein.24 Demgegenüber hatte eine andere Gruppe späterer Parteiführer wie Besteiro, de los Ríos und Jiménez de Asúa einen bürgerlichen Hintergrund. Sie hatten studiert und waren erst später, nach 1910, als Erwachsene zur sozialistischen Partei gestoßen. Besteiro, der wie Largo Caballero aus Madrid stammte, hatte an der dortigen Universität, aber auch an der Sorbonne in Paris sowie in München, Leipzig und Berlin studiert, und trat erst im Jahr 1912 als Philosophieprofessor der PSOE bei, nachdem er zuvor vier Jahre Mitglied der liberalen radikal-republikanischen Partei gewesen war.25 Der Weg von Fernando de los Ríos zum organisierten Sozialismus ähnelte auf verblüffende Weise demjenigen Besteiros. Er stammte aus einer bürgerlichen Militärfamilie, studierte in Madrid Rechtswissenschaften und wurde nach Forschungsaufenthalten an der Sorbonne und in Deutschland 1907 mit einer Arbeit zur Politischen Philosophie Platons promoviert. Erst nachdem er eine Professur in Granada angetreten hatte, und nach einer kurzen Mitgliedschaft in der liberalen »Reformpartei«, schloss er sich 1918 der Sozialistischen Partei an, in der er dann schnell Karriere machte.26 Die Unterschiede in der sozialen Herkunft, der Bildungswege und der politischen Sozialisationsschritte rücken somit Gemeinsamkeiten des Geburtsjahrgangs als Faktor politischer Überzeugungen und politischer Handlungsstile zunächst in den Hintergrund. Lebenswege und politische Einstellungen der führenden Sozialisten unterschieden sich trotz ähnlicher Geburtsjahrgänge deutlich. Generation stellt sich in dieser Hinsicht als ein nachgeordneter Faktor der Geschichte von PSOE und UGT dar.
24 Largo Caballero: Mis recuerdos [wie Anm. 18], S. 17; Aróstegui, Largo Caballero [wie Anm. 5], S. 56–67. 25 Heywood, Marxism [wie Anm. 5], S. 25 u. S. 33. 26 Octavio Ruiz-Manjón: Fernando de los Ríos. Un intelectual en el PSOE, Madrid 2007; Gregorio Cámara Villar (Hg.): Fernando de los Ríos y su tiempo, Granada 2000; siehe auch María Cruz Galindo López: Los intelectuales socialistas en el primer bienio de la II República: Reforma o revolución. Proyecto educativo, Phil. Diss. Universidad Complutense de Madrid 2016.
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II. Im Folgenden soll dennoch argumentiert werden, dass ein generationshistorischer Blick bisher weniger thematisierte Facetten sozialistischer Politik zu erhellen vermag. Insbesondere werden jenseits der oben beschriebenen politischen Positionswechsel wichtige Kontinuitäten von Weltdeutungen und politischen Strategien sichtbar, die eine Analyse einzelner politischer Stellungnahmen und Auseinandersetzungen leicht übersieht. Die uns in der Retrospektive oft schwer verständliche Politik führender Sozialisten in den entscheidenden Jahren der Zweiten Republik kann durch wichtige Sozialisationserfahrungen und generationelle Auseinandersetzungen erklärt werden. Erstens lassen sich im Spanien der Zwischenkriegszeit deutliche Umrisse politischer Generationskohorten auf der politischen Linken erkennen. Es fällt auf, dass die führenden sozialistischen Politiker Anfang der 1930er Jahre im Durchschnitt ein bis zwei Jahrzehnte älter waren als die Führer der anarchistischen Bewegung, der großen Konkurrentin um Rückhalt in der Arbeiterschaft. Die meisten führenden Anarchisten der Vorbürgerkriegszeit wie Buenaventura Durruti (*1896), Ángel Pestaña (*1896), Francisco Ascaso (*1901), Juan García Oliver (*1901) oder Federica Montseny (*1905) waren kurz vor oder sogar nach 1900 geboren und somit bei Ausrufung der Zweiten Republik kaum älter als 30 Jahre. Ihre ersten politischen Erfahrungen machten sie in der Krise des Restaurationsregimes nach den turbulenten Ereignissen des Jahres 1917.27 Demgegenüber waren, wie oben ausgeführt, nur wenige führende Sozialisten der Vorbürgerkriegszeit nach 1890 geboren. Dazu gehörte der letzte Regierungschef der Republik im Bürgerkrieg, Juan Negrín (*1892), und es ist bezeichnend, dass er erst im Bürgerkrieg eine prominente politische Rolle übernahm.28 Zweitens lassen sich jenseits der tagespolitischen Auseinandersetzungen wichtige Ansichten und politische Strategien identifizieren, die über die politischen Umbrüche hinweg stabil blieben und als generationsspezifisch angesprochen werden können. Ein generationshistorischer Zugang gewinnt besonders dann an Plausibilität, wenn man von zwei parallelen sozialistischen Generationsgruppen der in den 1870er und frühen 1880er Jahren Geborenen ausgeht. Die oben akzentuierten Unterschiede zwischen der Gruppe um Largo 27 Julián Casanova: Anarchism, the Republic, and Civil War in Spain 1931–1939, London 2005; ders.: De La Calle Al Frente. El Anarcosindicalismo en España (1931–1939), Barcelona 1997; Abel Paz: Durruti. Leben und Tod des Spanischen Anarchisten, Hamburg 2003. 28 Jackson, Juan Negrín [wie Anm. 7]; Moradiellos, Negrín [wie Anm. 7].
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Caballero auf der einen Seite und Prieto und de los Ríos auf der anderen Seite sprechen dann nicht gegen die Berücksichtigung der Kategorie der Generation, sondern für ihre Differenzierung. Mit Karl Mannheim lässt sich argumentieren, dass sich innerhalb der sozialistischen Bewegung zwei Generationseinheiten herausbildeten, die jeweils unterschiedliche Antworten auf die kollektiven Problemlagen eines gemeinsamen Generationszusammenhangs gaben. Die Generationseinheiten, die in wichtiger Weise auch durch Selbstzuschreibungen ihrer Angehörigen konstituiert wurden, zogen aus den Krisenerfahrungen der Jahrhundertwende jeweils unterschiedliche Schlüsse. Ein solchermaßen differenzierter generationshistorischer Blick vermag für beide Gruppen von Sozialisten einerseits jeweils spezifische Sozialisationserfahrungen aufzudecken, die helfen, ihre politisches Handeln in den 1930er Jahren zu erklären. Zugleich werden andererseits aber auch einige wichtige Gemeinsamkeiten zwischen ihnen sichtbar. Die Biographie Largo Caballeros soll hier stellvertretend für eine wichtige Gruppe von Sozialisten erörtert werden, die über die Gewerkschaftsarbeit zur sozialistischen Partei fand und durch die spezifische Struktur der spanischen Gewerkschaftsbewegung geprägt wurde. Die frühe sozialistische Bewegung in Spanien war wesentlich ein Zusammenschluss unterschiedlicher Gewerkschaftsbünde, die jeweils spezifische Branchen und Regionen repräsentierten und erst langsam eine überregionale Führung ausbildeten. Auch auf der lokalen Ebene war die sozialistische Gewerkschaftsbewegung föderativ als Zusammenschluss von Berufsverbänden organisiert. Wichtige Zentren des frühen Sozialismus waren insbesondere die Bergarbeiterbewegung in Asturien, die Metallverarbeitung und Werftindustrie im Baskenland sowie das Madrider Baugewerbe, in dem Largo Caballero seine ersten gewerkschaftlichen Erfahrungen machte. Die überwiegende Mehrheit der sozialistischen Gewerkschafter und Parteiführer entstammte diesen drei Regionen und Branchen.29 Der ausgeprägte regionale und branchenspezifische Charakter der sozialistischen Bewegung wurde durch die Konkurrenz mit einer einflussreichen anarcho-syndikalistischen Bewegung verstärkt, die einer Ausbreitung der sozialistischen Partei in neue Branchen und Regionen wichtige Hürden in den Weg legte. In vielerlei Hinsicht kam es zu einer Teilung des Landes und der Wirtschaftsbranchen zwischen den beiden Bewegungen. So waren die Sozialisten in der wichtigen Industrie-
29 Juliá, Largo Caballero [wie Anm. 22], S. 861 f.; Heywood, Labour Movement [wie Anm. 18], mit jeweils weiteren Literaturhinweisen.
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region Katalonien sowie in den ländlichen Gegenden im spanischen Süden, beides Hochburgen der Anarchisten, zunächst nur sehr schwach vertreten.30 Diese spezifische Struktur der sozialistischen Bewegung hatte wichtige Folgen. Sie legte einen politischen Habitus nahe, der die Stärkung lokaler und regionaler Organisation sowie gewerkschaftliche Fragen wie die von Entlohnung und Arbeitsrecht in den Mittelpunkt politischer Arbeit stellte, während übergreifende nationale und politische Fragen im Hintergrund standen. Diese politikdistanzierte Orientierung wurde im Falle Largo Caballeros und seiner Mitstreiter durch widersprüchliche Erfahrungen mit dem politischen Regime der Restaurationsmonarchie gefördert. Spanien war seit 1874 eine parlamentarische Monarchie und hatte 1890 sogar das freie und gleiche Männerwahlrecht eingeführt. Es besaß mit der Konservativen und der Liberalen Partei zwei nationale politische Kräfte, die in Wahlen um Mehrheiten und die Regierung rangen. In der Praxis war das System jedoch viel weniger demokratisch, als es zunächst den Anschein hat. Mit der Ausnahme einiger Großstädte wurden die Wahlergebnisse von lokalen »Kaziken«, also wohlhabenden und politisch einflussreichen Notablen, in der Regel so manipuliert, dass sie die jeweils gewünschte Form innerhalb des sogenannten turno-Systems annahmen, das eine jeweils alternierende Regierung von Konservativen und Liberalen vorsah.31 Dieses System war ersonnen worden, um die spanische Gesellschaft nach Jahrzehnten bürgerkriegsähnlicher Unruhen zu befrieden und sicherte dem Land tatsächlich für eine längere Zeit politische Stabilität. Es geriet allerdings nach 1900 angesichts neuer politischer Massenbewegungen in eine Krise und fand schließlich mit dem Putsch des Generals Primo de Rivera im Jahr 1923 sein Ende. Das System hatte jedoch hohe Kosten in der Hinsicht, dass es den Parlamentarismus und Wahlen in den Augen vieler Spanier dauerhaft diskreditierte und die Herausbildung einer parlamentarischen Kultur der
30 Adrian Shubert: A Social History of Modern Spain, London 1990, S. 116–132; Walther L. Bernecker: Arbeiterbewegung und Sozialkonflikte im Spanien des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1993. 31 Pedro Tavares Almeida/Javier Moreno Luzón: The politics of representation. Elections and parliamentarism in Portugal and Spain 1875–1926, Brighton 2018; Ramón Villares: Alfonso XII y su Regencia 1875–1902, in: ders./Javier Moreno Luzón: Restauración y Dictadura (Historia De España, Bd. 7) Barcelona 2009, S. 3–305, hier S. 96–120; Stephen Jacobsen/Javier Moreno Luzón: The political system of the Restoration, 1875– 1914. Political and social elites, in: José Alvarez Junco/Adrian Shubert (Hg.): Spanish History since 1808, London 2003, S. 93–109.
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Verhandlung und des Kompromisses verhinderte.32 Die geringe politische Bedeutung von Wahlen bewirkte auch unter vielen Sozialisten eine Skepsis gegenüber dem parlamentarischen System. Im Falle Largo Caballeros lässt sich eine Geringschätzung des Parlamentarismus und eine emotionale Distanz gegenüber den verschiedenen politischen Regimen Spaniens im frühen 20. Jahrhundert deutlich nachweisen. Er beurteilte die politische Ordnung hauptsächlich danach, inwieweit sie Gewerkschaft und Partei legale Handlungsspielräume eröffnete und ihnen eine Mitsprache in arbeitsrechtlichen Fragen und der Gestaltung der industriellen Beziehungen einräumte. Die Einführung und Verteidigung demokratischer Institutionen spielten gegenüber diesen Zielen, die auf einen langfristigen Übergang zu einer sozialistischen Ordnung gerichtet waren, nur eine untergeordnete Rolle.33 Diese politischen Erfahrungen und Überzeugungen helfen den politischen Positionswechsel Largo Caballeros von der Unterstützung der Diktatur Primo de Riveras hin zum Kurs einer Einheitsfront der Arbeiterparteien in den 1930er Jahren zu erklären. Soweit die Militärdiktatur PSOE und UGT Handlungsspielräume ließ und sie sogar in die Gestaltung der industriellen Beziehungen einband, erschien sie als ein zu ertragendes Übel. Dies war auch deshalb der Fall, weil die bürgerlichen Republikaner PSOE und UGT in den Arbeitskämpfen des Jahres 1917 weniger unterstützt hatten, als diese sich erhofft hatten, wodurch es zu Vorhaltungen und Misstrauen gekommen war.34 Auch nach Gründung der Republik wurde die politische Ordnung vornehmlich danach beurteilt, inwieweit sie der sozialistischen Bewegung die Realisierung ihrer Ziele erlaubte. Nach der Übernahme der Regierung durch eine Rechtskoalition im Jahr 1933 sah Largo Caballero diese Spielräume bedroht, und er unterstützte deshalb revolutionäre Aufstandspläne. Die demokratische und parlamentarische Ordnung als solche, die er marxistisch als Form bürgerlicher Herrschaft und als Durchgangsstadium zum Sozialismus verstand, erschien ihm nicht verteidigungswürdig. Diejenigen Parteiführer, die wie de los Ríos und Besteiro aus bürgerlichen Familien stammten und sich zumeist erst nach 1910 der PSOE zuwandten, entwickelten ein anderes politisches Weltverständnis. Ihr Denken und Handeln wurde insbesondere durch zwei Einflüsse geprägt. Zunächst entfaltete das so32 Javier Moreno Luzón: Modernizing the Nation. Spain during the Reign of Alfonso XIII 1902–1931, Brighton 2012, S. 82–86. 33 Juliá: Largo Caballero [wie Anm. 22], S. 862 f. 34 Siehe auch José Andrés Gallego: El socialismo durante la Dictadura 1923–1930, Madrid 1977.
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genannte Freie Bildungsinstitut (ILE), eine der wichtigsten Kultureinrichtungen Spaniens der Jahrhundertwende, einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf sie wie auch auf ein weiteres liberal-progressives Bürgertum.35 Das in Madrid beheimatete ILE arbeitete unter der Leitung seines Gründers Francisco Giner de los Ríos seit 1876 an einer geistigen und moralischen Erneuerung Spaniens auf der Grundlage einer säkularen, ethisch-humanistischen Bildung und entwickelte sich rasch zum spirituellen Zentrum bürgerlich-progressiver Gesellschaftsreformen. Diese Bestrebungen zogen auch spätere Sozialisten wie Besteiro und de los Ríos an, die auch durch verwandtschaftliche Kontakte mit der Leitung des ILE verbunden waren. Sie prägten in der Folge einen ethischen Sozialismus aus, der viele Ähnlichkeiten mit der Fabian Society in England aufwies und sich zugleich deutlich von einem ökonomisch argumentierenden Marxismus abhob.36 Sie standen damit links-bürgerlichen Kreisen, die sich seit dem 19. Jahrhundert in einer Vielzahl republikanischer Gruppierungen organisierten, habituell näher als den Industriearbeitern, welche die UGT hinter sich versammelte. De los Ríos gehörte sogar als ranghohes Mitglied einer Freimaurer-Loge an.37 Im Jahr 1930 bildete diese Nähe zu progressiven bürgerlichen Kreisen die Grundlage für den sogenannten Pakt von San Sebastián, in dem sich republikanische Organisationen und die PSOE zum gemeinsamen Kampf gegen die Diktatur und für die Republik zusammenschlossen. Es ist kein Zufall, dass der Parteiflügel um Largo Caballero dieser Zusammenarbeit misstrauisch gegenüberstand.38 Die Krise von 1898 und die ihr folgenden Erneuerungsdebatten, die als Regenerationismus bezeichnet werden, stellten einen weiteren wichtigen Einflussfaktor auf diese zweite sozialistische Generationskohorte dar.39 Verfechter des Regenerationismus, wie der Jurist und Politiker Joaquín Costa, bilanzierten eine grundlegende Korruption der spanischen Gesellschaft und Politik, die
35 Zur Geschichte und Wirkung des ILE siehe Antonio Jiménez-Landi: La Institución Libre de Enseñanza y su Ambiente (4 Bde.), Madrid 1996; Franziska Schichtl: La Institución Libre de Enseñanza (1876–1936). Eine spanische Bildungseinrichtung. Zur Erneuerung der Pädagogik und ihre Auswirkungen auf das heutige spanische Schulsystem, Phil. Diss., Frankfurt 1991. 36 Heywood, Marxism [wie Anm. 5], S. 20 f.; siehe auch Antonio Rivera García: Regeneracionismo, Socialismo y Escepticismo en Luis Araquistáin, in: Arbor. Ciencia, Pensamiento y Cultura 739 (2009), S. 1019–1034. 37 Aróstegui, Largo Caballero [wie Anm. 5], S. 199. 38 Juliá, Largo Caballero [wie Anm. 22], S. 864. 39 Als vorzügliche Darstellung der Epoche siehe Moreno Luzón, Modernizing [wie Anm. 32].
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nur durch einschneidende Maßnahmen politischer und sozialreformerischer Erneuerung behoben werden könnte. Sie forderten eine neue Politik, die sie in Analogie zur Medizin als soziale Chirurgie verstanden und die wesentlich auch als eine Hinwendung zu Nord-West-Europa verstanden wurde.40 Regenerationistisches Denken und die Kritik an der Restaurationsmonarchie waren dabei nicht unbedingt mit einem Eintreten für eine parlamentarische Republik verbunden, auch wenn viele Regenerationisten sich für diese einsetzten. Die angestrebte Modernisierung und Europäisierung konnten durchaus auch mit der Sehnsucht nach einem »eisernen Chirurgen« einhergehen, einem charismatischen Herrscher, der das Land auf autoritärem Wege erneuerte. Auch viele Anhänger einer Republik sahen in der Staatsform vor allem ein effizientes Mittel, eine umfassende Europäisierung und soziale Erneuerung voranzutreiben, und weniger eine pluralistische Ordnung zum Ausgleich unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen.41 Der Eindruck von zwei klar umrissenen politisch-habituellen Lagern in der PSOE muss mit Verweis auf Übereinstimmungen, etwa in der instrumentellen Sicht auf die republikanische Staatsform sowie auf Zwischenpositionen relativiert werden. Indalecio Prieto stellt hierfür ein gutes Beispiel dar. Er hatte sich als Parteijournalist aus bescheidenen Verhältnissen durch Selbststudium emporgearbeitet und teilte damit biographische Erfahrungen mit Largo Caballero. Zugleich nahm er über seine Tätigkeit als Journalist und Parteitheoretiker viele ähnliche kulturelle Einflüsse auf wie de los Ríos und Besteiro, denen er in den frühen 1930er Jahren näherstand als Largo Caballero.42 Die Unterschiede zwischen den beiden Gruppierungen der »1880er«-Generation sollten nicht überzeichnet werden. Gleichwohl werden zwei biographische und intellektuelle Karrierewege innerhalb der tonangebenden Generation des spanischen Sozialismus der 1920er und 1930er Jahre sichtbar, die den Zusammenhalt der Bewegung zutiefst belasteten.
40 Eric Storm: La Perspectiva del Progreso. Pensamiento Político en la España del Cambio de Siglo (1890–1914), Madrid 2001; Juan Pan Montojo/José Alvarez Junco: Más Se Perdió En Cuba. España, 1898 y la Crisis de Fin de Siglo, Madrid 1998. 41 Heywood, Marxism [wie Anm. 5], S. 115–117; José Alvarez Junco: Los Intelectuales: Anticlericalismo y Republicanismo, in: José Luis García Delgado (Hg.): Los Orígenes Culturales de la II. República, Madrid 1993, S. 101–126; Nigel Townson (Hg.): El Republicanismo en España 1830–1977, Madrid 1994. 42 Juliá, Largo Caballero [wie Anm. 22], S. 866; Luis Sala: Indalecio Prieto. República y socialismo (1930–1936), Madrid 2016.
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III. Eine Untersuchung von Sozialismus und Generation in Spanien griffe zu kurz, wenn sie sich alleine auf die Ebene der Spitzenfunktionäre beschränken würde. Vielmehr müssen die politischen Auseinandersetzungen in der sozialistischen Führung auf generationelle Erfahrungen in einer weiteren spanischen Arbeiterschaft bezogen werden. Die sozialistische Politik reagierte immer auch auf Veränderungen in der Mitgliedschaft und damit einhergehende neue Forderungen. Die Gewerkschaftsführer um Largo Caballero vertraten zunächst die Erfahrungen urbaner Arbeiter in einer ersten Industrialisierungsphase im 19. Jahrhundert, die sie selbst teilten. Mit dem Ersten Weltkrieg tat sich jedoch ein Erfahrungsbruch zwischen der nun etablierten Führungsschicht von UGT und PSOE und einer neuen Kohorte von Arbeitern auf, die seit den 1920er Jahren in Partei und Gewerkschaft eintraten. Nach 1914 setzte eine neue Welle der Land-Stadt-Migration ein, die auch dadurch befördert wurde, dass im Weltkrieg Auslandsmigration erschwert wurde. Eine neue Generation von Arbeitern versuchte, ländlichem Elend und Perspektivlosigkeit in den großen Latifundiengebieten des Südens zu entkommen und siedelte in größere Städte über, wo sie Anstellungen als Tagelöhner und ungelernte Hilfsarbeiter suchten und oftmals einer sozialistischen Gewerkschaft beitraten. Anders als eine ältere Gewerkschaftsgeneration war sie aber mental und materiell weniger mit einer bestimmten Branche verbunden und erlebte Anfang der 1930er Jahre die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise mit voller Wucht.43 Zugleich gelang es den Sozialisten nach Einführung der Republik, erstmals auch Landarbeiter in Andalusien, Kastilien-La Mancha und der Extremadura in großem Umfang gewerkschaftlich zu organisieren, die sich von der sozialistischen Bewegung eine schnelle und durchgreifende Landreform erhofften.44 Diese »neuen« Arbeiter ließen die Mitgliedszahlen von UGT und PSOE sowie auch die sozialistischen Wahlergebnisse rapide ansteigen. Hatte die PSOE bei den Parlamentswahlen von 1910 lediglich 45.000 Wählerstimmen erhalten, zählte sie im Jahr 1919 immerhin schon 42.000 Mitglieder, während die UGT 211.000 Mitglieder vertrat.45 1930 zählte dann alleine die neue sozia-
43 Shubert, Social History [wie Anm. 30], S. 81–101; Bernecker, Geschichte [wie Anm. 2], S. 94 f.; Joseph Harrison: The Spanish Economy in the Twentieth Century, London 1985. 44 George Allen Collier: Socialists of Rural Andalusia. Unacknowledged Revolutionaries of the Second Republic, Stanford 1987; Edward Malefakis: Agrarian Reform and Peasant Revolution in Spain. Origins of the Civil War, New Haven 1970. 45 Heywood, Marxism [wie Anm. 5], S. 28 u. S. 61.
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listische Landarbeitergewerkschaft »Federación Nacional da Trabajadores de la Tierra« (FNTT ) 277.000 Mitglieder, die in 1.734 Sektionen organisiert waren. Die PSOE konnte nach starken Mitgliederverlusten in den ersten Jahren der Diktatur ihre Mitgliedschaft von etwa 8.000 Anfang 1928 auf knapp 82.000 im Jahr 1932 steigern.46 Diese neuen Arbeitergruppen brachten neue Erfahrungen und politische Vorstellungen in die sozialistische Bewegung ein. Ihr agrarischer Hintergrund und geringe formale Bildung bedingten eine habituelle Distanz zu den bürgerlich-akademisch sozialisierten Sozialisten, deren sozialreformerische, auf langfristigen Wandel zielende Orientierung ihnen fremd blieb. Aber auch zur Gruppe um Largo Caballero, die sich spätestens seit 1933 intensiv um eine Integration der neuen Anhänger- und Mitgliedergruppen bemühte, bestanden wichtige Differenzen. Während Largo Caballero sich Fortschritt nur über einen kontinuierlichen Ausbau der Organisationsmacht von Partei und Gewerkschaft und ihres Einflusses auf Staat und Gesetzgebung vorstellen konnte, waren die Neumitglieder viel weniger organisationsorientiert. Für sie war die Parteimitgliedschaft Mittel zum Zweck einer unmittelbaren Verbesserung ihrer beruflichen und generellen Lebenslage; sie verstanden die Ausrufung der Republik im April 1931 als einen Startschuss in ein neues Zeitalter sozialer Gerechtigkeit und wachsenden Wohlstands.47 Ihre Erwartungen wurden jedoch enttäuscht, als die republikanisch-sozialistische Reformpolitik angesichts zähen Widerstands der industriellen und landwirtschaftlichen Arbeitgeber und des ungünstigen Klimas der Weltwirtschaftskrise kaum vorankam und der republikanische Staat zugleich drakonisch gegen Aufstandsbewegungen vorging. Die durchaus beachtlichen sozialpolitischen Errungenschaften der ersten republikanischen Regierung kamen zudem vor allem den bereits seit längerem beschäftigten, älteren Arbeitern zu gute.48 Diese Enttäuschungen führten zu einer zunehmenden Entfremdung von der Republik und zu einer Bereitschaft, den eigenen Forderungen mittels spontaner Streiks und Aufstände zum Durchbruch zu verhelfen. Sie setzten damit die sozialistische Partei- und Gewerkschaftsführung unter massiven Druck, Lösungen zu offerieren, die über den 46 Ebenda, S. 209 u. 211 f. 47 Als gute Lokalstudie: Juan Martínez Leal: Los Socialistas en Acción. La II República en Elche (1931–1936), Alicante 2005: weiterhin Alejandro Quiroga: Forging democratic citizens. Mass nationalization on a local level in the Spanish Second Republic (1931–36), in: European Review of History 26 (2019), S. 505–532; vgl. auch Till Kössler: Republic of hope and fear: Visions of democracy in pre-Civil War Spain, in: Journal of Modern European History 17 (2019), S. 22–27. 48 Santos Juliá, Largo Caballero [wie Anm. 22], S. 873.
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Rahmen der Republik hinausgingen. Die Radikalisierung der Rhetorik Largo Caballeros, die in einem Spannungsverhältnis zu seiner eher vorsichtigen politischen Praxis stand, erklärt sich nicht zuletzt aus seinem Versuch, diese neuen Mitgliedergruppen an sich und die Partei zu binden, ohne gleichzeitig sein längerfristiges politisches Projekt aufzugeben. Es ist vor diesem Hintergrund bezeichnend, dass die sich radikalisierende sozialistische Jugendorganisation sich nach 1934 bereitfand, die Parteiorganisation zugunsten eines Zusammenschlusses mit der kommunistischen Jugend zu opfern, der tatsächlich im März 1936 mit der Gründung der »Juventudes Socialistas Unificadas« vollzogen wurde.49
IV. Generation war kein herausragendes Konzept in der Selbstbeschreibung der spanischen Sozialisten vor dem Spanischen Bürgerkrieg, auch wenn es ihnen nicht völlig fremd war. Gleichwohl vermag die Frage nach einer »1870er« oder »1880er« Generation bisher weniger beachtete Aspekte der Geschichte des Sozialismus in Spanien in den Blick zu rücken. Diese waren der Gegenstand dieses Aufsatzes, der Chancen, aber auch Grenzen eines generationshistorischen Blicks auf den spanischen Sozialismus deutlich gemacht hat. Zunächst lässt sich tatsächlich eine »mittlere« Generation von Sozialisten identifizieren, die nach 1870, vor allem aber in den 1880er Jahren geboren wurden, auf die Gründergeneration der Partei nachfolgten und sich in den politisch entscheidenden Jahren der Zweiten Republik am Beginn der 1930er Jahre dann wiederum einer neueren jüngeren Generation gegenübersahen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass diese mittlere Generation in Hinblick auf Sozialisationswege und politische Weltsicht keine monolithische Einheit darstellte, sondern vielmehr zwei politisch-habituell unterschiedliche Kreise umfasste, die voneinander abgegrenzt werden können. Einer Gruppe von Parteiführern, die über frühe Lohnarbeit und Branchengewerkschaften zur Partei gestoßen waren, standen andere Sozialisten gegenüber, die einen bürgerlich-akademischen Hintergrund aufwiesen und deren Denken neben dem Marxismus wesentlich auch durch die bürgerlichen Reformdebatten nach der Niederlage Spaniens im spanischamerikanischen Krieg von 1898 geprägt war. Der unterschiedliche Lebens- und 49 Sandra Souto: Las organizaciones juveniles: entre el frentepopulismo y el izquierdismo socialista, in: Manuel Ballarín/José Luis Ledesma (Hg.): La República del Frente Popular. Reformas, conflictos y conspiraciones Zaragoza 2010, S. 59–82.
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Bildungsweg schlug sich in unterschiedlichen politischen Strategien und Präferenzen nieder. Während die bürgerlich und akademisch geprägten Parteiführer zumeist auf ein Bündnis mit republikanischen Parteien setzten, um ein Modernisierungsprogramm von Politik-, Wirtschafts- und Sozialreformen »von oben« durchzusetzen, standen die gewerkschaftlich geprägten Parteiführer den bürgerlichen Kräften skeptisch gegenüber. Sie sahen in der Stärkung der Arbeiterorganisationen und ihres Einflusses in der staatlichen Arbeits- und Sozialpolitik den besten Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft. Es war eine bedeutende Errungenschaft der PSOE, dass sie eine zunehmende Unzufriedenheit in den spanischen Mittelschichten mit der Restaurationsmonarchie ausnutzen und diese beiden Gruppen nach etwa 1910 in einer Organisation zusammenbringen konnte. Diese weite politische Positionierung trug nach dem Ersten Weltkrieg zu einem Wachstum der Partei bei und begründete ihre starke Stellung in der Zweiten Republik, als sie ein breites Wählerspektrum ansprach und ein links-bürgerliches Reformbündnis möglich machte. Allerdings blieb die politische Integration der beiden Strömungen stets prekär und umstritten. Unter dem Eindruck von Wirtschaftskrise und ausbleibenden Reformerfolgen sowie dem Eintritt neuer Mitgliedergruppen, die eine sofortige Besserung ihrer sozialen Lage einforderten, zerbrach das generationelle Bündnis der »1880er« zusehends. Der Bruch konnte auch nach Ausbruch des Bürgerkriegs im Juli 1936 nur notdürftig übertüncht werden.
Felicitas Fischer von Weikersthal
Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Eberts russländische Alterskohorte und ihre Imagined Community im europäischen Vergleich
Im Jahre 1925 würdigte Hans Lepke in der sozialistischen Wochenschrift »Die Glocke« zwei sozialistische Politiker, die jeweils durch eine Revolution eine politische Führungsrolle erhalten hatten: Friedrich Ebert (1871–1925) und Vladimir Ilijič Uljanov (1870–1924), genannt Lenin. Die parallele Betrachtung dieser beiden Politiker bot sich an, nur ein Jahr trennte sie in Geburt wie im Tod. Doch nicht nur diese Koinzidenz vereinte die beiden. Beide träumten von der »Verwirklichung des sozialistischen Staates« und von Grundbedingungen, in denen »durch Beseitigung aller Vorrechte für jeden der gleiche Ausgangspunkt gegeben ist«. Diesen Gemeinsamkeiten stellte Lepke jedoch auch einige Unterschiede gegenüber: »Völlig verschieden aber sind sie in ihrem Wege zur sozialen Reformation, völlig verschieden in ihrem Wesen und ihrem Leben und schließlich in ihrer Bedeutung für das politische Werden ihrer Zeit. Liquidatoren des Alten und Verkünder einer neuen Zeit sind sie gleichzeitig Repräsentanten ihres Landes und ihres Volkes.«1 Der eine – Lenin – war »der Mann der Illegalität, die Verkörperung jener Richtung der sozialen Bewegung der Arbeiterschaft, die mit den Mitteln der Gewalt um ihren Aufstieg kämpft.« Der andere – Ebert – war Lepke zufolge »der bedeutendste Vertreter des demokratischen Gedankens, der Mann des Ausgleichs und der Verständigung.«2 Tatsächlich unterschieden sich Lenin und Ebert maßgeblich sowohl in ihrer kulturellen Prägung, in Stil und Habitus wie auch in ihrer Politik. Lassen sich diese Unterschiede auf die gesamte Alterskohorte verallgemeinern – vorrangig auf den bolschewistischen Teil der Generation Eberts? Beeinflussten Unterschiede in Prägung und Sozialisation die gegenseitige Wahrnehmung? Und inwiefern lassen sich dadurch unterschiedliche Handlungsmuster vor und insbesondere nach 1917/1918 erklären? Diesen Fragen wird im Folgenden anhand der Ego-Dokumente von vier Frauen nachgegangen, deren Lebenswege und 1 2
Hans Lepke: Lenin – Ebert, in: Die Glocke Nr. 51, 21. März 1925, S. 1657–1662, hier S. 1657. Ebenda, S. 1662.
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Sozialisation einerseits typisch für die russländische3 sozialistische Bewegung sind. Andererseits lassen sich aber auch einige Unterschiede zwischen den männlichen und weiblichen Vertretern von Eberts Alterskohorte im Russischen Reich feststellen. Zudem ist eine Konzentration auf diese ausgewählten Sozialistinnen dadurch gerechtfertigt, als sie mit ihren europäischen Peers in einem teils intensiven Kontakt standen. Selbstwahrnehmung und -kon struktion lassen sich vor dem Hintergrund dieser Begegnungen besonders gut herausarbeiten. Insgesamt waren in der russländischen sozialistischen Bewegung etwa zehn Prozent der Alterskohorte Eberts weiblich, zu den Anhänger:innen Lenins zählten ca. 2.000 Frauen. Weitestgehend gleichberechtigt und selbstbestimmt kämpften sie neben und mit ihren männlichen Altersgenossen. Konkret liegen den Ausführungen autobiographische Schriften Nadežda Krupskajas (1869– 1939), Anželika Balabanovas (18694 –1965), Aleksandra Kollontajs (1872–1952) und Elena Stasovas (1873–1966) zugrunde.5 Krupskaja, Stasova und Kollontaj gehörten den jungen marxistischen Zirkeln an, die sich in den 1890er Jahren in Russland bildeten, verlebten dann aber viele Jahre in der aufgezwungenen Emigration. Balabanova ging zum Studium ins Ausland und wurde dort in
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Da in der revolutionären Bewegung auch nationale Minderheiten aktiv waren – und dies zum Teil überproportional –, wird der Begriff »russländisch« gegenüber »russisch« vorgezogen. Dieses Jahr nannte Balabanova in ihrem Testament; zuvor machte sie sich in der Regel einige Jahre jünger. Siehe die Einführung von Jörn Schütrumpf in Angelica Balabanoff: Lenin, oder: Der Zweck heiligt die Mittel, Berlin 2013, S. 8. Nadeshda Krupskaja: Erinnerungen an Lenin, Berlin 1960 (Ersterscheinung auf Russisch: Vospominanija o Lenine, Moskau 1933); Alexandra Kollontai: Ich habe viele Leben gelebt … Autobiographische Aufzeichnungen. Berlin 1981, eine Kompilation aus autobiographischen Texten (entstanden 1920/21, 1921/22, 1924/25, 1927, 1929, 1936/37, 1939/40, 1946, 1950) und Tagebucheinträgen (1915, 1916, 1919). Suggerieren die Tagebucheinträge eine größere Glaubwürdigkeit aufgrund ihrer Unmittelbarkeit und zeitlichen Nähe zum Geschehen, so ist einschränkend zu erwähnen, dass Kollontaj beim Schreiben bereits eine mögliche Veröffentlichung im Sinn hatte; vgl. I. Dashina: Alexandra Kollontai über sich und ihre Zeit, in: ebenda, S. 511; Alexandra Kollontai: Autobiographie einer sexuell emanzipierten Kommunistin, München 1970; Jelena Stassowa: Genossin »Absolut«. Erinnerungen, Berlin 1978 (Ersterscheinung auf Russisch posthum: Vospominanija, Moskau 1969; basiert in großen Teilen auf den 1957 geschriebenen »Seiten des Lebens und des Kampfes« [stranicy žizni i bor’by]); Angelica Balabanoff: Erinnerungen und Erlebnisse, Berlin 1927; Angelica Balabanoff: My Life as a Rebel, Bloomington und London 1973 (englische Erstausgabe 1938); Balabanoff, Lenin [wie Anm. 4] (italienisches Original von 1959, von ihr selbst ins Deutsche übersetzt und abgeändert).
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russländischen sozialistischen Zirkeln sowie in der sozialistischen Partei Italiens aktiv. Nach der Oktoberrevolution 1917 beteiligten sich alle vier auf unterschiedliche Weise am politischen Tagesgeschäft.6 Insgesamt zählten sie weniger zu den marxistischen Theoretiker:innen, auch wenn sich Kollontaj zur Frauenfrage und Krupskaja zu Bildungsfragen äußerten. Sie standen eher für die praktische Parteiarbeit. Mithilfe der Autobiographien dieser Frauen sollen im Folgenden in einem ersten Schritt generationelle Charakteristika der bolschewistischen Alterskohorte Eberts und das von dieser imaginierte Kollektiv herausgearbeitet werden. In einem zweiten Schritt wird die Wahrnehmung der westlichen Altersgenoss:innen und die Selbstinszenierung der Frauen in Abgrenzung zu diesen aufgezeigt, um drittens und abschließend die nachrevolutionäre Politik der Bolschewiki vor dem Hintergrund der beschriebenen Prägungen zu beleuchten. Die Argumentation ergibt, dass sich sowohl im Hinblick auf die russländische sozialistische Bewegung als auch in deren Verhältnis zu den westlichen Schwesterparteien eine Pluritemporalität feststellen lässt, eine Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Generationseinheiten aufgrund von Nation und Geschlecht in ein und derselben Alterskohorte. Zunächst scheint jedoch eine kurze kritische Auseinandersetzung mit dem Quellenmaterial angebracht.
1. Russländische revolutionäre Autobiographik Aufgrund des immensen nationalen, aber auch internationalen Interesses an der russischen revolutionären Bewegung schon vor und besonders nach 1917 liegen zahlreiche autobiographische Schriften und andere Ego-Dokumente 6
Krupskaja arbeitete im Kommissariat für Volksbildung mit und wurde 1920 Leiterin des Hauptkomitees für Aufklärung. Ab 1929 hatte sie den Posten der stellvertretenden Volkskommissarin für Volksbildung inne. Balabanova war zunächst in der Zimmerwalder Bewegung und dann in der Kommunistischen Internationale aktiv, zwischenzeitlich fungierte sie als stellvertretende Volkskommissarin für Außenpolitik der sowjetischen Ukraine. Stasova arbeitete im Sekretariat des Sovnarkom, war Mitbegründerin und Präsidiumsmitglied der Tscheka in Petrograd. Anschließend hatte sie eine Reihe sehr unterschiedlicher Posten u. a. im Kaukasischen Büro der Partei, innerhalb der Kommunistischen Internationale, der Internationalen Roten Hilfe und in der Zentralen Kontrollkommission der KPdSU inne. Kollontaj leitete bis zu ihrem Rücktritt im März 1918 das Volkskommissariat für soziale Fürsorge, füllte anschließend diverse Posten innerhalb der Partei aus, bis sie 1920 den Vorsitz der Frauenabteilung beim Zentralkomitee der Partei übernahm. Ab 1923 war sie sowjetische Gesandte zunächst in Norwegen und dann in Mexiko. Zwischen 1943 und 1946 fungierte sie als Botschafterin in Schweden.
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führender wie auch weniger prominenter Vertreter:innen der unterschiedlichen sozialistischen Strömungen des Russischen Reiches vor. Vor 1917 erschienene Texte beschrieben die Härte des revolutionären Kampfes und dienten als Momente der Identifikation und Nachahmung. Nach der Revolution verfasste Erinnerungen waren zwangsläufig von der Stellung des Autors bzw. der Autorin zum bolschewistischen bzw. stalinistischen Regime sowie durch die politische Weltlage zur Zeit der Niederschrift geprägt. Während Krupskaja, Stasova und Kollontaj bis zu ihrem Tod im bolschewistischen Russland blieben, insbesondere aber Krupskajas und Stasovas »Erinnerungen« durch den Aufstieg des Faschismus bzw. die Systemkonkurrenz zwischen Ost und West beeinflusst sind, verfasste Balabanova ihre Memoiren im selbst gewählten Exil, nachdem sie sich von ihren ehemaligen Kampfgenoss:innen abgewandt hatte. Trotz der unterschiedlichen politischen Hintergründe beschreiben die EgoDokumente ähnliche persönliche Entwicklungen: Innerfamiliäre Rebellion, ein bereits in jungen Jahren ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit und die Doppelmoral der Gesellschaft ziehen letztendlich die Hinwendung zum Sozialismus nach sich. Diese Ähnlichkeiten mögen auf gemeinsame Rollenvorbilder zurückzuführen sein, die durch christliche Heiligenlegenden, die Dekabristen und die revolutionäre Belletristik, allen voran Nikolaj Černyševskijʼs »Was tun?«, vorlagen. Bezüglich autobiographischer Schriften russländischer Frauen wurde bereits verschiedentlich die Imitation solcher Rollenmodelle festgestellt.7 Allerdings sollte kritischer gefragt werden, ob nicht doch eher die im Nachhinein verfasste Autobiographie den Rollenmodellen nachgebildet wurde. Es ist psychologisch erwiesen, dass in jeder schriftlichen wie mündlichen Form des Erzählens über das eigene Leben jedes Individuum seine Autobiographie ständig neu konstruiert. Es bringt Erfahrungen, Episoden, geistige Entwicklungen in eine in sich verbundene und verständliche Einheit über das Selbst, wobei Zeit, Sprache, Kultur und soziale Beziehungen die Erzählung beeinflussen.8 Gerade in sozialen Bewegungen überblendet dabei die kollektive
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Stephan Rindlisbacher: Literature, the Radical Milieu, and Terrorist Action in Nineteenth-Century Russia. The Case of Vera Figner and Vera Zasulich, in: Terrorism and Narrative Practice, hg. v. Thomas Austenfeld/Dimiter Daphinoff/Jens Herlth, Wien et al. 2011, S. 99–115; Lothar Maier: Terror, Religion und Justiz. Vera Figners Lebenserinnerungen wiedergelesen, in: Rechtstheorie 35 (2004), S. 323–333; Lynn Ellen Patyk: The Terrorism. Sergei Stepniak-Kravchinskii’s »Underground Russia«, in: Slavic Review 68 (Winter 2009) 4, S. 758–778. Siehe Julia Vassilieva: Narrative Psychology. Identity, Transformation, and Ethics, London 2016, S. 16 f. Zum konstruierten Charakter autobiographischer Erzählungen auch
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Identität der Gruppe die des Individuums.9 Nur ein Vergleich verschiedener autobiographischer Texte einer Person, die zu unterschiedlichen Zeiten geschrieben wurden, oder der Vergleich von Autobiographien mehrerer Personen ermöglicht, eine solche Überblendung herauszuarbeiten. Gerade Balabanovas Texte zeigen in dieser Hinsicht deutlich, wie sich ihre Abkehr von den Bolschewiki im Laufe der Jahre zunehmend zu einem dezidierten Antibolschewismus manifestiert.10 Barbara Evans Clements, die zahlreiche autobiographische Texte weiblicher Bolschewiki analysiert hat, erkennt in all diesen Memoiren ein generelles Drehbuch: »A girl growing up encounters situations that sensitive her to Russiaʼs evils, then learns about the revolutionary movements, realizes how right the revolutionaries are, and joins them.«11 Eine sozialpolitische Bewusstwerdung wird dabei durchaus in die frühe, teils sehr frühe Kindheit eingeschrieben. Aleksandra Kollontaj etwa erinnert, spätestens im Alter von sieben Jahren der Klassenunterschiede und der damit verbundenen Ungerechtigkeiten gewahr geworden zu sein.12 Dies steht in deutlichem Kontrast zu der erst in ihrem 24. Lebensjahr allmählich erfolgenden Annäherung an sozialistische Parteien. Seitenlange Beschreibungen ihres privilegierten Lebens zeigen sie eher als naive junge Frau, die zwar aufopferungsvoll für die Unterdrückten eintritt, letztendlich aber lange politisch inaktiv bleibt. Elena Stasovas Memoiren sind dagegen prototypisch für die revolutionäre und insbesondere die bolschewistische Autobiographik. Sie spiegelt deutlich die kollektive Identität der Gruppe wider. Stasova begegnet uns, ganz ähnlich zu Krupskaja und Balabanova, als auf die Parteiarbeit fokussierte Frau, die sich durch Arbeitseifer, Bescheidenheit, Aufopferungsbereitschaft und Rationalität
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Paul John Eakin: Living Autobiographically. How we use Identity in Narrative, Ithaca/ London 2008. Siehe auch Barbara Evans Clements: Bolshevik Women, Cambridge 1997, S. 18. Zu den Unterschieden zwischen der deutschen Version von 1927 und der englischen von 1938, die wesentlich antibolschewistischer ist, siehe Max Shachtmans Besprechung in The New International IV (1938) 11, S. 348–350. Balabanova versucht in ihren in den 1950er Jahren verfassten Erinnerungen immer wieder eine prinzipielle Verehrung Lenins mit seinem Gutheißen von Terror und Gewalt zusammenzubringen und kommt zu dem Schluss, dass es »ohne Lenin keinen Stalin gegeben hätte«: »Die Anschauungen der Bolschewiki ebenso wie die Anwendung von Methoden, die im Widerspruch zum Sozialismus stehen, waren das Werk Lenins; Stalin hat sie sich nur angeeignet und das Negative, das ihnen anhaftete, noch intensiver gestaltet und allgemein verbreitet« (Balabanoff, Lenin [wie Anm. 4], S. 165). Clements, Bolshevik Women [wie Anm. 9], S. 34. Kollontai, Ich habe viele Leben gelebt [wie Anm. 5], S. 19 u. S. 25 f.
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auszeichnet und die Prinzipientreue sowie unbedingten Gehorsam gegenüber der Partei bzw. der Lenin’schen Linie einfordert.13 Eine solche auf Aufopferung, Selbstaufgabe, Bescheidenheit und Unnachgiebigkeit gegenüber sich und anderen aufbauende kollektive Identität findet sich parteiübergreifend unter der russländischen Alterskohorte Eberts und zeugt von einer »Generation als Imagined Community«,14 die geprägt war durch eine Sozialisation im Untergrund und durch den asymmetrischen Kampf gegen das Zarenregime.
2. Die Altbolschewiki und ihre imaginierte Generation Der Begriff der (politischen) Generation und sein analytischer Mehrwert sind insbesondere aufgrund einer zumeist nachträglichen und von außen herangetragenen Periodisierung kritisiert worden.15 Auch fehlte den russländischen 1870ern das historische Großereignis, das einen Generationszusammenhang stiften könnte. Der Krimkrieg mit seiner Implikation für Erneuerungsbestrebungen, die Bauernbefreiung und die unmittelbaren Folgen dieser und anderer Reformen Zar Alexanders II. lagen vor ihrer Geburt. Bewusster hatten sie den Bombenanschlag auf Zar Alexander II. im März 1881 erlebt. Ansonsten bestimmten Pogrome, die brutale Niederschlagung von Arbeiterprotesten, das Vorgehen gegen Studentenzirkel, die Hungersnot und anschließende Typhusepidemie in den Jahren 1891/92 die sozialistische Bewusstwerdung der russländischen 1870er. In der Tat bildete für die Bolschewiki nicht ein Ereignis den Generationszusammenhang, sondern die Erfahrung im asymmetrischen Kampf gegen das Zarenregime. Das Jahr 1917 bildete dabei die Trennlinie zwischen unterschiedlichen bolschewistischen Generationen, die sich selbst auch als solche verstanden. Zu der alten Generation, den Altbolschewiki (»starye bolʼševiki« 13 Vgl. auch Clements, Bolshevik Women [wie Anm. 9]. 14 Die Übertragung des Konzeptes der Imagined Community auf die Generationenforschung schlug Mark Roseman in Anlehnung an Benedict Anderson vor; ders.: Generationen als »Imagined Communities«. Mythen, generationelle Identitäten und Generationenkonflikte in Deutschland vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, in: Ulrike Jureit/Michael Wildt (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005, S. 180–199. 15 Zur Kritik siehe u. a. M. Rainer Lepsius: Kritische Anmerkungen zur Generationenforschung, in: Jureit/Wildt, Generationen [wie Anm. 14], S. 45–52, wobei Lepsius den Generationenbegriff für eine Analyse kultureller und insbesondere politischer Eliten durchaus angebracht sieht (ebenda, S. 51).
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oder auch »staraja gvardija« = alte Garde), zählten diejenigen, die sich vor 1917, wenn nicht gar vor 1905, Lenin angeschlossen hatten. Die jüngere Generation bildeten jene, die nach der Februarrevolution 1917 zu der Partei gestoßen waren. Folglich war nicht die Generationslagerung, das Geburtsjahr, konstitutiv für die Zugehörigkeit, sondern die Prägung in der Illegalität, was an Altbolschewiki wie Nikolaj Bucharin (*1888) oder Vjačeslav Molotov (*1890) mit einem relativ späten Geburtsjahr besonders deutlich wird. Den vielen nach 1917 hinzugestoßenen Parteimitgliedern fehlte diese generationsstiftende Prägung durch Illegalität, Haft und Verbannung bzw. Exil – was ihnen durchaus als Manko ausgelegt wurde. Gleichzeitig konstruierten die Bolschewiki einen Generationenkonflikt mit älteren Revolutionär:innen, für die Georgij Plechanov (*1858) federführend stand, und die – nach ursprünglicher Verehrung – als weniger kämpferisch, weniger mit den »Massen« verknüpft, als unzuverlässig, intolerant und überheblich dargestellt wurden.16 Hinsichtlich ihres familiären Hintergrunds verband die vier Frauen – und mit ihnen den Großteil ihrer Alterskohorte unter den russländischen Sozialistinnen – mit diesen verunglimpften älteren Genoss:innen allerdings mehr als mit ihren männlichen Genossen gleichen Alters oder mit späteren Alterskohorten. Die meisten weiblichen sozialistischen 1870er entstammten – wie die Revolutionär:innen vor ihnen – Elternhäusern, die eher den wohlhabenden und gebildeten Schichten zuzurechnen waren; so auch Stasova, Kollontaj, Krupskaja und Balabanova. Sie verfügten ähnlich wie die meisten Revolutionär:innen älterer Alterskohorten über ein höheres Bildungsniveau. Krupskaja und Stasova hatten Frauenkurse an der Universität besucht, Kollontaj das Gymnasium abgeschlossen und später einzelne Kurse an der Universität Zürich absolviert. Balabanova schloss ihr Studium der Philosophie und Literatur in Brüssel mit einem Doktortitel ab. Im Unterschied dazu waren unter den Männern um 1900 bereits verstärkt solche mit einem proletarischen Hintergrund aktiv, Arbeiterinnen fanden hingegen in größerer Zahl erst während der Revolution von 1905 bis 1907 zur Partei. Diese Ungleichzeitigkeit innerhalb der Alterskohorte ist primär dadurch zu erklären, dass gesellschaftliche Vorstellungen von Weiblichkeit, aber auch materielle Fragen ein politisches Engagement der Frauen generell und der Arbeiterinnen insbesondere erschwerten.17 16 Philip Pomper: Lenin, Trotsky, and Stalin. The Intelligentsia and Power, New York 1990, S. 61 ff. 17 Zu den unterschiedlichen sozio-ökonomischen Hintergründen unterschiedlicher Alterskohorten der weiblichen Bolschewiki siehe Clements, Bolshevik Women [wie Anm. 9]; die Zusammensetzung der Bolschewiki entsprechend ihrer ethnischen und ihrer Klassen-
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Was die Altbolschewiki der ersten Jahre gleich welchen Jahrgangs und Geschlechts vereinte, war, dass sie zu einem Zeitpunkt politisch aktiv wurden, zu dem selbst eine nicht politisch motivierte Bildungsarbeit für Arbeiter:innen unter dem Generalverdacht antizaristischer Agitation stand. Nadežda Krupskaja schloss sich 1893/94 marxistischen Kreisen an und war an der Gründung des illegalen »Kampfbundes für die Befreiung der Arbeiterklasse« (1895) beteiligt. Elena Stasova stieß 1895 mit 22 Jahren zu den illegalen marxistischen Zirkeln. Aleksandra Kollontaj wurde mit 27 durch die Bekanntschaft mit Stasova in marxistischen Kreisen aktiv, wandte sich aber erst 1915 endgültig Lenins Parteiflügel zu. Anželika Balabanova trat Ende des 19. Jahrhunderts dem Bund der russischen Sozialdemokraten im Ausland bei und wechselte während des Krieges auf die Seite der Bolschewiki.18 Geschlechter- aber auch parteiübergreifend vereinte die Sozialist:innen vor 1917 eine revolutionäre Identität. Sie entstand aus dem asymmetrischen Kampf gegen das Zarenregime zum Wohle des Volkes, aus gemeinsamen Vorbildern sowie der Utopie einer besseren und gerechteren Gesellschaft. Die Idole der revolutionären Bewegung, die so genannten Narodniki (häufig mit »Volkstümler« übersetzt), hatten in den 1870er Jahren versucht, durch Agitation und Aufklärung im Volk ökonomische und politische Veränderungen von unten zu erwirken. Insbesondere der militante, terroristische Flügel der Narodniki, die Narodovolcy, schuf Rollenvorbilder für nachfolgende Generationen. Die 1870er erlebten als Kinder die elterliche und manchmal auch gesellschaftliche Reaktion auf den letzten, erfolgreichen Anschlag der terroristischen Gruppe auf Zar Alexander II. am 1.jul./13.greg. März 1881 und die Hinrichtung der Täter:innen wenige Wochen später.19 Bei der »Partei der Sozialrevolutionäre Russlands« (PSR) führte die Verehrung zur Nachahmung der Taten. Die Sozialdemokraten hingegen schworen der terroristischen Strategie weitestgehend
zugehörigkeit behandelt ausführlich Liliana Riga: The Bolsheviks and the Russian Empire, Cambridge 2012. 18 Durch das späte Bekenntnis zu Lenin zählen Kollontaj und Balabanova nach dem Selbstverständnis der Altbolschewiki eigentlich nicht zur »alten Garde«. Balabanova wurde allerdings aufgrund ihrer Verdienste eine 25-jährige Parteizugehörigkeit attestiert. An der Ähnlichkeit ihrer autobiographischen Erzählungen zu denen von Krupskaja und Stasova wird deutlich, wie homogen die Erfahrungen und die Selbstkonstruktion der Alterskohorte waren. 19 Siehe Kollontai, Ich habe viele Leben gelebt [wie Anm. 5], S. 47ff; zum Einfluss des Attentats siehe auch Clements, Bolshevik Women [wie Anm. 9], S. 23 f.
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ab,20 obwohl sie, wie Lenin 1902 betonte, »als Narodwolzen revolutionär zu denken begonnen« hatten. »Fast alle hatten in früher Jugend die Helden des Terrors begeistert verehrt.«21 Nicht nur die Frage der Taktik unterschied die sozialdemokratischen 1870er von den Narodovolcy. Letztere hatten sich in einer Phase gewisser Lockerungen und der Hoffnung, welche die Reformen Zar Alexanders II. hervorgerufen hatten, formiert. Die in den 1870er Jahren Geborenen wuchsen unter den scharfen Repressionen, der Zensur und dem elaborierten Polizeiregime, das Alexander III. als Antwort auf das erfolgreiche Attentat auf seinen Vater eingeführt hatte, auf. Gleichzeitig wurden die Unzulänglichkeiten des zaristischen Systems und gesellschaftliche Ungerechtigkeiten breiter und häufig bereits in den Elternhäusern der neuen Generation von Revolutionär:innen diskutiert.22 Dadurch erforderte die Beteiligung an sozialistischen Zirkeln nicht mehr zwangsläufig den totalen Bruch mit der eigenen Familie,23 wie es bei der älteren Generation der Fall gewesen war. Es brauchte aber nach wie vor ein hohes Maß an Konspiration, was bestimmte Verhaltens- und Denkmuster förderte. Der Kampf im Untergrund bedeutete gerade für diejenigen, die nicht aus der Bauern- oder Arbeiterschaft kamen und damit für die Mehrzahl derjenigen, die um 1870 herum geboren wurden, Verzicht. Sie ließen zumeist gesellschaftliche Privilegien und materielle Absicherung hinter sich, der revolutionäre Zirkel trat an die Stelle familiärer Kontakte. In der revolutionären Gemeinschaft wurde dieser Verzicht zur Grundcharaktereigenschaft des wahren Revolutionärs verklärt. Dies äußerte sich in einem spartanischem Lebensstil
20 Anna Geifman hat darauf hingewiesen, dass auch die sozialdemokratischen Parteien, und zwar Menschewiki und Bolschewiki gleichermaßen, in den Revolutionsjahren 1905 bis 1907 dem politischen und ökonomischen Terrorismus nicht gänzlich abgeneigt waren: Anna Geifman: Thou shalt kill. Revolutionary terrorism in Russia, 1894–1917, Princeton, NJ 1993. 21 Lenin: Was tun? (1902), Werke, Bd. 5, Berlin 1955, S. 353–551, hier S. 538 f. 22 Hierzu Clements, Bolshevik Women [wie Anm. 9], S. 35 ff.; Stasovas und Krupskajas Biographien stehen beispielhaft für eine solche Prägung bereits im Elternhaus; Stassowa, Genossin »Absolut« [wie Anm. 5]; Volker Hoffmann: Nadeshda Konstantinowa Krupskaja. »Ich war Zeugin der größten Revolution in der Welt.« Leben, Kampf und Werden der Frau und Weggefährtin Lenins, Essen 2013. 23 Kollontaj beschreibt, dass sie mit ihrem Gang in die Illegalität Mann und Kind zurücklassen musste, lebte aber später wieder mit ihrem – nun erwachsenen – Sohn zusammen in Deutschland (dies., Ich habe viele Leben gelebt [wie Anm. 5]). Von Balabanova wandte sich die Familie erst ab, als diese sich 1917 zu den Bolschewiki bekannte (dies., Erinnerungen [wie Anm. 5], S. 143).
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und schlichtem Äußeren, was den Revolutionär:innen aber natürlich auch den Zugang zu den Gesellschaftsschichten, unter denen sie agierten, vereinfachte. In der Illegalität bestimmten die Partei und die Genoss:innen den Lebenssinn. Stasova erinnert, dass die »Illegalen […] ihr ganzes Ich in den Dienst der Partei [stellten]. Doch das war beileibe kein Opfer, nein, es war Sinn und Zweck ihres Lebens. Die Genossen erinnern sich, daß es schwer gewesen ist – doch das ist nicht das wichtigste. Es gab viel Schwereres. Die Hauptsache war, daß wir alle von der Richtigkeit unserer Sache überzeugt waren, daß wir freudig kämpften.«24 Neben der Selbstaufopferung für die Partei formulierte Stasova in ihren Erinnerungen weitere Charaktereigenschaften, die Revolutionär:innen aufweisen sollten: Pünktlichkeit, Beobachtungsgabe, die Beherrschung der Mimik und Diskretion.25 Um der Haft zu entgehen und überhaupt die Agitation unter den Arbeiter:innen zu betreiben, griffen die revolutionären Gruppierungen auf ein ausgeklügeltes konspiratives System zurück: gefälschte Pässe, getarnte Wohnungen, fiktive Ehen, die Kenntnis von Fluchtwegen, Codewörter oder auch die dezentrale Struktur der Parteiorganisation. Jeder verfügte über eine ganze Reihe konspirativer Decknamen. Führende Bolschewiki wie Lenin, Stalin, Trockij und andere legten auch nach 1917 ihre Decknamen nicht ab, was die Selbstwahrnehmung als illegale Kämpfer in die nachrevolutionäre Phase transponierte. Über verschiedene Alterskohorten und Fraktionen hinweg prägten Hafterfahrung, Verbannung und häufig mehrjähriges Exil die revolutionäre Gemeinschaft vor 1917. Ein Großteil der Revolutionär:innen befand sich mindestens einmal in Haft, einige sogar mehrmals. Für viele schloss sich an die Haft eine mehrjährige Verbannung nach Sibirien an. Krupskaja wurde etwa 1896 im Rahmen der Repressionen nach einer Streikwelle unter Textilarbeiterinnen verhaftet und anschließend verbannt.26 Andere gingen für Jahre ins Exil. Dort kamen insbesondere die führenden russländischen Sozialist:innen mit anderen in der Emigration lebenden russländischen sowie mit europäischen Genoss:in-
24 Stassowa, Genossin »Absolut« [wie Anm. 5], S. 36; Kollontaj erinnert sich, dass Stasova ihr gegenüber schon Ende der 1890er Jahre sagte, »[d]er Partei muß man mit Leib und Seele angehören.« Kollontai, Ich habe viele Leben gelebt [wie Anm. 5], S. 107. 25 Stassowa, Genossin »Absolut« [wie Anm. 5], S. 34 ff. 26 Für die Bol’ševički insgesamt siehe Clements, Bolshevik Women [wie Anm. 9], S. 91–100.
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nen in Kontakt, was Einfluss auf die Entwicklung der jeweiligen Person hatte.27 Gleichwohl bedeuteten die Jahre im Exil, dass die Emigrant:innen nur peripher auf die Entwicklungen in Russland Einfluss nehmen konnten.28 Wenn Krupskaja betonte, dass zur »Iskra« [= »Der Funke«, sozialdemokratische Zeitung unter Lenins Federführung, Anm. d. Verf.] häufig Arbeiter aus Russland kamen, dass es einen nie abreißenden Kontakt zur Basis vor Ort gab, schrieb sie einerseits im Nachhinein gegen den Vorwurf der Entfremdung an bzw. perpetuierte das Selbstverständnis der Bolschewiki als Sprachrohr der »Massen«. Andererseits schuf sie eine deutliche Abgrenzung zu den »Alten« in der Emigration, insbesondere zu Plechanov und damit aber auch indirekt zu den Menschewiki, die es in ihren Augen nicht schafften, in der Emigration den Kontakt mit Russland aufrecht zu erhalten.29 Ein weiteres Charakteristikum der Bolschewiki war die Selbstkonstruktion als Avantgarde. In einer Phase ohne große Erfolgsaussichten auf eine Revolution war es in der Tat nur eine kleine Minderheit, die bereit war, ihr bisheriges Leben aufzugeben und in der Illegalität Gruppen, später Parteien,30 zu gründen. Alle sozialistischen Parteien blieben angesichts einer Gesamtbevölkerung von ca. 182 Millionen eher eine Randerscheinung, die Bolschewiki mit 10.000 bis 17.000 Anhängern Anfang 1917 gar eine Marginalie. Die Altbolschewiki und insbesondere die wirklich alte Garde um Lenin deuteten dieses Manko um und präsentierten 27 In Bezug auf Lenin Krupskaja, Erinnerungen [wie Anm. 5], S. 9; auch Kollontaj schärfte in der Emigration, die bei ihr acht Jahre umfasste, die eigene sozialistische Einstellung. Von einem Mitglied der Menschewiki und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands entwickelte sie sich in diesen Jahren zu einer überzeugten Anhängerin Lenins. 28 Krupskaja betont den nie abreißenden Informationsfluss (Krupskaja, Erinnerungen [wie Anm. 5], S. 61 f.); so hervorragend kann der Informationsfluss allerdings nicht gewesen sein, vgl. die Beschwerden über ausbleibende Nachrichten und Zeitungen in den Briefen Lenins und Krupskajas an die Familie (W. I. Lenin: Briefe an die Angehörigen, Werke, Bd. 37, Berlin 1964). Siehe auch Clements, Bolshevik Women [wie Anm. 9], S. 65. 29 Krupskaja wirft der Gruppe »Befreiung der Arbeit« generell (dies., Erinnerungen [wie Anm. 5], S. 62), besonders aber Plechanov vor: »die Jahre der Emigration gingen nicht spurlos an ihm vorüber, sie haben ihn der russischen Wirklichkeit entfremdet. […] um 1900 [und damit kurz vor Gründung der Iskra, deren Redaktionsmitglied Plechanov werden sollte, Anm. d. Verf.] hatte Plechanow jedenfalls bereits die unmittelbare Fühlung mit Rußland verloren.« (Krupskaja, Erinnerungen [wie Anm. 5], S. 64 f.); ähnlich äußert sich Krupskaja über Vera Zassulič, diese habe nicht vermocht, »Verbindungen mit Rußland zu pflegen« (ebenda, S. 95). Siehe auch Balabanoff, Erinnerungen [wie Anm. 5], S. 64 f. 30 Sozialistische Parteien wurden in der Illegalität erst 1897 (Allgemeiner Jüdischer Arbeiterbund, Bund), 1898 (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands, RSDAP) bzw. 1901 (Partei der Sozialrevolutionäre Russlands, PSR) gegründet.
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sich als Vorreiter und Führer einer insgesamt eher politisch unaufgeklärten oder – im Sprachgebrauch der Partei – »unbewussten« Gesellschaft, umringt von potentiellen Feinden. Marginalität und Illegalität prägten die gesamte Gemeinschaft der Revolutionär:innen. Hinzu kamen allgemeine Grundvorstellungen über die richtigen Eigenschaften eines Revolutionärs und einer Revolutionärin, die da sind: Verzicht, Bescheidenheit und Selbstaufopferung. Die Altbolschewiki grenzten sich von den anderen Revolutionär:innen dadurch ab, dass sie einen orthodoxen Marxismus, Arbeitseifer, unbedingten Gehorsam und Standhaftigkeit zu Identitätsscharnieren erklärten.31 Dieses Selbstverständnis findet sich auch in der Abgrenzung zu den europäischen Sozialist:innen wieder.
3. D ie russländischen 1870er und ihr Blick auf ihre westeuropäische Alterskohorte Die beschriebene Sozialisation in Untergrund, Haft und Exil unterschied die russländischen sozialistischen 1870er wesentlich von den meisten ihrer westeuropäischen Gefährten. Letztere konnten in großen Teilen bereits legal agieren und an parlamentarischen Entwicklungen teilhaben. Sie verfügten über mehr oder weniger große und offen organisierte Parteistrukturen, während die russländischen sozialistischen Parteien nicht nur im Untergrund agierten, sondern eher lose verzahnten Basisgruppen ähnelten als tatsächlichen Parteien. Von der Sozialisation her hatten die russischen 1870er mehr mit der »Generation Bebel« gemein,32 was sich auch in äußerst wohlwollenden Beschreibungen ihrer Vertreter zeigt.33 Mit August Bebel, Jean Jaurès und Victor Adler teilte man vermeintlich Wertvorstellungen, Verhaltensweisen (Askese und Bescheidenheit) und die Erfahrung gesellschaftlicher und politischer Marginalisierung. So hielt Balabanova über Bebel, Jaurès und Lenin gleichermaßen fest: »Daß Menschen, die von der sozialistischen Weltanschauung durchdrungen sind, für äußere Vorteile des Lebens nur Gleichgültigkeit und Verachtung haben
31 Barbara Evans Clements erkennt insbesondere Standhaftigkeit (tverdost) als das elementare Kennzeichen weiblicher bolschewistischer Autobiographik. Clements, Bolshevik Women [wie Anm. 9], S. 19 u. S. 60. 32 Zu den Prägungen der »Generation Bebel« siehe Thomas Welskopp: Die »Generation Bebel«, in: Klaus Schönhoven/Bernd Braun (Hg.): Generationen in der Arbeiterbewegung, München 2005, S. 51–67. 33 Balabanoff, Erinnerungen [wie Anm. 5], S. 44–57.
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können, ist selbstredend.«34 Bebel erschien ihr »trotz seines Alters […] das einzige junge Geschöpf« innerhalb der deutschen Sozialdemokratie zu sein.35 Wie in den 1870ern in Deutschland existierte im Russischen Reich der Jahrhundertwende keine organisatorische Durchwurzelung; die Führungspersonen und die Presse agierten aus der Illegalität oder der Emigration. In den Augen ihrer bolschewistischen Peers kehrten sich die Errungenschaften der europäischen Alterskohorte Eberts allerdings ins Negative und wurden mit Kleinbürgertum, mangelnder Standhaftigkeit und Prinzipientreue, Opportunismus und Konservativismus gleichgesetzt.36 Obwohl einige tiefe Freundschaften existierten und Aleksandra Kollontaj zeitweise aktives Mitglied der SPD war, begegnen uns auch in den Ego-Dokumenten der vier Frauen westliche Sozialdemokrat:innen eher als verweichlichte, »kleinbürgerliche« Parteivertreter:innen, die sich mit der Polizei arrangierten bzw. tunlichst jeglichen Konflikt vermieden. Nadežda Krupskaja erinnert sich beispielsweise an die erste zugelassene Maifeier der Sozialdemokratie in Deutschland als entpolitisierten Familienspaziergang: »Und nun zogen die deutschen Sozialdemokraten in ziemlich großen Kolonnen, mit Kind und Kegel und mit den üblichen Rettichen in der Tasche, schweigend im Eilmarsch durch die Stadt, um später in einem Vorortrestaurant Bier zu trinken. Es gab keinerlei Fahnen und Plakate. An eine Demonstration aus Anlass des Weltfeiertages der Arbeiterklasse erinnerte die »Maifeier« in keiner Weise.«37 Auch Kollontaj warf der deutschen Sozialdemokratie Opportunismus und eine zunehmende Bürokratisierung vor. In ihrem Buch »Po rabočej Evrope« (»Durch das Europa der Arbeiter«, 1912) wies Kollontaj, wie sie selber sagte, »auf die Neigung des Parteiapparates […] zum Opportunismus und auf seine zunehmende Bürokratisierung« hin. Doch damit nicht genug, unterstellte sie
34 Ebenda, S. 46. Dass August Bebel seit den 1890er Jahren in einer Villa am Zürichsee in der Schweiz lebte, wusste Balabanova offensichtlich nicht oder sie blendete es aus. 35 Ebenda, S. 47. 36 Zur problematischen Beziehung der russischen Revolutionär:innen zur deutschen Sozialdemokratie vor 1903 siehe Dietrich Geyer: Lenin in der russischen Sozialdemokratie, Köln/Graz 1962. 37 Krupskaja, Erinnerungen [wie Anm. 5], S. 76; Kollontaj zeigte sich irritiert von den politikfremden Ehefrauen der deutschen Sozialdemokraten, dies.: Po rabočej Evrope, St. Petersburg 1912, S. 11 f.
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den Genossen »Generalsgehabe«, »Blasiertheit« und »Arroganz«.38 Damit hatte sich die Führung der deutschen Sozialdemokratie weit von ihrer eigenen Anhängerschaft entfernt. In den Augen Kollontajs war sie nicht besser als die Vertreter der Monarchie, die sie bekämpfte: »Die Hohlheit der Spitzen der Partei ging schon damals [1912, Anm. d. Verf.] so weit, daß jedes kritische Wort, und mochte es noch so gerechtfertigt sein, von ihnen als Beleidigung »Ihrer Majestät der Sozialdemokratie« angesehen wurde.«39 Balabanova beschrieb Friedrich Ebert rückblickend als »the most conservative of the tradeunion leaders«, der in einer »tradition of gradualism« unfähig blieb, 1918 die erforderlichen radikalen Neuerungen umzusetzen.40 Die Schweizer Sozialdemokrat:innen wiederum waren in Krupskajas Augen »erzopportunistisch«,41 die französische Sozialistische Partei »durch und durch opportunistisch«, eine von ihr organisierte Demonstration zu zahm.42 Englische Sozialdemokraten beschrieb Krupskaja herablassend als »Kleinbürger«, die der Opferbereitschaft der russischen Sozialist:innen mit naivem Staunen begegneten.43 Kollontaj wiederum war irritiert von den Lebensumständen des belgischen Sozialdemokraten Émile Vandervelde und dessen »erlesene[m] Haus […], wo der Diener das Frühstück auf silbernen Assietten [Tellern, Anm. d. Verf.] servierte«. Angesichts des Elends der Arbeiterschaft wirft Kollontaj Vandervelde an dieser Stelle indirekt eine Verbürgerlichung und Abgehobenheit vor; der Sozialdemokrat erscheint ihr korrumpiert durch seinen Ministerposten. »Wie mochten wohl die Arbeiter zu ihrem führenden Vertreter kommen? Wo war der Kontakt zu ihnen, wo die kameradschaftliche Führung?«44 Nur die italienische Sozialdemokratie schien die von den Bolschewiki geforderte Nähe zu den Arbeiter:innen zu erfüllen.45
38 Kollontai, Ich habe viele Leben gelebt [wie Anm. 5], S. 157; in dem Buch selbst kommen diese Vorwürfe nicht ganz so scharf zum Ausdruck, dennoch zeigt sich auf Seiten Kollontajs Verwunderung bis Kritik angesichts der deutschen Parteiarbeit, die sie als anbiedernd gegenüber Polizei und Behörden, als wenig ideologisch informiert und in Ritualen und Hierarchien verfangen beschreibt. 39 Ebenda, S. 159. 40 Balabanoff, My Life [wie Anm. 5], S. 197. 41 Krupskaja, Erinnerungen [wie Anm. 5], S. 198. 42 Die Demonstration anlässlich der Marokkoaffäre »hatte mit einer Protestdemonstration absolut keine Ähnlichkeit«, ebenda, S. 228 u. S. 230. 43 Krupskaja, Erinnerungen [wie Anm. 5], S. 83. 44 Kollontai, Ich habe viele Leben gelebt [wie Anm. 5], S. 155. 45 Balabanoff, Erinnerungen [wie Anm. 5].
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Die Welten zwischen den »Majestäten der Sozialdemokratie« und den standhaften, bescheidenen, engagierten Kämpfer:innen der russischen Sozialdemokratie konnten unterschiedlicher nicht sein. Die Kritik an der europäischen Sozialdemokratie, an deren Opportunismus, Verkrustung und »Generalsgehabe«, erinnert in Vokabular und Intensität an einen Generationenkonflikt. Die »Alten« hatten sich zu sehr in ihrer führenden Rolle etabliert, mit dem System arrangiert, um noch die ursprünglichen, radikaleren Ziele zu verfolgen: »Die Sozialdemokratie war […] in festgefahrenen Formen erstarrt, ihr fehlte der »lebendige Geist«, es gab keine Weiterentwicklung mehr. Die Macht der Tradition, der Routine hatte begonnen.«46 Dieser Tagebucheintrag Kollontajs in Bezug auf die deutsche SPD vom 23. August 1914 zeigt, dass der Generationenkonflikt auch durch die Erfahrungen des Auseinanderbrechens der Internationale während des Ersten Weltkrieges bestimmt war und die Polarität der Positionen zur Kriegsfrage den Unterschied zu den etablierten westeuropäischen Sozialist:innen nachträglich verschärfte. Als sich nach Ausbruch des Krieges die Alterskohorte der russischen 1870er zu Patriot:innen und Nationalist:innen wandelte, suchte und fand man Verbündete unter der »Generation Bebel« sowie unter den jungen, radikaleren Linken, die als »energischer und noch nicht von der Bürokratie infiziert« erschienen.47 Die Selbstabgrenzung von der eigenen Alterskohorte wird auch in Balabanovas Einschätzung zur deutschen Sozialdemokratie deutlich: Ihr zufolge hatten Ebert, Noske und andere graduell die »older generations of Marxists« wie Bebel vertrieben, »while it stifled that of the new«.48 Mit ihrer Kritik an der europäischen Sozialdemokratie präsentierten sich die Altbolschewiki als diejenigen, die gegen die Arroganz und Verweichlichung sowie die Etabliertheit der eigenen Altersgenoss:innen aufbegehrten.
46 Kollontajs Tagebucheintrag vom 23. August 1914, in: Kollontai, Ich habe viele Leben gelebt [wie Anm. 5], S. 195; ähnlich hinsichtlich der norwegischen Sozialdemokratie auf S. 295. 47 Ebenda, S. 295. Auf der Zimmerwalder Konferenz stellten sich selbstverständlich nicht nur Jüngere auf die Seite der Bolschewiki. 48 Balabanoff, Life as a Rebel [wie Anm. 5], S. 197.
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4. Sozialisation, bolschewistische Identität und nachrevolutionäre Politik Die Oktoberrevolution von 1917 katapultierte die russländische Alterskohorte Eberts mit den Erfahrungen der »Generation Bebel« und der Radikalität der Jungen in die Regierungsverantwortung. Mit Eifer stürzten sich alle Beteiligten in die Umsetzung ihrer Ideale. Kollontaj beschrieb die ersten Monate, in denen sie das Volkskommissariat für Soziale Fürsorge leitete, als Monate »so reich an herrlichen Illusionen, Plänen, brennender Initiative das Leben zu verbessern, die Welt neu zu organisieren«.49 Und tatsächlich lässt sich gerade in den ersten Monaten der neuen Regierung – abgesehen vom beginnenden Terror – eine radikale sozialistische Politik erkennen, die im europäischen Vergleich ihresgleichen sucht: Grund und Boden wurden enteignet; Stände und Rangabzeichen abgeschafft; Kirche und Staat getrennt; die Verantwortung in Fabriken und Betrieben Arbeiterkomitees übertragen; die Ehe abgeschafft und vieles andere mehr. Einen solchen Mut zur Radikalität – ganz zu schweigen vom Erfolg der Revolution in anderen Ländern – vermissten die Bolschewiki in der europäischen Sozialdemokratie und insbesondere in der deutschen, deren Führer sie als Helfershelfer der Konterrevolution diffamierten.50 Auch der innenpolitische Regierungsstil war in den ersten Jahren nach der Revolution noch stark von der »Imagined Community« der illegalen Gruppe bestimmt. Bescheidenheit, Aufopferung und Nähe zu den »Massen« kennzeichnen zahlreiche Beschlüsse und das entbehrungsreiche Leben der »alten Garde«, die teilweise bis zum physischen Zusammenbruch fieberhaft arbeitete.51 Finanziell blieben die neuen Regierenden zunächst bescheiden und ihrer Selbstkonstruktion als aufopferungsvolle Kämpfer:innen treu. Alle Regierungsmitglieder erhielten in den ersten Monaten nach der Revolution einen Lohn, der dem eines Vorarbeiters in der Fabrik entsprach. Auch nach einer Lohnerhöhung für Regierungsmitarbeiter:innen im Mai 1918 von 500 auf 800 Rubel lag der Lohn immer noch wesentlich unter dem, den »bourgeoise« Spezialisten auch nach der Revolution noch bezogen.52
49 Kollontai, Autobiographie [wie Anm. 5], S. 49 f. 50 Dietrich Geyer: Sowjetrußland und die deutsche Arbeiterbewegung 1918–1932, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 24 (1976) 1, S. 2–37, hier S. 16. 51 Alle vier Frauen beschreiben ein äußerst entbehrungsreiches und physisch auszehrendes Leben in den ersten nachrevolutionären Jahren. 52 Lara Douds: Inside Lenin’s Government. Ideology, Power and Practice in the Early Soviet State, London et al. 2018, S. 47ff; siehe auch Balabanoff, Lenin [wie Anm. 4], S. 53 f. Lenin war über die Erhöhung laut Balabanova äußerst erbost.
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Ebenso findet man in anderen Bereichen eine Politik, die sich von der der westlichen Alterskohorte unterscheidet. Im Sovnarkom, dem Rat der Volkskommissare, als einzig neuem Regierungsapparat wurden die vorrevolutionären Elemente der Parteiorganisation auf den Staatsapparat übertragen: das Fehlen ausgeprägter Hierarchien, Kollegialität, Selbstdisziplin, Effizienz und Detailtreue.53 Eine »lebendige Verbindung« (Lenin) zur Bevölkerung boten die Empfangsräume (priemnaja), die in allen Behörden eingerichtet wurden.54 Bürger:innen konnten mit ihren Problemen vorsprechen und wurden auch in der Regel gehört, hatten doch die Bolschewiki in der Selbstwahrnehmung »keine andere Sorge als den Dienst am werktätigen Volk«.55 Damit gaben sich die Altbolschewiki nahbarer, bescheidener, tatkräftiger und radikaler als die von ihnen kritisierten westeuropäischen 1870er. Die Bescheidenheit bzw. der Verzicht aus den Jahren des Untergrunds ebenso wie die viel beschworene Nähe zu den Massen wurden folglich nach der Revolution zumindest von einigen Beteiligten weitergelebt, auch wenn es fraglos eine »zunehmende Anzahl derer« gab, »die den Entbehrungen nicht standhielten und angesichts der Versuchung der Vorrechte, welche die Macht bietet, schwach wurden«.56 Gleichzeitig blieben die Altbolschewiki in der Selbstwahrnehmung das von Lenin bereits 1902 beschriebene »eng geschlossene[.] Häuflein«, das »von allen Seiten von Feinden umgeben« war, »zu einer besonderen Gruppe vereinigt«, welche »den Weg des Kampfes und nicht den der Versöhnung gewählt« hatte.57 Die Zahl der Bolschewiki hatte sich im Jahr 1917 immens vergrößert,58 doch waren die Neuzugänge kaum ideologisch geschult. In Abgrenzung zu den neuen Parteimitgliedern wurde versucht, die Kontrolle über den Staat durch eine Postenvergabe, die sich an der Dauer der Parteizugehörigkeit orientierte,59 in den Händen der kleinen Gruppe der Altbolschewiki zu halten. Dies verstärkte die ohnehin schon starke Bindung der ehemaligen Untergrundgruppen untereinander. Gleichzeitig blieb aufgrund des 53 Douds, Inside Lenin’s Government [wie Anm. 52], S. 66. 54 Ebenda, S. 73 u. S. 78. 55 Stassowa, Genossin »Absolut« [wie Anm. 5], S. 228. Zu Eingaben und Briefen aus dem Volk ausführlicher Krupskaja, Erinnerungen [wie Anm. 5], S. 576–587. 56 Balabanoff, Lenin [wie Anm. 4], S. 53. 57 Lenin, Was tun? [wie Anm. 21]. 58 Bis zum Ende des Jahres 1917 schwoll die Partei von 10.000 Mitglieder auf 250.000 an. Christopher Read: The Cultural Dimension of the Bolshevik Dictatorship, in: The Bolsheviks in Russian Society. The Revolution and the Civil War, hg. von Vladimir N. Brovkin, New Haven/London 1997, S. 298–318, hier S. 308. 59 Siehe Read, Cultural Dimension [wie Anm. 58], S. 308.
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Bürgerkrieges und der ausländischen Intervention eine Belagerungsmentalität erhalten, die durch die Jahre der Illegalität und die Auseinandersetzung mit den anderen russischen Sozialist:innen geprägt worden war. Was die »Altbolschewiki«, die nun Regierungsverantwortung trugen, zusätzlich von einem Teil ihrer europäischen Altersgenoss:innen unterschied, war der Mangel an parlamentarischer Erfahrung. Hatte jemand wie Ebert im Bremer Stadtparlament und dann im Reichstag das politische Tagesgeschäft kennengelernt, so besaßen weder Lenin oder Lunačarskij, noch Trockij oder Stalin und auch keine der hier im Fokus stehenden Frauen Parlamentserfahrung. Noch bei Ausbruch der Februarrevolution befanden sich die meisten Angehörigen der Führungsgruppe der Bolschewiki im Untergrund, in Sibirien oder in der Emigration. Aufgrund des Boykotts der Provisorischen Regierung sollte sich diese Stellung abseits politischer Entscheidungsfindung in den Monaten bis zur Oktoberrevolution nur geringfügig ändern. Allein in den Arbeiter-, Bauernund Soldatenräten, dem Gegenentwurf zur Provisorischen Regierung, erhielten die Bolschewiki im Laufe des Jahres 1917 politischen Gestaltungsraum, den sie vor allem zur Konfrontation mit der Regierung nutzten. Der Mangel an parlamentarischer und regierungspolitischer Erfahrung machte sich nach dem Oktober 1917 in einem eher situativ und durch das Prinzip eines von Trial and Error bestimmten Politikstils bemerkbar.60 Auch die ständige Versetzung von einem Posten zum nächsten belegt in gewisser Weise Überforderung und Kadermangel der neuen Regierung gleichermaßen. Zum anderen zeichnete sich ab, dass die Altbolschewiki, und zwar insbesondere diejenigen, die sich im Februar 1917 nicht in Russland aufgehalten hatten, die politische Notwendigkeit von Kompromissen gegenüber anderen Parteien als Schwäche und Opportunismus interpretierten, was sich ja auch in der Kritik der westlichen etablierten Sozialdemokrat:innen gezeigt hatte.61 Dies zusammengenommen, zuzüglich der Bedrohung durch Bürgerkrieg und internationale Intervention, mag erklären, weshalb die neue Regierung zur Machtsicherung auf Handlungsmuster zurückgriff, die sie unter den Zaren am eigenen Leib erlebt hatte: Zensur, Ausgrenzung, Terror.62 Die repressive und 60 Überforderung zeigte sich oft schon im Kleinen, etwa, wenn Sekretäre des Sovnarkom am Protokollführen scheiterten (Douds, Inside Leninʼs Government [wie Anm. 52], S. 61); selbstkritisch auch Krupskaja, Erinnerungen [wie Anm. 5], S. 476. 61 Nicht alle Altbolschewiki sprachen sich für diesen radikalen Kurs aus; mit Lenins Ankunft in Russland im April 1917 gewann diese radikalere Richtung allerdings die Oberhand. 62 »Ich habe mich oft darüber gewundert, in welch kurzer Zeit manche Revolutionäre sich daran gewöhnten, anderen die gleichen Demütigungen zuzufügen, die sie selbst unter den Zaren erlitten hatten. Bei manchen spielten wohl Haß und Rachsucht mit und der
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teils brutale Politik nahmen alle Altbolschewiki als unabdingbar oder durch die äußeren Bedingungen begründet hin. Elena Stasova, die als zeitweiliges Mitglied der Petrograder Tscheka zwar nach eigener Aussage versuchte, Fehler der Institution auszugleichen und Unschuldige freizubekommen, hinterfragte in ihren Memoiren zu keinem Zeitpunkt die Notwendigkeit des Terrors.63 Kollontaj erwähnt zwar, dass der »Kampf […] immer unversöhnlicher und blutiger« wurde, und dass vieles, was geschah, nicht mit ihrem Weltbild vereinbar war.64 In die parteiinterne Opposition trat sie jedoch nicht wegen Gewalt und Terror, sondern zunächst wegen des Friedensvertrages mit Deutschland und dann aufgrund der zunehmenden Bürokratisierung der eigenen Partei. Von den vier Frauen führte allein Balabanova ihre Abkehr vom bolschewistischen Regime auf das »Vorherrschen von Lüge, Gewalt und Verleumdung« und den wachsenden Terror von Seiten der Bolschewiki zurück – allerdings erst unter dem Eindruck der stalinistischen Terrorherrschaft.65 Schwieriger für die Frauen gestaltete sich die unterschwellige Neigung hin zum Militarismus im Verbund mit einer ausgeprägten Maskulinität der altbolschewistischen kollektiven Identität. Beides führte vor dem Hintergrund sich weiter ausbauender Männernetzwerke zu einem Zurückdrängen von Frauen aus wichtigen politischen Positionen. Mit dem Anschwellen durch neue Mitglieder änderten sich auf lange Sicht zudem das Selbstverständnis und die kollektive Identität der Partei, was zum Teil zu einer Entfremdung der Altbolschewiki und letztendlich nach Stalins Machtaufstieg auch zu einer weitestgehenden Entmachtung derselben führte.66
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Wunsch, andere die eigenen Leiden entgelten zu lassen; doch gilt das durchaus nicht für alle.« Balabanoff, Lenin [wie Anm. 4], S. 65. Stassowa, Genossin »Absolut« [wie Anm. 5], S. 171. Kollontai, Autobiographie [wie Anm. 5], S. 56. Balabanoff, Lenin [wie Anm. 4], S. 23, S. 63 f. u. S. 75; noch im Jahr 1919 hatte sie den »roten Terror« als milde und in der Berichterstattung übertrieben dargestellt, verteidigt (Angelica Balabanoff: The new life in Russia, in: The Communist, 8. November 1919, S. 3 u. S. 8); in ihren auf Deutsch erschienen Memoiren von 1927 führt sie ihre Abwendung von den Bolschewiki auf deren Umgang mit der italienischen sozialistischen Partei zurück (dies., Erinnerung [wie Anm. 5], S. 262 u. S. 269). Clements, Bolshevik Women [wie Anm. 9], insbesondere S. 231 ff.
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5. Fazit In ihren autobiographischen Schriften schuf die bolschewistische Alterskohorte Eberts geschlechterübergreifend eine Imagined Community, die durch Kompromisslosigkeit, Bereitschaft zum Verzicht, Härte und Prinzipientreue gekennzeichnet war. Die Altbolschewiki bildeten eine generationelle Einheit, die sie durch Stil, Sprache und Habitus, aber auch in ihrem Handeln gleichermaßen von der jüngeren Generation der Bolschewiki bzw. ihren Vorläufern als auch von der Mehrheit ihrer sozialistischen Alterskohorte im Ausland abgrenzte. Ein Großteil dieser Unterschiede im europäischen Vergleich entsprang unterschiedlichen kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Konstellationen. Erfahrungen mit Illegalität, Marginalität und Repressionen hatten die meisten westeuropäischen 1870er nicht mehr gemacht. Für die Bolschewiki entwickelten sich jedoch gerade diese Erfahrungen zur Quintessenz ihrer kollektiven Identität. Angesichts der russischen Bedingungen hatten die sozialistischen 1870er aus dem Zarenreich insgesamt mehr gemein mit den europäischen Sozialist:innen im Jahr ihrer Geburt. Wurde die russländische ältere Generation scharf kritisiert, so fand man in den europäischen 1850ern Vorbilder und Gleichgesinnte. Gleichzeitig waren insbesondere die Altbolschewiki radikaler, ungeduldiger, und damit auch in gewisser Weise jünger als ihre westlichen Altersgenoss:innen. Die bolschewistische Alterskohorte Eberts bildete folglich – auch bedingt durch die Erfahrung des Auseinanderbrechens der Internationale und des Ausbleibens der Weltrevolution – eine Generationseinheit und einen Generationszusammenhang mit jenen, die qua Geburt eben nicht zu ihrer Alterskohorte, sondern gleichermaßen zu derjenigen vor wie nach ihnen zählten. Innerhalb der eigenen Partei zogen die Bolschewiki klarer eine Trennlinie zu den jüngeren Parteigenoss:innen, wobei jedoch nicht das Geburtsjahr, sondern der Zeitpunkt des Parteibeitritts den Generationszusammenhang bestimmte. So einheitlich, wie sich die Altbolschewiki präsentierten, waren sie aber gerade hinsichtlich Herkunft und Sozialisation nicht. Vergleicht man die Lebensläufe und sozialen Hintergründe der weiblichen 1870er mit ihren männlichen Genossen, lässt sich eine Verschiebung innerhalb dieser Generation feststellen. Repräsentierten die männlichen Altbolschewiki im Vergleich zu älteren Jahrgängen eine neue Generation von Revolutionären, die sich zu großen Teilen bereits aus der Arbeiterschaft speiste, hatten die weiblichen Bolschewiki aus Eberts Alterskohorte hinsichtlich Herkunft und sozialem Status weitaus mehr gemein mit der Generation zuvor. Somit steht die bolschewistische Alterskohorte Eberts für die Aufhebung linearer Generationenabfolgen und damit
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für eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sowohl innerhalb der eigenen Gruppe als auch im europäischen Vergleich. Ihre nachrevolutionäre Politik lässt sich – nicht nur, aber auch – erklären durch Erfahrungen bzw. mit Blick auf Partizipation fehlender Erfahrungen einer »Generation Bebel« gepaart mit der Ungeduld und Radikalität der Jugend.
Thanos Angelopoulos
Die griechischen Sozialisten der 1870er Jahre in vergleichender Perspektive. Geschichte einer Generation? Zum Gedenken an Giorgou Zantioti.1
Der Terminus »Generation« wurde von der Geschichtsschreibung verwendet, um politische Aktionen zu analysieren oder die Arbeiterbewegung zu periodisieren.2 Allerdings ist seine Gültigkeit umstritten.3 In der Literatur der griechischen Arbeiterbewegung wird gelegentlich der Begriff »Generation« verwendet, um verschiedene Phasen in ihrer Geschichte zu beschreiben. Einerseits wird er benutzt, um eine Gruppe von Sozialisten zu identifizieren, die in einem bestimmten Zeitraum aktiv war; andererseits, um sie von der vorhergehenden oder der nachfolgenden Generation zu unterscheiden. Keines dieser Werke
1
Giorgou Zantioti war ein 25-Jähriger griechischer Immigrant in Deutschland, der am 1. November 2021 in Polizeigewahrsam in Wuppertal verstarb. Nach der Kampagne »Death in Custody« war er einer »von 208 Todesfällen von schwarzen Menschen, People of Color und von Rassismus betroffenen Personen in Gewahrsam und durch Polizeigewalt in Deutschland seit 1990 (Stand: 15. März 2022)«: https://doku.deathincustody. info/ [letzter Zugriff am 15. Mai 2023]. 2 Karl Mannheim: Das Problem der Generationen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 7 (1928), S. 157–185 u. S. 309–330; Hans Jaeger: Generationen in der Geschichte. Überlegungen zu einer umstrittenen Konzeption, in: Geschichte und Gesellschaft 3 (1977), S. 429–452; Klaus Schönhoven/Bernd Braun (Hg.): Generationen in der Arbeiterbewegung, München 2005; Abosede George/Clive Glaser et al.: AHR Conversation. Each generation writes its own history of generations, in: The American Historical Review 123 (2018), S. 1505–1546. 3 Lucien Febvre: Générations, in: Bulletin du Centre International de Synthèse 7 (1929), S. 36–43; Alan Spitzer: The historical problem of generations, in: The American Historical Review 78 (1973), S. 1353–1385; Evgenios Matthiopoulos: I ennoia tis genias stin periodologisi tis istorias, tis istorias tis logotechnias kai tis istorias tis technis, Heraklion 2019; Benjamin Ziemann: Zur Kritik eines problembeladenen Begriffs, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 70 (2020), S. 4–9.
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überschreitet den konventionellen oder deskriptiven Gebrauch des Begriffs in einer Weise, die ihn analytisch konzeptualisiert.4 Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist es, die Anwendbarkeit dieses Begriffs auf die griechischen Sozialisten der 1870er Jahre zu untersuchen. Dafür werden die Laufbahnen prominenter Persönlichkeiten der griechischen sozialistischen Bewegung betrachtet, die zur Generationslagerung der 1870er Jahre gehören, das heißt zwischen 1865 und 1879 geboren wurden.5 Zu den prominentesten Vertretern dieser Generation gehören Stavros Kallergis (1865–1926), Konstantinos Chatzopoulos (1868–1920), Marinos Antypas (1872–1907), Ioannis Manganaras (1875–1906), Alexandros Papanastasiou (1876–1936) und Georgios Skliros (1878–1919). Ihre aktive Teilnahme an der sozialistischen Bewegung erstreckt sich für die meisten von ihnen über den Zeitraum von 1890 bis 1918, allerdings nicht gleichzeitig. Kallergis, Manganaras und Antypas waren bis 1907 aktiv, während dies für Chatzopoulos, Papanastasiou und Skliros für die Jahre nach 1907 zutrifft. Der erste Teil dieses Beitrags umfasst eine Untersuchung der Tätigkeit der griechischen Sozialisten der 1870er Jahre bis 1907 im Vergleich zur vorhergehenden Generation. Der zweite Teil konzentriert sich auf die Tätigkeit dieser Alterskohorte nach 1907 im Vergleich zur nächsten Generation. Der letzte Teil schließt die Betrachtung der griechischen Sozialisten der 1870er Jahre ab und analysiert deren Charakteristika aus der europäischen Perspektive. Die verwendeten Hauptquellen sind sozialistische Publikationen, Zeitungen und Zeitschriften, bürgerliche Presseorgane, das Archiv von Camille Huysmans, Korrespondenz sozialistischer Intellektueller und autobiographische Texte.
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Siehe George B. Leon: The Greek socialist movement and the First World War, Colorado 1976, S. 4–6; Panagiotis Noutsos: I sosialistiki skepsi stin Ellada apo to 1875 os to 1974. Bd. 2,1, Athen 1991, S. 40–42 u. S. 71–73; Augusta Dimou: Entangled paths towards modernity. Contextualizing socialism and nationalism in the Balkans, Budapest u. a. 2009, S. 336 f., S. 350 f. u. S. 370–378; Kostis Karpozilos: Transnational socialism entering a nation-state. From Ottoman to Greek socialism 1912–1918, in: Michele di Donato/ Mathieu Fulla (Hg.): Left Internationalisms. A Transnational Political History, London u. a. 2023, S. 36. Bernd Braun: Die »Generation Ebert«, in: Klaus Schönhoven/ders. (Hg.): Generationen in der Arbeiterbewegung, München 2005, S. 71.
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I. In Bezug auf die Periodisierung der griechischen sozialistischen Bewegung gibt es einen relativen Konsens unter den Historikern. Die Anfänge dieser Bewegung liegen in den 1870er Jahren.6 Nach den ersten Schritten der Industrialisierung findet man in diesem Jahrzehnt die ersten Arbeiterstreiks und das Entstehen der ersten sozialistischen Aktivitäten in den bedeutendsten Wirtschafts- und Handelszentren des griechischen Staates, Patras und Ermoupoli. Zur gleichen Zeit erschienen Artikel über die Pariser Kommune, kritische Erwähnungen des Sozialismus und die ersten Berichte über die europäische sozialistische Bewegung. Als prominente Persönlichkeiten des radikalen Milieus dieser Zeit sind Rokkos Choidas (1830–1890) und Panagiotis Panas (1832–1896) zu nennen.7 Während der 1880er Jahre war der landwirtschaftliche Charakter der griechischen Wirtschaft unbestritten. Die sehr begrenzten oder gar negativen Auswirkungen der Agrarreform zu Beginn der 1880er Jahre, die Steuererhöhungen und die Banken- und Industriekrise von 1884/1885, die den Industrialisierungsprozess zum Stillstand brachten, führten zu einer allgemeinen Unzufriedenheit unter den städtischen Unterschichten und den »Sharecroppers« (Naturalpächtern), im Griechischen »Koligoi«, in Thessalien, die zu Unruhen und Streiks führten. Im gleichen Zeitraum entstanden landesweit viele lokale Handwerkszünfte und Gewerkvereine, an denen sowohl die Arbeitnehmer als auch die Arbeitgeber teilnahmen.8 Die bürgerlichen Zeitungen setzten sich intensiver mit dem Sozialismus auseinander und dachten, die sozialistische Entwicklung der Industriegesellschaften sei eine Warnung für die zukünftige Situation in 6
Siehe Gianis Kordatos: Istoria tou ellinikou ergatikou kinimatos, Athen 1956; Leon, The Greek socialist movement [wie Anm. 4],; Panagiotis Noutsos: I sosialistiki skepsi stin Ellada apo to 1875 os to 1974. Bd. 1, Athen 1990. 7 Christina Agriantoni: Viomichania, in: Kostas Kostis/Sokratis Petmezas (Hg.): I anaptixi tis ellinikis oikonomias ton 19o aiona, Athen 2006, S. 222–226; Xenia Marinou: I Parisini Kommouna (1871) kai i Ellada, Dissertation, Athen 2014, S. 366–416; Kordatos, Istoria tou ellinikou [wie Anm. 6], S. 21–34 u. S. 41–54; Noutsos, I sosialistiki, Bd. 1 [wie Anm. 6], S. 38–52; siehe Ioannis Eutaxias: Koinoktimonikai kai koinonikai theoriai ton neoteron, in: Oikonomiki Epitheorisi 4 (1876), S. 295–318; Neoklis Kazazis: O koinonismos en Germania, in: Parnassos 2 (1878), S. 755–776 u. S. 840–869. 8 Sokratis Petmezas: Agrotiki Oikonomia, in: Kostas Kostis/ders. (Hg.): I anaptixi tis ellinikis oikonomias ton 19o aiona, Athen 2006, S. 131–135; Gunnar Herring: Die Politischen Parteien in Griechenland 1821–1936, München 1992, S. 497–511 u. S. 533–536; Nikos Potamianos: I paradosiaki mikroastiki taxi tis Athinas. Magazatores kai viotechnes 1880–1925, Dissertation, Rethymno 2011, S. 255–260; Agriantoni, Viomichania [wie Anm. 7], S. 226.
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Griechenland.9 Schließlich gründete der prominenteste Sozialist dieser Zeit, Platon Drakoulis (1858–1942), der aus einer wohlhabenden Familie auf der Insel Ithaka stammte und nach 1887 viele Jahre in Oxford lebte, 1885 die sozialistische Zeitung »Ardin« (»Sofort«). Die sozialistische Haltung von Drakoulis war eine eklektische Kombination von evolutionärem und christlichem Sozialismus, demokratischem Radikalismus und Anarchismus. Zu seinen Referenzen zählten die Geschichte der Französischen Revolution, der Sozialismus der Fabian Society, Laurence Gronlund und Piotr Kropotkin.10 In den 1890er Jahren wurden die Sozialisten der Generationslagerung der 1870er Jahre in der Bewegung aktiv. Der erste von ihnen, Stavros Kallergis, wurde 1865 auf Kreta geboren, einem osmanischen Gebiet mit großer revolutionärer Tradition. Wegen der Beteiligung seines Vaters an der Revolte von 1863 wurde seine Familie von der osmanischen Regierung ausgewiesen, sie fand Zuflucht in Athen und empfing eine Rente vom Königreich Griechenland. Kallergis wuchs im höfischen Milieu auf und studierte Architektur an der Polytechnischen Schule von Athen. 1885 wurde er Sozialist, nachdem er einen kritischen Artikel über den Sozialismus von Ioannis Soutsos, Professor für politische Ökonomie an der Universität Athen, gelesen hatte. Während seines Studiums traf er sich mit prominenten Sozialisten der vorherigen Generation und entwickelte eine sozialistische Aktion. Zwischen 1890 und 1894 veröffentlichte er die Zeitung »Sosialistis« (»Sozialist«), die alle zwei Wochen in einer Auflage von 2.000 Exemplaren erschien. Diese Zeit war durch eine weit verbreitete Unzufriedenheit gekennzeichnet, die auf eine Finanzkrise, eine Erhöhung der indirekten Steuern und nach 1892 eine schwere Agrarkrise zurückzuführen war.11 Die sozialistische Haltung von Kallergis unterschied sich nicht wesentlich von derjenigen Drakoulisʼ. Sie setzte sich ebenfalls aus Anarchismus und aus evolutionärem und christlichem Sozialismus zusammen. Drakoulis, Kropotkin, Paul Argyriadis, Oscar Bertoia und das Tryptichon der Französischen Revolu 9 Siehe Anonym: Ergatikai axioseis, in: Oikonomiki Epitheorisi (1882), S. 222–224; Anonym: Luis Blanc, in: Poikili Stoa 4 (1884), S. 224 f.; Ioannis A. Soutsos: O sosialismos, in: Poikili Stoa 5 (1885), S. 247–259. 10 Noutsos, I sosialistiki, Bd. 2,1 [wie Anm. 4], S. 60–64 u. S. 163–180; vgl. Platon Drakoulis: To egheiridion tou ergatou htoi ai vaseis tou sosialismou, Athen 1893. 11 Kostis Karpozilos (Hg.): Archeio Staurou Kallergi. Psifides apo ton sxediasmo tis sosialistikis Politeias, Athen 2013, S. 3–12 u. S. 45 f.; Kostis Moskof: Eisagogika stin istoria tou kinimatos tis ergatikis taxis, Thessaloniki 1979, S. 187–190; Kordatos, Istoria tou ellinikou [wie Anm. 6], S. 62 f.; Petmezas, Agrotiki Oikonomia [wie Anm. 8], S. 136 f.; Herring, Die Politischen Parteien in Griechenland [wie Anm. 8], S. 615–639.
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tion stellten seine wichtigsten Bezugspunkte dar.12 Konkret entwickelte seine Zeitung eine moralische Kritik an der bestehenden Gesellschaft, vor allem an den Reichen, an Individualismus, Ausbeutung und Konkurrenz, und positionierte sich gegen den Nationalismus.13 Darüber hinaus stellte sich Kallergis einen utopischen sozialistischen Staat Kreta vor.14 Nach 1893 gab es in dreierlei Hinsicht einen Bruch in dieser Kontinuität: Erstens, war die sozialistische Analyse von Kallergis klassenorientierter als diejenige von Drakoulis; zweitens, unterstützte Drakoulis zwar den friedlichen und evolutionären Fortschritt hin zur sozialistischen Gesellschaft, doch schloss Kallergis politische Gewalt als Mittel zur Erreichung dieses Zieles nicht aus und drittens, hatte Kallergis ein ständiges Interesse an der internationalen sozialistischen Bewegung entwickelt;15 dennoch blieb die Verbindung zwischen Sozialismus und Christentum durch seinen gesamten Werdegang hindurch konstant.16 1890 gründete Kallergis in Athen die erste sozialistische Organisation, den »Zentralen Sozialistischen Verein«, mit etwa 200 Mitgliedern verschiedener sozialistischer Richtungen. Ihre Mitglieder waren zumeist junge Intellektuelle, Studenten und Handwerker.17 Nach 1893 forderte das Maximalprogramm des »Vereins« die Abschaffung des Privateigentums, die Deckung der Grundbedürfnisse der Menschen (Kleidung, Nahrung, Wohnung, Bildung) im Austausch für nützliche Arbeit, die absolute Meinungs- und Gewissensfreiheit sowie die 12 Kordatos, Istoria tou ellinikou [wie Anm. 6], S. 63; Karpozilos, Archeio Staurou Kallergi [wie Anm. 11], S. 15 f. Noutsos, I sosialistiki Bd. 1 [wie Anm. 6], S. 76 f. 13 Siehe Anonym: Oi filoi tis taxeos, in: »Sosialistis« 3 (29.6.1890), S. 1 f.; Ergatis: Ai autapatai, in: »Sosialistis« 7 (28.7.1890), S. 1; D. P.: Opoioi oi sosialistai, in: »Sosialistis« 7 (28.7.1890), S. 2; Stavros Kallergis: I lexis sosialistis, in: »Sosialistis« 37 (2.10.1893), S. 2; Stavros Kallergis: Egkolpion ergatou (1893), in: Xeni Baloti (Hg.): Stavros Kallergis. Egkolpion ergatou kai alla keimena, Athen 2000, S. 35–37. 14 Kallergis, Egkolpion ergatou [wie Anm. 13], S. 37–44. 15 Noutsos, I sosialistiki, Bd. 1 [wie Anm. 6], S. 65; Karpozilos, Archeio Staurou Kallergi [wie Anm. 11], S. 9. 16 Noutsos, I sosialistiki, Bd. 1 [wie Anm. 6], S. 76 f. u. S. 255; siehe Anonym: Allilografia, in: Sosialistis 8 (5.7.1890), S. 4; Anonym: Christianikos Sosialismos, in: »Sosialistis« 47 (12.12.1893), S. 2 f.; Anonym: Spruch, in: Sosialistis 69 (1.5.1902), S. 2; Stavros Kallergis: Praktikos Kosmopolitismos, in: »Sosialistis« 70 (31.5.1902), S. 2. 17 Kordatos, Istoria tou ellinikou [wie Anm. 6], S. 62 f.; Karpozilos, Archeio Staurou Kallergi [wie Anm. 11], S. 19 f. Die Einheit der »Vereinigung« war sehr kurzlebig; 1891 kam es zu einer Spaltung aus ideologischen und persönlichen Gründen, und auch Kallergis wurde von seinen Altersgenossen aus der »Vereinigung« ausgeschlossen. Zwischen 1891 und 1894 erschienen auch fünf weitere kurzlebige Zeitungen verschiedener sozialistischer Gruppen (Reformisten, evolutionäre Sozialisten, Christ-Sozialisten usw.); siehe Noutsos, I sosialistiki, Bd. 1 [wie Anm. 6], 1990, S. 71–79.
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Brüderlichkeit aller Völker. Das Mindestprogramm forderte unter anderem: Achtstundentag, arbeitsfreie Sonntage, Lohnerhöhung, Arbeitsgesetzgebung, Sozialversicherung, kostenlose Bildung, progressive Besteuerung des Kapitals, Abschaffung der Todesstrafe, Alkoholverbot. Die Mittel zur Erreichung dieser Ziele waren: Gründung sozialistischer Ortsvereine, Herausgabe von Büchern, Zeitschriften und Zeitungen, Gründung von Bibliotheken, Unterstützung sozialistischer Kandidaten bei Wahlen, Organisation von Streiks, Demonstrationen usw.18 In der ersten Hälfte der 1890er Jahre hatte sich die Meinung der herrschenden Klassen, dass die griechische Gesellschaft nicht von Klassengegensätzen geprägt war, nicht verändert. Trotzdem wurde der politische Diskurs insgesamt konservativer und reaktionärer, während sich gleichzeitig die Einstellung eines Teils der bürgerlichen Presse zum Sozialismus leicht veränderte.19 Die fortschrittliche Zeitschrift »Neon Pnevma« (»Neuer Geist«), die 1893 bis 1894 erschien und politische, wissenschaftliche und literarische Artikel enthielt, brachte Texte von Drakoulis, übersetzte eine Reichstagsrede von August Bebel und berichtete über eine sozialistische Kolonie in Mexiko. Andererseits war die Zeitschrift auch offen für Polemiken gegen den Sozialismus.20 Interessant ist hier jedoch die Ausgewogenheit zwischen Lob für den und Kritik am Sozialismus. Deutlicher wurde dieser Prozess durch die Übersetzung von August Bebels »Die Frau und der Sozialismus« in einer der auflagenstärksten Zeitungen Griechenlands »Akropolis«.21 Nach dem Maifeiertag 1894 unterdrückte die Regierung die sozialistische Bewegung in Athen, indem viele ihrer Mitglieder, darunter auch Kallergis, für kurze Zeit inhaftiert wurden. Nach seiner Freilassung fand Kallergis Zuflucht in Paris. Dort kontaktierte er Argyriades sowie einige französische und andere emigrierte griechische Sozialisten, während er verschiedene sozialistische Zeitschriften rezipierte. 1896 kehrte Kallergis nach Griechenland zurück, veröffentlichte für kurze Zeit wieder seine Zeitung in einer zweisprachigen Aus18 Anonym: Programma Sosialistikon, in: »Sosialistis« 13 (1892), S. 1. 19 Christos Hadziiossif: I girea selini. I viomichania stin Ellada 1830–1940, Athen 1993, S. 378–384; siehe E. Ebeirikos: I Proti Maiou kai ai ergatikai klaseis, in: Parnassos 3 (1890), S. 280–285; Soutsos, O sosialismos [wie Anm. 9], S. 247–259. 20 Siehe August Bebel: Pros kataktisin tis exousias, in: Neon Pnevma 1 (1893), S. 298–329. Anonym: Mia politeia sosialiston, in: Neon Pnevma, 1 (1893), S. 352–354; Platon Drakoulis: Eikositessares logoi kata tis kefalaiokratias, in: Neon Pnevma 1 (1893), S. 168– 174 u. S. 354–378; Neoklis Kazazis: O koinonismos, in: To Neon Pnevma 2 (1894), S. 414–420 u. S. 505–518. 21 Noutsos, I sosialistiki, Bd. 1 [wie Anm. 6], 1990, S. 34.
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gabe (griechisch und französisch).22 1897 siedelte er nach Kreta über, um sich freiwillig für die lokale Unabhängigkeitsbewegung zu engagieren. Während der letzten Zeit der Veröffentlichung der Zeitung »Sozialist« im Jahre 1902 galt dieses Blatt als ein Forum der Interaktion zwischen den verschiedenen sozialistischen Strömungen.23 Seine neue Vision war nun ein »praktischer kosmopolitischer Sozialismus« als Ergebnis der harmonischen Verbindung von Blanqui, Marx, Bakunin und Kropotkin.24 Kallergis verlagerte sich fortan auf gemäßigtere sozialistische Ideen, in denen die nationalen und die sozialistischen Forderungen miteinander verbunden waren. Mit Ausnahme eines Vortrags 1914 beteiligte er sich bis zu seinem Tod 1926 auf Kreta aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr an der sozialistischen Bewegung.25 Ein weiteres prominentes Mitglied der Generation der griechischen Sozialisten der 1870er Jahre war Ioannis Manganaras, wobei die Informationen über sein Leben spärlich sind. Manganaras wurde vermutlich 1875 in Korinthos geboren.26 In den frühen 1890er Jahren lebte er in Patras und arbeitete als Journalist für Lokalzeitungen, während er gleichzeitig Mitarbeiter verschiedener sozialistischer Zeitungen Athens war, entweder als Verfasser von Gedichten oder als Reporter über die sozialistische und anarchistische Bewegung seiner Region. Er war auch Mitglied des sozialistischen Klubs »Sozialistische Bruderschaft« in Patras, dessen Mitgliederzahl zwischen 40 und 160 schwankte. Dies war einer von mehreren kurzlebigen Klubs mit anarcho-sozialistischer und christlich-sozialistischer Ausrichtung in den Städten Patras und Pyrgos während der 1890er Jahre. Sie wurden nach der verheerenden Rosinenkrise von 1892 im Nordwesten des Peloponnes gegründet, als der Rosinenexport, der bis 1893 mehr als 50 Prozent der griechischen Gesamtausfuhren betrug, wegen der Einfuhrbeschränkungen in Frankreich zusammenbrach. Bis 1897 versuchte diese Bewegung mit der rebellischen Bauernschaft (die Zusammenstöße mit der Armee hatte) zusammenzuarbeiten, obwohl es keinerlei organisatorische Verbindung zwischen ihnen gab. In vielen Fällen hatten sie Kontakte zu sozialistischen Gruppen in Athen, die zur gemeinsamen Unterstützung von Platon
22 Während dieser Periode erschien die Zeitung unter dem Titel »Sosialismos« (»Sozialismus«). 23 Karpozilos, Archeio Staurou Kallergi [wie Anm. 11], S. 23–45. 24 Stavros Kallergis: Praktikos Kosmopolitismos, in: »Sosialistis« 72 (10.7.1902), S. 2. 25 Karpozilos, Archeio Staurou Kallergi [wie Anm. 11], S. 46–51. 26 Christos Charbilas: Oi anarchikoi tis Patras kai tou Pirgou sta teli tou 19ou-arches 20ou aiona. Diasindeseis, epirroes kai o politikos tous rolos, Dissertation, Kerkyra 2006, S. 189 f.
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Drakoulis als sozialistischer Kandidat bei den Parlamentswahlen 1895 führte, jedoch erfolglos blieb.27 Die wichtigste dieser Initiativen war die von Manganaras herausgegebene Zeitung »Epi ta Proso« (»Vorwärts«). Es war hauptsächlich eine anarchistische Zeitung, obwohl sie Texte verschiedener sozialistischer Strömungen enthielt. Das Programm der Zeitung war maximal. Unter anderem forderte sie die Abschaffung von Armut, Analphabetismus, Degeneration, Ausbeutung und Prostitution. Darüber hinaus forderte sie: Gedanken- und Willensfreiheit, Freiheit von jeder Abhängigkeit oder Bosheit (Geld, Leidenschaft, Aberglaube, Ungerechtigkeit, Mord, Diebstahl, Neid, Hass usw.), vollständige Gleichheit und Geschlechtergleichstellung.28 Im April 1896 berichtete die Zeitung über den Streik der Bergarbeiter von Lavrio, die auch Kontakte zu Anarchisten aufgebaut hatten, obwohl der Streik von der Armee rasch gewaltsam niedergeschlagen wurde.29 Schließlich kam der »Vorwärts«-Kreis mit der Agrarbewegung seiner Zeit in Kontakt, indem er Vorträge veranstaltete und an Demonstrationen teilnahm.30 Nach dem Terroranschlag eines Anarchisten in Patras begann eine harte Unterdrückung der anarchistischen Bewegung, die für das Verbrechen verantwortlich gemacht wurde, und unter anderem wurde Manganaras vorübergehend inhaftiert. 1898 schrieb er Artikel für eine erneuerte und maßvollere Version der Zeitung »Vorwärts«.31 Die allgemeine Unzufriedenheit vieler gesellschaftlicher Schichten über die kombinierte Finanz- und Agrarkrise drückte sich inzwischen in einem nationalistischen Fieber aus, das 1897 zum griechisch-türkischen Krieg führte. Die griechische Niederlage hatte die Internationale Finanzkontrolle von 1898 und einen Mordversuch an König Georg I. im Februar desselben Jahres zur Folge. Obwohl das Attentat nicht mit der
27 Alexis Fragkiadis: Agrotiki Oikonomia kai exoteriko emporio, in: Kostas Kostis/Sokratis Petmezas (Hg.): I anaptixi tis ellinikis oikonomias ton 19o aiona, Athen 2006, S. 160; Kordatos, Istoria tou ellinikou [wie Anm. 6], S. 75–81; Moskof, Eisagogika stin istoria [wie Anm. 11], S. 165 f.; Noutsos, I sosialistiki, Bd. 1 [wie Anm. 6], S. 73 f., S. 82–85 u. S. 278 f.; Charbilas, Oi anarchikoi tis Patras [wie Anm. 26], S. 118–123. 28 Anonym: Anarchia, in: Epi ta Proso 1 (1.4.1896), S. 1 f. 29 Anonym: I en Kamarizi (Lavriou) apergia, in: Epi ta Proso 3 (14.4.1896), S. 1; Kordatos, Istoria tou ellinikou [wie Anm. 6], S. 36–40. 30 Joannis Manganaras et. al.: Memoria de la Asociación obrera anarquista de Atenas (Grecia), in: El Congreso Revolucionario International de París, Buenos Aires 1902, S. 51. 31 Charbilas, Oi anarchikoi tis Patras [wie Anm. 26], S. 133–147.
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anarchistischen Bewegung in Verbindung stand, wurde es als Vorwand für deren härtere Verfolgung benutzt.32 Als Ergebnis der Verfolgung und der Massenabwanderung der pauperisierten Landbevölkerung in die USA nach 1895, welche die Agrarbewegung schwächte,33 verließen die übrigen Anarchisten die Region im Jahr 1899. Manganaras zog mit einigen seiner Kameraden nach Athen, wo sie zwischen 1899 und 1901 die »Anarchistische Arbeitervereinigung« gründeten. Höhepunkt dieser Gruppe war ihre Teilnahme per Brief am Internationalen Revolutionären Kongress von Paris (1900). Danach löste sich die Gruppe auf und Manganaras schrieb weiterhin literarische Texte für mehrere Zeitschriften. Im August 1906 scheint er erkrankt zu sein und sich in Korinth niedergelassen zu haben.34 Weitere Informationen liegen nicht vor. Die sozialistische Einstellung von Manganaras war zumeist anarchistisch. Seine Zeitung kritisierte die Macht als Wurzel des Bösen und verstand den Anarchismus vor allem als soziale Revolution, die in der Aufklärung des Individuums begründet war. Der Anarchismus sei die ultimative Emanzipation des Individuums und der Höhepunkt des Fortschritts der Zivilisation. Darüber hinaus wurde die Emanzipation der Frauen besonders hervorgehoben.35 Zu seinen Referenzen zählten Broschüren von Kropotkin, Jean Grave, Élisée Reclus und Sébastien Faure.36 Der letzte Sozialist der 1870er Jahre, der bis 1907 aktiv war, war Marinos Antypas. Er wurde 1872 in Kefalonia geboren, wo es eine große Tradition des demokratischen Radikalismus gab. Sein familiärer Hintergrund war der eines Handwerkers. In der ersten Hälfte der 1890er Jahre studierte Antypas Rechtswissenschaften an der Universität Athen, wurde Sozialist und hielt in Zusammenarbeit mit dem »Zentralen Sozialistischen Verein« von Athen einige Vorlesungen über den Sozialismus. 1896 nahm er als Freiwilliger an der Kre-
32 Kordatos, Istoria tou ellinikou [wie Anm. 6], S. 86; Charbilas, Oi anarchikoi tis Patras [wie Anm. 26], S. 133–147. 33 Hadziiosif, I girea selini [wie Anm. 19], S. 35–37. 34 Noutsos, I sosialistiki, Bd. 1 [wie Anm. 6], S. 79, S. 85 f. u. S. 269 f.; Dimitris Troaditis: O Ilios tis anarchias aneteile. Gia mia istoria tou ergatikou kinimatos ston »Elladiko« choro, Athen 2017, S. 179–184. 35 Siehe Anonym: Ergasia-proodos, in: Epi ta Proso 1 (1.4.1896), S. 2; Anonym: Pros tous plousious, in: Epi ta Proso 2 (7.4.1896), S. 1 f.; Anonym: Pros tas didaskalissas, in: Epi ta Proso 2 (7.4.1896), S. 3; Anonym: Ti chrisimevoun ai kiverniseis?, in: Epi ta Proso 5 (7.4.1896), S. 1; Ioannis Manganaras: I apoliti tou atomou eleftheria, in: Epi ta Proso 31 (11.1.1898), S. 1 f. 36 Manganaras, Memoria de la Asociación [wie Anm. 30], S. 52 f.; Noutsos, I sosialistiki, Bd. 1 [wie Anm. 6], S. 85.
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tischen Revolution von 1895 bis 1897 teil und kehrte nach der griechischen Niederlage von 1897 nach Athen zurück. Im selben Jahr nahm er an anti-monar chischen Demonstrationen teil, wurde der Beleidigung des Königs angeklagt und für ein Jahr in Isolationshaft gehalten. 1899 kehrte Antypas nach Kefalonia zurück, wo er eine Gruppe fortschrittlicher Intellektueller und Handwerker gründete und 1900 seine Zeitung »Anastasis« (»Auferstehung«) publizierte.37 Die Veröffentlichung von »Auferstehung« wurde von den griechischen Behörden nach der ersten Ausgabe verboten. 1904 kehrte Antypas nach einem kurzen Aufenthalt in Rumänien nach Kefalonia zurück, wo er die »Auferstehung« neu herausgab und eine demokratische Loge namens »Gleichheit« ins Leben rief, die sich vor allem aus jungen Intellektuellen und Literaten zusammensetzte. 1905 gründete er die »Sozialistische Radikale Partei« und nahm an den Wahlen von 1906 als Kandidat der »Arbeiter- und Agrarklasse« teil.38 Sein Maximalprogramm beinhaltete unter anderem: universelle Freiheit und Gleichheit, Abschaffung der Rassen, Nationen, Klassen, Herren und Sklaven, Abschaffung der Erbschaft und der Volkssouveränität. Sein Minimalprogramm forderte: Entwicklung der Produktivkräfte, Volksbildung, Eintreten für die Rechte der griechischen Nation, Steuerreform, Arbeitsgesetzgebung, Agrarreform, Dezentralisierung der Macht usw. Das Mittel zur Erreichung dieser Ziele war die moralische Revolution durch Lehre, Journalismus, Vorträge, Selbstaufopferung und Willen.39 Ende 1906 zog Antypas nach Thessalien, wo die Agrarreform seit 1881 nur spärliche Fortschritte gemacht hatte. Dort arbeitete er als Verwalter eines Gutes (Tsifliki), das einem seiner Verwandten gehörte. Gleichzeitig setzte er seine Aufklärungsarbeit über die Agrarreform unter den »Koligoi« der umliegenden Ländereien fort, versuchte sie zu organisieren und erreichte bessere Arbeitsbedingungen für die Arbeiter seines Verwandten. Wegen seiner Tätigkeit wurde er Ende 1906 von einigen Gutsherren verklagt und für 20 Tage inhaftiert. 1907 wurde er von einem Verwalter eines anderen Tsifliki ermordet, der vermutlich von einigen der Grundbesitzer angestiftet worden war.40 Sein 37 Gerasimos A. Rigatos: 100 chronia apo ti dolofonia tou Marinou Antypa. Stigmiotipa apo ti zoi kai ti drasi tou, in: Outopia 80 (2008), S. 168–170; Kordatos, Istoria tou ellinikou [wie Anm. 6], S. 98 f.; Noutsos, I sosialistiki, Bd. 1 [wie Anm. 6], S. 94 f. u. S. 300 f. 38 Rigatos, 100 chronia [wie Anm. 37], S. 170 f. 39 Marinos Antypas: To programma mas, in: Anastasis 12 (23.4.1905), S. 1 f.; Noutsos, I sosialistiki, Bd. 1 [wie Anm. 6], S. 301–303. 40 Kordatos, Istoria tou ellinikou [wie Anm. 6], S. 103 f.; Rigatos, 100 chronia [wie Anm. 37], S. 172–174.
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ganzes Leben lang war die sozialistische Haltung Antypasʼ ein Konglomerat der radikaldemokratischen Tradition seiner Heimat, des christlichen Sozialismus, des Nationalismus, des evolutionären Sozialismus (in seiner Zeitung wurden mehrere Texte von Jean Jaurès übersetzt) und des Anarchismus.41 Hinsichtlich der Vertreter der Generation der griechischen Sozialisten der 1870er Jahre, die vor 1907 aktiv waren, kristallisierten sich in dieser Periode am deutlichsten drei Tendenzen heraus, die sich oft überschneiden: Anarchismus, christlicher und evolutionärer Sozialismus. Auf dem Gebiet der Theorie waren die Anarchisten am konsequentesten. Im Hinblick auf den christlichen und den evolutionären Sozialismus könnte man argumentieren, dass sie ein Zweig des utopischen Sozialismus waren.42 Auf raffiniertere Weise wurde der christliche und evolutionäre Charakter des Sozialismus dieser Epoche als »verschlossen gegenüber einer rationalisierten Gesellschaftskritik« diskreditiert.43 Tatsächlich versuchten die Sozialisten der 1870er Jahre bis 1907 auf die gesellschaftliche Transformation zu reagieren. In Ermangelung einer schlagkräftigen Arbeiterbewegung erkannten sie, dass die landwirtschaftliche Bevölkerung verarmter und empfänglicher für die sozialistischen Vorstellungen war als die unteren städtischen Schichten.44 Diese Gruppe bestand jedoch nicht nur aus proletarisierten Bauern. In vielen Fällen waren sie zugleich Kleinbauern und als Saisonarbeiter auf großen Ländereien kapitalistischen Arbeitsverhältnissen unterworfen; außerdem waren sie wahlberechtigt und weitgehend religiös orientiert.45 Um diese Gruppen zu gewinnen, mussten sie mit einem Vokabular
41 Kordatos, Istoria tou ellinikou [wie Anm. 6], S. 98–101; Noutsos, I sosialistiki, Bd. 1 [wie Anm. 6], S. 95 f.; siehe Marinos Antypas: Pros ton laon. I psifos, in: Parartima Anastaseos (19.2.1903), abgedruckt in: Theodoros Benakis (Hg.): Marinos Antypas. Pros ton laon kai alla keimena, Athen 2000, S. 24 f.; Marinos Antypas: Eimetha epanastatai, in Anastasis 25 (17.9.1905), S. 1, abgedrukt in: Noutsos I sosialistiki, Bd. 1 [wie Anm. 6], S. 304 f.; Marinos Antypas: Ti eimai, in: Anastasis 55 (24.3.1907), S. 3 f., abgedruckt in: Noutsos, I sosialistiki, Bd. 1 [wie Anm. 6], S. 306–308. 42 Basil Mathiopoulos: Die Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in Griechenland (1821–1961), Hannover 1961, S. 65–68. 43 Antonis Liakos: Oi dinatotites proslipsis tou marxismou stin Ellada, to 19o aiona, in: Georgios Dertilis/Kostas Kostis (Hg.): Themata neoellinikis istorias (18os–20os aionas), Athen 1991, S. 409; Für eine Weiterentwicklung dieser Argumentation siehe Dimou, Entangled paths towards modernity [wie Anm. 4], S. 314–351. 44 Anonym: Mikra allilografia, in: Sosialistikos Sillogos 6 (15.11.1893), S. 3. 45 Hadziiosif, I girea selini [wie Anm. 19], S. 374–381 u. S. 405–407; Christos Hadziiosif: The invisible army of Greek labourers, in: Leda Papastefanaki/M. Erdem Kabadayı (Hg.): Working in Greece and Turkey. A comparative labour history from empires to nation-states. 1840–1940, Oxford u. a. 2020, S. 113–147.
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angesprochen werden, das von der christlichen Moral abgeleitet war.46 Schließlich war ein Teil des Sozialismus der II. Internationale, die britische Fabian Society, dem christlichen Sozialismus gegenüber aufgeschlossen.47
II. Um die Jahrhundertwende war die griechische sozialistische Bewegung unbedeutend. Nach der Niederlage im griechisch-türkischen Krieg von 1897 gewann der Nationalismus an Macht. Angesichts des jugendlichen Charakters der sozialistischen Bewegung ist es bezeichnend, dass die Studentenbewegung in dieser Zeit reaktionäre und nationalistische Proteste anführte. In der Zeit von 1905 bis 1907 fanden eine Reihe bedeutender Ereignisse statt. Im Mai 1905 wurde Theodoros Diligiannis, Ministerpräsident Griechenlands und Führer der »Nationalen Partei«, die ihre Stütze in den unteren Klassen hatte, ermordet.48 Darüber hinaus erlebte die griechische Wirtschaft eine Krise (1905), die die zweite Industrialisierungswelle (1890 bis 1905) zum Stillstand brachte, und zeitgleich eine Agrarkrise (1903 bis 1905).49 Auch die Arbeits- und Lebensbedingungen der griechischen Arbeiterklasse waren prekär.50 Infolgedessen brachen in den Jahren 1906 bis 1907 Streiks in verschiedenen Branchen aus, die umgekehrt die Entstehung des »Verbandes der griechischen Industriellen und Fabrikanten« zu Beginn des Jahres 1907 beschleunigten. Zwischen 1900 und 1914 wurden auch eine Reihe neuer Gewerkvereine und Gewerkschaften
46 Siehe die Anm. 16 u. 38; siehe Anonym: Allilografia, in: »Sosialistis« 8 (5.7.1890), S. 4; Nikolaos Exarchos: Iisous Christos, in: Metarrithmistis 22 (25.4.1894), S. 1 f.; Anonym: Isotis, in: »Sosialistikos Sillogos« 1 (14.8.1893), S. 2; Anonym: Christianismos, in: »Sosialistikos Sillogos« 4 (1.12.1893), S. 2 f.; Anonym: Sprüch, in: Epi ta Proso 2 (7.4.1896), S. 4; Anonym: Titellos, in: »Alitheia« 1 (April 1894), S. 2 f., abgedruckt in: Noutsos, I sosialistiki, Bd. 1 [wie Anm. 6], S. 256–258, S. 275–277 u. S. 297–299. 47 Siehe Percy Dearmer: Fabian Tract No. 133. Socialism and Christianity, London 1907; Colwyn E. Vulliamy: Fabian Tract No. 174. Charles Kingsley and Christian Socialism, London 1914. 48 Christos Hadziiosif: Eisagogi, in: ders. (Hg.): Istoria tis Elladas tou 20ou aiona. Oi aparches 1900–1922. Bd. 1,1, Athen 1999, S. 17 u. S. 20 f.; Stratis Bournazos: I ekpaideusi sto elliniko kratos, in: Christos Hadziiosif: Istoria tis Elladas tou 20ou aiona. Oi aparches 1900–1922. Bd. 1,2, Athen 1999, S. 269–271. 49 Christina Agriantoni: Viomichania, in: Hadziiosif, Istoria tis Elladas [wie Anm. 48], S. 173; Sokratis Petmezas: Agrotiki Oikonomia, in: Hadziiosif: [wie Anm. 48], S. 68. 50 Ergatikos Syndesmos Patron: I nomothetiki prostasia ton ergaton en Elladi No. 1, Patra 1906.
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gegründet. Außerdem war es eine Zeit großer sozialer Mobilität, entweder vom Land in die Städte oder von Griechenland in die USA oder zwischen dem griechischen Staat und den Zentren der griechischen Diaspora (zum Beispiel die Küstengebiete des Schwarzen Meeres, Istanbul und Ägypten).51 In diesem Milieu erschien im Juni 1907 ein einflussreiches Buch mit dem Titel »To koinoniko mas zitima« (»Unsere soziale Frage«), das als »Büchlein« bekannt wurde. Der Autor dieses »Büchleins« war ein prominenter Sozialist der Generation der 1870er, Georgios Konstantinidis (Georgios Skliros). Er wurde 1878 in Trapezunt als Sohn einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie geboren. Nach dem Gymnasium war er für vier Jahre mit der kaufmännischen Niederlassung seiner Familie in Odessa beschäftigt. Zwischen 1901 und 1905 studierte Skliros Medizin an den Universitäten Moskau und Tartu, wo er von der Narodniki-Bewegung und den Schriften Georgi Plechanovs beeinflusst wurde. 1906 setzte er seine Studien in Deutschland fort (Jena und Berlin). Dort wurde er von Ernst Haeckel beeinflusst und machte Bekanntschaft mit anderen griechischen Studenten, die dem Sozialismus nahestanden. Ab 1910 entfernte sich Skliros allmählich vom Sozialismus. 1911 zog er nach Ägypten, wo er bis zu seinem Tod 1919 blieb. Dort lernte er die »volkssprachlichen«52 Kreise von Alexandria kennen und schrieb in ihren Journalen. Er beteiligte sich nicht aktiv an der griechischen sozialistischen Bewegung, obwohl er Nikolaos Giannios (1885–1958), einem prominenten Mitglied der nächsten Generation griechischer Sozialisten, einige Vorschläge zu deren Taktik sandte.53 Bis 1910 war die sozialistische Haltung von Skliros marxistischer als die seiner Vorgänger. Im »Büchlein« schrieb er über den Klassenkampf als Stimulus des sozialen Fortschritts; er analysierte die europäischen Gesellschaften, darunter die griechische, nach einer vereinfachten Stufentheorie (Feudalismus/ Aristokratie/Vergangenheit, Kapitalismus/Bourgeoisie/Gegenwart, Sozialismus/ Arbeiter/Zukunft); er glaubte, dass alle Gesellschaften sich nach denselben Gesetzmäßigkeiten entwickelten und deshalb durch eine »objektive Soziologie« untersucht werden sollten; er schrieb über das Vorherrschen der ökonomischen 51 Antonis Liakos, Ergasia kai politiki stin Ellada tou Mesopolemou, Athen 1993, S. 98; Hadziiosif, I girea selini [wie Anm. 19], S. 300 u. S. 384 f.; Sokratis Petmezas: Dimografia, in: Hadziiosif, Istoria tis Elladas [wie Anm. 48], S. 41–51; ebenda, S. 17 f. 52 Im Hinblick auf die griechische Sprachfrage siehe Peter Mackridge: Language and National Identity in Greece 1766–1979, New York 2009, S. 241–287. 53 Thanasis Antonopoulos: Eisagogi, in: ders. (Hg.): Georgios Skliros. Kritikes selides. Bd. 1, Athen 1971, S. 11 f.; Loukas Axelos: Chronografia, in: ders. (Hg.): G. Sklirou erga, Athen u. a. 1976, S. 9–18; Moskof, Eisagogika stin istoria [wie Anm. 11], S. 218–221; Noutsos, I sosialistiki, Bd. 2,1 [wie Anm. 4], S. 193 f. u. S. 467–470.
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Faktoren in der Geschichte.54 Trotz dieser innovativen und radikalen theoretischen Analysen war das politische Programm von Skliros nicht ebenso radikal. Was er verlangte, war ein gut funktionierender bürgerlich-demokratischer Staat, durch den ein reiner Klassenkampf entstehen würde, um sozialen Fortschritt zu erzielen.55 Darüber hinaus wurde die Organisation der Arbeiterklasse den jungen bürgerlichen Intellektuellen, den »Volkssprechern«, übertragen; außerdem war sie nicht mit der Entwicklung der Produktivkräfte verbunden.56 Schließlich versuchte seine Kritik nicht, die nationalistischen Ziele auszuschließen, die innerhalb der »volkssprachlichen« Bewegung hartnäckig verfolgt wurden.57 Dieses »Büchlein« war das erste Buch, welches das Konzept des Klassenkampfes in die Interpretation der griechischen Gesellschaft und ihrer Geschichte einführte und damit die vorherrschende Ideologie der klassenlosen griechischen Gesellschaft herausforderte.58 So löste seine Veröffentlichung in der volkssprachlichen Zeitung »Noumas« einen Disput zwischen »nationalistischen« und »sozialistischen« Volkssprechern über den Fortschritt der griechischen Gesellschaft aus, der von 1907 bis 1909 andauerte. In diesem Streit verteidigte ein anderes prominentes Mitglied der Sozialisten der 1870er Jahre, Kostas Chatzopoulos (Petros Vasilikos), Georgios Skliros. Chatzopoulos wurde 1878 in Agrinio als Sohn einer wohlhabenden Kaufmanns- und Grundbesitzerfamilie geboren. Von 1884 bis 1888 studierte er Rechtswissenschaften an der Universität Athen, wurde »Volkssprecher« und arbeitete von 1891 bis 1896 als Anwalt in seiner Heimatstadt. Nach seiner Teilnahme am Türkisch-Griechischen Krieg von 1897 veröffentlichte er seine kurzlebige modernistische Literaturzeitschrift »Techni« (»Kunst«). Nach einer kurzen Interaktion mit Nietzsches Ideen zog er 1900 für einige Monate nach Deutschland. Zwischen 1901 und 1905 lebte er in Athen; 1905 ließ er sich erneut in Deutschland nieder, genauer in München (1905 bis 1906 und 1908 bis 1914), unterbrochen durch zwei Jahre in Berlin (1906 bis 1908). In Deutschland stand er in Kontakt mit Skliros und wurde Marxist durch das Studium der sozialistischen Literatur wie zum Beispiel Marx (»Das kommunistische
54 Georgios Skliros: To koinoniko mas zitima (1907), in: Axelos, Chronografia [wie Anm. 53], S. 85–89, S. 90–93 u. S. 99–104. 55 Skliros, in: Axelos, Chronografia [wie Anm. 53], S. 122 u. S. 124–126. 56 Hadziiosif, Istoria tis Elladas [wie Anm. 48], S. 16. 57 Skliros, in: Axelos, Chronografia [wie Anm. 53], S. 121 u. S. 137. 58 Hadziiosif, Istoria tis Elladas [wie Anm. 48], S. 16.
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Manifest«, »Das Kapital«), Engels (»Anti-Dühring«) und Kautsky (»Ethik und materialistische Geschichtsauffassung«).59 Von 1907 bis 1909 versuchte Chatzopoulos, durch seine Interventionen in »Noumas« die volkssprachliche Bewegung mit der sozialistischen zu vereinen.60 Zur gleichen Zeit arbeitete er mit der sozialistischen Zeitung »Ergatis« (»Arbeiter«) in der Stadt Volos zusammen, einem aufstrebenden Industriezentrum mit Tabakfabriken. 1909 gründete er den »Sozialistischen Verein zur Verbreitung der Volkssprache« in München, obwohl er sehr bald von dessen nicht-sozialistischer Tendenz enttäuscht war, und den kurzlebigen »Hellenischen Arbeiter- und Arbeiterinnen-Unterstützungsverein Proodos« in Berlin. Zwischen 1910 und 1914 verfolgte er die Aktivitäten der sozialistischen Bewegung Griechenlands, vor allem durch seinen Briefwechsel mit Nikolaos Giannios und einer sozialistischen Gruppe in Kerkyra. 1913 übersetzte und veröffentlichte Chatzopoulos das »Kommunistische Manifest«. 1914 stimmte er der Einladung von Giannios zu, eine aktive politische Rolle bei der Vereinigung der verschiedenen sozialistischen Strömungen und Gruppierungen in Griechenland zu übernehmen. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges kehrte Chatzopoulos nach Griechenland zurück, aber aus Enttäuschung über die Rückständigkeit der griechischen Arbeiter bevorzugte er, sich an der liberalen und nicht an der sozialistischen Bewegung zu beteiligen.61 Bis 1914 war Chatzopoulos hauptsächlich marxistisch eingestellt, und sein Denken basierte auf fünf Mustern oder Themen. Das erste war der Glaube, dass alle Gesellschaften durch dasselbe Gesetz regiert würden, den Klassenkampf, der zum Fortschritt und damit letztendlich zum Sozialismus führe.62 Das zweite Muster war die Trennung zwischen Theorie und Praxis und eine allmähliche Bevorzugung der letzteren. Obwohl er sich als revolutionärer Sozialist definierte, unterstützte er keine gewaltsame, sondern eine friedliche Revolution als Ergebnis parlamentarischer Politik. Darüber hinaus würde er nicht zögern, je nach der gegebenen sozialen und politischen Situation eine progressive Bewegung zu unterstützen.63 Das dritte Muster war das Verhält59 Markos A. Giolias: To ergatiko kinima stin Ellada kai o Kostas Chatzopoulos, Agrinio 1996, S. 22–25, S. 46–50, S. 55–62, S. 109–112, S. 114 u. S. 119 f. 60 Petros Vasilikos: Sosialismos kai glossa, in: »Noumas« 339 (12.4.1909), S. 1–3. 61 Giolias, To ergatiko kinima [wie Anm. 59], S. 28–323; siehe Nikolaos Giannios: Apo ta grammata tou Chatzopoulou, in: »Noumas« 696 (8.8.1920), S. 92. 62 Siehe Petros Vasilikos: Stin ousia, in: »Noumas« 289 (30.3.1908), S. 4–6. 63 Siehe ders.: To koinoniko mas zitima, in: »Noumas« 267 (28.10.1907), S. 1–4; Nikolaos Giannios: Peninta anekdota grammata tou K. Chatzopoulou, in: »Nea Estia« 732 (1958), S. 30 f.
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nis von Sozialismus und Kunst. Als Schriftsteller und Literaturkritiker vertrat Chatzopoulos die Auffassung, dass individuelle ästhetische Kriterien für die Bewertung von Kunst nicht ausreichen und man den gesellschaftlichen Kontext hinterfragen müsse, der sie hervorgebracht habe. Außerdem identifizierte er den Fortschritt der Kunst mit dem des Sozialismus, da er die Freiheit und die Kreativität aller sichern könne.64 Das vierte Thema war die Organisation und Erziehung der griechischen Arbeiter als Voraussetzung für jede bedeutende sozialistische Bewegung.65 Das letzte Thema war die Notwendigkeit der Anfechtung der Ideologie der herrschenden Klassen, insbesondere des Nationalismus und der Kirche, aber nicht der Religion.66 In der zweiten Hälfte der 1910er Jahre arbeitete er mit der »Liberalen Partei« zusammen, um die liberale Demokratie gegen das reaktionäre Milieu des Königs und der Rechten zu verteidigen.67 Die »Liberale Partei« von Eleftherios Venizelos war nach dem Aufstand von Goudi im Sommer 1909, der von Offizieren einer »Militärliga« ausging und die Folge einer weit verbreiteten Unzufriedenheit in der Armee und unter den unteren und mittleren Schichten der Bevölkerung war, die dominierende politische Macht geworden. Venizelos war während der gesamten 1910er Jahre die beherrschende politische Figur und verfolgte mit seinem Programm zwei Ziele: bürgerliche Modernisierung in konstitutionellen, sozialen und wirtschaftlichen Bereichen in der Innenpolitik und in der Außenpolitik Reorganisation der Armee und Erfüllung der »Großen Idee«,68 die ein expansionistisches und irredentistisches Programm gegen andere Nationen auf dem Balkan und vor allem gegen das Osmanische Reich umfasste. Das Ergebnis dieser Außenpolitik war die Annexion von Epirus und Südmakedonien durch den griechischen Staat nach den Balkankriegen in den Jahren 1912 und 1913. Darüber hinaus versuchte die »Liberale Partei«, mit der Verabschiedung des ersten Arbeitsgesetzes (1911) und der politischen
64 Siehe Petros Vasilikos: Gia ena koino kai gia ena drama, in: »Noumas« 278 (13.1.1908), S. 5–8; ders.: Gia ena allo drama kai mia koinonia, in: »Noumas« 284 (24.2.1908), S. 2–7; ders.: Sosialismos kai techni, in: »Noumas 340 (19.4.1909), S. 2–5; Nikolaos Giannios: Peninta anekdota grammata tou K. Chatzopoulou, in: Nea Estia 741 (1958), S. 773–775. 65 Siehe Petros Vasilikos: Diorganosi, in: »Ergatis« [Volos] 22 (2.6.1908), S. 2 f.; Nikolaos Giannios: Peninta anekdota grammata tou K. Chatzopoulou, in: Nea Estia 729 (1958), S. 1687 f. 66 Petros Vasilikos: Astiki kai sosialistiki ideologia, in: »Ergatis« [Volos] 19 (2.5.1908), S. 3 f. 67 Siehe Giolias, To ergatiko kinima [wie Anm. 59], S. 448–486. 68 Emanuel Turczynsk: Megali Idea (Große Idee), in: Holm Sundhaussen/Konrad Clewing (Hg.): Lexikon zur Geschichte Südosteuropas, Wien u. a. 2016, S. 594–596.
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Kontrolle der »Arbeiterzentren« die Arbeiterbewegung zu gewinnen. Dieser Versuch war zunächst erfolgreich, scheiterte aber auf lange Sicht an der Verschärfung des Klassengegensatzes im gleichen Zeitraum.69 Die Zusammenarbeit sozialistischer Intellektueller mit der »Liberalen Partei« war keine Ausnahme.70 Alexandros Papanastasiou war ein weiteres Beispiel. Er wurde 1876 im griechischen Tripolis als Sohn eines Rektors mehrerer Gymnasien und ersten Vorsitzenden des Fonds für Staatsbeamte und Abgeordnete geboren. Von 1895 bis 1898 studierte Papanastasiou Rechtswissenschaften an der Universität Athen und in der ersten Hälfte der 1900er Jahre Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten Heidelberg und Berlin. Dort wurde er vom Marxismus (Karl Kautsky, Max Adler und andere), Max Weber, der Historischen Schule der Nationalökonomie (Gustav Schmoller, Adolph Wagner und andere), Georg Simmel und Friedrich Ratzel beeinflusst. Zwischen 1905 und 1907 lebte er in London und Paris.71 Kurz nach seiner Rückkehr nach Griechenland 1908 gründete Papanastasiou zusammen mit seinen Freunden und Studienkollegen aus Deutschland die »Soziologische Gesellschaft«, deren Vorbild die »Fabian Society« war.72 Dieser Intellektuellenkreis wurde auch als die »Soziologen« bezeichnet. Das akademische Ziel des Vereins war es, philosophische, soziologische und ökonomische Forschung über Griechenland zu betreiben, weshalb seine Mitglieder die »Epitheorisis ton koinonikon kai nomikon epistimon« (»Rundschau für Sozial- und Rechtswissenschaften«) gründeten (1908 bis 1909). Ihr politisches Ziel war die Organisation
69 Siehe George Leon: The Greek labor movement and the bourgeois state 1910–1920, in: Journal of the Hellenic Diaspora 4 (Winter 1978), S. 5–28; Giorgos Mavrogordatos/ Christos Hadziiosif (Hg.): Venizelismos kai Astikos Eksynchronismos, Heraklion 1988. 70 Siehe Rena Stavridi-Patrikiou: I entaxi ton sosialiston dianooumenon sto kinima tou Venizelismou, in: Mavrogordatos/Hadziiosif (Hg.), Venizelismos [wie Anm. 69], S. 315– 328. 71 Spiros Marketos: O Alexandros Papanastasiou kai i epochi tou. Bd. 1, Dissertasion, Athen 2000, S. 47–54, S. 56–64, S. 74–76 u. S. 87–91; Toula Apostolopoulou-Georgiadi: Alexandros Papanastasiou. O politikos, o epistimon, o agonistis, o Anthropos, in: Giorgos Anastasiadis/Giorgos Kontogiorgis/Paulos Petridis (Hg.): Alexandros Papanastasiou. Thesmoi, ideologia kai politiki sto Mesopolemo, Athen 1987, S. 20–24; Alexandros Papanastasiou: O ethnikismos, in: Epitheorisi koinonikon kai politikon epistimon 1 (1916), S. 42 f. u. S. 45. 72 Alexandros Papanastasiou: Interview (1933), in: Xenofon Leukopatridis (Hg.): Alexandros Papanastasiou. Meletes-Logoi-Arthra, Athen 1988, S. 746.
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einer unabhängigen Arbeiterpartei zur schrittweisen Vergesellschaftung der Produktionsmittel.73 Während des Aufstandes von Goudi im Sommer 1909 versuchten die »Soziologen«, soziale Reformen zu fördern und die Arbeiter durch Unterstützung bei der Gründung von Arbeitergewerkschaften zu radikalisieren.74 1910 riefen die »Soziologen« die »Volkspartei« ins Leben, welche die unabhängige fortschrittliche Zeitung »To Mellon« (»Die Zukunft«) als Organ benutzte; doch während der 1910er Jahre unterstützten sie beständig, aber kritisch die »Liberale Partei« und deren Modernisierungsprogramm.75 1916 veröffentlichte Papanastasiou seine zweite Zeitschrift »Epitheorisi koinonikon kai politikon epistimon« (»Rundschau für Sozial- und Politikwissenschaften«). In deren Geleitwort wurden die akademischen Ziele der »Soziologischen Gesellschaft« weiter bekräftigt.76 Von 1917 bis 1920 amtierte er als Verkehrsminister und verabschiedete Gesetze über die Raumplanung, die Reorganisation der Polytechnischen Schule von Athen und die Eisenbahnverwaltung.77 In den 1920er Jahren unterstützte Papanastasiou leidenschaftlich die demokratische Regierungsform während des erfolgreichen Referendums von 1924; er versuchte, die Bereitschaft des Militärs zur politischen Intervention einzuschränken, was seit 1909 üblich war; führend bei der Verfassungsreform von 1927 beteiligt, förderte er außerdem die Agrarreform durch die Gründung der Landwirtschaftsbank im Jahr 1928. Nach der letzten liberalen Regierung von 1928 bis 1932 wurde seine politische Macht geschwächt. 1935 wurde die konstitutionelle Monarchie in Griechenland wiederhergestellt; kurz nach der Einführung der Diktatur von Ioannis Metaxas im August 1936 starb Papanastasiou im November desselben Jahres.78 Abgesehen von der reaktionären Rechten, unterschied sich Papanastasiou auch von mehreren neuen sozialistischen oder kommunistischen Organisatio-
73 Alexandros Papanastasiou et. al.: Katastatiko Koinoniologikis Etaireias (1908), in: Leukopatridis, Alexandros Papanastasiou [wie Anm. 72], S. 3. 74 Koinoniologiki Etaireia: Ti Prepei na ginei (29.8.1909), in: Leukopatridis, Alexandros Papanastasiou [wie Anm. 72], S. 45–52; Hadziiosif, Istoria tis Elladas [wie Anm. 48], S. 25–27. 75 Alexandros Papanastasiou et. al.: To Laikon Komma (1910), in: Leukopatridis, Alexandros Papanastasiou [wie Anm. 72], S. 73–76 u. S. 881–885; vgl. die Anm. 71 bis 72; siehe Marketos, O Alexandros Papanastasiou [wie Anm. 71], S. 223–261. 76 Etairia ton koinonikon kai politikon epistimon: Epitheorisi koinonikon kai politikon epistimon 1 (1916), S. 1–3; vgl. Anm. 71. 77 Marketos, O Alexandros Papanastasiou [wie Anm. 71], S. 463–468. 78 Siehe Apostolopoulou-Georgiadi, Alexandros Papanastasiou [wie Anm. 71], S. 40–70.
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nen.79 Diese Vereinigungen waren durch die Stärkung der syndikalistischen Bewegung in Form von Organisationen und Streiks ab 1910 entstanden und wurden von der folgenden sozialistischen Generation (geboren zwischen 1880 und 1895) geführt.80 1918 wurden die »Sozialistische Arbeiterpartei Griechenlands« (»Kommunistische Partei Griechenlands« nach 1924) und der »Allgemeine Arbeiterverein Griechenlands« als erste zentralisierte und landesweite sozialistische und gewerkschaftliche Organisationen gegründet. Damit begann ein neues Kapitel in der Geschichte der griechischen Arbeiterbewegung, dasjenige der herauskristallisierten klassenbewussten Opposition gegen das bürgerliche politische System und den Kapitalismus.81 Nach einem Massenstreik im August 1923, der mit mehr als zehn von der Polizei ermordeten Arbeitern endete, wurde die griechische Arbeiterbewegung hart unterdrückt. Die Haltung dieser Generation war marxistischer als ihre Vorgänger und positionierte sich gegen den Reformismus. Dennoch waren einige Gruppen evolutionärer und patriotischer als andere.82 Während der 1920er Jahre hielt Papanastasiou die harte Repression der Kommunisten für unnötig und übertrieben. In den 1930er Jahren unterstützte er jedoch die Hufeisentheorie, die besagt, dass die Zunahme der extremen Rechten die Folge des Anwachsens der extremen Linken war; er forderte deshalb den Ausschluss der Kommunisten aus dem Parlament.83 Im Vergleich zu Skliros und Chatzopoulos war Papanastasious Haltung reformistisch. Während seiner gesamten Laufbahn glaubte er an die ökonomischen Verhältnisse als Grundlage menschlicher Gesellschaften und an die Gültigkeit ökonomischer Gesetze in engem Zusammenhang mit ihrem historischen Kontext. Die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der arbeitenden Klassen wäre das Ergebnis schrittweiser Reformen, die sich aus 79 Siehe Alkis Rigos: Papanastasiou kai Aristera, in: G. Anastasiadis et. al. (Hg.), Alexandros Papanastasiou [wie Anm. 71], S. 111–124. 80 Siehe Noutsos, I sosialistiki, Bd. 2,1 [wie Anm. 4], S. 91–117 u. S. 122–125; Leon, The Greek labor movement, in: Mavrogordatos/Hadziiosif (Hg.): Venizelismos [wie Anm. 69], S. 5–28. 81 Siehe Hadziiosif, I girea selini [wie Anm. 19], S. 96–102, S. 286–298 u. S. 388–394. 82 Siehe Spiros Marketos, I elliniki Aristera, in: Christos Hadziiosif (Hg.): Istoria tis Elladas tou 20ou aiona. O Mesopolemos 1922–1940, Bd. 2,2 Athen 1999, S. 126–132; siehe Noutsos, I sosialistiki, Bd. 2,1 [wie Anm. 4], S. 91–101, S. 105–107, S. 111–113 u. S. 124 f.; Leon, The Greek socialist movement [wie Anm. 4], S. 1–33. 83 Siehe Alexandros Papanastasiou: Ansprache (1924), in: Leukopatridis, Alexandros Papanastasiou [wie Anm. 72], S. 398 f.; ders.: Ansprache (1925), in: ebenda, S. 489–492; ders.: Ansprache (1929), in: ebenda, S. 584–594; ders.: Diati den sinergazometha me to Kommounistiko Komma (1936), in: ebenda, S. 839–849; vgl. Rigos, Papanastasiou kai Aristera [wie Anm. 79], S. 120–123.
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der historischen Forschung ableiten würden.84 Darüber hinaus betrachtete er den Nationalismus als die vorherrschende Ideologie der Neuzeit.85 Er hatte die Agrarökonomie erforscht und ein strukturiertes Agrarprogramm entwickelt, um sich mit der Agrarfrage auseinanderzusetzen, die sich durch den Zustrom von einer Million Vertriebener nach der Niederlage im griechisch-türkischen Krieg 1919 bis 1922 intensivierte.86 Seine politische Rolle bestand hauptsächlich darin, einige Bauernschichten zu vertreten und die sozialen Reformen im Rahmen des bürgerlichen Modernisierungsprogramms der »Liberalen Partei« auszuweiten.87
III. Die griechischen Sozialisten der 1870er Jahre wiesen gemeinsame wie divergierende Merkmale auf. Von ihrer sozialen Herkunft her stammten sie alle aus dem Wirtschafts- und Bildungsbürgertum. Sie können auch durchweg als Intellektuelle bezeichnet werden. Die Haltung derer, die bis 1907 tätig waren, wurde vor allem in Griechenland (und mit französischen Einflüssen) geformt, während diejenigen, die nach 1907 tätig waren, vor allem in Deutschland geprägt wurden. In ideologischer Hinsicht war die erste Gruppe meist anarchistisch oder christlich-sozialistisch ausgerichtet, während die zweite klarere marxistische Bezüge besaß. Ihre Aktionen waren weder gleichzeitig noch gleichartig. Die erste Gruppe hatte sich bis 1907 aktiv an der sozialistischen Bewegung beteiligt, während die zweite mit Ausnahme von Papanastasiou von 1907 bis 1914 versucht hatte, die nächste Generation der sozialistischen Bewegung ideologisch zu formen und den Marxismus in Griechenland populärer zu machen. In dieser Hinsicht kann man also nicht von einer sozialistischen
84 Siehe Anm. 71 bis 73; vgl. Alexandros Papanastasiou: Provlimata tis oikonomikis (1909), in: Leukopatridis, Alexandros Papanastasiou [wie Anm. 72], S. 11–14 u. S. 21. 85 Papanastasiou, O ethnikismos [wie Anm. 71], S. 15 f. 86 Siehe Anm. 76; Alexandros Papanastasiou: Ansprache (1911), in: Leukopatridis, Alexandros Papanastasiou [wie Anm. 72], S. 96–101; ders.: Ansprache (1924), in: ebenda, S. 415–420; ders.: Ansprache (1929), in: ebenda, S. 629–639; ders.: Ansprache (1930), in: ebenda, S. 662–666; siehe Marketos, O Alexandros Papanastasiou [wie Anm. 71], S. 77 f. 87 Siehe Giorgos Mavrogordatos: I avgi tis ellinikis sosialdimokratias, in: Anastasiadis, Alexandros Papanastasiou [wie Anm. 71], S. 109 f.; Christos Hadziiosif: I venizelogennis antipoliteusi ston Venizelo, in: Mavrogordatos/ders. (Hg.), Venizelismos [wie Anm. 69], S. 439–458.
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Generation der 1870er Jahre sprechen, sondern von zwei Generationseinheiten, deren politische Formation und Aktion weder zeitlich noch räumlich oder ideologisch einheitlich waren. Ein Vergleich der griechischen Sozialisten der 1870er Jahre mit denen der entwickelten europäischen Bewegungen (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien usw.) auf Generationenbasis wäre aufgrund der sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhänge und organisatorischen Kapazitäten fast unmöglich. Der Vergleich mit den Sozialisten der Balkanstaaten könnte fruchtbarer sein. In diesen Staaten hatten die prominenten Vertreter der sozialistischen Bewegung gemeinsame Erfahrungen: Die meisten von ihnen waren Intellektuelle, die außerhalb ihres Nationalstaates (meistens in Russland und in der Schweiz) ideologisch ausgebildet waren; sie waren von der Narodniki-Bewegung und dem russischen Marxismus beeinflusst und gehörten einer eher marginalen Bewegung an; viele von ihnen waren staatlich integriert und vielfach mit staatlicher Repression konfrontiert. Diese Prozesse und Erfahrungen waren jedoch generationenübergreifend.88 Wenn man darüber hinaus die politische Tätigkeit der prominentesten Sozialisten der Generation der 1870er Jahre auf dem Balkan untersucht, findet man Asynchronitäten. In Rumänien waren die beiden prominentesten Vertreter der sozialistischen Generation der 1870er Jahre, Ioan C. Frimu (1871–1919) und Cristian Racovski (1873–1941), seit 1906 Mitglieder der landesweiten sozialistischen Organisationen und Vertreter des Marxismus.89 Die serbischen Sozialisten der 1870er Jahre, zum Beispiel Kosta Jovanovic (1875–1930) und Milorad Popovic (1874–1905), bevorzugten die gewerkschaftliche Bewegung gegenüber der politischen Organisation der Arbeiterklasse. Radovan Dragovic (1878–1906) führte jedoch 1903 die Gründung der Sozialdemokratischen Partei Serbiens an.90 In Bulgarien hatte die vorhergehende Generation bereits eine landesweite sozialistische Partei gegründet, so dass ein prominenter Sozialist der Generation der 1870er Jahre, Georgi Bakalov (1873–1939), die linke Spaltung der Partei 1903 und eine weitere Spaltung zusammen mit Nikola Harlakov (1874–1927) 88 S. Blagovest Njagulov: Early socialisms in the Balkans: Ideas and practices in Serbia, Romania and Bulgaria, in: Roumen Daskalov/Diana Mishkova (Hg.): Entangled Histories of the Balkans, Bd. 2: Transfers of Political Ideologies and Institutions, Leiden u. a. 2014, S 199–280. 89 Keith Hitchins: Romania, in: Marcel van der Linden/Jürgen Rojahn (Hg.), The formation of labour movements 1870–1914, Leiden u. a. 1990, S. 380–382. 90 Mira Bogdanovic: Serbia, in: van der Linden, The formation of labour movements [wie Anm. 89], S. 426 f.
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im Jahre 1906 initiieren konnte.91 In diesem Sinne wurde ihre Entwicklung entsprechend der jeweiligen nationalen Kontexte beeinflusst. Eine weitere Differenzierung der griechischen Sozialisten der 1870er Jahre gegenüber ihren Genossen auf dem Balkan war das Fehlen von Kontakten zur Zweiten Internationale. Nach der Teilnahme von Platon Drakoulis am Gründungskongress in Paris 1889 gab es bis 1908 keine Kontakte. Von 1908 bis 1912 war Drakoulis der einzige griechische Sozialist, der in Verbindung zum Internationalen Sozialistischen Büro stand, jedoch ohne dessen Mitglied zu sein.92 Eine diesbezügliche Änderung vollzog erst die nächste Generation. 1910 wurde die multilaterale »Fédération socialiste ouvrière de Salonique« von Avraam Benaroya (1887–1979) Mitglied des ISB, bis 1913 als osmanischer, danach als griechischer Vertreter;93 1912 unterhielt der »Sozialistische Klub der griechischen Jugend« Kontakte zur Sozialistischen Jugendinternationale;94 1914 wurde die Jugendorganisation der »Fédération« Mitglied der SJI. Das ist ein deutlicher Unterschied im Vergleich zur systematischen Vertretung der BalkanSozialisten auf den Kongressen der Internationale oder zu den internationalen Laufbahnen von Racovski oder Dimitar Vlahov (1878–1953).95 Zusammenfassend: Wie sehr kann der Begriff der Generation einem helfen, die griechischen Sozialisten der 1870er Jahre zu untersuchen? Einerseits kann man die führenden Persönlichkeiten der griechischen sozialistischen Bewegung als zwei Generationseinheiten klarer voneinander abgrenzen. Diese Bemerkung steht im Einklang mit der Literatur, die das Jahr 1907 als eine Zäsur der sozialistischen Bewegung definiert, obwohl sie nicht zu einer Revision der
91 George D. H. Cole: The Second International, London 1963, S. 594 f. Zhivka Damianova: Bulgaria, in: van der Linden, The formation of labour movements [wie Anm. 89], S. 403–405. 92 Archief van Camille Huysmans: 625.2686, http://hdl.handle.net/10796/87E51DCCFDD4-4D58-9E39-318BDF001583?locatt=view:level2 [letzter Zugriff 9. Mai 2023]. 93 Archief van Camille Huysmans: I 608A/9, 10, 26, 55, 58, in: 625.2849, http://hdl.handle. net/10796/239FDF27-99E2-45E9-A9E4-AD59C5B2F52C?locatt=view:level2 [letzter Zugriff am 9. Mai 2023]; Archief van Camille Huysmans: I 607B/32, 97, in: 625.2687, http://hdl.handle.net/10796/DC64BB9E-6816-4A82-9DB5-CF1736DF3300?locatt=view:level2 [letzter Zugriff am 9. Mai 2023]. 94 Sozialistische Jugend-Internationale Archives: 43 in: B/15, https://hdl.handle.net/10622/ AR CH01370.15 [letzter Zugriff am 9. Mai 2023]. 95 Avraam Benaroya: I proti stadiodromia tou ellinikou proletariatou, Athen 1986, S. 59; Dimitar Bechev: Vlahov, Dimitar (1878–1952), in: Historical Dictionary of the Republic of Macedonia, Maryland u. a. 2009, S. 234 f.; Cole, The Second International [wie Anm. 91], S. 588–590.
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Periodisierung dieser Bewegung kommt.96 Andererseits muss man jedoch auch generationenübergreifende Prozesse berücksichtigen, wenn man die politische Praxis beider Generationseinheiten erklären möchte. Die Wirkmächtigkeit der gesamten 1870er Generation wie der griechischen sozialistischen Bewegung insgesamt war mindestens bis zum Ersten Weltkrieg wegen der Charakteristika der Klassengegensätze in Griechenland, der ideologischen Dominanz der herrschenden Klassen und der Ermangelung schlagkräftiger Arbeiterorganisationen sehr beschränkt. Eine vergleichende Analyse der Biographien führender Sozialisten der 1870er Jahre in den Ländern des Balkans bestätigt die Individualität der dortigen nationalen sozialistischen Bewegungen, die sich mit den Entwicklungen in Zentral- oder Westeuropa nur schwer vergleichen lassen.
96 Siehe Noutsos, I sosialistiki, Bd. 2,1 [wie Anm. 4]; Hadziiosif, Istoria tis Elladas [wie Anm. 48].
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Die sozialistische politische Elite Armeniens vor und nach dem Ersten Weltkrieg
1. Die Gründung der beiden sozialistischen Parteien und ihre Programme Die ersten armenischen sozialistischen Parteien entstanden im späten 19. Jahrhundert. Zugleich bildeten diese Parteien, nämlich die marxistisch orientierte Hnčak-Partei1 sowie die sozialrevolutionär geprägte, nicht marxistische Dašnakc’owt’yown,2 die ersten sozialistischen Parteien im Osmanischen Reich und im Iran. Im Südkaukasus, der neben Sibirien als russisches Verbannungsgebiet für Revolutionäre und Oppositionelle diente, standen Armenier seit den 1860er Jahren in Kontakt mit russischen Narodniki bzw. »Volkstümlern« und vor allem mit der sozialrevolutionären Partei Narodnaja Wolja (»Volkswille«). 1887 gründeten Avetis Nazarbekyan (1866–1939) und fünf weitere armenische Studenten, nämlich Maro Nazarbekyan (1864–1941), ˙ Rowben Xanazat (Nšan Gabrielyan, 1862–1929), Gabriel Kafyan (Šmavon, 1860–1930), K’ristap’or Òhanyan (1864–1924) und Geworg Ġaraȷˇyan (1861–1936) in Genf die Zeitschrift und gleichnamige Partei Hntschak, die sich nicht nur mit ihrem Namen an Aleksandr Gercens Zeitschrift »Kolokol« (»Glocke«) anlehnte und enge Kontakte zu Plechanovs marxistischer Gruppe »Befreiung der Arbeit« unterhielt. Bald schlossen sich ihnen auch andere Personen an. Nazarbekyan vertrat unter dem Einfluss der Narodniki-Ideologie die Ansicht, dass es möglich sei, durch Dorfgemeinden den Sozialismus aufzubauen. Für ihn und die anderen Mitglieder seiner Genfer Zentrale waren einerseits die Kampfmethoden der Narodniki einschließlich des Terrorismus, die er und 1
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Im deutschsprachigen Raum werden Mitglieder der Hnčak-Partei (armenisch: Հնչակյան կուսակցություն) oft als Hntschaken (armenisch: Հնչակյաններ) und die Partei selbst als Hntschak bzw. Hntschak-Partei bezeichnet. Zur Erhöhung der Lesbarkeit des Fließtextes wird die Partei weiterhin als Hntschak-Partei bzw. Hntschak bezeichnet. Die Dašnakc’owt’yown (armenisch: Դաշնակցություն) nennt man im deutschsprachigen Raum häufig die »Daschnaken-Partei« oder »Daschnakzutjun«, während die Parteimitglieder als Daschnaken (armenisch: Դաշնակցականներ) bezeichnet werden. Zur Erhöhung der Lesbarkeit des Fließtextes wird auch in diesem Fall die Partei weiterhin als Daschnakzutjun bezeichnet.
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seine Parteiangehörigen in Westarmenien bzw. Osmanisch-Armenien zur Organisation eines Widerstandes gegen die osmanisch-türkische Gewaltherrschaft einführen wollten, und andererseits die marxistische Ideologie kennzeichnend. Diese beiden Faktoren kamen in dem von ihnen verfassten Parteiprogramm zum Ausdruck, das 1887 überarbeitet und im Herbst 1888 in ihrer in Genf – später in London – herausgegebenen Parteizeitung »Hnčak« veröffentlicht wurde.3 Das Programm setzte sich eine doppelte bzw. eine ferne und eine nahe Zielsetzung. Im ersten Programmteil wurde angekündigt, dass »die derzeitige Weltgesellschaft, deren Mehrheit von einer reichen Minderheit ausgebeutet« werde, sich durch Gewalt und Ungerechtigkeiten führen lasse. Das lasse sich erst »durch den Aufbau der Gesellschaft auf einer sozialistischen Basis« verbessern, die aufgrund des Kollektiveigentums an den Produktionsmitteln die menschliche Ausbeutung beenden und zu einer vollständigen Entwicklung aller Mitglieder beitragen werde, indem sie in der Tat die »menschlichen natürlichen Rechte« beibehalten werde. Die Hntschak-Partei erklärte das sozialistische System zu ihrem Fernziel.4 Als Nahziel wurde die Erlangung der »politischen Freiheit« für das unter dem Osmanischen Reich, Russland und dem Iran aufgeteilte Armenien betrachtet, wobei die Befreiung Osmanisch-Armeniens angesichts der permanenten Bedrohung der in diesem Teil ihres Siedlungsgebietes wohnenden Armenier als vordringlich galt. Es wurde festgestellt, dass das entrechtete armenische Volk im Osmanischen Reich keine Sicherheit von Leben und Eigentum besaß und sowohl von »wilden Stämmen« als auch von der Regierung ausgeplündert und misshandelt werde. Die Partei müsse sich daher vor allem für die Befreiung Osmanisch-Armeniens einsetzen, zumal die osmanischen Armenier die Mehrheit der armenischen Nation ausmachten, ebenso wie ihr Wohngebiet den Großteil des armenischen Vaterlands umfasse. Die Hntschak sah sich auch im Hinblick auf die Tatsache, dass die von den sechs europäischen Großmächten schon 1878 der osmanischen Regierung durch den Berliner Vertrag verpflichtend aufgegebenen Reformen zur Sicherung des Lebens und des Eigentums der armenischen Bevölkerung in den sechs »armenischen Provinzen« des Landes
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Çragir, in: »Hnčak« vom Oktober-November 1888, Nr. 11/12, S. 2 ff. Ebenda; vgl. Patmowt’iwn S. D. Hnčakean kowsakc’owt’ean (1887–1962), ht. A. Pēyrowt’ 1962, S. 32.
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immer noch nicht umgesetzt seien, zu unverzüglichen Aktivitäten im Osmanischen Reich berufen.5 Nach der Befreiung Osmanisch-Armeniens sollten die von Iran und Russland beherrschten Landesteile an die Reihe kommen, welche zusammen mit Osmanisch-Armenien eine demokratische Republik bilden sollten. Diese sollte dann den Weg zu dem Fernziel, nämlich zur Etablierung eines sozialistischen Systems, beschreiten, das auch »die gesamte zivilisierte Weltgemeinschaft« sich bald zu einer Aufgabe machen werde. Die »politische Freiheit« bzw. die Souveränität des Landes bildete also die Hauptvoraussetzung für die Gründung des Sozialismus in Armenien und sei erst durch eine »Revolution« bzw. eine Volkserhebung gegen die despotische Regierung zu erlangen. Danach müssten die jeweils zur Sicherung dieser Freiheit nötigen Maßnahmen getroffen werden. Es ging dabei vor allem um eine Demokratisierung des Wahlrechts, dann um Wahlen von Volksvertretern zur Gestaltung einer gesetzgebenden Versammlung, die Gründung einer Provinzial- und Gemeindeselbstverwaltung und eines allgemein verbindlichen Bildungssystems sowie um Versammlungs-, Presse- und andere Freiheiten.6 Parallel dazu müssten wirtschaftliche Reformen im Lande durchgeführt werden. In ihrem Kampf um die Befreiung des Volkes setzte die Partei folgende Prioritäten: 1. Aufklärungsarbeit, um breiten Massen des Volkes die Ziele der Partei zu verdeutlichen, vor allem auch um die Massen von der Notwendigkeit 5
6
In dem im Anschluss an den Russisch-Türkischen Krieg 1877 bis 1878 geschlossenen Vorfriedensvertrag von San-Stefano verpflichtete sich die osmanische Regierung in Artikel 16, ohne weiteren Zeitverlust Reformen in den im Hoheitsgebiet des Reiches verbleibenden armenischen Provinzen durchzuführen, um das Leben und das Eigentum armenischer Christen zu schützen; siehe Henrik Azatyan (Hg.): Č⋅akatagrakan paymanagrer, Erevan 2002, S. 47; vgl. Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift wider die christlichen Großmächte und ein Aufruf an das christliche Deutschland, 3. vermehrte Auflage, Berlin-Westend 1897, S. 44. Die russische Armee sollte als Garant noch sechs weitere Monate in den von ihr besetzten ostanatolischen bzw. westarmenischen Gebieten bleiben. Die damaligen sechs europäischen Großmächte aber, allen voran Großbritannien, setzten bei den Friedensverhandlungen in Berlin 1878 eine Revision des bilateralen Vorfriedensvertrages durch, wobei sie die Signifikarmächte des Berliner Vertrages zu Garanten für die Umsetzung der »armenischen Reformen« machten; siehe Vertrag zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich, Großbritannien, Italien, Russland und der Türkei, in: »Deutsches Reichsgesetzblatt« vom 11. Sept. 1878, S. 307 ff. Tatsächlich gelang es der osmanischen Staatsführung, die Umsetzung der Verwaltungsreform in den betreffenden armenischen Provinzen 36 Jahre lang zu verschleppen; auch die Uneinigkeit der Signifikarmächte verzögerte die Reformen. Çragir [wie Anm. 3], S. 3
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der Beseitigung des despotischen Regimes durch eine Revolution zu überzeugen. 2. Werbung für Aktivitäten, die darauf abzielten, die Massen zu ermutigen und zu erheben. Es ging dabei um Kundgebungen verschiedener Art sowie darum, Ansprüche auf die Erfüllung der im Berliner Vertrag festgesetzten Reformen und Proteste gegen die ungerechte osmanische Steuerpolitik zu demonstrieren. 3. Einschüchterung des politischen Gegners sowie der Spitzel und Verräter. Die Einschüchterung und die Bildung bewaffneter Gruppen galten als wichtige Bestandteile der revolutionären Tätigkeit der Partei und als eine Voraussetzung für eine Volkserhebung.7 Obwohl man im Programm auch die positive Stellung der Großmächte zur Armenischen Frage konstatierte, wurde die Bedeutung einer Selbsterhebung des Volkes hervorgehoben. Die Hntschak erachtete es für wichtig, mit anderen unterdrückten Völkern, vor allem mit Kurden und Assyrern, zu kooperieren und eine gemeinsame Front gegen das Regime des Sultans zu bilden. Das Parteiprogramm sah vor, aus verschiedenen Bevölkerungsschichten, vor allem aus Bauern und Proletariern, gut organisierte Gruppen zu bilden, die sich für die Erfüllung der genannten Ziele einsetzten. Nach einer erfolgreichen Revolution bzw. nach der Befreiung Armeniens sollten diese auch eine Rolle beim Aufbau der neuen Staatsstrukturen spielen. Nach Ansicht der Hntschak würde ein Krieg gegen das Osmanische Reich die beste Gelegenheit für die Ausführung ihres Nahziels bieten. Was die Struktur, die Organisierung und Ausführung der Parteiaktivitäten betrifft, so gestalteten sich diese dem demokratischen Zentralisierungsprinzip entsprechend. Die Partei stellte eine zentralisierte Organisation dar, deren Vorgehensweise über die regionalen Filialen vom Zentralkomitee geleitet wurde. Dem ersten Zentralkomitee der Hntschak gehörten A. Nazarbekyan, Xanazat, Kafyan, Ġaraȷˇyan und M. Nazarbekyan an, die, wie oben erwähnt, auch Mitbegründer der Partei gewesen sind.8 Im Jahr 1889 schickte die Genfer Zentrale Xanazat und Kafyan ins Osmanische Reich, um dort Parteifilialen zu gründen. So wurden in Erzurum, Trabzon (Trapesunt) und Konstantinopel die ersten Filialen gegründet.9 Ihnen traten ortsansässige Personen bei, von denen mehrere, beispielsweise Mihran Tamatyan (1863–1945), Hambarjowm Poyač⋅yan (1867–1915), Aram Ačëk’pašyan (1867–1915), und andere sich später bei Widerstandskämpfen gegen die systematischen Vernichtungsaktionen an den Armeniern hervortaten. Den meisten 7 8 9
Ebenda, S. 4 ff. Nationales Archiv Armeniens, Fonds 4046, Liste 2, Dok. 15. Papier 1. M. Tamatean: Im yowšers, Pēyrowt’ 1985, S. 86 ff.
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waren ursprünglich sozialistische Ideen unbekannt. Nach der Aufklärungsarbeit der Vertreter der Genfer Zentrale wurden diese aber übernommen und unterstützt.10 Obwohl zuvor der Filiale zu Trabzon die Führung der anderen Filialen im Osmanischen Reich zugedacht worden war, übernahm diese Rolle praktisch die hauptstädtische Filiale in Konstantinopel. Bald wurden Parteifilialen auch in zahlreichen anderen Städten des Reiches gegründet. Im Südkaukasus wurde die Stadt Baku zum Zentrum der Aktivitäten der Hntschak. Die Partei ließ sich auch in mehreren Städten der USA nieder, wo große armenische Gemeinden bestanden. Es entstanden in kurzer Zeit Filialen in Täbris, Salmas und Ardebil (Iran), in Kairo und Alexandria (Ägypten) sowie in anderen Ländern.11 Man begann mit friedlichen Protestaktionen gegen die Gewaltpolitik der osmanischen Staatsführung, die darauf abzielten, die Aufmerksamkeit der Großmächte auf die mangelhafte Umsetzung der im Berliner Vertrag festgelegten Verwaltungsreformen zu lenken, die als erster Schritt auf dem Weg zur Erfüllung des Nahziels, das heißt zur Erlangung der Souveränität Osmanisch-Armeniens, betrachtet wurden. Als Xanazat sich anschließend nach Batumi begab, waren in Tiflis bereits die Vorbereitungen für die Gründung einer armenischen revolutionären Partei im Gange. Es fanden zahlreiche diesbezügliche Versammlungen und Beratungen unter Intellektuellen statt, die verschiedene politische Strömungen und Gruppierungen vertraten. Es wurden vor allem die Fragen zu dem zu erlangenden Status Osmanisch-Armeniens sowie dem sozialistischen Charakter der zu gründenden Partei und deren Organisation diskutiert. Xanazat wurde eingeladen, als Vertreter der Hntschak an den Versammlungen teilzunehmen, was er auch tat.12 Es bestand ursprünglich die Idee, der zu gründenden Partei eine föderale Struktur zu verleihen, und somit alle national-revolutionär und sozialistisch geprägten Organisationen und Personen aufgrund einer gleichberechtigten Mitgliedschaft unter ein Dach zu bringen. Dementsprechend wurde von der im Herbst 1890 konstituierten Partei, die den Namen »Hay heġap’oxakanneri dašnakc’owt’yown« (»Föderation armenischer Revolutionäre«) annahm, ein
˙ . Xanazat: Yišoġowt’iwnner, in: »Mšak«, vom 13. Februar 1908, 10 Ebenda, S. 88; vgl. R T’iflis. 11 Ebenda. ˙ . Xan-Azat: Hay yeġap’oxakani yowšeric’, in: »Hayrenik’«, amsagir, Bd. 2, Boston, 1927, 12 R S. 119.
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Manifest veröffentlicht.13 Die Idee der Vereinigung aller revolutionären Kräfte scheiterte aber, vor allem, als die Hntschak diese nach mehreren Verhandlungsrunden letztendlich ablehnte.14 Die neu gegründete Partei ließ sich daher auf ihrer 1892 in Tiflis tagenden ersten Generalversammlung in »Hay heġap’oxakan dašnakc’owt’yown« (»Armenische revolutionäre Föderation«) umbenennen. Deren Begründer waren K’ristap’or Mik’ayelyan (1859–1905), Step’an Zoryan ˙ostom, 1867–1919) und Simon Zavaryan (1865–1913). (R Ein nachstehend gebotener kurzer Überblick über die Biographie von K’ristap’or Mik’ayelyan veranschaulicht, wie sich diese älteste Generation armenischer Sozialrevolutionäre entwickelt hat. Er wurde 1859 in der Kleinstadt Agulis im Bezirk Nachitschewan des Gouvernements Jerewan des Russischen Reiches – heute Teil von Nachitschewan, Aserbaidschan – geboren. Er schloss die örtliche Schule mit Bravour ab, weshalb ihm die Verwaltung ein Stipendium für das staatliche pädagogische Institut in Tiflis anbot, unter der Bedingung, dass er anschließend eine Lehrtätigkeit an einer Dorfschule annähme. Mik’ayelyan ging 1874 nach Tiflis, wurde aber erst 1876 im Alter von siebzehn Jahren in die Akademie aufgenommen und aktives Mitglied der in Studentenkreisen weit verbreiteten sozialrevolutionären Organisation »Narodnaja Wolja« (»Volkswille«). Er wurde von der revolutionären Literatur und insbesondere von den Werken des walisischen Sozialreformers Robert Owen beeinflusst. 1880 absolvierte er das Pädagogische Institut von Tiflis, kehrte in seine Heimatstadt Agulis zurück und erfüllte die Bedingung, an einer Dorfschule zu unterrichten. 1884 ging er wiederum nach Tiflis und fand die armenische Studentenorganisation »Miowt’iwn Hayrenasirac’ (»Patriotische Union«) in Auflösung vor. Es gelang ihm, mehrere Mitglieder zu sammeln und ihnen Vorträge zu halten, Grundkenntnisse und Sprache beizubringen und sie sonntags im Umgang mit Waffen zu schulen. Aus dieser Gruppe gingen prominente armenische Revolutionsführer wie Arabo und Margar Varžapetyan hervor. Gleichzeitig knüpfte Mik’ayelyan auch Kontakte zu bekannten patriotischen Intellektuellen wie Raffi und Grigor Arçrowni. 1885 schloss die zaristische Regierung 400 armenische Schulen, wodurch etwa 20.000 Schüler und 2.000 Lehrer ohne Unterricht und Beschäftigung blieben. Mik’ayelyan und seine Kameraden verteilen Protestflugblätter, hatten aber wenig Erfolg. Im 13 Manifest H. Y. Dašnakc’owt’ean, Wien, September 1890. Das Manifest war als Einzelblatt veröffentlicht und gilt als ein Vorgänger des Parteiorgans »Drošak«, das ab 1891 regulär herausgegeben wurde. 14 Offizielle Erklärung der Zentrale der revolutionären Partei Hnčak, in: »Hnčak« vom 5. Juni 1891, Nr. 7, S. 8.
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Herbst 1885 reiste Mik’ayelyan nach Moskau, um sein Studium an der Petrovskaya Landwirtschaftsakademie fortzusetzen. Eineinhalb Jahre lang besuchte er die Akademie, wo er Step’an Zoryan und Simon Zavaryan begegnete. Er belegte Lehrveranstaltungen als Wirtschaftsprüfer, studierte außerdem naturwissenschaftliche und wirtschaftswissenschaftliche Fragestellungen und beteiligte sich aktiv an Studentenbewegungen. Aus Geldmangel brach Mik’ayelyan sein Studium ab, kehrte 1887 nach Tiflis zurück und widmete sich revolutionären Aktivitäten. Er versuchte, mit Zavaryan eine geheime Druckerei zu gründen, aber es gelang ihnen nicht, ausreichende Mittel zu beschaffen. Nach seiner Rückkehr nach Tiflis organisierte, trainierte und unterrichtete er Gruppen aus der Arbeiterklasse. Um die zerstreuten armenischen Freiheitskämpfer zu mobilisieren, gründete er eine Organisation namens »Eritasard Hayastan« (»Junges Armenien«). Wie erwähnt, wurde er zusammen mit Simon Zavaryan und Step’an Zoryan Mitbegründer der Partei Daschnakzutjun. Er blieb bis zu seinem Tod Mitglied des Parteivorstandes. 1891 wurde er von den russischen Behörden nach Kischinjow in Bessarabien deportiert. Anschließend machte er sich auf den Weg nach Galati, Rumänien, wo er an der Produktion des »Drošak« (»Flagge«), der offiziellen Zeitung der Daschnakzutjun, mitwirkte. Mik’ayelyan kehrte 1892 in den Südkaukasus zurück und setzte seine Aktivitäten dort bis 1898 fort. 1895 wurde er von den russischen Behörden für sechs Monate inhaftiert. Er übersiedelte 1898 nach Genf, um »Drošak« herauszugeben. Mik’ayelyan spielte eine maßgebliche Rolle bei der Gründung von »Pro Armenia«, einer ab 1900 in Paris erscheinenden französischsprachigen Zweiwochenzeitung, die französische Intellektuelle, vor allem Sozialdemokraten dazu ermutigte, sich zugunsten des bedrohten armenischen Volkes einzusetzen. Mik’ayelyan war die zentrale Figur bei der Planung eines Attentats auf den osmanischen Sultan Abdülhamit II., dem im Juli 1905 ausgeführten erfolglosen Yıldız-Attentat. Er starb (im Alter von 46 Jahren) beim Testen von Bomben für den Anschlag im Bergdorf Sablyar in der Nähe von Kyustendil in Bulgarien.15 Auf der oben erwähnten ersten Generalversammlung der Daschnakzutjun wurde das Parteiprogramm verabschiedet und etwas später in »Drošak« veröffentlicht.16 Es bestand aus drei Teilen, das Ziel, die Mittel und die Organisation betreffend. Im ersten Teil wurde festgestellt, dass die Partei durch eine Volkserhebung in Osmanisch-Armenien politische und wirtschaftliche 15 Für ausführlichere Informationen über seine Biographie siehe Awetis Aharonean: K’ristap’or Mik’ayēlean, Post’ën 1926. 16 Unser Programm, in: »Drošak« vom September 1894, Nr. 11, S. 1 ff.
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Freiheiten erreichen solle. Dabei ging es nicht um eine Loslösung der armenischen Siedlungsgebiete vom Osmanischen Reich, sondern eher darum, durch Reformen eine Erleichterung der Lage des bedrohten armenischen Volkes zu erzielen. Man müsse um demokratische Wahlen und weitere demokratische Freiheiten kämpfen. Große Bedeutung wurde auch der Befriedigung sozialer und wirtschaftlicher Bedürfnisse beigemessen, wobei in erster Linie die Sicherheit des Lebens und des Eigentums der Bevölkerung, die Wahrnehmung des allgemeinen Rechts auf Bildung, eine gerechte Verteilung des Bodens und eine progressive Steuerpolitik in Betracht gezogen wurden. Das Ziel sollte also durch schrittweise Reformen erreicht werden.17 Im zweiten Teil des Programms, der sich auf die Mittel bezog, wurde festgestellt, dass die Partei, um das genannte Ziel zu erreichen, vorhabe, revolutionäre Truppen zu organisieren und durch deren dauernden Einsatz gegen die Gewaltpolitik der osmanischen Regierung kämpfen solle, von der sowohl Armenier, als auch Aramäer, Jasidis (Jesiden), ein Teil der Kurden und Türken unterdrückt seien. Dieser Kampf würde auch breite Massen dieser Bevölkerungsgruppen zur Erhebung für die Verteidigung ihrer Rechte ermutigen. Die genannten revolutionären Truppen sollten sich bei ihrem Kampf der folgenden Mittel bedienen: 1. Aufklärung über die Hauptprinzipien der Partei, 2. Fortdauernde Organisation revolutionärer Truppen und Kooperation mit ihnen, 3. Das Volk durch Wort und Tat und unter Ausnutzung aller Möglichkeiten seelisch stärken und aktivieren, 4. Bewaffnung des Volkes zur Selbstverteidigung, 5. Örtliche revolutionäre Komitees bilden, 6. Untersuchung der Lage des Volkes und des Landes und diesbezügliche regelmäßige Berichterstattung an die Zentrale der Partei, 7. Organisierung örtlicher Finanzenquellen, 8. Einschüchterung der jeweils repressivsten Regierungsbeamten, der Spitzel und Verräter, 9. Verteidigung der Bevölkerung vor Raubüberfällen, 10. Festlegung von Wegen für die Beförderung von Menschen und Waffen zu den Einsatzorten, 11. Nötigenfalls Zerstörung von Regierungsgebäuden.18 Es handelte sich hierbei also um ein Programm für einen Partisanenkrieg gegen die despotische osmanisch-türkische Regierung, das sich aus früheren Erfahrungen ergab, nachdem die bereits angewandten politischen Mittel zur Verteidigung der friedlichen Bevölkerung und deren Rechte gescheitert waren. Man ging dabei davon aus, dass eine politische Partei im Befreiungskampf erst dann erfolgreich sein könne, wenn erstens das Volk, für das der Kampf geführt wird, Verständnis zu dessen Notwendigkeit besitzt, zweitens geeignete Metho17 Ebenda. 18 Ebenda.
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den und Mittel angewandt werden, die den tatsächlichen Verhältnissen und Bedürfnissen der Zeit entsprechen. Was den dritten Teil des Programms bzw. die Organisation betrifft, so wurde das Dezentralisierungsprinzip angenommen. Das war einerseits durch die Aufteilung Armeniens unter verschiedene Staaten und das Bestehen einer großen armenischen Diaspora beinahe auf der ganzen Welt begründet, andererseits aber auch durch die Besorgnis darüber, dass der zu führende Freiheitskampf auf zahlreiche Schwierigkeiten stoßen und gefährdet sein könnte, wenn er von einer Zentrale geführt würde. Der Umstand, dass die örtlichen Komitees und Gruppen eine gewisse Selbständigkeit besaßen, verlieh ihnen und ihren Aktivitäten größere Flexibilität. Verschiedene Teile der Partei hatten dadurch die Möglichkeit, ihre Politik und Strategien den jeweiligen örtlichen Verhältnissen anzupassen.19 Die Daschnakzutjun ließ, ebenso wie die Hntschak, in kurzer Zeit zahlreiche Filialen sowohl im Kaukasus als auch im Osmanischen Reich, in Iran sowie in den USA und mehreren Ländern Europas gründen. Was für die Generation der Parteigründer und -angehörigen der Hntschak und der Daschnakzutjun vor allem kennzeichnend ist, war das Bestreben, eine weitere Bedrohung ihres Volkes im Osmanischen Reich abzuwenden und ihm Sicherheit zu schaffen, wobei die Vorstellungen der beiden, wie dies zu erreichen wäre, sich, wie erwähnt, voneinander unterschieden. Wie an den angegebenen Lebensdaten der Parteiführer und -angehörigen zu erkennen ist, gehörten die meisten von ihnen zur gleichen Alterskohorte. Es waren zu einem beträchtlichen Teil in Russland oder in Westeuropa ausgebildete Personen, die sich um die Idee zur Rettung ihres Volkes vereinigt hatten, während andere Generationseinheiten angesichts dieser dringenden Aufgabe weniger ausschlaggebend waren.
2. E rste Aktivitäten: Einsatz zum Abwenden der systematischen Massaker und zur Erfüllung der versprochenen Reformen Im Unterschied zu europäischen Sozialisten mussten sich Hntschak und Daschnakzutjun aufgrund politischer Repressalien über viele Jahre im Untergrund betätigen, denn sie waren weder im Zarenreich noch im Osmanischen Reich geduldet (dort erst im Zeitraum 1908 bis 1914). Das armenische Siedlungsgebiet war zu sehr ungleichen Teilen zwischen dem Osmanischen Reich und Russland aufgeteilt. Im Osmanischen Reich waren die Armenier unter der
19 Ebenda.
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30-jährigen Herrschaft des autoritären Sultans Abdülhamit II. existentiell bedroht. Ein nachfolgender kurzer Überblick über die Lage des armenischen Volkes im Osmanischen Reich gegen Ende des 19. Jahrhunderts veranschaulicht die Herausforderungen, die für beide Parteien schon wenige Jahre nach ihrer Gründung entstanden. Der panislamisch agierende Sultan Abdülhamit II., der durch die im Berliner Vertrag vorgeschriebenen Reformen für »die von Armeniern bewohnten Provinzen« bzw. durch europäische Einmischung die Integrität seines Landes bedroht sah, beschloss, die bereits internationalisierte Armenische Frage durch die Dezimierung der Armenier zu lösen. Er leitete eine planmäßige Verfolgung gegen sie ein und organisierte ab 1890 nomadische Kurdenstämme – die sogenannten »aşiret/eşiret«-Kurden – in den Hamidiye-Kavallerie-Regimentern.20 Bereits im August 1894 überfielen Hamidiye-Einheiten und andere osmanische Truppen auf Befehl der Regierung die Dörfer des überwiegend von Armeniern bewohnten Kaza Sason (Sancak Muş, Provinz Bitlis), deren Bevölkerung ausgeplündert und massakriert wurde.21 Großbritannien, Russland und Frankreich legten daraufhin der osmanischen Regierung ein Reformprogramm für die sechs armenischen Provinzen bzw. Vilayets22 Erzurum, Bitlis, Van, Mamuretül-Aziz (Harput), Diyarbakir und Sivas vor, das diese nach langem Zögern unterschreiben musste. Die Reform wurde allerdings nicht ausgeführt. Abdülhamit II., von der Straflosigkeit für die Verbrechen in Sason ermutigt, ließ im Gegenteil schon im Jahr 1895 landesweit weitere systematische Massaker verüben, so beispielsweise in Konstantinopel (30. September), Akhisar (3. Oktober), Trapesunt (8. Oktober), Erzincan (21. Oktober), Bayburt (25. Oktober), Bitlis (27. Oktober), Erzurum (30. Oktober), Arabkir (1.–5. November), Harput (10. November), Sivas (12. November), Diyarbakir (1. November), Malatya (4.–9. November), Amasya (15. November), Marsovan (15. November), Marasch (18. November), Kayseri (30. November) und Urfa (28.–29. Dezember).23
20 Johannes Lepsius: Die armenischen Reformen, in: »Der christliche Orient«, 1913, S. 180. 21 Arman Kirakosyan: T’owrk’akan br˙natirowt’yan dem arewmtahayowt’yan ëndvzowmnerë 1890-akan t’t’. skzbin, Hayoc’ patmowt’yown, hator III, girk’ ar˙aȷˇin, Erewan 2010, S. 515–519. 22 Der Begriff »Vilayet« (veraltete Populärtranskription »Wilajet«) stammt aus dem Arabischen und bedeutet »Provinz«. Die genannten Vilayets bildeten dabei einen Teil Hocharmeniens bzw. des historischen Siedlungsraums der Armenier seit der vorgeschichtlichen Zeit. 23 Lepsius, Reformen [wie Anm. 20], S. 214.
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Diesen Massakern, denen im Jahr 1896 weitere in Eğin (armenisch: Akn), Van und anderen Orten folgten, fielen über 300.000 Menschen ohne Unterscheidung von Alter und Geschlecht zum Opfer. Viele Tausende wurden zwangsislamisiert. Weitere rund 250.000 Armenier flüchteten ins Ausland.24 Die osmanischen Zivil- und Militärbehörden hatten nicht nur die Vorbereitung der Massenmorde selbst in die Hand genommen, sondern vielfach beteiligten sich höchste Beamte an den Massakern, den Plünderungen und den Zwangskonversionen. Über die Beteiligung der regulären Truppen an diesen Verbrechen und Plünderungen hinaus oblag ihnen in den meisten Fällen auch die Führung.25 Es waren also gut vorbereitete und systematisch durchgeführte Massaker, die einen politischen Hintergrund besaßen. Wie Johannes Lepsius zutreffend feststellte, waren diese »eine administrative Maßregel der Hohen Pforte«, welche einzig dem Zweck diente, die von den Großmächten geforderten »armenischen Reformen« durch Vernichtung des armenischen Volkes obsolet zu machen.26 Sowohl Hntschak als auch Daschnakzutjun sahen zunächst ihre dringendste Aufgabe darin, sich für die Existenzsicherung ihres bedrohten Volkes einzusetzen, vor allem für die Umsetzung der im Berliner Friedensvertrag 1878 in Aussicht gestellten Verwaltungsreformen in Osmanisch-Armenien. Ohne Umsetzung dieser Reformen erschien der Daschnakzutjun eine sozialistische Ordnung im despotischen Osmanischen Reich als Utopie. Hntschak war noch skeptischer: Ohne Loslösung vom Osmanischen und vom Russischen Reich, ohne staatliche Unabhängigkeit und die Vereinigung ost- und westarmenischer
24 Geġam Badalyan: Arewmtahayowt’yan 1890-akan t’t’. kotoraçneri žoġovrdagrakan ewn tntesakan hetewank’nerë, Hayoc’ patmowt’yown, hator III, girk’ ar˙aȷˇin, Erewan 2010, S. 542; vgl. Lepsius, Armenien und Europa [wie Anm. 5], S. 40. »Der Vernichtung des armenischen Volkes liegt ein einheitlicher, schon seit Jahren vorbereiteter Plan zugrunde«, schrieb Lepsius auf der Grundlage seiner detaillierten Nachforschungen, »der in den letzten Monaten des vergangenen Jahres infolge des Vorgehens der Mächte mit überstürzter Hast zur Ausführung gebracht wurde. Während schon seit Jahren die von der Regierung bestellten Werkzeuge zur Zerstörung in aller Stille und mit möglichst wenig Aufsehen arbeiteten, sah sich die Hohe Pforte durch die drohenden armenischen Reformen genötigt, den Prozess zu beschleunigen und, selbst auf die Gefahr hin, ganz Europa in Empörung zu setzen, mit einem Schlag das armenische Volk zu vernichten und dem verhassten Christentum, welches immer wieder die Sympathie Europas erweckte, ein schnelles Ende zu bereiten. Ein einheitlicher Plan in Bezug auf Ort, Zeit, Nationalität der Opfer und sogar auf die des Mordens und Plünderns, lag der Gesamtheit der Massacres zu Grunde.« Lepsius, Armenien und Europa [wie Anm. 5], S. 38. 25 Ebenda, S. 26 ff. 26 Ebenda, S. 49.
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Siedlungsgebiete zu einem souveränen Staat schien kein sozialer und sonstiger Fortschritt möglich. Die ersten Aktivitäten der Hntschak zeichneten sich einerseits – vor allem über ihre gleichnamige Zeitung – durch Propagierung der marxistisch- sozialistischen Ideologie, andererseits auch durch friedliche Kundgebungen in Konstantinopel und anderen Städten des Osmanischen Reiches aus, welche vor allem das Ziel hatten, die Osmanische Regierung zur Erfüllung der ihr durch den Berliner Vertrag auferlegten Reformen zu drängen und dafür eine Unterstützung der Großmächte zu erhalten. Man gab das »Kommunistische Manifest« von Karl Marx und Friedrich Engels sowie zahlreiche weitere Literatur in armenischer Übersetzung heraus. Die Partei unternahm Schritte, ihre Ideen, soweit möglich, auch in türkischer Sprache zu verbreiten.27 Am 15. Juli 1890 organisierte die Hntschak eine friedliche Demonstration in Konstantinopel, deren Teilnehmer die rechtliche Gleichstellung der christlichen Armenier und die Einsetzung der durch den Berliner Vertrag festgesetzten Reformen einforderten. Die Demonstranten wurden von Regierungstruppen unter Beschuss genommen. Viele wurden getötet, andere festgenommen.28 In den folgenden Jahren fanden dennoch weitere derartige Protestaktionen statt, die ebenso gewaltsam unterdrückt wurden. Die Partei war einer permanenten Verfolgung durch die Regierung ausgesetzt, bei der sie viele Verluste erlitt. Ein schwerer Schlag war für sie besonders die Festnahme ihrer herausragenden Mitglieder Mihran Tamatyan und Žirayr Poyač⋅yan (geb. 1856) im Jahr 1893, der anschließend hingerichtet wurde.29 Bei den systematischen Massakern in den Jahren 1894 bis 1896 versuchte die Hntschak, in manchen Orten die Bevölkerung zur Selbstverteidigung zu führen, was ihr nur in einem Fall, nämlich in Zejtun, gelang.30 Der Umstand, dass es ihr misslang, die osmanische Regierung sowie die Großmächte zur Ausführung der genannten Reformen zu bewegen und dabei die Massaker abzuwenden, löste in der Parteiführung auf deren Generalversammlung im Jahr 1896 in London eine Auseinandersetzung aus. Angesichts der permanenten Bedrohung des Volkes bestand ein Teil der Parteimitglieder darauf, den Sozialismus als Ziel aufzugeben und stattdessen die
27 Patmowt’iwn [wie Anm. 4], S. 257 ff.; vgl. Hayoc’ patmowt’yown, dasagirk’ barjragowyn ˙ . Simonyani, owsowmnakan hastatowt’yownneri hamar, xmbagrowt’yamb՝ prof. Hr. R Erewan 2012, S. 382. 28 Hrač Tasnapetean (Hg.): Niwt’er H. Y. Dašnakc’owt’ean Patmowt’ean Hamar, Bd. A, Peyrowt’ 1984, S. 141 ff. 29 Patmowt’iwn [wie Anm. 4], S. 102 ff. 30 Ebenda, S. 186 ff.
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gesamten Kräfte für die Verteidigung des verfolgten Volkes einzusetzen.31 Das führte zur Spaltung der Partei, aus der die »Neugebildete Hntschak« hervor˙ amkavar azatakan« aufging, ging,32 die 1921 in der neu gegründeten Partei »R während der übrige Teil seine Tätigkeit nach den ursprünglich festgelegten Prinzipien fortsetzte.33 Was die Daschnakzutjun betrifft, setzte sich auch diese seit ihrer Gründung für die Umsetzung der Reformen ein. Die Partei bemühte sich außerdem, das Volk bis dahin wenigstens verteidigungsfähig zu machen, indem sie bewaffnete Truppen bildete und diese in Osmanisch-Armenien zu stationieren versuchte. Im August 1896, als die Massaker in vollem Gang waren, brachen etwa 30 Angehörige dieser Partei unter der Leitung von Babken Syowni (1873–1896) und Armen Garo (1872–1923) in die Banque Ottoman in Konstantinopel ein und forderten unter der Drohung, die Bank in die Luft zu sprengen, sofortige Einstellung der Massaker sowie die Umsetzung der Reformen.34 Nach Ausbruch der Massaker in den Jahren 1894 bis 1896 war die Daschnakzutjun, ebenso wie die Hntschak, darum bemüht, die Bevölkerung zum Widerstand bzw. zur Selbstverteidigung zu bewegen. In Van, Sason und anderen Orten konnte sie dabei zunächst Erfolge erzielen. Der Widerstand wurde aber schließlich unterdrückt. Nachdem die Bemühungen der Partei, die Massaker abzuwenden, gescheitert waren, traf sie auf ihrer von April bis Juni 1898 in Tiflis tagenden zweiten Generalversammlung die Entscheidung, nunmehr vor allem die Vorbereitung einer Erhebung des armenischen Volkes im Osmanischen Reich gegen das herrschende Terrorregime zum Schwerpunkt ihrer Arbeit zu erheben.35 Im Jahr 1905, als die erste russische Revolution ausbrach und die zaristische Regierung, um einer Ausdehnung der Revolution im Südkaukasus vorzubeugen, Konflikte zwischen Christen und Muslimen provozierte, war Daschnakzutjun um die Verteidigung der Armenier vor Angriffen der Muslime bemüht und erhob zugleich den Kampf für den Sozialismus zu einer Priorität, indem sie dabei für eine enge Kooperation mit anderen sozialistischen und revolutionären Parteien im Zarenreich sorgte. Bereits im Frühjahr 1905 fand eine Ver-
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Ebenda, S. 270 ff. Ebenda, S. 273. Ašot Melk’onyan: Hayoc’ patmowt’yown, Erewan 1998, S. 153. Apstambowt’iwn K. Polsowm: ariwnaheġ kr˙iwner, in: »Dròšak« vom 3. September 1896. 35 Hrač Tasnapetean (Hg.): Niwt’er H. Y. Dašnakc’owt’ean patmowt’ean hamar, Bd. B, Pēyrowt’ 1985, S. 59.
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sammlung unter Beteiligung von sechs Parteien statt, bei denen Kooperationsabsprachen für das gemeinsame Vorgehen zum Sieg der Revolution getroffen wurden.36 Anschließend veröffentlichten die Parteien einen gemeinsamen Appell, in dem sie ihre Ziele und das gemeinsame Vorgehen darlegten.37
3. Der Beitritt zur Sozialistischen Internationale Die armenischen Sozialisten bauten enge Beziehungen zu ihren Genossen in Europa auf. 1896 nahmen Vertreter der Daschnakzutjun als Beobachter am Vierten Kongress der Sozialistischen Internationale in London teil und stellten ihr Programm vor.38 Der Umstand, dass manche Führer der westlichen, auch der deutschen Sozialdemokratie, wie Rosa Luxemburg und Eduard Bernstein, bereits ihre Solidarität mit den verfolgten Armeniern in Wort und Schrift geäußert hatten, trug zur Vertiefung der Kontakte bei. Rosa Luxemburg trat beispielsweise, nachdem sie sich über die Massaker an den Armeniern informiert hatte, schon 1896 öffentlich für die Verfolgten ein, und dies in scharfer Auseinandersetzung mit der Haltung der meisten deutschen Sozialdemokraten, was Bernstein als »beschämend« bezeichnete.39 Luxemburgs Standpunkt war klar und eindeutig formuliert:
36 Neben der Dašnakc’owt’yown beteiligten sich an der Versammlung die Russische sozialrevolutionäre Partei, die Belarussische sozialdemokratische Gromada, die Georgische sozialistisch-föderalistische revolutionäre Partei, die Polnische sozialistische Partei und die Lettische sozialdemokratische Arbeiterpartei; siehe Yeġap’oxakan kowsakc’owt’iwnneri dašn c’arizmi dēm, in: »Drošak« vom Mai 1905, Nr. 5, S. 65 ff. 37 Ebenda. 38 Mik’ayēl Varandean: H. Y. Dašnakc’owt’ean patmowt’iwn, Erewan 1992, S. 414. 39 »Es gab in der sozialdemokratischen Presse uneinheitliche Meinungen«, so Uwe Feigel; »einige Sozialdemokraten hätten die türkischen Lügen, wonach russische Agenten die Armenier zum Aufstand aufstachelten, peinlicherweise für wahr gehalten.« Siehe Uwe Feigel: Die Armenierhilfe deutscher evangelischer Christen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext der deutsch-türkischen Beziehungen, Göttingen 1989, S. 48; Eduard Bernstein empfahl dringend, »sich der proarmenischen Bewegung in Deutschland« anzuschließen, »schon allein um der Durchsetzung von Freiheit, Menschlichkeit und Fortschritt im Orient« willen; ebenda; zur ausführlichen Information über Bernsteins Haltung zu der Lage des bedrohten armenischen Volkes im Osmanischen Reich siehe Eduard Bernstein, Die Leiden des armenischen Volkes und die Pflichten Europas, Berlin 1902.
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»Welche kann nun die Stellung der Sozialdemokratie den Ereignissen in der Türkei gegenüber sein? Prinzipiell steht die Sozialdemokratie immer auf der Seite der freiheitlichen Bestrebungen. Die christlichen Nationen, gegebenenfalls die Armenier, wollen sich vom Joch der türkischen Herrschaft befreien, und die Sozialdemokratie muss sich rückhaltlos für ihre Sache erklären«.40 Dass die Daschnakzutjun seit 1896 dafür sorgte, über die Redaktion ihrer Zeitung »Drošak« der Sozialistischen Internationale mündlich und schriftlich über die Geschehnisse im Orient und die Lage der Armenier im Osmanischen Reich zu berichten, trug ebenfalls zur Vertiefung der Verbindungen wesentlich bei.41 Es bestand Anfang des 20. Jahrhunderts regelmäßiger Kontakt zwischen Daschnakzutjun und dem Internationalen Sozialistischen Büro in Brüssel. Am 12. Mai 1905 fragte das Büro bei der Redaktion von »Drošak« an, ob Daschnakzutjun den Beschlüssen der Kongresse der Sozialistischen Internationale folge oder nicht. Das Büro bat die Partei um eine offizielle Stellungnahme sowie um die Zusendung der Satzung.42 Am 17. Mai schickte man eine offizielle Bestätigung neben der Satzung und einem Bericht über die seit 15 Jahren von der Partei in dieser Richtung entfalteten Aktivitäten an das Büro. Darin wurde übrigens auch über das bereits begonnene Zusammengehen der Partei mit den in Fußnote 36 genannten Parteien in Russland berichtet.43 Zwischen dem Internationalen Sozialistischen Büro und Daschnakzutjun bestand nicht nur ein Austausch von Informationen über die jeweils wichtigsten Ereignisse auf beiden Seiten, sondern auch eine gewisse Kooperation im weiteren Sinne. Im Frühjahr 1905, als die erste russische Sozialrevolution bereits im Gang war, organisierte die deutsche Sozialdemokratische Partei beispielsweise eine Sammlung zur Unterstützung der in Russland tätigen sozialistischen Parteien, aus deren Mitteln das Internationale Sozialistische Büro auch die Daschnakzutjun begünstigen ließ.44 Die von der zaristischen Regierung provozierten Konflikte zwischen Muslimen und Christen im Kaukasus hatten im Februar 1905 ein großes Massaker 40 Burchard Brentjes: Humanistische und revolutionäre Bande zwischen Deutschen und Armeniern, Akten des internationalen Dr. Johannes-Lepsius-Symposiums an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), 1987, S. 187. 41 Varandean, H. Y. Dašnakc’owt’ean [wie Anm. 38], S. 418. 42 Karen Hakobyan: H. Y. Dašnakc’owt’yownë ew soc’ialistakan internac’ionalë 1905–1907 t’t’., Hayoc’ patmowt’yan harc’er, ht. 10, Erewan 2009, S. 188. 43 Hakobyan, H. Y. Dašnakc’owt’yownë [wie Anm. 42], S. 188 ff. 44 VII Miȷˇazgayin sòc’ialistakan kòngrēsë, in: »Drošak« vom August 1907, Nr. 8, S. 110.
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an den Armeniern in Baku zur Folge. Als das Internationale Sozialistische Büro von der Redaktion der Zeitung »Drošak« davon in Kenntnis gesetzt wurde, rief es am 10. März desselben Jahres alle »sozialistischen Parteien der zivilisierten Welt« auf, Stellung zu den geschehenen Verbrechen zu nehmen. Im Aufruf heißt es: »Nach den Judenpogromen beginnen die Berater des Nikolaj II. wieder die blutige Politik von Abdülhamit, die das Internationale Sozialistische Büro am 18. Oktober 1901 dem Zorn der zivilisierten Welt ausgesetzt hat. Das Büro glaubt, im Namen aller Sozialisten zu handeln, wenn es wieder gegen die vorsätzlichen Massaker protestiert, denen das unglückliche armenische Volk zum Opfer gefallen ist. Wir sind davon überzeugt, dass Sie sich unserem Protest anschließen und alle Schritte unternehmen werden, die sich aus dem Beschluss des Pariser Kongresses der Sozialistischen Internationale von 1900 ergeben«.45 Der Aufruf war von dem Sekretär der Zweiten Sozialistischen Internationale, Camille Huysmans, unterzeichnet. Auf der vierten Generalversammlung der Daschnakzutjun, die Ende Februar bis Anfang Mai 1907 in Wien tagte, bekräftigte die Partei die sozialistischen Prinzipien ihrer politischen Aktivitäten und verankerte sie in ihrem Programm. Diese sahen unter anderem vor, im Südkaukasus über die Organisation der Selbstverteidigung hinaus sozialistische revolutionäre Aktivitäten zum Schwerpunkt der parteilichen Tätigkeit zu machen. Nach langen Besprechungen und Diskussionen nahm die Partei das dementsprechend ergänzte neue »Programm und die dazu gehörende Taktik« an.46 Die Generalversammlung beschloss zudem auf ihrer 121. Sitzung vom 4. Mai, »das westliche Parteibüro damit zu beauftragen, Verhandlungen mit dem Internationalen Sozialistischen Büro einzuleiten, ihm schriftlich und mündlich über die Solidarität der Daschnakzutjun mit den Beschlüssen der Internationalen Sozialistenkongresse zu berichten und Maßnahmen zum Beitritt zu der Sozialistischen Internationale zu treffen«.47 45 Haykakan Kišinewi arjagank’nerë Ewropayowm, in: »Drošak« vom März 1905, Nr. 3, S. 46. 46 Hrač Tasnapetean (Hg.): Niwt’er H. Y. Dašnakc’owt’ean patmowt’ean hamar, Bd. G, Pēyrowt’ 1985, S. 299. 47 Ebenda, S. 289.
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Dadurch würde nicht nur einem aktiven Zusammengehen im Kampf um den Sozialismus der Weg gebahnt, sondern die Daschnakzutjun sah darin auch eine wichtige Brücke, um die äußerst schwierige Situation des im Osmanischen Reich bedrohten armenischen Volkes und die an ihm systematisch verübten Verbrechen der westlichen Öffentlichkeit zu vermitteln und von ihr Unterstützung bei der Umsetzung der im Berliner Vertrag festgesetzten Reformen zu erlangen, die als eine Voraussetzung zum Abwenden weiterer Übel betrachtet wurden. »Die Internationale«, so Mik’ayel Varandyan, »war für uns eine Tribüne, eine der höchsten und anziehenden Tribünen der zivilisierten Welt, von der aus wir die verhängnisvolle Lage unseres Volkes zur Kenntnis brachten und sie den sozialistischen Parteien und ihren Anführern ans Herz legten«.48 Im August 1907 erhielt die Daschnakzutjun die Gelegenheit, an dem in Stuttgart einberufenen Sozialistenkongress teilzunehmen.49 Das westliche Büro der Daschnakzutjun hatte zuvor einen ausführlichen Bericht über die Tätigkeit der Partei vorbereitet, der dem Kongress vorgetragen werden sollte und 1907 in »Drošak« veröffentlicht wurde.50 Der Bericht stellte in zwei Hauptteilen die Parteiaktivitäten in deren zwei wichtigsten Betätigungsfeldern bzw. denjenigen im Südkaukasus und dem Osmanischen Reich vor und verwies dabei auf die Übereinstimmung des noch 1892 angenommenen Parteiprogramms mit den Prinzipien der sozialistischen Bewegung. »Wir haben uns damit befasst, die sozialistische Ideologie und Vorteile der Organisation eines sozialistischen Eigentums zu propagieren, damit wir auf den Übergang zur Gründung der erwünschten Gesellschaft vorbereitet sein würden, die sich bald durch eine Revolution des Proletariats in ökonomisch besser entwickelten Ländern ausgestalten sollte.«51 Es wurde angekündigt, dass die Partei, obwohl der in Westarmenien herrschende Militärfeudalismus eine sozialistisch geprägte Tätigkeit nicht zulasse, trotzdem durch viele Publikationen eine sozialistische Propaganda betrieben habe und es auch geschafft habe, die uneingeschränkte Macht mancher kurdischer Stammesoberhäupter einzugrenzen.52
48 Varandean, H. Y. Dašnakc’owt’ean [wie Anm. 38], S. 418. 49 Miȷˇazgayin (wie Anm. 44), S. 110; vgl. Hakobyan, H. Y. Dašnakc’owt’yownë [wie Anm. 41], S. 192. 50 Dašnakc’owt’ean gorçownēowt’enēn, in: »Drošak« vom September 1907, Nr. 9, S. 134 ff. 51 Ebenda. 52 Ebenda.
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Was die Aktivitäten der Daschnakzutjun im Südkaukasus betraf, so wurden im Bericht die von der Partei im Laufe der russischen Revolution ergriffenen, auf sozialistischen Prinzipien beruhenden Initiativen und die Propagierung der sozialistischen Ideen hervorgehoben.53 In dem Kapitel »Unter der Arbeiterschaft« wurde auf die seit 1900 von der Daschnakzutjun organisierten Streiks hingewiesen. Die Zahl der Arbeiter, die sich unter die Fahne der Partei gestellten hätten, betrage 23.300. Es seien zudem Gewerkschaften und Bauernverbände gegründet, deren Orte und Mitgliederzahlen ebenso bekannt gegeben wurden. Den Abschluss des Berichts bildeten die auf der 4. Generalversammlung angenommenen Beschlüsse: »… sie [die Generalversammlung, Anm. d. Verf.] beschloss den Kampf in den beiden Staaten unter der Fahne der Daschnakzutjun fortzusetzen und alle praktischen Maßnahmen zur Entwicklung einer Kooperation mit allen anderen sozialistisch-revolutionären Organisationen zu ergreifen. Einstimmig wurde entschieden, an Kongressen der Sozialistischen Internationale teilzunehmen«.54 1907 schloss sich die Partei auf dem 7. Internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart förmlich der Sozialistischen Internationale an. Sie wurde auf dem Kongress in Stuttgart durch drei Parteiangehörige vertreten, von denen der eine, Mik’ayel Varandyan, über eine entscheidende und die anderen zwei, Step’an Zoryan und Avetis Aharonyan, über beratende Stimmen verfügten. Auf dem 8. Internationalen Sozialistenkongress, der 1910 in Kopenhagen stattfand, war die Daschnakzutjun neben Varandyan durch Armenak Barseġyan, Martiros Harowt’yownyan und Nikol Dowman vertreten, die alle angesehene Mitglieder der Partei waren.55 Mik’ayel Varandyan, der die armenischen Vertretungen auf den Internationalen Sozialistenkongressen leitete, wurde 1872 im Dorf Kjatuk im Gouvernement Jelisawetpol des Russischen Reiches (heute in Bergkarabach) geboren. Nach dem Abschluss der Realschule von Schuschi studierte er an der Universität in Genf, wo er mit Mik’ayelyan, Zoryan und anderen führenden Personen der Daschnakzutjun in Verbindung trat. Ab 1898 arbeitete er in der Redaktion der Zeitung »Drošak«, später auch in den Redaktionen von »Haradj« und »Horizon«. Im Auftrag der Partei betätigte er sich viele Jahre in Europa, vor allem in Rumänien, der Schweiz und Frankreich journalistisch, indem er der europäischen Öffentlichkeit über die Ereignisse in Armenien und dem Orient 53 Ebenda. 54 Ebenda. 55 VIII miȷˇazgayin soc’ialistakan kòngrēs, in: »Drošak« vom Juli-September 1910, Nr. 7–9, S. 94.
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berichtete. Die 1900 bis 1914 in Paris herausgegebene Zeitung »Pro Armenia«, die sich durch ihre eingehende Berichterstattung über Armenien und das im Osmanischen Reich permanent bedrohte armenische Volk für eine gerechte Lösung der Armenischen Frage einsetzte, erfreute sich seiner kompetenten Unterstützung. Er trug wesentlich dazu bei, besonders die französischen Sozialisten und deren Führung auf Armenien und die Lage der dortigen Bevölkerung aufmerksam zu machen, die nun aktiv für die Armenier eintraten. Ab 1904 war Varandyan Mitglied des westlichen Büros der Daschnakzutjun. Während des Ersten Weltkrieges und in den Nachkriegsjahren veröffentlichte er zwei französischsprachige Bücher über die Armenische Frage und die politischen Verhältnisse im Osmanischen Reich und im Kaukasus. In der Zeit der ersten armenischen Republik engagierte er sich als deren diplomatischer Vertreter in Rom. Varandyan ist Autor mehrerer Bücher und zahlreicher weiterer Publikationen. Er starb 1934 in Marseille.
4. Während des Völkermordes in den Weltkriegsjahren Als 1908 das jungtürkische Komitee »Einheit und Fortschritt« im Osmanischen Reich durch einen Militärputsch an die Macht kam, erhielt es zunächst auch die Unterstützung der Nichtmuslime und insbesondere der Armenier, weil es die rechtliche Gleichstellung aller Religions- und Volksgruppen versprach. Doch schon im Frühjahr 1909 kam es in Kilikien zu neuerlichen Massakern an Armeniern mit 30.000 Ermordeten.56 An diesen Verbrechen nahmen auch Regierungstruppen teil, die angeblich zum Schutz der armenischen Bevölkerung entsandt worden waren.57 Die Daschnakzutjun beendete daraufhin die Zusammenarbeit mit den Jungtürken, bestand aber weiterhin auf der Erfüllung der im Berliner Abkommen festgeschriebenen Reformen. Das hatte zur Folge, dass die Signifikarmächte des Berliner Abkommens der jungtürkischen Regierung Anfang 1914 ein weiteres Abkommen zur Durchführung der Reformen aufzwangen, während die bereits 1911 den Beschluss gefasst hatte, die Armenische Frage dauerhaft dadurch zu lösen, dass sie sich dieses Anlasses für ausländische Interventionen und Reformdiktate für immer entledigte. Das
56 Tessa Hofmann: Verfolgung und Völkermord: Armenien zwischen 1877 und 1922, in: dies. (Hg.): Armenier und Armenien – Heimat und Exil., Reinbek bei Hamburg 1994, S. 21 f. 57 Paul Rohrbach: Die Wahrheit über Adana, in: »Der Christliche Orient«, 1909, S. 152 f.
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bedeutete die vollständige Vernichtung der Armenier im gesamten Osmanischen Raum.58 Eine Gelegenheit dazu bot der Erste Weltkrieg. In den Kriegsjahren 1915 bis 1916 wurde fast die gesamte armenische Bevölkerung des Reiches, deren Zahl sich nach Schätzung der deutschen Botschaft zu Konstantinopel auf zweieinhalb Millionen belief, in die mesopotamische Wüste deportiert. Bei den Deportationskonvois handelte es sich um Todesmärsche. Betroffen waren hauptsächlich Frauen und Kinder, weil die Männer im wehrfähigen Alter, sobald sie ihre Wohnorte verlassen hatten, aus den Konvois ausgesondert und ermordet worden waren. Nach einer Schätzung der Deutschen Botschaft zu Konstantinopel von Anfang Oktober 1916 wurden über 1.500.000 armenische Bürgerinnen und Bürger des Osmanischen Reiches bei Todesmärschen und Massakern getötet.59 Darüber hinaus wurden über 300.000 armenische Frauen und Kinder von Muslimen verschleppt, versklavt und zwangsislamisiert. 66 Städte und 4.000 Dörfer wurden entvölkert und 2.350 Kirchen zerstört oder in Moscheen umgewandelt. Nur einem geringen Teil der armenischen Bevölkerung gelang die Flucht ins Ausland.60 Unmittelbar vor der Massendeportation erfolgte die Festnahme, Deportation und Ermordung der geistigen und geistlichen Eliten. Die ersten Opfer dieses Elitizids waren die armenischen Sozialisten. 20 der bedeutendsten Führer der Hntschak, darunter P’aramaz (Matt’eos Sargsyan, geb. 1863), Petos T’orosyan (geb. 1881), Aram Ačëk’pašyan (geb. 1867), Geġam Vanikyan (geb. 1889), Hovhannes T. Ġazaryan (geb. 1888), wurden am 15. Juni 1915 auf dem Konstantinopeler Bayazit-Platz erhängt.61 Bereits am 12. April 1915 befanden sich auch die meisten Mitglieder der beiden Parteien im Gefängnis und wurden kurz darauf ermordet. Sie kamen nicht mehr dazu, die Bevölkerung auf organisierten Widerstand vorzubereiten. Das Deutsche Reich war bestens informiert über all diese Vorgänge. Anstatt aber dem Morden ein Ende zu setzen, kommentierte Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg die Eingabe des Botschafters Wolff Metternich mit einem inzwischen weithin bekannten, viel zitierten Zynismus: »Unser einziges 58 Aschot Hayruni: Im Einsatz für das bedrohte Volk der Armenier. Johannes Lepsius und seine Mission, Paderborn 2020, S. 114 ff. 59 Telegramm des Geschäftsträgers der Deutschen Botschaft in Konstantinopel, Radowitz, an Reichskanzler Bethmann-Hollweg, 4.10.1916, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA/AA), http://www.armenocide.net/armenocide/armgende. nsf/$$AllDocs/1916-10-04-DE-002 [letzter Zugriff am 21. April 2021]. 60 Melk’onyan, Hayoc’ patmowt’yown [wie Anm. 33], S. 181 f. 61 Ov ov ē. Hayer: Kensagrakan hanragitaran, hator erkrord: Erewan 2007, S. 629.
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Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht«.62 Die deutsche Regierung sorgte dafür, durch Zensur und andere Instrumente kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Dazu diente beispielsweise die von der Regierung am 6. Oktober 1915 den Pressevertretern erteilte Anweisung, wodurch ein vorbehaltloses Verschweigen der Lage der Armenier bis zum Kriegsende zur allgemeinen Pflicht gemacht wurde.63 Es gelang den Jungtürken trotzdem nicht, die Hntschak und die Daschnakzutjun auszulöschen, da diese auch in der armenischen Diaspora gut vertreten waren. Als die osmanische Armee im Frühjahr 1918 unter Verletzung des Friedensvertrages von Brest-Litowsk nach Ost- bzw. Russisch-Armenien vorstieß und auch die dortige armenische Bevölkerung massakrierte, konnte die Daschnakzutjun dank eines erfolgreichen Widerstandes das Osmanische Reich zur Anerkennung einer kleinen Republik Armenien im Südkaukasus zwingen.64 Die Gründung und Leitung der kurzlebigen Republik wurde von der armenischen sozialistischen Elite, vorwiegend von der Daschnakzutjun übernommen, die im Lande im Vergleich zu anderen Parteien eine weitaus größere Popularität besaß und auch bei der Parlamentswahl die absolute Mehrheit der Stimmen erhielt.65 Der erste Premierminister war Hovhannes K’aȷˇaznowni (1868–1938), dem in diesem Amt Alek’sandr Xatisyan (1874–1945) und Hamo Òhanȷˇanyan (1873–1947) folgten.66
62 Rolf Hosfeld: Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern, München 2015, S. 255. 63 Sie hatte den folgenden Wortlaut: »Über die Armeniergreuel ist folgendes zu sagen: Unsere freundschaftlichen Beziehungen zur Türkei dürfen durch diese innertürkische Verwaltungsangelegenheit nicht nur nicht gefährdet, sondern im gegenwärtigen, schwierigen Augenblick nicht einmal geprüft werden. Deshalb ist es einstweilen Pflicht zu schweigen. Später, wenn direkte Angriffe des Auslandes wegen deutscher Mitschuld erfolgen sollten, muss man die Sache mit größter Vorsicht und Zurückbehaltung behandeln und später vorgeben, dass die Türken schwer von den Armeniern gereizt wurden«. Heinrich Vierbücher: Was die kaiserliche Regierung den deutschen Untertanen verschwiegen hat. Armenien 1915, Hamburg 1930, S. 78. ˙ . Simonyan: T’owrk’-haykakan haraberowt’yownneri patmowt’yownic’, Erewan 64 Hr. R 1991, S. 294 ff. 65 Simon Vrac’yan: Hayastani Hanrapetowt’yown, Erewan 1993, S. 293 ff. 66 H. K’aȷˇaznowni, der ab Anfang 1925 in Sowjetarmenien lebte, wurde infolge der Stalinschen Säuberungen 1937 festgenommen und starb Anfang 1938 im Gefängniskrankenhaus, während seine beiden genannten Nachfolger nach der Sowjetisierung Armeniens im Ausland weiterlebten. Xatisyan starb in Paris und Òhanȷˇanyan in Ägypten.
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Die armenischen Sozialisten erhofften sich, insbesondere während des Weltkriegs, eine Unterstützung durch die deutsche Sozialdemokratie, die aber ausblieb. Die einzige Ausnahme bildete Karl Liebknecht, der als Abgeordneter noch im Januar 1916 im Reichstag offen von einer Ausrottung der Armenier gesprochen hatte, wofür ihm der Reichstagspräsident das Wort entzog.67
5. In der Nachkriegszeit Nach dem Waffenstillstand nahm die sozialistische Elite Armeniens im Rahmen einer armenischen Delegation an der Vertretung der Interessen der Armenier bei den Friedensverhandlungen in Paris maßgeblich teil.68 Gemäß dem am 10. August 1920 geschlossenen Vertrag von Sèvres wurde das Osmanische Reich verpflichtet, »Armenien, wie es bereits die alliierten Mächte getan haben, als einen freien und unabhängigen Staat anzuerkennen.« Die Grenze zwischen Armenien und der Türkei sollte durch den Präsidenten der USA persönlich festgelegt werden. Gemäß dem Schiedsspruch Woodrow Wilsons sollte das Hoheitsgebiet des armenischen Staates über 161.000 km2 betragen.69 Auf der Pariser Friedenskonferenz wurde aber vergeblich nach einer Mandatsmacht gesucht, die das Völkerbundmandat für Armenien mit allen seinen Kosten und der Verpflichtung zur Landesverteidigung übernehmen würde. Für diese Rolle kamen nur die USA in Frage. Der amerikanische Senat aber lehnte die Übernahme des Mandats wegen der angeblich zu hohen Kosten ab.70 Das Osmanische Reich war zu diesem Zeitpunkt ein auseinanderfallender Staat mit zwei parallelen Regierungen: der alten Sultansregierung zu Konstantinopel und einer im westlichen Ausland so bezeichneten Nationalistenregierung zu Ankara unter Mustafa Kemal. Er nahm den Vertrag von Sèvres zum Anlass eines militärischen Kampfes gegen die Alliierten. Unterdessen wurde der Genozid der Jungtürken fortgesetzt, nun neben armenischen Überlebenden und Rückkehrern auch gegen die griechisch-orthodoxe Bevölkerung.71 Un67 Karl Liebknecht: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. VIII, Berlin 1966, S. 438 f. ˙ ičard Hovhannisyan: Hayastani Hanrapetowt’yown, ht. 1, Erewan 2005, S. 273 ff. 68 R 69 Gabriēl Lazean: Hayastan ew hay datë hay ew ˙ rows yaraberowt’iwnnerow loysin tak, Erewan 1991, S. 213. 70 Galowst Galoyan: Hayastanë ew meç terowt’yownnerë 1917–1923 t’t’., Erewan 1999, S. 227 ff. 71 Tessa Hofmann: Mit einer Stimme sprechen – gegen Völkermord, in: dies.: Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Christen im Osmanischen Reich 1912–1922, mit einem Geleitwort von Bischof Dr. Wolfgang Huber, Münster 2004, S. 18 ff.
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mittelbar nach Unterzeichnung des Vertrags von Sèvres griff Kemal auch die Republik Armenien an. Erfolglos versuchte die armenische Regierung, das Land zu verteidigen. Ihre an die Verbündeten gerichteten Appelle um Unterstützung erzielten auch diesmal keinen Erfolg.72 Gleichzeitig war die bolschewistische Armee in den Südkaukasus vorgedrungen. Restarmenien, das heißt die erste Armenische Republik, befand sich im Würgegriff zwischen türkischen Nationalisten und Bolschewisten.73 Die Daschnakzutjun, welche die russische Februarrevolution 1917 sowie die darauffolgende Demokratisierung des Zarenreiches begrüßt hatte, begegnete der Oktoberrevolution und den Bolschewiki jedoch misstrauisch. Sie hielt den Bolschewismus für unvereinbar mit ihrer Vorstellung von Sozialismus.74 Umgekehrt warfen die Bolschewiki der Daschnakzutjun vor, den Klassenkampf dem Nationalismus untergeordnet zu haben. Nachdem aber die türkische Armee bereits in Alexandrapol stand, sah die armenische Regierung den einzigen Ausweg in der Machtübertragung an die Bolschewiki, die ihnen als das geringere Übel in Armeniens Lage zwischen »Hammer und Amboss« erschien.75 Gemäß dem diesbezüglichen Vertrag vom 2. Dezember 1920 sollten im Revolutionskomitee, das die Macht in der Republik übernehmen sollte, neben fünf Bolschewiki zwei Dašnaken vertreten sein, und die Bolschewiki verpflichteten sich, von jeglicher Verfolgung der Daschnakzutjun und anderer Parteien abzusehen.76 Diese vertraglichen Vereinbarungen wurden allerdings nie erfüllt. Im Gegenteil, alle übrigen Parteien, vor allem die Daschnakzutjun, wurden als Staatsfeinde eingestuft und waren unmittelbar nach Machtübergabe systematischen Verfolgungen ausgesetzt. Betroffen waren nicht nur einstige Regierungsmitglieder, sondern auch zahlreiche Offiziere und andere Personen, die verhaftet, erschossen oder nach Sibirien deportiert wurden.77 1923 organisierte die Daschnakzutjun auf Verlangen der Bolschewiki eine sogenannte Selbstauflösungskonferenz in Jerewan und erklärte sich in Sowjetarmenien für aufgelöst. Rund 4.000 Parteiangehörige, die an der Konferenz teilnahmen, wurden von Agenten des Geheimdienstes »Sonderkommission«, russisch Tscheka abgekürzt, registriert. Die Tscheka ließ in der Folgezeit sys-
72 Ē. A. Zohrabyan: 1920 t’. t’owrk’-haykakan paterazmë ew terowt’yownnerë, Erewan 1997, S. 159 ff. 73 Galoyan, Hayastanë ew meç [wie Anm. 68], S. 347 ff. 74 Melk’onyan, Hayoc’ patmowt’yown [wie Anm. 33], S. 188 ff. 75 Vrac’yan, Hayastani Hanrapetowt’yown [wie Anm. 65], S. 531. 76 Ebenda, S. 533 ff. 77 Ebenda, S. 542 ff.
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tematische Säuberungen durchführen, denen zahlreiche als unzuverlässig geltende Intellektuelle zum Opfer fielen.78 Es handelte sich um den zweiten Elitizid in der jüngeren armenischen Geschichte. Oft betraf er Menschen, die zuvor unter Lebensgefahr aus dem Osmanischen Reich geflüchtet waren.79 Da die Bolschewiki ihre Hauptfeinde vor allem in den armenischen Sozialisten, namentlich in der Daschnakzutjun sahen, wurden deren vormalige Angehörige und Anhänger in erster Linie verfolgt. Andere Verfolgte galten als Untergrunddašnaken, obwohl sie in keiner Verbindung zur Daschnakzutjun standen. Während der gesamten Sowjetzeit von 70 Jahren musste die sozialistische politische Elite Armeniens im Exil bleiben, wo sie im Ausland die Interessen der Armenier vertrat und sich für die internationale Anerkennung des Völkermordes sowie die Entwicklung der weltweit verstreuten armenischen Gemeinden zu einer lebensfähigen Diaspora einsetzte. Erst nach der Selbstauflösung der Sowjetunion durften sich die armenischen sozialistischen Parteien wieder in Armenien etablieren. Die armenische sozialistische Elite, die parallel zu fast permanenten Verfolgungen im ausgehenden 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zweimal, nämlich während des Völkermordes und nach der Sowjetisierung Armeniens, ungeheure Verluste erlitten hatte, konnte diese dennoch überstehen. Sie hielt dabei beständig engen Kontakt zur Sozialistischen Internationale und hat sich bemüht, zu deren Arbeit so gut wie möglich beizutragen. Es soll dabei zusammenfassend festgestellt werden, dass der Hauptunterschied der armenischen Sozialisten, gleich welcher Partei und gleich welcher Generation, zu den westlichen Bruderparteien darin lag, dass für sie die Frage nach dem zukünftigen Nationalstaat über diejenige nach dem sozialistischen Zukunftsstaat dominierte und dass es nicht um die Unterdrückung einer politischen Richtung ging (wie etwa bei Bismarcks »Sozialistengesetz«), sondern um die physische Vernichtung ihrer Nation. Für jede Generation armenischer Sozialisten seit Gründung der beiden Parteien im 19. Jahrhundert gilt, dass es ein gemeinsames identitätsstiftendes Ereignis gibt, das alle anderen Zäsuren überschattet: den Völkermord.
78 Melk’onyan, Hayoc’ patmowt’yown [wie Anm. 33], S. 243. 79 Vrac’yan Hayastani Hanrapetowt’yown [wie Anm. 64], S. 542 ff.
Thomas Kroll
Sozialistische Eliten, Internationalität und Generationenverhältnisse im Zeitalter der Zweiten Internationale (1889–1914)
1. Einleitung Die »Internationalität« bildete in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg ein zentrales Element des politischen Weltbildes der Eliten des europäischen Sozialismus.1 Mit dem Begriff der »Internationalität« umschrieben führende Sozialisten zum einen den Prozess »fortschreitende[r] Verzahnung und Angleichung des kulturellen und wirtschaftlichen Lebens der Industrienationen«, zum anderen stellte die Internationalität einen »Gesinnungs- und Kampfbegriff« dar, der auf das Endziel des Sozialismus verwies und für jeden Sozialisten die moralische Verpflichtung zu einem internationalistischen Engagement mit sich brachte.2 Im Kampf gegen den zunehmend global verflochtenen Kapitalismus erschien den sozialistischen »Eliten«3 Europas die solidarische,
1
2
3
Vgl. dazu Karl Kautsky: Die Internationale, Wien 1920, S. 47 (Zitat); Émile Vandervelde, Souvenirs d’un militant socialiste, Paris 1939, S. 66. Ausgangspunkt für jede Untersuchung der Eliten der Zweiten Internationale bleibt nach wie vor: Georges Haupt: Internationale Führungsgruppen in der Arbeiterbewegung, in: Herkunft und Mandat. Beiträge zur Führungsproblematik in der Arbeiterbewegung, Frankfurt a. M./Köln 1976, S. 195–217. Peter Friedemann/Lucian Hölscher: Internationale, International, Internationalismus, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1972, S. 367–397 u. S. 394 f.; vgl. auch Werner Jung: August Bebel. Deutscher Patriot und internationaler Sozialist, Pfaffenweiler 1986, S. 149–152. Unter »Elite« wird hier im Anschluss an Anton Sterbling jene aus einem Selektionsprozess hervorgegangene Minorität von Menschen verstanden, »deren Handlungsvollzüge, Realitätsdeutungen und Entscheidungen auf Grund besonderer, in der Regel privilegierter Handlungschancen für größere Personenkreise oder Referenzgruppen meinungsbildend, handlungsrelevant oder mittelbar lebenssituationsverändernd sind«; vgl. Anton Sterbling: Modernisierung und soziologisches Denken. Analysen und Betrachtungen, Hamburg 1991, S. 179; sowie ferner Thomas Kroll: Eliten und Elitenkritik als Forschungsfeld der Sozialgeschichte vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 61 (2021), S. 9–30, hier S. 13.
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nationenübergreifende Kooperation ein ausschlaggebender Faktor für den Sieg des Sozialismus zu sein. Diese Auffassung lässt sich schon bei den Führern und Intellektuellen der Internationalen Arbeiterassoziation (1864–1876) ausmachen, und mehr noch prägte sie die politischen Vorstellungen der Eliten der 1889 in Paris gegründeten sogenannten Zweiten Sozialistischen Internationale.4 Bei dieser handelte es sich um eine »Repräsentativorganisation«5 der sozialistischen Bewegungen, die sich um 1900 zu Massenparteien wandelten.6 Deren Eliten spielten im institutionellen Gefüge der Internationale eine zentrale Rolle, sodass der Soziologe Robert Michels Letztere sogar als »Föderativrepublik einer Gruppe von einander unabhängiger Oligarchien« bezeichnen konnte.7 Allerdings waren auf internationaler Ebene nicht nur die mächtigen Führer der sozialistischen Parteien aktiv, sondern auch prominente Intellektuelle, Parteifunktionäre aus der zweiten Reihe oder das führende Personal der Gewerkschaften, Genossenschaften und des breit gefächerten sozialistischen Vereinswesens.8 Immerhin waren in den Teilnehmerlisten der neun, von 1889 bis 1912 veranstalteten Kongresse der Internationale insgesamt rund 6.000 Delegierte verzeichnet (mit einem überschaubaren Kern von bei mehreren Kongressen anwesenden Personen). Konkret lassen sich in den Listen für Italien etwa 100, für das deutschsprachige Österreich knapp 300, für Deutschland gut 900, für Großbritannien etwa 1.000 und für Frankreich sogar rund 1.800 internationale Delegierte ausmachen.9 Rechnet man die 4
Vgl. zur Geschichte der Ersten und Zweiten Internationale noch immer Julius Braunthal: Geschichte der Internationale, Bde. 1 u. 2, Hannover 1974; James Joll: The Second International 1889–1914, New York 1956; jüngst Fabrice Bensimon/Quentin Deluermoz/ Jeanne Moisand (Hg.): »Arise Ye Wretched of the Earth«. The First International in a Global Perspective, Leiden/Boston 2018. 5 So eine Formulierung von Hans Mommsen: Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat, Teil: 1: Das Ringen um die supranationale Integration der zisleithanischen Arbeiterbewegung (1867–1907), Wien 1963, S. 423. 6 Vgl. dazu Thomas Welskopp: Die deutschen Sozialdemokraten. Von der sozialen Bewegung zur Massenpartei, in: Stefano Cavazza/Thomas Großbölting/Christian Jansen (Hg.): Massenparteien im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2018, S. 17–29; vgl. zur Struktur der Zweiten Internationale die noch immer unverzichtbare Darstellung von Georges Haupt: Programm und Wirklichkeit. Die internationale Sozialdemokratie vor 1914, Neuwied/Berlin 1970. 7 Robert Michels: Zur Soziologie des Parteiwesens, Leipzig 21925, S. 224. 8 Vgl. beispielsweise Philipp Scheidemann: Memoiren eines Sozialdemokraten, Bd. 1, Dresden 1928, S. 210–230. 9 Ausgewertet wurden die summarischen Angaben von Georges Haupt: La Deuxième Internationale 1889–1914. Étude critique des sources, Essai bibliographique, Paris 1964, S. 105, 117, 130 f., 150, 181, 198 f., 217 u. 233 f. Die vorläufige Einschätzung der
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Zahl der Delegierten der internationalen sozialistischen Kongresse der Frauen oder der 1907 erstmals einberufenen Jugendinternationale hinzu,10 wird umso deutlicher, dass die politische Erfahrung von Internationalität, so punktuell sie im Einzelfall oftmals geblieben sein mag, die politische Sozialisation und Karriere von zahlreichen Mitgliedern der sozialistischen Eliten vor dem Ersten Weltkrieg erheblich prägte.11 Trotz des hohen Stellenwerts des internationalen Engagements dürften sich die meisten europäischen Sozialisten der nüchternen Bestandsaufnahme von Karl Kautsky angeschlossen haben, dass die Zweite Internationale die große Politik nicht effektiv beeinflussen konnte, da sie nicht über die für die Durchsetzung ihrer Beschlüsse erforderliche »Zwangsgewalt« verfügt habe. Dies gilt auch für die internationalen Kongresse und für das 1900 ins Leben gerufene Internationale Sozialistische Büro (ISB), das nach Kautsky kein schlagkräftiges »Organ internationaler Aktion« war.12 Eine solche Funktion sollte das Büro nach Ansicht des marxistischen Theoretikers auch nicht übernehmen, denn ganz besonders die deutschen Sozialdemokraten achteten darauf, dass ihre nationalen Entscheidungs- und Handlungsspielräume nicht von der Internationale eingeschränkt würden.13 Und so sahen die deutschen Sozialisten ebenso wie viele ihrer europäischen Genossen die »historische Leistung« der Internationale vor allem darin, dass sie die »Einigkeit in der Mannigfaltigkeit« der sozialistischen Bewegungen demonstriert und damit einen »starken mo-
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Zusammensetzung der Gruppe beruht auf einer stichprobenartigen Analyse der Listen der deutschen und österreichischen Teilnehmer der Kongresse in Stuttgart (1907) und Kopenhagen (1910); vgl. Internationaler Sozialisten-Kongreß zu Stuttgart, Berlin 1907, S. 124–130; Internationaler Sozialisten-Kongreß zu Kopenhagen, Berlin 1910, S. 123–127. Vgl. dazu Patrizia Dogliani: La »scuola delle reclute«. LʼInternazionale giovanile socialista dalla fine dellʼOttocento alla Prima Guerra Mondiale, Torino 1993; Irmtraut Leirer/ Reimund Seidelmann/Heidemarie Wieczorek-Zeul (Hg.): Fraueninternationale und Feminismus, Berlin 1984; Jürgen Kirchner: Herausbildung und Geschichte der Sozialistischen Fraueninternationale und zu den Anfängen des Internationalen Frauentages, ein Beitrag zur Geschichte der II. [Zweiten] Internationale, Diss. Dresden 1982. Vgl. dazu auch die anregende Studie zum Londoner Kongress von 1896 von Pierre Alayrac: L’Internationale au milieu du gué. De l’internationalisme socialiste au congrès de Londres (1896), Rennes 2018, S. 99–148. Vgl. Kautsky, Die Internationale [wie Anm. 1], S. 47 f. (Zitate); ders.: Zum internationalen Kongreß, in: Die Neue Zeit 22 (1903/4), Nr. 45, S. 577–585; Angelica Balabanoff: Erinnerungen und Erlebnisse, Berlin 1927, S. 43. Vgl. dazu Robert Michels: Die deutsche Sozialdemokratie im internationalen Verbande, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik 25 (1907), S. 148–230, hier S. 163–168.
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ralischen Druck« auf die Öffentlichkeit sowie die kapitalistischen Regierungen ausgeübt habe.14 Dies gilt in besonderem Maße für die Frage des Imperialismus und der Kriegsgefahr in Europa, die seit etwa 1900 auf den Kongressen der Internationale intensiv diskutiert wurden. Die Wahrung des Friedens galt den sozialistischen Führungsgruppen als geradezu existenzielle Aufgabe des solidarischen Internationalismus.15 Umso größer war die Bestürzung, als es ihnen in der Juli-Krise von 1914 nicht gelang, den Krieg durch gemeinsame Protestaktionen zu verhindern und die Anhänger der sozialistischen Bewegungen der europäischen Nationen nun auf unterschiedlichen Seiten der Front kämpften.16 Die Suche nach einer Erklärung für dieses »Versagen« der sozialistischen Eliten und für das »Scheitern« der Zweiten Internationale hat die Historiographie lange Zeit bestimmt.17 Zu einem grundlegenden Perspektivwechsel kam es erst, als sich die Geschichtsschreibung zur Zweiten Internationale für kultur- und sozialgeschichtliche Ansätze öffnete und damit die moralisch aufgeladenen, teleologischen Interpretationsmuster der älteren Richtung überwunden wurden. Als wegweisend kann die Studie von Kevin J. Callahan gelten, der die Internationale als »an inter-national performative movement of symbolic demonstration« interpretierte.18 Seither steht nicht mehr das »Versagen« der Eliten von 1914 im Vordergrund der Forschung, sondern die zeitgenössische, 14 Vgl. Kautsky, Die Internationale [wie Anm. 1], S. 46 f. 15 Vgl. dazu Elisa Marcobelli: L’internationalisme à l’épreuve des crises. La IIe Internationale et les socialistes français, allemands e italiens (1889–1915), Nancy 2019. 16 Dies gilt in besonderem Maße für die Sozialisten der kleineren europäischen Länder, wie etwa die Schweizer Robert Grimm oder Otto Lang; vgl. dazu Marc Vuilleumier: Eine internationale Führungsfigur des Sozialismus, in: Bernhard Degen/Hans Schäppi/ Adrian Zimmermann (Hg.): Robert Grimm. Marxist, Kämpfer, Politiker, Zürich, 2012, S. 69–92; Charles Spillmann: Otto Lang 1863–1936. Sozialismus und Individuum, Frankfurt a. M./Bern 1974, S. 90–92. 17 Vgl. dazu das Resümee der älteren Forschung von Patrizia Dogliani: Socialisme et internationalisme, in: Cahiers Jaurès 191 (2009), S. 11–30; sowie jüngst Horst Lademacher: Die Illusion vom Frieden. Die Zweite Internationale wider den Krieg 1889–1919, Münster/New York 2018; ferner die klassische Studie von Georges Haupt: Der Kongreß fand nicht statt. Die Sozialistische Internationale 1914, Wien/Frankfurt a. M./Zürich 1967; Agnes Blänsdorf: Die Zweite Internationale und der Krieg. Die Diskussion über die internationale Zusammenarbeit der sozialistischen Parteien 1914–1917, Stuttgart 1979. 18 Kevin J. Callahan: Demonstration Culture. European Socialism and the Second International 1889–1914, Leicester 2010, S. XI–XXIV, hier S. XX; vgl. bereits ders.: ›Performing Inter-Nationalism‹ in Stuttgart in 1907. French and German Socialist Nationalism and the Political Culture of an International Socialist Congress, in: International Review of Social History 45 (2000), S. 51–87.
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öffentliche Wirkmacht der Zweiten Internationale und der mit ihr verknüpften Vorstellung einer internationalen, solidarischen Gemeinschaft, die mittels symbolischer oder medialer Repräsentationen oder durch die Performanz von sozialistischen Manifestationen und Massenkundgebungen »hergestellt« worden sei. Entscheidend für die öffentliche Wirkung der Internationale war demnach die Vermittlung von entsprechenden Repräsentationen durch das dichte Netz der Presseorgane des europäischen Sozialismus. Ausgehend von Callahans Studie haben jüngere Forscherinnen und Forscher mit Studien zur Außen-, Friedens- oder Kolonialpolitik der Zweiten Internationale sowie zur Sozial- und Kulturgeschichte des Londoner Kongresses von 1896 weitere Erkenntnisfortschritte erzielt. Gemeinsam ist diesen Arbeiten, dass sie sich im Gegensatz zur »klassischen« Historiographie nicht mit der Rekonstruktion ideologischer Richtungs- oder politischer Machtkämpfe in der Internationale zufrieden geben, sondern die transnational angelegte Fragestellung aufwerfen, wie sie als Organisation in ihrer konkreten Praxis funktionierte.19 An die jüngere Forschung anknüpfend, sollen im Folgenden die Führungsgruppen der Zweiten Internationale aus einem struktur- und elitegeschichtlichen Blickwinkel betrachtet werden. Im Fokus wird die politische »Anthropologie« der Eliten stehen, also ihre innere Struktur, ihre grundlegenden politischen Handlungsmuster und Machtstrategien, ihre sozialen Verhaltensweisen und Formen der Soziabilität.20 Da eine kollektivbiographische Untersuchung der auf internationaler Ebene aktiven sozialistischen Eliten noch aussteht, soll deren Geschichte an dieser Stelle mit Hilfe eines generationsgeschichtlichen Ansatzes aufgeschlossen werden.21 Dabei knüpft die Analyse an die These von 19 Talbot C. Imlay: The Practice of Socialist Internationalism. European Socialists und International Politics 1914–1960, Oxford 2018; Marcobelli, L’internationalisme à l’épreuve [wie Anm. 15]; dies.: Internationalisme et opposition à la guerre. La nouvelle Internationale et les socialistes français, allemands et italiens face à la guerre russo-japonaise (1904–1905), in: Cahiers Jaurès 212/213 (2014), S. 65–78; Alayrac, L’Internationale [wie Anm. 11]; Andrea Benedetti: Le Bureau Socialiste International face à la question coloniale. Les difficiles chemin d’un traitement supranational, 1900–1914, in: Cahiers Jaurès 237 (2020), S. 27–45; Jens Späth: The National Legitimacy of International Elites : The Case of the Second International, 1889–1916, in: Andrea Ciampani/Thomas Kroll (Hg.), Transnational Meetings? European Elites between International Organizations and National States, Berlin/Boston (erscheint 2024). 20 Zum Ansatz der politischen Anthropologie vgl. Ted C. Lewellen: Antropologia politica, Bologna 1987; Annie Kriegel: Les communistes français. Essai d’ethnographie politique, Paris 1968. 21 Unter »Generationen« sollen hier im Anschluss an Karl Mannheim Erlebnisgruppen von Personen verstanden werden, in denen sich aufgrund gleichartiger, auf Dauer prägender
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Georges Haupt an, dass es vor dem Ersten Weltkrieg in den internationalen, sozialistischen Führungsgruppen einen bedeutsamen »Generationenkonflikt« gegeben habe. Als »Konflikt entgegengesetzter kollektiver Erfahrungen« habe dieser der europäischen Sozialdemokratie in vielfältiger Form seinen Stempel aufgedrückt. Auf internationaler Ebene macht Haupt zwei Akteure aus, zum einen die »Generation der historischen Parteiführer«, die Mitte des 19. Jahrhunderts geboren wurden, zum anderen die »Generation derjenigen Führer, die aus der Ausdehnung der Bewegung um die Jahrhundertwende« hervorgegangen seien und in den Jahren um 1870 das Licht der Welt erblickten.22 Von diesen Bestimmungen ausgehend, soll nun geklärt werden, welche Rolle die beiden Generationen internationaler Führer in der Epoche von 1889 bis 1914 jeweils übernommen haben, welche Autorität sie beanspruchten, wie sie ihre Führungsposition in der Internationale legitimierten und wie sich das Verhältnis der beiden genannten Generationen zueinander gestaltete. Aus der spezifischen Konstellation dieses Generationenverhältnisses, so lautet die im Weiteren zu überprüfende These, lassen sich Erkenntnisse über die Struktur, die politischen Ziele und die Repräsentationsstrategien der internationalen Führungsgruppen der Zweiten Sozialistischen Internationale gewinnen.
2. Die »alte Garde« der Internationale: die Generation der Gründerväter Den über Jahrzehnte einflussreichen Kern der Eliten der Zweiten Internationale bildete eine schmale Gruppe von Sozialisten, die sich in zahlreichen Fällen bereits in der Internationalen Arbeiterassoziation der 1860er und 1870er Jahre engagiert und dort Führungspositionen übernommen hatte.23 In den Grunderfahrungen ähnliche politische Haltungen und Handlungsmuster herausbildeten. Dies schließt politische Konflikte innerhalb einer Generationsgruppe keineswegs aus. Vgl. dazu Thomas Kroll: Kommunistische Intellektuelle in Westeuropa. Frankreich, Österreich, Italien und Großbritannien im Vergleich (1945–1956), Köln 2007, S. 18 f. 22 Haupt, Internationale Führungsgruppen [wie Anm. 1], S. 210 f.; auf die Bedeutung von generationellen Konflikten verweist bereits Theo Haubach: Die Generationenfrage und der Sozialismus, in: Soziologische Studien. Zur Politik, Wirtschaft und Kultur der Gegenwart. Alfred Weber gewidmet, Potsdam 1930, S. 106–120, hier S. 110, grundlegend sind ferner Klaus Tenfelde: Generationelle Erfahrungen in der Arbeiterbewegung bis 1933, in: Klaus Schönhoven/Bernd Braun (Hg.): Generationen in der Arbeiterbewegung, München 2005, S. 17–49; Thomas Welskopp: Die »Generation Bebel«, in: ebenda, S. 51–68 sowie Bernd Braun: Die »Generation Ebert«, in: ebenda, S. 69–86. 23 Vgl. in diesem Zusammenhang beispielsweise zur transnationalen Karriere des belgischen Sozialisten César de Paepe die Überlegungen von Emmanuel Jousse: Le cas de César
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öffentlichen Debatten der Internationalen Kongresse zwischen 1889 und 1912, aber auch in den informellen Treffen oder Kommissionssitzungen, in denen wegweisende Entscheidungen vorbereitet wurden, nahmen sie eine Schlüsselstellung ein. In ihren Heimatländern gehörten diese internationalen Führer (meist Männer und nur sehr wenige Frauen) zur Gruppe der »charismatisch« qualifizierten Parteigründer, welche die Organisierung der Arbeiterbewegung vorangetrieben hatten.24 Einige von ihnen standen sogar noch im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts an der Spitze der Parteien oder sie verfügten als Spitzenfunktionäre auf nationaler Ebene über Macht und außerordentliches Ansehen. Zu dieser Führungsgruppe der Zweiten Internationale gehörten beispielsweise August Bebel (1840–1913), Wilhelm Liebknecht (1826–1900), der Schweizer Hermann Greulich (1842–1925), der Österreicher Victor Adler (1852–1918), die Franzosen Édouard Vaillant (1840–1915), Jules Guesde (1845–1922) und Jean Jaurès (1859–1914) oder – diese allerdings mehr am Rande – der Brite James Kier Hardie (1856–1915) oder der Italiener Filippo Turati (1857–1932). Obwohl einige dieser Personen ursprünglich ein Handwerk ausgeübt hatten (so Bebel, Greulich und Hardie), zeichneten sich die Mitglieder der Gruppe insgesamt – über langjährige Erfahrungen als sozialistische Aktivisten hinaus – durch Aufenthalte im Ausland, einen hohen Bildungsgrad oder durch Fremdsprachenkenntnisse aus.25 In diese internationale Spitzengruppe wurde frühzeitig Karl Kautsky (1854–1938) kooptiert, der zwar weder in der österreichischen noch in der deutschen Sozialdemokratie ein hohes Parteiamt ausübte, aber als Experte und Vermittler des Marxismus von allen Seiten anerkannt und geradezu als »theoretischer Mentor« der Zweiten Interde Paepe. Réflexions biographiques sur une histoire transnationale du socialisme, in: Cahiers Jaurès 234 (2019), S. 57–88. 24 Vgl. dazu auch Thomas Welskopp: Incendiary Personalities. Uncommon Comments on Charisma in Social Movements, in: Jan Willem Stutje (Hg.): Charismatic Leadership and Social Movements, New York 2012, S. 164–179. 25 Vgl. dazu Markus Bürgi: Die Anfänge der Zweiten Internationale. Positionen und Auseinandersetzungen, Frankfurt a. M. 1996, S. 591–597; Francis L. Carsten: August Bebel und die Organisation der Massen, Berlin 1991; Jürgen Schmidt: August Bebel. Kaiser der Arbeiter, Zürich 2013; Wolfgang Schröder: Wilhelm Liebknecht. Soldat der Revolution, Parteiführer, Parlamentarier. Ein Fragment, Berlin 2013, S. 379–424; Gilles Candar: Édouard Vaillant. Le socialisme républicain, Paris, 2015; Jean-Numa Ducange: Jules Guesde. L’anti-Jaurès?, Paris 2017; Gilles Candar: Jaurès et l’Internationale, in: Cahiers Jaurès 212/213 (2012), S. 27–41; Julius Braunthal: Victor und Friedrich Adler. Zwei Generationen Arbeiterbewegung, Wien 1965; Franco Catalano: Turati, Milano 1982; Karl Renner: Greulich, Hermann, in: Internationales Handbuch des Gewerkschaftswesens, Bd. 1, 1931, S. 731 f.
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nationale verehrt wurde.26 In seiner Funktion als Mitbegründer, Herausgeber und leitender Redakteur der SPD -Theoriezeitschrift »Die Neue Zeit«, die er mit Hilfe Bebels und Adlers als »Zentralorgan des Marxismus« mit einem »internationalen Wirkungskreis« etabliert hatte,27 übernahm er eine Schlüsselstellung in den theoretisch-programmatischen Debatten der Zweiten Internationale.28 Für die internationale Führungsgruppe der »1850er« hatte sich bereits um die Jahrhundertwende der Begriff der »alten Garde«29 eingebürgert.30 Deren besonderer Einfluss beruhte auf dem persönlichen Prestige ihrer Mitglieder, oder entsprang dem Ansehen ihrer nationalen sozialistischen Bewegungen.31 Von noch größerer Bedeutung war in diesem Zusammenhang freilich die spezifische soziale und politische Struktur der Gruppe. Denn bei der alten Garde handelte es sich um eine internationale Machtgruppe von miteinander vernetzten, führenden Vertretern der Parteigründergeneration, um die sich in den einzelnen Ländern wiederum Kreise von einflussreichen sozialistischen Führern scharten, die in ihren Parteien über eine eigene lokale oder regionale politische Klientel verfügten. Diese Struktur lässt sich auch im Führungszirkel um August Bebel wiederfinden, der nicht nur in der SPD, sondern auch in der Zweiten Internationale eine Schlüsselstellung einnahm und von seinen Bewunderern als »der moralische Diktator der gesamten Internationale« bezeichnet wurde.32 Diese herausragende Stellung Bebels in der Internationale verdankte sich 26 Vgl. beispielsweise Wilhelm Ellenbogen: Karl Kautsky, in: Karl Kautsky. Der Denker und Kämpfer. Festgabe zu seinem siebzigsten Geburtstag, Wien 1924, S. 3–8, hier S. 7; sowie Friedrich Stampfer, Bekanntschaft mit Kautsky, in: Die Gesellschaft. Ein Sonderheft der Gesellschaft zu Karl Kautskys 70. Geburtstag, hg. von Rudolf Hilferding, Berlin 1924, S. 83–85; Georges Haupt/János Jemnitz/Leo van Rossum: Vorwort, in: dies (Hg.): Karl Kautsky und die Sozialdemokratie Osteuropas. Korrespondenz 1883–1938, Frankfurt a. M./New York 1986, S. 9–58. 27 Briefe von Karl Kautsky an Victor Adler vom 13.10.1893 und 1.11.1893, in: Victor Adler, Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky, hg. vom Vorstand der Sozialistischen Partei Österreichs, Wien 1954, S. 121 f. u. S. 126. 28 Haupt, Internationale Führungsgruppen [wie Anm. 1] S. 202 f. u. S. 215. 29 Ernest Belfort Bax: Reminiscences and Reflexions of a Mid and Late Victorian, New York 1920, S. 138. 30 Vgl. Bürgi, Die Anfänge [wie Anm. 25], S. 591–597; Haupt, Internationale Führungsgruppen [wie Anm. 1], S. 202. 31 Vgl. dazu Beatrix W. Bouvier: Französische Sozialisten und deutsche Sozialdemokratie im Vergleich, in: Louis Dupeux/Rainer Hudemann/Franz Knipping (Hg.): Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert. Strukturen und Beziehungen, Bd. 2, München 1996, S. 93–108, S. 102. 32 So ein von Haupt, Internationale Führungsgruppen [wie Anm. 1], S. 201, dem Präsidenten des Internationalen Sozialistischen Büros, Émile Vandervelde, zugeschriebenes Zitat.
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zunächst seiner Position als Vorsitzender der SPD, die in der Internationale aufgrund ihrer Organisationsmacht, ihrer Wahlerfolge und der Autorität ihrer marxistischen Denker Kautsky und Bernstein eine vorherrschende Stellung einnahm,33 doch hatte Bebel auch ein effizientes informelles Netzwerk persönlicher Beziehungen im Kreis der internationalen Führer der alten Garde geknüpft. Hier sind zunächst seine engen Verbindungen mit Friedrich Engels oder Eleanor Marx zu nennen, denen unter europäischen Sozialisten in allen politisch-dogmatischen Fragen eine charismatische Autorität zugesprochen wurde, die auf den Kongressen der Internationale auch durch Rituale und symbolische Repräsentationen regelmäßig bestätigt wurde.34 Darüber hinaus pflegte Bebel enge Beziehungen zu den Parteispitzen in der Schweiz und Österreich, wobei dem Austausch mit Victor Adler besondere politische Relevanz beizumessen ist.35 Eine wichtige Funktion übernahm im Netzwerk Bebels zudem sein polyglotter Weggefährte und enger persönlicher Freund Wilhelm Liebknecht, der quasi als internationaler Vermittler und Übersetzer des Vorsitzenden der SPD fungierte. Dieser stellte Liebknecht im Gegenzug öffentlich als »Inkarnation des internationalen Gedankens« dar und vermittelte ihm auf diese Weise einen besonderen Nimbus.36 So vermochte Liebknecht als »›Außenminister‹[…] der deutschen Sozialdemokratie« zu fungieren und knüpfte vielfältige Kontakte zu französischen, britischen oder nordamerikanischen Genossen. Aus solchen zunächst nur politisch geprägten Banden entwickelten sich nicht selten freundschaftlich-emotionale Beziehungen, die sorgsam über Jahrzehnte gepflegt und auf den Kongressen der Internationale zwecks Formierung von Abstimmungsmehrheiten politisch mobilisiert wurden.37
33 Vgl. dazu noch immer Michels, Die deutsche Sozialdemokratie [wie Anm. 13], S. 153– 159; sowie Georges Haupt: »Führungspartei«? Die Ausstrahlung der deutschen Sozialdemokratie auf den Südosten Europas zur Zeit der Zweiten Internationale, in: IWK 1(1979), S. 1–30, hier S. 1 f. 34 Vgl. dazu auch Thomas Kroll: Marx und das Charisma des Sozialismus. Die symbolische Repräsentation des Antikapitalismus in den sozialdemokratischen Milieus in Österreich und Deutschland (1883–1934), in: ders./Bettina Severin-Barboutie (Hg.): Wider den Kapitalismus. Antikapitalismen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2021, S. 187–214. 35 Bürgi, Die Anfänge [wie Anm. 25], S. 594. 36 Jung, August Bebel [wie Anm. 1], S. 167. 37 Schröder, Wilhelm Liebknecht [wie Anm. 25], S. 434 f.; ferner Alayrac, L’Internationale [wie Anm. 11], S. 175 f.; zur Rolle der freundschaftlichen Netzwerke in der Zweiten Internationale vgl. Laura Polexe: Netzwerke und Freundschaft. Sozialdemokraten in Rumänien, Russland und der Schweiz an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, Göttingen 2011, S. 117–138.
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Solche generationell strukturierten Beziehungsnetze wurden durch kontinuierliche Briefwechsel aufrechterhalten, für die führende Sozialisten ein beachtliches Maß an Zeit aufwendeten.38 Eine ähnliche Funktion hatten (halb) private Besuche, wie die Verkehrskreise und Formen der Geselligkeit in Bebels Zirkel im Zürich der 1890er Jahre unterstreichen.39 In Kreisen dieses Typus verwischten sich regelmäßig die Grenzen zwischen freundschaftlich-privaten und politisch-instrumentellen Treffen. In den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg bildete sich allmählich sogar eine spezifische Form der Soziabilität der sozialistischen Elite Europas heraus, deren Mitglieder zwischen Gewerkschaftshäusern, mondänen Urlaubsorten und »roten Salon[s]«40 souverän changierten.41 Für die besondere Relevanz dieser elitären Geselligkeits- und Umgangsformen spricht nicht zuletzt der Umstand, dass in der sozialistischen Presse über Zusammentreffen von prominenten Führern der Internationale oder der Delegierten am Rande der Kongresse in den Cafés von Amsterdam, Paris oder London ausführlich berichtet wurde.42 Den informellen Formen der politischen Kommunikation, die in den Jahren zwischen den Kongressen eine kontinuierliche Verständigung der Elite gewährleisteten,43 verdankte die ältere Generation einen beträchtlichen Machtvorsprung. Dieser äußerte sich etwa darin, dass die Mitglieder der alten Garde in den Vorbereitungskomitees der internationalen Kongresse das Wort führten und Entscheidungsprozesse kanalisierten oder, wie Paul Singer (1844–1911), regelmäßig den prestigeträchtigen Vorsitz über die öffentlichen Sitzungen übernahmen und die Debatte moderierend lenkten.44 Auf die besondere
38 Zur Rolle der Briefwechsel vgl. Moira Donald: Workers of the World Unite? Exploring the Enigma of the Second International, in: Martin H. Geyer/Johannes Paulmann (Hg.): The Mechanis of Internationalism, Oxford 2001, S. 177–203, hier S. 177–197. 39 Bax, Reminiscences [wie Anm. 29], S. 142. 40 Mit diesem Begriff spielte Alfred Grotjahn: Erlebtes und Erstrebtes, Berlin 1932, S. 92, auf den Berliner Salon von Leo Arons an. 41 Vandervelde, Souvenirs [wie Anm. 1], S. 96–131, besonders S. 98; Janet Polasky: The Democratic Socialism of Émile Vandervelde. Between Reform and Revolution, Oxford/ Washington D. C. 1995, S. 83–112; auf die besondere Rolle der informellen Soziabilität und der in der »Freizeit« stattfindenden Treffen der europäischen Eliten verweisen auch Martin Kohlrausch/Peter Heyrman/Jan de Mayer: Elites and Leisure: Arenas of Encounter in Europe 1815–1914, in: dies. (Hg.): Arenas of Encounter in Continental Europe 1815–1914, Berlin/Boston 2020, S. 1–17. 42 Vgl. beispielsweise Ludwig Frank: Briefe aus Amsterdam, Offenburg 1904. 43 Vgl. Bürgi, Die Anfänge [wie Anm. 25], S. 597. 44 Vgl. Internationaler Sozialisten-Kongreß zu Stuttgart [wie Anm. 9]; zu Singer vgl. Ursula Reuter: Paul Singer (1844–1911). Eine politische Biographie, Düsseldorf 2004.
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Autorität der alten Garde verweist zudem deren massive Präsenz unter den Delegierten im Sekretariat des Internationalen Sozialistischen Büros, an deren Zusammenkünften seit 1900 im deutschen Fall besonders regelmäßig August Bebel, Paul Singer, Karl Kautsky und Hermann Molkenbuhr (1851–1927)45 teilnahmen. Erst um 1910 kamen mit Friedrich Ebert (1871–1925), Hugo Haase (1863–1919) und Rosa Luxemburg (1871–1919) sporadisch Exponenten der jüngeren Generation zum Zuge.46 Dass der jüngeren Generation erst spät die Chance zur Mitwirkung im Internationalen Büro eingeräumt wurde, ist auf eine gezielte Strategie der älteren Generationsgruppe zurückzuführen. Deren Angehörige beharrten nämlich auf ihrem Führungsanspruch, den sie gegenüber der jungen Generation energisch geltend machte, wie der Briefwechsel zwischen Victor Adler und Karl Kautsky verdeutlicht, in dem die beiden Sozialisten sich nach dem Tod Bebels im Jahr 1913 über das Problem der nun vakanten »Führerschaft« in der Zweiten Internationale austauschten. So beharrte Kautsky darauf, dass Victor Adler trotz seiner angeschlagenen Gesundheit nach der Führung in der Internationale greifen müsse, weil es der jüngeren Generation noch an politischer Qualifikation, persönlicher Eignung und »internationale[m] Prestige« mangele: »Auf die Führerschaft mußt Du Deine ganzen Kräfte konzentrieren und alles, was Dir sonst Kraft nehmen würde, meiden. Seit Augusts Tod hat die Internationale nur noch einen Führer – Dich. Haase ist ein sehr kluger und trefflicher Mensch, den ich sehr hoch schätze, aber zum Führer fehlt ihm noch das Prestige.«47 Doch nicht nur Hugo Haase, immerhin einer von zwei Vorsitzenden der SPD seit 1911 und deren Fraktionsvorsitzender im Reichstag seit 1912, traf die scharfe, intergenerationelle Kritik von Kautsky.48 Dieser bestritt dem im Vorstand der SPD bereits etablierten Friedrich Ebert ebenfalls die Eignung zum internationalen Führer, obwohl letzterer schon Erfahrungen in der sozialisti-
45 Vgl. Bernd Braun: Hermann Molkenbuhr (1851–1927). Eine politische Biographie, Düsseldorf 1999. 46 Vgl. die Mitgliederlisten bei Haupt, La Deuxième Internationale [wie Anm. 9]. 47 Brief von Karl Kautsky an Victor Adler vom 13.2.1914, in: Adler, Briefwechsel [wie Anm. 27], S. 592. 48 Zu Haase vgl. Kenneth R. Calkins: Hugo Haase. Demokrat und Revolutionär, Berlin 1976.
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schen Internationale gesammelt hatte.49 So hatte Ebert auf dem Internationalen Kongress in Amsterdam 1904 die Bremer Organisation der SPD vertreten, dann 1910 die Aufgabe eines Delegierten des Parteivorstands zur Kopenhagener Konferenz und des dort ebenfalls tagenden internationalen Jugendkongresses übernommen. Schließlich hatte Ebert 1913 sowohl an Sitzungen des Internationalen Sozialistischen Büros in Brüssel als auch an der deutsch-französischen Parlamentarierkonferenz in Bern mitgewirkt.50 Auch wenn Ebert tatsächlich kein Spezialist für die internationale Politik war, lässt sich das harsche Urteil Kautskys nur mit dessen Bestrebung erklären, den Autoritätsanspruch der alten Garde der SPD auf der internationalen Ebene aufrechtzuerhalten, und zwar durchaus auch im eigenen Interesse, denn Kautsky strebte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, trotz eines zur Schau getragenen Understatements, selbst nach Macht und »praktischer ›Führerschaft‹« im Internationalen Sozialistischen Büro.51 So zweifelte Kautsky in einem Brief an seinen Freund und politischen Vertrauensmann Adler ganz gezielt an der politischen Eignung Eberts für internationale Führungsaufgaben: »Er ist sicher ein Mann von großer Intelligenz und Tatkraft, dabei aber sehr herrisch und eifersüchtig, und, wie mich dünkt, in nicht rein proletarischen Dingen etwas beschränkt.«52 Ein Bannstrahl traf freilich desgleichen Jean Jaurès, doch entsprang dieses Urteil Kautskys der scharfen Konkurrenz von deutschen und französischen Sozialisten, die sich im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg auch innerhalb der alten Garde der Zweiten Internationale entwickelt hatte.53 Für Kautsky stellte dies einen Grund mehr dar, um Adler zur Übernahme der internationalen »Führerschaft« zu drängen: »Jaurès ist außer Dir der einzige, der internationales Prestige hat,
49 Vgl. Callahan, ›Performing Inter-Nationalism‹ (wie Anm. 18], S. 76; Carl E. Schorske: Die große Spaltung. Die deutsche Sozialdemokratie 1905–1917, Berlin 1981, S. 273. 50 Agnes Blänsdorf: Friedrich Ebert und die Internationale, in: Archiv für Sozialgeschichte 7 (1969), S. 321–348, hier S. 323–324. 51 Brief von Karl Kautsky an Victor Adler vom 13.2.1914, in: Adler, Briefwechsel [wie Anm. 27], S. 592. 52 Brief von Karl Kautsky an Victor Adler vom 8.10.1913, in: ebenda, S. 585. 53 Vgl. dazu Agnes Blänsdorf: Jean Jaurès und die Zweite Internationale, in: Ulrike Brummert (Hg.): Jean Jaurès. Frankreich, Deutschland und die Zweite Internationale am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Tübingen 1989, S. 23–33; Dieter Groh: Jean Jaurès und die deutsche Sozialdemokratie, in: ebenda, S. 1–17; Ulrike Brummert: Images de Jean Jaurès en Allemagne, in: Madeleine Rebérioux/Gilles Candar (Hg.): Jaurès et les intellectuels, Paris 1994, S. 279–298; Jacques Droz: Einfluß der deutschen Sozialdemokratie auf den französischen Sozialismus (1871–1914), Opladen 1973.
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aber er kennt das Ausland doch sehr wenig, wenn auch mehr als die Durchschnittsfranzosen.«54 Dem im privaten Briefwechsel geäußerten Plädoyer Kautskys für die Vorrangstellung der alten Garde in der Internationale entsprach die öffentliche Propaganda eines Modells des internationalen Führers, das die politische Autorität der Parteigründergeneration in der Arena der Zweiten Internationale untermauern sollte. In dieser Hinsicht typisch ist ein Artikel, den Kautsky anlässlich des sechzigsten Geburtstags von Victor Adler im Jahr 1912 publizierte.55 Darin wurde Adler als theoretisch versierter und taktisch geschickt agierender »Patriarch«56 der österreichischen Sozialdemokratie präsentiert, der die jüngere Generation auf nationaler wie internationaler Ebene führe und ihr als Vorbild diene. Mit dieser paternalistischen Argumentationsfigur verklärte Kautsky das im Kern hierarchisch strukturierte Verhältnis der Generationen zueinander als harmonische Autoritätsbeziehung: »Wenn man die leitenden Köpfe der jüngeren Generation unserer Partei in Österreich ansieht, so sind sie fast alle durch die Schule Adlers gegangen, die Theoretiker wie die Tagesschriftsteller; die Parlamentarier wie die Gewerkschafter und auch die Genossenschafter. Er hat sich jedem von ihnen gewidmet, jeden angeregt, jeden bei seinen Arbeiten angeleitet, und so verbindet ihn mit der Masse der im Parteidienst tätigen Genossen nicht bloß die Gemeinsamkeit des Zieles und der Waffenbrüderschaft, sondern auch die herzlichster persönlicher Freundschaft.«57 Die Präsentation Adlers als österreichischer und zugleich internationaler Führer fand in der Sozialdemokratie breite Zustimmung.58 Um 1900 galt dies selbst für Aktivisten und Funktionäre der jüngeren Generation, wie etwa eine autobiographische Bemerkung des Wiener Arztes und Sozialdemokraten Wilhelm Ellenbogen (1863–1951) zeigt: »Wer das Glück hatte, Viktor Adlers Gefährte und Mitarbeiter zu sein, der ordnete sich ihm willig unter, denn er hatte das Gefühl, einer außerordentlichen Persönlichkeit, einem Weisen gegenüberzu54 Brief von Karl Kautsky an Victor Adler vom 13.2.1914, in: Adler, Briefwechsel [wie Anm. 27], S. 592. 55 Karl Kautsky: Viktor Adler. Erinnerungsblätter zu seinem 60. Geburtstag, in: Die Neue Zeit 30 (1912), Bd. 2, Nr. 38, S. 417–427. 56 Ebenda, S. 427. 57 Ebenda, S. 426. 58 Vgl. etwa den Artikel »Viktor Adler«, in: Wiener »Arbeiter-Zeitung« Nr. 170 vom 23.6.1912, S. 1 f.
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stehen. Denn Weisheit ist Erkenntnis, getragen von Liebe. Diese Mischung von reifster Einsicht und edelster Güte legte die ganze internationale Sozialdemokratie in ihren Bann, und Troelstra hat dieser allgemeinen Empfindung Ausdruck verliehen, als er bei der Stockholmer Konferenz Adler mit ›Ehrfurcht‹ begrüßte.«59 Mit noch größerem Enthusiasmus wurde in der europäischen Sozialdemokratie nur August Bebel als internationale Führungsfigur gefeiert. Abgesehen davon, dass sich in der SPD seit etwa 1900 ein regelrechter Kult um Bebel entwickelt hatte, dem sich auch Exponenten der radikalen Linken nicht entzogen,60 wurde er in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg von der europäischen sozialistischen Presse in Text und Bild als »leader vénéré« (»verehrter Führer«) der Zweiten Internationale repräsentiert.61 Auf der anlässlich von Bebels 70. Geburtstag im Februar 1910 in Paris veranstalteten Massenkundgebung hielten Ludwig Frank und Jean Jaurès in deutsch-französischer Kooperation hymnische Lobesreden auf den deutschen Internationalisten.62 Solche Formen der Idolisierung der alten Garde konnten im Publikum auf sicheren Erfolg zählen, weil die Parteibasis ebenso wie die Intellektuellen dazu neigten, die sozialistische Internationale mit ihren herausragenden Führern zu identifizieren.63 Dies zeigte sich besonders an den europaweit abgehaltenen Gedenkfeiern nach dem Tod August Bebels im Jahr 1913. In diesem Kontext wurde letzterer von der französischen Parteipresse erneut zu einer idealen Verkörperung des internationalen Führers stilisiert und in den Rang einer Ikone des »héro de la lutte prolétarienne internationale« (»Held des internationalen proletarischen Kampfes«) erhoben.64 Ausführlich berichtet wurde ferner über die in Zürich stattfindenden Begräbnisfeierlichkeiten, zu denen die 59 Wilhelm Ellenbogen: Viktor Adler. Ein Wort der Erinnerung, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung 8 (1919), S. 383–388, S. 383 u. S. 388 (Zitat); eine ähnliche hymnische Überhöhung Adlers als internationaler Führer findet sich auch bei Émile Vandervelde: Viktor Adler und die Internationale, in: Der Kampf 22 (1929), H. 1, S. 5–8. 60 Vgl. dazu Thomas Kroll: Führerkult und Massendemokratie um 1900. Die sozialistischen Parteien in Deutschland, Frankreich und Italien im Vergleich, in: Stefan Gerber/Werner Greiling/Tobias Kaiser/Klaus Ries (Hg.): Zwischen Stadt, Staat und Nation. Bürgertum in Deutschland, Göttingen 2014, S. 541–558. 61 Vgl. Albert Thomas: August Bebel, in: »l’Humanité« vom 22.2.1910, Nr. 2137, S. 1; ferner Henri Guilbeaux: August Bebel, in: Les hommes du Jour 4 (1911), Nr. 192, S. 1–3. 62 Vgl. Grande fête socialiste à l’occasion du 70 ° anniversaire du camarade August Bebel, in: »l’Humanité« vom 22.2.1910, Nr. 2137, S. 1. 63 Vgl. dazu Annie Kriegel: Les internationales ouvrières, Paris 1970, S. 55. 64 On a fait à August Bebel des grandioses funérailles, in: »l’Humanité« vom 18.8.1913, Nr. 3410, S. 1.
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»Persönlichkeiten des internationalen Sozialismus« aus ganz Europa, aber auch Arbeitermassen aus der Schweiz zusammenströmten.65 In welchem Ausmaß Bebel an der Basis der europäischen Arbeiterbewegungen als internationaler Führer verehrt wurde, zeigen schließlich die zu seinem Gedenken aus eigener Initiative von Gliederungen des »Partito socialista italiano« kleinerer Orte oder sogar von ländlichen Konsumgenossenschaften ausgerichteten Feiern.66 Auch wenn die Figur des deutschen Sozialisten in vielen Ländern eine überragende Rolle für die symbolische Repräsentation der Internationale spielte, wurden außer ihm noch zahlreiche weitere internationale Führer aus der alten Garde idealisiert. In der deutschen oder österreichischen Parteipresse gilt dies für französische und britische Exponenten der ersten Generation, wie Jaurès, Vaillant oder Hardie, die man ebenfalls als Vorbilder und Führungsgestalten der Internationale herausstellte, auch wenn ihre Autorität nicht an diejenige von Bebel heranreichte.67
3. Die »1870er« zwischen Loyalität und Generationenkonflikt Die jüngere Generation der Parteiführer, die in den 1890er Jahren ihre politische Karriere in den bereits formierten sozialistischen Massenparteien begannen und deren Ausbau vorantrieben, teilten den Glauben der alten Garde an die Wirkmächtigkeit der internationalistischen Ideale. Auch sie engagierten sich auf vielfältige Weise in den internationalen Beziehungen ihrer Parteien und knüpften persönliche Netzwerke mit Genossen aus anderen Ländern. Im Unterschied zu den Mitgliedern der Generation der Parteigründer wurde das internationalistische Engagement der Jüngeren durch die politische Sozialisation
65 Vgl. beispielsweise Il lutto del socialismo internazionale per la morte di Bebel, in: »Avanti!« vom 16.8.1913, Nr. 226, S. 1. 66 Vgl. die Artikel »Circoli e convegno«, in: »Avanti!« Nr. 228 vom 18.8.1913, S. 4 und Il proletariato internazionale alla salma di August Bebel, in ebenda, Nr. 227 vom 17.8.1913, S. 1. 67 So hieß es etwa nach der Ermordung von Jaurès in der Wiener »Arbeiter-Zeitung«: »Für uns aber war Jaurès immer mehr zum bewunderten und geliebten Repräsentanten des internationalen Sozialismus geworden, zu dem großen Verkünder unserer Hoffnung, unserer Sehnsucht, unseres Glaubens.« Jean Jaurès ist tot, in: »Arbeiter-Zeitung« Nr. 211 vom 2.8.1914, S. 2; vgl. ferner Eduard Bernstein: Jean Jaurès, der Internationalist und Patriot, in: Die Neue Zeit 33 (1915), H. 18, S. 557–565; Aus dem Leben von Keir Hardie, in: »Arbeiter-Zeitung« Nr. 272 vom 1.10.1915, S. 2 f. Karl Kautsky: Edouard Vaillant, in: Die Neue Zeit 34 (1915), H. 14, S. 417–423.
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in den funktional differenzierten und zunehmend hierarchisch strukturierten Parteiapparaten und die hauptberufliche Tätigkeit als Funktionär geprägt. Obwohl die Mitglieder der jüngeren »Generation« sich dennoch keineswegs als »Parteibürokraten« verstanden, stellten sie das internationale Engagement ganz bewusst in den Dienst des mit »reale[n] Tagesfragen« befassten Apparats.68 Dies gilt auch für die Vermittler in den »inter-sozialistischen Beziehungen« der Parteien, die oft dem Kreis der Parteijournalisten angehörten, akademisch gebildet waren und sich zumeist auf ein Land »spezialisierten«. Nennen lassen sich beispielsweise Wilhelm Ellenbogen, der sich um die Beziehungen der österreichischen zur italienischen Partei bemühte, Oddino Morgari (1862–1944), der die Aufgabe eines »Außenministers« der Sozialistischen Partei Italiens übernahm, oder auch der aus Österreich stammende Adolf Braun (1862–1929), der im Auftrag der SPD die russischen Sozialisten im Deutschen Kaiserreich organisatorisch unterstützte.69 Ähnliche Muster lassen sich schließlich in den deutsch-französischen Parteibeziehungen ausmachen, die freilich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zunehmend von Konflikten geprägt wurden.70 Trotz dieses Engagements stellte die jüngere Generation die internationale Führungsrolle der alten Garde lange Zeit nicht in Frage. Die von letzterer geleitete Internationale galt ihnen vielmehr als »Gemeinschaft« und als Arena, »in der die Führer der Arbeiterbewegung der verschiedenen Länder inter68 So etwa Wilhelm Dittmann: Erinnerungen, bearbeitet und eingeleitet von Jürgen Rojahn, Frankfurt a. M./New York 1995, S. 126 u. S. 135 f.; zur Organisationsgeschichte vgl. die immer noch hilfreiche Studie von Thomas Nipperdey: Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918; Düsseldorf 1961, S. 293–319; Jürgen Mittag/Helga Grebing: Im Spannungsfeld von nationalstaatlicher Politik und internationaler Weltanschauung. Annäherungen an die europäische Parteikooperation vor dem Ersten Weltkrieg, in: Jürgen Mittag (Hg.): Politische Parteien und europäische Integration. Entwicklung und Perspektiven transnationaler Parteienkooperationen in Europa, Essen 2006, S. 165–195. 69 Vgl. Claudie Weill: Marxistes russes et social-démocratie allemande 1898–1904, Paris 1977, S. 11 f. (Zitat); Botho Brachmann: Russische Sozialdemokraten in Berlin 1895–1914, Berlin 1962, S. 11; Katharina Keller: Modell SPD? Italienische Sozialisten und deutsche Sozialdemokratie bis zum Ersten Weltkrieg, Bonn 1994, S. 117–130; Wilhelm Ellenbogen: Meine letzte Begegnung mit Mussolini, in: Studi storici 2 (1961), S. 105–110; Giovanni Artero: Oddino Morgari, Buccinasco 2012, S. 56 f. 70 Vgl. dazu den anregenden Problemaufriss von Marie-Louise Goergen: La place de l’Allemagne dans les biographies des militants français (1871–1914), in: Matériaux pour l’histoire de notre temps 34 (1994), S. 17–20; ferner dies.: Paris, un lieu de rencontre pour les socialistes allemands et français avant 1914, in: Mareike König (Hg.): Deutsche Handwerker, Arbeiter und Dienstmädchen in Paris, München 2003, S. 169–194; Franck Schmidt: Du SPD à la SFIO. Les logiques sociales de la carrière politique de cinq dirigeants socialistes alsaciens (1900–1920), in: Cahiers Jaurès 239/240 (2021), S. 93–105.
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nationale Zusammenarbeit erlernen konnten«.71 In der Regel wirkten die internationalistisch engagierten Mitglieder der jüngeren Generation an der organisatorischen und logistischen Vorbereitung der Kongresse mit. Sofern sie über entsprechende Fremdsprachenkenntnisse verfügten, übernahmen sie auch die geachtete, aber ebenfalls nachgeordnete Position von Übersetzern der Reden der internationalen Größen. Dabei begegneten sie den »führenden Genossen« und »bekanntesten Vertreter[n] des internationalen Sozialismus«, wie Bebel, Jaurès oder Adler, im persönlichen Umgang selbst dann mit Ehrfurcht, wenn sie deren politische Ansichten nicht teilten.72 Trotzdem ist die von Georges Haupt formulierte Hypothese, es sei zu einer »Osmose zwischen den beiden Generationen« gekommen,73 mit einiger Vorsicht zu behandeln. So räumte zwar Karl Kautsky gegenüber Victor Adler im Vorfeld des internationalen Kongresses von Amsterdam 1904 ein, dass der Parteivorstand der SPD sich langsam in »ein Kollegium alter Herren« verwandle, »die von den Bürogeschäften und dem Parlamentarismus so absorbiert« würden, dass sie ihre politische Dynamik verlören.74 Trotzdem hielt er die Zeit der jüngeren Generation noch keineswegs für gekommen, weil es in der Routine und im »Sumpfleben« der Massenpartei keine Chance für die Etablierung geeigneter politischer Talente gebe. Erst wenn wieder »bewegte Zeiten« anbrächen, ließe sich auf qualifizierten »Nachwuchs« hoffen: »Nur große Kämpfe können große Politiker erziehen.«75
71 So lautet die Position des reformistischen Sozialdemokraten Ludwig Frank (1874–1914) nach Hedwig Wachenheim: Vom Großbürgertum zur Sozialdemokratie. Memoiren einer Reformistin, Berlin 1973, S. 37; Frank wirkte im Vorbereitungsbüro des internationalen Kongresses in Stuttgart mit; zu seiner Biographie vgl. Karl Otto Watzinger: Ludwig Frank. Ein deutscher Politiker jüdischer Herkunft, Sigmaringen 1995, S. 18 f. 72 Vgl. die Schilderungen von Balabanoff, Erinnerungen [wie Anm. 12], S. 46–53 über den Kongress von Basel 1912; Dittmann, Erinnerungen [wie Anm. 68], S. 126; Frank, Briefe [wie Anm. 42]; Hendrik De Man: Gegen den Strom. Memoiren eines europäischen Sozialisten, Stuttgart 1952, S. 110–112; zu Balabanoff vgl. Marie Marmo Mullaney: Revolutionary Women. Gender and Socialist Revolutionary Role, New York 1983, S. 149–189; zur Rolle der Übersetzer vgl. auch Emmanuel Jousse: Les traducteurs de lʼInternationale, in: Cahiers Jaurès 212/213 (2014), S. 181–194. 73 Haupt, Internationale Führungsgruppen [wie Anm. 1], S. 211. 74 Brief von Karl Kautsky an Victor Adler vom 2.8.1905, in: Victor Adler, Briefwechsel [wie Anm. 27], S. 467. 75 Brief von Karl Kautsky an Victor Adler vom 4.4.1903, in: ebenda, S. 417.
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Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die Vertreter der »alten Generation«76 sehr empfindlich darauf reagierten, wenn jüngere Sozialdemokraten Ansprüche auf politische Gestaltungsspielräume in der Internationale geltend machten. Die Gründung der sozialistischen Jugendorganisationen und die Einberufung der ersten internationalen Jugendkonferenz in Stuttgart 1907 stießen bei den Exponenten der alten Garde zunächst auf wenig Gegenliebe, weil diese befürchteten, die Jungen zielten auf eine Radikalisierung des sozialistischen Antimilitarismus. Mit solchen Vorbehalten, die ebenso generationell wie politisch motiviert waren, hatte auch der 1908 zum Sekretär der Jugendinternationale gewählte Robert Danneberg (1885–1942) zu kämpfen. In der österreichischen Partei konnte er sich nur mühsam mit seiner Idee durchsetzen, dass eigenständige Jugendorganisationen gewissermaßen als »Rekrutenschulen« die »Kadetten der Sozialdemokratie« hervorbrächten. Ähnliche Widerstände hatte auch die Jugendorganisation der SPD zu überwinden. In Österreich wie in Deutschland konnten die jugendlichen Aktivisten allerdings auf die Unterstützung von Genossen aus der 1870er Generation zählen, die unterschiedlichen politischen Richtungen angehörten, etwa Ludwig Frank, Friedrich Ebert und Karl Liebknecht in der SPD, oder Leopold Winarsky (1873–1915) in der österreichischen Sozialdemokratie.77 Viele Mitglieder der alten Garde blieben dagegen argwöhnisch oder betrachteten die Unternehmungen der nachrückenden Generationen sogar als eine Art Anschlag auf ihre Autorität. So beklagte sich etwa Victor Adler bereits in einem 1899 während der Revisionismus-Debatte verfassten Brief an Bebel über die mit der »Bernsteinerei« verbundene »Revoluzzerei«, also eine »antiautoritäre Stimmung« der »jungen Leute«, die sich »heute weit mehr gegen Marx u. uns Alte als gegen den Staat und was drum und dran hängt« richte. Diesem Credo entsprechend betonte der österreichische Sozialdemokrat, die Nachwuchskräfte sollten nur dann in verantwortungsvolle Positio-
76 Vgl. dazu auch Äußerungen von Victor Adler auf dem österreichischen Parteitag von 1912: Der Parteitag, in: Wiener »Arbeiter-Zeitung« Nr. 304 vom 5.11.1912, S. 4. 77 Leon Kane: Robert Danneberg. Ein pragmatischer Idealist, Wien/München/Zürich 1980, S. 17–25 u. S. 37–42; ferner Roland Pracher: Robert Danneberg. Eine politische Biographie, Frankfurt a. M. 2014, S. 60–64; Max Peters: Friedrich Ebert. Erster Präsident der deutschen Republik, Berlin-Grunewald 1961 [ND 1954], S. 61–69; ferner Wolfgang Neugebauer: Bauvolk der kommenden Welt. Geschichte der sozialistischen Jugendbewegung in Österreich, Wien 1975, S. 53 u. S. 83–88; Schorske, Die große Spaltung [wie Anm. 49], S. 271.
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nen aufrücken, wenn ihre »Führung« effektiv gewährleistet werden könnte.78 Diesem Ziel diente nicht zuletzt auch die Personalpolitik der Parteivorstände und die von den führenden Genossen ausgeübte Ämterpatronage. Dennoch mehrten sich nach dem Kongress von Amsterdam 1904 die Konflikte mit einem dezidiert generationellen Charakter, wobei die opponierenden Vertreter der jüngeren Generation sowohl dem reformistischen als auch dem radikal-revolutionären Lager der SPD angehörten.79 So kritisierte der Reformist Albert Südekum (1871–1944), der als Übersetzer der Schriften von Émile Vandervelde hervorgetreten war und in der von Jean Jaurès geleiteten Pariser Zeitung »l’Humanitè« publizierte, die Politik des Parteivorstands der SPD auf dem Kongress in Amsterdam. In einem polemischen Artikel warf er Bebel und Kautsky vor, das Abstimmungsverhalten des Plenums mit Hilfe ihres internationalen Netzwerks gesteuert und die gegen die Revisionisten gerichtete Resolution kompromisslos durchgesetzt zu haben.80 In der SPD nahm man die Kritik Südekums allerdings nicht zur Kenntnis, weil er seine Einwendungen in einer französischen Tageszeitung publiziert hatte. Aufmerksamkeit erreichte die jüngere Generation nur dann, wenn sie ihre Forderungen und Ansprüche auf politischen Einfluss in der Internationale in der nationalen Arena geltend machten. Dies gilt beispielsweise für eine von Generationsgegensätzen geprägte Kampagne, die der radikale Flügel der SPD einige Jahre später lancierte. So brachten Rosa Luxemburg und die Gruppe um die »Leipziger Volkszeitung« scharfe Kritik gegen die internationale Politik des Parteivorstands vor. Dieser habe in der Marokkokrise von 1911 nicht alle politischen Mittel der Zweiten Internationale genutzt, um die aggressiven Bestrebungen des Imperialismus einzudämmen.81 Entzündet hatte sich die Kon troverse an einem Artikel, den Rosa Luxemburg in der »Leipziger Volkszeitung«
78 Brief von Victor Adler an August Bebel vom 6.11.1899, in: Victor Adler, Briefwechsel [wie Anm. 27], S. 330. 79 Ob man in diesem Zusammenhang von einer zielgerichtet handelnden »Generationseinheit« im Sinne von Karl Mannheim sprechen kann, lässt sich angesichts des derzeitigen Forschungsstandes nicht sagen; vgl. dazu Ulrike Jureit: Generation, Generationalität, Generationenforschung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.2.2010, URL: http://docupedia.de/zg/Generation [letzter Zugriff am 15. Mai 2023], S. 4. 80 Albert Südekum: Lettre de Berlin. L’écho du Congrès international en Allemagne, in: »l’Humanité« Nr. 134 vom 29.8.1904, S. 3. 81 Vgl. zum Folgenden Marcobelli, L’internationalisme à l’épreuve [wie Anm. 15], S. 176– 194; sowie Dieter Groh: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkriegs, Frankfurt a. M./Berlin/ Wien 1974, S. 243–264.
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publiziert hatte. Darin warf sie dem Parteivorstand vor, eine Einberufung des Internationalen Sozialistischen Büros aufgrund von »Rücksichten auf die bevorstehenden Reichstagswahlen« verzögert und damit nicht energisch genug auf die Kriegsgefahr reagiert zu haben. Um ihre Argumentation zu belegen, hatte Luxemburg in ihrem Artikel Auszüge eines Schreibens von Hermann Molkenbuhr an das Internationale Sozialistische Büro zitiert, was ihr schwere Vorwürfe der Illoyalität gegenüber der Partei einbrachte.82 Inhalte und Form der Kritik Luxemburgs wurden auf dem folgenden Parteitag in Jena im September 1911 intensiv debattiert.83 Auch wenn in der Debatte der politische Gegensatz zwischen dem radikalen Flügel und dem Parteivorstand der SPD offen zu Tage trat und die Gruppe um Luxemburg mit ihrem Vorgehen zugleich »personalpolitische […] Ziele« verfolgte,84 hatte die Auseinandersetzung durchaus den Charakter eines Generationenkonflikts. Auf der einen Seite stand die Gruppe der »Leipziger Volkszeitung« um Rosa Luxemburg und Paul Lensch (1873–1926), die von Clara Zetkin und Georg Ledebour sekundiert wurden;85 auf der anderen Seite bezogen Bebel und Molkenbuhr Stellung, die sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen mussten, auf die aus der internationalen Krise erwachsenen Gefahren unzureichend reagiert und »in eine ganz schiefe Lage gegenüber der Internationale geraten« zu sein.86 Auf diese Polemik reagierte Bebel durchaus aggressiv, indem er die »Atmosphäre alter Kameradschaft«87 beschwor. So reagierte er mit etablierten generationellen Argumentationsmustern, welche die ältere Generation der Parteiführer erstmals in den frühen 1890er Jahren gegen die innerparteiliche Opposition der sogenannten »Jungen« verwendet hatte. Diese hatten den »Alten« Verspießerung, Korruption durch den Parlamentaris-
82 »Um Marokko«, in: »Leipziger Volkszeitung« Nr. 168 vom 4.7.1911, S. 1 f. 83 Vgl. dazu: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten in Jena vom 10. bis 16. September 1911, Berlin 1911, S. 187–234. 84 Braun, Hermann Molkenbuhr [wie Anm. 45], S. 294. 85 Vgl. den vermutlich von Paul Lensch verfassten Artikel: »Jena«, in: »Leipziger Volkszeitung« Nr. 209 vom 9.9.1911, S. 1 f.; zu Ledebour vgl. Ursula Ratz: Georg Ledebour 1850–1947. Weg und Wirken eines sozialdemokratischen Politikers, Berlin 1969, S. 110– 117. 86 So eine Äußerung von Luxemburg, vgl. Protokoll Parteitag Jena 1911 [wie Anm. 83], S. 206. 87 Peter Nettl: Rosa Luxemburg, Köln/Berlin 21968, S. 428; ferner Groh, Negative Integration [wie Anm. 81], S. 244.
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mus und einen autoritär-zentralistischen Führungsstil vorgeworfen.88 Dem abwehrenden Muster der 1890er Jahre folgend, präsentierte sich Bebel 1911 in Jena als umsichtiger internationaler Führer der alten Garde, der die Interessen seiner Partei ebenso im Blick gehabt habe wie jene des internationalen Sozialismus und im Hintergrund stets in Tuchfühlung mit dem Sekretär des Internationalen Sozialistischen Büro geblieben sei. Die polemische Kritik Luxemburgs an der internationalen Politik des Parteivorstands suchte Bebel zu entwerten, indem er die Intellektuelle persönlich angriff und ihre nicht autorisierte Publikation des Briefes von Molkenbuhr in der »Leipziger Volkszeitung« als politische Untreue und als persönliche Verfehlung geißelte. Luxemburgs Darstellung stempelte er zudem als »unrichtig« ab und stilisierte den Artikel in der »LVZ« als regelrechte Misshandlung Molkenbuhrs und seiner eigenen Person. So erschien die Kritik des Parteivorstands als ein von linksradikalen Vertretern der jungen Generation ausgeführter Anschlag auf die Partei als solche: »Es ist eine der schwersten Herabwürdigungen der eigenen Partei, wenn solche in keiner Weise begründeten Angriffe gegen uns erhoben werden«.89 Dass diese Auseinandersetzungen einen generationellen Charakter hatten, unterstrich Karl Kautsky einige Zeit später in einer in »Die Neue Zeit« publizierten Analyse des Jenaer Parteitags. Dort warf er der Generation Luxemburgs eine doktrinäre Verhärtung vor, die sich aus ihren Unfähigkeit ergeben habe, die ideologischen Auseinandersetzungen mit dem Revisionismus angemessen zu verarbeiten: »Ein Teil unserer jüngeren Marxisten, die in der Zeit des Kampfes mit dem Revisionismus ihre geistige Reife erlangt haben, scheint vergessen zu haben, daß nicht alle Meinungsverschiedenheiten unter uns den gleichen Charakter tragen. Weil wir in dem letzten Jahrzehnt so viel mit Differenzen zu tun hatten, die aus grundsätzlichen Verschiedenheiten entsprangen, scheinen sie zu meinen, jede Differenz müsse einen solchen Charakter haben, und sie glauben es ihrem Marxismus und ihrer wissenschaftlichen Tiefe und Gründlich-
88 Das generationelle Gegensatzpaar »Alte« und »Junge« findet sich ebenfalls bei Eduard Bernstein: Aus früheren Kämpfen, in: »Vorwärts« Nr. 131 vom 6.7.1904, Unterhaltungsblatt , S. 522 f.; vgl. zu den Jungen die Studie von Dirk H. Müller: Idealismus und Revolution. Zur Opposition der Jungen gegen den Sozialdemokratischen Parteivorstand 1890 bis 1894, Berlin 1975, S. 57–61, 122–125 u. 170–175; Peter Wienand: Revoluzzer und Revisionisten. Die »Jungen« in der Sozialdemokratie vor der Jahrhundertwende, in: Politische Vierteljahresschrift 17 (1976), S. 208–241, hier S. 211–212. 89 Protokoll Parteitag Jena 1911 [wie Anm. 83], S. 216 (Zitat), zudem S. 214–218 u. S. 222.
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keit schuldig zu sein, aus jeder Meinungsverschiedenheit einen tiefen, grundsätzlichen Gegensatz herauszudestillieren.«90 Welche Folgen die Debatte auf dem Parteitag von 1911 in Jena für die Entwicklung der Generationenverhältnisse hatte, lässt sich beim gegenwärtigen Forschungsstand schwer bemessen. Jedenfalls zeichneten sich im Herbst desselben Jahres erste Anzeichen eines Generationswechsels in den Führungseliten der Zweiten Internationale ab. Schon bei den Massenkundgebungen gegen den Tripolis-Krieg in Berlin im November 1911 traten vor allem Redner der jüngeren Generation aus verschiedenen Ländern auf, um gemeinsam gegen den »tripolitanischen Raubzug« des italienischen Imperialismus zu demon strieren.91 Auch das deutsch-französische Parlamentariertreffen in der Schweiz von 1913 ging auf eine Initiative von Exponenten der jüngeren Generation zurück.92 Einen weiteren tiefen Einschnitt in den Strukturen der Zweiten Internationale bildete der Tod Bebels. Vermutlich traf Filippo Turati einen wichtigen Punkt, als er im August 1913 konstatierte, mit Bebel sei im »internationalen Sozialismus« nicht nur »jemand«, sondern »etwas« gestorben.93 Für einen tiefgreifenden Elitenwechsel sorgte freilich erst der Weltkrieg, in dem es zu einem regelrechten Bruch kam und die Generationenkonflikte politisch eskalierten.94 Ein Sinnbild dafür mag die Haltung Friedrich Adlers sein, der sich von seinem zaudernden Vater Victor löste und ihm einen »Geist der absoluten Passivität« sowie die Preisgabe des sozialistischen Internationalismus vorwarf.95 Nicht zufällig zählte Friedrich Adler zu den Hauptvertretern einer jüngeren Generation europäischer Sozialdemokraten, die sich nach 1914 für eine Erneuerung der Internationale einsetzten, um den Krieg zu beenden, und die in den 1920er Jahren in der sozialistischen oder kommunistischen Internationale eine führende Rolle übernahmen.96 Auch wenn der Strukturwandel der Eliten 90 Karl Kautsky: Der zweite Parteitag von Jena, in: Die Neue Zeit 29 (1911), Nr. 51 (22.9.1911), S. 873–877, hier S. 875 f. 91 »Die Internationale des Friedens«, in: »Vorwärts« Nr. 267 vom 14.11.1911; vgl. auch Marcobelli, L’internationalisme è l’épreuve [wie Anm. 15], S. 188–226. 92 Friedrich Stampfer: Erfahrungen und Erkenntnisse. Aufzeichnungen aus meinem Leben, Köln 1957, S. 149. 93 Filippo Turati: La morte di August Bebel, in: »Il lavoro« Nr. 3667 vom 15.8.1913, S. 1. 94 Vgl. dazu Haupt, Internationale Führungsschichten [wie Anm. 1], S. 211; zum österreichischen Fall vgl. die Analyse von Rudolf Ardelt: Die österreichische Sozialdemokratie und der Kriegsausbruch 1914. Die Krise einer politischen Elite, in: Jahrbuch für Zeitgeschichte (1979), S. 59–130. 95 Vgl. Braunthal, Victor und Friedrich Adler [wie Anm. 25], S. 214. 96 Vgl. Haupt, Führungsgruppen [wie Anm. 1], S. 204 f.; Imlay, The Practice [wie Anm. 19]; Lademacher, Die Illusion [wie Anm. 17]; zur kommunistischen Internationale jüngst
Sozialistische Eliten, Internationalität und Generationenverhältnisse
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der Zweiten Internationale durchaus auf grundlegende politische Gegensätze verweist, die sich in den sozialistischen Bewegungen seit 1900 allmählich herausgebildet und verhärtet hatten, lässt er sich ohne die Berücksichtigung der Generationenverhältnisse nicht erklären.
Brigitte Studer: Reisende der Weltrevolution. Eine Globalgeschichte der kommunistischen Internationale, Berlin 2020; Jens Späth: Erfahrungen, Erwartungen, Erinnerungen. Der Umgang deutscher, italienischer und französischer Soldaten mit Faschismus und Nationalsozialismus 1919–1960, Habil. masch., Universität des Saarlandes 2021 (erscheint voraussichtlich 2023 in der Reihe »Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom« bei De Gruyter).
Anhang
Autorenverzeichnis Thanos Angelopoulos (*1992): Doktorand für griechische und europäische Zeitgeschichte an der Universität Kreta mit dem Dissertationsthema: The historiographic production of the Second International Socialists. Stefan Berger (*1964), Prof. Dr., Direktor des Instituts für soziale Bewegungen und Professor für Sozialgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum sowie Vorstandsvorsitzender der Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets und Honorary Professor an der Cardiff University, UK. Veröffentlichungen u. a.: History and Identity: How Historical Theory Shapes Historical Practice (2022); The Past as History: National Identity and Historical Consciousness in Modern Europe, co-authored with Christoph Conrad (2015); Friendly Enemies: Britain and the GDR, 1949–1990 (2010); Inventing Germany, co-authored with Norman LaPorte (2005); German Social Democracy and the Working Class in the Nineteenth and Twentieth Century (2000), The British Labour Party and the German Social Democrats, 1900–1931: a Comparison (1994, dt. 1997). Bernd Braun (*1963), Dr. phil., Geschäftsführer der Stiftung ReichspräsidentFriedrich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg, Honorarprofessor am Historischen Seminar der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Buchveröffentlichungen u. a.: Hermann Molkenbuhr (1851–1927). Eine politische Biographie (1999); Klaus Schönhoven/Bernd Braun (Hg.), Generationen in der Arbeiterbewegung (2005); Die Weimarer Reichskanzler. Zwölf Lebensläufe in Bildern (2011); Die Reichskanzler der Weimarer Republik. Von Scheidemann bis Schleicher (2013); Bernd Braun (Hg.), Es lebe die Republik? Der Erste Weltkrieg und das Ende der Monarchien in Deutschland und Europa (2021). Jean-Numa Ducange (*1980), Professeur titulaire d’histoire contemporaine (Université de Rouen Normandie), docteur d’histoire contemporaine, membre de l’Institut Universitaire de France (2020–2025). Co-directeur des revues Actuel Marx (Presses Universitaires de France) et Austriaca (Presses Universitaires de Rouen et du Havre). Il a notamment publié: La Révolution française et la social-démocratie (Presses Universitaires de Rennes, 2012; traduction anglaise, Brill 2018); Jules Guesde. L’anti-Jaurès (Armand Colin, 2017; traduction anglaise, Palgrave Mac Millan 2020); éditeur de Marx, une passion française (La Découverte, 2018; tradution anglais, Brill, à paraître en 2023). Son dernier
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livre publié est La République ensanglantée. Berlin, Vienne: aux sources du nazisme (Armand Colin, 2022). Felicitas Fischer von Weikersthal (*1976), Dr. phil., Akademische Rätin auf Zeit am Historischen Seminar der Universität Heidelberg im Bereich der Osteuropäischen Geschichte. Veröffentlichungen u. a.: Die »inhaftierte« Presse. Das Pressewesen sowjetischer Zwangsarbeitslager, 1923–1937 (2011); (zusammen mit Frank Grüner, Susanne Hohler, Franziska Schedewie, Raphael Utz, Hg.) The Russian Revolution of 1905 in Transcultural Perspective: Identities, Peripheries and the Flow of Ideas (2013); »I could hardly be called an ignorant fanatic.« Ekaterina Breshko-Breshkovskaia and the Construction of a Revolutionary Autobiography (Avtobiografiя N 6, 2017); (Zusammen mit Tanja Penter und Dorothea Redepenning, Hg.): Die Oktoberrevolution 1917. Ereignis, Rezeption, künstlerische Deutung (2020); (zusammen mit Annett Bochmann) Institution Lager. Theorien, globale Fallstudien und Komparabilität (2023) Aschot Hayruni (*1964), Prof. Dr. für Geschichte, Professor am Lehrstuhl für Geschichte des armenischen Volkes an der Staatsuniversität Jerewan und führender Forscher am Institut für armenologische Studien (Jerewan). Veröffentlichungen u. a.: Yohannes Lep’siows. hayanver gorçičn ow hraparakaxosë (2001); Yohannes Lep’siowsi ar˙ak’elowt’yownë (2002); Raffi grak’nnadatë ew hraparakaxosë (2009); Haykakan xndirë Germaniayi artak’in k’aġak’akanowt’yan meȷˇ 1918 t’vakanin (2013); Armenien in der deutschen Außenpolitik im Jahr 1918 (2017); Johannes Lepsius und die Armenier (2019); Im Einsatz für das bedrohte Volk der Armenier. Johannes Lepsius und seine Mission (2020). Ad Knotter (*1952), prof.dr.; honorary professor of comparative regional history at Maastricht University (the Netherlands) and director of the Centre for the Social History of Limburg at that university (1998–2018). Research fellow at the International Institute of Social History in Amsterdam to work on a history of Dutch trade unionism in the 1960s and 1970s. Main publication in this field: Transformations of Trade Unionism. Comparative and Transnational Perspectives on Workers Organizing in Europe and the US, Eighteenth to Twenty-first Centuries (Amsterdam 2018). Christian Koller (*1971), Prof. Dr. phil., Direktor des Schweizerischen Sozialarchivs (Zürich), Titularprofessor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich und Dozent für Sozialgeschichte an der FernUni Schweiz. Veröffentlichungen u. a.: »Von Wilden aller Rassen niedergemetzelt«. Die Diskussion
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um die Verwendung von Kolonialtruppen in Europa zwischen Rassismus, Kolonial- und Militärpolitik (1914–1930) (2001); Fremdherrschaft. Ein politischer Kampfbegriff im Zeitalter des Nationalismus (2005); Streikkultur. Performanzen und Diskurse des Arbeitskampfes im schweizerisch-österreichischen Vergleich (1860–1950) (2009); Rassismus (2009); Die Fremdenlegion. Kolonialismus, Söldnertum, Gewalt, 1831–1962 (2013); (mit Fabian Brändle): Goal! A Cultural and Social History of Modern Football (2015); Privat dozieren zum öffentlichen Nutzen: Geschichte der Privatdozierenden an der Universität Zürich (2022). Till Kössler (*1970), Prof. Dr. phil, Professor für Historische Erziehungswissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Veröffentlichungen u. a.: Abschied von der Revolution. Kommunisten und Gesellschaft in Westdeutschland, 1945–1968 (2005); Kinder der Demokratie. Religiöse Erziehung und urbane Moderne in Spanien, 1890–1939 (2013); (mit Alexander C. T. Geppert): Obsession der Gegenwart. Zeit im 20. Jahrhundert (2015); (mit Constantin Goschler): Vererbung oder Umwelt? Ungleichheit zwischen Natur und Gesellschaft seit 1945 (2016); Republic of hope and fear: Visions of democracy in pre-Civil War Spain, in: Journal of Modern European History (2019); Die spanische Transition 1975–1982: Ein Erfolgsmodell? in: Stefan Schreckenberg: Daniel Verdú Schumann (Hg.): Zwischen Aufbruch und Krise. Narrative Auseinandersetzungen mit der spanischen Transición und der deutschen ›Wende‹ (2022). Thomas Kroll (*1965), Dr. phil., Professor für Westeuropäische Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Veröffentlichungen u. a.: Die Revolte des Patriziats. Der toskanische Adelsliberalismus im Risorgimento (1997); Kommunistische Intellektuelle in Westeuropa. Frankreich, Österreich, Italien und Großbritannien im Vergleich (1945–1956), 2. Auflage (2009); Italien in Europa. Die Zirkulation der Ideen im Zeitalter der Aufklärung, hg. mit Frank Jung (2014); Werner Sombart, Briefe eines Intellektuellen 1886–1937, hg. mit Friedrich Lenger und Michael Schellenberger (2019); Wider den Kapitalismus. Antikapitalismen in der Moderne, hg. mit Bettina Severin-Barboutie (2021). Wolfgang Maderthaner (*1954), Präsident des Vereins für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung in Wien, Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs a. D., Hofrat, Senatsrat, Privatdozent für Zeitgeschichte (Habilitationsschrift: Die unvollendete Metropole. Kultur und Gesellschaft in Wien 1860 bis 1945 (2006); Veröffentlichungen (Auswahl): Gemeinsam mit Lutz Musner: Die
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Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900 (2000) (in der amerikanischen Übersetzung: Unruly Masses. The Other Face of Fin de Siècle Vienna, 2008); L’autoliquidation de la raison. Les sciences de la culture et la crise du social (2010); gemeinsam mit Andrea Grisold: Neoliberalismus und die Krise des Sozialen (2010); Untergang einer Welt. Der Große Krieg 1914–1918 in Photographien und Texten (2013); Der Wiener Kongress. Die Erfindung Europas (2014); (Hg. gem. mit Thomas Just): Österreich. 99 Dokumente, Briefe, Urkunden (2018); Vorwärts. Österreichische Sozialdemokratie seit 1889 (2020), (Hg. gem. mit Hannes Androsch und Heinz Fischer). Stefano Musso (*1952) is Associate Professor of Modern and Contemporary History in the Department of Historical Studies at the University of Turin, Italy. Former general manager of ISMEL (Institute for the Memory and Culture of Labour, Business, and Social Rights – Turin), former President of SISLAV (Italian Society for the History of Labour). He has published widely on labour and business history. Amongst his books: Gli operai di Torino 1900–1920 (1980), La gestione della forza lavoro sotto il fascismo (1987), Tra fabbrica e società. Mondi del lavoro nell’Italia del Novecento (ed., 1999), Storia del lavoro in Italia dall’Unità a oggi (2002 and 2011), Le regole e l’elusione. Il governo del mercato del lavoro nell’industrializzazione italiana (1888–2003) (2004 and 2012), La partecipazione nell’impresa responsabile. Storia del Consiglio di Gestione Olivetti (2009), Storia del lavoro in Italia. Il Novecento, 2 Voll. (ed., 2015). Dirk Schumann (*1958), Dr. phil., Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Buchveröffentlichungen u. a.: Politische Gewalt in der Weimarer Republik: Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg (2001); Eberhard Kolb/Dirk Schumann: Die Weimarer Republik (2013, 9. erweiterte Auflage 2022); Gabriele Metzler/ Dirk Schumann (Hg.), Geschlechter(un)ordnung und Politik in der Weimarer Republik (2016); Dirk Schumann (Hg.), in Zusammenarbeit mit Désirée Schauz, Forschen im »Zeitalter der Extreme«. Akademien und andere Forschungseinrichtungen im Nationalsozialismus und nach 1945 (2020); Petra Terhoeven/Dirk Schumann (Hg.), Strategien der Selbstbehauptung. Vergangenheitspolitische Kommunikation an der Universität Göttingen (1945–1965) (2021); Dirk Schumann/Christoph Gusy/Walter Mühlhausen (Hg.): Demokratie versuchen. Die Verfassung in der politischen Kultur der Weimarer Republik (2021).
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Jan Willem Stutje (1949*), war Historiker am Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISG) in Amsterdam, an den Universitäten Brüssel ( VUB), Gent (UG), und dem Biographieinstitut der Universität Groningen. Veröffentlichungen unter anderen: ›De man die de weg wees, Leven en werk van Paul de Groot‹, (2000); ›Ernest Mandel, Rebel tussen droom en daad‹ (2007); [Auch: ›Ernest Mandel, A Rebel’s dream deferred‹, (2009); »Ernest Mandel 1923–1995, Rebell zwischen Traum und Tat« (2009); ›Ernest Mandel, Un révolutionnaire dans le siècle‹ (2022).]; Charismatische Führung und soziale Bewegungen. Die revolutionäre Macht gewöhnlicher Männer und Frauen (2012); Ferdinand Domela Nieuwenhuis. Ein romantischer Revolutionär (2012); »Hendrik de Man. Ein Mann mit Plan« (2018). Francesco Tacchi (*1988), Dr. phil., Postdoc für das wissenschaftliche Fachgebiet Geschichte des Christentums und der Kirchen an der Universität Venedig. Veröffentlichungen u. a.: Katholischer Antisozialismus. Ein Vergleich zwischen Deutschland und Italien zur Zeit Pius’ X. 1903–1914 (2021); Vatikanische Quellen zum deutschen Gewerkschaftsstreit. Die bischöflichen Gutachten und die Entstehung der Enzyklika »Singulari quadam« (1912), (2022); La Curia romana e la Germania durante la crisi modernista. L’Integralismusstreit tedesco (1900–1914) (2022). Andrew Thorpe (*1962), Professor of Modern History and Executive Dean of the Faculty of Arts, Humanities and Cultures, University of Leeds, UK. Major publications include The British General Election of 1931 (1991); The British Communist Party and Moscow, 1920–1943 (2000); Parties at War: Political Organization in Second World War Britain (2009); A History of the British Labour Party (4 editions, 1997–2014), and, as co-editor with Richard Toye, Parliament and Politics in the Age of Asquith and Lloyd George: The Diaries of Cecil Harmsworth, MP, 1909–1922 (2016).
Abkürzungsverzeichnis AAS Acta Apostolicae Sedis AAV Archivio Apostolico Vaticano AHR American Historical Review AHV Alters- und Hinterbliebenenversicherung AJC Arbeiders Jeugd Centrale AKKZG Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte Amsab-ISG Amsab-Instituut voor Sociale Geschiedenis ANDB Algemeene Nederlandse Diamantbewerkers Bond ASS Acta Sanctae Sedis BLS Bern-Lötschberg-Simplon-Bahn BOT Bijzonder Ondersteuningsteam BTNG Belgisch tijdschrift voor nieuwste geschiedenis BWP Belgisch Werkliedenpartij BWSA Biografisch Woordenboek van het Socialisme en de Arbeidersbeweging in Nederland CAO Centrale voor Arbeidersopvoeding CEDA Confederación Española de Derechas Autónomas CGdL Confederazione Generale del Lavoro CGT Confederation generale du travail CGTU Confédération Générale du Travail Unitaire CPGB Communist Party of Great Britain CPH Communistische Partij Holland CPN Communistische Partij van Nederland DDR Deutsche Demokratische Republik DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft DLB Dictionary of Labour Biography DNPP Documentatiecentrum Nederlandse Politieke Partijen DSMCI Dizionario storico del movimento cattolico in Italia EKZ Elektrizitätswerke des Kantons Zürich FNTT Federación Nacional de Trabajadores de la Tierra HJ Hitlerjugend HDM/HdM Hochschule der Medien IISG Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis IISH International Institute of Social History ILE Institución Libre de Enseñanza
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Abkürzungsverzeichnis
ILO International Labour Organization ILP Independent Labour Party ISB Internationales Sozialistisches Büro IWK Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung KPD Kommunistische Partei Deutschlands KPdSU Kommunistische Partei der Sowjetunion KPS Kommunistische Partei der Schweiz LVZ Leipziger Volkszeitung MFGB Miners’ Federation of Great Britain NAS Nationaal Arbeids Secretariaat NEC Naional Executive Committee NFWW National Federation of Women Workers NS Nationalsozialismus NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NUGMW National Union of General and Municipal Workers NUR National Union of Railwaymen NVV Nederlands Verbond van Vakverenigingen ODNB Oxford Dictionary of National Biography OSP Onafhankelijke Socialistische Partij PCF Parti Communiste Français PFR Partito Fascista Repubblicano PSOE Partido Socialista Obrero Español PSR Partei der Sozialrevolutionäre Russlands PvdA Partij van de Arbeid RSDAP Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands SAJ Sozialistische Arbeiterjugend SAP Sozialistische Arbeiterpartei SAPD Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands SB Socialistenbond SBB Schweizer Bundesbahnen SDAP Sociaal-Democratische Arbeiderspartij SDP Sociaal Democratische Partij SDB Sociaal Democratische Bond SDV Sociaal-Democratische Vereniging S. E. Mons. Sua Eccellenza Monsignor SFIO Section française de l’Internationale ouvrière SGB Schweizerischer Gewerkschaftsbund SJI Sozialistische Jugendinternationale
Abkürzungsverzeichnis
SJW SMUV SPD SPS SWMF TUC UDC UdSSR UTFWA UGT USA
Socialistische Jonge Wacht Schweizerischer Metall- und Uhrenverband Sozialdemokratische Partei Deutschlands Sozialdemokratische Partei der Schweiz South Wales Minersʼ Federation Trades Union Congress Union of Democratic Control Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken United Textile Factory Workers’ Association Unión General de Trabajadores United States of America
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Personenverzeichnis
Abdülhamit II., osmanischer Sultan 309, 312, 318 Ačëk’pašyan, Aram 306, 322 Adamson, William 121 f. Addison, Christopher 122 f. Adenauer, Konrad 226 Adler, Alfred 75, 79, 82 Adler, Emma 76 Adler, Friedrich 15, 58, 79, 88, 128, 348 Adler, Max 79 f., 84, 90, 295 Adler, Victor 19, 24, 72–74, 76–78, 81, 85, 268, 333–335, 337–340, 343 f., 348 Aharonyan, Avetis 320 Albarda, Johan Willem 141, 144, 167, 169, 171 Alexander II., Zar von Russland 262, 264 f. Alexander III., Zar von Russland 265 Alexander, Albert Victor 122 Altobelli, Argentina 202 f. Ambris, Alceste de 203 f., 214 Ambris, Amilcare de 204 f., 214 Ammon, Charles George 136 Amulree, Lord (Mackenzie, William) 122 Anderson, Benedict 262 Anderson, William Crawford 132–134 Angelopoulos, Thanos 23 Ankersmit, Johan Fredrik 144 Anseele, Edward 179 f. Antypas, Marinos 280, 287–289 Arabo (Mkhitaryan, Arakel) 308 Araquistáin, Luis 239–241 Arçrowni, Grigor 308 Arfé, Gaetano 208, 214 Argyriadis, Paul/Pavlos 282, 284 Arnold, Sydney 135 Arons, Leo 336 Aróstegui, Julio 240 Ascaso, Francisco 247
Asúa, Luis Jiménez de 241, 246 Attlee, Clement 20, 117 f., 123, 126 f., 139 Auer, Ignaz 33 Bahr, Hermann 76 Bakalov, Georgi 299 Bakunin, Michail Alexandrowitsch 208, 285 Balabanova, Anželika 23, 258–261, 263– 265, 268–272, 275 Baldesi, Gino 203 f., 207 Baldini, Nullo 201 f. Balfour, Arthur James 120 Banning, Willem 166–168, 170, 184 Barseġyan, Armenak 320 Bauer, Otto 19, 75, 79, 81, 84–90, 92, 111 f., 182 Bebel, August 17, 19, 23 f., 33, 67, 102, 142 f., 171, 174, 181, 268 f., 271 f., 277, 284, 333–337, 340 f., 343–348 Beckman, Herman B. Wiardi 167 f. Beers, Jan van 176 Benaroya, Avraam 300 Benedikt XV., Papst 233 Benjamin, Walter 193 Benn, William Wedgwood 122–124, 126 Berger, Stefan 9, 12, 18 f. Bergounioux, Alain 105 Berning, Wilhelm 224 Bernstein, Eduard 146, 174, 179 f., 182, 202, 211, 316, 335 Bertoia, Oscar 282 Bertrand, Louis 180, 183 Besteiro, Julián 22, 241, 243, 246, 250– 252 Bethmann Hollweg, Theobald von 322 Bevan, Aneurin 124 f., 133 Bianchi, Michele 204 Bignami, Enrico 201 f.
Personenverzeichnis
Bismarck, Otto von 54, 143, 174, 181, 222, 225, 326 Bissolati, Leonida 201 f., 210 f., 216 Blanqui, Louis-Auguste 285 Bloch-Bollag, Rosa 62 Bloemgarten, Salvador 155, 157 Blum, Léon 20, 95–99, 101 f., 104, 107, 110, 114 Böhm-Bawerk, Eugen 79, 84 Bombacci, Nicola 203 f., 214 Bondfield, Margaret Grace 122, 124, 127, 129, 136 f. Bonomi, Ivanoe 203 f., 210 f., 216 Bordiga, Amadeo 205 Borghi, Armando 204 Boschek, Anna 72 Brandt, Willy 165 Braun, Adolf 76, 342 Braun, Bernd 33, 37, 40, 141–145, 147 f., 157, 171 Braun, Heinrich 76 Breitscheid, Rudolf 36 Brocks, Christine 26 Bromley, John 137 Brouckère, Louis de 176 Brugmans, Henk 167 Brupbacher, Fritz 56 Bucharin, Nikolaj 263 Bühler, Karl 82 Buozzi, Bruno 204 f., 207, 217 Butler, David 117 Buxton, Noel 121 f. Cabrini, Angiolo 202 f. Cachin, Marcel 102, 115 Cafiero, Carlo 201 f., 208 Calda, Ludovico 203 f., 207 Callahan, Kevin J. 330 f. Campbell, John Ross 137 Canevascini, Guglielmo 62 Carr, Edward 183 Cavalli, Alessandro 197 Cazzani, Giovanni 229 f., 232–235 Černyševskij, Nikolaj 260 Ceton, Jan 163
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Chamberlain, Joseph 120 Chatzopoulos, Konstantinos 280, 292– 294, 297 Chelmsford, Viscount Frederic Thesinger 121 Chiesa, Pietro 201 f., 207 Childs, Michael 117 f. Choidas, Rokkos 281 Churchill, Winston 118, 123, 126 Ciardi, Livio 204 f. Ciccotti, Ettore 201 f. Clements, Barbara Evans 261, 268 Clynes, John R. 121 Colajanni, Napoleone 201 f. Colombino, Emilio 204 f., 207 Combes, Emile 103 Comte, August 196 Cornelissen, Christiaan 159 Cornelißen, Christoph 26 Corridoni, Filippo 205 Cort, Bart de 165 Costa, Andrea 201 f., 208 f. Costa, Elia dalla 230 f., 235 f. Costa, Joaquín 251 Cramp, Thomas Thwaites (Charlie) 137 Cripps, Sir Richard Stafford 125 Croce, Benedetto 202 f. Croce, Giuseppe 201 f. Cugnolio, Modesto 201 f. D’Aragona, Ludovico 203 f. Daladier, Edouard 100 Dalbor, Edmund 224 Dalton, Hugh 122, 125 f., 135 Danneberg, Robert 344 Davies, Rhys John 135 Déat, Marcel 103, 113, 184, 194 Dell’Avalle, Carlo 201 f. Denis, Hector 176 Destrée, Jules 176 Dietz, Johann Heinrich Wilhelm 33 Diligiannis, Theodoros 290 Disreali, Benjamin 119 Dittmann, Wilhelm 36 Doerry, Martin 225
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Personenverzeichnis
Dogliani, Patrizia 108 Dollfuß, Engelbert 91 Dowman, Nikol 320 Dragovic, Radovan 299 Drakoulis, Platon 282–284, 286, 300 Drees, Willem 166, 168 f. Dreyfus, Alfred 99 Dübi, Ernst 64 Ducange, Jean-Numa 20 Duesterberg, Theodor 191 Durruti, Buenaventura 247 Dutt, Rajani Palme 137 Ebert, Friedrich 13, 17–25, 33, 36, 51, 71, 79, 92, 96, 102, 117 f., 138, 141–145, 147, 157, 162, 168, 171, 174 f., 181, 186 f., 189, 197, 200, 206, 212 f., 217, 219, 221, 223, 225 f., 229, 231, 234, 236 f., 241, 257–259, 262, 269–271, 274, 276, 337 f., 344 Eckstein, Gustav 79 Einaudi, Luigi 203 f. Eley, Geoff 14, 43 Ellenbogen, Wilhelm 339, 342 Engehausen, Frank 39 Engels, Friedrich 74, 78, 169, 211, 293, 314, 335 Erichsen, Nicoline 26 Ermers, Max 77 Fabbri, Luigi 203 f. Faulhaber, Michael 221, 224–226, 228 Faure, Paul 20, 95–98, 101 f., 105, 114 Faure, Sébastien 287 Feigel, Uwe 316 Ferri, Enrico 201 f. Fichter, Tilman 40 Fischer von Weikersthal, Felicitas 23 Föllmer, Moritz 26 Forstner, August 72 Fortuijn, Jan 150, 154, 165 Fossati, Maurilio 230, 235 f. Fourier, Charles 53 Fraenkel, Ernst 34 Franco, Francisco 101
Frank, Ludwig 175, 340, 343 f. Frankel, Leo 76 Freud, Sigmund 75 f., 79, 82 Frimu, Ioan Costache 299 Fuchs, Emil 189 Gallacher, Harry 137 Ġaraȷˇyan, Geworg 303, 306 García Lorca, Federico 242 García Oliver, Juan 247 Garibaldi, Giuseppe 201 f. Garo, Armen 315 Gaulle, Charles de 115 Ġazaryan, Hovhannes T. 322 Geifman, Anna 262 Georg I., König von Griechenland 286 Georg V., König von Großbritannien 130 Gercen, Aleksandr 303 Gerhard, Hendrik 150, 154 Giannios, Nikolaos 291, 293 f. Gillett, George Masterman 136 Giolitti, Giovanni 206 Giulietti, Giuseppe 203 f. Gladstone, William Ewart 119 Gnocchi-Viani, Osvaldo 201 f. Goes, Frank van der 152 f. Golz, Anna von der 32 Graber, Ernest Paul 62 Graham, William 122 Gramsci, Antonio 81, 205 Grandi, Achille 204 f. Grave, Jean 177, 287 Graziadei, Antonio 203 f. Grebner, Gundula 28 Greenwood, Arthur 122, 136 Greulich, Herman 54, 333 Grévy, Jules 94 Grimm, Robert 19, 56–58, 60, 65 f., 330 Gronlund, Laurence 282 Grunberg, Gérard 105 Grzesinski, Albert 188 Guesde, Jules 20, 94–98, 102, 104, 108, 115, 333
Personenverzeichnis
Haase, Hugo 337 Haeckel, Ernst 291 Haenisch, Konrad 175 Hakohen, Malachi 75 Haldane, Richard Burdon 121 f. Halévy, Élie 194 Hardegger, Margarethe 62 Hardie, James Kier 333, 341 Harlakov, Nikola 299 Harowt’yownyan, Martiros 320 Hartshorn, Vernon 121, 123 f., 128, 134 Haubach, Theodor 184 f., 192 Haupt, Georges 332, 343 Hayruni, Ashot 23 Heimann, Eduard 188, 190 Helsdingen, Willem 152 Henderson, Arthur 118, 121 f., 129, 131, 134 f., 139 Herriot, Edouard 99 Herzl, Theodor 75 Hicks, Ernest George 138 f. Hilferding, Rudolf 19, 79–81, 84, 182, 187 Hitler, Adolf 22, 86, 101, 191–193, 228 f. Hodges, Frank 138 Hoffmann, Arthur 66 Horssen, Paul van 171 f. Hoya, Julián Sanz 243 Hugo, Ludwig Maria 221, 226, 228 f. Huysmans, Camille 280, 318 Iglesias, Pablo 22, 239, 241 Ilg, Konrad 60, 64 f. Imlay, Talbot 108 Jacquemotte, Joseph 180 Jäger, Hans 31 Jaurès, Jean 20, 38, 44, 94–100, 102, 104, 106, 108, 110, 211, 268, 289, 333, 338–341, 343, 345 Johnston, Thomas 123 Jong, Frits de 169 f. Jovanovic, Kosta 299 Jowett, Fred 121 Jowitt, William 126
363
Juliá, Santos 245 Jünger, Ernst 179, 193 f. K’aȷˇaznowni, Hovhannes 323 Kafyan, Gabriel 303, 306 Kallergis, Stavros 280, 282–285 Kautsky, Karl 19, 24, 76, 80, 113, 169, 175 f., 178, 180 f., 184, 187, 211, 293, 295, 329, 333–335, 337–339, 343, 345, 347 Keil, Wilhelm 36 Kelsen, Hans 79, 82 Kemal, Mustafa 324 f. Kenworthy, Joseph Montague 126 Keynes, John Maynard 15 Keyserling, Hermann Graf 179 Klöti, Emil 59, 63 f., 69 Knellwolf, Arnold 57 Knotter, Ad 20 Kol, Henri van 152 f. Koller, Christian 19 Kollmann, Josef 91 Kollontaj, Aleksandra 23, 258–261, 263– 267, 269–272, 275 Kössler, Till 22 Kossmann, Ernst 186 Kraus, Karl 75 Kroll, Thomas 24 Kropotkin, Peter 177, 282, 285, 287 Kruke, Anja 26 Krupskaja, Nadežda 23, 258–261, 263– 267, 269 f. Krzyzanowski, Rudolf 76 Labriola, Antonio 201 f., 212 Labriola, Arturo 203 f., 207 f., 214 f. Landauer, Gustav 193 Landwehr, Achim 12, 27, 45 f. Lang, Otto 330 Lansbury, George 118, 122, 129, 134, 139 Largo Caballero, Francisco 22, 241, 243– 255 Lassalle, Ferdinand 181 Lawrence, Susan 136 f., 139
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Personenverzeichnis
Lazzari, Costantino 201 f. Leach, William 136 Lebas, Jean-Baptiste 96, 109 Lebrun, Albert 100 Ledebour, Georg 346 Lederer, Emil 79 Lee, Jennie 133 Lees-Smith, Hastings Bertrand 123 f., 127 Lefranc, Georges 95, 194 f. Lenin, Wladimir Iljitsch 57, 66 f., 182, 245, 257 f., 261–263, 265–268, 272– 274 Lensch, Paul 175, 346 Leo XIII., Papst 22, 210, 220 f., 231, 233 Leone, Enrico 203 f. Leonhard, Jörn 52 Lepke, Hans 257 Lepsius, Johannes 313 Lepsius, Mario Rainer 222, 262 Lévi-Strauss, Claude 113, 184, 194 Levita, Dolf de 151 Liebknecht, Karl 175, 177, 182, 324, 344 Liebknecht, Wilhelm 142 f., 152, 174, 333, 335 Lloyd George, David 120, 131 Longobardi, Ernesto Cesare 203 f. Longuet, Jean 95, 98 Loopuit, Jos 156 Loria, Achille 201 f., 211 Low, David 130 Lueger, Karl 72 Luitjes, Tjerk 153 Lunačarskij, Anatoly 274 Lunn, William 136, 139 Lussu, Emilio 205 Luxemburg, Rosa 177, 181 f., 316, 337, 345–347 Macarthur, Mary Reid 129, 133, 136 MacDonald, James Ramsay 20, 117–123, 125 f., 128, 131–136, 139 MacDonald, Margaret Ethel 133 Mach, Ernst 79 Maclean, Neil 139
Macmanus, Arthur 137 Maderthaner, Wolfgang 19 Mahler, Alma Maria 82 Mahler, Gustav 75–77 Malatesta, Errico 201 f. Man, Hendrik de 15, 21, 112 f., 146, 166 f., 169, 173–196 Manganaras, Ioannis 280, 285–287 Mann, Tom 137 Mannheim, Karl 9–11, 28, 30, 45, 84, 141, 173, 186, 193, 195 f., 200, 212, 217, 219, 248, 331, 345 Mao tse Tung 170 Marcuse, Herbert 193 Marjolin, Robert 195 Marx, Eleanor 335 Marx, Karl 13, 25, 95, 102, 107 f., 169, 173 f., 179, 187–189, 195, 211, 285, 292, 314, 344 Matteotti, Giacomo 205, 217 Mauss, Marcel 194 Mazzini, Giuseppe 201 f., 208 Mehring, Franz 177 Mennicke, Carl 189 Merlino, Francesco Saverio 202, 209 Meschi, Alberto 203 f. Metaxas, Ioannis 296 Michels, Robert 21, 41, 143, 171, 207, 328 Mierendorff, Carlo 184, 186, 189–192 Miglioli, Guido 203 f. Mik’ayelyan, K’ristap’or 308 f. Millerand, Alexandre 14, 102 Minor, Margarete 82 Mises, Ludwig von 84 Mitterand, François 105 Möckel, Benjamin 32 Modigliani, Giuseppe Emmanuele 203 f. Molkenbuhr, Hermann 337, 346 f. Mollet, Guy 195 Molotov, Vjačeslav 263 Momigliano, Riccardo 203 f. Mondolfo, Rodolfo 203 f. Montague, Frederick 136 Montemartini, Giovanni 202 f. Montseny, Federica 247
Personenverzeichnis
Morgari, Oddino 202 f., 342 Morizet, André 96, 109, 112 Morris, William 179 Morrison, Herbert Stanley 44, 122 f., 135 Mosley, Oswald 123, 128, 184 Müller, Hermann 188, 190 f. Münkel, Daniela 35 Murphy, John Thomas 137 Murri, Romolo 203 f. Musil, Robert 82 Musso, Stefano 21 f. Mussolini, Benito 22, 39, 184, 204 f., 214, 235 f. Naine, Charles 62 Naters, Marinus van der Goes van 167 f. Nazarbekyan, Avetis 303, 306 Nazarbekyan, Maro 303, 306 Negrín, Juan 241, 247 Nenni, Pietro 205 Neurath, Otto 84 Nicole, Léon 59, 62 Nicolet, Emile 62 Nietzsche, Friedrich 76 f., 292 Nieuwenhuis, Ferdinand Domela 149, 152, 154, 158 f., 177 Nikolaj II., Zar von Russland 318 Nobs, Ernst 60 f., 69 Noske, Gustav 36, 187, 271 Òhanȷˇanyan, Hamo 323 Òhanyan, K’ristap’or 303 Olivier, Sydney 121 Ortega y Gasset, José 242 Oudegeest, Jan 144 f. Owen, Robert 308 Paepe, César de 176, 332 Pagliari, Fausto 203 f. Panas, Panagiotis 281 Papanastasiou, Alexandros 280, 295– 298 Parmoor, Lord (Cripps, Charles) 121 f. Pasella, Umberto 203 f. Pelloutier, Fernand 159
365
Pérez, Manuel Cordero 241 Pestaña, Ángel 247 Pétain, Philippe 101 Pethick-Lawrence, William 123 f., 126 f. Pflüger, Paul 57 Pinder, Wilhelm 12 Pirenne, Henri 178, 183 Pius IX., Papst 220 Pius X., Papst 223 f., 233 Pius XI., Papst 228, 235 f. Pizzardo, Giuseppe 226 Platon 246 Platten, Fritz 57, 67 f. Plechanov, Georgij 263, 267, 291, 303 Polak, Henri 151–153, 155, 157, 159 Polgar, Alfred 82 Pollitt, Harry 137 Ponsonby, Arthur 135 Popovic, Milorad 299 Popper, Karl 75 Pörksen, Uwe 29 Poyačyan, Hambarjowm 306 Poyačyan, Žirayr 314 Prampolini, Camillo 202 Prieto, Indalecio 241, 245, 248, 252 Primo de Rivera, Miguel 23, 239, 244, 249 f. Pugh, Arthur 137 Quaglino, Felice 203 f., 207 Racovski, Cristian 299 f. Radbruch, Gustav 188 Raffi (Hakob Melik Hakobian) 308 Rathmann, August 189–192 Ratzel, Friedrich 295 Rauchberg, Helene 82 Ravensteyn, Willem van 163 Reclus, Jacques Élisée 287 Reina, Ettore 203 f., 207 Reinhardt, Max 75 Renaudel, Pierre 95, 98, 103, 105 Renner, Karl 20, 80, 84, 88–92 Rensi, Giuseppe 204 Reulecke, Jürgen 30, 36
366
Personenverzeichnis
Reumann, Jakob 71 f. Rietveld, Dick 171 f. Rigola, Rinaldo 202 f., 207, 216 Ríos, Fernando de los 241, 243, 246, 248, 250–252 Ríos, Francisco Giner de los 251 Ris, Klaas 150 Ritter, Gerhard A. 36 f. Roberts, Frederick Owen 135 Rogge-Fortuyn, Antoinette 165 Roland Holst, Henriette 177, 182, 184, 189, 195 Roseman, Mark 262 Rosselli, Carlo 205 Rossoni, Edmondo 204 f., 211 Rothstein, Andrew 137 Rust, William Charles 137 Salvemini, Gaetano 204 Sankey, John (Lord) 122 Sargsyan, Matt’eos 322 Sarraut, Albert 100 Saumoneau, Louise 96 Sax, Emanuel 76 Schaper, Jan 152 Scheidemann, Philipp 36 Schiavi, Alessandro 204 Schmidt, Piet 166 Schmitt, Carl 193 Schmoller, Gustav 295 Schneider, Susanne 26 Schnitzler, Arthur 75 Schönberg, Arnold 73, 75 Schönhoven, Klaus 33, 37, 141, 147 f. Schoot Uiterkamp, Annet 172 Schorske, Carl 75 Schuhmeier, Franz 71 f. Schulte, Karl Joseph 221 f., 224–228 Schulz, Andreas 28 Schumacher, Kurt 17, 33 f., 142, 166 Schumpeter, Josef 84 Seidel, Robert 57 Seitz, Karl 83 f. Sembat, Marcel 98 Serrati, Giacinto Menotti 204
Sever, Albert 72 Severing, Carl 188, 190 Shaw, Tom 121 f., 124, 128 f. Simmel, Georg 295 Simon, Sir John 123, 128 Singer, Paul 336 f. Sinzheimer, Hugo 188 f. Skliros, Georgios 280, 291 f., 297 Smith, William R. 136 Snowden, Philip 121, 126, 132 f. Sollmann, Wilhelm 188 Solvay, Ernest 180 Sorel, Georges 211, 214 Soutsos, Ioannis 282 Spengler, Oswald 179, 193 Spiekman, Hendrik 152 Spriano, Paolo 199 Sproll, Joannes Baptista 221, 228 f. Spühler, Willy 61 Stalin, Josef 68, 88, 91, 170, 261, 266, 274 f., 323 Stampfli, Walther 61 Stasova, Elena 23, 258–261, 263–266, 275 Steinbach, Arnold 89 Sterbling, Anton 327 Stewart, Bob 137 Stokes, Donald 117 Strasser, Gregor 192 Strasser, Otto 191 f. Stutje, Jan-Willem 21 Südekum, Albert 345 Suppé, Franz von 71 Syowni, Babken 315 T’orosyan, Petos 322 Tacchi, Francesco 22 Tamatyan, Mihran 306, 314 Tasca, Angelo 205 Tenfelde, Klaus 36 f., 43, 142 f., 148, 171 Terracini, Umberto 205 Terwagne, Modeste 176 Thomas, Albert 95, 98, 111 Thomas, James Henry (Jimmy) 20, 121 f., 124, 128, 130–132, 137
Personenverzeichnis
Thomson, Christopher Birdwood 121 f., 124 f., 132 Thorpe, Andrew 20 Thunberg, Greta 7 Tijn, Theo van 156 Tillich, Paul 188–190, 193, 195 Tinbergen, Jan 167 Togliatti, Palmiro 205 Tolstoi, Leo 177 Topalov, Christian 216 Trevelyan, Charles P. 121–125, 127 Treves, Claudio 202 f. Troelstra, Pieter Jelles 148, 152 f., 163, 168, 340 Trotzki, Leo 79, 266, 274 Tschudi, Hans Peter 61 Turati, Filippo 202, 211, 215, 217, 333, 348 Vaillant, Édouard 95, 333, 341 Valente, G. Battista 204 Vandervelde, Émile 176, 180, 270, 334, 345 Vanikyan, Geġam 322 Varandyan, Mik’ayel 319–321 Varley, Julia 138 Varžapetyan, Margar 308 Venizelos, Eleftherios 294 Verwey-Jonker, Hilda 145, 167 Vettori, Gabriele 229 f., 232, 234 f. Vittorio, Giuseppe di 205 Vlahov, Dimitar 300 Vliegen, Willem 21, 144 f., 147 f., 150, 152–154, 167, 169, 171 Vogt, Stefan 192 Vorrink, Koos 145 f., 162, 166 f., 169 f., 184 Vos, Hein 167 Wagner, Adolph 295 Wagner, Richard 71, 74, 76 f. Walkden, Alexander George 137
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Walsh, Stephen 121 f. Webb, Beatrice 119, 132, 134, 140 Webb, Sidney (Lord Passfield) 119, 121 f. Weber, Max (Deutscher Soziologe) 295 Weber, Max (Schweizer Sozialdemokrat) 61 Webern, Anton von 73, 82 Wedgwood, Josiah C. 121, 124 f. Weichlein, Siegfried 34 Weitling, Wilhelm 53 Wellesz, Egon 82 Wels, Otto 36 Welskopp, Thomas 142 Wendel, Hermann 175 Werfel, Franz 82 Wertheimer, Egon 130 Wheatley, John 121 Wijnkoop, David 163 Wilder, Billy 75 Wilhelm II., deutscher Kaiser 168 Wilkinson, Ellen 124 Wilson, Woodrow 324 Winarsky, Leopold 344 Wittgenstein, Ludwig 75, 78 Wolf, Hugo 76 f. Wolff Metternich, Paul 322 Wolff, Sam de 147 Xanazat, ˙ Rowben 303, 306 f. Xatisyan, Alek’sandr 323 Zangrandi, Ruggero 198 Zantioti, Giorgou 279 Zassulič, Vera 267 Zavaryan, Simon 308 f. Zetkin, Clara 346 Zibordi, Giovanni 204 Zocchi, Pulvio 204 Zoryan, Step’an 308 f., 320 Zuccarini, Oliviero 204 f. Zwahr, Hartmut 42