Einander ausgesetzt - Der Andere und das Soziale: Band I: Umrisse einer historisierten Sozialphilosophie im Zeichen des Anderen 9783495817421, 9783495490136


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Table of contents :
Inhalt Band I
Inhalt Band II
Vorwort
Einführung
Teil A: Historische Profile des Sozialen
Kapitel I
1. Das Soziale als Ideologie der Homogenität und Depolitisierung
2. Das Soziale in historischer Perspektive
3. Radikaler Neuanfang nach zwei Weltkriegen?
4. Verstaatlichung des Sozialen?
5. Für eine Revision des Sozialen
Kapitel II
1. Das Soziale: alte und neue Ursprungsfragen
2. Exkurs zu John R. Searles Sozialontologie
3. Zurück zu einer (ahistorischen) existenzialen Sozialontologie? Vom Mitsein (Martin Heidegger) zur conditio historica (Paul Ricœur)
4. Zeugnis und Sozialontologie – in dreifacher Hinsicht
5. Revidiertes Mitsein, co- oder inter-esse
Kapitel III
1. Zu einem ethischen Denken, das sich nicht selbst genügt
2. Historisierte Ethik
3. Im geschichtlichen Horizont der Zerstörbarkeit menschlicher Verhältnisse: Gewalt und Lebensform
4. Ansatzpunkte (1–5) eines sozialphilosophischen Negativismus – in ethischer Perspektive
5. Resümee
Kapitel IV
1. Existieren wir (noch) oder leben wir längst wieder?
2. Historisierte Existenzphilosophie
3. Soziale (Co-)Existenz?
4. Verändertes Denken der Veranderung: Michael Theunissen und Paul Ricœur
5. Das Prädikat ›sozial‹ – revidiert
Teil B: Der Auftritt des Anderen
Kapitel V
1. Von der menschlichen Sprache (zurück) zur Stimme des Anderen
2. Die menschliche Stimme
3. Von Charles Taylor (zurück) zu Johann G. Herder
4. Johann G. Herder, Wilhelm v. Humboldt und der Ursprung der Sprache
5. Hören auf den Anderen?
Kapitel VI
1. Phänomenologie des Anderen?
2. Offenheit als Ekstase im Sein
3. Der Entzug des Anderen
4. Die Nähe des Anderen – jenseits des Erfahrbaren?
5. An-archische Zugänglichkeit des Anderen
Kapitel VII
1. Rechenschaftsverantwortung und Gewissen
2. Gegen eine a-pathische Moralität
3. Bestimmung zur Nicht-Indifferenz
4. Die Instituierung moralischer Subjekte
Exkurs
1. Was man sich von der Gabe verspricht
2. Gabe und Ökonomie: umsonst und/oder vergeblich
3. Gibt es die Gabe? Die Gabe als fragwürdige Gegebenheit
4. Die Gabe im Diskurs über die Gabe
5. Zur Annahme der Gabe
Kapitel VIII
1. Veränderung und Veranderung
2. Alteritätsvergessenheit und Gewalt
3. Anderes und Andere
4. Irgend ›jemand anderes‹, der Andere und die Geschichte
5. Verschiedenheit, Asymmetrie und Beziehung zum Anderen
6. Unterwerfung unter den Anderen?
7. Unhintergehbare conditio historica: unsere Nachträglichkeit, unsere ›Irre‹
Kapitel IX
1. Fragwürdige Berufung auf ›das Gegebene‹
2. Ein ›altes‹ (hermeneutisches) Grundproblem sog. ›Neuer Phänomenologie‹
3. Ein methodologischer Atheismus
4. Religio und religatio unter Verdacht
5. Das Scheitern einer passion du dehors
Teil C: Der Widerstand des Anderen
Kapitel X
1. Vom Leben zum menschlichen Leib
2. Ansatzpunkte zu einer Philosophie der Leiblichkeit im Denken Paul Ricœurs
3. Maine de Biran
4. Zurück zu Paul Ricœur: Die dem Selbst innewohnende Andersheit und der Widerstand des Anderen
5. Widerstand und Passivität
Kapitel XI
1. Kraft und Sinn: Einleitung zum Verhältnis von Rhetorik und Philosophie
2. Von der Widerrede zum Sprachdenken
3. Im dialektischen Für und Wider
4. Widerstand auf dem Weg in die Sprache, in der Sprache und über sie hinaus
5. Zur Negativität sprachlichen Widerstands in der Austragung von Dissens
6. Zur Agonalität verurteilt? Kritik des Widerstandsdenkens
7. Widerstand und Alterität
8. Widerstand im Zeichen des Politischen
9. Ausgesetzte Gemeinschaft – im Zeichen ›unbedingter‹ Demokratie
Kapitel XII
1. Macht, andere Macht und ihr Anderes: Widerstand
2. Widerstand und das Gute: Emmanuel Levinas
3. Herrliche oder verherrlichte Macht? Emmanuel Levinas mit Blick auf Giorgio Agamben
4. ›Dämonie‹ der Verantwortung und Selbstentmächtigung
Kapitel XIII
1. Macht versus Interpretation – ein irreführender Gegensatz
2. Was bedeutet ›Interpretationsmacht‹&ga;?
3. Friedrich Nietzsches Apologie der Macht als einer Interpretationsmacht
4. Ansatzpunkte einer radikalen Sprachkritik
5. Politische Implikationen radikaler Sprachkritik
6. Revision des Politischen?
Kapitel XIV
1. Menschliche Rede: Sagen und Gesagtes im Hinblick auf Macht
2. Was heißt es, nichts bzw. etwas zu sagen oder das Sagen zu haben? Machtkritische Vorüberlegungen
3. Von der modernen Biologie zur menschlichen Generativität
4. Exkurs zu Hermeneutik und Macht
5. Generativität in ›diachroner‹ Perspektive
6. Zukünftiges Leben: an-ökonomisch
Anderen ausgesetzt und ausgeliefert?
Namenregister
Sachregister
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Einander ausgesetzt - Der Andere und das Soziale: Band I: Umrisse einer historisierten Sozialphilosophie im Zeichen des Anderen
 9783495817421, 9783495490136

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Burkhard Liebsch

Einander ausgesetzt – Der Andere und das Soziale Band I

Umrisse einer historisierten Sozialphilosophie im Zeichen des Anderen

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817421

.

B

Burkhard Liebsch Einander ausgesetzt – Der Andere und das Soziale

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Burkhard Liebsch

Einander ausgesetzt – Der Andere und das Soziale Band I Umrisse einer historisierten Sozialphilosophie im Zeichen des Anderen

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Burkhard Liebsch Exposed to Each Other – The Other and Sociality Volume I: Outlines of a Historicised Social Philosophy in View of the Other We are »social beings« only thanks to others, but our everyday lives easily let us forget that. This often leads us to assume that we do not need others. This forgetfulness can take the form of an ascetic existence or the form of an abundant wealth that allows one to keep others at bay. All forms of distancing, however, presuppose a prior exposition of one’s own self to others and make the self dependent on them. This exposedness and dependence on others forces the self to accept inherent political demands, even if this implies a certain violence that threatens to ruin human ways of life and the often appraised »openness.« From a historical perspective Liebsch’ two-volume project »Exposed to Each Other« outlines a theory of the social. Liebsch assumes a thick notion of unsublatable alterity which he combines with a complex topography of human ways of living, whereby he tries to make explicit in how far we are from birth onwards exposed to each other and how we are therefore always already within the horizons of vulnerability. Liebsch also considers in great detail how new wars factor into that. Thus his project works toward the »recognition of the actual« (Hegel) without which a critical and sound »comprehension of the reasonable« is not possible. Liebsch attempts to show what social philosophy today can and must deliver.

The Author: Professor Dr Burkhard Liebsch teaches practical philosophy and social philosophy at the University of Bochum. His most recent publications include: In der Zwischenzeit. Spielräume menschlicher Generativität (In the Meantime: Leeways of Human Generativity) (2016); Zeit-Gewalt und Gewalt-Zeit (Violence of Time and Time of Violence) (2017); as co-editor: Perspektiven europäischer Gastlichkeit (Perspectives of European Hospitality) (2016); Der Andere in der Geschichte (The Other in History) (2017).

https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Burkhard Liebsch Einander ausgesetzt – Der Andere und das Soziale Band I: Umrisse einer historisierten Sozialphilosophie im Zeichen des Anderen »Sozial« leben wir nur dank Anderer, in einer Normalität, die das weitgehend in Vergessenheit geraten lässt, sodass man sich fragt, ob man nicht auch ohne sie auskommen kann – sei es in Formen weltflüchtigen Daseins, sei es in einem Wohlstand, der sich die Anderen vom Leib hält. Alle Formen der Distanznahme setzen aber eine vorgängige Veranderung des eigenen Selbst voraus, die es Anderen aussetzt und auf sie angewiesen sein lässt. Dieses Ausgesetzt- und Angewiesensein zwingt dazu, die in ihm liegenden Herausforderungen politisch anzunehmen – auch um den Preis einer Gewaltsamkeit, die menschliche Lebensformen und ihre viel gelobte »Offenheit« zu ruinieren droht. Das zweibändige Projekt Einander ausgesetzt entwirft in historischer Perspektive eine Theorie des Sozialen, die von einem starken Begriff unaufhebbarer Alterität ausgeht und diesen mit einer komplexen Topografie menschlicher Lebensformen verschränkt und insofern deutlich macht, wie man einander ausgesetzt ist – von Geburt an und in Horizonten der Verletzbarkeit, die bis hin zu neuen Kriegen detailliert bedacht werden. So dient das Projekt der »Erfassung des Wirklichen« (Hegel), ohne das es ein kritisches »Ergründen des Vernünftigen« nicht geben kann. Es handelt sich um den Versuch zu zeigen, was Sozialphilosophie heute leisten kann und muss.

Der Autor: Professor Dr. Burkhard Liebsch lehrt Praktische Philosophie und Sozialphilosophie an der Universität Bochum. Zuletzt hat er veröffentlicht: In der Zwischenzeit. Spielräume menschlicher Generativität (2016); Zeit-Gewalt und Gewalt-Zeit. Dimensionen verfehlter Gegenwart (2017); als (Mit-)Hrsg.: Perspektiven europäischer Gastlichkeit. Geschichte – Kulturelle Praktiken – Kritik (2016); Der Andere in der Geschichte. Sozialphilosophie im Zeichen des Krieges (22017).

https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49013-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81742-1

https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Inhalt Band I Umrisse einer historisierten Sozialphilosophie im Zeichen des Anderen Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Einführung Chiasma des Anderen und des Sozialen

. . . . . . . . . . . .

17 27

Teil A Historische Profile des Sozialen Kapitel I Das Soziale heute: erfunden, (neu) entdeckt oder überholt?

. .

41

1. Das Soziale als Ideologie der Homogenität und Depolitisierung (45) · 2. Das Soziale in historischer Perspektive (55) · 3. Radikaler Neuanfang nach zwei Weltkriegen? (68) · 4. Verstaatlichung des Sozialen? (74) · 5. Für eine Revision des Sozialen (83)

Kapitel II Ahistorische Ontologie des Sozialen?

. . . . . . . . . . . . .

99

1. Das Soziale: alte und neue Ursprungsfragen (99) · 2. Exkurs zu John R. Searles Sozialontologie (109) · 3. Zurück zu einer (ahistorischen) existenzialen Sozialontologie? Vom Mitsein (Martin Heidegger) zur conditio historica (Paul Ricœur) (114) · 4. Zeugnis und Sozialontologie – in dreifacher Hinsicht (119) · 5. Revidiertes Mitsein, co- oder inter-esse (123)

Kapitel III Sozialphilosophie im Prozess historischer Revision: Gewalt als radikale Herausforderung des Ethischen

. . . . . . 128

1. Zu einem ethischen Denken, das sich nicht selbst genügt (128) · 2. Historisierte Ethik (130) · 3. Im geschichtlichen Horizont der Zerstörbarkeit menschlicher Verhältnisse: Gewalt und Lebensform (136) · 4. Ansatzpunkte (1–5) eines sozialphilosophischen Negativismus – in ethischer Perspektive (143) · 5. Resümee (147)

7 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Inhalt Band I

Kapitel IV Veranderte Existenz in der Geschichte der Gewalt . . . . . . .

149

1. Existieren wir (noch) oder leben wir längst wieder? (151) · 2. Historisierte Existenzphilosophie (153) · 3. Soziale (Co-)Existenz? (162) · 4. Verändertes Denken der Veranderung: Michael Theunissen und Paul Ricœur (167) · 5. Das Prädikat ›sozial‹ – revidiert (171)

Teil B Der Auftritt des Anderen Kapitel V Der Andere spricht uns an Zum Ursprung und Sinn menschlicher Sprache . . . . . . . . .

179

1. Von der menschlichen Sprache (zurück) zur Stimme des Anderen (179) · 2. Die menschliche Stimme (184) · 3. Von Charles Taylor (zurück) zu Johann G. Herder (190) · 4. Johann G. Herder, Wilhelm v. Humboldt und der Ursprung der Sprache (194) · 5. Hören auf den Anderen? (200)

Kapitel VI ›Offen‹ für den Anderen? Auf den Spuren einer An-Archie der Subjektivität

. . . . . . . 205

1. Phänomenologie des Anderen? (205) · 2. Offenheit als Ekstase im Sein (212) · 3. Der Entzug des Anderen (216) · 4. Die Nähe des Anderen – jenseits des Erfahrbaren? (219) · 5. An-archische Zugänglichkeit des Anderen (230)

Kapitel VII Verantwortung als Gabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

238

1. Rechenschaftsverantwortung und Gewissen (240) · 2. Gegen eine apathische Moralität (245) · 3. Bestimmung zur Nicht-Indifferenz (256) · 4. Die Instituierung moralischer Subjekte (261)

8 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Inhalt Band I

Exkurs Die Gabe als nachträglich zu bewahrheitende Gegebenheit . . .

269

1. Was man sich von der Gabe verspricht (272) · 2. Gabe und Ökonomie: umsonst und/oder vergeblich (274) · 3. Gibt es die Gabe? Die Gabe als fragwürdige Gegebenheit (278) · 4. Die Gabe im Diskurs über die Gabe (290) · 5. Zur Annahme der Gabe (293)

Kapitel VIII Der Andere im Selbst Anders (als) anders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

299

1. Veränderung und Veranderung (299) · 2. Alteritätsvergessenheit und Gewalt (302) · 3. Anderes und Andere (308) · 4. Irgend ›jemand anderes‹, der Andere und die Geschichte (313) · 5. Verschiedenheit, Asymmetrie und Beziehung zum Anderen (318) · 6. Unterwerfung unter den Anderen? (322) · 7. Unhintergehbare conditio historica: unsere Nachträglichkeit, unsere ›Irre‹ (329)

Kapitel IX Atheismus und religio Verrat am Versprechen der Phänomenologie?

. . . . . . . . . 336

1. Fragwürdige Berufung auf ›das Gegebene‹ (336) · 2. Ein ›altes‹ (hermeneutisches) Grundproblem sog. ›Neuer Phänomenologie‹ (341) · 3. Ein methodologischer Atheismus (345) · 4. Religio und religatio unter Verdacht (350) · 5. Das Scheitern einer passion du dehors (355)

Teil C Der Widerstand des Anderen Kapitel X Das leibliche Selbst und der Widerstand des Anderen . . . . .

361

1. Vom Leben zum menschlichen Leib (361) · 2. Ansatzpunkte zu einer Philosophie der Leiblichkeit im Denken Paul Ricœurs (366) · 3. Maine de Biran (374) · 4. Zurück zu Paul Ricœur: Die dem Selbst innewohnende Andersheit und der Widerstand des Anderen (378) · 5. Widerstand und Passivität (382)

9 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Inhalt Band I

Kapitel XI Widerstand und Sprache: Widerständige Rede in politischer Perspektive . . . . . . . . .

387

1. Kraft und Sinn: Einleitung zum Verhältnis von Rhetorik und Philosophie (388) · 2. Von der Widerrede zum Sprachdenken (391) · 3. Im dialektischen Für und Wider (393) · 4. Widerstand auf dem Weg in die Sprache, in der Sprache und über sie hinaus (396) · 5. Zur Negativität sprachlichen Widerstands in der Austragung von Dissens (399) · 6. Zur Agonalität verurteilt? Kritik des Widerstandsdenkens (404) · 7. Widerstand und Alterität (410) · 8. Widerstand im Zeichen des Politischen (413) · 9. Ausgesetzte Gemeinschaft – im Zeichen ›unbedingter‹ Demokratie (418)

Kapitel XII Macht, Widerstand und dessen Verherrlichung Das Zeugnis für den Anderen in profaner Perspektive

. . . . . 424

1. Macht, andere Macht und ihr Anderes: Widerstand (424) · 2. Widerstand und das Gute: Emmanuel Levinas (430) · 3. Herrliche oder verherrlichte Macht? Emmanuel Levinas mit Blick auf Giorgio Agamben (434) · 4. ›Dämonie‹ der Verantwortung und Selbstentmächtigung (438)

Kapitel XIII Interpretationsmacht Macht der Interpretation und Interpretation der Macht – in der Perspektive einer Revision des Politischen . . . . . . . .

444

1. Macht versus Interpretation – ein irreführender Gegensatz (444) · 2. Was bedeutet ›Interpretationsmacht‹ ? (448) · 3. Friedrich Nietzsches Apologie der Macht als einer Interpretationsmacht (451) · 4. Ansatzpunkte einer radikalen Sprachkritik (462) · 5. Politische Implikationen radikaler Sprachkritik (467) · 6. Revision des Politischen? (470)

10 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Inhalt Band I

Kapitel XIV ›Das Sagen haben‹ und die An-Archie menschlicher Rede Deutungsmachtkonflikte in der Angelegenheit menschlicher Reproduktion und Generativität – unter dem Druck der life sciences . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

481

1. Menschliche Rede: Sagen und Gesagtes im Hinblick auf Macht (481) · 2. Was heißt es, nichts bzw. etwas zu sagen oder das Sagen zu haben? Machtkritische Vorüberlegungen (488) · 3. Von der modernen Biologie zur menschlichen Generativität (493) · 4. Exkurs zu Hermeneutik und Macht (495) · 5. Generativität in ›diachroner‹ Perspektive (505) · 6. Zukünftiges Leben: an-ökonomisch (521)

Anderen ausgesetzt und ausgeliefert? Übergang zur Chronotopografie des Sozialen

. . . . . . . . . 528

11 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Inhalt Band II

Inhalt Band II Elemente einer Topographie des Zusammenlebens Einführung Zur ›zwischenzeitlichen‹ Topografie des Sozialen . . . . . . . .

533

Teil D Generativität, Solidarität, Gemeinschaft Kapitel XV Generativität, Generationen und generative, intergenerationelle Solidarität Leben nacheinander, auseinander und füreinander in unabsehbarer Geschichtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . .

555

1. Das polemische Verhältnis zwischen Generationen heute (556) · 2. Rückgang von der Generation auf die menschliche Generativität (566) · 3. Menschliche Generativität als Archetyp eines verantwortlichen/solidarischen Verhältnisses zwischen Generationen? (577)

Kapitel XVI Originäre Solidarisierung und politische Sensibilität . . . . . . .

587

1. Rhetorik der Solidarität und Verlangen nach Solidarisierung (587) · 2. Solidarität: Pseudo-Solidität vs. originäre Solidarisierung (590) · 3. Zur (De-)Politisierung der Solidarität: Hannah Arendt (608) · 4. Apriorische Solidargemeinschaft? Fragen der Begründung (614)

Kapitel XVII Ausgesetzte Gemeinschaft – unter radikalem Vorbehalt Zur Kritik jeglicher Vergemeinschaftung . . . . . . . . . . . .

624

1. Fehlende und verfehlte Gemeinschaft (624) · 2. Helmuth Plessners Kritik der Gemeinschaft (633) · 3. Innere Grenzen jeglicher Vergemeinschaftung (639) · 4. Gemeinschaft als oder aus ›Mitsein‹ ? (643) · 5. Indifferentes Mitsein, nicht-indifferente Gemeinschaft (647)

12 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Inhalt Band II

Teil E Subjektivierung, Dissens und Anderssein Kapitel XVIII Menschliche Subjektivität in Praktiken politischer Subjektivierung: Responsivität, Dissens und die prekäre Lebbarkeit menschlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 1. Subjekt sein oder subjektiviert werden (655) · 2. Immer schon oder neuerdings subjektivierte Subjekte? (660) · 3. Von Theorien des Subjekts zu Praktiken der Subjektivierung (668) · 4. Zur Übermacht einer ökonomistischen Subjektivierungsform (683) · 5. Perspektiven einer politisierenden Subjektivierung (689)

Kapitel XIX Perspektivität, Pluralität, geteilte Welt: Ästhetik, Politik und menschliche Sensibilisierbarkeit . . . . . .

704

1. Das Sinnliche in seiner perspektivischen Gegebenheit: Vom kompossiblen Universum zur unaufhebbaren Pluralität einer politischen Welt (705) · 2. Was heißt »Aufteilung des Sinnlichen« bei Jacques Rancière? (709) · 3. Kunst und Politik – zwei »Sensorien«? (723) · 4. Kritischer Ausblick (731)

Kapitel XX Demokratie, Dissens und Freimut – der Rede und des Zuhörens . . . . . . . . . . . . . . . . . .

738

1. Zur aktuellen Demokratietheorie (738) · 2. Das Geschehen originärer Politisierung als Subjektivierung (748) · 3. Die Stimme und der Freimut der Rede (parrhesía) (756) · 4. Macht und Freimut des Zuhörens (762)

Kapitel XXI Von der Angst, ›anders‹ zu sein, zur normalisierten Verschiedenheit? Disability und diversity im Kontext einer Kultur der Differenzsensibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

767

1. Verschiedenheit und Differenz politisch gesehen (767) · 2. Zur »Politik der Differenz« (773) · 3. Disability und diversity (780) · 4. Exkurs: Fähigkeiten in ontogenetischer Perspektive (782) · 5. »Politik der Differenz« und in der Erfahrung von disability liegende Verschiedenheit (784) · 6. Das »Recht auf Anderssein«, tatsächliche Lebenspraxis und das Versprechen der Inklusion (788)

13 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Inhalt Band II

Teil F Vertrauen und Transparenz im Horizont des Politischen Kapitel XXII Ausgesetztes und sich aussetzendes Vertrauen – in historischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

799

1. Prekäres Vertrauen – vor historischem Hintergrund (799) · 2. Aussetzen des Vertrauens (805) · 3. Vom persönlichen Vertrauen zum Systemvertrauen: eine entmoralisierte Analyse (813) · 4. Vertrauen als Gabe (821) · 5. Erneut sich aussetzendes Vertrauen (827)

Kapitel XXIII Transparenz und/oder Vertrauen Ideen öffentlicher Sichtbarkeit in Zeiten gesellschaftlichen Unfriedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

831

1. Öffentliche Sichtbarkeit als Politikum (833) · 2. Zur metaphorischen Rede von Transparenz (839) · 3. Forderungen nach Transparenz nach ruiniertem Vertrauen (843) · 4. Vertrauen in Transparenz? (847) · 5. Was bedeutet ›Transparenz‹ in politischer Hinsicht? (850)

Kapitel XXIV Politisches Vertrauen in politische(n) Institutionen – mit Blick auf die Geschichte und Gegenwart des Staates . . . .

860

1. Zum aktuellen historischen Kontext der Thematisierung von Vertrauen (863) · 2. Negativität als Ausgangspunkt (869) · 3. Vertrauen stiften – eine Art Investition? (876) · 4. Zur politisch-institutionellen Dimension des Vertrauens: Vertrauen in Vertrauen? (879)

Teil G Schuld und Schulden Kapitel XXV Schuld – Schulden – Verdanken Zur Revision des Verhältnisses von Moral und Ökonomie vor aktuellem Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

887

1. Moral und Ökonomie, Schuld und Schulden: ursprüngliches, ausdifferenziertes und überkreuztes Verhältnis (887) · 2. Schuld als Schulden (ökonomisch) oder Schulden aus Schuld (ethisch)? Friedrich Nietzsche und Emmanuel Levinas (892) · 3. Was heißt ›schuldig sein‹ ? Zur Onto-

14 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Inhalt Band II

logie der Schuld (901) · 4. Generative, soziale und geschichtliche Schuld im Horizont der Moderne (905) · 5. Schuld als nachträglich-responsive Verantwortung (910)

Kapitel XXVI De-moralisierte Gesellschaften – Zwischen Schuld und Schulden Rückfragen nach einem ursprünglichen, wiederherzustellenden oder neu zu etablierenden Verhältnis von Moral und Gesellschaft

919

1. Gewaltsame Ökonomisierung? (919) · 2. Gesellschaftliche Entmoralisierung und Demoralisierung (922) · 3. Ein negativistischer Ansatz (924) · 4. Schuld versus Schulden, Moral versus Ökonomie (929) · 5. Demoralisierung und Remoralisierung (935) · 6. Bilanz/Ausblick (939)

Kapitel XXVII Perspektiven gewaltsamer Ökonomisierung Schuld(en) zwischen Moralökonomie und Schuldknechtschaft . .

947

1. Ausweglose Schuld(en)? (947) · 2. Schuld, moralisch (953) · 3. Vergesellschaftung und Geld (957) · 4. Perspektiven der Schuldknechtschaft (962)

Teil H Horizonte der Verletzbarkeit Gewalt, Hass und Kriege heute Kapitel XXVIII ›Der‹ Gewalt ausgesetzt Zum Sinn der Sprache zwischen Ethik und Politik . . . . . . . .

971

1. Gewalt in und versus Sprache (971) · 2. Alter und neuartiger Gewalt ausgesetzt – ursprünglich und unabsehbar? (975) · 3. Sprache als einzige (vergebliche) Hoffnung? (981) · 4. Das ›Wort‹ als Ausweg aus dem Krieg? (984) · 5. Frieden als ethischer Sinn der Sprache? Eine Moral, die uns nicht zum Narren hält? (990) · 6. Resümee (1000)

Kapitel XXIX Andere hassen – Im Horizont weltweiter Vergesellschaftung . . . . . . . . . . . 1005 1. Hass – eine Absurdität? (1005) · 2. Hass ›im Schatten‹ weltweiter Vergesellschaftung (1010) · 3. Hassen – sprachlich-phänomenologisch expliziert (1014) · 4. Der ›inkonsequente‹ Hass bleibt uns erhalten (1029)

15 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Inhalt Band II

Kapitel XXX Dem ›alten‹ Krieg und ›neuen‹ Kriegen ausgesetzt – im Zeichen des Äußersten. Revision der menschlichen conditio historica im Lichte der neueren Gewaltgeschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1032 1. Der Gewalt und dem Krieg ausgesetzt – wie seit je her? Rückfragen an die conditio humana (1032) · 2. In der Nähe des Äußersten (1037) · 3. ›Alter‹ Krieg – ›neue‹ Kriege? (1048) · 4. Zur Revision der conditio humana historica (1054)

Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1067 Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1075 Nachweise

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1079

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1087 Namenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1151

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1163

16 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Vorwort

Der Andere ist der erste Mensch, nicht ich. Edmund Husserl 1 Nackt wird er geboren und schwach, affizierbar und zerstörbar. Marsilius von Padua 2

Gegenwärtig scheint ›das Soziale‹ rückhaltlos auf dem Spiel zu stehen – in einer ›globalen‹ Lage, die alle Menschen affiziert und ihnen deutlich macht, wie sehr sie einander ausgesetzt sind, sei es direkt in Erfahrungen der Missachtung, der Demütigung, des Übersehen- und Vergessenwerdens, sei es indirekt in Erfahrungen des Verratenwerdens durch sogenannte Eliten und der Unterdrückung durch ein desozialisiertes Kapital, das sich nur noch schwer orten lässt. Befindet sich das Soziale in dieser Situation wirklich längst im Prozess seiner Auflösung, wie manche Zeitdiagnostiker unter Hinweis auf das Schicksal des angeblich überlebten Sozialstaats behaupten? Oder speist es sich aus nicht versiegenden Quellen? Haben wir gerade in der diagnostizierten Lage allen Grund, uns auf diese Quellen zu besinnen? Welche Zukunft wird dem Sozialen dann beschieden sein – vorausgesetzt, es ›hat‹ überhaupt noch Zukunft und überdauert gegenwärtig nicht bloß anachronistisch, bis Neo-Menschen in ein postsoziales, von einer zeitdiagnostisch messerscharfen Literatur längst ausgemaltes Abenteuer aufbrechen werden? 3 Jegliches Nachdenken über das Soziale und darüber, inwieweit es uns möglicherweise allen Dementis zum Trotz geradezu ›ausmacht‹,

1 E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Zweiter Teil: 1921–1928. Husserliana XIV, Den Haag 1973, S. 418. 2 Zit. n. T. Leinkauf, Grundriss. Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350–1600), Bd. 1, 2, Hamburg 2017, S. 830. 3 Vgl. M. Houellebecq, Die Möglichkeit einer Insel, Köln 2005, S. 382 f.

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setzt – scheinbar trivialerweise – voraus, dass wir bereits ›da‹ sind. Aber wie sind wir ›da‹, wenn wir uns über unsere Verhältnisse zu Anderen Rechenschaft abzulegen versuchen? Sind wir einfach vorhanden wie jene Steine, die Deucalion einem alten Mythos zufolge hinter sich geworfen und sich selbst überlassen hat? Oder als ethnische Wesen, die mit Haut und Haaren in einer partikularen, mit Anderen geteilten und Fremden gegenüber feindlichen Lebensform aufgehen, ohne sie sich je ausgesucht zu haben? Oder als bloße »formlose Masse, deren Bewegung und Tun […] elementarisch, vernunftlos, wild und fürchterlich« zu werden droht, sobald man sie sich selbst überlässt, wie Karl Marx in seiner Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie schrieb, die noch kaum etwas davon ahnen ließ, wie sehr sich die Menschen alsbald vermehren würden? 4 Passen auf die Menschheit heute, nachdem sie bereits die siebente Milliarde überschritten hat, nur noch Begriffe wie Menge, Masse oder multitude, wie sie der Neo-Marxismus unter Berufung auf Spinoza ins Spiel bringt? Die Gefahr, dass sich in einem solchen Denken die Spur des Einzelnen gänzlich verliert, ist nicht von der Hand zu weisen. Wenn, wie seit langem eindringlich behauptet wird, längst ›zu viele‹ Menschen da sind – selbstverständlich sind es immer die Anderen, die ›zu viel‹ sind und mit den ökologischen Grundlagen ihres Daseins derart verschwenderisch und gegen Andere rücksichtslos umgehen, wie es uns u. a. die Klimaforscher vorrechnen –, dann triumphieren die Demographie, die Statistik und die Probabilistik. Worauf es im Horizont eines eminent destruktiven Wirtschaftens ankommt, sind in deren Licht vor allem die wahrscheinlichen Folgen kollektiven, besinnungslosen Tuns für diejenigen, die nach uns kommen. Und angesichts der übergroßen Zahl derer, die an diesen Folgen bereits jetzt zu leiden haben, kommt vorrangig in Betracht, wie viele von ihnen sich dazu gezwungen sehen werden, ihre Bleibe, ihren ›Lebensraum‹, ihren Staat zu verlassen, um anderswo ein Auskommen zu suchen, wo sie sich vorhalten lassen müssen, ›zu viel‹ zu verlangen; sie, die selbst ›zu viele‹ sind und scheinbar gar kein Recht dazu haben, buchstäblich de-platziert ihre Stimme zu erheben. So besorgt man sich darum zeigt, so ›gesichtslos‹ droht gleichwohl das Bedenken solcher Aussichten zu werden, wenn sich die Spur des Einzelnen, von denen jeder ein Anderer ist, gänzlich in ihm verliert. Nicht umsonst verlangt man 4 K. Marx, »Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie«, in: Die Frühschriften, Stuttgart 1971, S. 20–149, hier: S. 84.

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deshalb nach einer »Globalisierung mit menschlichem Gesicht« oder »Antlitz« – mit einer Formulierung, die längst zur Phrase zu verkommen droht. 5 Dieses Buch verteidigt gerade deshalb die Spur des Anderen im Horizont einer nicht mehr zu übersehenden, aber nur ›sozial‹ zu denkenden Vielheit, ausgehend von der Überzeugung, dass nur ein Denken, in dem niemand sein ›Gesicht‹ verlieren sollte, vor einer Dehumanisierung bewahren kann, die ironischerweise auch dort droht, wo man sich, mit demografisch-statistischen Befunden und Wahrscheinlichkeitsargumenten bewaffnet, um die Zukunft der menschlichen Gattung sorgt. Was gilt überhaupt der Einzelne, dessen Spur sich alsbald im Namenlosen verlieren wird, im Lichte der Gattung und der für sie in Anspruch genommenen Wahrheit – ihrer Existenzberechtigung, wie sie Hans Jonas verteidigt hat, ihres Fortschritts, wie ihn zuletzt Steven Pinker glaubte nachweisen zu können, oder ihres ganz und gar der Zukunft zugewandten, ›posthumanen‹ Sinns, wie ihn Anthropofuturisten mit oder ohne Peter Sloterdijk ausmalen? 6 Was soll uns im »Zeitalter der Massen« 7 jener Einzelne überhaupt noch angehen, der ohnehin nur philosophischen Außenseitern wie Søren Kierkegaard, Friedrich Nietzsche und Max Stirner ein Anliegen war? 8 Und was soll man von ihm als Anderem halten, der sich angeblich jeglichem praktischen und theoretischen ›Zugriff‹ entzieht, wie Emmanuel Levinas 9 eingedenk einer radikalen Gewalt behauptet hat, die doch unmissverständlich deutlich gemacht zu haben scheint, dass jeder Einzelne jederzeit auf ein nichtiges Vorhandensein zu reduzieren und als solches spurlos auszulöschen ist? Was bzw. wer ist diese(r) einzelne Andere? Ist er bzw. sie überhaupt denkbar? Und was geht er bzw. sie ›uns‹ angesichts einer trivialen »empirischen Existenz« an, über die Marx bemerkt, es sei doch »sehr vulgär, daß der Mensch geboren worden ist; und daß dies durch die physische Geburt gesetzte 5 F. Nuscheler, »Wird der Süden abgehängt«, in: C. Leggewie, R. Münch (Hg.), Politik im 21. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2001, S. 172–185, hier: S. 184; J. Stiglitz, Die Schatten der Globalisierung, München 42004, S. 322 ff. 6 Vgl. H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt/M. 31982; P. Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt/M. 1999; S. Pinker, Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, Frankfurt/M. 2011. 7 S. Moscovici, Das Zeitalter der Massen, Frankfurt/M. 1986. 8 K. Löwith, »Jener Einzelne: Kierkegaard«, in: M. Theunissen, W. Greve (Hg.), Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, Frankfurt/M. 1979, S. 539–556. 9 E. Levinas, Außer sich, München, Wien 1991, S. 74 ff.

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Dasein zum sozialen Menschen etc. wird bis zum Staatsbürger herauf […]«. 10 Vulgär ist dieser Befund jedenfalls, wenn man wie Georg W. F. Hegel meint, dass es ohnehin niemals darum gehen kann, »empirische Existenz zu ihrer Wahrheit, sondern die Wahrheit zu einer empirischen Existenz zu bringen« 11 – vorausgesetzt natürlich, man verfügt bereits über diese Wahrheit und ist nicht darauf angewiesen, sie gewissermaßen aus dem überhaupt erst zu bilden, was ›da‹ ist. Ist aber die Geburt und das durch sie angeblich ›gesetzte‹, keineswegs in die Welt ›geworfene‹, sondern gezeugte, bezeugte und von einer Anderen hervorgebrachte Dasein wirklich nur ein wahrheitsloses, indifferentes Faktum? Können Empirie und Wahrheit derart ohne inneren Zusammenhang sein, wenn im Geborensein doch immerhin liegt, dass jedes Kind, das zur Welt gebracht wurde und ihr ›Licht erblickt‹ hat, Anderen rückhaltlos ausgesetzt wird – in einem ständigen ›Kommen und Gehen‹, das nur eine kurze, aber für die Lebbarkeit unseres Lebens entscheidende Zeit lang politisch Gestalt annehmen kann? Wer nicht vergisst, dass wir als Fremde ankommen und als Fremde werden gehen müssen, wird sich – zumal nach den Exzessen des politischen Totalitarismus des 20. Jahrhunderts – davor hüten, diese Zwischenzeit 12 über Gebühr zu politisieren. 13 Nicht zu bestreiten ist aber, dass wir in ihr einander rückhaltlos ausgesetzt sind und dass darin ein ungeheures Potenzial an Negativität liegt, zu der sich zur Welt gebrachtes und ihr zunächst schutzlos ausgeliefertes Leben niemals indifferent verhalten kann, dem es von Anfang an darum gehen muss, zu einem wirklich lebbaren Leben zu finden (statt bloß einzeln oder massenhaft auf Gedeih und Verderb vorhanden und zu schierem Überlebenskampf bestimmt zu sein, den man neuerdings Marx, »Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie«, S. 53. Ebd. 12 Vgl. die vorangegangenen Studien d. Vf. zu diesem Begriff: In der Zwischenzeit. Spielräume menschlicher Generativität, Zug 2016. 13 Auch wenn man nicht so weit gehen möchte, das Politische selbst zu verwerfen im Namen radikaler Freiheit des Einzelnen, die womöglich nur noch im Refugium ästhetischer Lebensformen eine Zuflucht findet. Vgl. W. Haftmann, Der Mensch und seine Bilder. Aufsätze und Reden zur Kunst des 20. Jahrhunderts, Köln 1980, S. 10, 79, 256 ff.; ders., Verfemte Kunst. Bildende Künstler der inneren und äußeren Emigration in der Zeit des Nationalsozialismus, Köln 1986, S. 17. Zum Ausgesetztsein in ästhetischer Hinsicht, vgl. Vf., »Multiple Chiasmen. Versuch einer kurzen Situationsbeschreibung ›moderner‹ Musik und Malerei zwischen Sicht- und Hörbarem, Sehen und Hören, Bild und Klang«, in: M. Gutjahr (Hg.), Bild und Klang. Zur Ambivalenz ästhetischer Relationen, Bielefeld. i. V. 10 11

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wieder mit anachronistischen Rückgriffen auf Thomas Hobbes, Charles Darwin oder gewisse Neo-Liberale heraufbeschwört). Aufgrund seiner vitalen Nicht-Indifferenz wird unter die schon Daseienden aufgenommenes, aber zugleich auch ihnen ausgesetztes Leben mehr oder weniger bestimmt ›nein‹ sagen müssen zu allem, was ihm selbst oder Anderen auf ›unannehmbare‹ Art und Weise widerfährt – von Vernachlässigung und Verlassenheit über Erniedrigung, Demütigung, Verächtlichmachung, Diskriminierung und Ungerechtigkeit bis hin zu Verelendung, Ausbeutung, Vergewaltigung, Versklavung, Hass, Krieg 14 und anderen Desastern, die wie das Verschwindenlassen 15 nicht einmal die menschliche Sterblichkeit vor der Gewalt Anderer sicher erscheinen lassen. Weit und breit ist keine Theorie in Sicht, die verspräche, jenem Potenzial im Ganzen gerecht zu werden, als derart vielfältig erweisen sich die Quellen der Negativität, als derart vielfältig auch die Formen ihrer Negation, die keineswegs als ›bestimmte‹ in eine eindeutige Richtung weisen, um uns auf diese Weise den Weg zu einer Wahrheit zu zeigen, die im Allgemeinen als konsensfähig und schließlich als universal gelten dürfte, um auf diese Weise ein im Ganzen ›wahres‹ oder ›richtiges‹ Leben vorzuzeichnen. 16 Theorien, die das Gegenteil glauben machen, liegen allerdings reichlich vor. Fast immer erwecken sie den weltfremden Anschein, jene angeblich widersprüchliche Negativität ließe sich in einem vergesellschafteten Leben, das dem Guten und dem Gerechten verpflichtet ist, wirklich ›aufheben‹. Von ›unaufhebbarer‹ Gewalt verraten diese Theorien wenig bis gar nichts, ungeachtet zuhauf vorliegender Hinweise darauf, dass wir mit ihr leben müssen – ohne darum in Wie unvollständig diese bescheidene Liste ist, lässt sich ersehen aus S. D. Beebe, M. Kaldor, Unsere beste Waffe ist keine Waffe. Konfliktlösungsstrategien für das 21. Jahrhundert, Berlin 2012. Dieses Buch erinnert wie viele andere auch mit Nachdruck daran, dass die konkreten Bedingungen des Ausgesetztseins weltweit höchst verschieden ausfallen. Alles, was im Folgenden dazu gesagt wird, steht unter diesem Vorbehalt. Das bedeutet freilich nicht, dass man in den wohlhabenden Staaten des Westens der Aufgabe enthoben wäre, sich genau darum verschärft Gedanken zu machen – und sich, was die Philosophie betrifft, vor leichtfertigen Ontologisierungen gewisser Existenzialien zu hüten, deren unterschiedliche existenzielle Ausprägungen man anderswo (etwa in Afrika) niemals studiert hat. 15 Zu einer unter vielen Varianten: H. Verbitsky, Der Flug. Wie die argentinische Militärdiktatur ihre Gegner im Meer verschwinden ließ, Wien 2016, S. 134 f. 16 Vgl. H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied, Berlin 1967, bes. Kap. 8. 14

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Resignation, in schieren Zynismus oder Defätismus zu verfallen. Diese Theorien erweisen sich derart akademisch auf das Gute und das Gerechte als das Normale und normativ Richtige fixiert, dass sie vielfach nicht einmal dessen gewahr werden, wie man selbst unter vergleichsweise idealen Lebensbedingungen geradezu um seine soziale und politische Existenz gebracht werden kann. Dazu bedarf es keiner inkriminierbaren Gewalt. Was der Soziologe Theodor Geiger vor Jahrzehnten »stille Ächtung« genannt hat, genügt vollkommen. Anstelle expliziter Verfemung meidet »die moderne Gesellschaft« im Ganzen oder irgendeine intrigante ›Gemeinschaft‹ die ihr Missliebigen und »läßt sie nicht mittun«. 17 So kann jede(r) ohne großen Aufwand zum Paria werden, der bzw. die sich im vollen Besitz von Bürger- und Menschenrechten glaubt und doch erfahren muss, in den Augen Anderer geradezu aufzuhören zu existieren, so dass kein soziales und politisches Licht mehr auf ihn bzw. auf sie fällt. Diese Nacht sozialer Inexistenz ist vielfach (zweifellos übertrieben) als das Grausamste beschrieben worden, was Menschen durch Andere widerfahren kann. Dabei sind wir originär ›nächtliche‹ Wesen, die aus radikaler Weltfremdheit heraus überhaupt erst ›zur Welt kommen‹, indem sie dank Anderer gastlich in ihr aufgenommen werden, allerdings auf die im Prinzip jederzeit gegebene Gefahr hin, wieder aus ihr herauszufallen – sei es zwischenzeitlich in einem sozialen Tod, der gegebenenfalls eine Wiederauferstehung zulässt, sei es endgültig, wenn wie im Sterben jegliche durch Anspruch und Erwiderung geschehende Sozialität zum Ende kommt, deren Licht sodann wieder erlöscht und es Nacht sein lässt. Zwischenzeitlich wird die Welt nur durch dieses Geschehen ›hell‹. Ihre Helligkeit fällt nicht in den Zuständigkeitsbereich einer Physik der Photonen und elektromagnetischen Wellenlängen, sondern der Sozialphilosophie. Selbst unsere Sinnlichkeit, die uns hören und sehen lässt, ist »erst durch den anderen Menschen als menschliche Sinnlichkeit« für uns selbst da, wie schon Marx wusste, der damit Gedanken Hegels aufnahm, welche ihrerseits über George H. Mead und viele andere weit bis in unsere Gegenwart hineinreichen, die sich immer noch mit der Frage befasst, was uns der Andere angeht, wie er uns geradezu in uns selbst ›verandert‹ und zu Anderen macht, ohne die Differenz zum Anderen T. Geiger, »Formen der Vereinsamung«, in: Arbeiten zur Soziologie. Methode – Moderne Großgesellschaft – Rechtssoziologie – Ideologiekritik, Neuwied, Berlin 1962, S. 260–292, hier: S. 268.

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je aufzuheben. 18 Zumal nach einem Jahrhundert nicht nur exzessiver, sondern auch programmatisch radikaler Gewalt, die die Spur des Anderen vollkommen auslöschen sollte, kommt es nicht mehr in Frage, den Gedanken einer inneren Veranderung unserer selbst aufzugeben. Das Soziale ist nur noch im Zeichen unaufhebbarer Alterität des Anderen zu denken. 19 Dabei ist das Soziale dieser Alterität, letztere aber auch dem Sozialen ausgesetzt – und möglicherweise ausgeliefert. Eine nur dem Anderen verpflichtete Sozialphilosophie bliebe womöglich der unaufhebbaren Pluralität all jener anderen ›Anderen‹ gegenüber blind, die heute, im globalen Horizont, auf der Suche nach neuen Formen der convivialité 20 oder der commensality 21 sind, welche weitgehend ohne historisches Vorbild auskommen müssen, also erst zu erfinden sind. Wie konkret in diesem Horizont heute zu leben wäre, ist eine – nicht in Rezeptform abzuhandelnde – praktische und gewiss dringliche Frage, der man sich an vielen Baustellen widmet. Mehr denn je drängt sich aber der Eindruck auf, dass keine Antwort je wird überzeugen können, die ohne einen starken Begriff des Anderen auszukommen meint, der gerade dort ansetzt, wo der Andere am schwächsten erscheint, dort nämlich, wo er rückhaltlos menschlicher Gewalt ausgeliefert ist und uns dennoch, oder vielmehr gerade deshalb, nicht aus dem Bezug zu ihm entlässt. Wie er sich der Gewalt entziehen kann, wird eine eminente Herausforderung auch für zeitgemäße Entwürfe neuer Lebensformen sein, die in ihrer kapitalismus-, wachstumskritischen und kosmopolitischen Euphorie zu vergessen neigen, dass wir füreinander nur um den Preis Andere sein können, dass wir niemals in einer wie auch immer renovierten Lebensform der décroissance bzw. des degrowth ›restlos‹ aufgehen werden. In dieser ›Fremdheit‹, behauptete Levinas vielleicht am energischsten, liege die eigentliche Freiheit des Anderen. Doch dabei hat er zu wenig gesehen, wie jede(r) Andere auf den unterstützenden, K. Marx, »Nationalökonomie und Philosophie«, in: Die Frühschriften, S. 225–316, hier: S. 245. 19 Es handelt sich also gerade nicht darum, einer ›übersozialisierten‹ Konzeption des Menschen etwa das Wort zu reden, die glauben macht, wenn »das Soziale den Menschen erschafft« oder ganz und gar ausmacht, habe man ein Prinzip in der Hand, das jegliche »Transzendenz auszutreiben erlaubt«, wie Albert Camus formuliert in: Der Mensch in der Revolte, Reinbek 1969, S. 162. 20 F. Adloff, C. Leggewie, Das konvivalistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens, Bielefeld 2014. 21 A. O. Hirschman, Tischgemeinschaft. Zwischen privater und öffentlicher Sphäre, Wien 1997, S. 20. 18

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stets aber auch mehr oder weniger gewaltträchtigen Kontext von Lebensformen angewiesen ist, die auch ein ethischer ›Fundamentalismus‹ nicht ignorieren darf, der die Rede vom Anderen ungenügend in einer unaufhebbaren Pluralität situiert. Diese aber erfordert nach meiner Überzeugung heute einen anderen Theorietypus als den des Systems im Geiste Hegels, Niklas Luhmanns oder der Rechenschaft vom ›Ganzen‹ im Sinne der sog. Kritischen Theorie, das doch längst niemand mehr überblickt und stets zu theoretischen Gewaltsamkeiten derjenigen verführt hat, die glaubten, aus vermeintlich höherer, exklusiver Einsicht in die Unwahrheit dieses Ganzen eigenmächtig Wege in eine bessere Zukunft bahnen zu können. Was mir demgegenüber vorschwebt, ist eine weitläufige sozialphilosophische Topografie, deren helle, ›tägliche‹, und dunkle, ›nächtliche‹, Seiten und Zonen nur zu erkunden sind, indem man sie begeht – auch auf die Gefahr hin, sich zu verirren. Steht nicht das Eingeständnis, sich nicht mehr auszukennen, insofern in die Irre gegangen zu sein, nach einem bekannten Diktum Ludwig Wittgensteins am Beginn allen Philosophierens? So mag ein echtes ›Orientierungsproblem‹ entstehen. Doch ist nicht zu erwarten, dass wir die ›Irre‹, die dem Sozialen selbst eignet, je ganz hinter uns lassen werden. Es gibt auch ein gewissermaßen zu gut orientiertes Denken, welches in dieser Hinsicht nur fragwürdige und weltfremde Illusionen nährt. Wenn es sich das nicht eingesteht, erschöpft es sich am Ende in einer sonderbaren Rechtschaffenheit, der das Soziale niemals als absolut Beunruhigendes, Irritierendes, Fremdes und Furcht Erregendes, als Erstaunliches und ›wahnsinnig‹ Erschreckendes unter die Haut gegangen zu sein scheint. Vom Gegenteil ist in dem, was hier folgt, auszugehen, auch auf die Gefahr hin, dass sich alles Gesagte als rückhaltlos ›anfechtbar‹ erweisen wird. Nur so jedoch, um diesen Preis, gibt das Soziale ›zu denken‹. Wie, das wird Gegenstand der anschließenden, weit ausholenden Untersuchungen sein. Sie erproben gewissermaßen eine Überkreuzung zweier Fragen: wie das Soziale im Zeichen des Anderen zu denken ist und wie umgekehrt der Andere nach dem Sozialen verlangt, wobei wir uns als Andere dem Sozialen und im Sozialen als Andere einander ausgesetzt erfahren. Dieser Gedanke bleibt nur dann nicht auf schlechte Weise abstrakt, wenn er im Kontext einer komplexen Chronotopografie 22 von Lebensformen erprobt wird, in 22

Siehe dazu die Einleitung zum Bd. II.

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denen menschliches Zusammenleben Gestalt annimmt. Dabei wird mir hier, wie schon in früheren Studien zu diesen Fragen, die Ontogenese als Leitfaden dienen. Denn nirgends sonst liegt dermaßen offen zu Tage, wie wir nicht in die Welt ›geworfen‹, sondern so in ihr aufgenommen werden, dass wir Anderen dabei zugleich rückhaltlos ›ausgesetzt‹ bleiben müssen: als Aufgenommene ausgesetzt, als Ausgesetzte aufgenommen, gastlich oder ungastlich, bis auf Weiteres oder scheinbar ›für immer‹, möglicherweise von wie auch immer beschränkter oder verfehlter Liebe getragen, aber auch mannigfaltiger Gewalt überantwortet, der wir heute kein generelles idealistisches Versöhnungsversprechen mehr glaubwürdig entgegensetzen können. Das bedeutet keineswegs, dass nunmehr eine finstere und ausweglose Negativität des Ausgesetztseins triumphieren muss; denn letzterer setzen wir uns auch selbst aus, weil nur so – und das heißt: in einem verletzten Leben – auch eine Sozialität gemeinsam geteilter Zeit, insofern soziale Zeit Gestalt annehmen kann, die ein sich nicht aussetzendes Leben von vornherein verfehlen müsste. 23 In dieser Perspektive dienen die nachfolgenden Studien der phänomenologischen »Erfassung des Gegenwärtigen und Wirklichen«, ohne das es ein kritisches »Ergründen des Vernünftigen« nicht geben kann, wie Hegel mit Recht schrieb. Im Ganzen handelt es sich um den Versuch zu zeigen, was eine vor dem Hintergrund einer traumatischen deutschen und europäischen Gewaltgeschichte unabdingbar historisch sensibilisierte 24 Sozialphilosophie heute leisten kann und muss. Diese kann gewiss nichts ›wieder gut machen‹, wohl aber besonders jenen Gehör zu verschaffen versuchen, die sich dieses Zusammenhangs schmerzlich bewusst gewesen sind. Ohne die institutionelle Unterstützung des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover, für die ich namentlich seinem Direktor, Jürgen Manemann und dem Staff danke, besonders Agnes Wankmüller, Anna Maria Hauk und Sigrid Wittkamp für logistische Hilfe im In dieser Perspektive setzen die nachfolgenden Kapitel zwei Vorstudien fort: Verletztes Leben. Studien zur Affirmation von Schmerz und Gewalt im gegenwärtigen Denken. Zwischen Hegel, Nietzsche, Bataille, Blanchot, Levinas, Ricœur und Butler, Zug 2014; Zeit-Gewalt und Gewalt-Zeit. Dimensionen verfehlter Gegenwart in phänomenologischen, politischen und historischen Perspektiven, Zug 2017. 24 Zu diesem Begriff vgl. die das vorliegende Projekt gleichsam flankierenden Untersuchungen in: Vf. (Hg.), Sensibilität der Gegenwart. Wahrnehmung, Ethik und politische Sensibilisierung im Kontext westlicher Gewaltgeschichte. Sonderheft Nr. 17 der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Hamburg 2018. 23

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Rahmen eines Fellowships, wäre dieser Versuch nicht möglich gewesen. Im Übrigen greift er viele Anregungen anderer dankbar auf, die aus den Nachweisen hervorgehen. Besonders gilt das (mit Blick auf den Teil B, Kap. VIII/IX) für Marco Gutjahr, Rostock, (mit Blick auf den Teil B, Kap. XIII/XIV) für Philipp Stoellger, Heidelberg, (mit Blick auf den Teil D, Kap. XV/XVII) für Ferdinando Menga, Mailand/Tübingen, (mit Blick auf Kap. XXII ff.) für Petar Bojanić, Belgrad, und (mit Blick auf den Teil G) für Andreas Oberprantacher, Innsbruck. Sämtliche Vorstudien, die in dieses Projekt eingegangen sind, wurden erheblich revidiert. Gleichwohl bleiben sie, das ist mir sehr bewusst, außerordentlich ›anfechtbar‹, wie man hierzulande gerne sagt. Das hat – abgesehen von eigenen Unzulänglichkeiten – nicht zuletzt auch mit einer außerordentlich diversifizierten Forschungsund Problemlandschaft zu tun, die sich weniger denn je in einem einzigen Theorieentwurf konzeptuell bändigen lässt und stattdessen vielseitige Anschlussstellen an die Arbeit anderer erkennbar werden lassen sollte. Dem dienen zahlreiche, weit über den ›akademischen‹ Kontext hinausreichende Hinweise auf Literatur, die letzterer freilich bei weitem nicht erschöpfend gerecht werden können. Ungeachtet dessen hat Lukas Trabert als Leiter des Alber-Verlages dieses Projekt ebenso großzügig unterstützt wie manch früheres, wofür ich an dieser Stelle ebenfalls meinen tiefen Dank ausspreche. Zumal in Zeiten, in denen die viel beklagte Hegemonie desozialisierter Formen des Wirtschaftens selbst die Universitäten und Verlage rücksichtslos und ganz zu erfassen droht, ist solcher Rückhalt unentbehrlich. Hannover/Fbr., im November 2017

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Einführung Chiasma des Anderen und des Sozialen

[Ich] bleibe […] mit den anderen verbunden, ja ich bedarf ihrer, und wäre es nur, um sie ins Nichts zu stoßen. Maurice Blanchot 1 […] hinaus in die Fremde der Heimat […] Paul Celan 2

›Sozial‹ existieren wir sogar in der Gewalt nur dank Anderer – so widersinnig das auf den ersten Blick auch erscheinen mag – in Beziehungen, Verhältnissen, Kontexten und Systemen, deren Normalität das weitgehend in Vergessenheit fallen lassen kann. Dann fragt man sich, ob man Anderer überhaupt bedarf, ob man auf sie angewiesen ist oder auch ganz ohne sie auskommen kann – sei es in gleichgültigem Nebeneinanderherleben, sei es in sozial gleichsam leer laufendem, saturiertem Wohlstand, der sie sich weitestgehend vom Leib hält, sei es in Formen weltflüchtigen, einsamen Daseins. Alle Formen dieser oder jener Distanznahme setzen aber ein vorgängiges Bezogensein auf Andere bereits voraus, das es Anderen rückhaltlos aussetzt und von Geburt an auf sie angewiesen sein lässt. Dieses hochambivalente Ausgesetzt- und Angewiesensein verlangt danach, die in ihm liegenden Herausforderungen politisch anzunehmen – auch um den Preis gerade dadurch verschärfter Furcht, der Angst und des Misstrauens in Zeiten der Gewalt, die politische Lebensformen von außen und von innen gefährden und zu ruinieren drohen. Auf bestimmte politische Lebensformen ist normalerweise jeder angewiesen – erst recht aber unter Bedingungen, die grundsätzlich jeden zu grenzüberschreiten-

M. Blanchot, Sade, Berlin 1986, S. 33. P. Celan, »Schibboleth«, in: Ausgewählte Gedichte. Zwei Reden, Frankfurt/M. 1980, S. 47.

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der Migration und Flucht zwingen können und dann die Frage aufwerfen, wie man sich zu seinem Ausgesetztsein verhalten kann, ohne es zu verharmlosen, ohne es zu leugnen und ohne sich zurückzuziehen in eine Defensive und Isolation, die die entscheidende politische Qualität sozialer Lebensformen unterminieren muss: ihre so viel gelobte Offenheit. Die nachfolgenden Überlegungen sind einer Theorie des Sozialen gewidmet, die sich von der Überzeugung leiten lässt, dass es soziales Leben, das so genannt zu werden verdient, nur im Zeichen unaufhebbarer Alterität des Anderen geben kann und dass es – vom ersten Ausgesetztsein an, das in unserer Geburt als unserem ZurWelt-kommen liegt – gerade insofern als ›offenes‹ zu begreifen ist. Nachdem die Kapitel I–XIV das sozialphilosophische Profil eines in diesem Sinne starken Begriffs des Anderen dargelegt haben, der seine merkwürdige Stärke allenfalls in der spezifischen Art und Weise hat, wie letzterer sich jeglichem Zugriff entzieht, erkunden die Kapitel XV–XXX eine Topografie des Sozialen, die sich vor allem an existenziellen und politischen Herausforderungen wie Dissens, Misstrauen, Schuld, Gewalt und Krieg orientiert, denen es ausgesetzt ist und bleibt, denen es immer wieder neu ausgesetzt wird und denen es sich selbst aussetzt. Diese Herausforderungen markieren gewissermaßen das Profil des politischen Geländes, in dem sich soziales Leben heute bewegt. 3 Hier wird es nicht mit Blick auf institutionalisierte Formen, sondern als ein anarchisches, weitgehend unvorhersehbares, unberechenbares und letztlich nicht normalisierbares Geschehen begrif3 Aber gewiss nicht erst heute oder ›seit kurzem‹ ; vgl. T. Leinkauf, Grundriss. Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350–1600), Bd. 1, 2, Hamburg 2017, der u. a. von der »Irritation« der Pestepidemien des 14. Jahrhunderts eine Zerstörung des Weltvertrauens und ein verschärftes Kontingenzbewusstsein herleitet, in dem etwa Petrarca »überall wilde Trauer« wahrnahm (S. 29, 57, 111, 258, 430, 1538), die ihn in einem seinerseits fragilen secum esse Zuflucht suchen ließ. Auf diesem Weg kommt es schließlich zu Formen »ohnmächtiger Bemächtigung des Wirklichen« (S. 46), die die fragilitas vitae und der vicissitudo rerum politisch zu entschärfen versprachen (S. 52, 290, 292, 298, 856). Unter diesen Vorzeichen beginnt sich im späten Mittelalter und in der Renaissance ein Bewusstsein des Ausgesetztseins zu artikulieren, das als solches und radikalisiert allerdings erst in der Philosophie des gewaltsamsten aller bisherigen Jahrhunderte, des 20., zur Sprache kommt, dessen Desaster sich schwerlich noch ins Renaissance-Bild einer Fortuna fügen, die beständig für unberechenbaren, aber die virtù der Einzelnen herausfordernden Wechsel sorgt; vgl. K. Reichert, Fortuna oder die Beständigkeit des Wechsels, Frankfurt/M. 1985; zum Weltvertrauen H. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, Frankfurt/ M. 21983, S. 159 ff.

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fen, in dem wir ständig einander ausgesetzt sind und angesichts dessen wir auf verlässliche Formen einer Bleibe angewiesen sind, die nur politische Lebensformen in Aussicht stellen können und für die sie praktisch einstehen müssen. Deren eingespielte Normalität erweist sich aber vielfach als trügerisch, wenn sie in ihrem mehr oder weniger ungestörten ›Funktionieren‹ die Gefahren vergessen lassen, denen sie unentwegt ausgesetzt bleiben und die sie selbst heraufbeschwören – in Furcht und Misstrauen, in versagter Anerkennung und verfehlter Vergemeinschaftung, die ein wirklich ›lebbares‹ Leben unmöglich zu machen droht, das trotz allem darauf angewiesen ist, als von unaufhebbarer Alterität inspiriertes eine verlässliche soziale Gestalt anzunehmen. Bevor es jedoch zur Sache geht, sind klärende Vorbemerkungen zur Rede vom ›Anderen‹ als solchem und vom ›Sozialen‹ angezeigt, denn beide Begriffe werden hier besonders in der Perspektive auf ein Drittes zusammengeführt, die in einschlägigen, sich leider nach wie vor an überkommene disziplinäre Grenzen haltenden Veröffentlichungen zum Anderen und zum Sozialen so gut wie gar nicht anzutreffen ist, obgleich m. E. sie allein verständlich macht, worum es geht, wenn wir jenes ›Einander-ausgesetzt-sein‹ begreifen wollen. Gemeint ist die mit den Namen Europas verknüpfte Gewaltgeschichte, die wie nichts anderes sowohl die Rede vom Anderen als auch vom Sozialen in Frage stellt, wie sich gleich zeigen wird. Die »soziale Dimension« menschlichen Zusammenlebens werde »im allgemeinen nicht als für den Menschen notwendig angesehen«, stellt Tzvetan Todorov in seinem viel beachteten Buch La vie commune. Essai d’anthropologie générale (1995) fest, das im Deutschen den Titel Das Abenteuer des Zusammenlebens trägt. 4 Die Rede ist sogar von »asozialen Denkströmungen«, die zumindest das sogenannte abendländische Denken bis auf den heutigen Tag dominiert hätten. Todorov verweist in diesem Zusammenhang unter anderem auf Ideale der Autarkie und eines solitären, keines Anderen bedürftigen, im Grunde beziehungslosen Lebens; aber er hätte auch auf rezente kognitivistische, mentalistische und neurophysiologische Modelle menschlichen ›Geistes‹ hinweisen können, den nicht wenige Theoretiker für weitestgehend künstlich reproduzierbar halten. Ob sich indessen überhaupt ›soziale‹ Maschinen, Androide, kybernetische T. Todorov, Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen Anthropologie, Frankfurt/M. 1998, S. 13.

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Organismen (cyborgs) usw. vorstellen lassen, erscheint zweifelhaft und bleibe hier dahingestellt. Worauf es ankommt, ist, dass nicht einmal gewiss ist, ob und inwiefern wir selbst ›soziale Wesen‹ sind, die sich nicht bloß zufällig in jenes ›Abenteuer‹ stürzen, das sich, wie wir wissen, im Prinzip jederzeit als Tragödie, Komödie, als Farce und Schurkenstück herausstellen kann, bei dem nicht immer klar ist, wer wem übel mitspielt. 5 Todorov spricht von der schieren »Unmöglichkeit«, überhaupt anders denn als ›sozial‹ zu existieren. »Die Beziehung zu anderen« gehe »dem einzelnen« immer schon voraus. 6 Kann sich nicht in der Tat auch der sich bewusst vereinzelnde, in Abgeschiedenheit lebende Eremit in seiner Anachoresis nur nachträglich von sozialen Beziehungen zu lösen versuchen, ohne die er niemals ein eigenständiges, zurückgezogenes Leben hätte beginnen können? Bleibt aber nicht ein solches, wenn nicht autonomes, so doch wenigstens autarkes Leben auch dort noch als sich selbst genügendes ein vorherrschendes Ideal, wo man dies zuzugeben bereit ist? Was sollten auch Verweise auf unsere unvermeidliche Genesis aus einem Leben in Abhängigkeit von Anderen dagegen beweisen, dass man sich wenigstens nachträglich aus ihm zurückzuziehen versuchen kann, um sich schließlich allenfalls noch in freiwillig eigens eingenommenen ›Haltungen‹ oder ›Einstellungen‹ wie der des Mitleids oder der Sympathie dazu herabzulassen, sich für Andere als solche zu interessieren? Gewiss: oft genug hat man auf ›tiefere‹, womöglich nicht abzustreitende Abhängigkeiten von Anderen verwiesen, deren Meinung, Blick oder Anerkennung man Thomas Hobbes, Jean-Jacques Rousseau und Georg W. F. Hegel zufolge niemals ganz loswerde. Beginnen wir nicht über ›bloßes Leben‹ hinaus menschlich überhaupt erst unter den Augen Anderer wirklich zu existieren, fragt Todorov. 7 Doch blieb die Vorstellung eines zunächst ›gegebenen‹ Für-sich-seins dominant 8, die selbst den Phänomenologen Edmund Husserl bei der Frage nach der originären Gegebenheitsweise des Anderen implizit leitete. Dabei interessierte ihn nicht die Frage, wie alt die menschliche Gattung sein mag und wie tief in deren paläoanthropologische Vor-

5 M. Brumlik, »Der 18. Brumaire des Donald Trump«, in: Die Zeit, Nr. 10 (2017), S. 19. 6 Todorov, Abenteuer des Zusammenlebens, S. 17. 7 Ebd., S. 71. 8 Vgl. H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft 1 [1965], Frankfurt/M. 131980, S. 106.

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geschichte die Anfänge ›sozialen‹ Lebens zurückreichen mögen. 9 Die in diesem Zusammenhang einschlägigen Cartesianischen Meditationen treibt vielmehr das Problem echter »Fremderfahrung« um, in der sich der Andere nicht auf das Eigene reduzieren lässt. 10 Mit Fug und Recht kann man sagen, dass ein starker Begriff des Anderen, der unaufhebbar ›anders‹ bleibt, erst im Anschluss an jene Theoretiker im 20. Jahrhundert so zur Geltung gebracht wurde, dass der Andere als dem eigenen Selbst immer schon innewohnend, es geradezu ›andernd‹ 11 oder ›verandernd‹ 12, verständlich wurde. 13 Allenfalls nachträglich kann man dagegen das Bild eines Menschen setzen, »für den der andere nicht mehr zählt« 14, der sich um ihn nicht im Geringsten scheint scheren zu müssen oder, in der Perspektive eines transzendentalen Solipsismus, quasi allein auf der Welt zu sein scheint. Aber wie ›zählt‹ ›er‹ (bzw. ›sie‹ …) denn? Nur als einer, der ›notwendigerweise‹ bzw. ›unvermeidlich‹ faktisch im Spiel ist? 15 Nur als familiärer Nächster und allenfalls noch unter Vorbehalten als ›jemand anderes‹ – wie etwa ein ›liberales‹ Subjekt ökonomischen Handelns, das von sozialer Rücksichtnahme, von der es selbst tagtäglich profitiert, nichts zu halten scheint? Oder als sogenannter Mitmensch, sei es auch ein Mittäter im Rahmen einer jenen Neuen Kriege, in denen warlords neuartige, aus dem Tierreich gar nicht bekannte Formen von »Raubtier-Sozialgefügen« etablieren? 16 Der Diskurs über den Anderen zeigt sich nach wie vor von diesen Fragen konfliktreich 9 M. Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978–1979, Frankfurt/M. 2004, S. 410; H. Blumenberg, Beschreibung des Menschen, Frankfurt/M. 2006, S. 104–143. 10 E. Husserl, Cartesianische Meditationen. Einleitung in die Phänomenologie [1929], Hamburg 1977, §§ 43 ff. 11 F. Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, Frankfurt/ M. 2006, S. 143. 12 Nach M. Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 21977. 13 Vgl. F. Dosse, Geschichte des Strukturalismus, Bd. 2, Frankfurt/M. 1999, S. 247, 265, 281, 283, 325, 341. Hier zeigt sich, wie sehr der Begriff des Anderen schwankt zwischen einer an Personen geknüpften Alterität einerseits und einer ›neutralen‹ Bedeutung andererseits. Siehe auch V. Descombes, Das Selbe und das Andere. Fünfundvierzig Jahre Philosophie in Frankreich 1933–1978, Frankfurt/M. 1981, wo Levinas und Ricœur, die abgesehen von Derrida zweifellos wichtigsten Verfechter einer Philosophie der Alterität jenseits des Rheins, nicht einmal erwähnt werden. 14 Todorov, Abenteuer des Zusammenlebens, S. 47. 15 Vgl. ebd., S. 53. 16 M. Kaldor, Neue und alte Kriege, Frankfurt/M. 2000, S. 173.

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beunruhigt. Um wen handelt es sich? Was geht ›er‹ bzw. ›sie‹ oder ›das Andere‹ uns an? Und wie – in der ›Tiefe‹ des Selbst, das sich als in sich selbst ›verandert‹ erweist, wenn die Sozialontologen Recht haben? Folgt daraus überhaupt etwas im Hinblick auf uns fern stehende Andere, deren vergangenes, gegenwärtiges und zukünftiges Leben und Sterben sich seit langem im Horizont einer Welt-Gesellschaft abzeichnet? Gewiss: das Soziale gibt es nicht ohne Bezug auf Andere bzw. ohne Beziehung zu Anderen, wie auch immer man diese Fragen beantworten wird, was auch immer unter ›Bezug‹ und ›Beziehung‹ (die man angeblich zu Anderen ›herstellt‹) genau zu verstehen ist. Aber ›begründet‹ bzw. fundiert solcher Bezug oder eine solche Beziehung das Soziale (zureichend)? Zumal wenn man letzteres auf das SozialStaatliche oder auf das Sozial-Politische beschränkt, wie es so oft geschehen ist, kann es sich gewiss nicht um eine einfache Ableitungsbeziehung handeln. Schließlich hat es, ungeachtet frühester Anfänge einer ›sozialen Politik‹, die man anachronistisch schon im alten Ägypten vermutet hat, Jahrhunderte lang keinen Sozialstaat und keine auf diesen Begriff zugeschnittene Sozialpolitik gegeben; und für manche hat beides seine Zukunft bereits hinter sich. Doch stellt sich die Frage, ob nicht ein starker Begriff ›unaufhebbarer‹ Alterität des Anderen nach einem ›sozial‹ formierten Zusammenleben verlangt und insofern das Soziale auf den Plan ruft. Allerdings wäre es abwegig, letzteres aus einem solchen Begriff von Alterität einfach ableiten zu wollen – so als würde im Begriff des Anderen oder darin, wie dieser uns ›gegeben‹ ist, schon liegen, wie ihm in sozialem Zusammenleben, also in Lebensformen gerecht zu werden ist, die allemal eigens durch diejenigen, die ihnen zugehören, ›formiert‹ werden müssen. In jener Frage liegt, wie sich zeigen wird, zwar eine unaufgebbare Herausforderung des Sozialen; aber ohne gleichzeitige Überforderung lässt sich diese nicht denken. Das Soziale ist ›im Zeichen des Anderen‹ zu denken, dessen Spur sich in ihm nicht verlieren darf. Andernfalls hätten wir es im Sozialen womöglich nur noch mit einer Art von Clubmitgliedern zu tun, die nach eigenem Gutdünken darüber befinden dürften, wer (für sie) als ›Anderer‹ überhaupt ›zählt‹. (Diesen Anschein erweckt in der Tat Michael Walzers Sozialphilosophie. 17) Solchen M. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frankfurt/M. 1998. Derselbe Autor ist allerdings davon überzeugt, gerade der Sozialphilosoph müsse sich wie ein »total stranger« zu seinem Metier verhalten. M. Walzer,

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Mitgliedern würde im Innern ihrer Lebensformen keine unaufhebbare Alterität ›eignen‹ ; und in ihren Verhältnissen zu Fremden würden sie womöglich keinerlei Alterität kennen, die sie etwas angehen müsste. Aber wie sollte das auch der Fall sein? Diese Frage ist, wie eingangs angedeutet, nicht zu verstehen, ohne ein implizit in den Diskursen über den Anderen und das Soziale mit anwesendes Drittes: die Gewaltgeschichte speziell der europäischen Moderne. Sie hat dahin geführt, dass überhaupt keine selbstverständliche Antwort auf diese Frage mehr zur Verfügung steht. 18 Im politischen Diskurs über das Soziale, sofern es im Sozialstaat bzw. in Sozialpolitik Gestalt angenommen hat, ist die geschichtliche Dimension insofern evident, als in den entsprechenden Wissenschaften ein kritisches Narrativ dominiert, welches das Aufkommen, die Krise und für viele auch schon das absehbare Ende all dessen vor Augen führt, wofür dieser Begriff einst stand. Der sozialontologische Diskurs über den Anderen ist ähnlich jungen Datums wie der Diskurs über das Soziale. Beide Diskurse haben aber keineswegs nur ihre eigene diskursive Geschichte; vielmehr stehen sie nolens volens darüber hinaus in einem responsiven Verhältnis zu einer Geschichtlichkeit, die uns im Lichte radikaler Gewalt jegliche Selbstverständlichkeit in der Frage aus der Hand geschlagen hat, in welchem Verhältnis wir zum Anderen als solchem stehen und wie das für das Soziale maßgeblich sein müsste. Inzwischen gehen zwar beide Diskurse weitgehend getrennte Wege, so dass man den paradoxen Eindruck gewinnen kann, vom Anderen als solchem sei auch ohne Rücksicht auf das Soziale und von letzterem sei umgekehrt ohne Rekurs auf den Anderen als solchen zu reden. Dass diese Entwicklung nicht längst zu einer vollkommenen Dissoziation geführt hat, ist vor allem radikaler Gewalt zu verdanken, die beides zugleich in Frage stellt: den Anderen und das Soziale, das Angewiesensein des Anderen auf ein sozial organisiertes Zusammenleben und umgekehrt das Angewiesensein menschlichen Zusammenlebens auf einen starken Begriff unaufhebbarer Alterität, für die der Andere steht. Auf den folgenden Seiten werde ich von einem Chiasma 19 beider Fragestellungen, nicht aber

»Philosophy and Democracy«, in: Political Theory 9, no. 3 (1981), S. 379–399, hier: S. 382. 18 Siehe Anm. 92 zu Kap. XXX. 19 M. Merleau-Ponty, Vorlesungen I, Berlin 1973, S. 239; ders., Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, S. 209, 256, 274, 302, 328–333.

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von deren Identität oder von der Reduzierbarkeit der einen auf die jeweils andere ausgehen. Der Andere verlangt ebenso nach einem Begriff des Sozialen wie letzteres nach einem starken Begriff des Anderen. Die Überkreuzung beider Problematiken geht aber nicht bruchlos in einer dialektischen Synthese auf. Das macht besonders die Sozialphilosophie von Emmanuel Levinas deutlich, die aus den beteiligten Diskursen herausragt, weil sie wie keine andere der Spur jener Gewalt folgt und sich von ihr herausfordern lässt. 20 Dabei droht sie von dieser Herausforderung ihrerseits derart absorbiert zu werden, dass sie sich nur noch mit Mühe politisch deuten lässt. Die inzwischen weitgehend übersetzten politischen Schriften dieses Autors machen zwar unmissverständlich deutlich, dass er davon überzeugt war, die (zunächst asymmetrische) Beziehung zum Anderen verlange auch nach einer sozialen Organisation menschlichen Zusammenlebens. 21 Doch bleibt vielfach rätselhaft, wie unaufhebbare Alterität etwa einen sozialen, der Gleichheit und der Gerechtigkeit verpflichteten Staat inspirieren soll. Umgekehrt findet sich dort, wo letzterer bedacht wird, meist im Rekurs auf John Rawls’ Theorie der Fairness, praktisch keine Spur einer ›starken‹ Alterität – deren eigentümliche ›Stärke‹ paradoxerweise gerade in der Machtlosigkeit des Widerstands dagegen liegt, sozial und politisch vereinnahmt zu werden. 22 Ist die Aussicht, die beteiligten Diskurse einander wenigstens anzunähern und Querwege zwischen ihnen zu bahnen, überhaupt realistisch? Selbst das ist fraglich. Der entsprechende Versuch aber sollte unternommen werden, denn ein Diskurs über das Soziale, der vom Anderen als solchem keine Spur verriete, wäre eine ebenso bizarre, letztlich auch weltfremde Angelegenheit wie umgekehrt ein Diskurs, der vom Anderen unter Absehung vom Sozialen handeln würde. ›Weltfremd‹ deshalb, weil es weit mehr als nur ein Anfangs-

Vgl. Vf., »Einführung. Gewalt – Geschichte – Philosophie. Emmanuel Levinas’ Versuch über die Exteriorität in der Perspektive einer historisierten Sozialphilosophie«, in: ders. (Hg.), Der Andere in der Geschichte. Sozialphilosophie im Zeichen des Krieges. Ein kooperativer Kommentar zu Emmanuel Levinas’ Totalität und Unendlichkeit, Freiburg i. Br., München 22017, S. 30–64. 21 Vgl. u. a. E. Levinas, Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte, Freiburg i. Br., München 2006; ders., Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die Politik und das Politische, Berlin, Zürich 2007. 22 Wie sich zeigen wird in den Kapiteln X–XII (Teil C) in diesem Band. 20

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verdacht ist, dass soziales Leben, das sein Prädikat verdient 23, überhaupt nur durch Verhältnisse zwischen ›Anderen‹ Gestalt annehmen kann. Wir sprechen insofern von Lebensformen, in denen niemand je ›restlos‹ aufgehen kann, die vielmehr von unaufhebbarer Fremdheit ein für alle Mal gezeichnet bleiben. Nicht zuletzt deshalb wird hier keinerlei Synthese beabsichtigt; vielmehr geht es zunächst darum, zu zeigen, wie eine ihrerseits unvermeidlich historisierte, von radikaler Gewalt herausgeforderte Sozialphilosophie sowohl den Diskurs über das Soziale als auch die Rede von unaufhebbarer Alterität des Anderen aufnehmen muss, ohne dabei den Anspruch erheben zu können, letztere geradewegs zum Fundament des Sozialen bzw. des Sozialstaats zu machen oder umgekehrt diesen zum Maßstab gewissermaßen politisch gebändigter Alterität zu erheben. Ich beginne stattdessen mit einer Auslotung des ›historisierten‹ Profils einer als zeitgemäß erscheinenden Sozialphilosophie (Teil A), lasse dann Autoren zu Wort kommen, die ihr Denken dem Anderen als solchem gewidmet haben (Teil B), um anschließend zu erkunden, wie aus dessen Alterität, die selbst nach sozialer Würdigung verlangt, ein Widerstand gegen ihre Aufhebung in politisch formiertem Zusammenleben hervorgeht (Teil C).

Wie sich zeigen wird, haftet diesem Prädikat unvermeidlich eine Zweideutigkeit an, die zwischen deskriptiven und evaluativen Komponenten changiert. Was wir ›sozial‹ nennen, kann sich niemals in einer bloß ›formellen‹ Bezogenheit auf Andere erschöpfen – heiße sie nun appetitus societatis (H. Grotius), »Geselligkeit« (G. Vico), »ungesellige Geselligkeit« (I. Kant), »Mitsein« (M. Heidegger) oder »Soziation« (J.-L. Nancy) – oder in bestimmten, normativ ausgezeichneten Beziehungen aufgehen, die alle anderen als ›asozial‹ oder als ›antisozial‹ erscheinen lassen würden – von der Herrschaft des Tyrannen über die Gewalt des Seeräubers bis hin zu ›Verdammten‹ und ›infamen‹ Subjekten, die allesamt an jenem Diktum zweifeln lassen, das man seit Terenz in verschiedenen Fassungen kolportiert: »Nichts Menschliches ist mir fremd«. Vgl. M. T. Cicero, De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln (lat./dt.), Stuttgart 2003, S. 29, 155, 243, 247, 313; G. Steiner, Sprache und Schweigen, Frankfurt/M. 1973, S. 205 ff. – Es wird sich zeigen, dass jene Zweideutigkeit konstitutiv zum ›Phänomen des Sozialen‹ selbst gehört (und nicht bloß einer schwankenden Begrifflichkeit zu verdanken ist). Entscheidend ist allerdings, wie sie genau begriffen wird. So kann für Axel Honneth als ›sozial‹ offenbar nur gelten, was insgeheim darauf angelegt ist, »genuin sozial« zu werden, um endlich »Zwang, Beeinflussung und Nötigung« ganz und gar zu überwinden. Drohte aber nicht dort, wo es dazu gekommen wäre, das Soziale auch jeglichen sublunaren Anhalt einzubüßen und sich infolgedessen geradezu aufzulösen? Vgl. A. Honneth, Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung, Berlin 32016, S. 140 f. Siehe auch Anm. 126 zu Kap. I.

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Im zweiten Teil dieses Projekts handelt es sich um einen Perspektivenwechsel, der jenem Chiasma methodisch Rechnung trägt: statt von der Frage nach unaufhebbarer Alterität des Anderen auszugehen, die das Soziale nachträglich in den Blick bekommt, gehe ich das Problem direkt an, wie es in menschlichen Lebensformen Gestalt annimmt, um die Frage nach dem Anderen auf den zweiten Platz zu verweisen. In diesem cross over vom Anderen zum Sozialen und vom Sozialen zum Anderen kann sich infolgedessen eine Topografie menschlichen Zusammenlebens abzeichnen, die sich nicht an politischen Systemen, Herrschafts- und Regierungsformen, sondern am ereignishaften Geschehen des Sozialen orientiert. Wir leben einander ausgesetzt, in der Gewalt und im Erotischen 24, auf einander angewiesen und angesichts einer unaufhebbaren Alterität, die in responsiven, differenzsensiblen, nicht vollends normalisierbaren Beziehungen Furcht voreinander erzeugt, aber auch Vertrauen ineinander auf den Plan ruft; zwischen Liebe, Dissens und Hass, in versagter Anerkennung und vielfach erhoffter, aber verfehlter Gemeinschaft, die uns in die Flucht schlagen kann. 25 Was hier, in dieser vieldimensionalen und unerschöpflichen Topografie des Sozialen, buchstäblich ›zwischen uns‹ ständig geschieht, erfasst keine gängige, möglichst Abgeschlossenheit anzielende Theorie des Sozialen als eines ›Systems‹ oder eines ›Ganzen‹, das man als unweigerlich in ihm situiertes Wesen ohnehin nicht von außen betrachten kann. Ein anderes Denken im Zeichen dessen, was ›draußen‹ bleibt, ist gefragt; ein Denken, das viele ›Eingänge‹ und ›Ausgänge‹, ›Zu-‹ und ›Ausfahrten‹ aufweist, wie es einst Maurice Merleau-Ponty vorschwebte, und infolge dessen wie auch das Soziale selbst in verschiedenen Richtungen gleichsam begehbar bzw. befahrbar sein sollte. Letzteres »tritt niemals frontal auf, es ist bald Falle, bald Aufgabe, bald Drohung, bald Versprechen, bald hinter uns wie ein Gewissensbiß, bald vor uns wie ein Entwurf […]«. 26 Wir können es so wenig wie den Anderen als solchen je als distanziert objektivierbaren ›Gegenstand‹ vor uns bringen – wenn es denn zutrifft, dass wir, transitiv gesprochen, selbst das Soziale existieren – in Verhältnissen zu und mit Anderen, deren Alterität unaufhebbar

Aber gewiss doch nicht nur darin, wie es bei Jean-Luc Marion den Anschein hat: Das Erotische. Ein Phänomen, Freiburg i. Br. 2011, S. 85, 113. 25 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Ein Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br., München 1987, S. 373. 26 M. Merleau-Ponty, Die Abenteuer der Dialektik, Frankfurt/M. 1974, S. 187. 24

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bleibt. So gesehen steht uns nur die Möglichkeit offen, es in perspektivischen Ausschnitten zur Sprache zu bringen, von denen Andere immerhin diakritisch abweichen können, so dass wir in der Divergenz der Perspektiven stets mehr sehen werden, als ein Projekt je vor Augen zu führen vermag.

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Teil A Historische Profile des Sozialen

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Kapitel I Das Soziale heute: erfunden, (neu) entdeckt oder überholt? Der Mensch wird sein Heil und seine Identität nur mehr erlangen können, wenn er sich als Sozialwesen versteht, d. h. als ein Wesen, das von der »Gesellschaft« zugleich erschaffen, zerstört, entfremdet, drangsaliert, unterdrückt oder errettet wird. Es gibt kein Außerhalb der Gesellschaft mehr. François Ewald 1 [D. h. des] immer gegenwärtigen und doch immer verkannten Sozialen selbst. Raymond Aron 2

Das Soziale habe abgewirtschaftet, erklärt man uns, mal rechthaberisch, weil man das längst hat kommen sehen, mal mit Bedauern, als gelte es, sich endgültig von ihm bzw. von den Illusionen, die es genährt haben mag, zu verabschieden und sich auf harte post-soziale Zeiten einzustellen. Angeblich hat es keine Chance mehr gegen ein ›entfesseltes‹ Kapital, das uns alle, weltweit, in einer niemanden mehr verschonenden Ökonomie der Verschuldung im Griff habe. Eben deshalb gelte es, den ›Primat des Politischen‹ wiederherzustellen, meinen andere, die allerdings ebenfalls bezweifeln, ob das Politische auch als ›soziales‹ zu verstehen sein muss. So oder so, wurde in der einschlägigen Forschung festgestellt, befinde sich das Soziale in einer »tiefen Sinnkrise«. Mehr noch: das »Ende der Definition des menschlichen Wesens als eines sozialen Wesens« wurde ausgerufen und eine weitgehende »Zerstörung des Sozialen« prophezeit. 3 Unter dem Eindruck

F. Ewald, Der Vorsorgestaat, Frankfurt/M. 1993, S. 484, 489. R. Aron, Die Deutsche Soziologie der Gegenwart. Systematische Einführung in das soziologische Denken, Stuttgart 1969, S. 8. 3 C. Butterwegge, Krise und Zukunft des Sozialstaates, Wiesbaden 52014, S. 372 1 2

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einer durchgreifenden Ökonomisierung, Kulturalisierung, Ethnisierung, Biologisierung und Metrisierung der menschlichen Lebensverhältnisse bzw. ihrer diskursiven Repräsentation komme es zudem kaum mehr als solches angemessen zur Geltung. Ob man derartigen, mehr oder weniger alarmierten ›Zeitdiagnosen‹ beipflichten mag oder nicht, wir haben allen Grund zu fragen, was unter dem Titel ›das Soziale‹ überhaupt auf dem Spiel und zur Diskussion steht. Wie zeigt es sich, und seit wann? Waren ›wir‹ immer schon ›soziale Wesen‹ ? Helfen hier Fragen nach den Ursprüngen des Sozialen weiter? Ist es, wenn wir uns nur seiner Ursprünge vergewissern, wieder zu entdecken bzw. in Erinnerung zu rufen, um jene Krise zu überwinden? (Krisen sollen ja immerzu ›überwunden‹ werden, auch wenn der Verdacht besteht, gerade ihre unabsehbare Dauer mache sie aus.) Wurde das Soziale nicht vielmehr in der Moderne überhaupt erst erfunden? Und erweist es sich inzwischen der Realität heutiger und zukünftiger Lebensverhältnisse nicht mehr gewachsen und insofern als überholt? Ursprungsfragen gelten heute als ›metaphysisch belastet‹, insofern sie auf ein absolut Erstes oder absolut Letztes abzielen, von dem her alles Andere sich herleiten oder auf das hin es erst verständlich werden soll. 4 Die angeblich konsequent post-metaphysischen, sich niemals auf Absolutes berufenden Wissenschaften, die mit dem Sozialen befasst sind, verzichten jedenfalls auf derartige Rückgriffe und Vorgriffe, um sich auf Fragen nach empirischen Anfängen und nach der absehbaren Zukunft dieses ›Phänomens‹ zu beschränken. Doch ist zu bezweifeln, ob es allein dadurch schon greifbarer wird. So sind Paläoanthropologen auf Relikte von Bestattungspraktiken gestoßen, die als untrügliche Hinweise auf das Einsetzen einer sozialen Kulturgeschichte gelten. Doch diese Relikte verraten zunächst nur wenig über die untergegangenen Lebensformen, die derartige symbolträchtige Spuren hinterlassen haben. So bleibt es Spekulation, inwiefern diese Lebensformen rückblickend bereits als ›soziale‹ gelten können; sei es aufgrund einer gewissen Würdigung, die sie den Toten angedeihen ließen, sei es aufgrund von Praktiken solidarischer Kooperation zum Zweck der Subsistenzsicherung und der Verteidigung gegen Ge-

(= KZS); F. Fischbach, Manifest für eine Sozialphilosophie, Bielefeld 2015, S. 111; Z. Bauman, Flüchtige Moderne, Berlin 72016, S. 31, 210; siehe dort das Zitat von A. Touraine. 4 U. J. Wenzel (Hg.), Vom Ersten und Letzten. Positionen der Metaphysik in der Gegenwartsphilosophie, Frankfurt/M. 1998.

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walt und äußere Widrigkeiten, sei es in ihrer exogamen Verflechtung mit Fremden, sei es in ihrer Generativität, die es erforderlich machte, sich nicht nur kurzfristig um Nachwuchs zu kümmern. Erst seit dem 19. Jahrhundert werden diese Fragen systematisch erforscht 5, nachdem der Darwinismus die Vermutung erhärtet hatte, die menschlichen Lebensformen seien aus anderen, primitiveren, hervorgegangen, so dass auch das Soziale uralt sein müsse – vielleicht sogar älter als die Anthropogenese selbst, die »den Menschen« im »Dasein seiner für den anderen und des anderen für ihn« erst sozial werden ließ oder in Zukunft überhaupt erst zum wirklich »gesellschaftlichen« werden lassen sollte, wie Karl Marx im Anschluss an Charles Darwin meinte. 6 Dem steht die These gegenüber, das Soziale sei eine ziemlich junge Erfindung; und eine vergängliche noch dazu. Nach der neuzeitlichen, nicht selten ebenfalls auf das 19. Jahrhundert datierten invention du social (Jacques Donzelot 7) kann, wenn es sich wirklich nur um eine Erfindung handelt, in konfliktreichen Aushandlungs- und Definitionsprozessen womöglich nach eigenem Gutdünken mit ihm verfahren werden, wie es jüngste Bilanzen sozialpolitischen Handelns und sozialstaatlichen Denkens denn auch nahelegen. So etwa bei Stephan Lessenich, der meint, was als sozial gelten kann, werde inzwischen nahezu beliebig definiert. 8 Das Soziale würde die Menschen dann nicht von Anfang an bzw. ursprünglich und unabänderlich ausmachen, ob sie es wollen oder nicht; und sie könnten es auch wieder ›vergessen‹, wenn es ihnen nicht mehr wichtig erscheint. Der gleiche Verwiesen sei nur auf J. J. Bachofen, Das Mutterrecht: eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur, Stuttgart 1861; F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats im Anschluss an Lewis H. Morgans Forschungen [1884], Berlin 1946; P. Kropotkin, Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt [1902], Berlin, Frankfurt/M., Wien 1975/6, S. 113 ff. 6 K. Marx, »Ökonomisch-Philosophische Manuskripte« [1844], in: Texte zur Methode und Praxis II. Pariser Manuskripte, Reinbek 1968, S. 77; ders., Texte zu Methode und Praxis III. Der Mensch in Arbeit und Kooperation. Aus den Grundrisssen der Kritik der politischen Ökonomie 1857/8, Reinbek 1967, S. 150. 7 J. Donzelot, L’invention du social. Essai sur le déclin des passions politiques, Paris 1994 (= IS); vgl. G. Deleuze, »Der Aufstieg des Sozialen«, in: J. Donzelot, Die Ordnung der Familie, Frankfurt/M. 1980, S. 244–252. 8 Dass man der Rhetorik der Erfindung längst müde geworden ist, wie Derrida u. a. unter Hinweis auf Donzelot feststellt, mag nicht zuletzt daran liegen, dass man weder diesen Begriff noch auch die Assoziation von ›bloßer‹ Erfindung mit angeblich beliebigen Möglichkeiten der Umdefinition des Erfundenen radikal bedacht hat; vgl. J. Derrida, Psyche. Erfindung des Anderen, Wien 2011, S. 79, 96 (Anm. 66). 5

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Autor behauptet allerdings, die – von manchen als »größte Kulturleistung der Europäer« eingestufte – »Erfindung« des Sozialstaats habe gleichursprünglich zur »›Entdeckung‹ des Sozialen« geführt. 9 Hat also erst diese moderne Erfindung, die viele mit dem Anspruch aller auf soziale Gerechtigkeit geradezu identifizieren 10, die Aufmerksamkeit auf das nachträglich entdeckte – und insofern keineswegs arbiträr ›definierbare‹ – Soziale gelenkt, so dass es nun den Anschein haben kann, als hätten die Menschen ihr Zusammenleben und die Ansprüche, welche ihnen aus ihren Beziehungen erwachsen, vorher nur »völlig übersehen«, wie bereits Karl Polanyi mutmaßte? 11 Dürfen wir annehmen, dass das nun nicht länger der Fall ist, da uns das Soziale längst überreichlich als etablierter Gegenstand einer Vielzahl von einflussreichen Diskursen begegnet – von der Sozialpolitik über die Soziologie, die Sozialpsychologie und die Sozialpädagogik bis hin zur Sozialphilosophie? Zwar ist die Rede vom Sozialen jüngeren Datums und etymologisch, begriffs- und ideengeschichtlich nicht sehr weit zurück zu verfolgen. 12 Doch hat sie inzwischen derart Karriere gemacht, dass ironischerweise gerade dadurch der Blick auf die diversen Phänomene, die es ausmachen, weitgehend verstellt werden konnte. Wenn alles sozial ist, ist nichts sozial. Jede aktuelle Rückbesinnung auf das Soziale sieht sich deshalb mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass es allgegenwärtig zu sein und alles zu erfassen scheint, so dass es gerade dadurch wiederum unerkennbar und als Begriff nutzlos zu werden droht. Aber warum sollte man das überhaupt bedauern? Steht die Rede vom Sozialen nicht ohnehin längst unter einem verschärften Ideologieverdacht, ohne uns noch etwas darüber zu lehren, was und wer wir im Verhältnis zueinander sind, wie unsere ›Beziehungen‹ zueinander einzurichten wären und welche (politischen) Formen sie annehmen sollten? Mit dieser Frage setze ich im Folgenden ein (1.), um 9 S. Lessenich, Theorien des Sozialstaats zur Einführung, Hamburg 2012, S. 11, 14, 138 (= TS); E. Eichendorfer, Geschichte des Sozialstaats in Europa. Von der »sozialen Frage« bis zur Globalisierung, München 2007, S. 16. 10 Für Butterwegge ist dies schlicht die »Gretchenfrage« des Sozialen, die er mit J. Habermas als Aufgabe »sozialstaatlicher Universalisierung der Bürgerrechte« bzw. »sozialer Bürgerschaft« auffasst; KZS, S. 10, 415; J. Habermas, Die nachholende Revolution. Kleine politische Schriften VII, Frankfurt/M. 1990, S. 192. 11 K. Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen [1944], Frankfurt/M. 1978, S. 122. 12 K. Röttgers, Kategorien der Sozialphilosophie, Magdeburg 2002, bes. S. 25–73 (= KS).

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Das Soziale als Ideologie der Homogenität und Depolitisierung

sodann die Rede vom Sozialen in historischer Perspektive aufzugreifen (2.), die nach zwei Weltkriegen, welche auch diese Rede radikal in Mitleidenschaft gezogen haben, zu einem Neuanfang zwingt (3.). Das wird übersehen in der heute dominanten Kritik an einer vermeintlich überhand nehmenden Sozialstaatlichkeit, die man auf eine durchgängige Verstaatlichung des Sozialen meinte hinauslaufen zu sehen (4.). Dagegen ist ein weiter zu fassender Begriff des Sozialen in Schutz zu nehmen, demzufolge wir nicht nur oder erst als Objekte sozialstaatlicher Politik und Gouvernementalität sozial existieren, sondern von Anderen immer schon in einem Dasein füreinander in Anspruch genommen sind. Wie, das muss eine Revision des Sozialen (5.) zeigen – im Lichte radikaler Gewalt, die jegliches Verhältnis zu Anderen scheint auslöschen oder vergleichgültigen zu können. So gesehen steht ungeachtet der mit der Sozialphilosophie der Neuzeit, der sogenannten »sozialen Frage« im 19. Jahrhundert und der mit den Wohlfahrtsstaaten der Nachkriegszeit des Westens verknüpften Karriere des Sozialen nach wie vor dessen elementarste Bedeutung auf dem Spiel. 13 Dass es als Gesellschaftliches, sogar als Weltgesellschaftliches, angeblich inzwischen alles und jeden rückhaltlos erfasst hat, sollte darüber ebenso wenig hinwegtäuschen wie fragwürdige Zeitdiagnosen, die es bereits als ganz und gar anachronistisches Phänomen erscheinen lassen.

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»Alles ist sozial geworden«, nichts vermag sich ihm mehr zu entziehen; selbst in den »kleinsten Nuancen« spürt man es noch auf, so dass die Zeit nicht mehr fern sein kann, in der es als »vollkommen ausgelotet« gelten wird. So lautete bereits vor Jahrzehnten die zweifellos polemisch gemeinte, aber gewiss nicht einfach als übertrieben abzutuende Diagnose Jean Baudrillards unter dem Titel Die göttliche Linke (1985/6). 14 Was der Autor schonungslos bloßstellt, beschränkt Dagegen begreift Alain Ehrenberg das Soziale lediglich als »Korrekturprinzip gegenüber dem Ökonomischen«. So wird ihm eine nachgeordnete Funktion zugewiesen; und die radikale Herausforderung, die in unaufhebbarer Gewalt liegt, kommt nicht in den Blick. A. Ehrenberg, Das Unbehagen in der Gesellschaft, Berlin 2012, S. 302. 14 J. Baudrillard, Die göttliche Linke. Eine Chronik der Jahre 1977–1984, München 1986, S. 32 f. (= GL). 13

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sich keineswegs auf eine inzwischen kaum mehr aktuelle »Chronik der Jahre 1977–1984«, wie der Untertitel seines Pamphlets lautet. Keineswegs geht es Baudrillard nur um die Abrechnung mit einer seinerzeit scheinbar dem Sozialen verfallenen gesellschaftskritischen Generation, sondern um die radikale Kritik eines mehrfachen, nach wie vor anhaltenden Vergessens, aufgrund dessen nicht weniger als unser Leben selbst auf dem Spiel steht – wenn die Diagnose des Autors zutrifft, dass tatsächlich niemand je »die meiste Zeit als Sozialwesen« lebt, dass es also ein wesentlich nicht-soziales, sich zum Sozialen notwendigerweise heterogen verhaltendes Leben gibt, das im Zuge einer ideologischen Verblendung vollkommen aus dem Blick gerät, wenn man ernsthaft glaubt, eine homogenisierte Sozialität könne oder solle uns gewissermaßen restlos erfassen. Offensichtlich ist diese Diagnose zwiespältig, ja widersprüchlich. Kann denn überhaupt »alles sozial« werden, wenn sich unser Leben zum Sozialen wesentlich »heterogen« verhält? Als Beleg seiner These, dass es dessen ungeachtet zu einer Hegemonie des Sozialen gekommen ist, bietet Baudrillard disparate Befunde auf, die nicht ohne weiteres einen gemeinsamen Nenner erkennen lassen. So sei alles und jeder dem »Sieg des Tauschwertes um jeden Preis« unterworfen (GL, S. 15); das Austausch- und Vertauschbare werde einer nichts mehr auslassenden Interaktion, der Kommunikation im Modus des Wissens und der Information unterzogen, die jegliche »Ferne« tilge; so triumphiere eine nichts mehr verschonende »Inklusion«, die nichts Heterogenes und Negatives mehr zulasse bzw. kenne. Am Ende herrsche eine nichts mehr ›draußen‹ lassende Homogenität 15, der man sich im Namen ursprünglicher Lebensformen nur noch mit Gewalt widersetzen könne (GL, S. 101). Wer an das derart homogenisierte Soziale glaube, sei dazu gezwungen, es ständig zu simulieren – da, das unterstellt Baudrillard nebenbei, in Wahrheit niemand restlos in einem derart verkümmerten Sozialen aufgehen kann. Tatsächlich sind wir dem Heterogenen ausgesetzt, das bei diesem Autor unter ganz verschiedenen Titeln firmiert: als Verfemtes, als Unversöhnbares, schließlich auch als Böses. All dem steht bei Baudrillard die repressive Herrschaft des Sozialen entgegen, die wir anscheinend Robert Castel spricht in der Tat von einer »Gesellschaft der Ähnlichen«, aus der »niemand ausgeschlossen« sei. So könne man geradezu soziale Bürgerschaft definieren; Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat, Hamburg 2005, S. 132.

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dem Kapital bzw. einer gewinnträchtigen Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse zu verdanken haben (GL, S. 23). Diese habe sich derart penetrant durchgesetzt, dass die Simulation des Sozialen, dem unser Leben in Wahrheit gar nicht zu unterwerfen sei, allenfalls noch mit Gewalt, notfalls auch mittels des Bösen, zu durchbrechen sei. Tatsächlich geriert sich dieser Theoretiker der nichts mehr verschonenden Simulation als Beschwörer einer »heterogenen« Wahrheit, ja einer Heterogenität des Wahren, das weder ökonomisierbar noch kapitalisierbar, weder sozialisierbar noch im Modus des Wissens kommunizierbar sei. So wird das Soziale polemisch mit einer nichts mehr außer sich gelten lassenden Homogenität kurzgeschlossen, die alles unterdrücken muss, was Leben in Wahrheit ausmacht. Gewiss: Baudrillard enthält sich dieses Begriffs, um zu vermeiden, das, was Leben ausmacht, einer faden ›sozialen‹, diskursiv alle Wahrheit für sich beanspruchenden Kommunikation auszuliefern, die es unweigerlich homogenisieren müsste, wie er befürchtet; aber die appellative Diktion seiner Polemik suggeriert doch genau dies: Das Soziale beherrsche uns auf kaum noch zu ertragende Art und Weise, insofern es ein »heterogenes«, aber inzwischen weitgehend zum Schweigen gebrachtes Leben gibt, das sich keiner Ökonomie, keinem Wissen, keiner Dialektik der Versöhnung mit dem Negativen, Irrationalen und Bösen unterwerfen lässt, auf die man, rückhaltlos dem Sozialen und seiner politischen Zukunft verpflichtet, »trügerische Versprechen des Politischen« meinte gründen zu können (GL, S. 64). Früher nannte man das Sozialismus – in der Hoffnung auf eine »bessere Zukunft« 16, die Baudrillard im Vorhinein gleich mit verabschiedet. 17 Tatsächlich leben wir jenes Leben; aber es lässt sich weder als ›soziales‹ beschreiben noch gar rechtfertigen. Schon gar nicht im Lichte einer Aufklärung, die noch die finstersten Abgründe unseres Lebens aufzuhellen versprach. Kein Wunder, dass Baudrillard schließlich zum Begriff des Geheimnisses greifen muss (GL, S. 115 ff.), in dem das unüberwindlich Heterogene eine Heimat haben soll, der sich das Soziale in Wahrheit niemals scheint bemächtigen zu können, obgleich es als eine Ideologie genau daran glauben lässt, die anästhetisch den Sinn für das Heterogene betäubt und verkümmern lässt, das allerdings im 16 M. Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Frankfurt/M. 1971, S. 126; Gespräche mit Herbert Marcuse, Frankfurt/M. 1996, S. 133. 17 J. Baudrillard, Das Jahr 2000 findet nicht statt, Berlin 1990.

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Spiel bleibt und sich durch nichts wirklich liquidieren oder aufheben lässt. Mit solcher Kritik steht Baudrillard keineswegs allein. Er verweist schließlich selbst auf Georges Batailles Theorie der Verschwendung und des Opfers (GL, S. 115 f.) als Beleg eines nicht moralisierbaren, nicht rationalisierbaren, heterogenen und nicht transparent zu machenden »verfemten« Lebens, das man im Zeichen der Ideologie des Sozialen einfach nicht wahrhaben wolle. Schlagen in die gleiche Kerbe nicht auch Philosophen wie Søren Kierkegaard mit seiner Verteidigung des einzelnen, vom Allgemeinen ausgenommenen Selbst, Friedrich Nietzsche mit seiner Apologie des souveränen Menschen, Roger Caillois mit seinem Begriff des Sakralen, Emmanuel Levinas mit seiner Ethik unaufhebbarer alterité, Jacques Derrida mit der différance, Maurice Blanchot mit dem Begriff des Neutralen, Jacques Lacan mit seiner Psychoanalyse des Realen, Theodor W. Adorno mit seiner Negativen Dialektik des Nicht-Identischen, Michel Foucault mit seiner Genealogie des Anormalen und zuletzt Bernhard Waldenfels mit seiner Phänomenologie der Fremdheit? 18 Insistieren nicht alle diese Autoren, trotz tief greifender Divergenzen, die sie trennen, in der einen oder anderen Weise auf einer Exteriorität, die sich dialektisch nicht verarbeiten, geistig nicht aufheben und sozial nicht kapitalisieren lässt? In der Tat zeigt sich darin ein wesentliches Moment der Philosophie des 20. Jahrhunderts: sich der Vorstellung zu widersetzen, es dürfe »überhaupt nichts mehr draußen sein«. 19 Hier kommt es aber allein darauf an, ob jene scheinbar unüberwindlich Vgl. zu Kierkegaard die Beiträge von K. Löwith und P. Ricœur in M. Theunissen, W. Greve (Hg.), Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, Frankfurt/M. 1979, S. 539–556, 579–596; R. Caillois, L’homme et le sacré, Paris 1950; J. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt/M. 1979, S. 140 und Kap. VII; E. Levinas, Parole et Silence et autres conférencs inédites au Collège philosophique. Œuvres 2, Paris 2009, S. 237; M. Blanchot, Das Neutrale. Philosophische Schriften und Fragmente, Berlin, Zürich 2010, S. 23 ff.; E. Roudinesco, Jacques Lacan, Köln 1996, S. 214, 328; T. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1975, S. 149; M. Foucault, Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974–1975), Frankfurt/M. 2003; B. Waldenfels, Studien zur Phänomenologie des Fremden 1–4, Frankfurt/M. 1997–1999. 19 »Weil die bloße Vorstellung des Draußen die eigentliche Quelle der Angst« sei, spekulieren M. Horkheimer und T. W. Adorno in der Dialektik der Aufklärung [1947], Frankfurt/M. 1979, S. 18. Diese Angst, der am Ende »alles ›andere‹« als »Fremdes, Äußeres und als solches zunächst verdächtig« gilt, erweist sich dann aber als zutiefst ambivalent angesichts einer »Welt, die ohne Ausgang ist« (ebd., S. 29; H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft 1, Frankfurt/M. 131980, S. 106). 18

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heterogene Exteriorität nur dem Sozialen schroff entgegenzusetzen ist oder ob sie ihm nicht vielmehr innewohnt. Sollte es wirklich zutreffen, dass gerade diese Exteriorität unser Leben ausmacht, wie die genannten Autoren insinuieren, dann wäre es höchste Zeit, sich entweder vom Sozialen zu verabschieden oder aber die Hegemonie der homogenisierten Sozialität in die Schranken zu weisen und neu zu bedenken, inwiefern wir im Verhältnis zu einander unüberwindlich heterogen sozial sind. Trifft es zu, dass jene Exteriorität dem Sozialen innewohnt, dann ist Baudrillards Kritik so zu verstehen, dass sie keineswegs darauf hinauslaufen muss, den Begriff des Sozialen als pure Ideologie zu verwerfen, sondern danach verlangt, ihn radikal zu revidieren. Genau darauf läuft auch eine Kritik des Sozialen hinaus, die in der zweifelhaften Karriere, welche dieser Begriff in der Neuzeit und insbesondere seit dem 19. Jahrhundert im Zeichen der sog. »sozialen Frage« erlebt hat, eine beispiellose Verdrängung des Politischen zu erkennen meint und nach dessen Rehabilitierung verlangt. Wie Mehltau legt sich das Soziale über alles und jeden, wenn als ›sozial‹ alles zu gelten hat, was kommunikativ in irgendeiner Art und Weise an Anderes anschließt, um etwas medial ›passieren‹ zu lassen, wie man es von Niklas Luhmann über Kurt Röttgers bis hin zu Dirk Baecker und Bruno Latour beschrieben hat. Was sollte sich dem Sozialen dann noch entziehen können? 20 Gibt es nicht alles nur vermittels solcher kommunikativer Anschlüsse und Vernetzungen? Vermag sich überhaupt etwas dagegen zu behaupten, auf diese Weise im Sozialen aufgesogen zu werden? In einem Sozialen, das einerseits maximal ausgedünnt erscheint (insofern es nur noch darin liegt, dass irgendwie etwas an etwas anderes kommunikativ angeschlossen bzw. vernetzt wird) und andererseits maximal ausgeweitet sein muss, wenn es zumal als virtuelles, digitalisiertes, epistemisches und metrisierbares scheinbar global alles erfassen kann? 21 Beherrscht es uns N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1985, Kap. 3; D. Baecker, Wozu Gesellschaft?, Berlin 2007, S. 7 f.; K. Röttgers, Das Soziale als kommunikativer Text. Eine postanthropologische Sozialphilosophie, Bielefeld 2012, S. 11, 118, 123; B. Latour, Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Berlin 2014; siehe dazu die Rezensionen d. Vf., in: Philosophischer Literaturanzeiger 67, Nr. 4 (2014), S. 366–375; »Zur Rekonfiguration der Sozialphilosophie. Ontologie – Phänomenologie – Kritik«, in: Philosophische Rundschau 60, Heft 2 (2013), S. 91–129. 21 Vgl. Lessenich, TS, S. 60; S. Mau, Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen, Berlin 2017. 20 2

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nicht unter diesen Bedingungen als soziale Kommunikation und als soziales Wissen? Aber warum sollte man an dieser Stelle überhaupt von Herrschaft sprechen, wenn wir in sozialer Kommunikation und in sozialem Wissen ›restlos‹ aufgehen? Gibt es keine Distanz zu sozialer Kommunikation und zu sozialem Wissen, so lässt sich auch nichts Beherrschtes mehr ausmachen. 22 Wir alle würden in der Immanenz des Sozialen ganz und gar aufgehen, die man unter Berufung auf Spinoza und Gilles Deleuze in den letzten Jahrzehnten denn auch ausgiebig gefeiert hat, verspricht sie doch, mit lästigen Hinweisen auf unüberwindlich Heterogenes Schluss zu machen, das uns ironischerweise unter ihrerseits heterogenen Titeln wie Exteriorität, Alterität, Differenz und Fremdheit begegnet. 23 Braucht man andererseits derartige Begriffe, um eine andere Vorstellung von Sozialität zur Geltung bringen zu können, die nicht als hegemoniale Ideologie des Sozialen abzutun ist? Und braucht man sie, um eine Herrschaft zurückweisen zu können, mit der Vorstellungen von einer homogenisierten Sozialität verbunden sind, wenn Baudrillard Recht hat? Positiv gewendet: lässt sich eine heterogene Sozialität verteidigen, die nicht derart ideologieverdächtig wäre und es uns gestatten würde, ihre Homogenisierung als womöglich gewaltträchtige Form der Herrschaft zu verstehen? Über was aber, und über wen? Homogenisieren im transitiven Sinne des Wortes kann man ohnehin nur, was nicht von sich aus bereits homogen ist. Insofern ergibt ein Begriff homogener Sozialität keinen rechten Sinn, wenn er nicht mit einer Vorstellung davon verknüpft ist, was sie homogenisiert. Homogene Sozialität ist allemal homogenisierte Sozialität. Es fragt sich nur, um welchen Preis, zu welchem Zweck, durch wen vorangetrieben, wie weit gehend, mit welchen Folgen usw. 24 Zweifellos Vgl. G. Deleuze, Foucault, Frankfurt/M. 1987, S. 153, sowie S. Lessenich, Die Neuerfindung des Sozialen, Bielefeld 2008, S. 14, 93, wo im Anschluss an G. Simmel von einer »Herrschaft des sozialen Gesichtspunktes« als einer »Unterwerfung der Subjekte« die Rede ist. 23 Bei näherem Hinsehen zeigt es sich jedoch, wie radikal Anderes auch in jener Immanenz wieder zum Vorschein kommt, wenn wir G. Agamben folgen: Bartleby oder die Kontingenz gefolgt von Die absolute Immanenz, Berlin 1998, S. 87. 24 Der historisch beileibe nicht einzige, aber gewaltträchtigste Fall ist gewiss die nationalstaatliche bzw. -politische Homogenisierung des Sozialen – teils unter Rückgriff auf den antiken pólis-Begriff, teils durch nationalistische Rhetorik und Hass-Rede (wie im Fall E. M. Arndts), die ein »niemals […] als allgemeines und nationales Selbst dagewesenes Selbst« originär erzeugen sollte (freilich unter Berufung auf älteste Ursprünge). Vgl. die Fallstudie zu arabischen Adaptionen sowohl jenes Begriffs als auch 22

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kann man soziales Leben zu homogenisieren versuchen. Gerade die Genealogie moderner Staatlichkeit weist auf zahlreiche Beispiele dafür hin – vom Aufkommen der modernen Bevölkerungswissenschaft und der demographischen Statistik, die für neue, besonders allgemeiner Sicherheit verpflichtete Techniken des Regierens in Dienst genommen wird 25, über den mit ihnen verknüpften Normalisierungsdiskurs 26, der das Leben und die Gesundheit der Einzelnen ebenso erfasst wie die gesellschaftliche, weitgehend auf das Nützliche ausgerichtete Basis des Staates 27, bis hin zu eminent gewaltträchtigen Konzeptionen von Ethnizität und Nationalität, die darauf hinauslaufen, nur kulturell zu verstehende, vielfach aber essentialistisch und ahistorisch definierte Zugehörigkeiten mehr oder weniger exklusiv mit territorialen, staatlich fixierten Grenzen eindeutig zur Deckung zu bringen. 28 Verstehen wird man diese Genealogie diverser Homogenisierungsprozesse allerdings nur, wenn man sich auch einen Begriff davon macht, was Heterogenität bedeutet – und inwiefern sie sich möglicherweise als unüberwindlich erweist. Bevor man wie Baudrillard infolge einer zweifellos überzeichneten und ausweglosen Diagnose der Gegenwart selbst zu gewaltsamen oder mysteriösen Gegenmitteln (zum Bösen oder zum Arkanen) greift, um ein zuvor gewaltsam homogenisiertes Soziales zu durchkreuzen, lohnt es sich, der deutschen Romantik von Bassam Tibi, der vielfach von Homonisierung spricht, aber offenlässt, was sie (mit Erfolg oder teilweise oder vergeblich …) homogenisiert: Vom Gottesreich zum Nationalstaat. Islam und panarabischer Nationalismus, Frankfurt/M. 1987, zur pólis S. XIX, 129 (von Ibn Khaldun bis Sati’ Husri), zur Anlehnung an deutsche Volksbegriffe (J. G. Herder, J. G. Fichte, E. M. Arndt), S. 122 ff., zur Homogenität bzw. Homogenisierung darüber hinaus S. 25. Mit Recht wird aber mit Ibn Khaldun betont, dass die ›ursprüngliche‹ Verwandtschaft und gemeinsame Abstammung »nirgendwo in Wirklichkeit […] gegeben« seien (S. 129). 25 M. Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977–1978, Frankfurt/M. 2004, S. 69 ff., 104, 117 ff., 124 (Anm. 13), 132 f.; Donzelot, IS, S. 173, 201. 26 Einschlägig dazu nach wie vor: G. Canguilhem, Das Normale und das Pathologische [1943; 1963/6], München 1974; B. Waldenfels, Grenzen der Normalisierung, Frankfurt/M. 1998; J. Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen 42013. 27 M. Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978–1979, Frankfurt/M. 2004, S. 411. 28 Vgl. E. Gellner, Nationalismus und Moderne, Berlin 1995; B. Anderson, Die Erfindung der Nation, Berlin 1998; M. Wolffsohn, Zum Weltfrieden. Ein politischer Entwurf, München 22015, S. 30, 35, 77; J. M. Piskorski, Die Verjagten. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts, Berlin 2015.

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die Geschichte des Sozialen noch einmal der Revision zu unterziehen, um zu sehen, ob ihm nicht eine unüberwindliche und nicht zu beherrschende Heterogenität innewohnt und ob es insofern nicht in Schutz zu nehmen ist vor einer rigorosen Ideologiekritik, die es am Ende ganz verwirft – paradoxerweise in einer Zeit, wo es bereits todkrank darnieder zu liegen scheint 29 und als »Irrtum der Geschichte« verächtlich für überholt erklärt wird (KZS, S. 36). Das wäre allerdings gar nicht zu bedauern, wenn man all jenen, die für das Soziale eintreten, indem sie etwa nach solidarischer und gerechter Sozialpolitik sowie nach einem entsprechenden Sozialstaat verlangen, zur Last legen müsste, mit dem Sozialen geradezu das Politische, von dem angeblich die eigentliche Vitalität gemeinsamen Lebens abhängt, ersetzen oder okkupieren zu wollen. Kritiker des Sozialen von Hannah Arendt (an die auch Baudrillard anknüpft; GL, S. 37) über Jacques Donzelot bis hin zu Jacques Rancière, die tatsächlich diesen Vorwurf erheben 30, sehen darin eine veritable Perversion des Politischen und keineswegs eine unverfängliche ›sozialpolitische‹ Ergänzung oder Umakzentuierung eines genuin politischen Staatsverständnisses. Demnach ist das Soziale nicht etwa ein wichtiges Komplement, eine Steigerung oder gar Fundierung des Politischen, das seinem Sinn nach dem entsprechend geradezu als Sozial-Politisches zu definieren wäre, sondern beweist in seiner Karriere im Ge-

Verwiesen sei nur exemplarisch auf A. Giddens, Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie, Frankfurt/M. 1997. Dieser Autor sieht den Sozialstaat engstens an die Vorstellung von einer »vollbeschäftigten« Gesellschaft geknüpft, in der Lohnerwerbsarbeit vor allem von Männern geleistet wird. Dass diese Vorstellung in wesentlichen Punkten inzwischen als überholt gelten muss, zeigt die Diskussion um den sog. Dritten Sektor »nichtkommerzieller Gesellschaft« bzw. um eine économie sociale, die nicht vom Staat abhängt, unentgeltlich funktioniert und ›sinnvolle Beschäftigung‹ von den Fesseln der Erwerbsarbeit befreit, in einer Zeit, der vielfach die Arbeit ausgeht und die »Überflüssigkeit« en masse produziert. Siehe J. Rifkin, Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft. Neue Konzepte für das 21. Jahrhundert, Frankfurt/M. 22007, S. 37, 39, 193 ff. Für Rifkin hat sich dieser Sektor als der in Wahrheit grundlegende herausgestellt (S. 44). 30 H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 41985, S. 28 ff.; dies., Über die Revolution, München, Zürich 41994, S. 75, 79, 145 [= ÜR]; dies., In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken II, München 2000, S. 134; Donzelot, IS, S. 67; ders., »Der Untergang der Romantik. Für einen neuen öffentlichen Geist«, in: D. Kamper, C. Wulf (Hg.), Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, Frankfurt/M. 1987, S. 450–463; J. Rancière, Der Philosoph und seine Armen, Wien 2010, S. 288, 299 f. 29

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genteil nur, wie sehr man das Politische missverstanden, deformiert und schließlich pervertiert hat. Während Baudrillard jene »trügerischen Versprechen des Politischen« engstens mit der Herrschaft des ›homogenisierten Sozialen‹ verknüpft sieht und sich von letzterem ebenso wie vom Politischen im gleichen Zug einer Apologie des Heterogenen zu distanzieren sucht, setzen die Autoren, die sich für eine Renaissance des Politischen eingesetzt haben, den Akzent ihrer Kritik noch einmal anders, indem sie die angebliche Vorherrschaft des Sozialen als Okkupation des Politischen zurückweisen. Statt das Soziale und das Politische wie Baudrillard (aufgrund einer impliziten Gleichsetzung 31) in einem Zug zu verwerfen, verlangen sie gerade nach einer Rückbesinnung auf das ›genuin‹ Politische, das nicht sozial zu vereinnahmen sei. In diese Kerbe schlägt grosso modo die seit den 1970er Jahren unter anderem von Miguel Abensour, Claude Lefort, Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy betriebene ›Rehabilitierung‹ eines radikalen Begriffs des Politischen. 32 So gut wie nie verteidigt sie das Soziale. 33 So radikal sie sich vielfach gebärdet, so widerstandslos fügt sie sich im Rückblick in eine Agonie des demokratischen Sozialstaats ein, der neoliberale Politik mit tatkräftiger Beteiligung von Sozialdemokraten spätestens seit den 1990er Jahren massiv nachgeholfen hat (TS, S. 116). 34 Die Rehabilitierung des Politischen proWie man sie auch bei François Ewald findet, der von einer Verschmelzung des Sozialen mit dem Politischen im Vorsorgestaat spricht; Der Vorsorgestaat, S. 25. 32 Vgl. G. Raulet, Gehemmte Zukunft. Zur gegenwärtigen Krise der Emanzipation, Darmstadt 1986, S. 88, 91; P. Lacoue-Labarthe, Die Fiktion des Politischen, Stuttgart 1990; ders., J.-L. Nancy, »Ouverture«, in: L. Ferry et al., Rejouer le politique, Paris 1981, S. 11–28; dies., »Le ›rétrait‹ du politique«, in: J. Rogozinski et al., Le rétrait du politique, Paris 1983, S. 183–200; C. Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen?, Wien 1999; M. Abensour, Demokratie gegen den Staat, Berlin 2012. 33 Vgl. aber die entsprechenden, gegen eine angebliche Auflösung des Staates im Sozialen gerichteten Hinweise auf einen Primat des letzteren, der nicht diese Konsequenz haben soll, bei Hajo Schmidt, Sozialphilosophie des Krieges. Staats- und subjekttheoretische Untersuchungen zu Henri Lefebvre und Georges Bataille, Essen 1990, S. 164 f., 250, 263, 281, 295. 34 Die ebenfalls darauf hinauslaufende brillante Diagnose von Wolfgang Streeck halte ich im Wesentlichen für zutreffend; W. Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Erweiterte Ausgabe, Berlin 2015 (= GZ). Sie wäre allerdings in sozialpolitischer Hinsicht vielfältig zu ergänzen unter Hinweis auf die Ausbreitung realer Armut, eines Lebens in dauernder Knappheit und in einem »Wohlstand auf Widerruf«. Bereits in den 1990er Jahren befanden mehr als 60 % der deutschen Bevölkerung in derartigen Lebenslagen. Vgl. M. Vester, »Von der Integra31

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pagiert eine – in Anbetracht der Exzesse des Finanzkapitalismus als geradezu nostalgisch erscheinende – radikale Revision der antiken Grundlagen des Begriffs, in denen das Soziale als solches prima facie gar nicht zu erkennen ist. Infolgedessen nimmt sie es auch nicht in Schutz und schreibt sich so in eine Geschichte politischer Geringschätzung des Sozialen ein. So steht die Rede vom Sozialen von zwei Seiten her massiv unter Druck. Die einen werfen ihr eine gewaltträchtige Homogenisierung der menschlichen Lebensverhältnisse vor, die es endlich abzuschütteln gelte; die anderen machen ihr zum Vorwurf, letztere um ihre politische Substanz zu bringen. In beiden Fällen wird das Soziale als eine erst der Moderne zu verdankende, unbedingt zu überwindende Hegemonie zurückgewiesen: als Unterdrückung alles wahrhaft Heterogenen einerseits, als Liquidierung des Politischen andererseits. Beide Positionen können sich vermittlungslos gegenüberstehen, so dass es den Anschein hat, das Heterogene und das Politische seien in überhaupt kein Verhältnis zu setzen. Beide Positionen können aber auch in die gleiche Richtung eines politischen Denkens weisen, das dem Heterogenen gerecht zu werden verlangt und letzteres als Herausforderung einer politischen Theorie begreift, die es nicht zum politisch ›Aufhebbaren‹ verharmlost. Andernfalls mündet die Kritik des Sozialen in den doppelten Vorwurf, es repräsentiere nichts anderes als die Vorstellung einer depolitisierten Homogenität bzw. einer homogenisierten Entpolitisierung. Diese Kritik traut dem Sozialen offenbar weder zu, unüberwindlicher Heterogenität gerecht zu werden, noch auch, nicht in eine depolitisierte Ideologie umzuschlagen. Das ist Grund genug, das ideengeschichtliche Profil dieses Begriffs noch einmal in Erinnerung zu rufen – bevor man das Soziale, womöglich doch vorschnell, preisgibt, mit der unvermeidlichen Nebenfolge, auch dem Sozialstaat die letzte theoretische Basis zu entziehen und ihn einer

tion zur sozialen Destabilisierung: Das Sozialmodell der Bundesrepublik und seine Krise«, in: C. Leggewie, R. Münch (Hg.), Politik im 21. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2001, S. 75–121, hier: S. 92 ff. Hinzu kommen Phänomene der Segregierung, der Deklassierung und Verwahrlosung ganzer Stadtteile, der Vernachlässigung öffentlich geförderten, bezahlbaren Wohnraums zugunsten massiver Privatisierung, mit der Folge, dass immer mehr Menschen nur noch ein sozial marginalisiertes Leben leben können; und zwar umso mehr, wie sie ihrerseits Andere zu versorgen haben (Kinder, Kranke, Alte). So tendiert der Sozialstaat dahin, die soziale Sorge für Andere weitgehend zu privatisieren.

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Das Soziale in historischer Perspektive

Agonie zu überlassen, mit der eine entfesselte Globalisierung kurzen Prozess zu machen droht.

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Das Soziale in historischer Perspektive

Bekanntlich ist das Soziale kein alter Grundbegriff. Wo man die Ursprünge der Philosophie fast immer lokalisiert, in der griechischen Antike, ist es nirgends anzutreffen. Das aristotelische zôon logon échon ist nur ein Lebewesen und als solches zur Vernunft bestimmt. Aristoteles macht uns glauben, diese Konjunktion manifestiere sich im Zusammentreten von phoné, d. h. Stimme, über die auch andere Lebewesen verfügen, und lógos ohne weiteres politisch. Wer vernünftig redet, verhält sich sogleich auch als »Staatswesen« 35; und zwar umwillen des Ganzen, in dem man im Zeichen des Guten und des Gerechten mit anderen zusammenlebt. Wenigstens männliche Wesen kommen von Natur aus mit dieser teleologischen Bestimmung zur Welt. So gesehen bedarf man keines Begriffs des Sozialen. Alles ist schon im Voraus entschieden: dass und wie sich die Einzelnen politisch verhalten müssen, um den Sinn des Ganzen zu realisieren, an dem Andere allerdings gar nicht teilhaben. 36 Zwar brachte Aristoteles in der Politik ganz verschiedene Lebensformen (bíoi) zur Sprache; und er wusste, dass man andernorts in fast jeder Hinsicht ganz anders lebt. Seine Zeitgenossen kannten zweifellos Fremde, ortsansässige Metöken (wie er selbst einer war), Durchreisende und anderswo Lebende, unbekannt Bleibende, von denen man nur dem Hörensagen nach eine gewisse Ahnung hatte 37, wenn man sich nicht auf Berichte verlassen konnte, die sich heute wie Vorformen der Ethnografie lesen. Die Lebensformen der Fremden ließen sich jedoch kaum im Sinne der aristotelischen Politik als Siehe die Einleitung in: F. C. Dahlmann, Die Politik, auf den Grund und das Maß der gegebenen Umstände zurückgeführt. Bd. 1, Leipzig 1835; L. Gumplowicz, Sozialphilosophie im Umriss [1910], Aalen 1969, S. 27, 29 f.; M. Riedel, »Der Staatsbegriff der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts in seinem Verhältnis zur klassisch-politischen Philosophie«, in: Der Staat 2 (1963), S. 41–63, hier: S. 49. 36 Vgl. A. MacIntyre, After Virtue, Notre Dame 21984; ders., Geschichte der Ethik im Überblick. Vom Zeitalter Homers bis zum 20. Jahrhundert, Weinheim 31995, Kap. 8. 37 A. Diehle, Die Griechen und die Fremden, München 1994. Der Autor spricht mit Blick auf Herodot bereits von einer »entwickelten Ethnographie und Sozialphilosophie« (S. 38). 35

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genuin politische verstehen. Wie aber dann? Fehlt ihnen, den Barbaren, nicht vieles oder alles, was letztere ausmacht? Sind deren Lebensformen also allenfalls privativ als solche zu beschreiben? Diese Frage verschärft sich in dem Maße, wie Reiseberichte 38 eine überbordende Pluralität fremder Lebensformen zum Vorschein bringen, deren philosophische Reflexion von Bartholomé de Las Casas’ Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder (1552) über Michel de Montaignes Essay Des cannibales (1560), Charles de Montesquieus fingierte Dialoge in den Lettres Persanes (1721), Giambattista Vicos Neue Wissenschaft von der gemeinschaftlichen Natur der Völker (1725 ff.) und Voltaires Essai sur le mœurs et l’esprit des nations (1745/1751) bis hin zu Denis Diderots Supplément au voyage de Bougainville (1772) und Georg Forsters Berichten über die Weltreisen mit James Cook (ab 1778 erschienen) nicht nur Neugier, sondern auch die zunehmende Bereitschaft verrät, Fremde wirklich kennen zu lernen und ihre Lebensformen im gleichen Zug auch als solche zu würdigen bzw. anzuerkennen. 39 Diese Pluralität provoziert eine sensible, zurückhaltende und explorative Wahrnehmung Fremder, dann auch eine hermeneutische Verstehensbemühung, die scheinbar nur ›emphatisch‹ gelingen kann, wenn sie sich in die befremdliche ›Perspektive‹ Anderer hineinversetzt, sie so weit wie möglich nachvollziehbar macht und schließlich verknüpft mit anderen. Ob und wie das vonstatten gehen kann, beschäftigt die Philosophen von den schottischen Moralisten über Rousseau, Kant und Adam Smith im Grunde bis heute. 40 Genauso die Frage, ob sich verschiedene Perspektiven überhaupt als kompossibel erweisen 41 und ob die beschriebene Pluralität von Lebensformen unweigerlich in einen

38 S. Moravia, Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1977, Zweiter Teil; W. Neuber, Fremde Welt im europäischen Horizont. Zur Topik der deutschen Amerika-Reiseberichte der Frühen Neuzeit, Berlin 1991. 39 Vgl. W. Lepenies, Soziologische Anthropologie, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1977; K.-H. Kohl, Entzauberter Blick. Das Bild vom guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation, Frankfurt/M. 1981. 40 K. Hamburger, Das Mitleid, Stuttgart 1985; J. O. Wilson, The Moral Sense, New York, Toronto 1993; T. Breyer (Hg.), Grenzen der Empathie. Philosophische, psychologische und anthropologische Perspektiven, München 2013. 41 Vf., »Perspektivität, Pluralität, geteilte Welt: Ästhetik, Politik und menschliche Sensibilisierbarkeit in der Philosophie Jacques Rancières«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 61, Nr. 1 (2016), S. 11–38.

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Relativismus münden muss. 42 Von Vico über Bernard de Mandeville, Johann G. Herder und Jacques Turgot bis hin zu Adam Ferguson war schon die Frage, ob diese Pluralität nicht aufhebbaren praktischen Widerstreit oder auflösbare Widersprüche vor Augen führt, die gegebenenfalls an eindeutigen Kriterien zu messen wären, wie es Marie Jean Condorcet glauben machte, der nicht daran zweifelte, dass sich die unterschiedlichsten Lebensformen normativ vergleichen und auf eine fortschrittliche Linie bringen lassen. 43 Während die in der Aufklärung aufkommende moderne Geschichtsphilosophie diesen Gedanken tatsächlich nahelegt, führt das ethnografische, im 19. Jahrhundert dann soziologisch, völkerpsychologisch und anthropogeografisch ausgeweitete Interesse 44 auf die Spur einer keineswegs im Ganzen normativ widersprüchlichen 45, sondern praktisch inkompossiblen Vielfalt menschlicher Lebensformen, also von Arten und Weisen, wie Menschen leben (essen, Umgang miteinander pflegen, Gäste beherbergen, wirtschaften, ihre Toten bestatten usw.). Bernhard Giesen spricht in diesem Zusammenhang nicht zu Unrecht von der »Entdeckung des Sozialen« 46 als Gegenstand empirischer Erkundungen, deren Resultate sich nicht durchgängig und einheitlich über einen einzigen normativen Leisten (sei es des Guten, des Gerechten oder Richtigen) schlagen lassen (was keineswegs auf einen indifferenten Relativismus hinauslaufen muss). So gewinnt die von Hannah Arendt monierte 47, von Jürgen Habermas dagegen affirmierDie Literatur dazu ist längst unübersehbar; vgl. nur M. Gottlob, A. Mittag (Hg.), Die Vielfalt der Kulturen. Erinnerung, Geschichte, Identität 4, Frankfurt/M. 1998. 43 Turgot, Über die Fortschritte des menschlichen Geistes [1748/1752], Frankfurt/M. 1990; Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes [1793], Frankfurt/M. 1976. 44 W. Wundt, Ethik, Bd. 1 [1886], Stuttgart 41912; P. Barth, »Wilhelm Wundt als Sozialphilosoph«, in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 6 (1912/3), S. 129– 133; W. Köster, Die Rede über den Raum, Heidelberg 2002; E. Beuchelt, Ideengeschichte der Völkerpsychologie, Meisenheim a. Glan 1974, S. 13 ff.; S. Haas, Historische Kulturforschung, Köln 1994, S. 394 ff. 45 J. Cohn, Der Sinn der gegenwärtigen Kultur, Leipzig 1914, S. 110, 117, 139. 46 B. Giesen, Die Entdinglichung des Sozialen, Frankfurt/M. 1991, S. 71. 47 Vgl. H. Arendt, Über die Revolution, München 41994, S. 74–79, 145; Vita activa, S. 28. Aus Arendts Sicht kündigt das lateinische Attribut socialis eine höchst folgenreiche Depolitisierung (im Sinne des Interesses für das »bloße« Leben bzw. die »Notwendigkeiten seines biologischen Lebendigseins« und dessen Wohlergehen) an. Besonders Thomas v. Aquin habe mit der Gleichsetzung der Attribute politicus und socialis (gesellschaftlich) dieser Tendenz Vorschub geleistet. (Vgl. die viel weiter zurückgehenden Hinweise bei L. H. A. Geck, Über das Eindringen des Wortes ›sozial‹ in 42

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te Übersetzung des griechischen Attributs ›politisch‹ durch das lateinische socialis, wie sie bereits bei Augustinus, Seneca und Thomas von Aquin anzutreffen ist und lange in einer inkonsistenten Begrifflichkeit nachgewirkt hat 48, im Hinblick auf eine umfassende Beschreibung menschlicher Lebensverhältnisse doch einen guten, nicht-pejorativen Sinn. Während Arendt im Sozialen eine Aufweichung und Degeneration des Politischen zum Interesse am ›bloßen‹, zu bewirtschaftenden und konsumistischen Leben sieht, verbindet Habermas 49 mit ihm eine erst in der Moderne zu sich selbst kommende Ausweitung des Politischen zum Gesellschaftlichen, das im Staat nicht aufgeht, so dass es schließlich gerade deswegen auch weltgesellschaftliche bzw. weltbürgerliche Formen annehmen kann. Allerdings unterwirft Habermas das Soziale einem Normativismus, der es schließlich in einer dialektischen Theorie der Gesellschaft aufgehen lässt, die mit Hegel einsetzt. 50 So erscheint die vorausgegangene Entdeckung der Vielfalt menschlicher Lebensformen, die überhaupt erst den weder im häuslichen oîkos noch in der öffentlichen pólis, weder im Gesellschaftlichen noch im Politischen aufgehenden »Lebenszusammenhang des Sozialen frei[ge]legt« hat 51, als eine bloße Vorstufe einer normativen Theorie der Gesellschaft, die offenbar den Anspruch erhebt, soziales, besonders staatlich formiertes Leben im Ganzen aus die deutsche Sprache, Göttingen 1963, S. 20 f.) Spätestens seit dem 19. Jahrhundert habe das Soziale das Politische zu beherrschen und zu verdrängen begonnen. Es wäre demnach nicht als Quelle des Politischen, sondern als dessen moderner Widerpart zu begreifen. Und eine Rehabilitierung des Politischen, wie sie Arendt vorschwebte, müsste um den Preis einer Restriktion des Sozialen auf einen ihm allenfalls beschränkt zustehenden Bereich erfolgen. In diesem Sinne hätte eine solche Rehabilitierung des Politischen tatsächlich eine anti-soziale Stoßrichtung. 48 Vgl. Röttgers, KS, S. 25–63. Man fragt sich angesichts dieser unverändert akutellen Befundlage, ob die Etymologie, die Begriffs- und Ideengeschichte überhaupt Auswege versprechen. 49 J. Habermas, »Die klassische Lehre von der Politik in ihrem Verhältnis zur Sozialphilosophie«, in: Theorie und Praxis [1963], Frankfurt/M. 61993, S. 48–88. 50 Ebd., S. 84. 51 Ebd., S. 52, 54. Baker spricht von der Erfindung eines menschlichen Zwischenbereiches, wo nach Maßgabe einer rückhaltlos komparativen und kompetitiven Existenz der eigene Wert bzw. Preis auf dem Markt gesellschaftlicher Reputation ständig auf dem Spiel steht; vgl. K. M. Baker, »Aufklärung und die Erfindung der Gesellschaft«, in: W. Klein, W. Naumann-Beyer (Hg.), Nach der Aufklärung? Beiträge zum Diskurs der Kulturwissenschaften, Berlin 1995, S. 109–124, hier: S. 124, sowie I. Fetscher, »Der gesellschaftliche ›Naturzustand‹ und das Menschenbild bei Hobbes, Pufendorf, Cumberland und Rousseau«, in: Schmollers Jahrbuch 80/II (1960), Nr. 6, S. 1–45.

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eigener Kraft an Kriterien des Richtigen und des Gerechten messen zu können. 52 Die ideengeschichtlich entscheidende Voraussetzung dafür ist aus Habermas’ Sicht paradoxerweise gerade der Wegfall jeglicher aus der Philosophie der Antike geerbten Teleologie, die das Gute als natürliche Bestimmung zu einem tugendhaften Leben in politischer Gemeinschaft aufgefasst hatte. Wie keine andere politische Theorie demonstriert Thomas Hobbes’ Leviathan (1651) bis heute die Zerstörung jeglicher Selbstverständlichkeit in dieser Hinsicht und bürdet infolgedessen dem politischen Leben selber die absolut rückhaltlose Aufgabe auf, seine Normativität »aus sich selber [zu] schöpfen«, wie Habermas meint. 53 Soziale Phänomene, die Hobbes zur Sprache bringt, sind wie das Vertrauen oder die Zwietracht teilweise zwar altbekannt (pístis; stásis). 54 Ganz neu beleuchtet er sie aber unter diesem Aspekt der Rückhaltlosigkeit: Weder auf normativ Vorgegebenes noch auf absolute Gewissheit, die ein isoliertes ego nach René Descartes’ Vorbild in sich selbst suchen könnte, ist ›nach‹ Hobbes noch Verlass, wenn es darum geht, das vollkommen entsicherte Soziale, das jeden »im Blick auf den Anderen« existieren lässt, normativ zu stabilisieren. 55 Daran müssen unabhängig voneinander vorhandene, sich als mehr oder weniger schwach erfahrende, nolens volens komparativ und kompetitiv lebende Individuen aber unbedingt interessiert sein. 56 Ihre Selbsterhaltung, der sie wie einem natürlichen Gesetz unterworfen zu sein scheinen 57, nötigt sie offenbar dazu; und dem können sie nur Rechnung tragen, indem sie einander ihr Wort geben, wenigstens auf Gewalt Allerdings spricht Habermas auch von »klinischen« Bedingungen und Dimensionen des Gelingens menschlicher Lebensformen, die sich keineswegs im Ganzen normativ vergleichen und beurteilen lassen. Das scheint man in jüngeren Reaktualisierungen des Lebensformbegriffs weitgehend zu vergessen. 53 J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 21985, S. 16. 54 A. Grøn, C. Welz (Hg.), Trust, Sociality, Selfhood, Tübingen 2010. 55 Vgl. R. Eisler, Kritische Einführung in die Philosophie, Berlin 1905, § 26, S. 351 ff.; G. Freudenthal, Atom und Individuum im Zeitalter Newtons. Zur Genese der mechanistischen Natur- und Sozialphilosophie, Frankfurt/M. 1982. Freudenthal deutet Hobbes’ deteleologisierte Sozialphilosophie als Erbe der älteren philosophia civilis (ebd., Kap. V). 56 G. Buck, »Selbsterhaltung und Historizität«, in: H. Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt/M. 1976, S. 208–302, hier: S. 236 f. 57 T. Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates [1651], Frankfurt/M. 1984, Kap. 14. 52

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gegeneinander zu verzichten, um auf dieser Grundlage verlässliche Institutionen einzurichten. Seit Hobbes hält der Streit darüber an, ob man diese Voraussetzung irgendwie schon vorhandener Individuen nicht ihrerseits sozialphilosophisch revidieren muss 58, wie sie überhaupt dazu kommen, ihr Wort geben zu können, und wie sie dadurch einen kollektiven Vertrag sollen stiften können 59, der nicht nur einen Gewaltverzicht unter Vorbehalt bedeutet, sondern auch eine zentrale staatliche Macht instituiert, der ihrerseits unerhörte Gewaltpotenziale eben dadurch zuwachsen, dass man sie sich als souveräne und insofern unbelangbare vorgestellt hat. Von Hobbes über John Locke und Rousseau bis hin zu Kant und Hegel befasst man sich darüber hinaus mit der Frage, ob die internen Gewaltpotenziale menschlichen Zusammenlebens überhaupt ›aufgehoben‹ werden können – sei es in einer identitären politischen Gemeinschaft (Rousseau), sei es kraft einer republikanischen Verfassung (Kant), sei es in der sittlichen Wirklichkeit des Staates (Hegel) oder auch in einer seinerzeit noch weitgehend utopisch erscheinenden globalen Föderation. Heute wissen wir, dass diese Rechnung nicht aufgehen kann. 60 Das radikal entsicherte Soziale will Rousseau durch eine ihrerseits eminent gewaltträchtige, ja totalitäre Identifikation mit einer kollektiven Identität bändigen, die eine agonale und antagonistische Koexistenz (Kants »ungesellige Geselligkeit« 61) in Wahrheit niemals in Schließlich ist das abgesonderte Individuum ein Produkt der Moderne; vgl. E.-W. Böckenförde, »Lorenz von Stein als Theoretiker der Bewegung von Staat und Gesellschaft zum Sozialstaat«, in: Historisches Seminar Hamburg (Hg.), Alteuropa und die moderne Gesellschaft, Göttingen 1963, S. 248–277, hier: S. 257, 273. Und wie kann es in einem »verschlossenen Füreinandersein« isolierter, wie Pilze aus dem Boden geschossener Individuen, wie es Hobbes beschrieben hat, überhaupt dazu kommen, dass sie umwillen eines wirklichen Zusammenlebens handeln? Vgl. Buck, »Selbsterhaltung und Historizität«, S. 237. 59 Zur Überschätzung des Versprechens vgl. Fetscher, »Der gesellschaftliche ›Naturzustand‹«, S. 30, 38. Wenn die Menschen gar nichts anderes verbindet als die Fähigkeit, ihr Wort zu geben (es aber auch zu widerrufen), können darauf dann wirklich dauerhaft verlässliche Lebensformen gegründet werden? Vgl. A. Reinach, Sämtliche Werke, Bd. 1, München 1989, S. 168 f. 60 Siehe oben, Anm. 24. 61 Fetscher weist darauf hin, dass Ungeselligkeit nicht einfach als ursprüngliche ASozialität, sondern (auch) als A- und Anti-Sozialität in der Sozialität vorzustellen ist. Schon Kant spricht von einem Widerstand dagegen, überhaupt »in Gesellschaft zu treten« und davon, dass dieser sich in Gesellschaft darin manifestieren kann, sich »beständig zu trennen« – im Sozialen, aber ggf. auch mit der Intention, es wieder 58

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den Griff bekommt. Gegebenenfalls wird sie im Innern entschärft, dafür aber wie zur Zeit der Französischen Revolution in höchst unfriedlicher Form nach außen getragen. 62 Letzteres befürworten Kant und Hegel ausdrücklich als Palliativ gegen das Verkümmern geistigen Lebens in einem zur Lethargie verleitenden ›faulen‹ Frieden. 63 So ist die radikale Entsicherung nicht aufzuheben. Mit ihr müssen wir leben; sowohl in politisch-rechtlich und staatlich geregelten Lebensformen als auch zwischen ihnen. Weder eine identitäre politische Gemeinschaft noch auch eine rechtliche Verfassung, ein sittlicher Staat, eine internationale Föderation oder gar ein Weltstaat können versprechen, sie je zu beseitigen. 64 Im Gegenteil: darin, dass jede Institution, die das verspricht, ihrerseits neue Gewaltpotenziale heraufbeschwört, liegt das bis auf weiteres unüberwindliche »Paradox des Politischen«, das infolgedessen als zutiefst ambivalent erscheint. 65 Gewiss: das seit Hobbes rückhaltlos entsichert zu denkende Soziale verlangt nach einer politisch-rechtlichen Antwort auf diese Herausforderung, angefangen bei einem zu institutionalisierenden Gewaltverzicht; doch der bewährt sich allenfalls im Bereich der sogenannten »äußeren Freiheit« und stellt in keiner Weise sicher, dass ein intern dem Anschein nach pazifiziertes Gemeinwesen nicht nach innen und nach außen neue Gewaltpotenziale möglich macht und entbindet. Auch damit müssen wir leben, ohne uns damit aber einfach (vermeintlich nur ›realistisch‹ oder auch zynisch bzw. defätistisch) abzufinden. Denn eben die Gewalt, mit der man so glaubt verfahren zu dürfen, wird auf diese Weise nicht bloß hingenommen, sondern verstärkt. Zu ihr kann man sich niemals neutral verhalten. Wenn das so ist, ergibt sich daraus die – bis heute nicht erledigte und vielleicht niemals erschöpfend zu bearbeitende – Aufgabe einer möglichst umfassenden und subtilen Erkundung des Sozialen, insofern es immer von neuem hinter sich zu lassen. I. Kant, »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«, in: Werkausgabe Bd. XI (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, S. 31–50, hier: S. 37. 62 M. Vovelle, Die Französische Revolution. Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten, Frankfurt/M. 1985. 63 M. Mori, »Krieg und Frieden in der klassischen deutschen Philosophie«, in: H. Joas, H. Steiner (Hg.), Machtpolitischer Realismus und pazifistische Utopie, Frankfurt/M. 1989, S. 49–91. 64 Vgl. R. Tuck, The Rights of War and Peace. Political Thought and the International Order From Grotius to Kant, Oxford 2002, S. 230. 65 P. Ricœur, »Das politische Paradox« [1957], in: ders., Geschichte und Wahrheit, München 1974, S. 248–279.

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Gewalt hervorbringt, auf deren Aufhebung man nicht hoffen kann. Und man muss sich fragen, ob ein fortgesetztes Leben in unaufhebbarer Gewaltsamkeit nur darauf hinauslaufen kann, eine unakzeptable »Pathologie des Sozialen« auf Dauer zu stellen, die als solche nur im Kontrast zu einer vorauszusetzenden normativen Normalität zu begreifen wäre. Unter implizitem Rückgriff auf einen erst im 19. Jahrhundert in diesem Sinne zur Geltung gekommenen Normalitätsbegriff argumentiert Axel Honneth genau so, wobei er sich zunächst eng an Habermas’ Rekonstruktion der mit Hobbes einsetzenden Geschichte moderner Sozialphilosophie anschließt, sich dann aber mehr an Rousseau hält, da erst dieser und nicht schon Hobbes eine Reihe von Fehlentwicklungen diagnostiziert habe, die moderne Gesellschaften charakterisieren. 66 Dass man »außer sich« lebt, »entfremdet«, geradezu »verdinglicht« und ohne sich dank »sittlicher Integration« in der »Allgemeinheit« des Vernünftigen aufgehoben zu wissen, wird demnach erst mit Rousseau und im Anschluss an ihn vor allem dank Hegel verständlich. 67 So wird nachträglich der deutsche Idealist, der weder den Begriff des Politischen noch den des Sozialen terminologisch verwendet, zum Vorreiter einer ›echten‹ Sozialphilosophie, als deren Protagonist Honneth selbst auftritt. Ob Hegel unter dem Oberbegriff der bürgerlichen Gesellschaft, die in den Grundlinien der Philosophie des Rechts (§§ 189 ff.) bekanntlich als »System der Bedürfnisse« beschrieben wird 68, einem sozialen Leben gerecht werden konnte, das – wie die ethnografische Erkundung fremden Lebens anderswo, aber auch die philosophische Vorgeschichte des Sozialen deutlich gemacht hat – keineswegs ganz und gar einer Logik des Widerspruchs unterworfen ist und sich infolgedessen einer durchgängi-

A. Honneth, »Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie«, in: ders. (Hg.), Pathologien des Sozialen. Die Aufgaben der Sozialphilosophie, Frankfurt/M. 1994, S. 9–69, hier: S. 10, 12 (= PdS). 67 J. Israel, Der Begriff Entfremdung, Reinbek 1972; A. Fischer, Die Entfremdung des Menschen in einer heilen Gesellschaft. Materialien zur Adaption und Denunziation eines Begriffs, München 1970; Honneth, PdS, S. 18, 20, 22, 25. Von Hegel her skizzierte schon Horkheimer »die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung« (1931) als Frage nach dem Leben des Einzelnen im Ganzen, letztlich des Staates; vgl. den gleichnamigen Aufsatz in: M. Horkheimer, Sozialphilosophische Studien, Frankfurt/M. 1972, S. 33–46, hier: S. 34. 68 F. Rosenzweig, Hegel und der Staat [1920], Berlin 2010, S. 391, 393. 66

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gen Dialektisierbarkeit widersetzt, mag man bezweifeln. 69 Dessen ungeachtet hat sich im 19. Jahrhundert die im Zeichen der sogenannten »sozialen Frage« 70 aufkommende, erstmals explizit und programmatisch sich so nennende Sozialphilosophie vielfach nach Kant auf Hegel berufen. 71 Dabei löst sie sich zunehmend sowohl vom Anspruch einer sozialen Erkenntnistheorie kantischen Zuschnitts 72 als auch von den Vorgaben einer Metaphysik, die auch den in Gesellschaft und Staat manifestierten ›Geist‹ ganz im Lichte einer weltgeschichtlich sich realisierenden Finalität der Vernunft zu verstehen verlangte. Statt ohne weiteres anzunehmen, das Soziale liege in ›erkennbarer‹ Form vor, und statt es derart geschichtsphilosophisch im Zeichen eines letzten Zwecks zu finalisieren, wandte man sich mehr und mehr der Frage zu, wie es sich ›elementar‹ überhaupt zeigt, wie es vielgestaltig vor unseren Augen entsteht (wenn es nicht einfach ›vorliegt‹ und ›gegeben ist‹) und sich gegebenenfalls ändert, ohne gegenwärtig und zukünftig unbedingt Normen unterworfen zu sein. So will Georg Simmel in seinen Parerga zur Socialphilosophie (1894) auf das zurückgehen, was den ›komplizierten‹ sozialen Erscheinungen zugrunde liegt, und kommt so auf seinen Grundbegriff der Wechselwirkung, den er Vertragsmodellen gegenüberstellt, die fertige Individuen voraussetzen, ohne deren bereits vorausgesetztes

69 Cohn, Der Sinn der gegenwärtigen Kultur, S. 110, 117, sowie Vf., J. Straub (Hg.), Lebensformen im Widerstreit. Integrations- und Identitätskonflikte in pluralen Gesellschaften, Frankfurt/M. 2003 zum Widerstreit zwischen Leben und Form, der sich immer wieder ergibt. Dafür hat eine Dialektik kein Verständnis, die ganz und gar auf den Widerspruch als dasjenige Moment setzt, welches geistiges und soziales Leben vorantreibt. Vgl. J. d’Hondt, »Die populäre Hegel-Rezeption in Frankreich«, in: U. J. Schneider (Hg.), Der französische Hegel, Berlin 2007, S. 19–31, hier: S. 26. 70 L. Stein, Über die sociale Frage im Lichte der Philosophie, Stuttgart 1897. 71 H. Holzhey (Hg.), Ethischer Sozialismus. Zur politischen Philosophie des Neukantianismus, Frankfurt/M. 1994; Vf., Gegebenes Wort oder Gelebtes Versprechen. Quellen und Brennpunkte der Sozialphilosophie, Freiburg i. Br., München 2008. Zum Rekurs auf Hegel vgl. K. Mayer-Moreau, Hegels Sozialphilosophie, Tübingen 1910; H. Reichel, »Hegels Sozialphilosophie«, in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie VI (1912/3), S. 80 ff. 72 K. Vorländer »Eine Sozialphilosophie auf kantischer Grundlage«, in: Kantstudien 1 (1897), S. 196–216; F. Krüger, »Eine neue Sozialphilosophie auf Kantischer Basis«, in: Kantstudien 6 (1901), S. 284–298; H. Holzhey, »Zum Verhältnis von Erkenntnistheorie und Sozialphilosophie bei F. A. Lange«, in: J. H. Knoll, J. H. Schoeps (Hg.), Friedrich Albert Lange. Leben und Werk, Duisburg 1975, S. 207–225.

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›Vorhandensein‹ überhaupt zu befragen. 73 Auch den Grundbegriff der Wechselwirkung wird man in Frage stellen. Stoßen wir mit ihm bereits auf die elementarste »Soziabilität« (L. Stein) oder auf die »letzte Materie des sozialen Lebens« 74, die alle Formen menschlichen Zusammenlebens begründet? 75 Fügen diese sich wirklich nur kraft des Rechts zu einem halbwegs pazifizierten Gemeinwesen zusammen, wie es die an Kant anknüpfenden Sozialphilosophen glauben machten? 76 Und lässt sich die Gegenwart und Zukunft dieser Lebensformen geschichtlich finalisieren, sei es im Sinne Kants (also im Lichte einer regulativen Idee), sei es im Sinne Hegels (also im Rekurs auf eine der Geschichte immanente Vernunft)? 77 G. Simmel, »Parerga zur Socialphilosophie«, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 18 (1894), S. 257–265. Auch Simmel spricht noch von einer »Erkenntnis der sozialen Dinge«, aber er reduziert das Soziale nicht auf das Gesellschaftliche und will nicht auf (letzte) Normen rekurrieren. 74 P. Natorp, Sozialpädagogik, Stuttgart 1899, S. 134. 75 O. Gerlach, »Kant’s Einfluß auf die Sozialwissenschaft in ihrer neuesten Entwicklung«, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 55 (1900), S. 644–663, hier: S. 648. Im Diskurs über die Ungleichheit führt Rousseau die menschliche Soziabilität direkt auf eine sensibilité (hier mit »Empfindungsfähigkeit« übersetzt) zurück, die jeden dazu bestimme, »de ne faire aucun mal à [s]on semblable«. Rousseau spekuliert, ob diese Sensibilität nicht einem »Gesetz der Natur« entspricht, an dem auch Tiere ihren Anteil haben. J.-J. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l’inégalité (dt./frz.), Paderborn 1984, S. 56 ff. Die in dieser Diskussion vielfach suggerierte Vorstellung von einem elementaren, grundlegenden oder letzten Niveau menschlicher Sozialität bzw. Soziabilität hat N. Elias in seinen historisch-soziogenetischen Untersuchungen zurückgewiesen; N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band. Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes [1936], Frankfurt/M. 1976, S. 218. Zur Vorgeschichte der Soziabilität, die bis weit in die Moderne hinein als teleologisch auf das Gute ausgerichtet und zum ›zivilen‹ politischen Leben wenigstens neigend aufgefasst wurde, vgl. T. Leinkauf, Grundriss. Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350–1600), Bd. 1, 2, Hamburg 2017, der auf Thomas v. Aquins Definition des Menschen als animal sociale et politicum hinweist, das mit Marsilio Ficino als naturaliter sociabilis und mit Marsilius v. Padua auf ein bene vivere angewiesen zu verstehen ist (ebd., S. 805, 827). Ganz aristotelisch liest sich auch Nicolaus Cusanus, wenn er vom Menschen als einem esse politicum et civile et naturaliter ad civilitatem inclinari schreibt (ebd., S. 1070 f.). Allerdings klingt in der Philosophie der Renaissance (bei Marsilius und Cardano) auch schon das ›Mängelwesen‹ an, dessen Soziabilität »auf ›nichts Bestimmtes‹« (Ficino, Giovanni Pico della Mirandola) festgelegt zu sein scheint (ebd., S. 832, 924, 1605). 76 Vorländer, »Eine Sozialphilosophie auf kantischer Grundlage«, S. 199, 213. 77 Vgl. Natorp, Sozialpädagogik, S. 149, zu einer Teleologie »sozialer Vernunft« O. Spann, »Kantische und Marxische Sozialphilosophie«, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Leipzig 1912, S. 128–134. 73

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In der sozialphilosophischen Literatur des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts ist deutlich zu erkennen, wie diese Fragen gleichsam auseinanderdriften und sich kaum mehr unter dem Dach einer normativistischen, überwiegend ethisch begründeten Position zusammenhalten lassen. Gewiss: die Negativität der sozialen Frage, die diese Philosophie angesichts krasser Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Entfremdung aus einem langen Schlaf geweckt hatte, verlangte und verlangt noch heute nach zukunftsweisenden Antworten; und zwar nicht nur innerhalb des klassischen national-staatlichen Rahmens. 78 Wie soll eine weniger ungerechte, weniger ausbeuterische, entwürdigende und demütigende Gesellschaft (im weltgesellschaftlichen Kontext 79) aussehen? Wie kann eine solche Gesellschaft erreicht bzw. möglich gemacht werden? Wie führen Wege dorthin? Usw. Aber die Fragen, wie sich das Soziale zunächst zeigt bzw. manifestiert, welche höchst unterschiedlichen Formen es annehmen kann und wie diese (wenn überhaupt) historisch in Erscheinung treten und sich womöglich gerichtet verändern lassen, konvergieren keineswegs ohne weiteres 80, wie es sozialstaatliches Denken lange Zeit nahegelegt hat. 78 Vgl. H. Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland [1963], München 1974, S. 73 ff.; E. Pankoke, Sociale Bewegung – Sociale Frage – Sociale Politik, Stuttgart 1970; ders., Die Arbeitsfrage. Arbeitsmoral, Beschäftigungskrisen und Wohlfahrtspolitik im Industriezeitalter, Frankfurt/M. 1990; W. Kersting (Hg.), Politische Philosophie des Sozialstaats, Weilerswist 2000. 79 Wie eine entsprechende Kontextualisierung genau auszubuchabieren wäre, kann hier nicht i. E. untersucht werden. Sicher jedoch nicht so, dass der nationalstaatliche Rahmen ohne weiteres obsolet werden könnte. Gemäß des vielfach bewährten Subsidiaritätsprinzips bleibt es auch in Zukunft richtig, dass soziale Probleme auf einer möglichst niedrigen Ebene bearbeitet werden sollten, sofern das möglich ist. Aus ihrer Delegation auf höhere Ebenen jenseits des Staates folgt im Übrigen kein ContainerModell der Staatlichkeit à la John Rawls. Und es könnte durchaus sein, dass auch die elementarsten sozialen Probleme letztlich nur transnational und global zu bearbeiten sind. 80 Dagegen sieht Volker Kruse das damalige geschichts- und sozialphilosophische Denken immer noch ganz und gar in einem teleologischen Denken integriert, das »die Entwicklung des sozialen Lebens aus angenommenen Endzielen der Geschichte ›erklärt‹«; V. Kruse, »Geschichts- und Sozialphilosophie« oder »Wirklichkeitswissenschaft«. Die deutsche historische Soziologie und die logischen Kategorien René Königs und Max Webers, Frankfurt/M. 1999, S. 151. Größer könnte der Kontrast zu Röttgers’ historischer Rekonstruktion sozialphilosophischen Denkens kaum sein. Inzwischen hält man im Übrigen eine weitgehende Divergenz des Sozialen und des Historischen für eine erwiesene Tatsache, vor allem infolge der Enttäuschungen nach 1968: »plus personne n’osera affirmer tenir ensemble l’Histoire et la Raison«, schreibt

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Dabei steckte seinerzeit die sozialphilosophische Forschung noch in den Kinderschuhen 81, so dass sich kaum beurteilen ließ, ob derart hohe Ansprüche der Verknüpfung des Sozialen mit seiner normativen Beurteilung und zukunftsweisenden Veränderung überhaupt plausibel zu machen sind. 82 So sehr leidvolles, unterdrücktes, gedemütigtes, ungerecht traktiertes und entfremdetes Leben nach letzterer verlangen mag, muss man nicht erst einmal erkunden, wie es sich artikuliert und darstellt, um dann zu ermitteln, wie es kritisch zu bewerten ist und wie zukünftig gegebenenfalls der entsprechenden Gewalt auch entgegenzuwirken wäre? Muss eine normativistische Sozialphilosophie, die sich unter Umgehung dieser Frage zutrauen würde, aus der Negativität gegenwärtiger Erfahrung geschichtsphiDonzelot, setzt dann aber dagegen: »l’heure est venue de reparler les oubliés de l’Histoire« (IS, S. 198), ohne sich aber auf die Erbschaft einer Metaphysik der Geschichte bzw. der Vernunft stützen zu wollen (ebd., S. 218). 81 Röttgers hat ausführlich gezeigt, wie irreführend die Begriffsgeschichte der Sozialphilosophie ist. Wo das Wort vorkommt – wie bei Jean-Baptiste Durosoy (Philosophie sociale, ou Essai sur les devoirs de l’homme et du citoyen, Paris 1783), bei Moses Dobruška (Philosophie sociale dédiée au peuple français par un citoyen de la Section de la République française, Paris 1793; G. Scholem, Du Frankisme au Jacobinisme. La vie de Moses Dobruška, alias Franz Thomas von Schönfeld, alias Junius Frey, Paris 1981, S. 72 f.; Rezension S. Schwarzfuchs, Revue de l’histoire des religions 201, no. 2 [1984], S. 208 f.) und Moses Hess etwa – wird doch nichts dergleichen betrieben (KS, S. 45, 47). Und umgekehrt: wo, wie etwa bei Simmel oder Tönnies, anscheinend wirklich sozialphilosophische Forschung vorliegt, wird der Terminus gemieden (KS, S. 61, 63), in einer Zeit, wo sich die heute beteiligten Disziplinen erst ausdifferenzieren und gewissermaßen sortieren. Röttgers selbst rekurriert unter Berufung auf Rousseau (KS, S. 28) auf Vorstellungen von »Gesellschaftlichkeit« (in ihrer Differenz vom Staat, vom Politischen, vom Ökonomischen usw.), die nicht mehr teleologisch auf anderes (etwa auf ethische Normen) bezogen gedacht werde (KS, S. 35). So gesehen läge eine terminologische Äquivalenz von Sozialphilosophie und »Gesellschaftsphilosophie« (O. Spann; KS, S. 71) nahe. Diese kann aber auch keinen Bestand haben, wenn es stimmt, dass das Soziale weder im Gemeinschaftlichen noch im Gesellschaftlichen aufgeht, wie Tönnies und Plessner gezeigt haben sollen (KS, S. 95). 82 Wohl auch deshalb begrüßt Röttgers Tönnies als Wegbereiter einer nicht-normativen Sozialphilosophie; K. Röttgers, »Konzepte von Sozialphilosophie im Spannungsfeld von Neukantianismus, Soziologie und Kulturphilosophie«, in: M. Plümacher, V. Schürmann (Hg.), Einheit des Geistes. Probleme ihrer Grundlegung in der Philosophie Ernst Cassirers, Frankfurt/M., Berlin, Bern 1996, S. 233–255. Schon Ludwig Stein hatte in seiner Arbeit »Zur Sozialphilosophie der Staatsromane« (in: Archiv für Geschichte der Philosophie IX, Neue Folge, Bd. II [1896], S. 458–485) einen utopischen Überschwang kritisiert, der ungeprüft voraussetze, dass der Mensch durchgreifend soziabel sei, und auf der Basis einer »zersetzenden Kritik des Bestehenden« glauben mache, er sei »zu allem fähig« (S. 468, 484).

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losophische Perspektiven in praktischer Absicht abzuleiten, nicht an einem eklatanten Legitimationsdefizit leiden? Wie sollte sie dazu in der Lage und berechtigt sein, etwa Auswege aus einer seinerzeit vielfach diagnostizierten Misere des Sozialen zu weisen, wenn sie nicht zuvor untersucht hat, wie es sich überhaupt darstellt? Kann man denn davon ausgehen, dass es allemal die Form eines dialektischen Widerspruchs annehmen wird, dessen Auflösung und Überwindung man für die Zukunft in Aussicht stellen dürfte? Eine Sozialphilosophie, die das verspricht (um so, explizit oder verschämt, die Erbschaft der klassischen Geschichtsphilosophie anzutreten), ohne am Leiden und wie auch immer beeinträchtigen Sozialen selbst Maß zu nehmen, wäre gewiss eine wenig glaubwürdige Angelegenheit, so honorig ihre praktischen Absichten im Übrigen auch sein mögen. Ein bruchloses Wiederanknüpfen an die erwähnten Ansätze zu einer zeitgemäßen Philosophie des Sozialen erscheint aus heutiger Sicht zudem ausgeschlossen. Immerhin trennen uns unter anderem zwei Weltkriege von der Zeit dieser Philosophie – Kriege, die nicht umsonst so heißen, weil man glaubt, dass sie eben jene Welt zerstört haben, die man gerade erst als eine ›soziale‹ zu reinterpretieren sich anschickte. Zweifellos hatte sich das kriegerische Geschehen global und in diesem extensiven Sinne ›weltweit‹ bemerkbar gemacht; aber es handelte sich auch um eine Destruktion dessen, was es bedeutet, in einer mit Anderen, auch Feinden, geteilten sozialen und politischen Welt zu leben. 83 Symptomatisch dafür ist, wie den neukantianischen Sozialphilosophen Paul Natorp unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges, den er zunächst wie die meisten Kollegen der ›akademischen Intelligenz‹ begrüßt hatte 84, nagende Zweifel umtreiben, was die Sozialität der Menschen betrifft. Muss man überhaupt sozial leben, fragt er. 85 Lebt nicht jeder auf Kosten des Anderen? Herrscht somit nicht in Wahrheit ein »innerer Krieg«, der sich auf rechtlichem Wege allein Die Auseinandersetzung um die Frage, ob beide Weltkriege im Gesamtzusammenhang eines zweiten 30-jährigen Krieges zu verstehen sind, dauert bis heute an; vgl. H. Münkler, Der grosse Krieg. Die Welt 1914–1918, Reinbek 2015, S. 757 f. Dabei wird allerdings selten erwogen, was ›Welt‹ (im Gegensatz zur Erde und ihrer Oberfläche, über die sich die Kriege erstreckt haben) in diesem Kontext überhaupt bedeutet. 84 K. Flasch, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Berlin 2000. 85 P. Natorp, Gesammelte Abhandlungen zur Sozialpädagogik, Stuttgart 1922, S. 46. 83

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niemals beenden lässt? Bleibt nicht auch unter der Herrschaft des Rechts der Andere der (potenziell) schlimmste Feind und gesellschaftliches Leben vergiftet durch derartigen (latenten) Krieg? Helfen dagegen Rousseaus Rezepte (den Willen der Einzelnen in einer identitären Gemeinschaft aufzuheben)? 86 Liegt auf gerade dieser Linie nicht die fatalste, direkt in den Zweiten Weltkrieg mündende Entwicklung der deutschen Staatlichkeit, die der 1924 verstorbene Sozialphilosoph allerdings nicht ahnen konnte, der nach 1945 vermutlich nicht mehr das Erfordernis einer »totalen Einheit« gegen alle Zwietracht und »Sonderinteressen« beschworen hätte? ›Nach 1945‹ war jedenfalls überhaupt kein scheinbar unverfänglicher Rückgriff auf überlieferte Begriffe wie Sozialphilosophie oder Ethik, Gemeinschaft oder Gesellschaft mehr möglich, die Natorp auf die »letzte[n] Wurzeln kulturellen Lebens« zurückführen wollte. 87

3.

Radikaler Neuanfang nach zwei Weltkriegen?

Der Begriff der Kultur hatte im Zeichen einer »Kultur der Gewalt«, die schließlich in die Selbstzerstörung Europas mündete 88, seine Unschuld ebenfalls ganz und gar verloren. Das musste auch ein Philosoph wie Ernst Cassirer bitter erfahren, der seit den 1920er Jahren mit seiner Philosophie der symbolischen Formen maßgeblich das Projekt einer zeitgemäßen Kulturphilosophie, ebenfalls auf ›neukantianischer‹ Grundlage, betrieben hatte. Cassirer, der im April des Jahres 1945 im New Yorker Exil verstarb, versuchte noch in der Endphase Ebd., S. 11, 13, 45, 66. Ebd., S. 43. 88 Vgl. bspw. G. Simmel, »Die Idee Europa« [1915], in: Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918, Bd. II, Frankfurt/M. 2000, S. 112 ff.; P. Valéry, »Die Krise des Geistes« [1919], in: Werke, Bd. 7, Zur Zeitgeschichte und Politik, Frankfurt/M. 1995, S. 26– 54; zum Kontext: Vf., Gastlichkeit und Freiheit. Polemische Konturen europäischer Kultur, Weilerswist 2005, Teil B; H. Münkler, Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert, Reinbek 2015, S. 45, 59, 300. – Von europäischer »Selbstzerstörung« sprach auch Stefan Zweig (im Jahre 1932), setzte dabei aber auf die Hegel’sche Figur möglicher Wiederauferstehung Europas aus dessen eigener Asche. Nach 1945 war auch dieses Bild aus naheliegenden Gründen nicht mehr zu halten. Die Radikalität der inzwischen Wirklichkeit gewordenen ›Vernichtungspolitik‹ war kein bloß vorübergehendes Ereignis. Vgl. S. Zweig, »Der europäische Gedanke in seiner historischen Entwicklung«, in: P. M. Lützeler (Hg.), Hoffnung Europa, Frankfurt/M. 1994, S. 294–314, hier: S. 300, 313. 86 87

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des Zweiten Weltkriegs mit seinem Essay on Man (1944) und in The Myth of the State (posthum 1946 veröffentlicht) diese Zerstörung gedanklich zu bewältigen – wie auch viele andere. Genannt seien nur Jan Patočka, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Karl Jaspers und Hannah Arendt, die unnachsichtig jeglichen einfachen Rückgriff auf die philosophische Überlieferung ausschloss, als sie feststellte, man sei nach dem Desaster des Zweiten Weltkrieges, das sie in ihrem ersten Hauptwerk, The Origins of Totalitarianism (1951), bedacht hatte, unumgänglich mit einer Demontage der klassischen »Philosophie mit allen ihren Kategorien« konfrontiert, »wie wir sie seit ihren Anfängen in Griechenland bis auf den heutigen Tag kennen«. 89 Auf diese Weise wollte sie diese Überlieferung keineswegs in Bausch und Bogen verwerfen, wie es ihr zweites Hauptwerk, The Human Condition (1958), beweist; wohl aber sah sie die Notwendigkeit, sie im düsteren Licht dieses Desasters radikal zu revidieren. So muss man feststellen, dass sozial- und kulturphilosophisches Denken nach den beiden Weltkriegen, die es nur auf fremdem Boden, vor allem in den USA und in Frankreich, gewissermaßen überleben ließen, nach 1945 weitgehend ruiniert zu sein schien und dass es zu einem radikalen Neuanfang gezwungen war. Aber worauf sonst sollte man zurückgreifen, woran sonst sollte man sich orientieren, um zu begreifen, wie sich das ›alte‹ Europa infolge zweier Weltkriege zerstört hatte? 90 Musste man nicht die europäische philosophische Überlieferung gewissermaßen gegen sie selbst wenden, um mit ihren eigenen Mitteln verständlich zu machen, warum und wie sie versagt hatte bzw. wie sie mitschuldig werden konnte an einem Desaster, das auch die tradierten philosophischen Begriffe in Mitleidenschaft ziehen musste, insofern ihnen offenbar keinerlei Wirksamkeit zukam, wo es darum ging, die Selbstzerstörung Europas abzuwenden? Was ist überhaupt von in diesem Sinne ›unwirksamen‹ Begriffen zu halten? In Hegel’scher Sicht, in der alles darauf ankommen muss, dass Gedachtes nicht bloß ›abstrakt‹ eine ihm indifferent gegenüberstehende Realität ›reflektiert‹, sondern sie effektiv durchdringt und Vgl. H. Arendt, Vom Leben des Geistes. Bd. 1. Das Denken, München, Zürich 1989, S. 62, 189, 193, 207. 90 Damit ist nur die auffallendste Resultante der fraglichen Ereignisse bezeichnet. Deren tiefere Ursachen und Gründe bleiben davon unberührt. (Gewiss kann man etwa den von Hitlerdeutschland ausgegangenen Zweiten Weltkrieg und die mit ihm einhergegangene Vernichtungspolitik nicht im Sinne einer Selbstzerstörung Europas mit dem Ersten Weltkrieg ohne weiteres auf einen Nenner bringen.) 89 2

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wirksam bzw. wirklich ›zur Vernunft bringt‹, nichts. Entweder das Wirkliche wird auf diese Weise vernünftig, erweist sich so zugleich als wirksam und ist in diesem Sinne schon vernünftig 91, oder aber ihm kommt keinerlei (geistige) Substanz zu und muss früher oder später verschwinden wie ein »unwirklicher markloser Schatten«. 92 Genau davon gleichfalls überzeugt, wenden Horkheimer und Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung (1947) das ›abendländische Denken‹ gegen sich selbst und demontieren es mit seinen eigenen Mitteln, um es schließlich zu überwinden und einen Ausweg zu finden in Richtung auf eine trotz jenes Desasters bessere Zukunft sozialen Lebens, das seinen Namen wirklich verdient. 93 In dieser Hinsicht ist man bescheiden geworden: Vergesellschaftetes Leben, das mit Recht als soziales gelten darf, soll wenigstens das Schlimmste und dessen Wiederholung verlässlich zu verhüten versprechen. 94 Explizit hat später Judith N. Shklar diese Maßgabe unter Berufung auf Michel de Montaigne und Charles de Montesquieu zur Grundlage eines »Liberalismus der Furcht« 95 gemacht, der zeigt, wie sehr das Denken des 91 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied, Berlin 1967, S. 139. 92 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke 7 (Hg. E. Moldenhauer, K. M. Michel), Frankfurt/M. 1986, S. 24. In der Phänomenologie des Geistes (Kap. VI, A, a) tituliert Hegel als einen solchen Schatten den privaten Menschen, der bloß der Familie angehört. 93 Allerdings wird das Prädikat ›sozial‹ keineswegs einheitlich entweder deskriptiv – bzw. »völlig wertfrei« als Ausdruck für eine »unaufhebbare Verbundenheit« (Max Adler), die auch ungesellige oder feindliche Formen annehmen kann – oder wertend gebraucht. Vgl. M. Adler, »Der Begriff des vergesellschafteten Menschen«, in: I. Fetscher (Hg.), Der Marxismus. Seine Geschichte in Dokumenten. Bd. 1. Philosophie. Ideologie, München 1962, S. 128–132. 94 P. Farmer, »Never Again? Reflections on Human Values and Human Rights«, in: The Tanner Lectures on Human Values (2005), http://tannerlectures.utah.edu/_docu ments/a-to-z/f/Farmer_2006; pdf S. 137–188. Inzwischen steht jene Parole längst unter Ideologieverdacht, wenn man bedenkt, wie die Auslieferung an eine »Weltlosigkeit«, die laut Arendt Menschen beliebiger Gewalt aussetzt, nicht nur an den Grenzen Europas wieder festzustellen ist. In solcher Auslieferung ahnte seinerzeit Stefan Zweig das Schlimmste sich ankündigen, von dem er, der 1942 im südamerikanischen Exil freiwillig aus dem Leben schied, sich allerdings keinen Begriff mehr machen konnte. Vgl. S. Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Köln 2013, S. 481, 561. 95 J. N. Shklar, Liberalismus der Furcht, Berlin 2013, zum Kontext vgl. B. Liebsch, H. Bajohr (Gasthrsg.), »Schwerpunkt: Judith N. Shklars politische Philosophie«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 62, Nr. 4 (2014), S. 626–746; J. N. Shklar, Der Liberalismus der Rechte, Berlin 2016.

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Sozialen im 20. Jahrhundert unter den Druck massivster Gewalt geraten ist, so dass zeitweise kaum mehr erkennbar war, ob es überhaupt noch mit jener ›sozialen Frage‹ in Verbindung zu bringen ist, die das moderne sozialphilosophische Denken doch entscheidend angeregt hatte. Müssen aber nicht auch Formen der Vergesellschaftung, die solcher Gewalt standzuhalten versprechen, ›sozialstaatlich‹ eingerichtet werden? Es kann gewiss keine Rede davon sein, Horkheimer und Adorno hätten gänzlich außer Acht gelassen, wie ein Sozialstaat beschaffen sein müsste, der gewissermaßen die durch die Weltkriege erteilten ›Lektionen‹ beherzigt. 96 Doch verfinsterte sich speziell Adornos Negative Dialektik (1966), die das düstere Szenario eines totalen Verblendungszusammenhangs ausmalt, in dem eine ›instrumentelle‹, sich durch eine nichts mehr auslassende Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse durchsetzende Vernunft angeblich unumschränkt herrscht, schließlich derart, dass Honneth ihr nicht ganz zu Unrecht eine »endgültige Verdrängung des Sozialen« vorwerfen konnte. 97 Adorno habe schließlich mit seiner Wendung gegen eine scheinbar alles umfassende Vermarktlichung jegliche »innere Sozialität« vergesellschafteten Lebens aus dem Auge verloren – insbesondere dessen »fundierende Schicht: das soziale Handeln« in seiner »Eigenart« (KM, S. 90, 111, 119), das auch als mit »kommunikativer Verständigung« geradezu gleichgesetzte »Sphäre des Sozialen« angesprochen wird (KM, S. 291). Dieser Sphäre wird, ungeachtet ihrer beobachteten pathogenen Aufspaltung in kommunikatives und instrumentell-zweckrationales Handeln (KM, S. 330), im Gegenzug alles Gute zugetraut: Sie sei »identitätsverbürgend« (KM, S. 89) im Sinne der »Selbstverwirklichung des Menschen« in Lebensformen (PdS, S. 12), die nicht dazu zwingen müssten, »außer sich«, entfremdet und verdinglicht zu leben. So erscheint eine »sittliche Integration« in Hegel’scher Allgemeinheit wieder denkbar (PdS, S. 21 f., 18, 25), die allerdings »ungezwungener Selbstverwirklichung« nicht im Weg stehen soll (PdS, S. 37). Dass es auf Identität und zwanglose Selbstverwirklichung in sittlichen Lebensformen ankommen muss, die überdies sozialstaatlichen Kriterien gerecht zu werden hätten, soll eine normative GrundVgl. Institut für Sozialforschung (Hg.), Soziologische Exkurse, Frankfurt/M. 1983. A. Honneth, Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt/M. 1989, S. 70, 86 (= KM).

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legung zeitgemäßer Gesellschaftstheorie beweisen können, die letztlich in einer modernen »formalen Ethik« gesucht wird (PdS, S. 58). Nur ihr wird zugetraut, in letzter Instanz transzendental- oder formalpragmatisch Maßstäbe begründen zu können, die man unbedingt brauche, um angeben zu können, wo und wie Formen sozialen Lebens hinter einem Sollen bzw. normativ an sich Gebotenen zurückbleiben und sich infolgedessen pathologisch manifestieren. Zugleich sollen diese Maßstäbe die richtige Richtung zukünftig fälliger Veränderungen dieser Formen angeben. 98 Mit Max Weber und Jürgen Habermas ist von »Rationalisierung« die Rede (PdS, S. 33), die mit einer möglichst schwachen und möglichst formalen anthropologischen Basis auskommen soll. Man will also weitgehend darauf verzichten, Aussagen darüber zu treffen, was ›der Mensch‹ (als soziales Wesen) ist, worauf ›er‹ angewiesen und wogegen ›er‹ in Schutz zu nehmen ist, usw. 99 Tatsächlich steht anthropologische Argumentation seit langem für eine generalisierbare Eidetik dieser Art nicht mehr zur Verfügung, wenn es stimmt, was Blumenberg in seiner Beschreibung des Menschen als definitives Resultat neuzeitlicher Anthropologie festhält: »Die Geschichte zeigt den Menschen sich selbst als das wesenlose Wesen […], das sich den Kategorien der Gattungswesentlichkeit entzogen hat.« 100 Aus einem wie auch immer näher bestimmten Müssen aber entsprechende Maßstäbe schon »vorliegen«, bevor aus negativer Erfahrung soziale und politische Kritik keimen kann? Oder kann solche Erfahrung ihrerseits originär allererst nach der Artikulation solcher Maßstäbe verlangen? (Vgl. PdS, S. 49.) Wie auch immer man diese schwierige Frage beantwortet: das Problem kritisch begründeter Ausrichtung des Sozialen wird man gewiss nicht einfach los, indem man einer völligen (evolutionär vorgestellten) »Verzeitlichung« des Sozialen das Wort redet (Giesen, Die Entdinglichung, S. 72 ff., 132). Immerhin kennt auch dieser Autor eine gewisse Trauer über den daraus sich ergebenden sozialen Orientierungsverlust (S. 140, 144). Aber dieser muss keineswegs das letzte Wort haben, wenn aus verzeitlichter negativer Erfahrung kritische Energien der Neuausrichtung des Sozialen hervorgehen. 99 Allerdings beschleichen den Leser sozialphilosophischer Literatur vielfach Zweifel daran, ob ein solcher anthropologischer Minimalismus wirklich durchgehalten wird. Das gilt im Hinblick auf projektierte »Idealzustände« bei Honneth (PdS, S. 51), mehr noch aber für sog. »starke Gemeinschaftsbindungen«, wie sie Charles Taylor für unabdingbar hält, wie auch für die von Hans Joas verteidigten »Werte«, die einem »sinnvollen Leben unter demokratischen Bedingungen« normative Orientierung geben sollen. Vgl. C. Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt/M. 1996; H. Joas, Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, Frankfurt/M. 1992. 100 H. Blumenberg, Beschreibung des Menschen, Frankfurt/M. 2006, S. 260 f. Siehe 98

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anthropologischen ›Sein‹ wäre überdies kein normatives ›Sollen‹ und keine Kritik pathologischer Verhältnisse abzuleiten – was auch Honneth vermeiden will. Überzeugt aber dieser Sein-Sollen-Dualismus überhaupt noch, der inzwischen zu einer Art Dogma Praktischer Philosophie aufgerückt ist und eine kritische Gesellschaftstheorie dazu zu zwingen scheint, bei einer rein formalen Ethik Zuflucht zu suchen, die aus dürren transzendental- oder formalpragmatischen Rahmenbedingungen idealiter gewaltfreier Verständigung mehr oder weniger alles ableitet, worauf es einem nicht-pathologischen, idealiter sogar gelingenden sozialen Leben ankommen muss? 101 Reduziert sich diese »formale« Basis am Ende ganz auf die weltfremde Vorstellung herrschafts- und gewaltfreier Kommunikation selbst, die auch als idealisierte genauerer Prüfung im Lichte der neueren Gewaltforschung nicht standhalten kann? 102 Muss man sozialphilosophisch wirklich entweder ›rein formal‹ (ethisch) oder auf höchst anfechtbare Art und Weise ›anthropologisch‹ ansetzen? 103 Hatte nicht gerade der sozialphilosophische Negativismus einen dritten Weg gewiesen, indem er darauf aufmerksam machte, dass leibhaftiges Leben sich zu allem, was ihm widerfährt, erst recht aber zum Schmerz, zur Gewalt und zum Bösen niemals indifferent verhalten kann? Liegt in leibhaftigem Leben selbst insofern nicht das Potenzial dessen, was man in Anlehnung an Hegel »bestimmte Negation« genannt hat, die sich im weidazu die frühere Bilanz bei D. Kamper, Geschichte und menschliche Natur. Die Tragweite gegenwärtiger Anthropologiekritik, München 1973. 101 Unter Hinweis auf eine frühzeitige, schon bei Friedrich Pollock nachweisbare theoretische Unterordnung des Ökonomischen unter einen Primat des Politischen hat W. Streeck darauf aufmerksam gemacht, dass man in der sog. Kritischen Theorie eine eingehendere »Beschäftigung mit politischer Ökonomie nicht mehr für vordringlich« gehalten hat, weil man letztere nur noch als »beherrschbare Wohlstandsmaschine« begriff, die zwar Legitimationsprobleme aufwarf, aber als eigenständige (fünfte) Gewalt nicht gesehen wurde (GZ, S. 78–81, 167). Das zeigt sich in A. Honneths Buch Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung, Berlin 32016, bis heute in einer weitgehenden Ethisierung, deren konkrete ökonomische Perspektiven kaum deutlich werden. 102 H. Kuch, S. K. Herrmann (Hg.), Philosophien sprachlicher Gewalt. 21 Grundpositionen von Platon bis Butler, Weilerswist 2010; M. Staudigl (Hg.), Gesichter der Gewalt, München 2014; ders., Phänomenologie der Gewalt, Heidelberg, New York, London 2015. 103 Wie es auch vielfach als neo-aristotelisch apostrophierte Ansätze tun, die von einer ethischen, gemeinschaftlichen Sittlichkeit ausgehen, die verbindliche Werte und kollektive Identität verbürgen soll.

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testen Sinne kritisch zum Widerfahrnis, zum Widrigen und Widerwärtigen verhält, sei es, um es von sich abzuhalten und zu vermeiden, sei es, um mit und aus ihm zu leben, sei es, um es als solches zurückzuweisen und zu verlangen, es dürfe sich nicht wiederholen? Wie sich aus dem ›Nein‹ zur Gegenwart des negativ Widerfahrenden allerdings das Bessere soll ergeben können – und zwar nicht nur für einen Einzelnen, sondern im Horizont eines mit bekannten Anderen und anonymen Dritten geteilten sozialen Lebens –, bleibt allemal problematisch. Von einem Automatismus, der letzteres ohne weiteres aus der Erfahrung des Negativen ableiten würde, kann keine Rede sein. Hier kommt es jedoch zunächst lediglich darauf an, dass sich leibhaftiges Leben niemals in einem indifferenten ›Sein‹ erschöpft, dem nachträglich erst ein konstruiertes ›Sollen‹ normative Orientierung geben müsste. Allerdings erweist sich nicht-indifferentes Leben auch keineswegs in der Erfahrung des Negativen von vornherein eindeutig auf dessen Zurückweisung, normative Kritik und Überwindung ausgerichtet. Nicht selten halten wir selbst an Schmerz, Leid und Trauer auch dann fest, wenn man all dem nur eine pathologische Beeinträchtigung »ungezwungenen« Lebens nachsagt, die man besser früher als später auszuschalten versuchen sollte. Leben wir nicht geradezu in und aus dieser vielfältigen Negativität, deren Liquidierung unweigerlich auch unsere Existenz verkümmern lassen müsste? 104 Davon kann allerdings ein Sozialstaat nichts wissen, dem man wie in der Atlantik-Charta und in der Charta der Vereinten Nationen von 1941 zutraut, »Freiheit vom Mangel« jeglicher Art und in diesem Sinne generelle Wohlfahrt zu versprechen. 105

4.

Verstaatlichung des Sozialen?

Derartige Versprechen konnte der Sozialstaat von Anfang an nicht einlösen. Handelt es sich deshalb aber um eine gänzlich verfehlte Idee, die man schleunigst aufgeben sollte? Diesen Eindruck erweckt Jacques Donzelot in seiner republikanischen Abrechnung mit der

Anhand der Trauer lässt sich das zeigen; Vf., Revisionen der Trauer. In philosophischen, geschichtlichen, psychoanalytischen und ästhetischen Perspektiven, Weilerswist 2006. 105 G. A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 1989, S. 4 (= DS); vgl. auch Rifkin, Das Ende der Arbeit, S. 206. 104

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invention du social, der er nicht nur irreführende Versprechen, sondern auch ein verheerendes Missverständnis dessen zur Last legt, was ein politisch passioniertes Zusammenleben eigentlich ausmacht. So konnte es in seiner Sicht zu dem Paradox kommen, dass ausgerechnet der Wohlfahrtsstaat »im Namen des Sozialen« das gesellschaftliche Leben hat verkümmern lassen. Wo das Soziale nur noch als »correction des défauts de la société« begriffen werde, müsse gerade die Gesellschaft letztlich darunter leiden. Donzelot spricht von einer Blockade und Entleerung, die zum Tod des »esprit civique« geführt habe infolge einer weitgehenden Depolitisierung des Gesellschaftlichen, in dem man nur noch um eigene soziale Ansprüche, aber nicht mehr politisch um das Recht selbst kämpfe (IS, S. 224, 226, 206). Das Soziale kommt hier nur als eine bestimmte, historisch kontingente Ausrichtung menschlichen, staatlich institutionalisierten Zusammenlebens in Betracht und gerät deshalb in einen polemischen Gegensatz zur (in Wahrheit politisch strukturierten) Gesellschaft. Eine solche Gesellschaft verpflichte sich nicht der »neutralisation du contraste violent qui opposait l’imaginaire politique moderne aux réalités de la société«, sondern trage die ihr unvermeidlich innewohnenden Antagonismen offen aus (IS, S. 10, 172), statt sie in permanenten Verhandlungen ohne erkennbare Richtung verkümmern zu lassen (IS, S. 11, 228, 238). Wenn Donzelot im Gegenzug einer »réinvention de la vie sociale« das Wort redet, so meint er gerade nicht das Soziale als kollektive Repräsentation 106 einer angeblich gemeinsamen Angelegenheit, um die sich staatliches Handeln vorrangig und ständig zu drehen habe, sondern einen »mode passionnel d’expression des enjeux politiques« aufgrund eines »besoin sociétal« (IS, S. 252, 262),

106 In seinem Buch über die Geschichte der Familienpolitik im Kontext einer Arbeit am Sozialen, die schließlich »nichts im besonderen, aber alles im allgemeinen inkriminiert«, wo sie den innerfamiliären Ursachen für alle möglichen Abweichungen vom Normalen aufspürt und entsprechende Interventionen Dritter legitimiert, stuft der Autor m. E. das Soziale als eine solche, begrifflich allerdings sehr unscharfe Repräsentation ein. J. Donzelot, Die Ordnung der Familie, Frankfurt/M. 1980, S. 101, 160, 197. Ich verwende den Begriff der Repräsentation hier im Anschluss an die einschlägige französische Forschungsrichtung, dokumentiert in: D. Jodelet (Hg.), Représentations sociales, Paris 1989; U. Flick (Hg.), Psychologie des Sozialen. Repräsentationen in Wissen und Sprache, Reinbek 1995. Nur indirekt, so scheint es, gewinnt das Soziale repräsentierbare Objektivität – etwa in einem Begriff wie Risiko, gegen dessen »soziales Übel« man (jeder als »Jedermann« oder homo aleator) sich versichern kann bzw. muss, wie F. Ewald gezeigt hat (Der Vorsorgestaat, S. 19, 483).

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der sich an wirklicher Ungerechtigkeit 107 entzünde und sich niemals in einer konsumistischen Apathie erschöpfen dürfe, die vorherrsche, wo man nur eigene Interessen verfolgt (IS, S. 211). Ob das anvisierte Ziel, die politische Gesellschaft von der Hegemonie des Sozialen zu befreien und auf diese Weise deren Blockade aufzuheben, in Reichweite rückt, indem man sich auf die liberale Freiheit souveräner Individuen zurückbesinnt 108, bleibe dahingestellt. Worauf es hier ankommt, ist die Merkwürdigkeit, dass ausgerechnet der moderne Sozialstaat der Liquidierung des sozialen Lebens bezichtigt wird, so dass der Eindruck entstehen kann, letzteres sei nur zurückzugewinnen, wenn man den Sozialstaat weitgehend preisgibt. Mit sozialem Leben meint der Kritiker des Sozialen aber tatsächlich ein vergesellschaftetes politisches Leben, gegen dessen Depolitisierung er sich verwahrt. Daraus ergeben sich Begriffsverrenkungen, die sich vermeiden ließen. (Das wahrhaft soziale Leben wäre laut Donzelot nur als vergesellschaftetes und politisches zu verstehen; letzteres wäre aber in dem Fall wiederum nicht als wirklich soziales Leben zu verstehen, insofern dieses dem Sozialen verpflichtet ist; usw.) Der Begriff des Sozialstaats suggeriert in der skizzierten Kritik des Sozialen, es könne einen Staat geben, dem nachträglich (akzidentell) auch gewisse ›soziale‹ Eigenschaften zuwachsen (vor allem durch die ausdrückliche Verpflichtung auf das Soziale), ohne die andere Staaten, die sich auf die Regelung einer politisierten Vergesellschaftung beschränken, ohne weiteres auskommen könnten (und sollten). Umgekehrt ist dagegen davon auszugehen, dass es Staaten als politische, institutionalisierte Strukturen der Regelung gemeinsamer Angelegenheiten nur auf der Basis sozialer Verhältnisse geben kann, die auf ein- und gegenseitiger Ansprechbarkeit zwischen füreinander ›Anderen‹, auf deren Stimme, Artikulation, Repräsentation und Dissens beruhen müssen und dabei unvermeidlich mit Ansprüchen konfrontiert sind, die aus der negativen Erfahrung von Verletzungen (im Sinne der Ungerechtigkeit, der Demütigung, der Missachtung usw.) hervorgehen, um infolgedessen die Frage aufzuwerfen, wie ein politisches Gemeinwesen diesen Erfahrungen gerecht werden kann. In 107 Vis-à-vis einer »tragique infériorité de la condition civile de certains« (IS, S. 67, 71). 108 Vgl. IS, S. 54 f., 57, 63, 177, 246, 248 zur Kritik an einem Staatsverständnis, das dieser Freiheit zuwiderlaufe.

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dieser Erfahrung liegt eine primäre Sozialität, die nur nachträglich zu politisieren ist, wenn es darum geht, ob und wie ihr in einem vergesellschafteten und verrechtlichten Zusammenleben Rechnung zu tragen ist. So gesehen liegt das Soziale dem Politischen voraus; und letzteres lässt sich so verstehen, dass es aus einer originären Politisierung sozialer Probleme erst hervorgeht, die sich von sich aus nicht ›immer schon‹ als politische darstellen. Das Soziale ist der umfassendere und grundlegendere Begriff. Wir können überhaupt nicht leben, ohne sozial zu leben; aber wir sind nicht derart »zum Politischen verurteilt«, dass es auf Gedeih und Verderb »unser Schicksal« sein muss. 109 Inwiefern soziale Probleme sich überhaupt aussichtsreich politisieren lassen, muss sich stets erst zeigen in Prozessen der Auseinandersetzung, die in dem Moment, wo sie Dritte betreffen und institutionelle Formen annehmen, als politische zu verstehen sind. Man kann solche Auseinandersetzungen wieder aufgeben, wenn sie keine fruchtbaren gesellschaftlichen Perspektiven eröffnen. Aber um sie überhaupt führen zu können, muss man bereits sozial existieren als jemand, der Andere in Anspruch nehmen kann. Diese primäre Sozialität, auf der alles Politische aufruht, hat Donzelot überhaupt nicht im Blick und wendet sich stattdessen gegen eine Verengung des Politischen auf bestimmte wohlfahrtsstaatliche Anliegen zuungunsten anderer. Indem er ein entsprechend verkürztes Staatsverständnis angreift, wendet er sich scheinbar gegen das Soziale überhaupt, das er folglich mit einem wirklichen vergesellschafteten, politischen Leben gar nicht in Verbindung bringen kann. Dabei ist das Soziale, das Donzelot offenbar ganz neu erfinden möchte, weit genug gefasst, die Basis von allem, was vergesellschaftet und politisiert werden kann. Sekundär ist demgegenüber die Frage, ob Staaten auf ein bonum commune angelegt sind und wie sie dabei bspw. ihre Ausrichtung auf Frieden, Gerechtigkeit, materielle Wohlfahrt, Teilhabe und Teilnahme institutionell konfigurieren, um möglichst niemanden auszuschließen bzw. um niemandem ein subjektiv ›unlebbares‹ Leben zuzumuten. Keineswegs können Wohlfahrt, Teilhabe und Teilnahme als bestimmte ›Staatszwecke‹ (unter anderen) längerfristig auch ganz wegfallen in Staaten, die nicht im engeren Sinne als ›Sozialstaaten‹ aufzufassen wären. Heute jedenfalls können solche Gebilde keinen

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D. Sternberger, Drei Wurzeln der Politik, Frankfurt/M. 1984, S. 19.

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dauerhaften Bestand haben, wenn sie die inzwischen 110 etablierten sozialen Grundrechte missachten. Deren Achtung bedeutet allerdings nicht, dass ein Sozialstaat Befreiung von jeglicher »Furcht und Not«, die Abschaffung von »Armut und Bedrückung« oder die ›Regelung‹ »existenzieller Probleme mit Geld allein« versprechen könnte. 111 Ebenso verfehlt ist ein Kurzschluss des ›sozialen‹ Moments akzeptabler Staatlichkeit mit hohem Lebensstandard, umfassender Versicherung gegen alle möglichen Lebensrisiken und durchgängiger staatlich garantierter Versorgung (»von der Wiege bis zur Bahre«) in einer das ganze Leben umfassenden Welt der Sicherheit, auf deren Gewährleistung sich ein juridistisches, vor allem um sich selbst besorgtes Anspruchsdenken sorgt. 112 Entscheidend ist, dass ›soziale‹ Staatlichkeit in einer primären Sozialität fundiert zu denken ist, die allein zunächst zu verbürgen hat, dass jeder ›sozial‹ existiert als jemand, der Andere in Anspruch nehmen und Gehör finden kann. Entsprechende allgemeine Rahmenbedingungen kann nur ein demokratischer Rechtsstaat gewährleisten, indem er verspricht, seiner sozialen Fundierung so weit wie möglich institutionell Rechnung zu tragen. 113 Das Demokratische bezieht sich hier zunächst nicht auf eine bestimmte Herrschafts- oder Regierungsform, sondern auf jene primäre Sozialität, der politisches Leben gerecht werden soll, indem es niemanden ›mundtot‹ macht und auf diese Weise dafür bürgt, dass jeder über die soziale Ansprechbarkeit Anderer hinaus auch politisch existieren kann. Dabei genügt politiIn Deutschland seit der Weimarer Republik. Atlantik-Charta vom 14. August 1941, Art. 6; vgl. DS, S. 14, 36 f.; sowie KZS, S. 420. 112 Wo Wilhelm v. Humboldt in seinen Überlegungen zu den »Grenzen der Wirksamkeit des Staates« noch einen klaren Gegensatz sah – nämlich zwischen »positivem Wohl«, das den Staat mit seiner fureur de gouverner (Mirabeau) nichts angehe, und öffentlicher Sicherheit, lässt der »Vorsorgestaat« (Ewald) scheinbar gar keinen Unterschied mehr gelten. Als abzusichern gilt in seinem Rahmen gerade auch das Wohlergehen aller. Vgl. Eichendorfer, Geschichte des Sozialstaats, S. 29 f.; W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen [1792], Stuttgart 1962, S. 27, sowie S. Zweigs Diagnose des historischen Endes jener Welt in Die Welt von gestern. Zum Juridismus vgl. Kap. XVIII, 5. 113 In diesem Sinne lässt sich die Formel der Revolutionäre des Jahres 1848 verstehen, die auf eine Republik abzielten, »qui sera démocratique et sociale ou ne sera pas«; Donzelot, IS, S. 50; vgl. Ritter, DS, S. 158; F.-X. Kaufmann, Herausforderungen des Sozialstaats, Frankfurt/M. 1997, S. 34 ff., 110, und KZS, S. 20, 289 zum historischen Zusammenhang von Sozialstaat und Demokratie sowie zum Begriff des demokratischen Sozialstaats. 110 111

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sches Leben niemals sich selbst. Vielmehr bleibt es auf Dauer auf jene primäre Sozialität angewiesen, in der die soziale und politische Existenz eines jeden grundsätzlich auf dem Spiel steht; und zwar so, dass sie durch kein Recht allein sicherzustellen ist, wenn es darum geht, ob der oder die Betreffende wirklich zur Sprache kommen, Gehör finden und sich an Auseinandersetzungen um berechtigte Anliegen beteiligen kann. Darin liegt der radikale Sinn einer demokratischen Sozialität bzw. einer sozialen Demokratie, deren institutionelle Einrichtung niemals das quasi anarchische Geschehen des Hörens auf Andere ersetzen kann, das überhaupt erst dazu führt, dass eine Auseinandersetzung anhebt – mit wem auch immer. Wer in dieser Hinsicht ›in Frage kommt‹, ist niemals durch die Zugehörigkeit zu einem klar abgegrenzten ›Volk‹ vorweg eindeutig festzulegen. 114 Auf den radikalen Sinn einer demokratischen Sozialität zurückbezogene Sozialstaatlichkeit ist nicht bloß als eine im Grunde entbehrliche Modifikation des Politischen oder als »nachträgliche Modifizierung von Marktgesetzen« durch Dekommodifizierung 115, sondern als konstitutiv für akzeptable Staatlichkeit als solche zu verstehen, die jeglicher (sekundären) Vermarktlichung vorausgeht. Andernfalls bliebe sie ein »Fremdkörper« oder kontingenter Bestandteil in einem kapitalistischen System 116, dessen schädliche Effekte sie allenfalls abmildern dürfte, ohne aber den sozialen Sinn des Staates selbst auszumachen. Dieser Sinn bedarf jedoch einer neuen, radikalen Explikation, weil inzwischen die Aufgaben des Sozialstaats unter dem Druck ihrer Verrechtlichung, Bürokratisierung, Zentralisierung und 114 Wenn man dagegen das Volk, das sich doch nur aus einem ständigen Kommen und Gehen temporär bildet und immer neu konfiguriert, als eindeutig definierte Größe voraussetzt, ist es problematisch, den Sozialstaat so zu verstehen, dass er als Herrschaft durch und für das Volk die gemeinsame Wurzel des Sozialen und des Demokratischen offenbart, wie Gerhard A. Ritter meint, der den Sozialstaatsgedanken auf Lorenz v. Stein zurückführt (DS, S. 10 f., 68 f.). Muss nicht jedes als eine solche Größe identifizierte bzw. fabrizierte ›Volk‹ tatsächlich polemisch sich selbst entgegengesetzt sein, in sofern niemals alle in ihm aufgehen können, obgleich es das Gegenteil glauben macht? Dies betrifft nicht nur den ehemals als »Stand des Abfalls« bezeichneten Vierten Stand; vgl. P. Steinbach, »Einleitung«, in: W. H. Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft [1851], Frankfurt/M., Berlin, Wien 1976, S. 7–53, hier: S. 29, 37. Alle Anderen, die nicht zu einem identitär konzipierten Volk gezählt werden oder von ihm abfallen wollen, können in diesem Sinne zum ›Abfall‹ gehören – selbst wenn es die Mehrheit ist. 115 Lessenich, Die Neuerfindung, S. 29, 86, 102. 116 DS, S. 12. Vgl. zu dieser Ambivalenz bereits E. Heimann, Soziale Theorie des Kapitalismus. Theorie der Sozialpolitik [1929], Frankfurt/M. 1980, S. 168.

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Professionalisierung kaum mehr zu überblicken sind, wie auch FranzXaver Kaufmann betont, der feststellt, ein gemeinsamer begrifflicher Nenner von Sozialpolitik sei längst nicht mehr zu erkennen. 117 Nicht nur hat »der Staat […] kein Monopol auf das ›Soziale‹« (Hans F. Zacher), es lässt sich auch längst keine umfassende sozialstaatliche »Gesamtordnung« (Alfred Müller-Armack 118) mehr vorstellen, in der sich jeder aufgehoben wissen könnte 119; schon gar nicht in transnationaler Perspektive. Das Soziale, nach dessen »Bewegung« schon Hegel und Lorenz v. Stein fragten, manifestiert sich in einer inkompossiblen Vielzahl von Ordnungen, die sich nicht mehr zu einem einheitlichen System zusammenfügen lassen. Doch liegt es aller Staatlichkeit im oben angedeuteten Sinn zugrunde. Was daraus konkret im Hinblick auf ›sozialpolitisches‹ Handeln im engeren Sinne folgt, ist eine zweite Frage, die sich ohne Einbeziehung ökonomischer Parameter nicht beantworten lässt, angefangen bei der Sicherstellung elementarer materieller Lebensbedingungen. In diesem Sinne, schreibt Stephan Lessenich, ist der Sozialstaat eigens »mit dem Sozialen befasst« (TS, S. 9, 25). Nur dadurch könne er ein elementares Gleichheitsversprechen einlösen oder zumindest daraufhin arbeiten (TS, S. 75). Mit Karl Polanyi begreift auch Lessenich die »Vermarktlichung europäischer Gesellschaften« als eine nachträgliche, vielfach destruktive Überwältigung sozialer Lebensformen (TS, S. 53, 135, 67), die deutlich macht, dass das Soziale einer rückhaltlos auf Kapitalgewinnung ausgerichteten Staatlichkeit vorausliegt und nicht bloß als deren nachträgliche, sie entschärfende Korrektur zu denken ist. So muss man von einer (politischen) »Ökonomisierung des Sozialen« sprechen, die nur in der Besinnung auf ein nicht ›immer schon‹ ökonomisiertes Soziales überhaupt zu kritisieren ist. 120 Diese Besinnung soll zu einer »WiederF.-X. Kaufmann, Sozialpolitisches Denken, Frankfurt/M. 2003, S. 183. Ebd., S. 141. 119 Vgl. dagegen H. Kaelble, Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas 1880–1980, München 1987. 120 Ohne einem bloß naturalen »Jenseits des Ökonomischen« das Wort zu reden (das es für Lessenich »faktisch nicht gibt«), muss man doch auf dieser ›transitiven Problematik‹ insistieren; andernfalls wird die Rede von Ökonomisierung nicht verständlich, auch nicht mit suggestiver kritischer Absicht; vgl. U. Bröckling, S. Krasmann, T. Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M. 2000; F. Nullmeier, »Vermarktlichung des Sozialstaats«, in: WSI-Mitteilungen 9 (2004), S. 495–500; S. v. Dyk, »Grenzüberschreitung als Norm? Zur ›Vereinnahmung‹ von Gegenstrategien im Kapitalismus und den Kon117 118

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aneignung des Sozialen« im Zuge eines »Polanyian countermovement« (TS, S. 146 f.) führen – in einer Zeit, die als nahezu »beliebig« definiert erscheinen lässt, was überhaupt als soziales Problem zu identifizieren ist. 121 Dabei entstehen immer neue Selbstreferenzen sozialen Denkens und Handelns sowie soziale Rückkoppelungsprozesse, die in einer überbordenden Sozialität kaum mehr erkennen lassen, worum es gehen müsste: um »den Menschen« nämlich (TS, S. 21, 24, 136, 143). In dieser verwirrenden Lage sieht Lessenich einen zwiespältigen »neuen Aggregatzustand des Sozialen« sich abzeichnen (TS, S. 55): Jeder wird angeblich berücksichtigt, einbezogen oder »inkludiert«; zugleich aber zeichnen sich Phänomene der »Entgesellschaftung« (Theodor Geiger; TS, S. 56), des Prekärwerdens sozialen Lebens und der Exklusion ab (TS, S. 47, 108), die das sozialstaatlich auf Dauer gestellte ordering of social relations (Gøsta Esping-Andersen) immer auch mit »Ausgrenzung des ›Anderen‹« bezahlen und möglicherweise genau darauf auch angelegt sind (TS, S. 48, 62). 122 Angeblich gibt es zwar überhaupt niemanden mehr, der sich dem Sozialen gänzlich entziehen könnte – womit wiederum das Gespenst einer totalen Vergesellschaftung heraufbeschworen wird. »In such a society, no such thing as an unrelated individual may exist« (Pierpaolo Donati; TS, S. 93). Die Art und Weise der »Relation« muss jedoch neu bedacht werden, wenn der Verdacht zu Recht besteht, dass sie es keineswegs ausschließt, dass viele unter der Herrschaft eines nur noch schwer zu ortenden Kapitals 123 aus einer vergesellschafteten Sozialität mehr sequenzen für eine Soziologie des Widerständigen«, in: K. Becker, L. Gertenbach, H. Laux, T. Reitz (Hg.), Grenzverschiebungen des Kapitalismus. Umkämpfte Räume und Orte des Widerstands, Frankfurt/M., New York 2010, S. 33–54; Lessenich, TS, S. 113 f., 144. 121 Siehe oben, Anm. 8. 122 In diesem Zusammenhang spricht Bertrand Ogilvie drastisch von einer Produktion von »Menschenmüll«, der ohne weiteres sich selbst überlassen bleiben könne und dessen man sich bedenkenlos meint entledigen zu können. Étienne Balibar macht dafür eine ›gesichts-‹ und ›subjektlose‹ Gewalt verantwortlich, die er nach psychoanalytischem Vorbild auf einem »anderen«, gesellschaftlich unbewussten »Schauplatz« lokalisiert. Aber ist dieser Schauplatz nicht auch der »Schauplatz des Anderen«, insofern dessen ›Gesicht‹ auf dem Spiel steht, wie es der dt. Buchtitel suggeriert? É. Balibar, Der Schauplatz des Anderen. Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität, Hamburg 2006, S. 11, 36 f., 224, 275 ff. 123 Bei Streeck »spricht« das bezeichnenderweise in Anführungszeichen gesetzte »Kapital« zwar noch, aber mit einer »Magie der Undurchschaubarkeit«, die selbst Experten ratlos macht, insofern »niemand weiß, wer die Märkte sind«, die die Herrschaft

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oder weniger herauszufallen drohen; und zwar infolge durchgreifender Machtstrategien, die scheinbar genau das bezwecken sollen: eine Masse prekärer Existenzen zur freien Verfügung des Marktes unter andauerndem ökonomischem Druck zu halten. 124 Kann man auch in der Weise des Ausgeschlossenseins ›dazugehören‹ ? 125 Inwieweit kann es überhaupt gelingen, soziale Beziehungen ganz ›in Ordnung‹ zu bringen? Wenn jede Form der Beachtung, Einbeziehung oder Inklusion auch eine dunkle Kehrseite der Nichtbeachtung, der Nichteinbeziehung oder Exklusion hat, was folgt dann daraus im Hinblick auf den ›sozialstaatlichen‹ Anspruch, den entsprechenden negativen Erfahrungen aller Beteiligten (ob ortsansässig oder fremd) Rechnung zu tragen? Keinesfalls kann der Sozialstaat noch eine, alle Beteiligten völlig umfassende und dabei gute und gerechte Ordnung des Sozialen in Aussicht stellen; und wenn sozialstaatliches bzw. -politisches Tun nur in einem ständigen, instabilen und prekären In-Ordnung-bringen oder relations managing des Sozialen geschehen kann, muss es damit rechnen, dass dieser Anstrengung immerfort vieles entgeht oder sich entzieht, was so wie Anormales, Nicht-Identisches, radikal Anderes, Fremdes, Ausgeschlossenes und Außerordentliches niemals ganz bzw. restlos in einer Ordnung aufgehen kann. Als bloß unvermeidliche Kehrseite des Sozialen ist das nicht abzutun, denn daraus entstehen Konflikte, in denen die Beteiligten vielfach mit Bestimmtheit zurückweisen, was sie für unakzeptabel, ›unannehmbar‹ und verletzend halten, wenn sie sich als nicht wahrgenommen, nicht einbezogen und nicht ›gefragt‹ erleben und infolgedessen danach verlangen, gesehen, gehört, beachtet und mit ihren – keineswegs immer schon legitimen, sondern oft überhaupt erst originär ›zur Geleiner entdemokratisierten Ökonomie durchsetzen. Gewisse »innere Kreise« werden nur vermutet (GZ, S. 20, 28, 162, 245). 124 M. Kronauer, Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus, Frankfurt/M., New York 2002; H. Bude, A. Willisch (Hg.), Exklusion. Die Debatte über die »Überflüssigen«, Frankfurt/M. 2008; R. Castel, K. Dörre (Hg.), Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt/M., New York 2009; I. Lorey, Die Regierung der Prekären, Wien 2012; Streeck, GZ, S. 68, 95; Bauman, Flüchtige Moderne, S. 189, 192, 201. 125 Bekanntlich hat Giorgio Agamben diese Frage zu einer für das Politische konstitutiven verschärft, so dass sie nicht mehr als kontingente Begleiterscheinung sozialen oder politischen Lebens abzutun ist; G. Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002; R. Esposito, Immunitas. Schutz und Negation des Lebens, Berlin 2004.

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tung zu bringenden‹ – Ansprüchen anerkannt zu werden. Kein Sozialstaat aber kann noch glaubhaft versprechen, das in der Erfahrung des Negativen liegende Konfliktpotenzial zur Gänze in sich ›aufzuheben‹, um durch ›bestimmte Negation‹ Wege zu einem besseren, vernünftigen Leben zu weisen, die sich auch normativ rechtfertigen lassen. 126

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Mit Recht hat Anthony Giddens darauf hingewiesen, dass der Ausdruck ›Sozialstaat‹ das begriffliche Problem aufwirft, »daß nicht klar ist, welcher Teil des Wortes die nähere Bestimmung des anderen ist«. 127 Es könnte auch beides zutreffen: In der historischen Gestalt des Sozialstaates nimmt das Soziale, das ihm im skizzierten Sinne vorausliegt, seit dem 19. Jahrhundert politisch-rechtliche Formen an, darunter solche, die ihn im Gegensatz zu anderen Staaten als besonders ›sozialen‹ ausweisen, insofern er sich die nicht kommerziell zu 126 Vgl. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 156, 235. Dagegen verteidigt Honneth in seinem Buch Die Idee des Sozialismus die Aussicht, dass dereinst Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bzw. Solidarität »zur Deckung kommen« können; und zwar »widerspruchsfrei« (S. 35). In »wahrer Gemeinschaft« sollen sie »voll zusammenfallen« können im »Sich-Ergänzen im Anderen« (S. 41 f.); zumindest in einer Zukunft, auf deren Realisierung angeblich eine mit Hegel gedachte geschichtliche Wirksamkeit hin tendiert. So stehe zu hoffen, dass es früher oder später nicht nur zur Wiedereinbettung des kapitalistischen Wirtschaftens in die Gesellschaft der Menschen (à la Polanyi), sondern im Sinne dieser Ideale auch zu einer wünschenswerten »Entgrenzung von Kommunikation und sozialer Interaktion« kommt (S. 103). So wird das Soziale (bzw. ein verallgemeinerbarer »Anspruch auf das Soziale«) als institutionalisiertes Versprechen gedeutet, eine »ungehinderte [!] Verwirklichung von Bedürfnissen« möglich zu machen (S. 105). »Genuin sozial« wäre am Ende einer solchen Entwicklung die erfolgreiche Überwindung von »Zwang, Beeinflussung und Nötigung« (S. 141) in einem krisenfreien, quasi-organismischen Funktionieren des Sozialen. So soll in einem idealen »Füreinander« nur noch »ungehinderte Artikulation« und »Ergänzung« von transparenten Bedürfnissen stattfinden. Intransparenz, irreduzible Konflikthaftigkeit, unaufhebbaren Widerstreit und Nicht-Versöhnbarkeit eines sublunaren Lebens kennt diese Theorie des Sozialen scheinbar genauso wenig wie eine innere Ambivalenz in der Vorstellung »entgrenzter« Kommunikation und Interaktion. Ob die Normalität eines Organismus einem solchen Versöhnungsdenken als Vorbild dienen kann, muss man überdies bezweifeln. Als »krisenfrei« (ebd., S. 143) ist sie spätestens seit Georges Canguilhems einschlägigen Untersuchungen gewiss nicht mehr zu verstehen. Siehe Bd. II, S. 785. 127 Giddens, Jenseits von Links und Rechts, S. 186.

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regelnden Angelegenheiten vergesellschafteten Lebens zu eigen macht. So gesehen wäre der Sozialstaat in seinen verschiedenen Spielarten als eine politisch-rechtliche Erscheinungsweise des Sozialen zu begreifen, aus dem er zwiespältig hervorgeht, indem er sich ihm eigens widmet und indem er dabei Gefahr läuft, es sich monopolisierend anzueignen. Letzteres kann man kritisieren, wie es denn auch vielfach geschehen ist 128, ohne das Soziale selbst in der Illusion zu verwerfen, wir könnten auch ein nicht-soziales (sei es privates oder politisches, von der angeblichen Vorherrschaft des Sozialen endlich wieder befreites) Leben leben. Hier wird eine genau entgegengesetzte Deutung vorgeschlagen, der zufolge uns das Soziale buchstäblich elementar ausmacht. Gerade weil es uns aber rückhaltlos erfasst zu haben scheint, ist es so schwer anzugeben, inwiefern es uns auf unhintergehbare Art und Weise konstituiert, von Anfang an, von Geburt an (oder schon seit dem wir erwartet worden sind), ursprünglich bzw. in der Tiefe mitmenschlichen Daseins, das man von Martin Heidegger über Karl Löwith und Aron Gurwitsch bis hin zu Jean-Luc Nancy auch als miteinander-seiendes, mit-weltliches, ko-existierendes charakterisiert hat, um diese Unhintergehbarkeit zum Ausdruck zu bringen, die bedeutet, dass auch ein prima facie a-soziales oder anti-soziales, ein ungeselliges, zwieträchtiges oder böses, ein abnormes, wildes oder gar monströses Verhalten niemals ganz aus einer elementaren Sozialität herausfallen kann, der es sich allenfalls mehr oder weniger entzieht. Ob dieser ›Entzug‹ nicht doch so weit gehen kann, schließlich aus jeglicher sozialen Relationalität auszuscheren, steht allerdings ebenso dahin wie die Frage, ob sich das ›elementare‹ Soziale etwa in bloßer Bezogenheit auf Andere erschöpfen kann, ohne im Geringsten zu bestimmen, wie und in welchem Sinne letztere Gestalt annimmt. Heißt, mit anderen Worten, ›sozial‹ zu existieren nur, irgendwie auf Andere bezogen zu leben, wie konkret auch immer – sei es solidarisch, sei es auch in »unerträglicher Promiskuität« und »widerwärtiger Nachbarschaft«? 129 Und schließt es aus, sich je gänzlich dem So128 Vgl. KZS, S. 13, 21, 344 zu fragwürdigen Herrschaftsansprüchen im Namen des Sozialen – bis hin zu einer »autoritären Gemeinwohlinterpretation« durch diejenigen, die im Grunde eine neo-liberale Abwirtschaftung des Sozialstaats betreiben. 129 Ewald, Der Vorsorgestaat, S. 466. Der normalsprachliche Ausdruck »für Andere (nicht) da sein« ist vieldeutig. Negativ kann er besagen: jemand »existiert für uns« gar nicht; wir wissen zwar, dass es ihn gibt, aber das bedeutet uns nichts, ist gleichgültig (oder wurde vergleichgültigt). Für Andere da zu sein, kann aber auch bedeuten, sich

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zialen entziehen zu können? Wäre das Soziale insofern als uns total erfassendes zu verstehen, als Totalität, die manche bereits für unbestreitbare Realität halten? 130 Kann das zutreffen, wenn ihm eine unaufhebbare Inhomogenität, Andersheit oder Fremdheit eignet? Stehen diese ihrerseits heterogenen Begriffe für ›Eigenschaften‹ des Sozialen? Haben wir es hier mit ontischem oder ontologischem Denken zu tun, mit Wesensbestimmungen sozialer Realität oder sozialen Daseins, wie man sie im Sinne einer Physiologie oder Physik des Sozialen von Claude-Henri de Saint-Simon über Adolphe Quetelet bis hin zu Emile Durkheim antrifft? 131 Wie virulent diese Fragen nach wie vor sind, ist u. a. aus Pierre Bourdieus Versuch zu ersehen, sich in der Auseinandersetzung mit den Traditionen sozialer Physik und der Sozialphänomenologie der Grundlagen einer zeitgemäßen Sozialwissenschaft als einer Wissenschaft sozialen Sinns zu versichern. 132 Dieser sei zwar in ökonomische und politische Kraftverhältnisse gleichsam eingespannt, lasse sich aber nicht auf eine Art Physik des Sozialen reduzieren, wenn es stimmt, dass sich auch solche Verhältnisse nur im Rekurs auf Formen des Verhaltens verstehen lassen, die ›sinnhaft‹ »auf das Verhalten anderer bezogen« sind, wie Max Weber im methodologischen Teil seines Hauptwerks Wirtschaft und Gesellschaft (1921) schrieb, an das auch Bourdieu, wie schon Alfred Schütz in seiner Phänomenologie des »sinnhaften Aufbaus der sozialen Welt«, anknüpft. 133 Von um sie zu kümmern, sich um sie zu sorgen, ggf. reziprok im Füreinanderdasein, ob spontan oder aufgrund einer Pflicht, wie sie im Solidarismus gedacht wurde. 130 T. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/M. 1978, S. 10 f.; I. Kertész, Die exilierte Sprache, Frankfurt/M. 2004, S. 105. Lt. N. Luhmann schließt das Gesellschaftliche »alles Soziale in sich ein«; aber nur die Welt habe streng genommen kein »Außen«, da sie gegen nichts abgegrenzt sei; vgl. J. Ritsert, Gesellschaft. Einführung in den Grundbegriff der Soziologie, Frankfurt/M. 1988, S. 149, 159. Kann ersteres aber stimmen, wenn alles »Vergesellschaftet-Sein« mitbestimmt ist durch ein »Nicht-Vergesellschaftet-Sein« (G. Simmel)? »Ohne dieses Außerhalb« wäre Vergesellschaftung nicht möglich, heißt es bei Ritsert (ebd., S. 43 f., 46). Weiter wäre zu klären, ob dieses Außerhalb, diese Exteriorität, um den früheren Begriff wieder aufzunehmen, in der so verstandenen Welt aufgeht oder nicht. Vgl. die Einwände aus ästhetischer Sicht bei W. Haftmann, Skizzenbuch. Zur Kultur der Gegenwart, München 1960, S. 57, 121, 126. 131 Lepenies, Soziologische Anthropologie, S. 83; E. Durkheim, Physik der Sitten und des Rechts, Frankfurt/M. 1991. 132 P. Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/M. 21997, Kap. 9 (= SS). 133 Von der bei Bourdieu betonten ›habituellen‹ Form des Bezogenseins sehe ich hier

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solcher Bezogenheit ist auch dann auszugehen, wenn sich societal facts 134, soziale Funktionen und Strukturen scheinbar verselbständigen und sich gleichsam über die Köpfe derer hinwegsetzen, auf deren sozialem Verhalten und Handeln sie basieren. Das Soziale käme demnach überall dort ins Spiel, wo auf Andere bezogenes Verhalten festzustellen ist (sei es ausdrücklich so intendiert, sei es habitualisiert, sei es vis-à-vis Anderer oder vermittelt in vielfältigen Relationen zu Dritten, sei es institutionalisiert oder quasi automatisiert). Bereits Max Scheler hatte allerdings in seinem Buch Wesen und Formen der Sympathie (1912) auf der signifikativen Differenz insistiert, die darin liegt, »auf den anderen als anderen« bezogen zu sein (wie im Mitleiden »mit dem fremden Leide ›als fremdem‹«), ohne aber eigens Rechenschaft davon abzulegen, was hier ›anders‹ und ›fremd‹ heißen soll. 135 Anknüpfend an diese Differenz bringt die mit Scheler, Heidegger, Löwith, Husserl, Schütz und vielen anderen 136 ansetzende Sozialphänomenologie das Erfordernis einer radikalen Revision des Sozialen zur Geltung, dessen ›Besonderheit‹ sich nicht in der sozial-physikalisch festzustellenden Suprematie sozialer Tatsachen und Sachverhalte erschöpft, deren objektives Gewicht sich uns ›aufzwingt‹, wie Durkheim geschrieben hatte, um auf diesen Befund seine Regeln der soziologischen Methode (1895) zu gründen. Von Roger Caillois über Jean-Paul Sartre bis hin zu Pierre Bourdieu spricht man in diesem Sinne auch von einer »Transzendenz« oder »Exteriorität« des Sozialen, meint damit aber lediglich eine wahrgenommene Äußerlichkeit sozialer Tatsachen und Verhältnisse, die von Einzelnen unabhängig und insofern objektiv gegeben zu sein scheinen. 137 Denjenigen gegenüber, die sozial existieren, können sich Funktionen und Strukturen sozialen Lebens, die sie dabei hervorbrinab. Vgl. zum Weber-Bezug A. Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie [1932], Frankfurt/M. 21981, Kap. 2 und 32. 134 M. Mandelbaum, »Societal Facts«, in: A. Ryan (Hg.), The Philosophy of Social Explanation, Oxford 1973, S. 105–118. 135 M. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie [1912], Bern 1974, S. 28, 51. Hervorhbg. B. L. 136 Vgl. etwa B. Waldenfels, »Sozialphilosophie im Spannungsfeld von Phänomenologie und Marxismus«, in: G. Fløistad (Hg.), Contemporary Philosophy. A New Survey, Vol. 3, The Hague, Boston, London 1982, S. 219–242. 137 R. Caillois, »Die Macht« [1938], in: D. Hollier (Hg.), Das Collège de Sociologie 1937–1939, Berlin 2012, S. 151–158, hier: S. 153; J.-P. Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft. Bd. 1. Theorie der gesellschaftlichen Praxis [1960], Reinbek 1967, S. 190, 380, 630; Bourdieu, SS, S. 83.

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gen, relativ verselbständigen. 138 Aber diese relative Exteriorität und Transzendenz ruht allemal auf den Verhältnissen derer auf, die sich zunächst ›sozial‹ zueinander verhalten. In diesen Verhältnissen, wo man sich an Andere ›als Andere‹ und an Fremde als solche wendet, und zwar »auf Erwiderung hin«, wie Löwith in Anlehnung an Johann G. Herder, Wilhelm von Humboldt, Ludwig Feuerbach und Martin Buber, also an die dialogistische Tradition, schrieb 139, stoßen wir ebenfalls auf eine Exteriorität, deren Spur jene Differenz verrät. Darauf insistieren von Edmund Husserl über Emmanuel Levinas bis Bernhard Waldenfels alle Autoren, die in der von Max Weber nicht weiter befragten Bezogenheit auf Andere 140 nicht etwa das feste und selbstverständliche Fundament des Sozialen, sondern gerade das sehen, was es radikal zu revidieren zwingt, allen weit zurückreichenden Ansätzen zu einer Sozialanthropologie, Soziologie, Sozialpsychologie und -philosophie zum Trotz. 141 Am wenigsten wissen wir demnach gerade über das Elementarste, dasjenige, was uns angeblich zu durch und durch sozial Existierenden macht. Handelt es sich überhaupt um ein ›Das‹, um ›etwas‹, das sich epistemisch gleichsam dingfest machen ließe (wie Durkheim glauben machte)? Lässt sich der Andere als solcher überhaupt dieser tradierten Art des Fragens und einem Wissen vom Sozialen unterwerfen? Nichts ist weniger sicher, nachdem die Frage, was den ›Bezug‹ auf Andere als solche ausmacht, alle genannten Diskurse bis heute unterwandert hat. Das gilt nachweislich für alle Formen der Bezugnahme, die man für elementar gehalten hat: von der Anrede und vom Gespräch (Wilhelm v. Humboldt; Ludwig Feuerbach; Martin Buber) über den Austausch, das ein- und gegenseitige Geben und die Reziprozität (Marcel Mauss; Claude Lévi-Strauss; Marshall Sahlins) bis Vgl. A. Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1988, S. 249, 276. 139 K. Löwith, »Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen« [1928], in: Sämtliche Schriften, Bd. 1, Stuttgart 1981, S. 9–197, hier: S. 122. 140 In ihrem Vergleich von Husserl und Mead stellen W. Bergmann und G. Hoffmann fest, selbst bei letzterem werde »die Frage nach dem Anderen […] nicht gestellt«; in: »G. H. Mead und die Tradition der Phänomenologie«, in: H. Joas (Hg.), Das Problem der Intersubjektivität. Neuere Beiträge zum Werk George H. Meads, Frankfurt/M. 1985, S. 93–130, hier: S. 95. 141 In seiner Bilanz aus dem Jahr 1935 stellt Raymond Aron fest, »die historisch denkenden Soziologen [leugnen], daß das Wesen des Sozialen in überzeitlichen und allgemeinen Beziehungen gefunden werden könne«. Aron, Die Deutsche Soziologie, S. 5. 138

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hin zur Bildung von Gemeinschaften (Ferdinand Tönnies; Helmuth Plessner; Theodor Litt; Maurice Blanchot; Jean-Luc Nancy; Roberto Esposito) und Formen der Vergesellschaftung (Karl Marx; Georg Lukács; Jean-Paul Sartre; Talcott Parsons etc.) sowie Lebensformen jeglicher Art 142, deren regelhafte Infrastrukturen die Ethnologen und Soziologen des Alltäglichen 143 interessieren. Von Ludwig Wittgenstein, der sich von James G. Frazers The Golden Bough (1890 ff.) anregen ließ, über Peter Winchs, auf Wittgensteins Spätphilosophie zurückgreifende Frage, »Was heißt ›Eine primitive Gesellschaft verstehen?‹« 144 (1972) bis hin zu Clifford Geertz’ Buch Dichte Beschreibung (1973) über das Verstehen archaischer Lebensformen und JeanFrançois Lyotards, ebenfalls auf Wittgenstein zurückgreifendem Buch Der Widerstreit (1983) bleibt die Frage virulent, ob und wie die sprachlichen und pragmatischen Strukturen sozialen Verhaltens auf allen Ebenen überhaupt als ›soziale‹ im Sinne eines Bezogenseins auf Andere als Andere zu verstehen sind. Dieses Buch greift zudem entscheidende Anregungen der Ethik von Levinas auf, in der mit Nachdruck bestritten wurde, der Andere könne sich allemal nur als relativ Anderer und in diesem Sinne als ›Verschiedener‹ erweisen, so dass nur dialektische Theorien der Differenz, wie sie im Anschluss an Hegel entfaltet worden sind, als dem angemessene Sozialphilosophie in Frage kommen würden. Die Freiheit des Anderen liegt gerade in seiner ›unaufhebbaren‹ Fremdheit, lesen wir in Levinas’ erstem Hauptwerk, Totalität und Unendlichkeit (1961) mit dem bezeichnenden Untertitel: Versuch über die Exteriorität. 145 Bereits in der ersten Auseinandersetzung mit diesem Werk, in Jacques Derridas großem Essay Gewalt und Metaphysik (1964), wird aber diese anti-dialektische Wendung der Sozialphilosophie zurückgewiesen und (rhetorisch) gefragt, ob uns nicht gerade Hegel, 142 Vf., »Lebensform/Lebenskunst«, in: P. Kolmer, A. G. Wildfeuer (Hg.), Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 2, Freiburg i. Br., München 2011, S. 1404–1418. 143 A. Heller, Das Alltagsleben. Versuch einer Erklärung der individuellen Reproduktion, Frankfurt/M. 21981. 144 P. Winch, Ethics and Action, London 1972; ders., Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie, Frankfurt/M. 1974; L. Wittgenstein, »Bemerkungen über Frazers ›The Goulden Bough‹«, in: R. Wiggershaus (Hg.), Sprachanalyse und Soziologie. Die sozialwissenschaftliche Relevanz von Wittgensteins Sprachphilosophie, Frankfurt/M. 1975, S. 37–58. 145 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität [1961], Freiburg i. Br., München 1987, S. 100.

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besser als alle anderen, über die elementarsten Beziehungen zum Anderen aufgeklärt habe, die ein Selbst unterhalten kann und die es geradezu ausmachen. 146 Dabei hatte Levinas immerfort die Relation des Selben und des Anderen in Frage gestellt und sowohl die Methode der Dialektik als auch diejenige der Ontologie des Mitseins zurückgewiesen, insofern sich der Andere nicht auf einen Anderen für mich, nicht auf ein Seiendes und auch nicht auf den Horizont des Seins reduzieren lasse. Die Frage, warum nicht, wie man das zeigen kann und welche Konsequenzen das für ein sozialphilosophisches Denken haben muss, das nach Hegel, Husserl und Heidegger eben erst zu sich selbst gefunden zu haben schien, irritiert diesen ganzen Arbeitsbereich bis heute nicht nur; er wird bis in seine vermeintlich fest etablierten Grundlagen hinein erschüttert. Denn Levinas stellt sogar in Frage, ob man im Rahmen eines von den Griechen geerbten Vernunftdenkens überhaupt dem Anderen als Anderem gerecht werden kann; ob es über eine dafür geeignete Sprache verfügt und ob es überhaupt schon realisiert hat, was (sozialphilosophisch) ›zu denken gibt‹ und insofern am Anfang aller Sozialphilosophie stehen muss. Das ist für Levinas nicht das Wissen, es mit ›jemand anderem‹ zu tun zu haben, den man vor sich hat, den man sehen, sich vorstellen und imaginieren kann, in den man sich emphatisch ›hineinzuversetzen‹ vermag und dessen ›Sicht‹, ›Standpunkt‹ oder ›Perspektive‹ man angeblich ›einnehmen‹ oder ›übernehmen‹ kann, sondern ein vorgängiges Infragegestelltwerden durch den Anderen gerade in der äußersten Gewalt, die man ihm antut. Auf diese bereits in Levinas’ erstem Hauptwerk aufgeworfene, zweifellos vom gewaltträchtigsten aller bisherigen Jahrhunderte motivierte Leitfrage war die Sozialphilosophie überhaupt nicht vorbereitet. Und nicht selten erweckt sie bis heute einen historisch indifferenten Eindruck, so als gehe sie die Vergangenheit allenfalls im Lichte der eigenen Ideengeschichte etwas an. 147 Verbal ist nach der Erfah146 J. Derrida, »Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Levinas’«, in: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1976, S. 121–235, hier: S. 191. 147 Allenfalls wird Geschichte und das Verstricktsein in Geschichten zum Gegenstand sozialphilosophischen Denkens, nicht aber, von begriffs- und ideengeschichtlichen Dimensionen abgesehen, dieses selbst einer geschichtlichen Subversion ausgesetzt gesehen. Vgl. bspw. E. Topitsch, Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft, Neuwied 31971; H. Zeltner, Sozialphilosophie. Die Kategorien der menschlichen Sozialität, Stuttgart 1979; H. Rombach, Phänomenologie des sozialen Lebens. Grundzüge einer phänomenologischen Soziologie, Freiburg i. Br., München 1994;

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rung zweier Weltkriege zwar nicht selten unumwunden eingestanden worden, dass sie ›geschichtsbewusst‹ neu anzusetzen hätte. 148 Längst wuchert aber eine sozialphilosophische Literatur, die über entsprechende Lippenbekenntnisse kaum hinausgeht oder sogar ganz ohne jegliche historische Situierung auskommt. Von einer nachhaltigen historischen Irritation, wie sie von Paul Valéry über Jan Patočka, Karl Jaspers und Hannah Arendt bis hin zu Paul Ricœur, Tzvetan Todorov, Yves Ternon, Enzo Traverso und Zygmunt Bauman artikuliert worden ist, ist weithin wenig zu spüren; auch dort nicht, wo man sich auf die ehemals Kritische Theorie genannte Tradition beruft, die sich mit einem ungeahnten geschichtlichen Desaster des Sozialen konfrontiert sah. 149 Mehr noch: historisches und soziales Denken, Gesellschaftsgeschichte und Sozialphilosophie gehen wieder weitgehend getrennte akademische Wege. Die Unruhe aber hält an 150 – ungeachtet einer überwiegend ›politisch korrekten‹ Literatur, die den demokratischen Rechtsstaat als niemals wieder preiszugebende Errungenschaft der (deutschen) Nachkriegszeit verteidigt und sich unbeirrt auf überlieferte normative Begriffe stützt, mit deren Hilfe zukunftsweisend anzugeben sein soll, wo sich eine mehr oder weniger pathologische Gegenwart vom richtigen Kurs fortschreitender Verwirklichung des Richtigen, Guten und Gerechten entfernt und daran erinnert werden muss. Dabei sind wir längst mit radikalen Formen der Verwerfung alles Sozialen in terroristischer Gewalt etwa konfrontiert, die alle auf kommunikative Verständigung Verpflichteten ratlos macht: Wie kann man mit derartiger Gewalt alles verwerfen – von der jedem zugestandenen Freiheit über die sozialen Grundrechte bis hin zu umfassender und differenzsensibler Anerkennung –, was doch selbst dem Fremden und dem Feind hatte gerecht werden sollen? Hatte der demokratische Rechtsstaat nicht sogar in Aussicht gestellt, jeden Anderen »in seiner [absoluten] Andersheit« nicht nur einzubeziehen, sonB. Wirkus, Deutsche Sozialphilosophie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 1996; T. Bedorf, Andere. Eine Einführung in die Sozialphilosophie, Bielefeld 2011. 148 Vgl. T. W. Adorno, Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt/M. 41975. 149 Dem entsprechend spielt auch ein starker Begriff der Alterität praktisch keine Rolle mehr; vgl. etwa Fischbach, Manifest für eine Sozialphilosophie. 150 Vgl. etwa H. Joas, W. Knöbl, Sozialtheorie, Frankfurt/M. 2004, die (u. a. mit Blick auf das Werk Z. Baumans) zu dem Schluss kommmen, »die Vermittlung von Normativität und Geschichte« bleibe ein uneingelöstes Desiderat einer zeitgemäßen Sozialtheorie (vgl. S. 763; zu Bauman ebd., S. 656 ff.).

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dern auch anzuerkennen und ›inklusiv‹ zu würdigen? 151 Verwirft radikale Gewalt all dies ein ums andere Mal? Statt die im sogenannten Westen vermeintlich bereits verlässlich etablierten Strukturen des Sozialen nur fortzuschreiben und zu verteidigen, wie es vor allem Francis Fukuyama vorgeschlagen hat 152 und wie es alle diejenigen faktisch tun, die zur liberalen Demokratie nirgends eine echte Alternative sehen 153, brechen andere mit Blick auf diese Frage gewissermaßen in die Gegenrichtung auf, um alle Grundlagen erneut radikalen Revisionen zu unterziehen, auf denen ein Denken des Sozialen beruht, das scheinbar keine historische Belehrung mehr nötig hat, weil es längst weiß, worauf es ankommt in einer politisch-rechtlich formierten Vergesellschaftung, die es verdient, ›sozial‹ genannt zu werden: Verpflichtung auf Verständigung, Anerkennung, Gerechtigkeit, Teilhabe etc. Im Zuge solcher Revisionen gibt man sich nicht (unter Berufung auf Aristoteles, Herder, W. v. Humboldt, Ernst Cassirer und die philosophische Hermeneutik bis hin zu Hans-Georg Gadamer oder unter Berufung auf die sprachanalytische Philosophie) mit dem Befund zufrieden, wir seien sprachlich verfasste Wesen und als solche auch schon zu politischer Koexistenz bestimmt, wie es zuletzt noch John R. 151 J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M. 21997, S. 19, 172. Habermas spricht auch von absoluter Verschiedenheit (ebd., S. 58) – was ihn später nicht gehindert hat, umstandslos als »›postmoderne‹ Erben Heideggers« eingestufte Autoren, die für »die Andersheit des Anderen« angeblich »Partei ergreifen«, als in Wahrheit Antimoderne zu brandmarken und so ins philosophische Abseits zu verweisen. Derartige Ideenpolitik kann Autoren wie Levinas, Derrida, Lyotard und Ricœur gewiss nicht gerecht werden; vgl. J. Habermas, »Jenseits des Nationalstaats? Bemerkungen zu Folgeproblemen der wirtschaftlichen Globalisierung«, in: U. Beck (Hg.), Politik der Globalisierung, Frankfurt/M. 1998, S. 67–84, hier: S. 80 f. 152 F. Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992; zum Kontext dieses endism vgl. Vf., »Kritische Kulturphilosophie als restaurierte Geschichtsphilosophie? Anmerkungen zur aktuellen kultur- und geschichtsphilosophischen Diskussion mit Blick auf Kant und Derrida«, in: Kantstudien 98 (2007), Heft 2, S. 183–217. 153 Vgl. C. Strenger, Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit, Berlin 32015. Hier wird eine Ideologie der »politischen Korrektheit« gebrandmarkt, die es angeblich verlangt, keine (vom »westlichen« Modell) abweichende Lebensform zu kritisieren. Dem entsprechend richtet sich die Kritik des Autors nur noch nach außen, gegen nicht-westliche Lebensformen, als ob nicht der Westen – v. a. in Zeiten von George W. Bush (jun.), Donald Rumsfeld und Richard B. Cheney – sein Ansehen nachhaltig selbst beschädigt hätte, von der gegenwärtigen amerikanischen Regierung ganz abgesehen.

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Searle lehrte. 154 Vielmehr geht man auf das elementarste Geschehen des Ausdrucks, der Inanspruchnahme, der Anrede, des Vokativs und der Erwiderung zurück, um zu prüfen, wie (und was) uns der Andere ›angeht‹, sei es in direkter Konfrontation, friedlich oder gewaltsam, sei es vermittels befreundeter, neutraler oder feindlicher Dritter und einer anonymen Gesellschaftlichkeit, die scheinbar kein Von-Angesicht-zu-Angesicht mehr kennt. Dabei konnte man vor allem an den sog. Expressivismus Herders, Humboldts und Hegels anknüpfen, der menschliches Leben als ein um Ausdruck ringendes, aber auch in ihm aufgehendes beschrieben hatte. 155 Letzteres verwirft wie kein anderer der frühere Hegelianer Franz Rosenzweig, nach dem Ersten Weltkrieg bis auf die Knochen desillusioniert von der Gewalt-Zeit, der er sich und ganz Europa ausgesetzt sah, in seinem zweiten Hauptwerk, Der Stern der Erlösung (1921), ohne das Buber und Levinas kaum vorzustellen sind. Während Rosenzweigs brillante, bereits im Jahre 1914 abgeschlossene Schrift Hegel und der Staat (1920) noch eine geschichtliche Vernunft zu verteidigen schien, die wie das Schiller’sche Weltgericht sittlichen Fortschritt erzwingen müsste 156, ist der Stern als Apologie einer »abgeschiedenen« Individualität zu lesen, die von Geburt an dem Staat fremd bleibe. Den bei Hegel politisch entfalteten Begriff des Staates 157 weist Rosenzweig höchst folgenreich für jede künftige Sozialphilosophie schließlich zurück, um sich zu fragen, wie ein singuläres, sich jedem Vergleich entziehendes Selbst 158 überhaupt wirklich sein kann, ohne in einer über den Tod aller Einzelnen sich hinwegsetzenden ›geistigen‹ Vernunft aufzugehen. Bleibt es als unbezeugtes Selbst nicht jedem Anderen verborgen (SE, S. 82)? 159 Muss es sich nicht an Andere wenden, um sich als

154 J. R. Searle, Making the Social World. The Structure of Human Civilization, Oxford 2010; siehe dazu das Kap. II in diesem Band. 155 Siehe dazu das Kap. V in diesem Band. 156 Rosenzweig, Hegel und der Staat, S. 128, 260, 444, 447. Bezeichnenderweise sieht sich Rosenzweig zufolge seines Vorworts aus dem Jahre 1920 aber schon mit einem »allgemeinen Schiffbruch des Geistes« auf einem »Trümmerfeld« konfrontiert, »wo vormals das Reich stand« (ebd., S. 15, 18). 157 Zum Begriff des Politischen bei Hegel bzw. zu einer dezidiert politischen Auffassung seiner Theorie der Gesellschaft vgl. ebd., S. 17, 320, 344, 465. 158 F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung [1921], Frankfurt/M. 51996 (= SE), S. 74, 262. 159 Vgl. Vf., Prekäre Selbst-Bezeugung. Die erschütterte Wer-Frage im Horizont der Moderne, Weilerswist 2012.

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sprechendes kraft des Wortes, das gehört und erwidert wird, seiner Existenz und Wahrheit versichern zu können? Singularität, Selbst-Bezeugung, das an Andere gerichtete und erwiderte Wort: ohne diese Schlüsselbegriffe ist eine nachfolgende Sozialphilosophie nicht zu verstehen, die sich von Anfang an weigert, den Einzelnen je in einem sozialen ›Ganzen‹ aufgehen zu lassen, und das singuläre Leben eines jeden nur unter der Bedingung als soziales denken will, dass es sich zugleich jeglicher Integration oder Inklusion widersetzt. Zwar soll als »sichtbares Zeugnis« des Selbst »nur das Wort« in Betracht kommen, das als Gesagtes und Verschriftlichtes in eine geistige Geschichte eingehen kann; aber als ›sprechendes‹, nicht bloß gesprochenes, ruft es den Anderen als Zeugen an, der antworten soll: »hier bin ich« – sei es auch nur als dir Gehör Schenkender (SE, S. 164, 265, 195). In einem solchen sozialen Geschehen ist jeder Einzelne »ohne Gattung« (SE, S. 208); und aus dieser unüberwindlichen Heterogenität heraus wenden wir uns aneinander, ohne je darin, in der Bezeugung einer Beziehung, in einer Gemeinschaft oder in einer politischen Staatlichkeit, aufzugehen, die von der antiken pólis, dieser »Löwenhöhle, in die das Individuum wohl Spuren hinein, [aber] keine hinausführen sieht«, bis hin zum modernen Rechtsstaat die vielleicht gefährlichste Form institutionalisierter Gewalt darstellt (SE, S. 59, 370), welche auch dann nicht völlig verschwindet, wenn man den Staat ausdrücklich auf deren Bändigung und Minimierung verpflichtet hat. 160 Schert das singuläre Selbst ebenso wie der Andere, der »trotz aller anderen stets einzige[r]« ist 161, unter diesen Voraussetzungen aus allen gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Formen menschlichen Zusammenlebens aus, ohne eine zeitgemäße Sozialphilosophie noch das Geringste anzugehen? Weit gefehlt. Beiden, dem Selbst und dem Anderen ›eignet‹ eine unaufhebbare Alterität, die ihnen auch in keiner Gemeinschaft, Gesellschaft oder Staatlichkeit abgeht. Es fragt sich nur, wie diese Begriffe zu denken sind, wenn sie ihrerseits auf die Spur einer unaufhebbaren und befremdlichen Alterität führen, die nicht als bloße Verschiedenheit abzutun und zu vergleichgültigen ist. Genau das ist der eigentliche Kern einer wesentlich von Rosenzweig angeregten Sozialphilosophie, 160 A. Hirsch, Recht auf Gewalt? Spuren philosophischer Gewaltrechtfertigung nach Hobbes, München 2004. 161 Wie jedes Kind; SE, S. 311.

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die allerdings nicht beweisen bzw. unumstößlich begründen kann, wie diese Alterität im Sinne einer nicht-indifferenten Sozialität ins Spiel kommt. 162 So muss sie sich ihrerseits auf das nicht-epistemische Register der Bezeugung einer nicht indifferenten Sozialität verlassen, über die sie kein letztgültiges Wissen zu haben behauptet. Sie bestreitet vielmehr, dass es im Verhältnis zum Anderen überhaupt (primär oder ausschließlich) auf unser Wissen ankommt. Im später ›responsiv‹ genannten Bezug zum Anderen 163 geht es zunächst allein darum, dass dessen Anspruch vernommen wird und eine Antwort findet; und zwar (1) zwischen uns, die wir in einer zugleich asymmetrischen und gegenseitigen Sozialität füreinander Andere sind, (2) im Horizont einer von Anfang an eröffneten sozialen Tertialität, durch die jedes dyadische Verhältnis im politischen Horizont Dritter situiert ist, deren Fragen der Gleichheit und Gerechtigkeit heraufbeschwörende Verhältnisse ihrerseits (3) in diversen, einander widerstreitenden Lebensformen Gestalt annehmen, so dass (4) deren Koexistenz und Verflechtung politisch-rechtlicher Strukturierungen bedarf, die schließlich (5) nach einer weltweiten geschichtlichen Perspektive ihrer Verbesserung in pragmatischer Absicht verlangen, ohne aber eine durchgängige Kompossibilität pluraler, irreduzibel in sich und im Verhältnis zueinander heterogener Lebensformen in Aussicht zu stellen. 162 Ich nehme hier auf Levinas’ Begriff der Nicht-Indifferenz Bezug, habe aber zugleich frühe Verwendungsweisen des Prädikats ›sozial‹ im Blick, die »darauf hinauslaufen, wie das Soziale an sich ethisch noch ganz indifferent ist« (M. Adler; zit. in Fetscher, Der Marxismus, S. 430). Hier meint Indifferenz das, was Kant als adiaphoron morale bezeichnet, das zum Sittlichen »in gar keiner Beziehung steht«, nicht gleiche Gültigkeit oder bloße Unbestimmtheit, womit man Indifferenz (griech.: adiáphora; lat.: indifferentia) auch übersetzt hat. Vgl. G. Lohmann, Indifferenz und Gesellschaft. Eine kritische Auseinandersetzung mit Marx, Frankfurt/M. 1991, S. 21 f.; zu Levinas’ weder bloß logisch noch apophantisch gemeintem Begriff der Nicht-Indifferenz, der primär nichts Gesagtes, sondern das ›Sagen‹ (dire) der Verantwortung angesichts jedes Anderen meint: Vf., Geschichte als Antwort und Versprechen, Freiburg i. Br., München 1999, Kap. V. 163 Vgl. K. Goldstein, Der Aufbau des Organismus. Einführung in die Biologie unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen am kranken Menschen [1934], Paderborn 2014. Vor allem Bernhard Waldenfels hat sich an Kurt Goldstein angelehnt, der seinerseits an eine reichhaltige Vorgeschichte anknüpfen konnte, in der Aktions-Reaktions-Verhältnisse (wie etwa in der philosophischen Biologie Hans A. E. Drieschs) vielfach als ›antwortliche‹ charakterisiert worden sind; vgl. J. Starobinski, Aktion und Reaktion. Leben und Abenteuer eines Begriffspaars, Frankfurt/M. 2003, S. 137, 146, 195, 211, 283.

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Für eine Revision des Sozialen

Was sich hier wie eine To-do-Liste liest, die eine umfassende Theorie des Sozialen abzuarbeiten hätte, lässt sich indessen gewiss nicht mehr zu einer integralen Synthese bringen. Wo jenes ›Zwischen‹ eigens befragt wurde (von Martin Buber über Hannah Arendt und Bernhard Waldenfels bis hin Jean-Luc Nancy), zeichnete sich ein Begriff des Anderen ab, der weder als ›Nächster‹ 164 noch auch als ›Dritter‹ 165 je in einer gemeinschaftlichen oder in einer vergesellschafteten Zugehörigkeit noch in einer verrechtlichten Mitgliedschaft 166 aufgehen kann. Das zwingt dazu, sich eine Vorstellung von sozialen und politischen Lebensformen zu machen, die dem Rechnung trägt, ohne in deren vielfach gewaltträchtigen Konflikten und Interferenzen die Spur des Anderen gänzlich zu verlieren oder sie doch wieder in einer brutalen Geschichtlichkeit aufgehen zu lassen, deren Umrisse Hegel skizziert hatte – nicht ohne »tiefste, ratloseste Trauer« allerdings, »welcher kein versöhnendes Resultat das Gegengewicht hält«. 167 Lässt sich Geschichte anders – nämlich ›im Zeichen des Anderen‹ – denken? 168 Muss dieser Frage nicht auch ein politischrechtliches Denken Rechnung tragen, dem wir abverlangen, institutionelle Strukturen zu beschreiben und zu begründen, die das Soziale auf möglichst befriedigende, gute oder gerechte Weise zu regeln versprechen, wenn nicht schon gegenwärtig, dann vielleicht doch in einer ›besseren Zukunft‹ ? Fallen wir, wenn wir so soziales und historisches Denken verknüpfen, unweigerlich in ein längst destruiertes Fortschrittsdenken zurück, das der Gewalt, vor der es einst verblasste, nach wie vor nicht im Geringsten standhält? Hatte nicht genau das vielfach eine nachhaltige Abwendung vom geschichtsphilosophischen Erbe unserer Zeit und einen geschichtsindifferenten Rückzug auf die Gegenwart des Sozialen veranlasst? Ein solcher Rückzug kann unmöglich überzeugen, denn das Soziale wird selbst nur historisch ver-

SE, S. 243, 298, 301; Ricœur, Geschichte und Wahrheit, S. 109–124. P. Delhom, Der Dritte, Levinas’ Philosopie zwischen Verantwortung und Gerechtigkeit, München 2000; ders., A. Hirsch (Hg.), Im Angesicht der Anderen. Emmanuel Levinas’ Philosophie des Politischen, Berlin, Zürich 2005. 166 Vf., Moralische Spielräume. Menschheit und Anderheit, Zugehörigkeit und Identität, Göttingen 1999. 167 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd. I. Die Vernunft in der Geschichte, Hamburg 61994, S. 80. 168 Vf., Vom Anderen her. Erinnern und Überleben, Freiburg i. Br., München 1997, Kap. VII. 164 165

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ständlich: im dunklen Licht einer Gewalt, die es vollständig zu ruinieren drohte. Nur in dieser Perspektive lässt sich noch heute das historische Profil einer unserer geschichtlichen Gegenwart angemessenen Sozialphilosophie verstehen, die sich nicht damit begnügen kann, sich auf vermeintliche Ursprünge ›des Sozialen‹ zu berufen, die andere ohnehin bloß für eine moderne, längst wieder obsolete Erfindung halten. In der skizzierten Perspektive einer ›historisierten‹ Sozialphilosophie erweist sich das Soziale und die Rede von den entsprechenden Phänomenen als problematische Antwort auf die Negativität von Erfahrungen eines Lebens mit und unter Anderen, das als verachtetes, gedemütigtes, ungerecht behandeltes, entfremdetes usw. immer wieder (in unterschiedlicher Art und Weise) an den Rand seiner Lebbarkeit geraten ist und genau damit Dritte politisch konfrontiert hat – mit der Frage, ob sich ein gemeinschaftliches oder gesellschaftliches, staatliches oder kosmopolitisches Gemeinwesen einrichten ließe, welches dieser Erfahrung Rechnung zu tragen verspricht. Statt fortschreitend nur immer bessere Antworten auf diese Frage zum Vorschein zu bringen, hat speziell die europäische Geschichte auch die Gewalt verschärft – bis zu einem Punkt, wo die Beziehung zum Anderen als solchem radikal in Frage gestellt erschien. Auf diesen unerhörten Angriff auf das Soziale antwortet eine erst dem 20. Jahrhundert zu verdankende Philosophie der Alterität mit einer Apologie (manche sagen auch: mit einer Hypostasierung oder Beschwörung) politisch absolut unverfügbarer Alterität, deren ›Exteriorität‹, wie wir sie bei Levinas beschrieben finden, zugleich die untilgbare Heterogenität des Sozialen begründen soll. Man mag letzteres ›homogenisieren‹, so viel und so gewaltsam, wie man will, nicht der (unmögliche) Beweis, wohl aber die Bezeugung dieser Exteriorität wird sich nicht mehr aus der Welt schaffen lassen, auch durch alte oder neuartige Formen von ›Vernichtungspolitik‹ nicht, die uns eine in ihrem Innern vermeintlich von allem Fremdem ›gereinigte‹ Homogenität vorgaukeln und sich noch dazu versteigen, so das ›Abendland‹ zu verteidigen – während sie tatsächlich immerfort leugnen, was Europa, das einst erst ›sozial‹ zu werden begann, desaströse Zeiten seines Scheiterns gelehrt haben könnten: die paradoxerweise in einem weitgehend ›durchstaatlichten‹ Leben selbst angelegte Gefahr radikaler Vernichtung, der jeder Andere anheimfallen kann. Sozial, wäre mit Levinas dagegen zu sagen, ist politisch formiertes Zusammenleben überhaupt – um das Mindeste zu sagen – erst in 96 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

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dem Maße, wie es sich dieser Gewalt zu widersetzen verspricht, angesichts eines vor-politischen Widerstandes, der angeblich in der Präsenz eines jeden liegt. Auch das ist nicht zu beweisen. Selbst wenn man die Bezeugung dieses Widerstands 169 aber als Erweis radikaler, jeglicher Gewalt standhaltender Sozialität gelten lässt, ist kaum zu übersehen, dass auf ihn allein noch kein sozialer Staat zu gründen sein wird, der sich politisch um die Gleichheit und Gerechtigkeit aller zu kümmern hat, deren Anderheit er nicht tilgen darf. Während diese Maßstäbe uralt sind – die allerdings weder Platon noch Aristoteles auch auf den Fremden als solchen bezogen hat –, scheiden sich heute die Geister erst an der Frage, wie dies geschehen sollte. Und es wäre wenig überzeugend, ja vermessen, würde man unter Umgehung dieser Frage die Alterität des Anderen unvermittelt sozialstaatlich deuten wollen. Gegenüber einem derart radikal angesetzten Begriff des Anderen bleibt die gegenwärtige Diskussion um die Krise und Zukunft des Sozialstaats ein Diskurs eigenen Rechts. Es hat sich aber gezeigt, dass er nicht selten so weit geht, das Soziale als solches für einen Anachronismus zu halten, der politisch kaum mehr ernst zu nehmen sei. Das ist ein fataler Irrtum, wenn es denn stimmt, dass sich das Soziale nicht auf eine Erfindung reduzieren lässt, die man ohne weiteres zum ideengeschichtlichen alten Eisen werfen dürfte. Das Soziale haben wir, wie sich zeigen wird, der Ansprechbarkeit durch den Anderen als Anderen zu verdanken. Insofern ist es gleichsam ›von Natur aus‹ vor-politischer Art. Wenn wir uns zu ihm verhalten, kommen wir bereits zu spät. Und darin liegt ein fruchtbarer Anachronismus eigener Art, der unsere politische Gegenwart davor bewahren könnte, souverän darüber zu befinden, ob uns das Soziale überhaupt weiterhin beschäftigen soll. Die Frage selbst ist falsch gestellt, wenn uns der Anspruch des Anderen (in einer Dimension der Tertialität) ›immer schon‹ zuvorgekommen ist und auch in Zukunft vorausgegangen sein wird. So muss ironischerweise ein überbordendes Sozialstaatsdenken, das mehr und mehr dahin tendiert, das Soziale (oder was es dafür hält) für obsolet zu erklären, durch eine Sozialphilosophie des Anderen daran erinnert werden, warum es einen unverfügbaren ›Gegenstand‹ hat. Das ist Grund genug, das historische Profil dieser Philosophie zu schärfen, sollte aber nicht mit der maßlosen Erwartung verknüpft werden, auf dieser Basis allein sei etwa eine Theorie des demokratischen Sozialstaats oder gar einer demokrati169

Auf die ausführlich zurückzukommen sein wird; siehe das Kap. X in diesem Band.

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schen Weltgesellschaft zu entwerfen. Viel bescheidener ist die hier verfolgte Absicht: von der unaufhebbaren Alterität des Anderen aus eine weitläufige, in derartigen Theorien allzu oft einfach übersprungene sublunare Topografie des Sozialen zu skizzieren, ohne vorher bereits absehen zu können, wohin das führt. Vielleicht steht am Ende nur eine – nicht mehr naive, sondern differenzierte – Irritation oder ein erneutes, schmerzhaftes Staunen darüber, dass es ›Soziales‹ gibt, in das wir verwickelt sind, ohne es je restlos verobjektivieren zu können; ein Staunen, das allerdings allemal besser wäre als ein noch so raffinierter Diskurs, der es auf ganz Anderes (Ökonomisches oder Biologisches etwa) reduziert und auf diese Weise eliminiert, besser als schierer Überdruss an einer »langweiligen Selbstgefälligkeit des Sozialen« 170 in saturierten Gesellschaften und besser als eine Geste der Verwerfung aus restloser Enttäuschung angesichts vielfach gebrochener Versprechen eines demokratischen Kapitalismus 171, so berechtigt tiefe Frustration nach einschlägiger historischer Erfahrung auch erscheinen mag. In diesem Staunen entdecken wir vielleicht dessen anarchische Dimensionen wieder, in die wir rückhaltlos verstrickt sind als dem Sozialen ausgesetzte und sich aussetzende Un-Wesen, die offenbar weder in ihrem Sein noch in ihrer Sprache je zu definitiver Klarheit darüber gelangen, ob, inwiefern und inwieweit sie unumgänglich in sozialen Beziehungen zu Anderen, selbst Fremden, stehen und was daraus im Hinblick auf die konkrete Einrichtung eines sozialen Zusammenlebens folgt, das heute weniger denn je Fremde ausschließen und die Fremdheit eines jeden Anderen ignorieren kann. Vielleicht hält gerade diese ›Unklarheit‹ das Soziale wie nichts anderes am Leben.

170 Gerd Held, zit. n. C. Butterwegge, B. Lösch, R. Ptak, Kritik des Neoliberalismus, Wiesbaden 32017, S. 276. 171 Siehe Kap. XXV, Anm. 68; Streeck, GZ, S. 278.

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Kapitel II Ahistorische Ontologie des Sozialen?

Man kann keine direkte Ontologie machen. Maurice Merleau-Ponty 1 […] wenn die ontologische Ratlosigkeit das Menschendasein umdüstert. Es wird immer menschlich zugehen in der Geschichte, und das heißt eben auch immer ›unmenschlich‹ […]. Eugen Fink 2

1.

Das Soziale: alte und neue Ursprungsfragen

Nach einem definierbaren Begriff des Sozialen suchen wir selbst in einschlägigen philosophischen Handbüchern vergebens. Ohnehin ist ja, Nietzsches bekanntem Diktum zufolge, streng genommen nur dasjenige definierbar, was keine Geschichte hat. Vom Sozialen ist nominalisiert nachweislich jedenfalls erst in der Moderne die Rede. Und schon oft wurde der Verdacht geäußert, es bringe nur spezifisch moderne Phänomene (wie etwa das Gesellschaftliche in seiner Differenz zum Staatlichen und Ökonomischen) zum Vorschein. Demnach wäre das Soziale, ungeachtet seines relativ geringen Alters, zutiefst und rückhaltlos geschichtlich bestimmt. Und es wäre nicht ausgeschlossen, dass es eines Tages in unserem ideen- und begriffsgeschichtlichen Horizont wieder verblasst, um irgendwann mitsamt den Phänomenen, die es auf den Begriff bringen sollte, wieder aus ihm zu verschwinden. 3

M. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, S. 233. E. Fink, Sein und Mensch. Vom Wesen der ontologischen Erfahrung, Freiburg i. Br., München 1977, S. 123; ders., Traktat über die Gewalt des Menschen, Frankfurt/M. 1974, S. 195. 3 In der Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours bspw. wird das Soziale, sofern es sich nicht auf ein kontingentes Geschehen der Vernetzung von Existierendem jegli1 2

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Aber beweist das späte Auftreten eines Neologismus, dass es die ihm nachträglich zugeordneten Phänomene zuvor gar nicht gegeben hat? Haben wir nicht vielmehr allen Grund dazu, anzunehmen, dass das Soziale mindestens so alt ist wie die menschliche Gattung, vielleicht noch älter, wenn wir an mannigfaltige Formen animalischer Kooperation denken – von gemeinschaftlicher Brutpflege, Ernährung, Bewachung und Verteidigung eigener Artgenossen über anscheinend gemeinsame, bei Elefanten beobachtete Trauer angesichts des Verendens eines Herdenmitglieds bis hin zu quasi staatlichen Formen kollektiver Arbeitsteilung, die den Tod der einzelnen Lebewesen ›überleben‹ ? Die Beispiele sind bekannt genug. Aber was beweisen sie wirklich? Verdienen sie das Prädikat ›sozial‹ ? Dieselbe Frage stellt sich, wenn man paläontologische Befunde früher Familienformen und der Bestattung, Aktivitäten des Sammelns, gemeinschaftlicher Jagd und kultureller Praktiken der Verfertigung von nützlichen Kulturobjekten und diversem Zierrat in Betracht zieht. Jahrtausende haben die Hominiden bis hin zum Auftauchen des homo erectus, der Neandertaler und schließlich des homo sapiens sapiens auf der Erde zugebracht, ohne die geringsten Spuren einer Selbstauslegung zu hinterlassen, denen man hätte entnehmen können, ob und wie sie nach ihrem eigenen Verständnis sozial gelebt haben. Die Befunde der Paläontologen geben jedenfalls nichts dergleichen her, woraus ohne weiteres eine Antwort auf die Frage ableitbar wäre, ob, seit wann und wie die Menschen oder ihre Vorläufer ein soziales Leben geführt haben. Das gilt selbst für uralte Praktiken der Bestattung, die schon Giambattista Vico mit der ältesten Kulturgeschichte der menschlichen Gattung in Verbindung gebracht hatte, indem er suggerierte, dass die kulturelle Geschichte der Menschen überhaupt erst mit der entsprechenden Würdigung der Toten begonnen hat und fortan darauf beruhen musste. 4 Ist diese Würdigung cher Art reduzieren lässt, bereits als bloßes Phantom eingestuft. Vgl. B. Latour, Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Berlin 2014, S. 576, 482 f. Und im Modus literarischer Fiktion wird tatsächlich längst die Zukunft einer nicht mehr ›sozialen‹ Gattung – sei es von Neo-Menschen, sei es von wieder Verwilderten, die antizipierbare Katastrophen menschlicher Zivilisation überlebt haben – ausgemalt. Siehe die Anm. 3 zum Vorwort in diesem Band. 4 G. Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, Reinbek 1966, S. 52. Allerdings hat Vico keine in jeder Hinsicht irreversible Kulturgeschichte konzipiert; vgl. P. Burke, Vico. Philosoph, Historiker, Denker einer neuen Wissenschaft, Berlin 1987, S. 39 f., 73 f., 101.

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nicht aber noch in jüngster Zeit unterblieben bzw. verweigert worden? War nicht im Ersten Weltkrieg (um nur ein Beispiel zu nennen) ein »beispielloser Bruch mit aller bisherigen Zivilisation« festzustellen, insofern »deren Anfang dadurch gekennzeichnet ist, dass die Menschen dazu übergingen, ihre Toten zu bestatten«? 5 Auf den Schlachtfeldern ließ man Ungezählte wahllos liegen, statt sie zu bergen. Noch heute beweisen jahrelange Anstrengungen der Exhumierung von ungezählten Opfern genozidaler und staatsterroristischer Gewalt, welche Mühe es bereitet, wenigstens den Anspruch aufrechtzuerhalten, niemanden einem entwürdigenden Tod preiszugeben. 6 Es kann so gesehen keine Rede davon sein, die Kulturgeschichte führe wenigstens mit Blick auf den Tod Anderer eindeutig auf die Ursprünge oder Anfänge des Sozialen und sie beweise, dass letztere bis heute maßgeblich wären. 7 So bleibt nichts anderes übrig, als die menschliche Gattungsgeschichte, deren Naturgeschichte und deren relative Überwindung in einem Prozess, der nicht mehr allein nach den Maßgaben einer evolutionären Gesetzlichkeit abläuft, nachträglich daraufhin zu befragen, ob und wie sie als eine mehr oder weniger soziale zu verstehen ist. Die Begriffs- und Ideengeschichte bestätigt das. So weit die Etymologie des Sozialen in den europäischen Idiomen (von anderen ganz zu schweigen) auch zurückreichen mag, es lässt sich bis ins 19. Jahrhundert hinein überhaupt keine Theorie des Sozialen nachweisen, die es eigens als solches zur Sprache bringen würde. Zwar kommt mit der politischen Unruhe der Massen in der Neuzeit, die in den modernen Revolutionen in Nordamerika, in Santo Domingo und in Frankreich kulminiert, mit der Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten und der Industrialisierung die sogenannte »soziale Frage« auf, die einen Anspruch an den Staat begründet, sich durch eine entsprechende Gesetzgebung ebenfalls als sozial zu erweisen. Ironischerweise hat aber gerade der moderne Sozialstaat durch die vielen politischen Maßnahmen, die er ergriffen hat, um ein soziales Zusammenleben zu gewährleisten, dazu geführt, dass

Vgl. die Hinweise bei H. Münkler, Der grosse Krieg. Die Welt 1914–1918, Reinbek 2015, S. 365, 830. 6 Verwiesen sei wenigstens auf ein herausragendes Beispiel: siehe das Interview von A. D. Alonso, P. Dominguez und B. Nienass mit Mercedes Doretti in: Social Research 83, no. 2: Borders and the Politics of Mourning (2016), S. 511–534. 7 Vgl. J. Assmann, Der Tod als Thema der Kulturtheorie, Frankfurt/M. 2000. 5

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»das einigende gedankliche Band von Sozialpolitik undeutlich« geworden ist. 8 Das müsste nicht weiter beunruhigen, wenn es stimmt, dass das Soziale lediglich einen relativ jungen besonderen Sektor politischen Lebens bezeichnet, zu dem sehr verschiedene Institutionen wie das Sozialamt und die Jugendgerichtsbarkeit, mehr oder weniger spezialisiertes Personal (wie Sozialhelfer, Sozialarbeiter etc.) und diverse Missstände und Übel wie Alkoholismus und Drogen, mangelnde Anpassung, Syndrome wie das ADHS usw. gehören, die, so dringend sie nicht bloß nach einer ordentlichen Verwaltung, sondern nach zeitgemäßem Management, nach Abhilfe oder Heilung verlangen, scheinbar nicht das politisch geregelte Zusammenleben der Menschen insgesamt betreffen. Es wäre durchaus vorstellbar (wenn auch für viele keineswegs wünschenswert), dass dieser Sektor wieder schrumpft und schließlich politisch funktions- oder bedeutungslos wird. So gesehen würde dem auf einen bloßen Bereich des Politischen beschränkten Sozialen in der Gestalt dieses Sektors nur eine kontingente und vorübergehende Relevanz zukommen. Womöglich handelt es sich ohnehin nur um eine im Grunde anti-politische Sentimentalität, um eine »romantische« Erfindung oder gar um ein Surrogat des Sakralen, wie von Hannah Arendt über Jacques Donzelot bis hin zu Alain Badiou gemutmaßt wurde. 9 Die Stoßrichtung dieser Kritik des Sozialen läuft zweifellos darauf hinaus, es als eine kontingente historische Kategorie und als ein ephemeres Phänomen einzustufen, dessen hohe Zeit bereits hinter uns liegen dürfte. Demnach wäre die Karriere des Sozialen als eine Verfallserscheinung des Politischen zu verstehen, an dessen wahrhafte Bedeutung man sich nunmehr wieder zu erinnern hätte. Ganz anders stellt sich die Sachlage im Lichte einer ontologischen Besinnung auf das Soziale dar, das in ihm ein seinsmäßiges, die Menschen immer schon und unhintergehbar prägendes Angewiesensein auf Zusammenleben oder Co-Existenz, wie es bei Eugen Fink

F.-X. Kaufmann, Sozialpolitisches Denken, Frankfurt/M. 2003, S. 183. (Siehe auch das Kap. I, 4 in diesem Band.) 9 H. Arendt, Über die Revolution, München 41994, zweites Kapitel; J. Donzelot, »Der Untergang der Romantik. Für einen neuen öffentlichen Geist«, in: D. Kamper, C. Wulf (Hg.), Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, Frankfurt/M. 1987, S. 450– 463; A. Badiou, Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen, Wien 2003. Siehe Anm. 49 zu Kap. VIII. 8

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genannt wird, erkennt. 10 Dabei bezieht sich Fink, auf den Spuren von Martin Heideggers Seinsdenken, überhaupt nicht auf historische Ausprägungen politischen Lebens wie den modernen Sozialstaat mit seinen diversen Sektoren, sondern auf ein radikales, vom Menschen nicht wegzudenkendes »Miteinandersein«, das zwar vielfältigste Formen – von Krieg und Hass über gegenseitige Gleichgültigkeit bis hin zu Freundschaft und Liebe – annehmen kann, aus dem man aber nach seiner Überzeugung niemals austreten und das man niemals überwinden oder hinter sich lassen kann. Selbst das von allen Anderen scheinbar vollkommen abgeschiedene Dasein eines marginalen Menschen, eines sich abseits haltenden Eremiten oder eines unerkannt unter Anderen lebenden Fremden wäre demnach noch ein soziales, insofern es das Miteinandersein so oder so nur in größtmöglicher Distanz ausprägt. So gesehen wäre auch Politik bzw. das Politische, das manche Phänomenologen schon in der Antike als solches zu erkennen meinen 11, von Anfang an, wesentlich und unabänderlich Sozial-Politik bzw. ein Sozial-Politisches. Allerdings nicht in der Weise, wie es der heute geläufige Begriff nahelegt – nämlich im Sinne einer speziellen Politik für einen eigenen Bereich staatlich formierten Zusammenlebens, der sich auf die öffentliche Fürsorge für die ökonomisch Schwächeren konzentriert. Vielmehr hätte man Politik, die im Politischen auf den Begriff gebracht wird, als die Gestaltung des Sozialen zu verstehen, das ihr in einer Ontologie der Co-Existenz als unhintergehbare ursprüngliche Soziation 12 vorgegeben zu sein scheint. Demnach würde durch Politik das Soziale Gestalt annehmen, das ontologisch zu explizieren wäre. Damit ist auf den ersten Blick nicht viel gewonnen, wenn man bedenkt, wie Politik von Anfang an, d. h. seit dem es Politische Philosophie gibt, und bis weit in die politische Gegenwart hinein beschrieben worden ist: nicht als irgendeine Gestaltung des Sozialen, sondern als Kampf um die richtige, gute, den Menschen angemessene und womöglich gerechte Form ihres Zusammenlebens, das als bloß unvermeidliches, in der sozialen Seinsweise des Menschen angeleg-

10 Fink, Traktat, S. 17, 19; ders., Existenz und Coexistenz. Grundprobleme der menschlichen Existenz, Würzburg 1987. 11 K. Held, Phänomenologie der politischen Welt, Frankfurt/M. 2010. 12 J.-L. Nancy, singulär plural sein, Zürich 2012, S. 68. Siehe auch die Kap. XVII, 5; XVIII, 1.

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tes, keineswegs schon als annehmbares, bejahbares oder glückliches erfahren werden muss. Das erklärt, warum man sich bis heute – ungeachtet der weitgehenden Deteleologisierung, die das Naturdenken ebenso wie das politische Theoretisieren bereits in der frühen Neuzeit erfasst hatte – immer wieder auf Aristoteles berufen hat 13, in dessen Politik und Nikomachischer Ethik man das menschliche Leben als teleologisch auf die Realisierung eines guten Zusammenlebens angelegt beschrieben findet. Allerdings tritt in der Neuzeit an die Stelle einer politischen Teleologie zunehmend das Denken einer unabdingbaren Sicherstellung gegen die kollektive Gewalt Anderer, die in der Zeit der Herausbildung des sogenannten Westfälischen Systems der modernen, souveränen Staaten 14 kaum mehr erkennen lässt, was die Menschen über die Bedrohung hinaus, die sie füreinander darstellen, miteinander ›teleologisch‹ verbinden sollte. Thomas Hobbes’ Leviathan reflektiert wie keine andere Schrift vorzüglich diese einschneidende Erfahrung der Entsicherung der menschlichen Lebensverhältnisse, der er theoretisch durch eine weitgehende Entteleologisierung des politischen Denkens Rechnung trägt. Fortan wird das Politische vor allem zur Aufgabe der Sicherstellung wenigstens irgendeiner Ordnung, was angeblich allemal der Anarchie vorzuziehen ist – so lehrten es Niccolò Machiavelli, dann auch Hobbes und die übrigen Verfechter der Staatsraison. 15 Selbst für die »Socialisten« des späten 18. Jahrhunderts, denen die Art der zu garantierenden oder auch neu einzurichtenden politiNicht zuletzt auch von Heideggers Mitsein aus und in Verbindung mit einem teleologischen Lebensbegriff, der keineswegs ein bloß »unvermeidliches« Miteinanderleben meint; vgl. A. Schwan, »Politik als ›Werk der Wahrheit‹. Einheit und Differenz von Ethik und Politik bei Aristoteles«, in: P. Engelhardt OP (Hg.), Sein und Ethos. Untersuchungen zur Grundlegung der Ethik, Mainz 1963, S. 69–110, hier: S. 80 f. Anstatt aber auf ein gewissermaßen ›fertiges‹, im menschlichen Zusammenleben angeblich ›angelegtes‹ télos sich zu berufen, liegt es näher, das Mitsein negativistisch zu rekonstruieren, d. h. so, dass aus ihm Negativität im Verhältnis zu nicht annehmbaren Lebensmöglichkeiten und -bedingungen hervorgeht. Ob diese Negativität wenigstens indirekt in Richtung auf ein (erst zu explizierendes, nicht nur formales, sondern als realisierbar erscheinendes) télos weist, wäre erst zu zeigen. 14 Von der Frage, ob dieses System wirklich ein Produkt des Westfälischen Friedens ist, sehe ich hier ab; vgl. J. Bartelson, War in International Thought, Cambridge 2018, S. 53 f. 15 Bis hin zu H. Münkler, der sich nach wie vor in diese Tradition einschreibt, in: Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der Frühen Neuzeit, Frankfurt/M. 1987. 13

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schen Ordnung keineswegs gleichgültig war, bedeutete ›sozial‹ zu denken in diesem Sinne: die »Ordnung des menschlichen Zusammenlebens unter rein innerweltliche Prämissen« zu stellen. 16 Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts konnte das Prädikat ›sozial‹ dann schon »alle Verhältnisse« betreffen, »die aus dem Zusammenleben der Menschen hervorgehen«. 17 Zwar wurde es immer wieder auch normativ gebraucht, um etwa an ›Mitmenschlichkeit‹ ausgerichtete Orientierungen zu bezeichnen; schließlich setzte sich aber die Tendenz zu immer weiterer und diffuserer Verwendung des Wortes durch, so dass es am Ende, scheinbar neutral, alles bedeuten konnte, was als »auf die Gesellschaft bezogen« vorzustellen war. 18 Bei Niklas Luhmann ist dann nur noch von der »ungesicherten Möglichkeit von Sozialität überhaupt« die Rede, ohne dass letztere aber in irgendeiner Hinsicht wertend ausgezeichnet würde. 19 Zwar ist weiterhin von unund asozialem Verhalten die Rede; und nicht wenige bemühen sich nach wie vor darum, den Begriff normativ zu begründen und von Pathologien sozialen Lebens abzugrenzen. Skeptiker halten aber dagegen, der Begriff der Gesellschaft eigne sich dafür gar nicht, da er viel zu unbestimmt sei. 20 Längst hat der Staat das ihm einst zugeschriebene Monopol über das Soziale eingebüßt. Vielleicht schon bei Hobbes. 21 Sicher aber bei Hegel, wo er in seiner Rechtsphilosophie Staat und Gesellschaft terminologisch unterschied. Und endgültig bei all jenen, die politische Systeme gleich welcher Art nur noch als kontingente Manifestationen einer Sozialität begreifen, die von sich aus überhaupt nicht darauf angelegt scheint, sich über soziale Lebensformen hinaus in staatlichen Strukturen auszubilden. Selbst als Sozialstaat kann der Staat nicht mehr das Soziale in sich aufheben. Und wir kennen zahllose Manifestationen sozialen Verhaltens – angefangen bei der Anrede, beim Anspruch und bei der vom Anderen ausgehen-

Kaufmann, Sozialpolitisches Denken, S. 15. Ebd., S. 37. Siehe auch J. und W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, 16 Bde., Leipzig 1854–1961, Bd. 16, Sp. 1826. 18 Kaufmann, Sozialpolitisches Denken, S. 62. 19 N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 2, Frankfurt/M. 1993, S. 195–285, hier: S. 195. 20 K. Pribram, zit. n. Kaufmann, Sozialpolitisches Denken, S. 110 f. 21 Bedenkt man etwa, dass Hobbes den Staat aus einem vorgängigen Vertrag, d. h. aus einem gegenseitigen Versprechen hervorgehen lässt, von dem man sich auch wieder entbinden könnte, so dass in Hobbesianischer Perspektive ein Eintritt in das Politische, aber auch ein Austritt aus ihm in Betracht kommt. 16 17

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den An- und Zumutung –, die in keiner Weise im Leben von »StaatsWesen« (Friedrich C. Dahlmann) aufgehen müssen. Heute ist irgendwie alles sozial, selbst gewisse Medien, die man pauschal als soziale etikettiert, obgleich sich diejenigen, die sich ihrer bedienen, vielfach gar nicht mehr auf Erwiderung hin an Andere wenden, sondern sich nur noch destruktiv auslassen in Formen der Beleidigung, Herabsetzung und Entwürdigung, die allenfalls noch der Selbstbefriedigung gesichts- und namenlos sich äußernder Subjekte eines virtuellen Verhaltens dienen, das man vielleicht treffender als anti- oder asoziales bezeichnen sollte. Ist es sozial am Ende nur noch dadurch, dass es jegliche soziale Verbundenheit mit all jenen, gegen die es auf technisch hohem Niveau vorgeht, widerruft, indem es sie zu bloßen Objekten einer virtuellen Gewalt degradiert, die ihr Gesicht nicht zeigen will? 22 Die Konturen des Sozialen sind offenbar derart verwischt worden, dass alles, auch das Anti-Soziale, im Allgemeinen als sozial durchgehen kann – um den Preis, dass nichts mehr im Besonderen für sozial zu halten ist. 23 Diese Lage mag erklären, warum man sich energisch wieder Ursprungsfragen zuwendet, die nicht in der Suche nach zerstreuten Anfängen des Sozialen aufgehen, also nicht darauf hinauslaufen, uns in eine mehr oder weniger weit zurückreichende und divergente Naturgeschichte des Sozialen etwa einzuschreiben, die sich bis heute kontinuierlich fortgesetzt hätte. Vielmehr zielen diese Fragen darauf ab, was dem Sinn nach dem Sozialen zugrundeliegt oder ob das Soziale seinerseits als Grund – etwa des Politischen – fungiert. Im Sinne einer solchen Ursprungsfrage hatte bereits Aristoteles das zôon lógon échon beschrieben, dem nicht nur eine Stimme, mit der es Lust und Unlust kundtun kann, sondern die Befähigung zu vernünftiger Rede zur Verfügung steht. 24 Aber wird ein solches Lebewesen allein dadurch schon zu einem sozialen oder zu einem zôon politikón? Wer seine Stimme erheben, sich vernünftig artikulieren und an Andere wenden kann, muss noch lange kein Gehör finden. P. Grimm, H. Badura (Hg.), Medien – Ethik – Gewalt. Neue Perspektiven, Stuttgart 2011. 23 Ähnlich ist es verwandten Begriffen, allen voran dem Politischen, ergangen. Was wäre heute nicht politisch bzw. dem Einflussbereich jeglicher ›Politik‹ entzogen? Nichts, und vor allem das Private nicht, das einst als das Un- oder A-Politische par excellence gegolten hat? Dann wäre also ›alles‹ (potenziell) politisch? Also nichts mehr? Usw. 24 Aristoteles, Politik, 1253 a. 22

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Das Soziale: alte und neue Ursprungsfragen

Er oder sie muss nicht einmal ›zählen‹ als sozial oder politisch ernst zu Nehmende(r). So mag ein Lebewesen, das sprechen kann, demonstrativ noch so viel Lärm machen, wenn es nicht als jemand gilt, der etwas ›zu sagen hat‹ (im mehrfachen Sinne), existiert es gewissermaßen gar nicht sozial bzw. politisch und fällt womöglich einem sozialen oder politischen Tod anheim. 25 Aktuelle Revisionen der Bedingungen, unter denen Menschen sozial existieren, lassen grundsätzlich daran zweifeln, ob wir überhaupt unabänderlich soziale Wesen sind. So gehen Jacques Rancière, Jean-François Lyotard oder Judith Butler gar nicht mehr von fixierten Wesensvorstellungen aus. Sie betreiben keine Eidetik des Anthropologischen 26, die auf ein ungeschichtliches Sein des Menschen abzielen würde. Im Gegenteil sehen sie uns rückhaltlos einer Infragestellung durch uns selbst und Andere ausgesetzt, die das Soziale ebenso wie das Politische in seiner prekären Ereignishaftigkeit zu verstehen nahelegt. Demnach hat weder das Soziale noch das Politische von sich aus einen substanziellen Bestand. Beides ereignet sich vielmehr unter kontingenten Umständen und verschwindet scheinbar wieder mit den sozialen und politischen Phänomenen, die – wie manche Phänomenologen hoffen – das Soziale und das Politische mit ans Licht treten lassen. Demzufolge treten nicht nur Menschen als sozial oder politisch sich Verhaltende in Erscheinung. Das Soziale bzw. das Politische erscheint dabei angeblich mit und ›zeigt sich‹ derart, dass es scheinbar nur einer geeigneten philosophischen – eben phänomenologischen – Methode bedarf, um beides als solches aufzuweisen. 27 Es kann allerdings keine Rede davon sein, dass man sich nach über einem Jahrhundert v. a. im Anschluss an Kant und Hegel, Husserl und Heidegger begründeten sozialphilosophischen Denkens in dieser methodischen Hinsicht einig wäre. Selbst der Phänomenologie nahestehende Hermeneutiker bezweifeln, dass sich das Soziale im Vgl. J. Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 22008; ders., Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien 2007; ders., Ist Kunst widerständig?, Berlin 2008; Vf., Renaissance des Menschen? Zum polemologisch-anthropologischen Diskurs der Gegenwart, Weilerswist 2010, Kap. VI; A. Badiou, Das Erwachen der Geschichte, Wien 2013, Kap. VI, VII; D. Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre, München 2014, S. 213. 26 Wie noch P. Ricœur in Philosophie de la volonté. Le volontaire et l’involontaire, Paris 1950; J. Greisch, Fehlbarkeit und Fähigkeit. Die philosophische Anthropologie Paul Ricœurs, Berlin 2009. 27 Held, Phänomenologie der politischen Welt, S. 64. 25

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Rahmen einer Ontologie, die radikal von ihm Rechenschaft abzulegen hätte, von sich aus als solches ›zeigen‹ könnte 28 – ohne einer Deutung, Interpretation oder Auslegung als Soziales zu bedürfen, welche den sozialen Phänomenen niemals einfach zu entnehmen sein wird. Wenn »Ontologie […] nur als Phänomenologie möglich ist«, wie Heidegger insistierte 29, »so ist doch die Phänomenologie nur als Hermeneutik möglich«, wie Paul Ricœur ergänzt. 30 Auf das Soziale angewandt, heißt das, dass von einem einfachen Sichzeigen in diesem Fall nicht auszugehen ist. Allemal bedarf auch das, was sich angeblich ganz und gar von sich her in seiner »leibhaftigen Selbstheit« originär selbst – d. h. ohne unser Zutun – »gibt« 31 oder als Soziales zeigt, der sprachlichen Artikulation durch diejenigen, denen es sich so oder so als etwas darstellt. Anderen wird dieses Sichdarstellen, Sichzeigen oder Sichgeben jedenfalls nur durch die nachträgliche Artikulation zugänglich. Und diese muss sich zunächst der normalen Sprache bedienen, die auch für einen Hermeneutiker wie Ricœur – durchaus auf den Spuren des späten Ludwig Wittgenstein – das maßgebliche Milieu war, von dem alles philosophische Fragen nolens volens auszugehen hat (auch wenn es ihm nicht auf Dauer verhaftet bleiben muss). 32

Vgl. Vf., »Zeigen, Sagen und Verstehen. Paul Ricœurs hermeneutische Wege durch die Phänomenologie – von der Aufmerksamkeit zur Sensibilität für den Anderen«, in: O. Abel, P. Marinescu (Hg.), On the Proper Use of Phenomenology. Paul Ricœur Centenary, Studia Phaenomenologica. Romanian Journal for Phenomenology XIII (2013), S. 117–142. 29 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 151984, S. 35. 30 P. Ricœur, Zeit und Erzählung III, München 1991, S. 99. Auch Heidegger hatte in Sein und Zeit (§ 7) betont, dass eine »universale phänomenologische Ontologie« nur »ausgehend von der Hermeneutik des Daseins« möglich sei – als eine »Analytik der Existenz«, die keineswegs das sog. Existenzielle einfach umgehen und direkt auf eine veritas transcendentalis des Seins zugreifen kann. Davon rückt Heideggers Spätwerk aber deutlich ab und suggeriert die Möglichkeit einer direkten Ontologie. 31 E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Tübingen 41980, S. 11 (§ 3). 32 P. Ricœur, »Husserl and Wittgenstein on Language«, in: E. N. Lee, M. Mandelbaum (Hg.), Phenomenology and Existentialism, Baltimore 1967, S. 207–217; ders., Main Trends in Philosophy, New York, London 1979, S. 337 ff. Wie nahe sich Sprachanalyse und Phänomenologie einst standen, zeigen C. A. van Peursen, Phänomenologie und sprachanalytische Philosophie, Stuttgart 1969; E. Tugendhat, »Phänomenologie und Sprachanalyse«, in: R. Bubner, K. Cramer, R. Wiehl (Hg.), Hermeneutik und Dialektik II, Tübingen 1970, S. 3–23; sowie Beiträge in E. W. Orth (Hg.), Studien zur Sprachphänomenologie, Freiburg i. Br., München 1979. 28

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Exkurs zu John R. Searles Sozialontologie

2.

Exkurs zu John R. Searles Sozialontologie

Auf diesen Spuren wandelt auch John R. Searle, durch den die Rede von einer Ontologie des Sozialen wieder populär geworden ist, nachdem der Begriff der Ontologie Jahrzehnte lang in Misskredit gefallen war, da er vor allem in der Heidegger’schen Verwendung den Verdacht nährte, die unter Berufung auf Kant durchgesetzte Etablierung der Philosophie als einer (transzendentalen) Kritik des Denkbaren zu unterlaufen. 33 Was Searle im Wesentlichen mit dem Begriff Ontologie meint, bezieht sich dagegen auf nichts anderes als auf jene »Teile der wirklichen Welt«, welche allein aufgrund menschlicher Übereinkunft den Charakter von Tatsachen haben, »die nur existieren, weil wir glauben, daß sie existieren«. 34 Es geht hier also darum, was wir für wirklich halten, und um die sprachliche Analyse unseres Redens von solchen Tatsachen. 35 Im Reden über Geld, Banken, Eigentum, Regierungen, Ehen und Institutionen generell soll sich demnach zeigen, inwiefern sie wirklich für uns sind – ebenso wirklich wie Dinge, die wir für wirklich halten, weil sie einfach vorhanden sind. Es lohnt sich, auf diesen aktuellen Ansatz Searles genauer einzugehen, weil er wie kein anderer indirekt deutlich macht, wohin es führt, wenn man der Fragwürdigkeit des Sozialen als solcher keinerlei Beachtung schenkt und es stattdessen einfach dem normalen Sprachgebrauch,

An dieser Stelle von einem ›Verdacht‹ zu reden, konterkariert allerdings die erklärte Absicht Heideggers, Kants Kritik der traditionellen Ontologie »als synthetischer Erkenntnis von Dingen überhaupt« und sein in der Kritik der reinen Vernunft (A, 247) beschriebenes Projekt, eine »Analytik des reinen Verstandes« dagegenzusetzen, systematisch zurückzuweisen. Heidegger insistiert darauf, ontische Erkenntnis wie auch eine solche Analytik sei nur möglich, wenn zuvor das Seiende in seiner Seinsverfassung erkannt werde, die ihrerseits nur auf der Basis eines Seinsverständnisses möglich sei, das im sog. Dasein gründe (M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt/M. 1991, S. 223–229). Der Name Ontologie steht fortan denn auch für die hermeneutische Rekonstruktion des Geschehens dieses Daseins, von dem Heidegger in Sein und Zeit annimmt, es erweise sich von Anfang an als ein »mitseiendes«. 34 J. R. Searle, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, Reinbek 1997, S. 11. 35 Von einer (phänomenologischen) methodischen Sicherstellung des eidetischen Status ontologischer Objekte, wie sie etwa E. Husserl verlangt hat, ist bei Searle gar keine Rede. Vgl. E. Levinas, »Über die ›Ideen‹ von E. Husserl«, in: Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte, Freiburg i. Br., München 2006, S. 37–78. Aus Husserl’scher Sicht verbleibt Searle in der sog. »natürlichen Einstellung«. 33

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also dem gängigen Reden über Soziales, glaubt entnehmen zu können. Searle beruft sich darauf, dass es gemäß unserer ›natürlichen‹ Auffassung sozialer Wirklichkeit ›tatsächlich‹ Dinge gibt, die für uns objektiv vorhanden sind, obwohl es sich um etwas handelt, was überhaupt nur durch uns, nämlich als sog. »institutionelle Tatsache« existiert. Auf den ersten Blick kommt das Emile Durkheim nahe, der in seinen Regeln der soziologischen Methode bekanntlich gefordert hatte, soziale Phänomene wie Dinge zu behandeln. 36 Entspricht dieses methodologische, leicht misszuverstehende Prinzip nicht ganz und gar der Art und Weise, wie man auch als Nicht-Wissenschaftler das Soziale auffasst – nämlich als Gegenstand des Wissens von solchen Tatsachen, die man für schlichte Gegebenheiten hält? Allerdings geht es Searle gerade nicht darum, etwa das Soziale zu »verdinglichen«, wie man es Durkheim vorgeworfen hat, sondern darum, es als kommunikativ Hervorgebrachtes verständlich zu machen. Dazu dient auch die spätere Ausarbeitung sog. status function declarations, die plausibel machen soll, wie institutionelle Tatsachen aufgrund deklarativer Sprechakte kreativ wirklich gemacht werden können. 37 Dabei fallen im Ansatz Searles höchst folgenreiche Vorentscheidungen, die er lediglich unter Verweis auf das Funktionieren der normalen Sprache rechtfertigt: so reden wir vom Sozialen; und dadurch ist es für uns als eine institutionelle Realität wirklich. Daraus scheint sich zwanglos zu ergeben, (1.) dass das Soziale gegenständlich vorliegt, (2.) dass es sich in der Form von Objekten des Wissens als solches darstellt; und (3.) dass diese Objekte der normalen Sprache zu entnehmen sind, so dass (4.) die Ontologie des Sozialen scheinbar nur noch die Aufgabe hat, diese Objekte in ihrer Verknüpfung zur Gesamtheit einer ›sozialen Wirklichkeit‹ explizit zu machen. Damit bewegt sich Searle in der Nähe eines (ca. 30 Jahre zuvor erschienenen) Buches, dessen Titel nur eine leichte Akzentverschiebung andeutet: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (The Social Construction of Reality) von Peter L. Berger und Thomas Luckmann, das Searle allerdings ebenso wenig erwähnt wie irgendSiehe Anm. 13 zu Kap. XXVI. Vgl. J. R. Searle, Making the Social World. The Structure of Human Civilization, Oxford 2010, bes. S. 19 zur Abgrenzung gegenüber dem früheren Buch The Construction of Social Reality, das im Folgenden im Vordergrund des Interesses stehen wird, weil es bereits deutlich macht, was der Autor unter einer Ontologie des Sozialen (später auch des Politischen; ebd., S. 167, 171) versteht. 36 37

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Exkurs zu John R. Searles Sozialontologie

einen anderen Autor, der im Anschluss an Kant oder Hegel im 19. Jahrhundert explizit eine Sozialphilosophie konzipiert hatte, oder einen der frühen sozialwissenschaftlichen Theoretiker (wie James Mark Baldwin, George Herbert Mead oder Georg Simmel), die noch wussten, dass soziale bzw. politische Lebewesen normalerweise nicht nur über eine Stimme verfügen und etwas aussagen können (z. B. über Tatsachen), sondern dass sie sich als Andere vor allem an einander wenden; und zwar auf Erwiderung hin, wie es Karl Löwith in seiner Habilitationsschrift Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928) ausdrückte, auf die eingangs hingewiesen wurde. 38 Löwiths Buch nahm Heideggers ontologischen Begriff des Mitseins auf 39 und transponierte ihn in den Kontext einer sozialen Anthropologie, die fragt, was uns ursprünglich zu mit Anderen Lebenden macht, die nicht nur neben ihnen vorkommen ›auf der Welt‹ (wie sog. »Nebenmenschen« 40, wie man damals noch sagte, oder bloße »Zeitgenossen«), sondern durch ihr Zusammenleben so etwas wie eine soziale Welt überhaupt erst stiften. 41 Löwith knüpfte dabei an Kants Rede vom »Dasein eines Ganzen anderer, mit mir in Gemeinschaft stehender Wesen (Welt genannt)« 42 ebenso an wie an Ludwig Feuerbachs Kategorie des »Du« und Wilhelm v. Humboldts soziale Sprachphilosophie 43, die er in den Grundgedanken überführte, es sei ursprünglich gerade das Miteinander-sprechen, woraus eine menschliche Welt und eine solche Gemeinschaft entstehe; und zwar zwischen Menschen, die füreinander Andere sind. Wie eine solche Welt sich in der gesellschaftlichen Form einer Wirklichkeit bzw. in der Form einer gesellschaftlichen Wirklichkeit darstellen kann, war für Löwith noch kein vordringliches Thema. GeSiehe Anm. 139 zu Kap. I. Selbstverständlich kennt auch Searle dieses Phänomen. Aber er scheint es darauf zu reduzieren, dass v. a. deklarative Sprechakte, die institutional facts hervorbringen sollen, bestätigt werden, so dass sie in anerkannter Art und Weise diese Funktion erfüllen können. 39 K. Löwith, Sämtliche Schriften, Bd. 1, Stuttgart 1981, S. 9–197, hier: S. 122, 96, § 21. 40 Ebd., S. 17. 41 Vgl. ebd., S. 46. 42 Ebd., S. 173. Löwith bezieht sich auf die dezidiert metaphysische, nicht anthropologisch gemeinte Bestimmung des Weltbegriffs, wie sie in Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht zu finden ist. Vgl. I. Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Pädagogik 2, Werkausgabe Bd. XII (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, S. 411. Siehe auch Bd. II, S. 639, 841. 43 Vgl. J. Trabant, Traditionen Humboldts, Frankfurt/M. 1990, S. 32. 38

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nau diese Fragestellung, die dann Berger und Luckmann in wissenssoziologischer Absicht aufwarfen 44, liegt aber dem wenige Jahre später, 1932, um genau zu sein, abgeschlossenen Buch von Alfred Schütz zugrunde, das als »Einführung in die verstehende Soziologie« den Titel trägt: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. 45 Auch davon lässt Searle nichts ahnen. 46 Das soll nicht bedeuten, die genannten Autoren hätten seine Fragen bereits beantwortet, wohl aber deutlich machen, dass zwischen Löwith, Schütz und Berger/Luckmann ein Problem aufgetreten ist, das eine Ontologie des Sozialen nicht gleichgültig lassen kann: die Unterscheidung zwischen Welt und Wirklichkeit. 47 Während Searle sich ausgehend von einem physikalisch-kosmologischen Weltbegriff, in den er sich auch biologisches Leben realiter eingeordnet denkt, weitgehend mit einer gleichsam darüber geschichteten und sozial »konstruierten« Wirklichkeit begnügt, hat Helmuth Plessner in seinem Vorwort zu Bergers und Luckmanns Schrift genau auf die Schwierigkeit aufmerksam gemacht, wie jene Unterscheidung zu treffen ist: »Welt, offene Welt, ist eine anthropologische Dimension und fungiert als unausschöpfbarer Hintergrund für jede Art von artikulierter Wirklichkeit.« 48 Was wir Welt nennen, fällt demnach keinesfalls einfach mit der im Kosmos verlorenen Erde zusammen, ›auf‹ der wir leben. Sie erweist sich vielmehr selbst als Korrelat menschlicher, sozialer Erfahrung, ohne aber in dieser aufzugehen. Die Welt kann als solche nicht mit dem Gegenstand einer Naturwissenschaft wie der Physik oder der Biologie zur Deckung kommen. Darin ist sich Plessner mit Husserl und auch mit Heidegger, gegen P. L. Berger, T. Luckmann, The Social Construction of Reality, New York 1966. A. Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Einführung in die verstehende Soziologie [1932], Frankfurt/M. 21981; ders., Gesammelte Aufsätze. Bd. 1. Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag 1971, S. 39 ff. 46 Auf diese (und weitere) Desiderate weist auch B. Waldenfels in seiner ausführlichen Rezension hin: »Sozialontologie auf sozialbiologischer Basis. Searles Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit«, in: Philosophische Rundschau 45 (1998), S. 97–112. 47 Vgl. zur Aktualität dieses Begriffspaares L. Boltanski, »Individualismus ohne Freiheit. Ein pragmatischer Zugang zur Herrschaft«, in: WestEnd 5 (2008), S. 133–149, hier: S. 134. Boltanski spricht eher von Realität als von Wirklichkeit und, im Gegensatz zu Schütz und den Phänomenologen generell, von der »Konstruktion« letzterer. 48 H. Plessner, »Zur deutschen Ausgabe«, in: P. L. Berger, T. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie [1966], Frankfurt/M. 1980, S. IX–XIX, hier: S. X. 44 45

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den er beharrlich an seinem anthropologischen Fragen festhält, einig. 49 Welt als ein solcher Hintergrund 50 wird nur durch Wesen möglich, denen zwar alles Wesentliche mangeln mag, die allein aber ›in‹ der Welt sein können. Wie Heidegger gezeigt hatte, bedeutet das gerade nicht, in oder auf ihr vorzukommen wie irgendetwas anderes Vorhandenes, sondern dieses ›In-sein‹ überhaupt erst sich entfalten zu lassen. Demnach bezeichnet In-der-Welt-sein eine Weise des Existierens bzw. des Daseins; und zwar eines Daseins, das nur in der Form eines gleichursprünglichen Mitseins möglich ist. So oder so verhält sich »je eigenes Dasein« zum Dasein Anderer. »Zum Sein des Daseins« gehört »das Mitsein mit Anderen«. Das soll freilich eine existenzial-ontologische Aussage sein, die das Mitsein derart formal fasst, dass es umsichtiges Umgehen mit Anderen, Sorge für sie, Rücksicht, Nachsicht usw. genauso einschließt wie Rücksichtslosigkeit, Gleichgültigkeit und Gewalt gegen sie. 51 So gesehen schließt die Ontologie des Mitseins sämtliche Spielarten des Sozialen mit ein, auch die Abkehr von ihm, ja selbst dessen Zerstörung, den Krieg (in seinen altbekannten und neuen Formen) und den Genozid. Dasein heißt: zum Mitsein so oder so verurteilt zu sein; und aus ihm allein geht nicht ohne weiteres hervor, was gutes (bzw. bejahbares) soziales Leben im gewöhnlichen Sinne des Wortes etwa bedeuten könnte. In Sein und Zeit finden wir den Begriff derart existenzial formalisiert, dass er keinerlei Bezug mehr zu der Frage

Vgl. aber die Vorbehalte in Plessners Aufsatz »Phänomenologie. Das Werk Edmund Husserls (1859–1938)«, in: ders., Zwischen Philosophie und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1979, S. 43–66, sowie in »Lebensphilosophie und Phänomenologie« und in »Ad memoriam Edmund Husserl (1859–1938)«, in: ders., Politik. Anthropologie. Philosophie. Aufsätze und Vorträge, München 2001, S. 231–255 und S. 297– 303. Zur aktuellen Bestandsaufnahme von Plessners anthropologischem Fragen vgl. H.-P. Krüger, Zwischen Lachen und Weinen. Bd. I. Das Spektrum der menschlichen Phänomene, Berlin 1999; J. Fischer, Exzentrische Positionalität. Studien zu Helmuth Plessner, Weilerswist 2016. 50 Genauer: als ein universaler (niemals als eine Art Gegenstand vorliegender) Verweisungshorizont, in dem alles Erfahrbare auftritt bzw. sich zeigt. Vgl. K. Held, »Husserls These von der Europäisierung der Menschheit«, in: C. Jamme, O. Pöggeler (Hg.), Phänomenologie im Widerstreit, Frankfurt/M. 1989, S. 13–39. 51 Insofern erscheint es als problematisch, das Mitsein mit einer »Anerkennungsgemeinschaft« geradezu gleichzusetzen, wie es R. Brandom tut; vgl. J. Weiss, »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Die Jemeinigkeit des Mitseins: Die Daseinsanalytik Martin Heideggers und die Kritik der soziologischen Vernunft, Konstanz 2001, S. 11–56, hier: S. 38; Heidegger, Sein und Zeit, § 26, S. 123 ff. 49

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hat, ob menschliches Zusammenleben das Prädikat ›sozial‹ verdient. Gerade um diese Frage war es aber gegangen, als man den modernen Staat über die Funktion der Gewährleistung eines im Innern halbwegs pazifizierten und äußerlich gesicherten Zusammenlebens hinaus an Ansprüchen auf ein gutes (oder gerechtes) Zusammenleben zu messen begann. Insofern kann man sich mit Fug und Recht fragen, ob die Ontologie des Mitseins überhaupt den Titel einer Sozialontologie verdient, als die sie nicht nur von Eugen Fink explizit eingestuft wird, der sich mit Heidegger darin einig ist, dass (wie auch immer näherhin als sozial zu charakterisierendes) Mitsein nicht erst aus einem epistemischen Verhältnis zu einer gegenständlich vorliegenden Wirklichkeit oder Welt, sondern aus einer vorgängigen Erschlossenheit letzterer entsteht.

3.

Zurück zu einer (ahistorischen) existenzialen Sozialontologie? Vom Mitsein (Martin Heidegger) zur conditio historica (Paul Ricœur)

An dieser Stelle zweigt die sog. existenziale Ontologie, die die Grundstrukturen des Co-Existierens einsichtig zu machen versucht, polemisch von jeglicher Philosophie ab, für die es Welt und Wirklichkeit nur im Modus des Wissens von ihnen scheint geben zu können. Wenn dafür der Name Erkenntnistheorie oder Epistemologie steht 52, so muss man sagen, dass die existenziale Ontologie des Sozialen, die (wie im Fall Jean-Luc Nancys bis heute 53) vom Begriff des Mitseins ausgeht, eine anti-epistemologische Disziplin ist. Sie bestreitet, heißt das, dass sich die Art und Weise, in der sich menschliches Leben ursprünglich als soziales vollzieht, in Formen des Wissens manifestiert. Damit tritt diese Sozialontologie auch in deutlichen Gegensatz zur Soziologie, wie sie seit Schütz, Berger und Luckmann entwickelt wor-

Vgl. M. Fricker, Epistemic Injustice. Power & the Ethics of Knowing, Oxford 2010. J.-L. Nancy, Die herausgeforderte Gemeinschaft, Zürich, Berlin 2007, S. 31; Vf., »Ausgesetzte Gemeinschaft – unter radikalem Vorbehalt. Fragen zur aktuellen Kritik jeglicher Vergemeinschaftung mit Blick auf Helmuth Plessner und Jean-Luc Nancy«, in: ders., A. Hetzel, H. R. Sepp (Hg.), Profile negativistischer Sozialphilosophie. Ein Kompendium, Berlin 2011, S. 55–76.

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Zurück zu einer (ahistorischen) existenzialen Sozialontologie?

den ist. So gehen Ontologie und Epistemologie 54 getrennte Wege. Es wäre kaum übertrieben, von einem Schisma zu sprechen. 55 Von phänomenologisch-hermeneutischer Seite hat sich erst Ricœur dieser Problematik mit großem Aufwand wieder zugewandt, indem er die Ontologie des In-der-Welt-seins einerseits und die Erkenntnis, die wir von dieser Welt im Modus einer sozialen Wirklichkeit haben, andererseits in ihrem relativen Recht bedachte, um beides denken zu können: wie wir existieren im Modus eines In-der-Weltseins, das sich zunächst nicht in epistemischen Bezügen zu einer gegenständlich vorliegenden Welt vollzieht, und wie wir im Verhältnis zur Welt Positionen des (physikalischen, biologischen, aber auch historischen) Erkennens einnehmen können. Zu keinem Zeitpunkt mochte Ricœur so weit gehen, im Namen einer »fundamentalen« Ontologie jegliche Epistemologie zu verwerfen 56 oder aber umgekehrt umwillen einer von jeglicher Dunkelheit, Zweideutigkeit und Fremdheit menschlicher Existenz gereinigten Erkenntnis das ontologische Fragen, so wie es Heidegger radikalisiert hatte, zurückzuweisen. 57 Bis zum Schluss hielt Ricœur im Gegenteil daran fest, dass »die Frage: Was bedeutet das, zu existieren? […] nicht von dieser anderen Frage losgelöst werden« könne: »Was bedeutet das, zu denken? Die Ein Begriff, den ich hier in einem sehr weiten Sinne für Theorien des Wissens in jeglicher, nicht bloß in ›wissenschaftlicher‹ Form nehme. Zu diesem weiteren Sinn von Epistemologie vgl. M. Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1981, Kap. IV, 6; P. Wehling (Hg.), Vom Nutzen des Nicht-Wissens. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2015. 55 Die Spuren sind bis heute festzustellen, wo praktisch die ganze Tradition der Sozialphänomenologie und -hermeneutik unbekannt zu sein scheint; vgl. O. R. Scholz, »Sozialontologie«, in: S. Gosepath, W. Hinsch, B. Rössler (Hg.), Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Bd. 2, Berlin 2008, S. 1229–1233; B. Waldenfels, »Phänomenologie, Existenzphilosophie und Seinsdenken«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Basel 1989, S. 742–752. 56 An dieser Stelle ist es nicht möglich, die verschlungenen Denkwege Ricœurs, die sich um diese Frage drehen, nachzuzeichnen; vgl. aber P. Ricœur, »Sur la phénoménologie«, in: Esprit 21 (1953), S. 821–839; ders., »Philosophie et ontologie. Retour à Hegel«, in: Esprit 23 (1955), S. 1378–1391; ders., »Renouveau de l’ontologie«, in: Encyclopédie Française, T. XIX, Paris 1957, 19.16–15 bis 19.18–3; ders., »Ontologie«, in: Encyclopaedia Universalis XII, Paris 1972, S. 94–102. 57 Vgl. Vf., »Vom dezentrierten cogito zur historischen Intentionalität. Spannungsfelder zwischen Existenz und Wissenschaft in der Philosophie Paul Ricœurs«, in: D. Ginev (Hg.), Die Verschmelzung der Untersuchungsbereiche. Formen des Dialogs zwischen Kulturwissenschaften und Wissenschaftstheorie, Frankfurt/M., Berlin, Bern 1993, S. 85–104. 54

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Philosophie lebt aus der Einheit dieser beiden Fragen und stirbt an ihrer Trennung.« 58 Diese Überzeugung leitet noch das Spätwerk Gedächtnis, Geschichte, Vergessen (2004), in dem sich der Autor allerdings weit von einer Fundamentalontologie entfernt hat und sich auf den Begriff einer conditio historica zurückzieht, die für ihrerseits historisch variable, insofern kontingente Formen geschichtlicher Existenz steht, in die wir keine direkte Einsicht haben. Der Hermeneutiker Ricœur hält nach wie vor daran fest, dass wir uns nur auf dem Umweg der Interpretation von Texten dessen vergewissern können, ob und wie Menschen geschichtlich existieren. Er will aber nicht direkt von deren »Geschichtlichkeit« sprechen, sondern zieht den Ausdruck conditio historica vor, worunter er zweierlei versteht: »zum einen eine Situation, in der jeder sich jeweils impliziert, Pascal würde sagen: ›eingeschlossen‹ findet; zum anderen eine Bedingtheit im Sinne einer Bedingung der Möglichkeit von ontologischem Rang oder […] von existenzialem Rang gar noch im Verhältnis zu den Kategorien der kritischen Hermeneutik. Wir machen Geschichte, und wir schreiben Geschichte, weil wir geschichtlich sind.« 59 Ricœur insistiert aber darauf, die Strukturen dieses Geschichtlich-seins selbst aufklären zu wollen. Und er glaubt nicht, dass dies auf dem Wege einer direkten Ontologie möglich ist, sondern nur durch die Vermittlung von Texten 60, die keineswegs von jederzeit gleichen Strukturen solcher Art künden. Vielmehr legen sie Zeugnis ab von einer tief greifenden Krise jeglicher Sicherheit im Hinblick auf die Frage, wie Menschen sozial co-existieren. Dem kann eine prima facie a-historische Sozialontologie (etwa unter Berufung auf Heideggers Mitsein, auf Gabriel Marcels coesse oder auf Hannah Arendts inter-esse; GGV, S. 282) nicht angemessen Rechnung tragen. Denn die geschichtliche Erfahrung, die wir in den Texten beschrieben finden, weckt radikale Zweifel daran, ob und wie Menschen überhaupt P. Ricœur, »Philosophieren nach Kierkegaard«, in: M. Theunissen, W. Grewe (Hg.), Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, Frankfurt/M. 1979, S. 579–596, hier: S. 596; ähnlich äußert sich der Autor schon Jahrzehnte früher in: »L’Humanité de l’homme«, in: Studium Generale 15 (1962), S. 309–323, hier: S. 321. 59 P. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004, S. 441 f.; vgl. ebd., S. 533, 579 (= GGV). 60 P. Ricœur, »Die Schrift als Problem der Literaturkritik und der philosophischen Hermeneutik«, in: R. Zimmermann (Hg.), Sprache und Welterfahrung, München 1978, S. 67–88, hier: S. 79; ders., »Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen«, in: H.-G. Gadamer, G. Boehm (Hg.), Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, Frankfurt/M. 1978, S. 83–117, hier: S. 90. 58

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Zurück zu einer (ahistorischen) existenzialen Sozialontologie?

sozial aneinander gebunden, miteinander verbunden oder einander gegenseitig verpflichtet sind – über eine bloß ›formale‹ Co-Existenz hinaus, die sich scheinbar zu diesen Fragen indifferent verhält. 61 Ricœur spricht in diesem Zusammenhang wiederholt von »sozialer Bindung« oder auch, wie schon Jean-Jacques Rousseau und später Karl Marx, vom »sozialen Band« 62 (lien social), ohne sich aber dessen sicher zu sein, ob eine Sozialontologie nachweisen kann, dass und wie Menschen unvermeidlich, unbedingt oder unabänderlich aneinander gebunden oder miteinander verbunden sind – und zwar kraft ihres In-der-Welt-seins. Bezeugen gewisse Texte nicht die »bestürzendste Infragestellung des gesicherten Zusammenhalts einer gemeinsamen Welt des Sinns« (GGV, S. 255, Anm. 29)? Stellen sie nicht »die Idee der gemeinsamen Menschlichkeit der Mitglieder der cité« in Frage? Eine Idee, die für Ricœur »sicherlich nicht abzulehnen« ist, wie er mit Blick auf Luc Boltanski und Laurent Thévenot ausdrücklich sagt, denen er jene Formulierung entlehnt (GGV, S. 341). Aber verfügen wir über eine Sozialontologie, die ein für alle Mal beweisen würde, wie Menschen einander im Zeichen dieser Menschlichkeit verbunden sind und dass darin ein »soziales Band« zu sehen ist, welches auch durch bezeugte Formen extremer, exzessiver und radikaler Gewalt nicht in Frage zu stellen oder gar ganz zu zerstören ist? Nährt diese Bezeugung nicht tief greifenden Dissens und Zweifel an der Vorstellung einer solchen, unverwüstlichen Bindung? Liegt darin nicht die historische Bedeutung all jener Zeugnisse, die von einer ›unannehmbaren‹, traumatischen Zerstörung jeglicher menschlichen Bindung zeugen und jeden Hörer oder Leser in eine »indirekte Übertragungssituation gegenüber dem Traumatismus« versetzen (GGV, S. 397, 399)? Wer diese Fragen ernst nimmt – und Ricœur fordert uns dazu auf, dies mit ihm und vielen anderen, auf die er sich bezieht, endlich zu tun –, der wird sich schwerlich mit einer ahistorischen Sozialontologie zufriedengeben können, die den Eindruck erweckt, die Frage, was uns zu sozialen Wesen macht oder zu einer sozialen ExistenzVgl. E. Levinas, Außer sich, München, Wien 1991, S. 14. Bei Rousseau steht der Begriff allerdings meist im Plural: liens sociaux. J.-J. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l’inégalité, Paderborn 1984, S. 130 f., 182, 188, 310; K. Marx, »Ökonomisch-Philosophische Manuskripte« [1844], in: Texte zur Methode und Praxis II. Pariser Manuskripte, Reinbek 1968, S. 77; Ricœur, GGV, S. 249, 282, 287, 336, 746; vgl. Nancy, Die herausgeforderte Gemeinschaft, S. 39.

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weise bestimmt, sei gleichsam an Befunden vorbei zu klären, die für eine weitgehende Zerstörbarkeit oder Auflösbarkeit des Sozialen sprechen und uns dazu herausfordern, letzteres gerade im Lichte dieser traumatischen und desaströsen Erfahrung zu verstehen. So zeichnet sich eine methodische Zirkularität folgender Art ab: Wenn wir wissen wollen, was Sozialität ausmacht, sehen wir uns nicht auf eine direkte Ontologie 63, sondern auf Zeugnisse geschichtlicher Erfahrung verwiesen. Diese Zeugnisse setzen aber ihrerseits sowohl in der Erfahrung, von der sie zeugen, als auch im Hinblick auf ihre Adressaten eine Sozialität voraus, aus der sie hervorgehen und in die sie wieder eingehen, wenn auch nur in der Weise einer traumatisierenden Infragestellung dessen, was es – in historischer Perspektive – überhaupt bedeuten soll, sich jener »gemeinsamen Menschlichkeit der Mitglieder der cité« zuzurechnen. Auch in dieser Weise kann man verstehen, woran Ricœur die Historiker der französischen Annales-Schule erinnert: dass Geschichte »im Sozialen verankert ist«; aber so, dass sie es zugleich radikal in Frage stellt (GGV, S. 293 ff.). So verstanden ist Geschichte eine große »Heterologie« (Michel de Certeau), d. h. ein »Parcours durch die ›Spuren der Anderen‹« 64, durch die Spuren, die sie hinterlassen haben, aber auch durch die Spuren, die man zu verwischen und auszulöschen versucht hat. Dagegen bezeugen die fraglichen Zeugnisse gerade die Unauslöschlichkeit der Spuren Anderer (um einen Buchtitel von Emmanuel Levinas aufzugreifen) gerade dort, wo man alle Spuren zu beseitigen versucht hat. Beweisen können sie allerdings nichts dergleichen, sondern nur Andere zur indirekten, delegierten Zeugenschaft aufrufen. Nur durch Andere sind sie zu beglaubigen (aber gewiss nicht zu verifizieren), um auf diese Weise selbst dort noch, wo wir es mit der Auslöschung und Zerstörung aller Spuren zu tun haben, an eine mit Anderen ›geteilte‹ Welt zu appellieren. Ob eine solche Welt auf einem sensus communis beruhen kann, wie Ricœur an anderer Stelle nahelegt, scheint weniger denn je gewiss. Jedenfalls ist aber das Zeugnis selbst Ein Ausdruck Gaston Bachelards, der sich zunächst auf die spontane Ontologie poetischer Erfahrung (nicht auf eine philosophische Disziplin) bezog; G. Bachelard, Poetik des Raumes, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1975, S. 10; siehe auch Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 217, 219, 233; Ricœur, Main Trends in Philosophy, S. 253. 64 Vgl. GGV, S. 331, 563, 590; M. de Certeau, Das Schreiben der Geschichte, Frankfurt/M. 1991. 63

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Zeugnis und Sozialontologie – in dreifacher Hinsicht

(auch und gerade dort, wo es – entgegen der seit Aristoteles überlieferten Logik der Narrativität 65 – ›Unglaubliches‹, ›Unwahrscheinliches‹ und ›Unmögliches‹ bezeugt) »in der Gesamtheit der konstitutiven Beziehungen der sozialen Bindung« zu einer Institution geworden, wie Ricœur mit Renaud Dulongs Le Témoin oculaire sagt, ein Buch, das sich seinerseits auf Alfred Schütz’ Phänomenologie der sozialen Welt stützt (GGV, S. 252 f.).

4.

Zeugnis und Sozialontologie – in dreifacher Hinsicht

An dieser Stelle würde Searle vermutlich zustimmen und ebenfalls sagen, dass das Zeugnis zu unserer sozialen Wirklichkeit gehört, weil es kraft gesellschaftlicher Übereinkunft als Zeugnis gilt und anerkannt wird. In diesem Sinne würde auch er das Zeugnis als eine soziale, »institutionelle Tatsache« bezeichnen. Aber bei Searle kommen eigentümlicherweise die Wirklichkeit und Welt selbst nicht in den Blick, auf die sich Zeugnisse beziehen; und zwar im Modus einer Bezeugung, welche ihrerseits Andere zu Zeugen macht, die das zu Bezeugende weitergeben müssen. Das Zeugnis als soziale Institution oder gesellschaftliche Tatsache, wie sich Searle ausdrückt, wird seinerseits nur durch Zeugen möglich, die sich (als wahrhaftige oder glaubwürdige Zeugen) und das zu Bezeugende selbst bezeugen. Das Bezeugte, so wie es in schriftliche Aufzeichnungen oder auch in VideoDokumentationen eingehen kann, gibt es nur vermittels des Selbst der Zeugen, die sich in ihrem Zeugnisablegen auch selbst bezeugen (als glaubwürdig, wahrhaftig etc.). 66 So gesehen gehören Selbst-Bezeugung einerseits, wie sie von Heideggers Sein und Zeit (1927) über Gabriel Marcels Sein und Haben (1935) bis hin zu Ricœurs Das Selbst als ein Anderer (1990) als Existenzial menschlichen Daseins beschrieben wurde, und Zeugnisse, die das zu Bezeugende weitergeben, ursprünglich zusammen. 67 P. Ricœur, Zufall und Vernunft in der Geschichte, Tübingen 1986. Vgl. Vf., »Aktuelle Historisierungen der Zeugenschaft. Zur ›Kritik einer Wissenspraxis‹ und zum ›Recht der Literatur‹ jenseits von Wissen und Recht«, in: Philosophische Rundschau 59, Heft 3 (2012), S. 217–235. 67 Ich habe das an anderer Stelle ausführlich deutlich zu machen versucht: »Der Komplex der Zeugenschaft und der Begriff der politischen Welt. Eine Revision in historischer Perspektive«, in: H. Schlie, A. Kalisky, M. Däumer (Hg.), Über Zeugen. Szenarien von Zeugenschaft und ihre Akteure, München 2017, S. 125–146. Die Zu65 66

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Darüber hinaus referiert das Bezeugte aber auf eine Wirklichkeit und indirekt auf eine Welt, die im Lichte des Bezeugten radikal in Frage steht, wenn es um Zeugnisse einer Gewalt geht, die prima facie mit keinerlei Annahme einer sozialen Verbindung zwischen Tätern und Opfern mehr vereinbar zu sein scheint. In Frage steht hierbei nicht weniger als die Sozial-Ontologie unserer Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen bzw. geteilten Welt, welche Täter aller Couleur und Opfer einbezieht, die zumindest Anteil an ihr haben (ohne indessen ›restlos‹ in ihr aufgehen zu müssen); und zwar in der Art und Weise, wie sie ihr Leben leben oder ›existieren‹. 68 Auch hier gilt aber, dass wir über keine direkte Ontologie dieser Art verfügen. Einer solchen – im doppelten Sinne geteilten, problematischen, gerade nicht gewissen – Zugehörigkeit können wir uns wiederum nur auf dem Umweg über Zeugnisse versichern, die deren Ruin und deren wiederholte Zerstörbarkeit bezeugen. Die historische Erfahrung lehrt, dass diese Zeugnisse sich zumal dann nicht auf eine feste institutionelle Struktur stützen können, wenn sie von Unglaublichem, Unwahrscheinlichem oder geradezu für unmöglich Gehaltenem berichten. Gleichwohl können sie nicht umhin, sich in Akten des Zeugnisablegens manifestieren zu müssen, denen soziales Gewicht nur in dem Maße zukommen kann, wie sie als solche auch anerkannt werden. Darin erschöpft sich aber keineswegs das sozialontologische Problem, das sie aufwerfen, wenn es zutrifft, dass Zeugnisse nur durch Zeugen möglich werden können, die ihrerseits im Modus der Zeugenschaft existieren. 69 Zu dieser existenziellen bzw. existenzialen Dimension des Sozialen sagt Searle nichts. Er kennt vielmehr nur linguistische Subjekte, die sich vor allem im Modus deklarativer Rede sammengehörigkeit von Bezeugung und Zeugnis macht auf die korrelative Verbindung zwischen Ontologie und Epistemologie aufmerksam. 68 Diese Problematik taucht für Searle gar nicht auf, weil er vom Primat einer physikalischen Welt ausgeht, in der auf bislang schlecht verstandene Art und Weise menschliche Subjekte auftauchen, und zwar als linguistic animals, die allein durch ihr Sprechen-können gleichursprünglich ihre Gesellschaftlichkeit hervorbringen (vgl. Searle, Making the Social World, ch. 6). Wie prekär letztere ist, insofern sie auf das Zuhören Anderer angewiesen ist, für die Sprechende auch ›zählen‹ müssen (wie es unaufhörlich J. Rancière betont), wird in diesem Ansatz unkenntlich. 69 Ich kann an dieser Stelle nicht weiter ausführen, dass die Zeugenschaft mit der Aufnahme eines jeden in eine soziale Welt des Lebens mit und unter Anderen gleichursprünglich sein muss; vgl. Vf., In der Zwischenzeit. Spielräume menschlicher Generativität, Zug 2016.

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Zeugnis und Sozialontologie – in dreifacher Hinsicht

mit Anderen ins Benehmen setzen. 70 Dabei müssen solche Subjekte zunächst in eine soziale Welt aufgenommen worden sein, in der sie sich und ihre Erfahrungen zum Ausdruck bringen können und Gehör finden. Die Befähigung zur Rede, deren Sinn es ist, sich an Andere zu wenden, kommt ihnen nicht als eine natürliche Eigenschaft, sondern nur dank Anderer zu, die ihnen auch zuhören und auf diese Weise die sprachliche Existenz derer bezeugen, die sprechen. Nur unter dieser Voraussetzung können sich letztere auch als linguistische Subjekte darstellen, die anderen gewisse Kognitionen, Informationen, Meinungen und Überzeugungen mitzuteilen haben. Und in dem Maße, wie sie ihrerseits auch Anderen (und zwar als Anderen 71) Gehör schenken, bezeugen auch solche Subjekte deren sprachliche Existenz. Wir kommen, als sprechende Lebewesen, nur kraft der Bezeugung Anderer zur Welt und werden auf diese Weise unsererseits zu Zeugen ihrer sprachlichen Existenz. Doch können wir uns keineswegs ohne weiteres auf eine Sozialontologie der Zugehörigkeit zu einer sozialen Welt (im Modus der Zeugenschaft) stützen. Gerade diese Zugehörigkeit ist es ja, was durch jene Zeugnisse radikaler Gewalt wie nichts anderes in Frage gestellt wurde. Wie tief diese Infragestellung greift, bringt Alain Finkielkraut mit seiner Feststellung zum Vorschein, es gebe »Taten in einer Welt, zu der der Krieg gehört«, und es gebe »Untaten, außerhalb der Welt«. 72 In diese Richtung geht auch Maurice Blanchots Auseinandersetzung mit einer ›desaströsen‹ Gewalt 73, die nicht nur eine bestimmte Wirklichkeit beschädigt bzw. ganz ruiniert, oder ›in‹ der Welt ›vorkommt‹, sondern die Welt einer geteilten Co-Existenz Auf die Details dieser Theorie der status functions und der ihnen zugeschriebenen deontic powers, die wie Leim (glue) eine Gesellschaft sollen zusammenhalten können, ist hier nicht einzugehen (vgl. Searle, Making the Social World, S. 7, 9–14). 71 Ebenso wenig wie die existenziale Dimension sozialontologischen Denkens kommt diese Differenz ins Spiel, wo man das Denken des Sozialen schlicht auf Max Webers soziologische Grundbegriffe in Wirtschaft und Gesellschaft stützt, wo es in § 1/II bekanntlich heißt, als »sozial« sei menschliches Handeln dann zu verstehen, wenn es sich seinem gemeinten Sinn nach »auf das Verhalten anderer« bezieht. Demgegenüber fragt sozialontologisches Denken (und dessen Kritik bes. bei Levinas) über das Verhalten hinaus nach der Sozialität eines mit und unter Anderen gelebten Lebens, das durch sie und auf sie hin überhaupt erst als solches zustande kommt und insofern als ›sozial‹ fundiert und konstituiert gelten muss. 72 A. Finkielkraut, Die vergebliche Erinnerung. Vom Verbrechen gegen die Menschheit, Berlin 1989, S. 36 f. 73 M. Blanchot, Die Schrift des Desasters, München 2005. 70

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II · Ahistorische Ontologie des Sozialen?

selbst angreift – bis zu einem Punkt, wo nicht mehr klar ist, ob Täter und Opfer überhaupt noch einer gemeinsam geteilten Welt teilhaftig sind. 74 So wie Searle keine sozialontologische Dimension der Existenz derer kennt, die als Zeugen oder als linguistische Subjekte einer bestimmten Wirklichkeit im Sinne einer Ontologie sozialer Tatsachen auftreten können (weil sie zuvor als solche durch Andere instituiert und anerkannt worden sind), so weiß er scheinbar auch nichts von der sozialontologischen Dimension der Welt, die nur durch Menschen möglich wird, aber niemals einen unverbrüchlichen substanziellen Bestand hat, wenn es denn stimmt, was uns jene Zeugnisse hinterlassen haben: die Einsicht nämlich, dass gewisse Untaten radikal daran zweifeln lassen, ob wir (und mit wem wir) überhaupt eine (menschliche) Welt teilen und bewohnen. 75 Bedenkt man die innere Zusammengehörigkeit dieser drei Hinsichten sozialontologischen Fragens – nach der Existenzweise derer, die sozial leben, nach der Wirklichkeit, auf die sie sich beziehen, und nach der gemeinsamen bzw. geteilten Welt, an der sie als Zeugen der sprachlichen Existenz Anderer Anteil nehmen und haben –, so zeigt sich, was für ein beschränktes Bild uns Searle von einer zeitgemäßen Sozialontologie vermittelt, indem er vergisst, dass wir, bevor wir mit einer Ontologie sozialer Tatsachen zu tun haben, sozial existieren müssen vermittels einer Sprachlichkeit, die nicht einfach unserer natürlichen Ausstattung zuzuschreiben ist, sondern nur als durch Andere bezeugte wirklich ist. Wie aber, das lehrt uns keine ahistorische Ontologie, die direkten Zugriff auf sogenannte Existenzialien hätte. Zu Grundstrukturen sozialen Lebens, wie sie unter dem Begriff des Mitseins zur Sprache gebracht worden sind, stoßen wir allenfalls indirekt und nachträglich vor – im Lichte von Erfahrungen und Texten, die historisch kontingente Einblicke darin eröffnen, wie soziales Leben geschieht (oder zerstört wird) und wie es sich auf eine gemeinsame oder ruinierte Wirklichkeit bezieht in einer geteilten Welt. Diese Ausgangsbasis so-

Die Frage, ob das phänomenologisch plausibel sein kann, wenn man die Welt wie die oben zitierten Autoren als »Horizont« oder »Hintergrund« aller ›sozialen‹ Wirklichkeit auffasst, wäre erst eigens aufzuwerfen. 75 Insofern steht hier radikal jene Referenz auf eine gemeinsame Welt in Frage, von der Ricœur früher gesagt hatte, »que l’être-dans le monde qui est porté au langage est simultanément un être-avec ceux qui partagent la même parole«; vgl. P. Ricœur, »Philosophie et langage«, in: Revue Philosophique 4 (1978), S. 449–463, hier: S. 462. 74

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Revidiertes Mitsein, co- oder inter-esse

zialontologischen Fragens lassen wir niemals einfach hinter uns wie eine Wittgenstein’sche Leiter. Im Gegenteil: sie zwingt uns dazu, Ontologien zu revidieren, deren Verfechter glauben machen, sie könnten unter Umgehung kontingenter Erfahrungen und Texte auf direkte Art und Weise zur Sprache bringen, wie sich menschliches Leben, menschliche Existenz oder ein anonymes Dasein vollzieht.

5.

Revidiertes Mitsein, co- oder inter-esse

In diesem Sinne hat schon Sartre gegen Heideggers Thanatologie Einspruch erhoben. Andere existenzielle Modelle der Sterblichkeit würden ein anderes Licht auf das berühmt-berüchtigte Existenzial des Vorlaufens zum (je-meinigen) Tod werfen, meinte er. 76 Levinas’ Heidegger-Kritik zielte in die gleiche Richtung, aber mit einem ganz anderen Ergebnis. Sie bot nicht den Gedanken eines gleichmütigen oder auch gleichgültigen Sicharrangierens mit dem eigenen Tod gegen die von diesem beherrschte Sorge auf; vielmehr erinnerte Levinas an Vorstellungen eines verantwortlichen Lebens, in dem der Tod des Anderen der »erste Tod« sei. Muss demnach das Dasein primär in der Sorge um die Sterblichkeit des Anderen gelebt werden? 77 Geht menschliche Existenz insofern weit über ein neutrales inter- bzw. coesse oder Mitsein hinaus, das sich auch als Zusammenmarschieren manifestieren kann, wie Levinas bissig gegen Heidegger vorbringt? 78 Geschieht um die Sterblichkeit des Anderen besorgte Existenz nicht in der Form eines nicht-indifferenten Mitseins, das sich niemals auf ein bloßes Nebeneinander oder nur formales Miteinander reduzieren kann, welches sich gegebenenfalls widerstandslos einer befehlenden Instanz unterwerfen lässt? 79

J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek 1993, S. 914–937. 77 E. Levinas, Gott, der Tod und die Zeit, Wien 1996, S. 19, 53, 115 f. 78 »Die ethische Beziehung, das Miteinandersein, ist bei Heidegger nur ein Moment unserer Präsenz in der Welt. Sie hat keine zentrale Bedeutung. Mit, das heißt immer sein neben …, das ist nicht in erster Linie das Antlitz, das ist zusammensein, vielleicht zusammenmarschieren.« Vgl. E. Levinas, Zwischen uns, München, Wien 1995, S. 148; ders., Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989, S. 135. 79 E. Fink, Grundphänomene des menschlichen Daseins, Freiburg i. Br., München 1979, S. 390 f. 76

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Auch hier müssen wir zugeben, dass wir (abgesehen natürlich von empirischen Vorkommnissen dieser Art) davon direkt gar nichts wissen können, ob soziale Existenz ›eigentlich‹ zu etwas anderem bestimmt ist. Auch Levinas sieht sich deshalb dazu gezwungen, seine Revision dessen, was er als Heidegger’sche Sozialontologie wahrgenommen hat, erst einmal der Negativität historischer Erfahrung entgegenzusetzen, in deren Licht ihm ein indifferentes Mitsein als vollkommen unzureichende, weil ethisch buchstäblich gleichgültige Vorstellung eines bloßen Nebeneinanderherlebens erschien, dessen sich gewisse Machthaber ganz nach ihrem Belieben bemächtigen können. Ist da nichts, fragte Levinas dagegen, was sich dem im sozialen Verhältnis zum Anderen widersetzt – und zwar von Anfang an? Was Levinas selbst als Antwort auf diese – zweifellos nicht ›naturgeschichtlich‹ gemeinte – Frage anzubieten hat, ergibt gewiss keinen Beweis – etwa für eine ursprüngliche Bestimmung zur ethischen Nicht-Indifferenz dem Anderen und allen Anderen gegenüber. Aber es gelingt ihm immerhin, jede Sozialontologie in Zweifel zu ziehen, die unvermittelt auf der Ebene jenes Mitseins, eines co- oder interesse behauptet ansetzen zu können, so als ob sie in das ›Sein‹ des Sozialen direkten, durch nichts getrübten oder verdeckten Einblick hätte, um dann festzustellen, dieses Sein sei ethisch neutral, indifferent oder gleichgültig. Ungeachtet wichtiger Unterschiede, die ihn von Levinas trennen, ist sich Ricœur mit ihm in dieser Hinsicht einig. Wie Levinas geht auch Ricœur davon aus, dass die philosophische Disziplin der Ontologie im 20. Jahrhundert ganz neu befragt werden muss – im Lichte einer historischen Erfahrung, die äußerste Verbrechen gegen Andere bezeugt und in Folge dessen die Frage aufwirft, was sich ihnen in dem, was man seit Kierkegaard als Existenz oder seit Heidegger als Dasein bezeichnet, widersetzt. In Schriften, die Ricœur seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts veröffentlicht hat, wird überdeutlich, wie er sich mehr und mehr auf Levinas’ Grundfrage zu bewegt: wie ist menschliches Leben vom Anderen ›ansprechbar‹ ; und zwar unumgänglich? Wie müsste man von dieser Ansprechbarkeit her die Art und Weise neu denken, in der menschliches Leben bzw. Dasein geschieht? Gehört auch zu geschichtlicher Existenz ein Mitsein, das sich als vom Anderen (sei es als Du, sei es als Drittem) ansprechbar und ihm verfügbar erweist? Ist es insofern zu einer ursprünglichen Nicht-Indifferenz ihm gegenüber bestimmt? Wird aber nicht auch diese Bestimmung, wenn es sie gibt, als Bestimmtsein 124 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Revidiertes Mitsein, co- oder inter-esse

vom Anspruch (invocation) des Anderen her ebenso wie die Verfügbarkeit (disponibilité) ihm gegenüber nur bezeugt? 80 Hier bewegt sich Ricœur an der Grenze zwischen Ontologie und Ethik. 81 Für ihn steht nicht länger fest, dass geschichtliches Mitsein – wenn es sich zum Anderen hin öffnet – in einem bloßen co-esse und im Interesse oder Wunsch zu sein aufgeht, wie ihn Spinoza beschrieben hat, mit dessen Ontologie Ricœur in früheren Jahren geliebäugelt hatte. 82 In seinen späten Schriften dagegen kommt er Levinas’ Polemik gegen Spinoza und Heidegger wiederholt nahe. Haben beide nicht nur eine Art ontologischen Egoismus bzw. einen »Triumph des Selben« 83 – sei es als Begehren, im Sein zu verharren und sich in ihm zu erhalten, sei es als Sorge um sich – beschrieben, der überhaupt kein Verhältnis zum Anderen kennt? Gegen Levinas wendet Ricœur andererseits die Frage, ob ein vom Anderen angesprochenes und in Anspruch genommenes Leben so ohne weiteres aus jeglicher um sich besorgten Existenz ausscheren kann, wie es Levinas stellenweise suggeriert hatte. Hatte Levinas aber nicht selbst geschrieben, auch ein solches Leben appelliere an die Identität derjenigen, die für es einstehen, indem sie sich als jemand erweisen? 84 Und muss man diese Identität nicht als Selbstheit (statt, wie es Levinas immer wieder suggeriert, als Selbigkeit) denken? Auf die Existenz als jemand, bzw. als ein Selbst (ipse), nicht als Selbiges (idem), zielt im normalen Sprachgebrauch die Wer-Frage ab, die für Ricœur nicht bloß auf narrativem Wege, etwa in der Form einer schriftlich niedergelegten Geschichte, sondern vor allem im Modus praktischer Bezeugung ihre Antwort findet. In der Bezeugung (attestation) des Selbst-Seins geht es nicht allein um die je-meinige, erzählbare Identität, sondern darum, vom Affiziertsein vom Anderen Zeugnis abzulegen. So soll sich das Selbst als ein être affecté erP. Ricœur, »L’herméneutique du témoignage«, in: Le témoignage, Paris 1972, S. 35–60; dt. in: ders., An den Grenzen der Hermeneutik, Freiburg i. Br., München 2008. 81 P. Ricœur, »Entre éthique et ontologie: la disponibilité«, in: M. Sacquin (Hg.), Gabriel Marcel, Paris 1989, S. 157–165, 193–200. 82 P. Ricœur, »Zum Grundproblem der Gegenwartsphilosophie. Die Philosophie des Nichts und die Urbejahung«, in: R. Wisser (Hg.), Sinn und Sein, Tübingen 1960, S. 47–65. 83 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br., München 1987, S. 121. 84 E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br., München 1992, S. 175, 310 f. 80

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weisen, das von Anfang an zum Anspruch des Anderen hin geöffnet ist. 85 Dabei bleibt weitgehend unklar, wie das zu Ricœurs später Aristoteles-Exegese im Sinne einer »Ontologie handelnder Selbstheit« passt 86, die sich als enérgeia geschichtlicher Praxis in der Form eines être agissant bewähren soll. Die entgegen Levinas’ anti-ontologischer Stoßrichtung dezidiert ontologische Frage – was für eine Art von Sein ist das Selbst, das geschichtlich existiert und von dem letztlich das Geschichtsdenken handelt? – stößt unvermittelt auf die von Levinas angeregte Frage: Wie kann geschichtliche Existenz dem Anspruch des Anderen gegenüber ursprünglich – und zwar passiv 87 – ›aufgeschlossen‹ sein und ihm womöglich gerecht werden? Vom Anderen her, der »unvorstellbar« bleibt, wie Ricœur mit Levinas argumentiert 88, empfängt das menschliche Selbst die Gabe der Verantwortung, die Bestimmung zur Nicht-Indifferenz angesichts der Sterblichkeit des Anderen, aber auch den Sinn des Gebens, der es nicht länger als ein »Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses Sein geht«, erscheinen lässt. Im Unterschied zu Levinas begreift Ricœur die Revision der Ontologie des Selbst 89, das er als ein Anderes, aber auch als vom Anderen her inspiriertes und dem Anderen verpflichtetes und insofern mit-seiendes beschreibt, immer noch als Versuch einer »Existenzerhellung« auf den Spuren von Karl Jaspers. 90 Damit bleibt er den existenzphilosophischen, aber zu Heidegger Distanz haltenden Ausgangspunkten seines philosophischen Fragens bis zum Schluss verpflichtet, obgleich ihm das menschliche Selbst keiner transparenten philosophischen Reflexion mehr zugänglich erscheint, da es sich ihm als »der Ort des Verkennens schlechthin« dargestellt hat. 91

85 P. Ricœur, »De la métaphysique à la morale«, in: Revue de Métaphysique et de Morale 4 (1993), S. 455–477; ders., Das Rätsel der Vergangenheit, Göttingen 1998. 86 P. Ricœur, Soi-même comme un autre, Paris 1990 (zit. nach: Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 376). 87 Levinas, Jenseits des Seins, S. 49 ff. 88 P. Ricœur, Autrement. Lecture d’Autrement qu’être ou au-déla de l’essence d’Emmanuel Levinas, Paris 1997, S. 21 f.; ders., Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt/M. 2006, S. 309 f., 323. 89 Gegen die Rede vom Selben ist Levinas nach Ricœurs Dafürhalten unaufhörlich angerannt, ohne recht die Differenz zwischen Selbigkeit und Selbstheit zu realisieren. Davon sehe ich hier ab. 90 Ricœur, Wege der Anerkennung, S. 317. 91 Ebd., S. 318.

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Revidiertes Mitsein, co- oder inter-esse

Demnach gibt es weder für das menschliche Selbst in seiner Alltäglichkeit noch auch für den Philosophen, der sich auf der Suche nach einer angemessenen Ontologie über sie zu erheben versucht, die Möglichkeit einer direkten, unvermittelten Einsicht in die Art und Weise, wie sich menschliches Leben als soziales auf existenzialer Ebene vollzieht. Wir verfügen nur über kontingente Ausgangspunkte eines prekären Selbstverhältnisses, in dem wir uns selbst nicht transparent sind, sondern sogar ständig verkennen. Um so mehr sind wir auf Ab- und Umwege der Interpretation angewiesen, die unter dem Druck historischer, vielfach gewaltsamer Erfahrung wenigstens indirekt zu verstehen geben können, wie es um das Soziale in der Tiefe eines Mitseins bestellt ist, das im Lichte der wichtigsten Beiträge zur Sozialontologie des 20. Jahrhunderts zwischen einem indifferenten co-esse einerseits und einem verantwortlichen Für-den-Anderen-sein andererseits, dem wir (laut Levinas) sogar wie Geiseln unterworfen sein sollen, eigentümlich changiert. Nur wenn man sich diesem beunruhigenden Changieren aussetzt und es nicht verleugnet, kann aber deutlich werden, warum sich eine Ontologie des Sozialen nicht in der Beschreibung von linguistisch-kognitiven Konstruktionen gewisser sozialer Tatsachen erschöpfen sollte, wie es bei Searle der Fall ist. Schließlich gehört zu diesen »institutionellen« Tatsachen auch das Zeugnis, das wir nur auf der Spur einer Bezeugung angemessen verstehen können, die ihrerseits auf die Zugehörigkeit zu einer menschlichen Welt verweist, der wir uns niemals sicher sein können – auch nicht als eines universalen ›Horizonts‹ aller sozialen Wirklichkeit. Ein für alle Mal, so scheint es, hat diese Welt keinen ›substanziellen‹ Bestand mehr. Und ontologisch geschieht menschliches Leben angesichts dessen nur noch als ein prekäres, das umso mehr auf Andere angewiesen ist, um sich nicht nur des Wirklichen, sondern auch des In-der-Welt-seins versichern zu können, das wir allemal Anderen zu verdanken haben, von Geburt an und bis auf weiteres.

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Kapitel III Sozialphilosophie im Prozess historischer Revision: Gewalt als radikale Herausforderung des Ethischen Er wollte niemanden allzu gut kennenlernen, denn er fürchtete, etwas zu finden, das ihn vernichten könnte. Carsten Jensen 1

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Zu einem ethischen Denken, das sich nicht selbst genügt

Menschliches Leben lebt sich nicht von allein. Es wird darüber hinaus gelebt. Deshalb wohnt dem Begriff des Lebens bereits in den Anfängen ethischen Denkens eine transitiv-intransitive Zweideutigkeit inne. 2 Wir sind demnach am Leben und müssen es so oder so leben, d. h. führen, steuern, regieren – sei es umwillen eines nur leidlich erträglichen, sei es eines besseren, noch besseren oder besten Lebens. 3 Und genau in dieser Zweideutigkeit und Zwiespältigkeit keimt eine Reihe von Fragen auf, die man in einem sehr weiten Sinne als ›ethische‹ verstehen kann (und schon in der Antike so verstanden hat). Fragen wie diese: Wie kann/soll ich, können/sollen wir mein/unser Leben leben? Womit sollen wir es zubringen, womit uns beschäftigen, und wie, mit wem, mit wem nicht? Und worumwillen, wenn nicht bloß zum Zweck der Selbsterhaltung und der Verteidigung gegen äußere Gewalt? Diese altmodisch anmutende Frage nach dem Worumwillen verweist auf den Begriff des télos, ohne den man sich in der griechischen C. Jensen, Wir Ertrunkenen, München 2010, S. 744. Vgl. Aristoteles, Politik, Drittes Buch, 1278b–1279a; M. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung, Gesamtausgabe Bd. 61, Frankfurt/M. 1985, S. 82. 3 So setzt v. a. die Aristotelische Politik (1252b ff.) an, der viele hinsichtlich der Bestimmung des Besten als des Guten, das angeblich in der Natur sprechender Lebewesen schon angelegt ist und insofern gar nicht zur Wahl stehen kann, heute nicht mehr folgen mögen. 1 2

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Zu einem ethischen Denken, das sich nicht selbst genügt

Antike schwerlich menschliches, speziell politisches Leben vorstellen konnte; und zwar so wenig, dass man ihm das télos als von Anfang an umwillen des Guten oder des Gerechten innewohnendes zuschrieb. Daraus ergab sich, was man später als Archäologie des Lebens bezeichnet hat, die sich in dessen Teleologie entfaltet 4, um das Leben zur Realisierung desjenigen Sinnes zu führen, den es von Anfang an ihn sich trägt. Aber das, so glaubte man, zeigt sich nicht wie von allein. Deshalb bedürfe das Leben in seiner archäologisch-teleologischen Verfasstheit einer ethischen Explikation, die sich im Grunde darauf schien beschränken zu können, explizit zu machen, was im Sinn menschlichen, speziell politischen Lebens ohnehin schon liegt (immer schon lag und immer liegen wird). So gesehen ist philosophische Ethik hier wirklich primär eine Form der theoría, die einer Erläuterung Gadamers zufolge »sehen lässt, was ist« 5; und zwar so, dass dabei das Problem einer Hermeneutik des Lebens, die herausarbeitet, inwiefern es überhaupt als Leben zu interpretieren ist, noch nicht eigens auftritt. Ich würde nicht wagen, diese bekannten Zusammenhänge hier in Erinnerung zu rufen, wenn wir heute nicht vor der Situation stehen würden, dass alles, was einem solchen Ethikverständnis zugrunde lag, nicht mehr zu gelten scheint oder doch zumindest nicht mehr vorauszusetzen ist. Das, meine ich, sehen auch diejenigen, die wie Gadamer, Alasdair MacIntyre oder sog. Neo-Aristoteliker im Rückgriff auf Wittgensteins Konzept der Lebensform, im Rekurs auf Hegels Begriff der Sittlichkeit oder auf den Begriff des Ethos ein antikes Verständnis von Ethik (freilich in mehr oder weniger modifizierter Form) zu erneuern versucht haben. 6 Ich gehe jedoch einen Schritt weiter, indem ich genauer eine in der antiken Ethik definitiv nicht anzutreffende und in allen ihren Reaktualisierungen gewissermaßen unterbelichtete oder gar ganz unterschlagene Infragestellung jeglicher Ethik näher betrachte, die mir in ihrer nicht mehr zu bestreitenden Historisierung zu liegen scheint.

Vgl. P. Ricœur, Die Interpretation, Frankfurt/M. 1974. H.-G. Gadamer, Lob der Theorie. Reden und Aufsätze, Frankfurt/M. 1983, S. 43. 6 Vgl. H. Schnädelbach, »Was ist Neo-Aristotelismus?«, in: W. Kuhlmann (Hg.), Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, Frankfurt/M. 1986, S. 38–63. 4 5

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III · Sozialphilosophie im Prozess historischer Revision

2.

Historisierte Ethik

Was bedeutet ›Historisierung‹ ? Damit ist nicht die Selbstverständlichkeit gemeint, dass man bspw. im Sinne MacIntyres eine »Geschichte der Ethik« schreiben kann, die ethisches Leben und Denken, ethische Lebens- und Denkformen, ›in der Geschichte‹ situiert und untersucht 7, wie sie womöglich auseinander hervorgehen in mehr oder weniger komplizierten Prozessen der Filiation, der Beerbung, der Fortschreibung, aber auch der Verwerfung – sei es im Zuge einer eher behutsamen Reinterpretation, sei es in einem revolutionären Prozess bestimmter Negation des Falschen. (Ob sich in diesem Sinne eine epistemologische Geschichte der Ethik als Geschichte ethischer Erkenntnis, d h. auch: durch Erkenntnis überwundener Irrtümer schreiben ließe, lasse ich dahingestellt. 8) Vielmehr meine ich eine Geschichtlichkeit des Ethischen selbst, die es rückhaltlos der Geschichte aussetzt, es nur in diesem ihrem Ausgesetztsein zu sich kommen lässt und es darüber hinaus immer wieder dazu zwingt, sich einer Geschichtlichkeit zu überantworten, deren es nicht mächtig ist. Und zwar so wenig, dass sie durch geschichtliche Erfahrung ihrerseits gewissermaßen bis auf die Knochen entblößt werden kann, so dass sie bzw. der von ihr inspirierte Mensch sich von neuem und rückhaltlos auf die Frage zurückgeworfen findet, ob, wie und in welchem Sinne menschliches Leben mit Anderen oder auch gegen sie zu leben bzw. lebbar sein soll. In diesem Sinne hat vor allem kollektive Gewalt immer wieder das ethische Denken herausgefordert. Allerdings hat sie nicht immer zu den gleichen Schlussfolgerungen geführt. So kommt Thukydides in seinem Bericht über den Peloponnesischen Krieg, wo er das Blutbad von Kerkyra im Abschnitt über die »Pathologie des Krieges« kommentiert, zu dem Schluss, es sei viel Schreckliches über die Stadt hereingebrochen – »wie es nun einmal ist und immer sein wird, solange das Wesen der Menschen gleich bleibt«. 9 Demnach konnte man, eingedenk dieses menschlichen We7 A. MacIntyre, Geschichte der Ethik im Überblick. Vom Zeitalter Homers bis zum 20. Jahrhundert, Weinheim 31995. 8 Ich verwende den Begriff der epistemologischen Geschichte hier im Sinne von G. Canguilhem, Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie, Frankfurt/M. 1979. 9 Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, Stuttgart 1990, S. 232 ff.; H. König, Politik und Gedächtnis, Weilerswist 2008, S. 340 f.; vgl. M. Sahlins, »Hierarchy, Equality, and the Sublimation of Anarchy. The Western Illusion of Human Nature«, The Tanner

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sens und von solchen Ereignissen belehrt, immer schon wissen, was im schlimmsten Konflikt bevorstand, den gerade der eskalierte Bürgerkrieg heraufbeschwört, indem er das solidarische Ethos der politisch miteinander Befreundeten auflöst. 10 Die schlimmste Gewalt und das Wesen der auf ihr Zusammenleben angewiesenen Menschen wären demnach gleichursprünglich; und sie hätten eigentlich keine Geschichte. 11 Was so genannt wird, hätte nur die variablen Erscheinungsformen menschlicher Gewalt im Laufe der Zeit aufzuzeichnen und davon für die Späteren Bericht zu erstatten. So gesehen waren die Bürger mehr noch als die Fremden, die ihnen politisch gleichgültig waren, immer schon »zum Besten und zum Schlimmsten versammelt«. 12 Zu dem gleichen Schluss kommt im Grunde der ThukydidesÜbersetzer Thomas Hobbes, der wohl der erste Philosoph ist, für den die potenziell tödliche Gewalt, die Menschen einander antun können, als vorrangige Maßgabe eines sozialtheoretischen Denkens fungiert. Man kann so weit gehen, in Hobbes tatsächlich den ersten Sozialphilosophen überhaupt zu sehen, insoweit er speziell im Leviathan das Soziale (im Lichte der Gewalt) systematisch ohne jegliche archäologisch-teleologische Voraussetzung denkt. 13 Hobbes weiß (wie vor

Lectures on Human Values, Michigan, 4. 11. 2005; http://de.scribd.com/doc/132722 394/Sahlins-The-Western-Illusion-of-Human-Nature. 10 H.-G. Gadamer, »Ethos und Ethik (MacIntyre u. a.)«, in: ders., Neuere Philosophie I. Hegel Husserl Heidegger, Tübingen 1987, S. 350–374. Für Gadamer steht fest, dass es ein solches Ethos nur im Horizont der Polis geben kann (S. 354). 11 Genau das sagt Helmuth Plessner mit Blick auf diverse Erscheinungen von Unmenschlichkeit: sie sei »an keine Epoche gebunden und an keine geschichtliche Größe, sondern eine mit dem Menschen gegebene Möglichkeit, sich und seinesgleichen zu negieren« (Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart 1982, S. 205; vgl. E. Fink, Traktat über die Gewalt des Menschen, Frankfurt/M. 1974, S. 195). Historisch zu entfalten wäre demnach nur noch, in welchen Formen eine derartige »Negation« sich manifestiert. Ggf. auch in Formen prinzipienorientierten Handelns, das mit »gnadenloser« Konsequenz vollstreckt wird. 12 Eine Formulierung, die wir noch bei Derrida antreffen, der sich allerdings nicht mit historischer Gewaltforschung auseinandergesetzt hat. J. Derrida, Politik der Freundschaft, Frankfurt/M. 2002, S. 489, 492; vgl. B. H. F. Taureck, »Gewalt im Modus der Feindschaft. Eine Überlegung zu einer kritisch-genealogischen Geschichte der Feindschaft im antiken und nachantiken Europa«, in: B. Liebsch, D. Mensink (Hg.), Gewalt Verstehen, Berlin 2003, S. 287–314; Vf., Menschliche Sensibilität. Inspiration und Überforderung, Weilerswist 2008, Kap. VII, 6. 13 Ob das Wort social philosophy bei Hobbes vorkommt, ist im Vergleich zum charakterisierten systematischen Ansatzpunkt unerheblich.

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ihm Niccolò Machiavelli) nichts vom Guten oder Gerechten als einem in der menschlichen Natur angelegten Worumwillen. Im Gegenteil denkt er das Soziale, das also, was Menschen aufeinander verweist, was sie als aufeinander angewiesen und füreinander bedrohlich erscheinen lässt, rückhaltlos von einer radikalen Entsicherung ihrer sozialen Verhältnisse her. Aber diese Entsicherung fasst er nicht ihrerseits als eine tief greifend geschichtliche auf. Nach Hobbes kann Ethik indessen nur noch im Zeichen einer radikalen Entsicherung des Sozialen plausibel und glaubwürdig sein, der die moderne Sozialphilosophie ausdrücklich Rechnung zu tragen versucht. Ethik und Sozialphilosophie sind demnach nicht einfach nebeneinanderzustellen. Vielmehr hätte eine zeitgemäße Sozialphilosophie in der hier skizzierten Perspektive all jene an die – geschichtlich ausgeprägte – Existenz von Menschen gebundenen Verhältnisse zu beschreiben, in denen überhaupt ethisches Verhalten im Sinne der Herausforderung möglich ist, ein wirklich lebbares Leben zu gestalten. Eine solche Zuordnung von Ethik und Sozialphilosophie ist allerdings weder der Begriffs- und Ideengeschichte noch gar der Etymologie einfach zu entnehmen. Und sie führt zu einer Verflechtung von Aufgabenstellungen: Zuerst müsste es (sozialphilosophisch) darum gehen, was sich sozial zeigt; wenn nicht ohne weiteres von sich aus, dann doch in einer interpretativen Artikulation und Darstellung, die die fraglichen sozialen Phänomene in ihren geschichtlichen und kulturellen Kontexten aufzugreifen hätte – bis hin zur Wissenschaftsgeschichte, die erst im 19. Jahrhundert die umstrittene sog. »soziale Frage« aufnimmt und das Problem einer Vergesellschaftung (soziologisch) zum Thema macht, das ebenfalls erst in diesem Jahrhundert terminologisch auf den Begriff gebracht wird; und zwar unter dem Eindruck der durch die realen sozialen Verhältnisse verschärften Erfahrung, dass jeder gegebenenfalls aus jeglicher sozialen Ordnung herausfallen kann. So werden Erfahrungen der Vereinzelung, der Marginalität, der Verlassenheit, des Exils, der Fremdheit zu maßgeblichen Katalysatoren eines sozialphilosophischen Denkens, das nun seinerseits die Ontogenese und die Gattungsgeschichte nachträglich im Lichte dieser Erfahrungen befragt. (Ohne diese Erfahrungen zu teilen, ist keine Sozialphilosophie möglich. Was unter diesem Titel auftritt, aber von diesen Erfahrungen keine Spur verrät, ist gewissermaßen falsch etikettiert.) So steht erst am vorläufigen Ende dieses Revisionsprozesses der Begriff eines sozial entblößten und schutzlosen Anderen in seinem 132 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

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radikalen Angewiesensein auf ein Leben mit und unter Anderen, die sich im Grunde niemals auf eine schlicht vorgegebene Ordnung stützen konnten, sondern jede menschliche Lebensform, die ihren Namen verdient, erst aus eigener Kraft einrichten mussten. So gesehen sind die radikalen Probleme der Sozialphilosophie erst nachträglich durch die historisch bedingte Erfahrung weitestgehender gewaltsamer Entsicherung aller Ordnungen des Sozialen zum Vorschein gekommen. 14 Von Voltaire, der im Jahre 1765 den Begriff philosophie de l’histoire geprägt hat, über Kants Begriff des Antagonismus und Hegels Trauer angesichts jener »Schlachtbank«, die man Geschichte nennt 15, bis hin schließlich zu jenen, die wie Levinas Hegels geschichtsphilosophische Rationalisierung all der Opfer, die angeblich einem geistigen »Endzweck« gebracht worden sind, unter dem Eindruck des Ersten und Zweiten Weltkriegs abgelehnt haben, hat sich nun aber immer mehr die Einsicht durchgesetzt, dass die Gewalt nicht nur ›eine Geschichte hat‹, wie man sagt, sondern auch ›Geschichte macht‹. Sie kommt nicht einfach nur in einer Reihe von (sich mehr oder weniger wiederholenden) Varianten in der Geschichte vor, sondern affiziert die Geschichtlichkeit der Geschichte selbst. Im 20. Jahrhundert hat sie schließlich Formen angenommen, die heute kaum mehr im Sinne der Finalität eines Geistes zu rechtfertigen ist, der sich wie ein Phönix aus der Asche jeglichen Untergangs sogar verjüngt und geläutert sollte erheben können, wenn wir Hegel Glauben schenken. 16 Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt sich von Maurice MerleauPonty über Paul Ricœur, Emmanuel Levinas, Jan Patočka, Theodor W. Adorno und Maurice Blanchot bis hin zu Philippe Lacoue-Labarthe, Alain Finkielkraut, Enzo Traverso, Yves Ternon, Zygmunt Bauman u. a. die Einsicht durch, dass (a) kollektive Gewalt in unerhört neuen Formen zu Tage getreten ist, die man nicht einfach einer unveränderlichen menschlichen Natur zuschreiben kann; insofern sie (b) in VerDas erklärt, wie es zur immer noch anhaltenden Karriere der ›Frage nach dem Anderen‹ kommen konnte, deren Vorläufer man nun freilich in einer weit zurückreichenden Überlieferung wiedererkennt. Das zeigt die Tradition der via negativa besonders deutlich. Vgl. K. Löwith, »Existenzphilosophie«, in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 8, Stuttgart 1984, S. 1–18; Fink, Traktat, S. 213; D. Westerkamp, Via negativa. Sprache und Methode der negativen Theologie, München 2006, S. 224. 15 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd. 1. Die Vernunft in der Geschichte, Hamburg 1994, S. 80. 16 Siehe Anm. 88 zu Kap. I in diesem Band. 14

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bindung mit spezifisch modernen Technologien der Macht und der Staatlichkeit (c) radikale Zerstörungspotenziale gezeitigt hat, die noch weit über einen Bürgerkrieg (wie im antiken Kerkyra oder im England des 17. Jahrhunderts) und über einen klassischen Krieg (wie ihn Kant und Hegel vor Augen hatten) hinausgehen. Dafür prägte Maurice Blanchot den eigentümlichen Begriff des Desasters, den man laut Levinas ganz im etymologischen Sinne des Wortes verstehen sollte. Er besagt dann: In der Welt nicht unter den Sternen sein. 17 D. h. jeglicher Ordnung entzogen zu sein, die Kant im Beschluss der Kritik der praktischen Vernunft als höchsten Grund seiner Ehrfurcht beschrieb. Der bestirnte Himmel über uns und das moralische Gesetz in uns repräsentierten ihm zufolge eine unverbrüchliche, auch menschlicher Gewalt standhaltende Ordnung, deren moralische Verbindlichkeit in der Stimme des Gewissens zum Ausdruck kommen sollte, die man bekanntlich Kant zufolge nur überhören, aber niemals ganz und gar nicht hören kann. Desaströse Gewalt schlägt uns diese Sicherheit aus der Hand. Sie führt uns im Gegensatz zu Taten in einer Welt, zu der der Krieg gehört, die Möglichkeit von Untaten außerhalb jeglicher menschlichen Welt vor Augen. 18 Dieser Begriff meint hier nicht die Erde – die man mit Begriffen wie terra, orbis terrarum, kósmos, globus als Boden oder Raum menschlichen Lebens aufgefasst hat –, sondern die Form eines auf Dauer angelegten, verlässlichen Zusammenlebens. In diesem Sinne stoßen wir von den Anfängen des sog. Kosmopolitismus über die spanische Scholastik mit ihrer Konzeption eines Weltgemeinwohls (bonum commune orbis) bis hin zu Hannah Arendt auf einen dezidiert politischen Weltbegriff. 19 Desaströse Gewalt zerstört alles (scheinbar restlos), auch die Vorstellung, sie überschreite noch eine Grenze, die ihr moralisch, menschlich, sozial, kulturell, wie auch immer, gezogen zu denken

M. Blanchot, Die Schrift des Desasters, München 2005; E. Levinas, Gott, der Tod und die Zeit, Wien 1996, S. 155. 18 A. Finkielkraut, Die vergebliche Erinnerung, Berlin 1989, S. 36 f. Vgl. das Kap. II, Anm. 72. 19 Vgl. Vf., »Rückbindung (religio) an den Anderen – im europäischen Horizont. Zu Grenzen der Politisierung menschlicher Subjektivität«, in: E. Reinmuth (Hg.), Subjekt werden. Neutestamentliche Perspektiven und politische Theorie, Berlin, Boston 2013, S. 35–71; D. M. McMahon, »Fear and trembling, strangers and strange lands«, in: Dædalus 137, no. 3 (2008), S. 5–14. 17

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wäre. 20 Seitdem desaströse Gewalt derart aufgetreten ist, wissen wir nicht im Geringsten mehr, was ›uns‹ mit all jenen menschlich verbindet, die für sie verantwortlich sind oder aufs Neue für sie verantwortlich werden können (einschließlich unserer selbst). Sie bedeutet radikalste Fremdheit im Modus extremster und exzessivster Feindschaft, die immer dort zum Vorschein kommt, wo man jegliche Gemeinsamkeit oder Gemeinschaft mit Anderen aufkündigt oder dergleichen nie gekannt zu haben scheint. In diesem Sinne hatte radikale Feindschaft weit über die Verbrechen der Nazis hinaus, für die emblematisch immer wieder ›Auschwitz‹ stehen muss, eine vielfältige Zukunft – eine Zukunft, die heute die komparative Gewaltforschung herausfordert. Nicht nur in Auschwitz (das noch Theodor W. Adorno allein im Blick hatte), auch anderswo, in jenen von Timothy Snyder erforschten mittel- und osteuropäischen bloodlands und in Kambodscha, in Ruanda, in Darfur etc. ist Unvergleichliches geschehen. 21 Genau das, was einst eindeutig geschichtlich maßgeblich zu sein schien (Auschwitz), wird nun seinerseits ›historisiert‹. Am Paradox des Vergleichs von Unvergleichlichem kommen wir hier nicht vorbei. 22 Dabei handelt es sich aber um relative Historisierungen außerordentlicher Verbrechen, nicht um eine absolute Historisierung im Horizont ›der‹ (einen) Geschichte, von der wir uns heute keine metaphysisch-einheitliche Vorstellung mehr machen können. Man sieht: die schon in der Antike bewusst gewordene, maßgeblich aber erst durch Hobbes zur wichtigsten Prämisse sozialphilosophischen Denkens erhobene Möglichkeit radikaler Entsicherung der menschlichen Verhältnisse geht inzwischen weit über sein bekanntes Diktum hinaus, der Mensch sei des Menschen Wolf. (Womit wieder einmal dieser Spezies Unrecht getan wird.) An die Stelle solcher Ge-

Insofern bin ich nicht davon überzeugt, dass bspw. Hegel mit seiner Rede von »tiefster Zerrissenheit« bereits das im Auge hatte und begrifflich adäquat gefasst hat, was bei Maurice Blanchot Desaster heißt. 21 T. Snyder, Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin, London 2010; R. Stockhammer, Ruanda. Über einen anderen Genozid schreiben, Frankfurt/M. 2005; D. V. Reybrouk, Kongo. Eine Geschichte, Berlin 2012; O. Glöckner, R. Knocke (Hg.), Das Zeitalter der Genozide. Ursprünge, Formen und Folgen politischer Gewalt im 20. Jahrhundert, Berlin 2017. 22 M. Dabag, K. Platt (Hg.), Genozid und Moderne, Bd. 1, Opladen 1998; D. Losurdo, Kampf um die Geschichte. Der historische Revisionismus und seine Mythen – Nolte, Furet und die anderen, Köln 22009. 20

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meinplätze ist längst eine differenzierte Gewaltforschung getreten, die der Gewalt nicht nur ein Vorkommen in der Geschichte, sondern eine Geschichtsmächtigkeit zuschreibt, die zur Folge hat, dass radikale Gewalt ›Geschichte machen‹ und sie gewissermaßen zäsurieren kann. 23

3.

Im geschichtlichen Horizont der Zerstörbarkeit menschlicher Verhältnisse: Gewalt und Lebensform

Für die Philosophie, insbesondere die Ethik, bedeutet das, dass sie jegliche positive Voraussetzung eines menschlichen Verbundenseins, das unter allen Umständen der Gewalt standzuhalten verspricht, in Frage stellen muss. Wenn die Gewalt desaströs alles zerstören kann, auch jegliches soziales Band, wie es im Anschluss an Cicero von John Locke und Jean-Jacques Rousseau über Karl Marx und Emile Durkheim bis hin zu Nicole Loraux unter sehr verschiedenen Titeln (vinculum, munus, nexus, traditio, religatio, obligatio, liens sociaux 24) bedacht worden ist 25, bedeutet das nicht, dass wir die sozialen und politischen Lebensformen genau im Lichte dieser Herausforderung zu bedenken hätten, d. h. im Sinne der Frage, wie sie sich einer derartigen Zerstörung widersetzen können, sollten und müssten ? Was macht sie in diesem Sinne im Geringsten zu verlässlichen, die ein gewisses Vertrauen verdienen? Welchen Ansprüchen sollten sie in

Vgl. die Bestandsaufnahme dieses Problemstands: Vf., »Gewaltgeschichte versus Geschichtsphilosophie?« [Rezension von R. Langthaler, M. Hofer (Hg.), Geschichtsphilosophie. Stellenwert und Aufgaben in der Gegenwart; Wiener Jahrbuch für Philosophie XLVI (2014), Wien 2014; H. Münkler, Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2015; T. Snyder, Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann, München 2015], in: Philosophischer Literaturanzeiger 69, Nr. 2 (2016), S. 285–303. 24 M. T. Cicero, De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln (lat./dt.), Stuttgart 2003, S. 48; M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften [1925], Frankfurt/M. 31984, S. 121 ff., 129, 151; G. Hartung, Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert, Freiburg i. Br., München 21999; J. Derrida, »Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der ›Religion‹ an den Grenzen der bloßen Vernunft« [1994], in: ders., G. Vattimo: Die Religion, Frankfurt/M. 2001, S. 9–106; R. Esposito, Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, Berlin 2004, S. 13, 16, 22. 25 T. Bedorf, S. Herrmann (Hg.), Das soziale Band. Geschichte und Gegenwart eines sozialtheoretischen Grundbegriffs, Frankfurt/M. 2016. 23

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Im geschichtlichen Horizont der Zerstörbarkeit menschlicher Verhältnisse

diesem Sinne wenigstens gerecht zu werden versprechen? 26 Ergibt sich hieraus etwa ein ethischer Minimalismus, der im Rekurs auf die extremste Negativität geschichtlicher Erfahrung ethisch begründet, welchen Anforderungen menschliche Lebensformen unbedingt entsprechen sollten? Beschwören aber unbedingte Ansprüche nicht ihrerseits kollektive Gewalt herauf? 27 Wie auch immer man diese aktuelle Frage en détail beantworten wird – man sieht, dass ›Ethik‹ vor dem skizzierten Hintergrund längst kein geschichtlich unangefochtener Inbegriff einer menschlichen Lebensform (êthos, bíos) etwa oder eine philosophische Teildisziplin ist, die im Rekurs auf eine Archäologie und Teleologie des Guten bzw. des Gerechten nach Bedingungen der Möglichkeit eines menschlichen Zusammenlebens fragt, das seinen Namen verdient. Vielmehr geht ethisches Denken vor diesem Hintergrund heute von einer geschichtlichen und komparativen Reflexion der Negativität aus, die in teils extremer, teils radikaler, teils desaströser Art und Weise solches Zusammenleben versehrt hat. Ohne versprechen zu können, diese Negativität nach dialektischem Vorbild als aufhebbare zu konzipieren, sieht es sich zu einer ständigen Revision der Frage gezwungen, wie die Negativität der Gewalt menschliche Lebensformen herausfordert. Genau darin besteht die Hauptaufgabe einer zeitgemäßen Sozialphilosophie, die zu erheblichen Teilen zunächst eine phänomenologischdeskriptive Aufgabe hat, nämlich zu beschreiben, wie es um den Zusammenhang von Gewalt und Lebensform bestellt ist. 28 Beide Begriffe (Gewalt und Lebensform) sind aber nun zu historisieren. Wir haben heute weder auf einen ohne weiteres einsehbaren Begriff der Gewalt noch auf eine Theorie menschlicher Lebensformen direkten, historisch unvermittelten Zugriff. Gewalt zeigt sich eben nicht von sich aus ohne weiteres und in jeder Hinsicht als Gewalt. Und was als Gewalt ›zählt‹, hängt u. a. davon ab, was von wem Diese Frage ventiliert auch G. Gamm, Verlegene Vernunft. Eine Philosophie der sozialen Welt, Leiden et al. 2017. 27 Vf., M. Staudigl (Hg.), Bedingungslos? Zum Gewaltpotenzial unbedingter Ansprüche im Kontext politischer Theorie, Baden-Baden 2014. 28 Vgl. den Schwerpunkt Violence – Phenomenological Contributions der Human Studies. A Journal for Philosophy and the Social Sciences 36, no. 1 (2013). Keineswegs geht es hier nur um auf Anhieb erkennbare extreme, radikale und desaströse Gewalt. Hat man die genozidale Gewalt im ruandischen Radio nicht verklausuliert angekündigt, indem man vom Herannahen eines namenlosen Windes sprach? Genügt nicht subtile, kaum als solche identifizierbare Gewalt, die unter die Haut geht, um extremste Untaten zu entfesseln? 26

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unter welchen Umständen als Verletzung erfahren und gewertet wird, die nicht einfach hinzunehmen ist. In allen diesen Hinsichten bestehen nicht zuletzt subjektiv und kulturell erhebliche Unterschiede, die nicht zu ignorieren sind. 29 Das Gleiche gilt für eine Theorie der Lebensformen, die sich nur um den Preis einer fragwürdigen Allgemeinheit und Abstraktheit unmittelbar auf das besinnen kann, worauf es für ein menschliches Leben angeblich unverzichtbar ankommt. 30 Wohin auch immer ›Ethik‹ künftig unterwegs sein wird, sie wird wenigstens Plausibilität nur in dem Maße für sich beanspruchen können, wie sie anknüpft an historisch fundierte, an sozialwissenschaftlich komplexe und an ethnografisch ›dichte‹ Beschreibungen des fraglichen internen Zusammenhangs von Gewalt und Lebensform. Insofern wird es eine Ethik, die sich nicht auf ein Glasperlenspiel nur noch um sich selbst kreisender Begründungen normativer Positionen reduziert, nur dann als eine sinnvoll auf die erfahrene geschichtliche Wirklichkeit menschlicher Lebensformen bezogene Disziplin geben können, wenn sie sich auf eine Sozialphilosophie stützt, die sich ihrerseits in einem permanenten Prozess ihrer geschichtlichen Revision befindet, da sie über nichts Ahistorisches oder Transhistorisches verfügt, das sie ohne weiteres voraussetzen dürfte. Auch die Gewalt, auf die vielfach im Modus bestimmter Negation reagiert wird, stellt kein ahistorisches Fundament dar. Denn was als solche wahrgenommen, kritisiert und ggf. als unannehmbar gebrandmarkt wird, hat sich von Thukydides’ über Hobbes’ und Hegels Zeiten bis hin zu unserem Zeitalter der Extreme, von dem man im Anschluss an Eric Hobsbawm gesprochen hat, nachhaltig gewandelt. 31 Es kann demnach keine Rede davon sein, im Zeichen der hier bedachten sozialphilosophischen Historisierung der Ethik bräuchte man sich lediglich an die Geschichte, so wie sie etwa von GeschichtsM. Staudigl (Hg.), Gesichter der Gewalt. Beiträge aus phänomenologischer Sicht, München 2014. 30 Das gilt besonders für die Sozialphilosophie Martha Nussbaums, wie sie sie in Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt/M. 1999, dargelegt hat. (Wenn Nussbaum etwa in ihrer ethischen, »vagen Konzeption des Guten« [S. 48 ff.], die Merkmale – vom Angewiesensein auf Essen, Trinken und Schutz über eine gewisse Verbundenheit mit anderen Menschen bis hin zur Sterblichkeit – auflistet, »die uns Menschen gemeinsam« seien, so ist das gewiss nicht falsch, aber doch auch trivial und in kulturtheoretischer Hinsicht defizitär.) 31 Siehe Anm. 44 zu Kap. XXX. 29

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Im geschichtlichen Horizont der Zerstörbarkeit menschlicher Verhältnisse

wissenschaftlern betrieben wird, zu wenden, um über einen zureichenden Begriff der Gewalt zu verfügen, der zugleich einen Maßstab dafür abgeben könnte, wie eine der geschichtlichen Erfahrung angemessene Ethik auszusehen hätte. Ich möchte das nur anhand der vielfach als desaströs eingestuften Gewalt des 20. Jahrhunderts zeigen. Die Historiker selbst erweisen sich oft als ratlos hinsichtlich der Frage, was diese Gewalt als solche eigentlich ausmacht. Hat sich solche Gewalt etwa in dem gleichen Sinne als verheerend erwiesen wie jenes bekannte Erdbeben, von dem Voltaire 1756 in seinem Poème sur le désastre de Lisbonne handelte? 32 Geht es in beiden Fällen um eine große Zahl von Toten und um extreme Schäden? Kaum. Die desaströse Gewalt, so wie sie im 20. Jahrhundert zu Tage getreten ist, hat nicht bloß Sachen beschädigt, viele Tote ›gekostet‹ und (wie viele andere Verheerungen) den Glauben an eine göttliche Fürsorge für die Welt erschüttert, sondern von Anderen zu verantwortende, systematische Verletzungen bewirkt, die schließlich nicht einmal mehr als gewiss erscheinen ließen, dass Menschen allemal einen ›menschlichen‹ Tod sterben und nicht auch auf ganz andere Art und Weise umkommen bzw. aus der Welt getilgt werden können. 33 Robert Antelme, Überlebender von Dachau, befand in seinen Reflexionen über Das Menschengeschlecht, dass man auch angesichts extremer Gewalt allemal »nur als Mensch« sterbe; daran könne niemand und nichts, nicht einmal die äußerste Demütigung oder Vergleichgültigung, etwas ändern. 34 Der bereits zitierte Alain Finkielkraut 35 war sich in dieser Sache weniger sicher, als er zu dem Schluss kam, dass wir neben Verbrechen, die sich in einer politischen Welt ereignen, auch Untaten Rechnung tragen müssten, die den Rahmen einer solchen Welt sprengen und sogar zu zerstören scheinen, was wir unter einer (menschlichen) Welt zu verstehen hätten (s. o.). Der Begriff der Welt meint hier wiederum offensichtlich nicht die Erde als

https://fr.wikisource.org/wiki/Po%C3%A8me_sur_le_d%C3%A9sastre_de_Lis bonne 33 Vgl. Vf., »Landschaften der Verlassenheit – Bilder des Desasters: Maurice Blanchot und Georges Didi-Huberman«, in: M. Gutjahr, M. Jarmer (Hg.), Von Ähnlichkeit zu Ähnlichkeit. Maurice Blanchot und die Leidenschaft des Bildes, Wien 2016, S. 237– 268. 34 R. Antelme, Das Menschengeschlecht, München 1990, S. 307 ff. 35 Siehe Anm. 72 zu Kap. II. 32

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III · Sozialphilosophie im Prozess historischer Revision

Boden oder als geologischen Körper, sondern in etwa das, was Hannah Arendt unter einer politischen Welt verstanden hat. Auch sie kam zu dem Schluss, bestimmte Verbrechen seien mit menschlichen Maßstäben eigentlich nicht mehr zu messen, nicht mehr zu bestrafen, usw. Mehr noch: sie meinte, eine menschlichpolitische Welt könne es nur auf der Basis einer Praxis des Vertrauens und des Versprechens geben, ohne die in der Tat überhaupt keine verlässliche Verbindlichkeit einer Lebensform zu haben ist, die sich der Gewalt zu widersetzen vermöchte. 36 Praktiken des zugemuteten und in Anspruch genommenen Vertrauens wie auch Praktiken des Wortgebens und -haltens beruhen aber wiederum auf einer elementaren Ansprechbarkeit Anderer sowie durch und für Andere, ohne die es nicht einmal zum Versuch einer »Beziehungsaufnahme« (oder der Wiederherstellung einer gewaltsam verletzten Beziehung) kommen kann. Eben diese Ansprechbarkeit scheint desaströse Gewalt vollkommen ruiniert zu haben. 37 Insbesondere in ihren seriellen Erscheinungsformen hat sie vorexerziert, dass kein menschliches Gesicht, keine Geste, kein Zeichen und keine Regung (nicht einmal eigene Übelkeit als »letztes Refugium des Gewissens« [Günther Anders]) sie noch erreicht oder gar ihr noch Einhalt gebieten kann, wenn sie erst einmal kategorisch angeordnet und technisch effektiv ins Werk gesetzt worden ist. 38 So gesehen scheint desaströse Gewalt in dieser Hinsicht tatsächlich erstmals und systematisch ›in ganz großem Stil‹ bis zum Äußersten gegangen zu sein: sie hat selbst die elementarste Voraussetzung der Möglichkeit einer verlässlichen politischen Welt noch zerstört, die menschliche Ansprechbarkeit Anderer und durch Andere. Ich habe nun mehrmals gesagt: Desaströse Gewalt ›scheint‹ dies … bewirkt zu haben. Das war keine bloße Redensart. Denn zu beH. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 31993, S. 701; dies., Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 41985, § 34. 37 D. h. nicht, dass nur noch eine ›schwarze Ethik‹ möglich wäre, wohl aber: dass sie in Rechnung stellen muss, wie sehr Ethik heute eine desaströse, vielfach um Worte ringende, aber bezeugte Erfahrung aufnimmt, die sie vor neue, im Lichte antiker Ethik gewisse unvorhergesehene (aber nachträglich durchaus in ihr zu entdeckende) Fragen stellt. An dieser Erfahrung gleichsam vorbeigehend, ist wohl nur eine die menschlichen Verhältnisse beschönigende Ethik möglich. 38 G. Anders, Wir Eichmannsöhne. Offener Brief an Klaus Eichmann, München 2 1988, S. 39. 36

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Im geschichtlichen Horizont der Zerstörbarkeit menschlicher Verhältnisse

weisen ist hier nichts. Weder kann man derartige Befunde eindeutig aus dem empirisch vorliegenden Material herauslesen, noch sind sie einfach in es hineinzuinterpretieren. Das musste auch Levinas einsehen, der vielleicht am entschiedensten sozialphilosophische Konsequenzen aus der fraglichen Gewalt zu ziehen versucht hat. Levinas wollte, so weit ich sehe, zu keinem Zeitpunkt einen Hehl daraus machen, dass niemals zu beweisen, sondern allenfalls zu bezeugen ist, dass es auch diese Gewalt noch mit einem menschlichen Widerstand zu tun hat, den sie zu überwinden versuchen muss, um zum Ziel zu kommen. Inbegriff dieses Widerstands war für ihn eine Nicht-Indifferenz, zu der das Opfer dieser Gewalt den Anderen geradezu verurteilt, indem es ihm die Verantwortung für sein Tun gibt, auch gegen seinen Willen. 39 Man kann gewiss diese Nicht-Indifferenz zu leugnen und zu überspielen versuchen, aus der Welt schaffen kann man sie dadurch nicht, davon war Levinas überzeugt. In diesem Sinne glaubte er im historischen Prozess der sozialphilosophischen Revision der Grundlagen, auf die eine zeitgemäße Ethik heute noch, selbst im Lichte desaströser Gewalt, bauen kann, wenigstens noch auf die Verlässlichkeit dieses Widerstandes gestoßen zu sein. 40 Mit solchen Deutungen sind die Historiker, denen wir heute

Ich ziehe so gewissermaßen zusammen, was Levinas in seinen beiden Hauptwerken, in Totalität und Unendlichkeit (1961) und in Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (1974), zur ›ethischen Unmöglichkeit‹ des Tötens bzw. Mordens und zur Verantwortung für den Anderen gesagt hat, ohne werkimmanenten Differenzen eigens Rechnung zu tragen, um die es hier nicht geht. 40 In diesem Sinne interpretierte Sarah Kofman auch Robert Antelmes Buch Das Menschengeschlecht: »Indem es zeigt, dass die erniedrigende Veräußerung, der die Deportierten unterworfen wurden, die Unzerstörbarkeit der Alterität, ihren absoluten Charakter, bedeutet, indem es die Möglichkeit eines ›wir‹ neuer Art eröffnet, gründet es (ohne zu gründen, denn dieses ›wir‹ ist immer schon destabilisiert) die Möglichkeit einer neuen Ethik.« Und zwar einer Ethik, die das Unzerstörbare (um einen Buchtitel von Maurice Blanchot aufzunehmen) in der scheinbar unbegrenzten Zerstörbarkeit des Menschen sucht; S. Kofman, Erstickte Worte, Wien 1988, S. 90. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, wie weitgehend Levinas auf eine spezifisch ›religiöse‹ bzw. ›theologische‹ Fundierung des Alteritätsbegriffs verzichtet und sich zu einer laizistischen Ethik bekannt hat, die eine »relative Autonomie« des Politischen respektieren müsse. Keine Rede kann also davon sein, in seinem Fall liege eine generelle »theologische Wende« der Ethik vor, die ihrerseits zum ›Fundament‹ der sozialen und politischen Verhältnisse erklärt würde. Vgl. E. Levinas, Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte, Freiburg i. Br., München 2006, Kap. XIII; die bedenkenswerten Einwände von D. Janicaud werden im Kap. IX dieses Bandes ausführlich aufgegriffen, der Begriff des Widerstandes in Teil C. 39

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III · Sozialphilosophie im Prozess historischer Revision

überwiegend die Rekonstruktion der fraglichen Gewalt anvertrauen, ihrerseits überfordert. Sie führen uns vor Augen, was man durch Massaker und Belagerungen, durch verheerende Überfälle und Raubzüge, durch alte und neue Kriege sowie durch genozidale Gewalt angerichtet hat. Sie rufen in Erinnerung, wie man Völker, Reiche und ganze Kulturen zum Untergang verurteilt hat. Aber vor der Frage, ob dabei jeweils eine menschliche, soziale bzw. politische Welt auf dem Spiel stand, scheuen sie zurück. Denn wie sollten sie, als Historiker, angeben können, was eigentlich eine solche Welt ausmacht? 41 Das sind Fragen, die Hannah Arendt, aber auch viele andere nach ihr im Lichte der weitestgehenden Zerstörung der politischen Welt Europas beschäftigt haben. Methodisch negativistisch, von der Zerstörbarkeit der menschlichen Verhältnisse her, fragte sie kontrastiv nach konkreten Bedingungen der Verlässlichkeit und Stabilität einer politischen Welt, die Fremden gegenüber gastlich aufgeschlossen und denjenigen, die ihr zugehören, ein glaubwürdiges Schutzdach sein sollte. Bis heute dauern sozialphilosophische Debatten um Fragen wie die an, was den Fremden als solchen ausmacht, was unbedingte Gastlichkeit ihm gegenüber ausmachen könnte, ob letztere nicht eine sekundäre, beschränkte Gastlichkeit erfordert, die ihr in einem konkreten sozialen, rechtlichen und kulturellen Rahmen gerecht werden könnte, usw. 42 Diese Debatten bestätigen den Befund, dass wir es hier mit einem nachhaltigen Prozess der historisch inspirierten Revision aller Grundlagen einer zeitgemäßen Sozialphilosophie zu tun haben, ohne die uns – das ist nun meine These – so etwas wie ›Ethik‹ kaum mehr als glaubwürdig erscheinen kann. Vor der gleichen Frage professioneller Überforderung stehen auch Soziologen, Psychologen und Philosophen. In dieser Hinsicht kann es ein exklusives Expertentum nicht geben. Was eine Welt ausmacht, kann nur im öffentlichen Diskurs geklärt werden, der von der Negativität ihrer Zerstörung ausgehen muss, ohne dessen sicher sein zu können, das Negative werde sich als sagbar und darstellbar erweisen. Gewiss sind bloße Fachdiskurse mit dieser Frage überfordert, was aber nicht dagegen spricht, sie so weit wie möglich zu Rate zu ziehen. 42 M. Bankovsky, »Derrida brings Levinas to Kant. The Welcome, Ethics, and Cosmopolitical Law«, in: Philosophy Today 49, Nr. 2, (2005), S. 156–170; G. W. Brown, »The Laws of Hospitality, Asylum Seekers and Cosmopolitan Right. A Kantian Response to Jacques Derrida«, in: European Journal of Political Theory 9, Nr. 3 (2010), S. 308–327; T. Claviez (Hg.), The Conditions of Hospitality. Ethics, Politics, and Aesthetics on the Threshold of the Possible, New York 2013; Vf., M. Staudigl, P. Stoellger (Hg.), Perspektiven europäischer Gastlichkeit. Geschichte – Kulturelle Praktiken – Kritik, Weilerswist 2016. 41

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Ansatzpunkte (1–5) eines sozialphilosophischen Negativismus

Allzu lange war Ethik nur eine Art Rezeptur für einander ohnehin Zugehörige (meist »Brüder«, auch »Genossen« oder »Freunde« genannt, was allemal einen gewissen Familiarismus implizierte 43). Und diese Rezeptur war offenbar dazu gedacht, ein gutes, besseres oder noch besseres Leben möglich zu machen 44, das die Probe des unbedingt zu Vermeidenden, der extremen Gewalt und des Desasters möglichst nicht sollte bestehen müssen. Dass der Streit (éris, neĩkos) zum Bürgerkrieg (stásis) und zu rücksichtloser Gewalt (polemós), wie sie seinerzeit nur gegen Fremde denkbar war, eskalieren kann, wussten allerdings auch die Griechen der Antike schon. Eine Ethik angesichts des Fremden – selbst für den Fall, dass er sich als radikaler Feind erweisen sollte –, war indessen nicht vorgesehen. Heute stehen wir vor dieser Herausforderung 45; und zwar in einer Lage, die uns überdeutlich vor Augen geführt hat, wie zerbrechlich die menschlichen Verhältnisse tatsächlich sind – auch wenn sich zwischenzeitlich eine Kultur der Besserlebenden 46 darüber sehr erfolgreich hinwegtäuschen konnte. Die Frage ist, ob man bzw. ethisches Denken sich das weiterhin ebenfalls leisten kann.

4.

Ansatzpunkte (1–5) eines sozialphilosophischen Negativismus – in ethischer Perspektive

Bis hierher habe ich lediglich eine Skizze der Situation entworfen, in der sich sozialphilosophisches Denken heute unter dem Druck einer historischen Revision befindet, der man m. E. nicht ausweichen kann. Die skizzierte Lage führt zu bedenkenswerten Konsequenzen. (1) Erstens geht sie nicht von einer ursprünglichen (antiken) Vorgabe aus, etwa vom Modell einer ethischen Orientierung in einem metastabilen kosmischen Rahmen (Platon) oder vom Modell der Beratung in einer konkreten Entscheidungssituation innerhalb einer gegebenen Lebensform (Aristoteles), die ihrerseits kosmisch geborgen Diesen Familiarismus hat v. a. J. Derrida bloßgelegt in Politik der Freundschaft. A. N. Whitehead, Die Funktion der Vernunft, Stuttgart 1974, S. 9. 45 Allerdings ist nicht zu leugnen, dass heute radikal in Frage steht, ob es eine konsequent dem Familiarismus absagende Ethik überhaupt geben kann. Auch Derrida hatte daran seine Zweifel; vgl. P. Cheah, S. Guerlac, »Introduction«, in: dies. (Hg.), Derrida and the time of the political, Durham, London 2009, S. 1–37, hier: S. 20. 46 D. h. für geschichtlich mehr oder weniger Ahnungslose (die sich wohl auch zu ihrer eigenen geschichtlichen Gegenwart mehr oder weniger ignorant verhalten). 43 44

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zu sein schien (wenn wir Eugen Fink glauben). 47 Vielmehr müsste sie (2) von der Negativität des in unserer Gegenwart Unannehmbaren ausgehen und zunächst ermitteln, inwiefern wir, Andere und womöglich jeder dieses Unannehmbare auch als unbedingt zu Vermeidendes einstufen wird. (3) Darauf aufbauend müsste sie zu zeigen versuchen, ob und wie sich daraus konkrete Herausforderungen an (unterschiedliche) soziale und politische Lebensformen ergeben, die versprechen müssen, minimalen ethischen Ansprüchen (im Sinne des zu Vermeidenden) gerecht zu werden. (4) Eine derart negativistisch ansetzende Sozialphilosophie müsste, statt ohne weiteres in einen theoretischen Normativismus umzuschlagen, an dieser Stelle damit rechnen, dass genau diese Maßgeblichkeit konkreter Herausforderungen einer sozialen/politischen Interpretation bedarf, die (5) ihrerseits unvermeidlich strittig sein wird. In einer negativistischen Sozialphilosophie muss deshalb dieser elementaren Strittigkeit in einer Theorie des Dissenses Rechnung getragen werden, die sich damit befasst, wer, wie und unter welchen Umständen überhaupt ›zur Sprache kommt‹ in der Auseinandersetzung um das Strittige, besonders um das für die jeweilige Lebensform aktuell und in historischer Perspektive Maßgebliche. 48 Letzteres fällt nicht, wie in diversen normativistischen Theorien, 47 Vgl. Fink, Traktat, S. 129; G. Gamm, Nicht nichts. Studien zur Semantik des Unbestimmten, Frankfurt/M. 2000, wo Konzeptionen eines substanziellen Guten einerseits und formale, prinzipienorientierte Versionen Praktischer Philosophie andererseits als überholt zurückgewiesen werden. Zunächst wird offenbar der Rekurs auf »Andersheit« unter letztere subsumiert (S. 10), dann aber in Richtung einer »differenztheoretischen« Sozialphilosophie fortgeführt (S. 214) – mit Levinas, der freilich in eine Dialektik der Anerkennung des Anderen nicht einfach passen will, so wenig übrigens wie in ein Ethos als »Ort« der Ethik, wo man sich selbst entmächtigt, um dem Anderen Raum zu lassen (ebd., S. 238–245). Die Frage voranzutreiben, wie ein nur zu bezeugender, unverfügbarer Anspruch des Anderen (an Andere), der nicht von vornherein als Anspruch auf etwas Bestimmtes auftritt, über eine irritierende Unbestimmtheit hinausgeht, um sich als spezifische ethische Herausforderung Geltung zu verschaffen, und ob es sich hier um mehr als nur um einen »Restposten von Widerfahrnissen« (ebd., S. 45, 247, 255) handelt, bleibt überdies ein Desiderat. Die auch von Gamm betonte an-archische Grundlosigkeit des Anspruchs des Anderen, der sich niemals in eindeutigen Normen verfestigen kann, verlangt gewiss nach einer näheren Bestimmung dessen, wonach er verlangt; aber so, dass zugleich denkbar bleibt, wie er jegliches normatives Profil, das man einer politischen Lebensform geben möchte, stets von neuem produktiv überfordert. 48 Vgl. J. Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt/M. 2002, S. 14–32.

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Ansatzpunkte (1–5) eines sozialphilosophischen Negativismus

gewissermaßen vom Himmel, sondern muss motiviert werden aus der (nicht zuletzt historischen) Erfahrung, die man mit Unannehmbarem gemacht hat. Hier, meine ich, hat die gegenwärtige Besinnung auf die Frage Wozu Ethik? ihren konkretesten Ansatzpunkt. 49 Wie könnten wir, dem Unannehmbaren ausgesetzt, je darauf verzichten, uns auf die Lebbarkeit eines Lebens zu besinnen, das sich dem Unannehmbaren wenigstens zu widersetzen verspricht? Wo ein derartiges Ausgesetztsein freilich gar nicht realisiert wird, entspannt sich das ethische Fragen und schrumpft am Ende zur Suche nach einem für sich selbst und mehr oder weniger enge Beziehungen guten und glücklichen Leben. Aber dann handelt es sich eben doch nur um eine Ethik für Besserlebende, wie sie uns Aristoteles hinterlassen hat. Zu beweisen und zwingend dafür zu argumentieren ist wohl nicht, dass uns über den Umkreis, den uns ein tief sitzender Familiarismus des ethischen Denkens vorgibt, hinausgehend auch Andere und Fremde ›etwas angehen‹ müssen. Tatsache aber ist, dass u. a. Rechtsverletzungen weltweit wahrgenommen werden, wie es schon Kant in seinem kosmopolitisch-philosophischen Entwurf Zum Ewigen Frieden festgestellt hat. (In unserer Gegenwart schlagen Autoren wie Luc Boltanski, Richard Rorty und Susan Sontag mit unterschiedlichen Gründen in die gleiche Kerbe.) D. h., der Horizont unserer zumindest potenziell ethisch relevanten Wahrnehmung hat sich dramatisch seit langem über jenen Umkreis hinaus erweitert. (Was nicht ausschließt, dass man selbst eine sich formierende Welt-Gesellschaft noch in familiaristischen Kategorien zu deuten versucht.) Das hat eine Vielzahl von Explikationsproblemen zur Folge; etwa diese: Was wird in diesem erweiterten Horizont überhaupt als Unannehmbares erfahren, artikuliert, beklagt? Was gehen der Hunger und die Armut Anderer wen (und wie) an? Wo finden sich angemessene, auch virtuelle Orte (wenn nicht nur eine öffentliche Agora) der Auseinandersetzung? An wen kann oder muss diese sich richten? Wie kann die Maßgabe der (zukünftigen) Verhütung des unbedingt zu Vermeidenden in normative Vorgaben umgesetzt werden? Und können diese Vorgaben ihrerseits in Gewaltsamkeiten umschlagen (etwa wenn sie umstandslos zur Rechtfertigung militärischhumanitärer Intervention hergenommen werden)? Etc. Ich beziehe mich auf die entsprechende Darmstädter Vorlesungsreihe, in deren Kontext die vorangegangenen Überlegungen entstanden sind. Vgl. G. Gamm, A. Hetzel (Hg.), Ethik – Wozu und wie weiter?, Bielefeld 2015.

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Diese Explikationsprobleme drehen sich gewissermaßen alle um die Ausgangsfrage, die ethisches Denken seit jeher herausgefordert hat: wie ein menschliches Leben überhaupt lebbar sein kann. Da wir aber, spätestens seit Hobbes, über keine archäologisch-teleologisch gesicherte Grundlage mehr verfügen, die uns in dieser Frage verbindliche Auskunft geben könnte, sind wir auf eine sozialphilosophische, alle diese Explikationsprobleme einbeziehende Disziplinierung des immer noch virulenten ethischen Begehrens angewiesen, das sich – weltweit, aber unter jeweils spezifischen Bedingungen – im Verlangen nach einem (minimal) lebbaren Leben äußert; und zwar nicht nur des eigenen, sondern auch fremden Lebens. So hat die Frage Wozu (sozialphilosophisch grundierte) Ethik? weniger in einem télos (Zweck oder Ziel) als vielmehr in diesem Begehren m. E. nach wie vor einen überaus starken Antrieb. Auch um die Frage, welcher zukunftsweisende Sinn mit ›Ethik‹ noch zu verbinden sein könnte, muss man sich keine Sorgen machen, so sehr wird das ethische Begehren von der Negativität unannehmbarer Erfahrungen vorangetrieben 50 – und zwar ungeachtet dessen, dass kaum mehr die Aussicht auf politische Lebensformen glaubhaft zu machen ist, die sie im Hegel’schen Sinne ›aufheben‹ könnten. Die Frage ist allerdings, wie heute und zukünftig zu vermeiden ist, dass der Nachweis der Unaufhebbarkeit des Negativen nicht geradewegs in einen philosophischen Defätismus umschlägt, der paradoxerweise gerade angesichts des Mangels, den Menschen leiden, satt wird in dem bequemen, saturierten Wissen, dass Besseres als dieses Leben im Unannehmbaren, das wir gegenwärtig vor Augen haben, schlechterdings nicht zu haben ist. Das zu meinen, wäre jedoch nicht nur dogmatisch; es würde auch dem ethischen Begehren gewissermaßen den Mund verbieten, den der Defätismus offenbar selbst nicht halten kann.

Ich gebe zu, dass das als eine reichlich optimistische und anfechtbare Annahme erscheinen kann angesichts gegenwärtiger Revisionen der Antriebsquellen menschlichen Begehrens und Handelns; vgl. J. N. Howe, K. Wiegandt (Hg.), Trieb. Poetiken und Politiken einer modernen Letztbegründung, Berlin 2014.

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Resümee

5.

Resümee

Nach dem hier skizzierten Verständnis ist es unabdingbar, das, was unter einer zeitgemäßen Ethik zu verstehen wäre, nicht nur historisch zu situieren, d. h. sie in einen geschichtlichen Kontext ›einzubetten‹, sondern sie auch selbst tiefgreifend zu historisieren, um sie auf diese Weise sinnvoll auf Herausforderungen beziehen zu können, die aus der geschichtlichen Erfahrung leibhaftiger Subjekte gewissermaßen an ihre Adresse gerichtet sind; und zwar so, dass ethischem Denken keine ahistorische Substanz mehr zuzuschreiben ist. Der erst relativ spät geprägte Begriff der Sozialphilosophie steht par excellence für den Anspruch, die geschichtliche Tiefendimension der Situation zum Vorschein zu bringen, in der ethisches Denken überhaupt erst als solches herausgefordert wird und sich als historisch situiertes seinerseits verständlich machen muss. Eine in diesem Sinne nicht tiefgreifend historisierte Ethik wäre dagegen kaum mehr als Antwort auf eine radikale Infragestellung unserer selbst, unseres sozialen Lebens im Angewiesensein auf Andere und in der Bedrohung durch sie verständlich; eine Infragestellung, die Besserlebende zeitweise vergessen mögen, die aber unumgänglich im Spiel bleibt, wo politische Lebensformen einzurichten sind, die sich auf keinen archäologisch-teleologisch gewissen Grund mehr stützen können. Das bedeutet freilich nicht, dass uns nicht wenigstens ›unzureichende‹, zwar geschichtlich kontingente, aber durchaus nicht arbiträre Gründe dazu bewegen können, nach dem denkbaren normativen Profil von Lebensformen zu fragen, die immerhin minimalen, unverzichtbaren Ansprüchen verlässlich sollten genügen können. Wir können gar nicht umhin, uns derartige Ansprüche gewissermaßen pathologisch zuzuziehen, da wir uns als leibhaftige Subjekte, die nicht nur ›am Leben sind‹, sondern auch um ein individuell und zusammen lebbares Leben kämpfen müssen, das durch nichts garantiert ist, unumgänglich in die Negativität des (subjektiv, intersubjektiv, kollektiv) Unannehmbaren verstricken. Das Unannehmbare ist allerdings nur ein Problemtitel. Wer was unter welchen Umständen als unannehmbar erlebt, bedarf unter jeweils spezifischen geschichtlichen und kulturellen Umständen stets einer originären Explikation, der die eigene Erfahrung niemals als zureichende Berufungsinstanz wird dienen können. Stets haben wir es vielmehr mit einem strittigen, zum Dissens Anlass gebenden Ex147 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

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plikationsbedarf zu tun, der nicht zu umgehen ist, wenn geklärt werden soll, welchen (normativen) ethischen Bedingungen besonders politische Lebensformen sollten genügen können, die ihren Namen verdienen. Die eingangs angekündigte Beschränkung meiner Überlegungen auf eine gewissermaßen sozialphilosophisch grundierte und historisierte Ethik bringt es mit sich, dass hier nur Vorbedingungen ethischen Denkens zur Sprache gekommen sind, nicht aber die Frage aufgeworfen worden ist, welche Gestalt es ›positiv‹ annehmen könnte, nachdem sich die Berufung auf ein substanzielles Gutes oder formale Prinzipien erschöpft zu haben scheint. Aber wenn es sich so verhält, haben wir allen Grund, uns zunächst wieder eines ethischen Begehrens zu versichern, das aus dem páthos, der passio, dem Widerfahrnis des Negativen stets wieder von neuem keimt, insofern es die Lebbarkeit eines menschlichen (nicht nur des eigenen, sondern auch fremden) Lebens in Frage stellt. Die Frage ist, wie es sich – über die Geschichte eines vielfach überzogene Ansprüche erhebenden ethischen Denkens und über dessen desaströses Scheitern mehr oder weniger aufgeklärt – dennoch immer wieder dagegen wehren kann, es sich in diesem Scheitern, sei es defätistisch, sei es saturiert, ermüdet oder des Ethischen schlicht überdrüssig, bequem zu machen, wie es Ratgeber in Sachen Lebenskunst, Technologien des Selbst oder einer nietzscheanischen, kein Wenn und Aber mehr geltend machenden Bejahung des Lebens nahelegen. Menschliches Leben wird aber ethisch niemals derart zur Ruhe kommen können, wenn es in sich vom Begehren nach einem wirklich lebbaren Leben inspiriert ist, das sich als ethisches nicht auf das eigene – das idiotische, wie die Griechen sagten – beschränken kann, wo es sich als für den unverfügbaren Anspruch des Anderen aufgeschlossen erweist. Genau das zeichnet sich in einem Existenzdenken ab, an das besonders Ricœur nach dem Zweiten Weltkrieg (in einem ›Klima des Absurden‹) anknüpfte und das diese ›Aufgeschlossenheit‹ als innere ›Veranderung‹ unseres Lebens zur Sprache brachte. Deshalb ist das folgende Kapitel, das sich dieser Theorieentwicklung zuwendet, überschrieben: »Veranderte Existenz«.

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Kapitel IV Veranderte Existenz in der Geschichte der Gewalt Independence […] is a rejection of otherness. Judith N. Shklar 1 […] ›geandert‹, durch die perverse Übermacht des Anderen. Maurice Blanchot 2 Andernfalls hebt die Andersheit sich auf, indem sie das Selbe wie sie selbst wird … Paul Ricœur 3

Vielfach – und zwar von Anfang an – totgesagt, hat sich existenzphilosophisches Denken als eigentümlich überlebensfähig erwiesen. Obgleich es seinerzeit einem bestimmten, längst nicht mehr vorherrschenden ›Klima‹ verhaftet zu sein schien, in dem es ein ganz auf sich allein gestelltes, um sich selbst besorgtes und letztlich verlorenes Selbst zum Vorschein gebracht hat, besinnt man sich gegenwärtig auf die Erfahrung und den Begriff der Existenz zurück. 4 Nicht bloß, weil man eines anderen, existenzvergessenen Denkens überdrüssig geworden wäre und sich nun mangels Alternativen im Arsenal des Überkommenen aufs Neue bedienen möchte, sondern weil man rea-

1 J. N. Shklar, Freedom and Independence. A Study of the Political Ideas of Hegel’s Phenomenology of Mind, Cambridge, London 1976, S. 63. 2 M. Blanchot, Vergehen, Zürich 2011, S. 81. 3 P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996 (= SaA), S. 426. 4 Als exemplarisch kann in diesem Sinne das Programm der Konferenz The Existential Interpretation of Being Human in Philosophy and Psychology: Validity and Topicality anlässlich des 200-jährigen Geburtstages von S. Kierkegaard gelten, die vom 3. bis zum 6. Oktober 2013 in Vilnius stattgefunden hat, gemeinsam veranstaltet vom Center for Philosophical Anthropology (European Humanities University, Vilnius), vom Søren Kierkegaard Research Centre (Kopenhagen) und vom Center for Religious Studies and Research (Vilnius University). http://www.ehu.lt/en/publicevents/academic-conference/the-existential-interpretation-of-being-human-in-philo sophy-and-psychology.

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IV · Veranderte Existenz in der Geschichte der Gewalt

lisiert hat, dass sich existenzphilosophisches Denken von jener Verhaftung durchaus lösen kann. 5 In der Tat muss es sich auch von ihr lösen, um ein geschichtlich exponiertes, verletzbares Selbstsein denkbar werden zu lassen, das zur modernen Gewaltgeschichte kein bloß indifferentes Verhältnis hat – wie scheinbar ein Selbst, das sich nur oder vorrangig um sich selbst oder um das Sein sorgt, wie man es im Zeichen der modernen Idee der Selbsterhaltung gedacht hat. Keineswegs muss eine reaktualisierte Existenzphilosophie, die nunmehr ein im Horizont dieser Geschichte nicht-indifferentes Selbst zu denken versucht, zu einem »unmittelbaren Existenzialismus« (Gaston Bachelard) zurückkehren, der angeblich nur die Naivität der eigenen Erfahrung feiert und mit einer Philosophie des Begriffs, die ihren Namen verdient, scheint ganz und gar unvereinbar sein zu müssen, wie von Bachelard über Jean Piaget bis hin zu Michel Foucault immer wieder insinuiert worden ist. 6 Im Folgenden gehe ich in dieser Perspektive einer gegenwärtig sich abzeichnenden Transformation der Existenzphilosophie nach, die nicht ein auf sich zentriertes, sondern immer schon in sich verandertes Selbst zum Vorschein bringt, das nur in sozialen Spielräumen einer prekären, niemals endgültig zu sichernden Co-Existenz 7 Gestalt annehmen kann.

5 Vgl. J. Judaken, R. Bernasconi (Hg.), Situating Existentialism, New York, Chichester 2012; S. Crowell (Hg.), The Cambridge Companion to Existentialism, Cambridge 2012. 6 G. Bachelard, »Die ›Faulheit‹ der Philosophie« [1949], in: ders., Epistemologie. Ausgewählte Texte, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1974, S. 21–26, hier: S. 22; J. Piaget, Weisheit und Illusionen der Philosophie [1965], Frankfurt/M. 1974, S. 113 ff.; M. Foucault, »Das Leben: die Erfahrung und die Wissenschaft«, in: M. Marques (Hg.), Der Tod des Menschen im Denken des Lebens. G. Canguilhem über M. Foucault. M. Foucault über G. Canguilhem, Tübingen 1988, S. 51–72; Vf., »Abgebrochene Beziehungen: Merleau-Ponty und Foucault über Ontogenese und Geschichte«; Teil II, in: Philosophisches Jahrbuch 101/2 (1994), S. 178–194. 7 Ich übernehme diese bei Eugen Fink anzutreffende Schreibweise provisorisch, um diesen Begriff von dem abgenutzten Sinn abzuheben, den er im Zusammenhang mit der politisch-militärischen Rede von ›friedlicher Koexistenz‹ zweifellos angenommen hat. Im Übrigen bleiben die folgenden Überlegungen ganz auf die hier markierte Frage konzentriert und erheben in keiner Weise den Anspruch, etwa einen umfassenden Überblick über Reaktualisierungsversuche einer Philosophie der Existenz zu bieten.

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Existieren wir (noch) oder leben wir längst wieder?

1.

Existieren wir (noch) oder leben wir längst wieder?

»Existenzphilosophie – lebendig oder tot?« Diese Frage hat der bis 1956 am Manchester College in Oxford lehrende Philosoph Fritz Heinemann schon kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (1951, um genau zu sein) mit einem seiner Buchtitel aufgeworfen. 8 Dass wir ›existieren‹ und nicht nur irgendwie ›da‹ oder auf der Erde ›vorhanden‹ sind, war das womöglich nur eine Art Gerücht, das der sogenannte Existenzialismus im Umlauf gebracht hat 9, von dem sich alsbald fast jeder distanzierte, auf den dieser Titel gemünzt worden war? 10 Handelte es sich lediglich um eine kurzlebige Modeströmung, für die selbst Jean-Paul Sartre und Albert Camus nur mit großen Einschränkungen als bis heute wichtigste Exponenten gelten können? Im Werk von Camus verblasst dessen einzige programmatisch existenzialistische Schrift, Der Mythos von Sisyphos (frz. 1942/dt. 1956), neben den einschlägigen Romanen Der Fremde, Die Pest, Der erste Mensch und neben den brillanten Literarischen Essays. Die Anziehungskraft der metaphysischen Aufsätze, die unter dem Titel Der Mensch in der Revolte (frz. 1951/dt. 1953) veröffentlicht worden sind, scheint sich im »Klima des Absurden«, das sie nach dem Zweiten Weltkrieg auf eigentümlich unhistorische Art und Weise beschwören, vollkommen erschöpft zu haben. Darauf machte schon Sartres 1952 veröffentlichte, vernichtende Kritik dieses Buches aufmerksam, in der dem ehemaligen Freund in geradezu höhnischen Worten das falsche Pathos einer pauschalen »Absurdität« vorgehalten wird. 11 Demgegenüber affirmierte Sartre wenig später die Logik einer dialektischen Vernunft, die alles, was man von Søren Kierkegaard über Karl F. Heinemann, Existenzphilosophie – lebendig oder tot? [1951], Stuttgart 21955; ders., Jenseits des Existenzialismus, Stuttgart 1957. 9 Natürlich nicht, wird man sagen, schließlich habe es die von Kierkegaard, Jaspers und Heidegger inspirierte, aber nicht schon inaugurierte Existenzphilosophie längst vorher gegeben. Auch diese war allerdings schon in den frankophonen Anfängen des sog. Existenzialismus als »bereits abgeschlossene und fast schon vergessene Angelegenheit« eingestuft worden (lt. O. F. Bollnow, Existenzphilosophie [1942/1955], Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 81978, S. 7; vgl. H. Duméry, Die Ungeteiltheit des Geistes, Freiburg i. Br., München 1969, 4. Teil). 10 Vgl. P. Ricœur, »Philosophieren nach Kierkegaard«, in: M. Theunissen, W. Greve (Hg.), Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, Frankfurt/M. 1979, S. 579– 596; P. Ricœur, G. Marcel, Entretiens, Paris 1968. 11 J.-P. Sartre, Portraits und Perspektiven, Reinbek 1971, S. 98 f.; vgl. M. Blanchot, Faux pas, Paris 1987, S. 66 ff. 8

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IV · Veranderte Existenz in der Geschichte der Gewalt

Jaspers, Jean Wahl, Gabriel Marcel, Maurice Merleau-Ponty, Paul Ricœur und viele andere bis hin zu Emmanuel Levinas zum ›Ausnahme‹-Charakter, zur Einzigkeit, Singularität und Unverfügbarkeit individueller Existenz gesagt hatte, im Fortschritt einer Gattungsgeschichte zu absorbieren drohte, deren souveräne Lenkung sich seinerzeit noch immer kommunistische Parteiführer zugetraut hatten. Ob Marxismus und Existenzialismus je so zusammengehen konnten, wie es sich Sartre vorgestellt hatte, mag man zwar bezweifeln. 12 Aber ergibt sich daraus, wie der Kommunismus (bzw. eine Reihe dem Marxismus verbal verschriebener politischer Systeme) inzwischen Bankrott gemacht hat, ein philosophisches Argument dagegen, dass wir existieren bzw. dass sich menschliches Leben in der Form sogenannter Existenz vollzieht, ohne dadurch jedoch gänzlich aus der Geschichte herauszufallen? Sind etwa Marxismus und Existenzialismus zusammen untergegangen? Oder hat letzterer das vielfach behauptete ›Ende‹ jeglicher politisch interpretierten Geschichtsphilosophie überlebt? Muss etwa gerade der angeblich irreversible Zusammenbruch dieser Philosophie zur Rückbesinnung darauf anhalten, dass wir (wieder) als auf uns selbst zurückgeworfene ›Einzelne‹ – bzw. als uns Vereinzelnde – existieren, ohne den Rückhalt eines archäologisch oder teleologisch verbürgten Sinns? 13 Und müsste man nicht, wenn es sich so verhält, die literarische Strömung des Existenzialismus deutlich trennen von einer Philosophie der Existenz, die ggf. nach wie vor ihre Berechtigung hat? Oder ist auch diese Philosophie ›tot‹ bzw. ›am Ende‹, so dass der Begriff der Existenz wieder durch einen Begriff des Lebens, wie er von Platon und Aristoteles her bekannt ist, oder auch durch eine ateleologische Vitalität zu ersetzen wäre, die im ›Prozess‹ eines vergesellschafteten Lebens aufgehen würde? 14

Vgl. Existenzialismus und Marxismus. Eine Kontroverse zwischen Sartre, Garaudy, Hyppolite, Vigier und Orcel, Frankfurt/M. 1966; Moral und Gesellschaft. Mit Beiträgen von Kosík, Sartre, Luporini, Garaudy, Della Volpe, Marcović und Schaff, Frankfurt/M. 21970. 13 Vgl. K. Löwith, »Jener Einzelne: Kierkegaard«, in: Theunissen, Greve (Hg.), Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, S. 539–556. 14 Vgl. H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 41985, S. 304; E. Fink, Traktat über die Gewalt des Menschen, Frankfurt/M. 1974, S. 188; M. Foucault, Von der Subversion des Wissens, Frankfurt/M. 1987, S. 24 f. 12

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Historisierte Existenzphilosophie

2.

Historisierte Existenzphilosophie

So einfach liegen die Dinge indessen nicht, wie man am Beispiel der Philosophie Ricœurs erkennen kann, der sich in seinen späten Schriften nach wie vor zur Aufgabe philosophischer »Existenzerhellung« im Sinne von Jaspers bekannt hat. 15 Dabei unterstellte er, der Begriff der menschlichen Existenz berge in sich ein philosophisches Potenzial, das sich im Rekurs auf den Begriff des Lebens nicht einholen ließe. Und zweifellos war sich Ricœur dessen bewusst, dass Heidegger den Begriff des Lebens als Ausgangspunkt einer philosophischen Anthropologie förmlich verworfen hatte und dass er im Humanismus-Brief Sartres Interpretation von Sein und Zeit (1927) als anthropologisches Missverständnis zurückgewiesen hatte, insofern sie sich beim Seienden, bzw. bei innerweltlich Zu- und Vorhandenem, darunter Menschen, aufhalte und dabei das Sein, das wahre Thema der Philosophie, verfehlt habe. 16 Demgegenüber vertrat Ricœur den Standpunkt, dass es eine direkte Ontologie (unter Umgehung des Seienden 17), wie sie der späte Heidegger vertrat, gar nicht geben könne, und beharrte darauf, dass Menschen (und nur sie) ›existieren‹. 18 Nur von Existierenden aus ist Ricœur zufolge überhaupt nach dem Sein zu fragen – welches Schicksal ihnen und dem Begriff des Menschen auch immer künftig beschieden sein wird. Selbstverständlich weiß auch Ricœur, dass die menschliche Gattung vor einigen zig- oder sogar hunderttausend Jahren ihren ersten Auftritt in der Naturgeschichte hatte und dass sich Vgl. K. Jaspers, Vernunft und Existenz, München 41987, S. 49; P. Ricœur, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt/M. 2006, S. 317. Ob der Begriff der Existenzerhellung bei Ricœur tatsächlich auch genau den bei Jaspers gemeinten Sinn hat, bleibe dahingestellt. Jaspers hatte den Begriff des Existenzials als ontologischen Formalismus zurückgewiesen (vgl. seine Notizen zu Martin Heidegger, München 31989, S. 141, Nr. 117; S. 188 f., Nr. 167; S. 233 f., Nr. 216). Eine Parallele zu dieser Kritik findet sich bei Ricœur m. W. nicht. 16 M. Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den ›Humanismus‹, Bern 21954; E. Fink, Sein und Mensch. Vom Wesen der ontologischen Erfahrung, Freiburg i. Br., München 1977, S. 132 f. In Das Selbst als ein Anderer rechtfertigt Ricœur die Rede von einem menschlichen Selbst ausdrücklich (SaA, S. 378). 17 Zu Hinweisen auf frühere Auseinandersetzungen mit ontologischem Denken, die hier nicht ausführlich kommentiert werden können, vgl. Vf., »Paul Ricœurs Philosophie praktischer Subjektivität in historischer Perspektive. Wille – Aufmerksamkeit – Gleichgültigkeit«, in: D. Creutz, T. Breyer (Hg.), Phänomenologie des praktischen Sinns. Die Willensphilosophie Paul Ricœurs im Kontext, München, i. E. 18 Vgl. in diesem Sinne Fink, Traktat, S. 22, 53, 94. 15

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ihr Ende im Horizont kosmologischer Zeit absehen lässt. Aber bedeutet das, dass die Menschen seit jeher nur gelebt haben, um irgendwann damit zu beginnen, ihr Leben auch zu führen, zu beherrschen, zu regieren, um es schließlich nicht nur zu erhalten, sondern auch zu gestalten und zu steigern? 19 Würde es insofern genügen, sich darauf zu besinnen, wie Menschen leben bzw. ihr Leben gelebt und geführt haben? Wären wir dann nicht gut beraten, uns an eine zeitgemäße Theorie und Praxis der sogenannten Lebenskunst zu halten, die scheinbar auf den Spuren der ältesten theoría, nämlich der Philosophie als Lebensform, wandelt? 20 Davon ist Ricœur offenbar nicht überzeugt, wo er von einer conditio historica spricht, die als geschichtliche Verfasstheit unseres Lebens stets neu zu ermitteln ist – und nicht etwa auf eine ahistorische Anthropologie zu gründen ist. In dieser Perspektive kann es sein, dass wir unter veränderten historischen Umständen, die uns existenziell betreffen, zu einer neuen Vorstellung von menschlicher Existenz – inklusive der Existenzialien – gelangen. Schließlich können wir nach der hermeneutischen Vorstellung dieses Philosophen gar nicht umhin, von Beschreibungen historisch geprägter Lebenslagen auszugehen, um uns dann, erst in einem zweiten Schritt, zu fragen, was es heißt, bedingt von diesen Lebenslagen zu existieren. Ricœur will auf diese Weise nicht etwa die Differenz zwischen Existenziellem und Existenzialem gänzlich einziehen, wohl aber ein hermeneutisch flexibles und fruchtbares Verhältnis zwischen Beschreibungen historischer Lebenslagen einerseits und der Besinnung auf Grundstrukturen menschlicher Existenz andererseits denkbar machen. Man könnte insofern von einer historisierten Existenzphilosophie sprechen, die jeglichen einseitigen Fundierungsanspruch des Existenziellen durch eine existenziale Ontologie aufgegeben hat. 21 Insofern kann weder Kierkegaards Beschreibung des ›Einzelnen‹ noch Heideggers Sein und Zeit noch auch irgendeine andere Theorie Vgl. H. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, Frankfurt/M. 21983; ders., Beschreibung des Menschen, Frankfurt/M. 2006. 20 P. Hadot, Philosophie als Lebensform, Berlin 1991. 21 P. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004, S. 441, 533, 579; Vf., »Bezeugte Vergangenheit versus versöhnendes Vergessen? Fruchtbarkeit und Fragwürdigkeit von Ricœurs Rehabilitierung eines philosophischen Geschichtsdenkens«, in: ders. (Hg.), Bezeugte Vergangenheit oder Versöhnendes Vergessen. Geschichtstheorie nach Paul Ricœur, Sonderband Nr. 24 der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, Berlin 2010, S. 23–60. 19

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menschlicher Existenz den Anspruch erheben, uns ein für alle Mal darüber aufzuklären, was es heißt, zu existieren. Nicht nur haben die Philosophien der Existenz das in historisch kontingenter (aber keineswegs arbiträrer) Art und Weise zum Vorschein gebracht. Sie erweisen sich auch selbst als historisch kontingent – bis zu einem Punkt, wo es denkbar erscheint, dass das, was man menschliche Existenz genannt hat, nur eine veränderliche, weder immer schon bestehende noch auch dauerhafte Form menschlichen Lebens auf den Begriff bringt. So wie nun denkbar ist, dass Menschen einmal angefangen haben zu existieren, so ist es nun auch denkbar, dass sie eines Tages damit wieder aufhören könnten. (Sicherlich nicht einfach aus freiem Entschluss, so als ob es Sache einer souveränen Entscheidung wäre, ob man leben oder ›existieren‹ will, wohl aber deshalb, weil sich die menschliche Existenz bzw. eine bestimmte Art ihrer Deutung als solche erschöpft und keine Inspiration mehr aus ihr hervorgeht.) Zweifellos kann man die Begriffs- und Ideengeschichte in dieser Hinsicht nicht einfach zum Maßstab erheben, also nicht annehmen, Menschen würden nicht mehr ›existieren‹, weil sie sich nicht mehr an einem entsprechenden Begriff ihres Lebens orientieren. Genauso wenig ist aus einem fehlenden Begriff der Existenz darauf zu schließen, man hätte zu einer gewissen Zeit nicht ›existiert‹. Aber darf man so weit gehen, ohne jede Rücksicht auf die Begriffsgeschichte zu behaupten, die Menschen hätten seit jeher (bzw. zumindest seit sie schriftliche Spuren ihrer Selbstinterpretation hinterlassen haben) ›existiert‹ ? Gewiss muss man in gattungsgeschichtlicher Perspektive annehmen, dass sie nicht nur (wie die Primaten) gelebt, sondern auch ihr Leben gelebt haben, um es schließlich nicht nur zu erhalten, zu verteidigen und dauerhaft zu stabilisieren, sondern um es auch zu beherrschen, zu steuern und zu regieren. Angesichts der transitivintransitiven Zweideutigkeit, die dem Begriff des Lebens bis heute anhaftet 22, wurde es deshalb unumgänglich, zu deuten, was nicht nur das Am-Leben-sein, sondern das ›gelebte‹ Leben in seinem Vollzug als Leben eigentlich ausmacht. Genau davon legt die Philosophie von ihren allerersten Anfängen an Rechenschaft ab. Aber dabei spielt ein moderner Begriff der Existenz bzw. die Vorstellung, in der Weise der Selbsterhaltung oder der Selbstregierung würden Menschen ›existieren‹, lange Zeit keine Rolle. 22

Siehe Anm. 2 zu Kap. III.

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Die u. a. von Volker Gerhardt im Anschluss an Friedrich Nietzsche vertretene Meinung, nicht etwa erst mit Francesco Petrarca (wie Ernst Cassirer und Bernhard Groethuysen meinten), sondern schon mit Sokrates treffe man auf »den ›Typus‹ der modernen Existenz« – ›existiert‹, so könnte man daraus schließen, habe man also schon in der Antike –, ist offensichtlich anachronistisch, insofern sie ausdrücklich heterogene historische Zeiten gleichsam ineinanderblendet und die Frage des historischen Zeitenabstands und dessen Überbrückung infolgedessen nicht eigens aufwirft. 23 Vor die gleiche Schwierigkeit stellt uns Theo Kobuschs Behauptung, bereits die christliche Patristik habe die »Innerlichkeit« des Menschen entdeckt. 24 So wird nahegelegt, vom »inneren Menschen« könne man seitdem ohne historischen Zeitindex sprechen und die Innerlichkeit präge sich nicht ganz verschieden in geschichtlichem Leben aus. Soll man daraus folgern, dass sich in jener theologischen Strömung schon ›Vorläufer‹ Kierkegaards finden, so als ob wir es hier mit einer Existenz-Philosophie »innerlichen« Lebens avant la lettre zu tun hätten? Keineswegs ist es ausgeschlossen, dass man Elemente einer solchen Philosophie (angefangen bei den Kategorien der existentia und der essentia, an die sie sich ja explizit angelehnt hat) in früheren Denkformen antreffen kann. 25 Selbstverständlich kennt die philosophische Antike einen Prozess des innerlichen Mitsichzurategehens, die Stoa den Begriff des Gewissens und die frühe christliche Philosophie das Konzept der epinoia als die eigenste Angelegenheit eines jeden, seinem Leben eine Form zu geben, die hohen Ansprüchen genügen sollte. 26 Aber aus all dem ist nicht zu schließen, die moderne Philosophie der Existenz habe

F. Nietzsche, »Die Geburt der Tragödie«, in: Sämtliche Werke, Bd. 1 (Hg. G. Colli, M. Montinari) München 1980, 1980, S. 9–156, Nr. 15; B. Groethuysen, Philosophische Anthropologie [1931], Darmstadt 1969, S. 99; E. Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Leipzig, Berlin 1927, S. 152; V. Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, S. 112, 117, 127. 24 Vgl. J.-P. Sartre, Marxismus und Existenzialismus. Versuch einer Methodik, Reinbek 1964, S. 13 f.; T. Kobusch, Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität, Darmstadt 2006, S. 21. 25 Deshalb konnte Jacques Maritain so weit gehen, den Thomismus als die authentische Existenzphilosophie zu bezeichnen. Siehe J. Judaken, »Sisyphus’ Progeny«, in: ders., R. Bernasconi (Hg.), Situating Existentialism, S. 89–122, hier: S. 95; G. Pattison, »Fear and Trembling and the Paradox of Christian Existentialism«, ebd., S. 211– 236. 26 Vgl. Kobusch, Christliche Philosophie, Kap. VII. 23

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im Grunde nur uralte Themen variiert und biete nichts wirklich Neues. Diesem Standpunkt haben Interpreten der Geschichte des Existenzialismus wie Karl Löwith, Helmuth Plessner und Wolfgang Janke denn auch frühzeitig mit guten Gründen widersprochen. Menschen ›existieren‹ überhaupt erst, insistierte Löwith, seitdem jegliche universale, für das menschliche Leben scheinbar unverbrüchlich geltende und sie orientierende Ordnung, als deren Inbegriff der klassische Kosmos gegolten hatte, aufgelöst bzw. destruiert worden ist. 27 Zum ersten Mal konnte die menschliche »Existenz selber in ihrer geschichtlichen Bedingtheit freigelegt« werden, ergänzt Plessner, seitdem die Menschen die sie umgebende Welt zu einem Bestand bloßer Dinglichkeit »entwertet« hätten. Seitdem sei in der Welt kein »Sinn« mehr zu finden. 28 Jenes Klima des Absurden hat demnach im Menschen selbst seinen Ursprung, insofern er jegliche vorgegebene Ordnung destruiert und die Welt auf sinnfrei Vorhandenes reduziert hat, dem allenfalls Sinn verliehen oder zugeschrieben werden kann, ohne aber noch von sich aus wenigstens als sinnhaft (wenn schon nicht als sinnvoll) gelten zu können. Unter dieser Voraussetzung hat nicht nur nichts Sinn, sondern es begegnet uns auch nichts in sinnhafter Form. Nur auf den ersten Blick stellt sich die erste These als die radikalere dar. Sie läuft darauf hinaus, zu affirmieren, dass die Frage Wozu? mit Blick auf menschliches Tun wie auch auf das Sein im Ganzen ›letztlich‹ nicht nur ins Leere läuft und ohne Antwort bleibt, sondern dass diese Frage negativ zu beantworten ist. Nichts hat Sinn heißt dann: alles ist sinnlos, nichts ist zu etwas gut, auch das menschliche Handeln nicht, das sich so gesehen (jetzt, in Zukunft und erst recht letztlich) überhaupt nicht ›lohnt‹ und sich insofern scheinbar nicht als ›sinnvoll‹ erweisen kann. Während die erste, unüberbietbar pauschale, jegliche, auch praktisch-zwischenzeitliche Ausrichtung geschichtsphilosophischen Denkens in Frage stellende These somit vor allem die Teleologie menschlichen Handelns betrifft, stellt die zweite These alle »To understand existentialism historically as well as systematically, we have to refer to the new concept of an infinite universe which seems at first to be the farthest removed from any immediate existential concern of a self with itself. It is my thesis here that we ›exist‹ (in the sense of existentialism) because we are lost in the universe of modern natural science. This was clearly realized by Pascal, but not by Kierkegaard and his followers.« K. Löwith, Sämtliche Schriften, Bd. 3, Stuttgart 1981, S. 171. 28 H. Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Frankfurt/M. 1974, S. 171, 88, 112. 27

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Modalitäten menschlicher Erfahrung in Frage, insofern sie die Sinnhaftigkeit dessen betrifft, worauf sich das jeweils Erfahrene bezieht. Nicht erst das (letzte) Wozu menschlichen Handelns, wie man es geschichtsphilosophisch zu begründen versucht hat, sondern schon die einfachste Empfindung und die gegenwärtige Wahrnehmung scheinen nun von einem Sinnverlust betroffen, der das Klima des Absurden heraufbeschwört. Insofern ist die zweite These die radikalere. 29 Aus beiden Thesen hat schließlich Kierkegaard die philosophische Konsequenz gezogen, dass ›der Mensch‹ als Einzelner ganz allein auf sich gestellt ist und sich scheinbar weder auf sinnhaft noch auch auf sinnvoll Vorgegebenes stützen kann, wenn er sich auf die Suche nach Antworten auf die nunmehr absolut vorrangige Frage begibt, was oder wer er – als aus jeglicher Vorgegebenheit eines verbindlichen Sinns herausgefallenes einzelnes Selbst – ist. Tatsächlich handelt die Philosophie seit Jahrtausenden vom Selbst. 30 Aber niemals hat sie es derart radikal als ganz allein auf sich selbst zurückgeworfenes beschrieben und behauptet, kein Mensch könne wirklich leben (oder gelebt haben), ohne in dieser Lage verzweifelt gewesen zu sein. In diesem Sinne versteht Janke Kierkegaards Philosophie als die erste Eröffnung radikalen existenzphilosophischen Fragens überhaupt. 31 Tatsächlich kann man kaum behaupten, ein auf sich allein zurückgeworfenes Selbst sei je vorher in dieser negativistischen Art und Weise ausgehend von der Verzweifelung zur Sprache gebracht worden. Nicht eine schon bestehende (kosmische, geistige oder politische) Ordnung, der es sich einzufügen hätte oder die in Ich verzichte an dieser Stelle darauf, die Anfechtbarkeit beider Thesen ausführlich zu diskutieren. Nur so viel: Folgt aus einer ›nach Hegel‹ nicht ausweisbaren positiven Finalität der Gattungsgeschichte etwa, dass alles, wofür man sich zwischenzeitlich eingesetzt hat, ebenfalls als absurd einzustufen wäre? Hängt von der Erfüllung eines ›letzten‹ Sinns der Geschichte jeglicher Sinn zwischenzeitlichen Handelns ab? Wohl kaum, wenn es Gutes gibt, das seinen Sinn ganz in der Gegenwart realisiert, die es möglich macht. Und im Hinblick auf die zweite These fragt man sich, wie sie mit einer Phänomenologie der Erfahrung zusammenstimmen soll, die nachweisen kann, dass Sinnbildung auch ohne unser eigenes Zutun (und ohne konstituierendes Bewusstsein) immerfort stattfindet, einfach dadurch, dass das Erfahrbare in Prozessen der Selbstorganisation sinnhaft Gestalt annimmt, wie es im Anschluss an Edmund Husserl vor allem Aron Gurwitsch und Maurice Merleau-Ponty gezeigt haben. 30 Vgl. R. L. Fetz, R. Hagenbüchle, P. Schulz (Hg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität Bd. 1/2, Berlin, New York 1998. 31 Ohne sie aber schon für die angemessenste Form zu halten, die dieser Autor erst in Heideggers Ontologie eines »unvordenklichen Seins« sieht; W. Janke, Existenzphilosophie, Berlin 1982, S. 4, 29. 29

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einer mehr oder weniger fernen Zukunft ihre Erfüllung fände, steht hier am Anfang der Existenzphilosophie, sondern die maßgebliche negative Erfahrung völliger Unannehmbarkeit, überhaupt da zu sein, ohne zu wissen warum und wofür. So steht das Dasein selbst radikal in Frage; und nur das scheint noch als sinnhaft (wenn schon nicht als sinnvoll) in Betracht kommen zu können. Sinnhaft wird es allenfalls im Modus der radikalen Infragestellung des Selbst als Selbst eines Einzelnen erfahren, dem nun schonungslos jede Möglichkeit entzogen ist, sich etwa auf Vorgegebenes zu berufen, um nicht selbst (aus sich selbst, durch sich selbst und womöglich auch für sich selbst) existieren zu müssen. Es mag sein, dass sich darin eine untragbare Überlastung des Selbst abzeichnet, der es unmöglich gerecht werden kann, da es nun in die unhaltbare Lage zu geraten droht, jeglichen Sinn quasi ex nihilo aus sich selbst heraus erzeugen zu sollen. Aber es ist kaum zu bestreiten, dass Kierkegaard das, was wir heute Philosophie der Existenz nennen, zuerst in derart radikaler Zuspitzung entfaltet hat. 32 Löwith, Plessner, Janke und andere machen darauf aufmerksam, dass gerade diese, der Welt jeglichen ›Sinn‹ entziehende Zuspitzung ihre unverkennbaren historischen Voraussetzungen hat, so dass es gerechtfertigt erscheint, zu sagen, seit der Zerstörung des Kosmos (Löwith), seit der Reduktion der Welt auf ein pures dingliches Vorhandensein (Plessner) oder seit dem Aufbrechen einer in dieser Lage verzweifelten Herausforderung des einzelnen Selbst (Janke) sei es überhaupt erst möglich geworden, in einem modernen Sinne zu existieren. Demnach hätten Menschen zwar schon von Beginn ihrer Gattungsgeschichte an gelebt und dann auch ihr Leben geführt, um es zu erhalten, zu gestalten und womöglich zu steigern; sie hätten aber erst

Ungeachtet seiner wiederholten Verweise auf Pascal als einen Vorläufer Kierkegaards sieht das auch Karl Löwith so, der allerdings dazu neigt, in der modernen Existenzphilosophie nur einen Verfall der ›Welt‹ zu erkennen, der man sich vor der Moderne habe sicher sein können. K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Hamburg 1986, S. 125 ff., 175 ff., 342 ff. Ein demgegenüber ›weltloses‹ Selbst verfügt am Ende angeblich über nichts anderes mehr als über sein eigenes »Pathos des Existierens, die Leidenschaft als solche« (K. Löwith, »Existenzphilosophie« [1932], in: Sämtliche Schriften, Bd. 8, Stuttgart 1981, S. 1–18, hier: S. 9). So wird eine pathologische bzw. pathische, nämlich vom griechischen páthos (Widerfahrnis) her zu verstehende Existenz nicht positiv deutbar; schon gar nicht als eine Form der Aufgeschlossenheit für eine nicht von Natur aus bestehende, sondern erst zu stiftende Welt. 32

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unter spezifischen historischen (modernen) Voraussetzungen ihr Leben ›existenziell‹ aufgefasst. Keiner der erwähnten Autoren unterstellt einen exakten Zeitpunkt, ein bestimmtes Ereignis oder eine Zäsur, nach der man auf moderne Art und Weise existiert hätte. Sie zeigen prima facie nur bestimmte geschichtliche Markierungen an, die wie Vorzeichen einer neuartigen, immer mehr um sich greifenden Infragestellung menschlichen Lebens fungierten, deren radikalste Form schließlich bei Kierkegaard erreicht worden zu sein scheint. Das bedeutet indessen nicht, dass spätestens seit Kierkegaard nun jeder auf moderne Art und Weise verzweifelt ›existiert‹ hätte. (Seinerzeit beschränkten sich ja nach Kierkegaards Diagnose die meisten ohnehin darauf, Christentum, d. h. für ihn: eine Religion der Verzweifelung, zu »spielen«.) Dass eine bestimmte, moderne Art und Weise, nicht bloß zu leben, sondern im Lichte einer radikalen Infragestellung des menschlichen Selbst zu existieren, zur Geltung gekommen ist, wie die erwähnten Autoren behaupten, bedeutet also in keiner Weise, sie habe sich allgemein verbreitet oder ihr komme gar allgemeine Verbindlichkeit zu. 33 So liegt es nahe, das, was Gegenstand der Philosophen der Existenz war, als eine spezifische Form menschlichen Lebens (unter anderen) zu verstehen, die offenbar einen historischen Ursprung hatte und deren hohe Zeit bereits abgelaufen sein könnte. Aber ist sie das? Hat sich die zentrale Angelegenheit der Existenzphilosophie inzwischen erledigt? Kommt es nicht mehr darauf an, zu existieren? Haben wir überhaupt die Wahl, zu leben oder zu existieren, wie es diese merkwürdige Frage nahelegt? Droht am Ende ein Rückfall in längst überwunden geglaubtes Pathos der Absurdität oder in ein »Gerede von Existenz«, wie es Eugen Fink, Giorgio Agamben und Maurice Blanchot zu befürchten schienen? 34 Ist dieses Gerede nicht längst ideologiekritisch entlarvt worden als substanzlose Fixierung auf ein privates bzw. ›idiotisches‹ Selbstverhältnis und als verfehlter Aus-

Vgl. die entsprechenden zeitdiagnostischen Überlegungen dazu bei K. Löwith, »Heidegger: Problem and Background of Existentialism« [1948], in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 8, S. 102–123. Gerade Löwith weist auf gewisse christliche Präfigurationen existenzphilosophischer Kerngedanken hin (ebd., S. 116) und durchkreuzt so die Vorstellung, letztere seien zuvor vollkommen unbekannt gewesen. 34 Fink, Sein und Mensch, S. 134; G. Agamben, Die kommende Gemeinschaft, Berlin 2003, S. 60 f.; M. Blanchot, Die Schrift des Desasters, München 2005, S. 42. 33

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druck bürgerlich entfremdeter Vereinzelung in der Übermacht einer unangefochten herrschenden Ökonomie, zu deren fälliger Kritik es nicht in der Lage sei? 35 Haben sich die existenzphilosophischen Dramatisierungen menschlichen Lebens nicht längst als von der lähmenden Saturiertheit postmoderner Konsumgesellschaften überholt erwiesen, in denen man angeblich vor allem an zu viel Unterhaltung leidet und sich um befremdliche Ernstfälle (als Gegenmittel) nur besorgt zeigt, um es sich in deren bloß imaginierter Negativität wiederum bequem machen zu können? 36 Zeigt also das Wiederaufleben einer gewissen existenziellen Emphase, die nicht selten festzustellen ist, wo auf unaufhebbarer Negativität menschlichen Lebens insistiert wird 37, nur symptomatisch an, wie erschöpft das existenzphilosophische Denken in Wahrheit ist? Genügt es demgegenüber, sich wieder auf das Leben und vor allem auf die Frage, wie es zu leben sei, zurückzubesinnen, wie es Michel Foucault vorgeschlagen hat? Kann demnach eine zeitgemäße »Ästhetik der Existenz« für sich in Anspruch nehmen, das, was vom existenzphilosophischen Denken noch übrig ist, zu beerben und so weit wie möglich auf die ältesten philosophischen Theorien menschlicher Lebensformen zurückzuführen, wie wir sie von Platon und Aristoteles her kennen? 38 Dürfte insofern eine um das Wie unseres Lebens sich drehende Ästhetik mit Recht für sich in Anspruch nehmen, jeglichen Rückfall in anachronistisches Existenz-Gerede zu vermeiden? Mit diesen vielfältigen Fragen ist heute unvermeidlich jeder Versuch konfrontiert, sich auf existenzphilosophisches Denken zurückzubesinnen, um es zu reaktualisieren. Im Folgenden beschränke ich mich vor dem Hintergrund der vorangegangenen Skizze der geschichtlichen Lage, in der sich vielfältige Reaktualisierungsversuche existenzphilosophischen Denkens befinden, allerdings auf eine einzige Frage: auf die Geschichtlichkeit existenzphilosophischen DenJanke, Existenzphilosophie, S. 3, 62 f. P. Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, Berlin 2010, S. 62 f., 95. 37 Vgl. die Bestandsaufnahme bei E. Angehrn, J. Küchenhoff (Hg.), Die Arbeit des Negativen, Weilerswist 2014. 38 Das hat mit Nachdruck Foucaults philosophischer Mentor in diesen Fragen, Pierre Hadot, bestritten. Vgl. Vf., »Ästhetik der Existenz oder existenzielle Ästhetik? Anmerkungen zu einer leidenschaftlichen Lebensform«, in: E. Bippus, J. Huber, R. Nigro (Hg.), Ästhetik der Existenz, Lebensformen im Widerstreit, Zürich, Wien 2013, S. 69–94; M. Foucault, Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. IV, 1980–1988, Frankfurt/M. 2005, S. 800, 862, 872, 905. 35 36

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kens selbst, insofern es sich vor die Frage der sozialen Dimension menschlicher Existenz gestellt sieht.

3.

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Nicht selten wurde behauptet, vor allem Kierkegaard bringe diese Dimension geradezu zum Verschwinden, da es ihm nur noch um ein auf sich selbst zurückgeworfenes, isoliertes und ›idiotisches‹ Selbst gehe, dem jeglicher allgemeine Sinn abgehe. 39 Aber schon Jaspers insistierte, Sein bedeute für menschlich Existierende vor allem, in Kommunikation zu stehen. 40 Deren Abbruch beschwöre geradezu den Tod des Einzelnen in der Unmöglichkeit herauf, Andere ansprechen und von ihnen angesprochen werden zu können. Und in Heideggers Sein und Zeit spielt das sog. Mitsein eine hervorragende Rolle, das als ontologischer Begriff gegen eine Vielzahl existenzieller Variationen sozialen Verhaltens abgegrenzt wird, das auch als einsames, vereinzeltes oder anders ›isoliertes‹ stets in einem ontologischen Verhältnis zu Anderen stehe, welches als solches das menschliche Dasein ausmache. 41 So gesehen hätte Kierkegaard nur eine ›existenzielle‹ Variante des Daseins beschrieben, das keineswegs als ein geradezu desozialisiertes zu verstehen ist. Vielmehr liegt es nahe, das Mitsein als soziale Dimension des Daseins aufzufassen, die sich kommunikativ manifestiert; unter Umständen allerdings auch so, dass davon Abstand genommen wird, sich weiterhin auf ein soziales Geschehen ein- und gegenseitiger Inanspruchnahme und Erwiderung einzulassen. Auch der Abbruch jeglicher Kommunikation mit Anderen wäre demnach eine Variante ›sozialen‹ Mitseins. In der Tat hat man so das Mitsein als eine Dimension menschlicher Koexistenz reinterpretiert und den Eindruck erweckt, dieser Begriff sei durch die verbreitete Kritik der Existenzphilosophie als Ideologie eines entfremdeten, auf sich selbst zurückgeworfenen, weltlosen Lebens nicht zu treffen und er sei gewissermaßen ontoloVgl. M. Frank, »Das Individuum in der Rolle des Idioten. Die hermeneutische Konzeption des Flaubert«, in: T. König (Hg.), Sartres Flaubert lesen. Essays zu »Der Idiot der Familie«, Reinbek 1980, S. 84–108. 40 Jaspers, Vernunft und Existenz, S. 71 f. 41 Janke, Existenzphilosophie, S. 178 ff.; J. Weiß (Hg.), Die Jemeinigkeit des Mitseins. Die Daseinsanalyse Martin Heideggers und die Kritik der soziologischen Vernunft, Konstanz 2001. 39

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gisch tief genug angesetzt, um sich auf unterschiedlichste historische Ausprägungen sozialen Lebens beziehen zu lassen; auch auf solche, in denen Menschen weniger eine menschliche Essenz offenbart als vielmehr ihr Unwesen getrieben haben. Genau diese Frage beunruhigt untergründig alle Versuche, nach dem Zweiten Weltkrieg und nach den genozidalen Verbrechen, die mit ihm einhergingen, menschliche Existenz ontologisch als ›soziale‹ so zu beschreiben, dass auch diesen neuen Formen der Gewalt Rechnung getragen werden kann. Vor diese Frage sahen sich weder Kierkegaard noch auch Jaspers oder Heidegger anfänglich gestellt. Dagegen rückt sie in Schriften der nächsten philosophischen Generation immer mehr in den Vordergrund, um schließlich in eine radikale Befragung menschlicher Co-Existenz einzumünden. Wir sind ontologisch nicht nur dazu bestimmt, zu existieren (jeder für sich oder auf je-meinige Art und Weise), sondern zu co-existieren, behauptete Eugen Fink im Anschluss an Heidegger. 42 Aber was bedeutet menschliche Co-Existenz, wenn nicht bloß ein ontisches Nebeneinandervorkommen, wie man es von Hobbes bis hin zu modernen Freiheitstheorien gedacht hat? 43 Liegt in menschlicher CoExistenz etwa auch der Sinn eines Zusammenlebens, an dem sich die Gewalt, die es verletzt, messen lassen könnte? Muss man den Begriff des Mitseins bzw. eines ›Zusammen‹-Existierens reinterpretieren, wenn man diesen Maßstab anlegt? Und würde das nicht bedeuten, die Existenzphilosophie zu historisieren? Genau diese Antwort, meine ich, haben auf unterschiedliche Art und Weise viele Autoren geFink, Traktat, S. 17. Hier ist von einer »Ontologie der Sozialität« die Rede, die auf den Begriff der Gemeinschaft zugeschnitten wird (ebd., S. 22, 52), obwohl sie sich in der »Offenheit für den Mitmenschen« (als der womöglich jeder Andere begegnen kann) bewähren soll (ebd., S. 19). In diesem Sinne beruft sich Fink auf eine »SelbstInterpretation aus innerer Zeugenschaft« (S. 26 f., 38) – so als ob es keinen anderen Zeugen gäbe als das (eigene?) Dasein selbst. 43 Kann wirklich die Zeugenschaft, die dieser Autor als einen ontologischen Begriff einführt, auch im Aneinandervorbeileben Bestand haben? E. Fink, Grundphänomene des menschlichen Daseins, Freiburg i. Br., München 1979, S. 390. Hier besteht gewiss eine besondere Nähe zur Philosophie von Levinas, der den Begriff der Zeugenschaft (attestation, témoignage) aber anti-ontologisch einsetzt und sich gegen deren Einbindung in ein »vergemeinschaftetes Selbst« (ebd., S. 319) verwahrt. Bei Levinas widerspricht die Zeugenschaft ganz und gar einem indifferenten Aneinandervorbeileben. Ihr Sinn ist geradezu dieses ›Widersprechen‹. So bringt Levinas die Zeugenschaft gegen das (nach seiner Meinung »indifferente«) Mitsein in Stellung; E. Levinas, Zwischen uns, München, Wien 1995, S. 148; ders., Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989, S. 135. 42

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geben, die weder das Erbe dieser Philosophie ganz verwerfen noch auf darauf verzichten mochten, ihre eigene Zeit – die Zeit der beiden Weltkriege, der »Extreme« (Eric Hobsbawm) und der Shoah – mit Hilfe dieser Philosophie in Gedanken zu fassen, wie es Eugen Fink, aber auch Paul Ricœur, Edith Wyschogrod, Zygmunt Bauman, JeanLuc Nancy und viele andere versucht haben. Längst ist in den bis heute anhaltenden Diskussionen um diese Fragen die modische Konjunktur, der sich kurzlebige Existenzialismen erfreuten, verblasst und einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der negativistischen Herausforderung jener Zeit gewichen. Man geht nicht mehr von der etwas luxuriös anmutenden Frage, als was oder wer wir uns verstehen wollen (insofern wir ›existieren‹ 44), sondern von der Provokation dessen aus, was als unannehmbar erfahren wird. Verspricht aber das negativistische Moment des Unannehmbaren wirklich auf die Spur des Sinns menschlicher Co-Existenz zu führen, die ihr Prädikat verdient? Die im 20. Jahrhundert aufgebrochene, immer radikalere Befragung menschlicher Existenz lässt deren zweifelhaftes Attribut jedenfalls nicht mehr ohne weiteres als ontologisch wertende Auszeichnung durchgehen. Menschen, die existieren, ohne von einem ihnen vor-gegebenen Wesen zu wissen, können sehr wohl ihr Unwesen treiben. Wie aber, das lehrt uns nicht die Einsicht Eugen Finks, es sei »immer menschlich« zugegangen in der Geschichte, »und das heißt eben auch immer ›unmenschlich‹, hart und gefährlich«. 45 In fragwürdiger Allgemeinheit wird mit diesen Worten überspielt, dass es eine Geschichte der Gewalt gibt, die zeigt, wie wenig auch das Unmenschliche konstant gewesen ist und wie radikal es ›Geschichte gemacht‹ hat. 46 Heute sind wir mit neuen Formen der Unmenschlichkeit konfrontiert, die sich nicht mit dem indifferenten Befund abgelten lassen, die Geschichte der menschlichen Gattung sei von Anfang an und bis heute – abgesehen von wenigen ereignislosen, glücklichen Zeiten, über die die Historiker nichts zu berichten haben – im Grunde eine unaufhörliche Verkettung von Kriegen und Völkermorden gewesen (wie es bereits von Voltaire bis Sigmund Freud behauptet worden war). Das Un-

Vgl. E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt/M. 21981, bes. die 8. Vorlesung. 45 Fink, Traktat, S. 195. 46 Vgl. die Sondernummer der Human Studies. A Journal for Philosophy and the Social Sciences 36, no. 1 (2013) zu diesen Fragen. 44

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Soziale (Co-)Existenz?

menschliche hat und macht Geschichte, genauso wie das Böse, das man in ihm erkannt hat. 47 Was Menschen demgegenüber als ›menschlich‹ erscheinen lässt, haftet ihnen nicht als eine Art Eigenschaft an und zeichnet sie nicht vor anderem aus. Nur im Widerfahrnis und in der Negation dessen, was ihnen als unmöglich annehmbar bzw. als unannehmbar erscheint, können sie ermitteln, wozu ihre Co-Existenz bestimmt ist (sofern sie sich nicht in einem indifferenten Mitsein oder Zusammenvorkommen auf der Erde erschöpft). Genau in diesem Sinne rückt schließlich der Begriff der Nicht-Indifferenz zum zentralen Konzept in der Philosophie von Levinas auf 48, der die These vertreten hat, in je-meiniger Existenz gehe es nicht allein und nicht vorrangig um den eigenen, am Ende auf Andere unbezüglichen Tod, sondern vor allem um den Tod des Anderen. Das Dasein drehe sich nicht allein um Selbst-Sorge oder um den Genuss seines Aufenthalts 49 im Sein, sondern darum, sich in radikal nicht-indifferenter Art und Weise für die Sterblichkeit des Anderen aufgeschlossen zu erweisen. 50 Nur so sei vorstellbar, dass es letztlich jeden in der Tiefe seines Seins etwas angehen muss, wenn zur gleichen Zeit, wo sich das je-meinige Leben zwischen Geburt und Tod abspielt, Tausende, ja Millionen ums Leben (und um ihren Tod 51) gebracht werden. Im Lichte der einschlägigen historischen Erfahrung erschien Levinas die Vorstellung, jeder existiere im Grunde im Verhältnis zur Sterblichkeit des Anderen in indifferenter Art und Weise, als unannehmbar. Die maßgeblich von Levinas angestoßene, aber inzwischen auch von vielen anderen vorangetriebene Revision dessen, was bei HeidegVgl. die Ausgabe Nr. 37 des Journals Phänomenologie (2012) zum Begriff des Bösen sowie die optimistische Rekonstruktion der Geschichte der Gewalt, die angeblich deren weitgehende Liquidierung ankündigt, bei S. Pinker, Gewalt, Frankfurt/M. 2013; K. Berner, Theorie des Bösen. Zur Hermeneutik destruktiver Verknüpfungen, Neukirchen-Vluyn 2014. Auf die Frage der Historizität der Gewalt kommt das Kap. XXX ausführlich zurück. 48 Vgl. Vf., Geschichte als Antwort und Versprechen, Freiburg i. Br., München 1999, Kap. V. 49 Heidegger, Platons Lehre, S. 106. 50 Vgl. Blanchot, Vergehen, S. 65; E. Levinas, Gott, der Tod und die Zeit, Wien 1996, S. 99 ff. 51 Vgl. Vf., »Maurice Blanchots Schrift des Desasters und die Historizität menschlicher Sterblichkeit«, in: Zeitschrift für Genozidforschung 18, Nr. 2 (2018), i. E.; Beitrag zur Konferenz Genocide. Contemporary philosophical and sociological perspectives, Lepsius-Haus, Potsdam, 2./3. August 2013. 47

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ger zunächst Mitsein hieß und dann Co-Existenz getauft wurde 52, geht nicht mehr von einem ontisch isolierten Einzelnen aus, dem die ›Welt‹ abhandengekommen zu sein und dem es in seinem Sein schließlich nur noch um dieses selbst zu gehen scheint (wie die ontologische Formulierung in Sein und Zeit lautet). Am Anfang dieser Revision steht jetzt die Gewalt, die Anderen widerfahren ist, und die Frage, ob und wie sie diametral dem Sinn menschlicher Koexistenz widerspricht, zu dem wir möglicherweise bestimmt sind. 53 Der negativistische Ansatzpunkt dieser Revision besagt vielleicht nur, was ›wir‹ unmöglich (für uns selbst und Andere) wollen können oder was ›man‹ keinesfalls wollen kann – nämlich sich zur Sterblichkeit des Anderen ontologisch vollkommen ›gleichgültig‹ zu verhalten. Aber er lehrt offenbar nicht, wie soziale und politische Lebensformen positiv so einzurichten wären, dass sie elementarsten Ansprüchen genügen, die aus dem ursprünglichen, aber erst auf negativistischem Wege eingesehenen Sinn menschlicher Co-Existenz folgen müssten. Im Kern läuft die Revision der Heidegger’schen Ontologie des Mitseins darauf hinaus, in der menschlichen Co-Existenz der Spur des Anderen nachzugehen, d. h. zu untersuchen, ob sie sich als ursprünglich vom Anderen inspiriert, zu ihm auf nicht-indifferente Art und Weise ins Verhältnis gesetzt und infolgedessen sogar für ihn verantwortlich erweist. Zugespitzt könnte man sagen, es steht Levinas hat immer distanziert von sog. »Ko-Existenzphilosophen« gesprochen; E. Levinas, Außer sich, München, Wien 1991, S. 14 ff. 53 Keineswegs führt diese Fragestellung einfach zu einer Ontologie der Mitseins zurück, wie es bei Ethan Kleinberg den Anschein hat (»The ›Letter on Humanism‹ : Reading Heidegger in France«, in: Judaken, Bernasconi [Hg.], Situating Existentialism, S. 386–413, hier: S. 405). Gewiss ist es richtig, dass die von Sartre favorisierte existenziell-anthropologische Lesart von Sein und Zeit infolge der Rezeption des sog. Humanismus-Briefes an Jean Beaufret durch eine anti-subjektivistische Ontologie abgelöst wurde. Aber diese Ontologie wurde ihrerseits einer radikalen, anti-ontologischen Kritik (bes. durch Levinas) unterzogen, die schließlich zu einer Ethik als Erster Philosophie führte, von der Levinas behauptete, sie entziehe sich jeglicher Ontologie, auch einer Ontologie des Mitseins. Auch das ist jedoch nicht das letzte Wort in dieser Streitsache. Denn verlangt nicht auch Levinas’ ›Ethik der Ethik‹ nach einem menschlichen Selbst, das die ihm vom Anderen her zukommende Verantwortung zu übernehmen und zu tragen bereit ist? Und kommt so nicht wieder die ontologische Frage ins Spiel, um was für eine Art Seiendes es sich bei diesem ›existierenden‹, d. h. jetzt: im Verhältnis zum Anspruch des Anderen responsiven und nicht-indifferenten Selbst handelt? Genau so wirft Ricœur die Frage nach dem Selbst im Lichte der anti-ontologischen Auseinandersetzung wieder auf, die Levinas mit Heidegger geführt hat (vgl. SaA, Zehnte Anhandlung). 52

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Verändertes Denken der Veranderung: Michael Theunissen und Paul Ricœur

im Sinne dieser Fragen eine ursprüngliche, dem Mitsein nicht erst nachträglich widerfahrende Veranderung auf dem Spiel, die es als radikal soziales zu verstehen zwingt. Dieser, vor allem vom Kierkegaard-Interpreten Michael Theunissen an zentraler Stelle, nämlich in seiner Bilanz der Sozialontologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwendete Begriff 54 markiert am deutlichsten, wie weit inzwischen das existenzphilosophische Denken das isolierte Selbstsein, von dem es mit Kierkegaard ausging, und vorübergehende Moden hinter sich gelassen hat, die manche bereits zu dem Schluss verleitet haben, nicht nur der sogenannte Existenzialismus, sondern auch die Existenzphilosophie im Ganzen sei tot bzw. ›erledigt‹. Ich knüpfe im Folgenden an diesen Begriff Theunissens an; allerdings nur insoweit, dass deutlich werden kann, wie er unter dem Eindruck der inzwischen fortgeführten sozialontologischen Diskussion zu revidieren ist. Als selektive Referenz für den Stand dieser Diskussion dient mir lediglich das in dieser Hinsicht repräsentative Spätwerk Paul Ricœurs.

4.

Verändertes Denken der Veranderung: Michael Theunissen und Paul Ricœur

Aus Theunissens Sicht ist Veranderung auf zweierlei Art und Weise zu erleiden: durch ein Zu-einem-Anderen-werden und durch ein Zuetwas-Anderem-werden (DA, S. 84). Beides fasst Theunissen unter den Oberbegriff der Veranderung. Im zweiten Fall setzt er sie mit einer substanzialisierenden Verdinglichung gleich, im ersten Fall spricht er auch von einer personalisierenden Veranderung, die man im Zuge einer Vergemeinschaftung erfahren kann, in der man am Ende nur noch einer unter den Anderen ist, wie sie auch. Dieser hier nicht ausführlich zu entfaltende Ansatz impliziert (a) die Voraussetzung von jemandem, eines Selbst, das (b) sekundär eine Veranderung (c) passiv erleidet; und zwar so, dass es sich scheinbar um eine Depotenzierung, um eine Entmächtigung oder auch Dezentrierung handelt. Das Erleiden der Veranderung hat insofern (d) privativen Charakter. Man wird verandert, d. h. zu einem Anderen unter anderen Anderen 55, oder zum Ding unter vielen anderen M. Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart [1965], Berlin 21977 (= DA). 55 In diesem Zusammenhang spricht man heute vielfach in Anlehnung an G. Spivak 54

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Dingen. Weder das Eine (ein Anderer) noch auch das Andere (ein Ding) ist man aber ursprünglich, wird hier unterstellt. Theunissen trägt ausdrücklich auch der Möglichkeit Rechnung, dass man sich zu einem Anderen ›machen‹ kann 56, aber in diesem Fall untersteht die Veranderung der eigenen Verfügung, wohingegen der primäre Sinn der Veranderung stets der eines Verandertwerdens ist, das dem Selbst widerfährt, indem es – niemals restlos – zu einer Art Ding oder zu einem Anderen wird und so eine Depotenzierung, Entmächtigung oder Infragestellung seiner vorgängigen Zentrierung erfährt. 57 Dergestalt löscht die Veranderung das Selbst aber nicht aus, um es wirklich in ein bloßes Ding oder ganz in einen Anderen zu transformieren. Vielmehr geht die Veranderung in einem solchen Prozess niemals ganz auf, so dass im Veranderten immer die Spur dessen erkennbar bleibt, der verandert worden ist. Das muss selbst dann gelten, wenn das Ergebnis der Veranderung auf eine völlige Nivellierung der Differenz zwischen dem ursprünglich nicht veranderten und einem schließlich ganz veranderten Selbst hinauszulaufen scheint (DA, S. 85). Letztlich ist es für Theunissen nicht möglich, ›wirklich‹ zu Anderem oder zu einem Anderen zu werden. Selbst dann nicht, wenn wir unter dem Druck einer uns entfremdenden Veranderung existieren müssen, wie sie Sartre in seiner Phänomenologie der Scham beschrieben hat. 58 Gegen eine solche Erfahrung wird das Selbst im Übrigen stets den Versuch unternehmen, zu sich selbst, d. h. hier: zu einem nicht veranderten Selbst zurückzufinden. Demnach kann sich von einem othering. Dieser Begriff bezeichnet eine bestimmte Art und Weise, sich von Anderen abzuheben oder sie von sich (oft in diskriminierender Absicht) zu unterscheiden, um zugleich die ›Vergleichbarkeit‹ in Frage zu stellen. Der transitive Gebrauch dieses Begriffs hat vielfach die Bedeutung: jemanden (ohne Rücksicht auf ihn) zu einem Anderen zu ›machen‹, wohingegen bei Theunissen zunächst das Erleiden eines Anderswerdens gemeint ist. Beide Bedeutungen können offensichtlich zusammenpassen. Spivak bezog sich auf soziale und politische Unterscheidungspraktiken, die die Folge haben können, dass sich ein unter dem Druck Anderer verandertes (etwa diskriminierendes) Selbstverhältnis einstellt. Vgl. G. Spivak, »Subaltern Studies. Deconstructing Historiography«, in: D. Landry, G. MacLean (Hg.), The Spivak Reader, London, New York 1996, S. 203–235. 56 Etwa auf empathischem Wege, indem man sich in ihn hineinversetzt, sich an seine Stelle versetzt, seine ›Sicht der Dinge‹ oder seinen ›Standpunkt‹ nachvollzieht und seine ›Perspektive einnimmt‹ etc. 57 Von der sog. immanenten Veranderung sehe ich hier ab (DA, S. 144 f.). 58 Vgl. zur Veranderung durch Dritte als aliénation bei Sartre DA, S. 218 ff.

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Verändertes Denken der Veranderung: Michael Theunissen und Paul Ricœur

offenbar niemand damit abfinden, verandert zu werden und zu bleiben; schon gar nicht in der anhaltenden Erfahrung einer Übermächtigung, die ihn oder sie – unter vielen Anderen – nivelliert oder gleichmacht. Denn so droht der als DU anzusprechende Andere abhandenzukommen. Und in dieser Übermächtigung können wir selbst nicht (als ›zweite Person‹) Andere für Andere sein (DA, S. 439). Wie auch immer es um die Aussicht bestellt sein mag, den Anderen (als DU) aus seinem Nivelliertsein wieder hervortreten zu lassen (DA, S. 493), auf Rückkehr aus der Veranderung wird hier alle Hoffnung gesetzt. Inzwischen hat sich das sozialontologische Denken weit von den skizzierten Ausgangspunkten entfernt, die zu einem solchen Begriff der Veranderung führten. Das zeigt sich deutlich im Vergleich mit Ricœurs Buch Das Selbst als ein Anderer, das schon im Titel die Richtung anzeigt, in der die für Theunissen noch leitenden Prämissen revidiert worden sind. 59 Vorausgesetzt wird jemand, ein Selbst, nunmehr allenfalls noch als Ausgangspunkt seiner Befragung. Wir stoßen nicht ausgehend von einer buchstäblich selbst-losen Welt aus auf diesen Begriff. Vielmehr (a’) finden wir uns immer schon als jemand vor, der (oder die) sich nachträglich daraufhin befragen muss, ob und wie er oder sie die Erfahrung der Veranderung macht; und zwar nicht nur sekundär, sondern (b’) so, dass sie das Selbst von Anfang an unterwandert (was aber erst im Nachhinein einzusehen ist). Dabei wird Veranderung nicht bloß ›erlitten‹, sondern (c’) als Inspiration im Modus einer dem Selbst innewohnenden Ansprechbarkeit durch Andere deutbar. Damit verliert die Veranderung (d’) zugleich ihren bloß privativen Charakter und wird positiv verständlich als eine Dynamik, die das Leben des Selbst geradezu ausmacht. 60 Müsste es nicht bar jeglicher Veranderung in sich verschlossen bleiben? Drohte es auf diese Weise nicht in der Langeweile einer idenIch verstehe den späten Ricœur so, dass er ebenfalls einer Veranderung auf der Spur ist. Jedoch gerät sein Denken unter dem Einfluss der Philosophie von Levinas in eine Grauzone zwischen Ontologie und Ethik, die so bei Theunissen nicht anzutreffen ist. Vgl. P. Ricœur, Autrement. Lecture d’Autrement qu’être ou au-delà de l’essence d’Emmanuel Levinas, Paris 1997, wo der Autor die Veranderung mit Blick auf Levinas von einer »vraie altérité, avant l’altérité de l’autrui dans l’approche et la proximité« her denkt (S. 8). Siehe dazu das Kap. VIII in diesem Band. 60 Ob das in einem reflexiven Selbstverhältnis aber einsehbar ist, bezweifelt Ricœur selbst, wo er ein fehlbares Selbst beschreibt, das sich notorisch selbst verkennt und insofern als der Ort des (sich) Verkennens schlechthin gelten muss; s. Wege der Anerkennung, S. 317, sowie Kap. II,5 in diesem Band. 59

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IV · Veranderte Existenz in der Geschichte der Gewalt

titären Selbstheit zu verkümmern? Wird es nicht im Zuge seiner ursprünglichen, nicht erst nachträglich und privativ erlittenen Veranderung davor bewahrt, sich selbst verhaftet zu bleiben, und insofern in einem ganz anderen Sinne dezentriert, als es die Deutung der Veranderung als Entmächtigung nahelegt? In der Tat begreift Ricœur, gewiss unter dem maßgeblichen Einfluss der Sozialphilosophie von Levinas, die altération (SaA, S. 390) des Selbst gerade nicht mehr als Drohung der Entfremdung durch ein Zu-etwas- oder durch ein Zujemand-anderem-werden, das auf dem Weg der Rückkehr aus der Veranderung (d. h. geradezu durch eine Ent-Anderung) rückgängig gemacht werden müsste. Vielmehr insistiert er darauf, dass das Selbst nur aufgrund einer ihm innewohnenden, aber nicht ihm selbst zu verdankenden Ansprechbarkeit durch den Anderen nicht dazu verurteilt ist, sich selbst verhaftet und in sich selbst verschlossen zu bleiben. 61 Anders als Levinas aber sucht Ricœur die Ambiguität des Anderen zu wahren, die nicht zuletzt darin liegt, dass er bzw. es sich als »anders als es selbst« erweist. 62 Man kann aus der dem Selbst innewohnenden Ander(s)heit eben nicht eindeutig schließen, dass es sich um die Spur eines ›guten‹ oder ›persönlichen‹ Anderen handelt. 63 Man weiß nicht, wohin die Spur der dem Selbst paradoxerweise ›eigenen‹ Ander(s)heit in der Erfahrung der Veranderung führt, die Ricœur in drei Hinsichten auffächert: als Erfahrung der Alterität des eigenen Leibes, des Anderen und des Gewissens (SaA, S. 382–426). Es handelt sich um drei Quellen der Erfahrung von Ander(s)heit, die das Selbst in sich selbst verandert, ohne dass man sagen könnte, das müsse auf pure Entfremdung hinauslaufen, der die Anstrengung einer desaliénation oder Ent-Anderung entgegenwirken sollte. Man kann aber auch nicht sagen, die Vorzeichen einer solchen Bewertung der Erfahrung von Veranderung würden hier einfach verkehrt. Keineswegs wird diese Erfahrung nun zu etwas grundsätzlich Gutem, zu Bejahendem. Ricœur, Autrement, S. 10 ff. Hier zeigt sich auch, wie weit der Autor mit Levinas einem an-archischen Denken zu folgen bereit ist, das die Ansprechbarkeit durch den Anderen von einer nicht zu vergegenwärtigenden Diachronie oder Diastase her versteht. Ricœur befürchtet nicht zu Unrecht, dass Levinas’ ethisches Denken die Sagbarkeit einer derartigen Veranderung in Frage stellt (ebd., S. 25). 62 Vgl. Ricœur, SaA, S. 426; Blanchot, Vergehen, S. 81. 63 In dieser Hinsicht wird auch Levinas oft fehlinterpretiert, so als komme der Andere nicht auch als Feind und unberechenbar Fremder in Betracht. 61

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Das Prädikat ›sozial‹ – revidiert

Das menschliche Selbst wird zunächst nur als in sich selbst verandert beschrieben (in dreifacher Hinsicht); und die passiv-privative Deutung der Veranderung wird in Frage gestellt – mit voller Rücksicht auf die Ambiguität des Anderen, deren Sinn sich stets erst im Zuge der Antworten klären kann, die das Selbst auf die Herausforderung der Erfahrung der Veranderung findet (oder nicht findet). Ricœur setzt demnach voraus, dass sich das menschliche Selbst nachträglich als in sich immer schon verandert vorfindet. Und weit entfernt, nur in entfremdender Art und Weise zu etwas oder zu jemand Anderem gemacht zu werden, realisiert es sich als passiv verandert, ohne darin aber nur eine Beraubung seiner eigenen Handlungsmacht, seiner Souveränität oder seiner leibhaftigen Zentrierung auf sich sehen zu müssen. Auf diese Weise werden neue Deutungsspielräume freigegeben, die keineswegs darauf hinauslaufen, nun generell die Erfahrung bzw. das Widerfahrnis der Veranderung positiv umzufälschen, so als sei es generell gutzuheißen, in sich selbst den oder das Andere zu haben, also scheinbar einer angestrengten Veranderung gar nicht zu bedürfen. Mitnichten will Ricœur sagen, dass die im dialektischen Denken ausführlich beschriebenen mühevollen Wege der Auseinandersetzung zwischen dem Selbst und dem Anderen gar nicht mehr beschritten werden müssten. Er sagt zunächst nur: Selbstsein impliziert in sich die Erfahrung einer unaufhebbaren Veranderung, die nicht nur in mindestens dreierlei Hinsicht aufzufächern und ambivalent ist, sondern auch die sozialen Relationen zum als DU begegnenden Anderen und zu anderen Anderen, Dritten verkompliziert, die potenziell zur ›zweiten Person‹ für uns werden können. Denn nun steht laut Ricœur zu erwarten, dass wir einander sowohl in Dyaden als auch in vermittelten gesellschaftlichen Beziehungen unter und mit Dritten als in sich bereits Veranderte und uns gegenseitig auf dieser Grundlage wiederum Verandernde erfahren werden.

5.

Das Prädikat ›sozial‹ – revidiert

An der Uminterpretation, die der Begriff der Veranderung wie angedeutet im Lichte des Spätwerks von Ricœur erfahren muss, ist deutlich zu erkennen, wie existenzphilosophisches Erbe noch immer gegenwärtig ist und wie weit man sich inzwischen zugleich von ihm entfernt hat. Immer noch geht es, auf den Spuren Kierkegaards, um 171 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

IV · Veranderte Existenz in der Geschichte der Gewalt

das singuläre menschliche Selbst. Aber dieses wird nicht unter der historisch-kontingenten Voraussetzung einer selbst gewählten Vereinzelung beschrieben, in der es sich einer gleichgültigen Welt als dem ›absurden‹ Fremdartigen gegenüber sieht. 64 Demgegenüber ist nunmehr deutlich, dass der Einzelne in seiner Vereinzelung nur eine Variante einer Form der Existenz ist, die keineswegs ontologisch dazu verurteilt scheint, sich in der Sorge um sich (oder um das Sein) zu erschöpfen 65, sondern in der Co-Existenz eine unhintergehbare Öffnung zum Anderen hin aufweist. Diese Existenz öffnet nicht sich wie in einem Akt der Großzügigkeit auf Andere hin, sondern erweist sich als in sich ›immer schon‹ verandert, was aber nur stets ›zu spät‹, nachträglich deutlich wird. Der oder das Andere wohnt ihm in mehrfachem Sinne und auf ambivalente Art und Weise inne. Wie aber, dem kann das menschliche Selbst nur verspätet auf die Spur kommen, indem es Beziehungen mit (anders veranderten) Anderen eingeht. Nur in der Überkreuzung unterschiedlicher Formen der Veranderung wird sich in gewissen Grenzen klären können, wer die Betreffenden im Verhältnis zueinander sind. So sind sie auf Spielräume einer Co-Existenz angewiesen, die sich allerdings niemals in einem indifferenten Mitsein erschöpfen können, wenn es denn stimmt, was in einer weitgehend negativistischen Auseinandersetzung mit der Gewaltgeschichte speziell des 20. Jahrhunderts immer wieder festgestellt worden ist: In der (mehr oder weniger bestimmten) Negation dessen, was wir als unannehmbar erfahren, realisieren wir zuerst den ›sozialen‹ Sinn eines Zusammenlebens, der keiner Sozialontologie ohne weiteres zu entnehmen ist. Auch nicht einer neo-aristotelischen Ontologie, die man immer wieder auf den Spuren Heideggers als eine zeitgemäße Theorie praktischen Lebens zu reaktualisieren versucht hat (SaA, S. 376 f.). Ontologisch kann man gewiss zeigen, wie menschliches Leben als für Anderes und Andere ›aufgeschlossenes‹ geschieht. Aber daraus ist heute keine archäologische, im Ursprung menschlichen Lebens beschlossene, und keine teleologische, sein finales Ziel oder seinen Zweck bestimmende, allgemein verbindliche Sinnbestimmung mehr abzuleiten. Ontologisch zu klären ist nur, dass und wie menschliches Leben als ›soziales‹ geschieht; und zwar so, dass genau diese 64 A. Camus, Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde, Reinbek 1959, S. 18. 65 Vgl. Foucault, Schriften, Bd. IV, S. 495, 746, 883 f.

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Das Prädikat ›sozial‹ – revidiert

Sinnbestimmung selbst dabei stets mit auf dem Spiel steht. Ihren konkretesten Ansatzpunkt hat sie mangels (zureichender) archäologisch-teleologischer Fundierung deshalb im Widerfahrnis dessen, was als unannehmbar erfahren wird und was ›man‹ insofern auf keinen Fall wollen kann. 66 Darin wird man allerdings nicht ohne weiteres Einigkeit erzielen. Aber die Negativität des Unannehmbaren muss doch dazu führen, sie Anderen anzusinnen, um wenigstens die Probe darauf zu machen, ob man sich darüber einig werden kann, inwiefern soziales Leben sich nicht in einem indifferenten Nebeneinanderherleben erschöpfen kann oder sollte. An die Stelle einer normativistischen Bestimmung eines Sollens, das an der Negativität der Erfahrung gar nicht Maß nimmt, tritt so gesehen der Ausgang vom passiven Ausgesetztsein im Widerfahrnis, das in seiner Negativität überhaupt erst das Verlangen nach einer normativen Bestimmung dessen auf den Plan ruft, was ›nicht sein soll‹. Das aber ist weder einer Sozialontologie noch auch dem Erleiden irgendwelcher Widrigkeiten einfach abzulesen, sondern verlangt nach einer gemeinsamen, strittigen und nicht selten auch polemogenen Auseinandersetzung mit der Frage, welchen ›Sinn‹ eine soziale Co-Existenz haben soll, die ihren Namen verdient. Nach wie vor ist das Prädikat sozial kein bloß deskriptives. Es bezeichnet nicht nur ein bloßes Bezogensein auf Andere (wie es im Begriff des Mitseins von Martin Heidegger bis Jean-Luc Nancy zur Sprache kommt), sondern wirft zugleich die Frage auf, ob die sozialen Bezüge, in denen wir stehen, und die Beziehungen, die wir zu Anderen ›herstellen‹, mit ihnen pflegen oder auch ihnen verweigern, sozial in dem Sinne sind, dass sie ihnen und uns zugutekommen. Längst finden die dabei als maßgeblich in Frage kommenden Begriffe wie das Gute, das Gerechte oder die Verantwortung keinen Platz mehr unter dem Dach einer einzigen metaphysischen Norm, die man im Sein oder auch, nach platonischem Vorbild, in einem Jenseits des Seins lokalisiert hat. 67 Längst hat nach-metaphysisches Denken diese

Dieses ›man‹ bleibt sozialphilosophisch allerdings ganz und gar problematisch. Der fragliche Rekurs auf das als ›unannehmbar‹ Erfahrene bedarf allemal einer kritischhermeneutischen Artikulation und Explikation. Niemals kann bzw. darf es als subjektiv Unannehmbares etwa in politischer Hinsicht ohne weiteres zu einer Art Berufungsinstanz werden. 67 Platon, Politeia, Buch VI, 509 b. 66

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Begriffe zudem pluralisiert. 68 Das Gute gibt es so wenig wie die Gerechtigkeit oder die Verantwortung ›im Allgemeinen‹, zumal uns die moderne Sozialontologie gelehrt hat, vom Anderen, mit dem man um die Deutung dieser Begriffe ringt, nicht mehr bloß als Besonderem zu reden, der im Allgemeinen aufgehoben zu denken wäre. Der Andere als Anderer erweist sich als Singularität, über die wir nicht sprechen, an die wir uns vielmehr im Verhältnis zu einer zweiten Person, zu einem DU, wenden. Auch so aber geht der Andere mit seiner Ander(s)heit niemals in einer Vertrautheit, Bekanntheit, Freundschaft oder Gemeinschaft auf. Denn diese Ander(s)heit führt auf die Spur einer Veranderung, in der sich der, die und das Andere wiederum anders als er, sie oder es selbst erweist. So bleibt die Ander(s)heit in jenem »Zustand der Zerstreuung«, von dem Ricœur behauptete, sie sei kein Mangel, sondern »der Idee der Andersheit selbst angemessen« (SaA, S. 426). Daraus muss sich freilich keine »perverse Übermacht des Anderen« ergeben (wie Maurice Blanchot befürchtete 69), das sich immer wieder als anders als es selbst herausstellen kann. Denn einer Sozialontologie der Veranderung, die zeigt, wie wir nicht nur auf eigene Rechnung, allein oder umwillen unseres eigenen Selbst, sondern eben verandert existieren, ist ohnehin nicht eindeutig zu entnehmen, was daraus im Hinblick auf den Sinn sozialer Co-Existenz folgen sollte. Das zu klären bleibt den Co-Existierenden allemal selbst überlassen. Und das gibt ihnen die Macht an die Hand, sich einer unabsehbaren Veranderung auch zu widersetzen – besonders dadurch, dass sie ihr Wort geben und es halten. 70 Andere sind wir uns selbst und im Verhältnis zueinander nämlich nicht nur als radikal Veranderte, sondern auch füreinander. Daran führt auch dann kein Weg mehr vorbei, wenn man nicht davon überzeugt ist, das nach-metaphysische Denken habe die überlieferte Metaphysik tatsächlich hinter sich gelassen, überwunden oder neutralisiert. 69 Siehe oben, Anm. 2. Im gleichen Band (Vergehen, S. 139) erwägt Blanchot, ob wir möglicherweise »noch zu sehr« existieren, als dass wir den Anderen erreichen oder von ihm erreicht werden könnten. In die gleiche Kerbe schlägt er in Faux pas (Paris 1987), wo es heißt: »La communication ne commence donc à être authentique que lorsque l’expérience a dénudé l’existence« (S. 51). Was aber, wenn das veranderte Existieren sich gar nicht derart als dem Haben und dem Sein verhaftet erweist, wie es der Autor hier en passant unterstellt? 70 Die Praxis des Versprechens muss keineswegs so begriffen werden, als impliziere sie ein Verfügen über eigene Identität »als Eigentum«, wie J. Habermas annimmt (der deshalb das Modell des Versprechens im Hinblick auf die Bürgschaft des Einstehens für sich zurückweist; Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 21988, S. 208 f.). 68

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Das Prädikat ›sozial‹ – revidiert

Das heißt aber nicht, dass wir darüber, was oder wer wir sind, angesichts einer unabsehbaren Veranderung letztlich überhaupt nichts sagen können, sondern hat zur Konsequenz, dass wir unser verandertes und der permanenten Veränderlichkeit ausgesetztes Selbst im Verhältnis zu ihnen und um ihretwillen aufrechterhalten können und müssen, ohne dass auf diese Weise nur eine nicht veranderte und unveränderliche Identität vorzugeben, zu fingieren oder vorzulügen wäre. 71 Allerdings bleibt es denkbar, dass man in Zukunft nicht nur einen derartigen (simplifizierten) Identitätsbegriff, sondern auch die Notwendigkeit eines Selbstseins zurückweist, das sich ungeachtet seiner Veranderung als für Andere und um ihretwillen aufrechterhaltenes und darin glaubwürdiges erweisen kann. Sollte sich eine funktionalistische Rekonstruktion des Sozialen nicht die Mühe sozialontologischer Klärung eines in abgründiger Art und Weise veranderten Selbstseins ersparen können? Genügt es nicht, sich auf funktional verknüpftes und insoweit verlässliches »Anschlusshandeln« zu stützen? 72 Wozu sollte man sich in der Kontingenz stets prekärer funktionaler Verknüpfungen sozialen Handelns darauf verlassen, wer Andere – auf womöglich verlässliche Art und Weise – sind, wenn sie doch in ihrer abgründigen Veranderung niemals für eine wirklich berechenbare Identität einstehen können? Die Antwort, meine ich, ist einfach: weil man nur Anderen vertrauen kann, wenn es darauf ankommt – nicht trotz ihrer Veranderung, sondern gerade angesichts ihrer Veranderung. 73 Denn Vertrauen ist kein schlechter Ersatz für besseres Wissen, das es erübrigen könnte, sondern nur im Verzicht darauf möglich, wissen zu wollen, wer der oder die Andere ›wirklich‹ ist. Zwingend zu beweisen ist freilich nicht, dass man Anderen vertrauen sollte und vertrauen kann, und zwar gerade dann, wenn die Verlässlichkeit sozialer Systeme unter dem Druck alter und neuester Formen der Gewalt auf dem Spiel steht. In der Tat könnte es sein, dass wir längst auf dem Weg in eine ›soziale‹ Welt sind, in der man von einer veranderten, auf Andere als So berührt diese Schlussfolgerung all jene Probleme der narrativen Identität, die Ricœur unter den Oberbegriffen der Dissonanz und der Konsonanz der Zeiterfahrung sowie ihrer literarischen und historischen Repräsentation behandelt hat. Vgl. Zeit und Erzählung I, München 1988, S. 117; Zeit und Erzählung II, München 1989, S. 25. 72 Nach N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 21985. 73 Vgl. das Kap. XXII in Band II. 71

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IV · Veranderte Existenz in der Geschichte der Gewalt

Andere angewiesenen Co-Existenz kein solches Aufheben mehr machen müsste, weil sich niemand mehr für unaufhebbare Ander(s)heit, sondern nur noch dafür interessiert, was man über Andere epistemisch und algorithmisch optimiert in Erfahrung bringen kann. Weder ist zu beweisen, dass Menschen ›immer schon‹ sozial co-existiert haben, noch auch, dass sie dazu für immer verurteilt bleiben müssen. Wir haben es hier nicht mit einem a-historischen ontologischen Befund, sondern mit einer historisierten Deutung dessen zu tun, was unser Leben, so wie wir es als gewaltsam bedrohtes vor Augen haben, in sozialer Hinsicht ausmacht. Wo es als veranderte Existenz vor dem Hintergrund einer extrem gewaltträchtigen geschichtlichen Gegenwart rekonstruiert wird, läuft die Sozialphilosophie gewiss nicht mehr auf einen fragwürdigen Existenzialismus hinaus, den Foucault als ihm widerwärtigen »weichen Humanismus« verächtlich gemacht und den Levinas, mit Blick auf diese Kritik Foucaults, als ironischerweise »nicht human genug« bezeichnet hat. 74 Vielmehr läuft sie auf eine radikale, in historischer Perspektive unabdingbare Revision der Grundstrukturen menschlicher Existenz hinaus, die ausdrücklich auch die geschichtlichen Bedingungen würdigt, unter denen sie gerade als soziale rückhaltlos in Frage gestellt wurden und weiterhin in Frage gestellt werden.

Foucault, Von der Subversion des Wissens, S. 22; Levinas, Gott, der Tod und die Zeit, S. 194.

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Teil B Der Auftritt des Anderen

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Kapitel V Der Andere spricht uns an Zum Ursprung und Sinn menschlicher Sprache

Mehr als die Stürme, mehr als die Meere haben die Menschen geschriien … wir: Hörende endlich! rufend zugleich und bange, daß einer den Ruf vernimmt, und zum Untergange in einem Andern bestimmt. Rainer M. Rilke 1

1.

Von der menschlichen Sprache (zurück) zur Stimme des Anderen

Wie alt auch immer die Gattung homo sapiens sapiens sein mag, ihre Geschichte wäre nicht möglich geworden ohne die Fähigkeit symbolischer Kommunikation. 2 In diesem Sinne muss es sich von Anfang an um eine soziale Geschichte gehandelt haben, sobald derartige Kommunikation möglich wurde. Nach ersten Reflexionen über die Bedeutung der Sprache für eine politische Lebensform, die im Kontext der antiken Philosophie auf die Begabung zu vernünftiger Rede abstellten, dauerte es mehr als weitere zwei Jahrtausende, bis die Sprache als solche und die Sprachlichkeit der menschlichen Gattung einschließlich der ihr eigenen Historizität zur Sprache kam. Mit Franz Bopp, Wilhelm v. Humboldt und Jakob Grimm wurde die Sprache zum Objekt wissenschaftlicher Erkenntnis. Als Objekt schien sie im Zuge einer umfassenden Philologisierung erkennbar und im Zuge ihrer rückhaltlosen Historisierung zugleich beherrschbar zu werden. Was man den Einbruch der Geschichtlichkeit in die Sprache genannt hat, R. M. Rilke, Die Gedichte, Frankfurt/M., Leipzig 1998, S. 921, 568. L. S. Wygotski, Denken und Sprechen [1934], Frankfurt/M. o. J.; M. Tomasello, Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt/M. 2011.

1 2

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V · Der Andere spricht uns an

hat nicht nur deren Alter, ihre idiomatischen Verzweigungen, ihre tief greifenden kontingenten Umformungen, ihre außerordentliche semantische Liquidität und die interkulturelle Diffusion sprachlicher Artikulationsmöglichkeiten der Menschen zu Bewusstsein gebracht, sondern auch machtpolitische Aspirationen geweckt. Man hoffte, sich der jeweils eigenen Sprache als einer »nationalen Geisteskraft« bemächtigen und auf diese Weise zugleich in unzweideutiger Abgrenzung von Fremden sich seiner selbst vergewissern zu können. So geriet die Sprache – als langue, nicht als parole – zum manipulierbaren Objekt politischer Bemächtigung. Von Humboldts Theorie der enérgeia der Sprache als einer gelebten Wirklichkeit über die Pragmatik bis hin zur Karriere des Performativen in der Gegenwart macht sich freilich auch eine mächtige Gegenströmung bemerkbar, die in der als Objekt und virtuelles System begriffenen Sprache nur den sekundären Niederschlag eines sprachlichen Geschehens sieht, in dem sich allererst die Zeitigung all dessen vollzieht, was man der Sprache zutraut: Zeichengebung, Ausdruck, Kommunikation und Verständigung. Mindestens setzt diese Zeitigung die Anrede und Ansprechbarkeit eines Anderen voraus. Das haben mit Nachdruck vor allem jüdisch inspirierte Philosophen des 20. Jahrhunderts wie Franz Rosenzweig, Emmanuel Levinas und Jacques Derrida zur Geltung gebracht. Wenn sie als ›jüdisch inspiriert‹ zu bezeichnendes Sprachdenken betrieben haben, dann gewiss nicht deshalb, weil man sie in ethnischer, politischer oder religiöser Hinsicht entsprechend eindeutig klassifizieren könnte. Und auch nicht deshalb, weil ihr Denken mit einem dichten Geflecht jüdischer Traditionen verflochten ist, in dem sie sich immerhin selbst ausdrücklich immer wieder situiert haben. Vergessen wir nicht, dass gerade diesen Traditionen eine extreme Infragestellung dessen zu verdanken ist, was es überhaupt bedeutet, an eine Überlieferung anzuknüpfen, die in ihren subtilsten Formen eben das, worum es ihr religiös geht, verbirgt und der Aussagbarkeit (nicht aber der Ansprechbarkeit) entzieht, um es als solches, jeglichem menschlichen Zugriff Entzogenes, zu bewahren. Keineswegs wollten die Genannten als kabbalistische Schriftmystiker gelten, die auf der Spur einer ursprünglichen Stimme, welche die menschliche Sprache als solche inauguriert, immer neue Verrätselungen ihres Ursprungs produzierten. Aber sie wussten sich doch zutiefst einem Sprachdenken verpflichtet, das gerade im Wissen um die vielfache Verschüttung, Entstellung und Dissemination menschlicher Sprache unauf180 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

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hörlich nach dem wahren ›Einsatz‹ menschlicher Rede sucht, ohne dessen fortwährende Erneuerung die als virtuelles System begriffene Sprache buchstäblich keine Bedeutung hätte. 3 Diese Suche macht weder die Erforschung der Vielzahl menschlicher Sprachen obsolet, noch zwingt sie dazu, jenen Einsatz naiv als geschichtlichen Ursprung der Sprache zu begreifen. Vielmehr forscht sie nach einer wie auch immer entstellten Wiederholung des Ursprungs in der ›zerstreuten‹ Rede, selbst in der Rede, die ihn verleugnet. Wenn dabei irgendetwas – zumindest prima facie – als spezifisch jüdisch gelten kann, dann dies: die Apologie menschlicher Ansprechbarkeit, die trotz aller Deformation und Gewalt, der die Sprache unterliegt und die sie gelegentlich (in sog. hate speech, aber auch in Formen radikaler Vergleichgültigung Anderer) bis zur Unkenntlichkeit entstellt, zu bezeugen ist. Die Werke jüdischer Philosophen wie Rosenzweig, Buber und Levinas sind freilich in einer schier unentwirrbaren Gemengelage von heterogenen Gedanken situiert, die einander in Jahrtausenden angezogen und durchdrungen, aber auch abgestoßen und inspiriert, befremdet, durch Befremdung inspiriert und durch Inspiration befremdet haben. Dem wird kein Versuch gerecht werden können, durch immer neue Absteckung von dichten Grenzen exklusive Traditionen wie Besitztümer in Beschlag zu nehmen, deren Identität nur als eindeutig diesseits oder jenseits einer (etwa ›deutsch-jüdischen‹ oder ›theologisch-philosophischen‹) Demarkationslinie auszumachen Überaus deutlich wird das in G. Scholems Rekonstruktion der Sprachtheorie der Kabbala in: Judaica III. Studien zur jüdischen Mystik, Frankfurt/M. 1973, S. 7–71. Sie betont die Auffassung der reinen Ursprünglichkeit der Stimme Gottes, die die menschliche Sprache als »wichtigste Erbschaft des Judentums« stifte, aber zugleich auch deren rückhaltlose Auslieferung an eine sie entstellende und verbergende, sie dadurch zugleich verfälschende und bewahrende Tradition nach sich ziehe. In Scholems Ausführungen kommt es zu eigentümlichen Verwerfungen, die hier nicht weiter zu berücksichtigen sind; so z. B. zwischen dem Rekurs auf eine »akustisch« (!) vernehmbare Stimme im Gegensatz zu einem Primat der Schrift, zwischen einer Mystik der Schrift bzw. des Buchstabens und einer ethischen Ansprechbarkeit des Menschen durch die Stimme des Anderen, aber auch zwischen einer privilegierten »menschlichen« Sprache und der Vielfalt der Sprachen. Geht man von letzterer aus, wie es die moderne Sprachforschung verlangt, so zeigt sich, wie weit der sprachmystisch leichtfertig abgekürzte Weg von einer vielfältigen Ansprechbarkeit in einer Sprache (unter vielen) bis zu einem angeblich ersten Wort tatsächlich ist, dem zugetraut wird, vor aller menschlichen Sprachenvielfalt geradezu die Menschlichkeit des Menschen (primär im Modus des Gewissens, im Antworten auf einen ›stillschweigenden‹ Anspruch des Anderen) zu stiften. 3

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V · Der Andere spricht uns an

und zu bewahren wäre. Viel reizvoller, aber auch dringlicher ist die Frage, ob das, was sich aus europäischen, biblischen, deutschen, jüdischen Quellen speist, eine neue Form inter- oder trans-nationaler Gastlichkeit hervorbringen kann, die aufgeschlossen gerade für diejenigen wäre, welche nicht in ›unseren‹ Überlieferungen verwurzelt sind oder ihnen fremd und ablehnend gegenüber stehen. Warum ist an dieser Stelle von Gastlichkeit die Rede? Sprache beginnt überhaupt nicht mit der seit Aristoteles so überaus privilegierten Aussage und auch nicht mit dem Gespräch oder Diskurs, in dem man möglichst rationalen Austausch pflegt; vielmehr setzt Sprache mit dem Anspruch des Anderen oder mit seiner Anrede ein (ggf. auch mittels eines lautlosen, bittenden Blickes). Ohne Anspruch bzw. Anrede eröffnet sich nicht einmal ein kommunikativer Raum, in dem Argumente auszutauschen oder Aussagen zu beurteilen wären. Paradoxerweise kommt aber diese elementare Voraussetzung dessen, was man mit Derrida die »Eröffnung der Sprache« als solcher nennen kann, erst in den letzten Jahrzehnten zum Vorschein – wie in einer zentripetalen Bewusstwerdung. 4 Man forscht nach dem Ursprung dieser Eröffnung aber nicht mehr in anthropogenetischer Perspektive, d. h. im Rückgang auf die Gattungsgeschichte, sondern vermutet ihn als ständig neu zu wiederholenden in der Zwischenmenschlichkeit des Geschehens von Anrede und Erwiderung selbst, das die Sprache und ihren Sinn jederzeit radikal in Frage stellen kann. Keineswegs ist dieser Sinn durch die Anthropogenese sprechender Lebewesen ein für alle Mal verbürgt. Im Gegenteil kann ihm der (gewaltsame) Gebrauch der Sprache wie auch die Verweigerung von Anrede und Erwiderung radikal zuwiderlaufen. So zwingen nicht zuletzt Phänomene der Sprachzerstörung dazu, wieder nach dem Sinn der Sprache zu fragen, der sich offenbar nicht darin erschöpft, möglichst eindeutig Wahres auszusagen, worauf man die Sprache von Platon bis hin zur sprachanalytischen Philosophie vorrangig verpflichtet hat. Weniger denn je sind wir uns dieses Sinns gewiss. Wir müssen die Sprache deshalb dort aufsuchen, wo sie rückhaltlos auf dem Spiel steht und zeigt, was sie kann – oder fatal versagt. Es bedarf wohl keiner näheren Erläuterung dessen, wie brisant diese Fragestellung zumal in politischer Hinsicht in einer Zeit ist, die vielen nichts überzeugender erscheinen lässt als die ›Aufkündigung‹ jeglicher Gemeinsamkeit mit

4

Vgl. J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1976, S. 150.

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Anderen, vor allem mit radikalen Feinden, von denen man sich am Ende nicht einmal mehr ansprechen lassen will. Diese Ansprechbarkeit, ohne die die Sprache als System keinerlei menschliche Bedeutung hätte, hat nach der Überzeugung jener jüdisch inspirierten Philosophen niemand sich selbst zu verdanken (als Subjekt sogenannten ›Sprachgebrauchs‹). Sie ist vielmehr dem Anderen zu verdanken, wer auch immer er oder sie ist, woher auch immer sein oder ihr Anspruch rührt. Sprache ist so gesehen vom Anspruch des/r Anderen bzw. von seiner/ihrer Ansprechbarkeit her zu denken. Dieser Gedanke kann und muss sich vielleicht anlehnen an eine jüdische Überlieferung. Doch eine solche Anlehnung an sie muss nicht auf eine exklusive Berufung auf sie hinauslaufen. Letztlich geht es um die universale Dimension der Eröffnung menschlicher Sprachlichkeit, die durch keine ein für alle Mal erfolgte Stiftung ihres vermeintlichen Ursprungs verbürgt ist. Im Gegenteil steht sie immer wieder radikal auf dem Spiel. Das zeigt sich, wenn jeglicher Anspruch Anderer in Abrede gestellt oder radikal ignoriert wird und wenn deren Ansprechbarkeit in keiner Weise mehr garantiert erscheint. Was so als politische Frage unübersehbar brisant wird, führt uns heute mehr denn je auf die Spur der radikalen, zwar jüdisch inspirierten, aber im Kern universalen Frage, wie die Sprache der Menschen eine ›menschliche‹ sein, bleiben oder (wieder) werden kann. Auf diese Frage gibt das hier angesprochene jüdische Sprachdenken eine ethische Antwort – nicht aber im Rekurs auf die Naturgeschichte der menschlichen Gattung, sondern im Rückgang auf die Stimme des Anderen. Wie sich dieses ethische Sprachdenken auf der Spur der Stimme eigentümlich kreuzt mit der gewöhnlich naturgeschichtlich aufgeworfenen Frage nach dem Ursprung der menschlichen Sprache, ist Gegenstand der folgenden, weitgehend auf die Tradition des Expressivismus fokussierten Überlegungen, die zugleich deutlich machen sollen, wie sehr das Aufkommen sprachphilosophischer Reflexion speziell seit dem 18. Jahrhundert im Rückblick verknüpft ist mit einer zunehmenden Radikalisierung einer Ethik menschlicher Sprachlichkeit, die erst im 20. Jahrhundert voll zur Geltung gekommen ist – nachdem man jegliche Gewissheit in der Frage eingebüßt hatte, wie Sprache und menschliche Natur zusammen zu denken sind.

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V · Der Andere spricht uns an

2.

Die menschliche Stimme

Es kann keine Rede davon sein, dass nach Jahrhunderten der »Sprachvergessenheit des abendländischen Denkens« (Hans-Georg Gadamer) bzw. der »Sprachunbewusstheit« (Jürgen Trabant) oder der »Sprachverkennung« (Albrecht Wellmer) mit Johann G. Herder, Wilhelm v. Humboldt, Georg W. F. Hegel und schließlich Ernst Cassirer die Sprachphilosophie auf ein für alle Mal gesichertem Fundament stehen würde. 5 Das zeigt sich nicht zuletzt an der Aufwertung, die die menschliche Stimme als Medium eines Sagens, das im Gesagten bzw. Verlautbarten nicht aufgeht, bei Emmanuel Levinas und anderen erfahren hat. Levinas folgt dabei der Spur des (sei es expliziten, sei es impliziten, im bloßen Blick zum Ausdruck kommenden) Anspruchs des Anderen, den er in der Figur des Vokativs u. a. bei Martin Buber und Franz Rosenzweig zur Sprache gebracht fand, die sie, wie könnte es anders sein, nicht zuletzt mit einer neuen Auslegung der Abraham-Isaak-Fabel verknüpften. Obwohl der Stimme des Anderen hier bereits ein sprachphilosophisch zentraler Platz zukommt, hat sie bis heute ungeachtet mancher ›Rehabilitationsversuche‹ nach wie vor einen schweren Stand. 6 Mal bemängelt man mit Hegel, dass sie der Irreversibilität der Zeit nichts entgegenzusetzen habe; mal verdächtigt man sie mit Derrida, einer weitgehenden Leugnung radikaler Abwesenheit, d. h. einer Ideologie ungetrübter Gegenwart des Subjekts bei sich Vorschub zu leisten. 7 Und wo sich die Philosophie im Besitz reiner, idealer Bedeutungen wähnt, scheint die Stimme nur mehr der »Signalisierung von Erlebnisgehalten« zu dienen, deren expressive Mitteilung bloß sekundär in Betracht kommt oder sogar vernachläsH.-G. Gadamer. Hermeneutik I. Wahrheit und Methode (Gesammelte Werke, Bd. 1), Tübingen 61990, 422; J. Trabant, Artikulationen. Historische Anthropologie der Sprache, Frankfurt/M. 1998, Kap. 5; A. Wellmer, Wie Worte Sinn machen. Aufsätze zur Sprachphilosophie, Frankfurt/M. 2007, S. 7 f. – Zur Fragwürdigkeit des nachträglichen Ziehens gewisser Traditionslinien, auf denen es zur Aufhebung dieser defizitären Lage gekommen sein soll, vgl. J. Trabant, Traditionen Humboldts, Frankfurt/M. 1990 (= TH), S. 61 f., 67 zur ›Linie‹ Humboldt-Steinthal und zur ›Linie‹ Humboldt-Cassirer. 6 Vgl. Trabant, Artikulationen, Kap. 5; D. Kolesch, S. Krämer (Hg.), Stimme, Frankfurt/M. 2006; Vf., »Die Stimme des Anderen. Kritische Anmerkungen zu ihrer aktuellen ›Rehabilitierung‹«, in: Renaissance des Menschen? Zum polemologisch-anthropologischen Diskurs der Gegenwart, Weilerswist 2010, Kap. V. 7 J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1985, Kap. VII. 5

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sigbar erscheint, wie Jürgen Habermas gegen Edmund Husserl eingewandt hat. Im Übrigen erfreut sich die Stimme aber metaphorischer Beliebtheit, die uns vielfach im Unklaren darüber lässt, mit welchen Phänomenen wir eigentlich zu tun haben, wenn von ihr die Rede ist. So sagt die Stimme des Gewissens bei Martin Heidegger im Grunde nichts; ihr Ruf macht weder Lärm, noch enthüllt er eine Botschaft. Wenn das Dasein im Gewissen sich selbst ruft, wie Heidegger schreibt, so bleibt es doch stumm. Und wenn die Stimme als Stimme des Gewissens ›das Menschliche‹ des Daseins ausmachen soll, so muss man doch feststellen, dass es sich nur um eine Art Schweigen handelt. 8 Demgegenüber sucht Paul Ricœur in einer gewagten Verknüpfung von Kant, Heidegger und Levinas den Gedanken zu retten, dass sich mittels der besagten Stimme ein vom Anderen affiziertes Selbst bezeuge, das sich dazu aufgerufen erfahre, dem Anspruch bzw. Ruf des Anderen gerecht zu werden. Auch der Anspruch des Anderen braucht nicht laut zu werden; dennoch soll er angesichts des Anderen etwas Bestimmtes sagen bzw. besagen: du sollst nicht töten nämlich. Jedes Gesicht sei in diesem Sinne »ein Berg Sinai«, der das Selbst als radikal vom Anderen affiziert zu denken zwinge, schreibt Ricœur in Das Selbst als ein Anderer. 9 Wer der Andere letztlich ist, woher der »Ruf« des Anderen stammt und was er vernehmen lässt, kann allerdings keine Philosophie des Selbst aus eigener Kraft ermitteln. Erklärtermaßen bewegt sie sich hier auf der Spur einer Überlieferung, die sich in Gershom Scholems Worten als Tradition zwischen das »Absolutum des göttlichen Wortes, welches die Offenbarung ist, und dessen Empfänger stellt« 10; und zwar so, dass man sich nur noch auf der Spur des Wortes bewegen kann, ohne es je in ursprünglicher oder reiner Form zu vernehmen. 11 P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 418. Ebd., S. 404, 411. Ob die auf diese Weise im Lichte der Herrschaft des moralischen Gesetzes nahegelegte Deutung der Affizierbarkeit des Selbst vom Anspruch des Anderen überzeugt, bleibe dahingestellt. Darauf wird zurückzukommen sein (Kap. IX, 3). 10 G. Scholem, Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt/M. 1996, S. 105. 11 Scholem hat in seinem Buch über die Kabbala und ihre Symbolik gezeigt, wie weit dieser Gedanke bezeichnenderweise gerade von denjenigen getrieben worden ist, die sich rückhaltlos der jüdischen Überlieferung überantwortet haben. Dem Rabbi Mendel von Rymanów werde eine »volle Zuspitzung« von Gedanken des Maimonides zugeschrieben, die besagten, »nicht einmal die ersten beiden Gebote [stammten] aus einer unmittelbaren Offenbarung«. Auf jene Spur führte demnach nichts als jenes 8 9

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V · Der Andere spricht uns an

Was bliebe demnach vom Ursprung der menschlichen Sprache im Geist dieser Überlieferung? Kein Wort und erst recht keine Aussage jedenfalls; lediglich die überlieferte und in der Rezeption der Überlieferung 12 jedes Mal aufs Neue sich abzeichnende, aber auch vielfach verwischte oder entstellte Spur des Übergangs zur menschlichen, vernehmbaren Sprache bzw. das, was bei Derrida die Eröffnung der Sprache als solcher heißt. Diese Eröffnung hat nicht im Tier-Mensch-Übergangsfeld in einer fernen Vergangenheit der menschlichen Gattung ein für alle Mal stattgefunden; vielmehr ereignet sie sich dort, wo der Andere angesprochen wird. Ohne Ansprechbarkeit des Anderen kann es keine ›menschliche‹ Sprache geben, die sich ihrerseits auf der Spur der Stimme des Anderen bewegt, welche die Menschen in Anspruch nimmt. Indessen reduziert sich der Anspruch des Anderen für Ausleger der Thora wie Levinas nicht auf akustisch Vernehmbares. 13 »Menschlich« wird die Sprache nur durch eine Ansprechbarkeit im Modus der Verantwortlichkeit, die »von der jüdischen Bibel entdeckt« worden sei, aber von Anfang an »in der Menschlichkeit des Menschen angelegt« gewesen zu sein scheint. Das suggeriert Levinas in seiner Auseinandersetzung mit Wassili Grossman. 14 So gesehen kann man nur in ethischen Begriffen von hebräische Aleph, das Scholem unter Hinweis auf die kabbalistische Überlieferung als das Element präsentiert, »aus dem jeder artikulierte Laut stammt«. »In der Tat haben die Kabbalisten den Konsonanten Aleph stets als die geistige Wurzel aller anderen Buchstaben aufgefaßt, der in seiner Wesenheit das ganze Alphabet und damit alle Elemente menschlicher Rede umfaßt. Das Aleph zu hören ist eigentlich so gut wie nichts, es stellt den Übergang zu aller vernehmbaren Sprache dar […].« G. Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt/M. 1973, S. 47 f. Schon des öfteren ist auf die Verwandtschaft des Aleph mit Derridas différance hingewiesen worden. 12 Zum Traditionsdenken Scholems vgl. S. Weigel, »Scholems Gedichte und seine Dichtungstheorie«, in: A. Noor (Hg.), Erfahrung und Zäsur. Denkfiguren der deutsch-jüdischen Moderne, Freiburg i. Br. 1999, S. 253–282, hier: S. 259, 263. Die Autorin betont den der überliefernden Tradition rückhaltlos überantworteten Ursprung der Sprache, der keine »Aussprechbarkeit«, wohl aber »Ansprechbarkeit« derer, die sich in ihr situieren, auf der Spur einer abwesenden Stimme impliziere. 13 Eben das legt Scholem in seiner Interpretation kabbalistischer Sprachtheorie nahe, der es allein um die Ansprechbarkeit Gottes geht. Doch setzt auch diese Theorie einen der Spur dieser Ansprechbarkeit folgenden Leser der Thora voraus und beruft sich explizit auf die Stimme des Anderen. Levinas, scheint mir, wendet die offenbar derart zweideutige Ansprechbarkeit ganz und gar ins sog. »Zwischenmenschliche« und lässt zugleich jeglichen schriftmystischen Ansatzpunkt hinter sich; vgl. Scholem, Judaica III, S. 7, 15, 38 f., 53. 14 E. Levinas, Jenseits des Buchstabens, Bd. I, Talmud-Lesungen, Frankfurt/M. 1996, S. 14; sowie ders., Stunde der Nationen, Talmudlektüren, München 1994, S. 98, 103.

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Die menschliche Stimme

›menschlicher‹ Sprache sprechen; und zwar unter Rekurs auf eine Affizierbarkeit durch den – sei es expliziten, sei es stillschweigenden – Anspruch des Anderen, der nicht laut werden muss, um doch, auch widerwillig, als dessen ›Stimme‹ Gehör zu finden. Gewiss ist Levinas kein Sprachmystiker, der im Entziffern rätselhafter Buchstaben oder in deren exaltierter Artikulation religiöse Geheimnisse bezeugen möchte. Doch glaubt auch er an die Sprache als Spur einer ursprünglichen Stimme, die selbst dann noch vernehmbar bleiben soll, wenn die Überlieferung sie zu verschütten droht. Prima facie könnte dieser Ansatz eines ethisch-jüdischen Sprachdenkens kaum entfernter sein von der meist Herder und Humboldt zugeschriebenen (in Wahrheit aber weiter zurückreichenden und im Jahrhundert der Aufklärung weiter verbreiteten) Rehabilitierung der Frage nach dem Ursprung menschlicher Sprache, die gerade von der Artikulation der Stimme ausgeht, ohne dabei deren ethischen Sinn vorauszusetzen. Doch zeigt sich bei näherem Hinsehen, wie sich schon das ›naturgeschichtliche‹ Fragen nach dem Ursprung der Sprache auf bloße Hypothesen (Jean-Jacques Rousseau 15) zurückziehen musste und außerstande war, im Rekurs auf den vermeintlichen Ursprung zugleich den Sinn menschlicher Sprache aufzuklären. Das gilt sowohl für die gattungsgeschichtliche als auch für die ontogenetische Frage nach ihrem Ursprung. Jean Itard, der unter seinerzeit verbreitetem Rückgriff auf Étienne B. de Condillac die Entwicklung der Sprache beim Einzelnen studierte, vermisste bei seinem wilden Schützling Victor v. Aveyron, an dem er die Theorie Condillacs hoffte bestätigt zu finden, alsbald den »wahren Gebrauch des Wortes«. 16 Doch worin liegt der überhaupt? Im Ausdruck von Empfindungen Die skizzierte Deutung beziehe ich auf die Seiten 135–140 ebd. In dem Aufsatz »Monotheismus und Sprache« (1952) benennt der Autor die unbedingte und unumgängliche Herausforderung zu antworten und ein Gespräch mit dem Anderen aufzunehmen, als den Kern seiner Philosophie (Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt/M. 1992, S. 126). Genau darauf ist Levinas’ Deutung jener »Sprachvergesssenheit« zu beziehen, die zu einer »Welt ohne Wort« geführt habe, in der sich »das ganze Abendland wieder[erkennen]« müsse (ebd., S. 157), wie Levinas wenig später (1957) schreibt. – Vgl. zu Levinas und Grossman Vf., »Der Feind als Mensch und der Mensch als sein eigener, radikaler Feind. Zeugnis einer unannehmbaren Gemeinschaft: Wassili Grossmans Leben und Schicksal«, in: Renaissance des Menschen, Kap. III. 15 Vgl. W. Franzen, »Einleitung«, in: P. L. M. de Maupertuis, Sprachphilosophische Schriften, Hamburg 1988, S. VII–LXIV, hier: S. XXXVI. 16 S. Moravia, Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Auf-

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V · Der Andere spricht uns an

als solchem? Im Ausdruck von Gedanken als geistiger Verleiblichung und Darstellung eines ansonsten unzugänglichen Innenlebens? Oder darin, sich kommunikativ auszudrücken? Genau das behauptet Charles Taylor in einer einflussreichen Reinterpretation der wie üblich v. a. mit den Namen Herder und Humboldt verknüpften Grundlegung moderner, als expressivistisch charakterisierter Sprachphilosophie. Damit verknüpft Taylor die These, im Rekurs auf den Ursprung der menschlichen Sprache habe man endlich auch ihren genuinen Sinn entdeckt, den Sinn nämlich, der »Tiefe« subjektiver Erfahrung zu kommunikativem Ausdruck zu verhelfen. Diese Einschätzung steht in bemerkenswertem Kontrast zu einem Sprachdenken jüdischer Provenienz, das im sei es naturgeschichtlichen, sei es evolutionären Rekurs auf den Ursprung oder auf die zerstreuten Anfänge menschlicher Sprache gerade die ethische Dimension ihres Sinns verkannt sieht. Am Beispiel der menschlichen Stimme soll im Folgenden deutlich werden, wie sich die naturgeschichtliche Perspektive des Forschens nach dem Ursprung menschlicher Sprache öffnet für die Infragestellung ihres ethischen Sinns und wie umgekehrt die in vor allem jüdisch inspirierter Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts bedachte ethische Eröffnung der menschlichen Sprache als solcher nachträglich zu einer Revision des Ursprungsdenkens führen kann. So möchte ich gleichsam einen virtuellen Fluchtpunkt markieren, an dem sich die in der Aufklärung angebahnte Frage nach dem Ursprung der menschlichen Sprache mit deren Ethik überschneidet und wo umgekehrt die Ethik einen ›rein menschlichen‹ Ursprung in Betracht zieht. 17 Zuerst klärung, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1977, S. 100; L. Malson, J. Itard, O. Mannoni, Die wilden Kinder, Frankfurt/M. 1972, S. 105–220. 17 Eine nähere, hier nicht zu leistende Untersuchung müsste zeigen, wie sich in Folge dieser Fragestellung das Verständnis des »Ursprungs« menschlicher Sprache verändert, der einerseits gewiss nicht mehr als »naturhistorischer« gelten kann, andererseits aber auch nicht in gattungsgeschichtlich zerstreuten Anfängen menschlicher Sprachlichkeit sich auflöst oder auf die Frage der systematischen Beschaffenheit der Sprache zu reduzieren ist; vgl. W. Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, Frankfurt/M. 1995, S. 34. Im Übrigen sind die folgenden Überlegungen weit entfernt davon, die Ethik der Sprache umfassend anzusprechen. Ganz außer Betracht bleibt der seit J. Böhme geläufige Topos der adamitischen Namengebung sowie das Denken der Sprache im Zeichen des Bösen (vgl. ebd., S. 43 f.), aber auch die mit dem Namen J. G. Hamanns verbundene »säkularisierende Anverwandlung« sprachmystischer, v. a. kabbalistischer Topoi im Sinne einer im alltäglichen Sprachgebrauch »rein auf den Menschen« gegründeten Erfahrung eines integralen Zusammenhangs

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gehe ich kurz auf die Tradition des Expressivismus und ihren sprachphilosophischen Ertrag ein, wie er bei Taylor gesehen wird (3.); zweitens möchte ich (im Rückgang auf Herder, Humboldt und Hegel) zeigen, wie in dieser Tradition die menschliche Stimme zur Geltung kommt (4.); und drittens werde ich daran erinnern, wie sich in einer jüdischen Perspektive von Rosenzweig und Levinas her die Herausforderung stellt, die Eröffnung der Sprache als solche neu zu bedenken (5.). Indem ich diese Frage mit der Tradition des Expressivismus konfrontiere, verfahre ich eingestandenermaßen in gewisser Weise anachronistisch. Ich erzähle keine ›Geschichte‹ in chronologischer Ordnung nach. Vielmehr skizziere ich eine nachträgliche Infragestellung der modernen, besonders expressivistisch ansetzenden Sprachphilosophie ausgehend von der menschlichen Stimme und von der ethischen Bedeutung, die ihr im jüdischen Kontext meiner Bezugsautoren zugeschrieben wird. Es wird so gesehen um weit mehr gehen als ›nur‹ um Sprache. Zur Diskussion steht, was ›uns‹ (selbst Fremde) – minimal, wenigstens – miteinander verbindet: wenn nicht die Zugehörigkeit zu einer Kultur, das Sprechen einer Sprache oder die Abstammung von einem weit entfernten Ursprung, dann – vielleicht – wenigstens die Ansprechbarkeit durch die Stimme des Anderen. Es geht insofern um den menschlichen Sinn der Sprache selbst. Wer das für eine reichlich hoch gegriffene und kaum einlösbare Formulierung hält, der sei u. a. daran erinnert, dass der Sprachtheoretiker Jürgen Trabant in seinem Essay Hören und Erwidern. Vom Ohr zur Stimme in der deutschen Sprachphilosophie um 1800 einen zentralen Abschnitt genau so betitelt hat: »Der Sinn der Sprache«. Die Rede ist dann davon, dass »die Sprache den Menschen menschlich macht«; »und wenn das Ohr das Organ für dieses Menschliche überhaupt ist, dann ist natürlich auch das Ohr der menschliche Sinn par excellence« oder, in Herders Worten, die »eigentliche Thür zur Seele« (TH, S. 179 f.). Derartige Formulierungen gehen uns heute nicht mehr leicht von den Lippen. Nicht nur der Philosophie und der Psychologie ist längst die Seele abhandengekommen; wir möchten auch gerne wissen, was denn durch jene »Tür« Einlass finden oder begehren soll. Wenn das Ohr bzw. das Gehör nicht bloß Gegenstand einer Physiologie der Sinne sein kann, weil es mit einem Begehren zu tun hat, für von Vernunft und Offenbarung (ebd., S. 7, 20 ff., 196 f., 211). Die speziell ethischen Implikationen dieses Ansatzes wären allemal erst herauszuarbeiten.

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V · Der Andere spricht uns an

das es sich als mehr oder weniger ›aufgeschlossen‹ erweisen kann (oder muss), bezeugt es dann, im Maße seiner Aufgeschlossenheit, zugleich das, was denjenigen, der hört, ›menschlich‹ macht? Bewegen wir uns, wenn wir hier von einem Begehren und Bezeugen reden, überhaupt noch auf bloß sprachphilosophischem Gelände? Auf diese Frage komme ich am Ende zurück. Zuerst aber nun zum Begriff des Expressivismus bei Taylor.

3.

Von Charles Taylor (zurück) zu Johann G. Herder

Geläufig ist der Begriff Expressionismus als Bezeichnung für eine Kunstrichtung des 20. Jahrhunderts. Genau so lautete ursprünglich der Terminus, um den es hier als Bezeichnung einer radikalen Wende im modernen Sprachdenken bzw. einer originären Hinwendung zu einer unverkürzten Sprachphilosophie überhaupt geht. Dieser Terminus findet sich bei Isaiah Berlin, auf den sich der kanadische Philosoph Charles Taylor wiederholt beruft. Um aber irreführenden Verwechselungen vorzubeugen, entschloss sich Taylor in seinem HegelBuch zu einer terminologischen, von Berlin offenbar akzeptierten Weichenstellung und ersetzte den Begriff Expressionismus durch den Terminus expressivism. 18 Dabei unterstellt er, weiterhin das zu meinen, was Berlin in seiner Situierung Herders im Kontext der Aufklärung im Blick gehabt habe. 19 Taylor stützt sich auf Berlin, um in dessen Reinterpretation der Geschichte moderner Sprachphilosophie tatsächlich so etwas wie eine – verborgene, noch längst nicht im Ganzen ausgelotete und ausgeschöpfte 20 – Tradition sichtbar zu machen, die das Phänomen des menschlichen, sprachlich vermittelten Ausdrucks ins Zentrum ihres Interesses gerückt hat. Ich werde darauf zunächst eingehen, um dann zu zeigen, dass diese Tradition des ExC. Taylor, Hegel, Frankfurt/M. 1978, S. 28. Vgl. I. Berlin, »Herder and the Enlightenment«, in: The Proper Study of Mankind, London 1995, S. 359–435; I. Markova, »The origin of the social psychology of language in German expressivism«, in: British Journal of Social Psychology 22 (1983), S. 315–325. Einen frühen Hinweis auf diese historischen Zusammenhänge und auf diesen Text verdanke ich Carl F. Graumann. 20 Diese Tradition ließe sich ohne weiteres vom sog. Paradox des Ausdrucks bei Merleau-Ponty ausgehend bis in die Gegenwart hinein fortschreiben, was bei Taylor weitgehend unberücksichtigt bleibt. Vgl. M. Merleau-Ponty, Die Prosa der Welt, München 1984, S. 33–68. 18 19

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pressivismus nicht allein aus diesem Grund so bemerkenswert ist; vielmehr scheint sie mir besonders deshalb bedenkenswert, weil sie vom Phänomen des Ausdrucks aus den Sinn menschlichen Sprechens und menschlichen Lebens überhaupt, insofern es ein durch sprachliche Expression zu realisierendes ist, (erstmals) radikal in Frage gestellt hat. Herder wird von Taylor als Wortführer einer Anthropologie des Ausdrucks vorgestellt, die nicht etwa zu einem vormodernen Begriff mit Bezug auf ein vom Ausdruck zu realisierendes Ideal zurückkehre, das sich an einer vorgegebenen, idealen Ordnung orientiert 21; vielmehr gehe es Herder um den originären Ausdruck einer individuellen Subjektivität als »Realisierung eines Selbst«, das sich nicht als bloße Verwirklichung eines Plans oder einer Idee begreifen lasse. Der Sinn der Realisierung liege nicht darin, hervorzubringen, was wir ohnehin sind (mit Aristoteles: Menschen oder ›sprechende Lebewesen‹ usw.), sondern darin, sichtbar werden zu lassen, wer wir sind bzw. überhaupt erst werden – als ein Selbst, das uns auf unsere »eigene Art menschlich« sein oder werden lasse. 22 Dieses Selbst zeichnet sich nur im Nachhinein ab im Zuge einer nachträglichen Bewahrheitung des Ausdrucks: Bis er möglich war, wussten wir nicht, »was wir wirklich fühlten oder wünschten«. 23 Taylor spricht in diesem Zusammenhang von einer »Klärung« der Bedeutung des Ausdrucks. Doch dessen nachträgliche Klärung greift tiefer in das zum Ausdruck zu Bringende ein, als es Taylor vermuten lässt, wo er nur von der Vervollständigung einer individuellen Art und Weise spricht, Mensch zu sein. Die Realisierung des Ausdrucks ›klärt‹ nicht nur, ›was wir [ohnehin] sind‹, sondern zeitigt womöglich ein neues Selbst, nicht zuletzt in den Medien der Kunst und der Sprache, die sich nicht mehr an einem vorgegebenen lógos orientieren, sondern ›poietische‹ Kraft gewinnen. Dabei lässt die Poetizität der Sprache ihr traditionelles Verständnis als Mittel bloßer Repräsentation hinter sich. 24 Mit dieser Auffassung des Expressivismus verknüpft Taylor eine Taylor, Hegel, S. 29 Ebd., S. 30. 23 Ebd., S. 32 f.; vgl. C. Taylor, Philosophical Arguments, Cambridge, London 1995 (= PhA), S. 79, wo I. Berlins Interpretation Herders im Sinne einer »expressivist notion of the human person« in Anspruch genommen wird. 24 Taylor, Hegel, S. 32–37; B. H. F. Taureck, Metaphern und Gleichnisse in der Philosophie. Versuch einer kritischen Ikonologie der Philosophie, Frankfurt/M. 2004, S. 74. 21 22

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weit reichende Umdeutung des Sinns neuzeitlicher Philosophie: Erst der Expressivismus habe es – schließlich bei Heidegger und Maurice Merleau-Ponty – möglich gemacht, ein epistemologisch beschränktes Denken zu überwinden, das ein von der Welt distanziertes, in ihr nicht situiert vorzustellendes Subjekt lediglich im Modus der Repräsentation mit einer indifferenten äußeren Welt von Dingen in Beziehung habe treten lassen. Taylor will aber die Situierung des Subjekts in der Welt so verstehen, dass es als immer schon »engaged in realizing a form of life« zu gelten hat, d. h. als Teil einer Lebensform, die es mit Anderen teilt. Mit diesem Ansatz verbindet Taylor die weit reichende ›moralische‹ Aussicht einer Wiedereinfügung des sprechenden Subjekts in ein Kollektiv, in dem es seine Identität verbürgt finden soll – im Gegensatz zu einem welt-losen Subjekt, das nicht weiß, wer es ist (PhA, S. 8, 11 f.). Dem Denken einer solchen Wiedereinfügung hätten Herder und Humboldt bereits vorgearbeitet, die nun gleichsam als Proto-Kommunitaristen dastehen, zumal die Zugehörigkeit zu einer Lebensform auch die Identifikation mit sog. »starken Wertungen« einschließen soll. Gemeinsame Sprache »creates a bond of common understanding« und eine Sensibilität für richtigen Sprachgebrauch, der Dinge einschließe, die es wert sind, beachtet oder verwirklicht zu werden (PhA, S. 86 f., 106, 113). Einer Lebensform zuzugehören heißt so gesehen, »being responsive to issues of strong value« (PhA, S. 107, 120) und Teil einer moralischen Welt zu sein. Letztere bezeichnet Taylor auch als »our house of being« oder als gemeinsamen Raum, den Menschen miteinander teilen – wenn nicht alle, so doch wenigstens diejenigen, die sich den gleichen Werten verpflichtet fühlen (PhA, S. 109, 111). So geht Taylor sozialphilosophisch weit über Herder hinaus. Von Anfang an integriert er das sprachlich expressive Leben des Einzelnen einer kollektiven Lebensform, die sich durch starke Wertungen behauptet und abgrenzt; und zwar derart, dass man sich fragen muss, ob die Situierung des Subjekts, der Taylor mit Heidegger und Merleau-Ponty zur Geltung verhelfen will, nicht auf dessen kontextuelle Beschränkung hinausläuft. (Wird es sich nicht stets nur für diejenigen als ansprechbar bzw. im Modus des Hörens ›aufgeschlossen‹ erweisen, die seiner jeweiligen Lebensform moralisch zugehören?) Sprachphilosophisch nicht weniger brisant ist eine andere Weichenstellung, die Taylor mit Heidegger vornimmt. Die Situierung des 192 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

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Subjekts in der Welt soll nämlich konsequent nicht-subjektivistisch zu verstehen sein. Dass sich ihm überhaupt etwas als etwas zeigt, sei keinem subjektiven Tun zu verdanken, sondern einer ontologischen »Lichtung« (PhA, S. 9, 115), die jedes Wissen von der Welt und jede Repräsentation, Benennung und Bezeichnung bereits voraussetze. 25 So liest Taylor die Geschichte der modernen Sprachphilosophie von Heideggers »Hören auf die Sprache« und Merleau-Pontys Phänomenologie des Zur-Welt-Seins 26 her nachträglich neu. Aber bei Heidegger droht die Spur der Stimme des Anderen schließlich im Hören auf das Sein unterzugehen, geht es ihm doch um ein »Hören auf die Sprache […], nicht auf andere Individuen, denn ›eigentlich‹ spricht für Heidegger die Sprache selbst, unabhängig vom Menschen«. Es handelt sich, meint Manfred Riedel, um ein »monologisches Verständnis der Sprache, das sie aus dem dialektischen Urverhältnis der Zweiheit des Sprechen-Hörens herausbricht«. 27 Wenn die zunächst intuitiv formulierte These zutrifft, dass sich menschliche Sprache ohne die Stimme des Anderen (und das Hören bzw. Hören auf sie) nicht denken lässt, haben wir allen Grund dazu, die Geschichte des Expressivismus noch einmal neu zu lesen. Denn Taylor rekonstruiert sie ja so, als fände sie endlich beim späten Heidegger zu ihrer Wahrheit; dort aber verhallt der Ruf des Anderen ungehört oder kommt als solcher erst gar nicht zur Geltung. 28 Für Taylor ist Herder wirklich die »hinge figure«, die die Wende zu einer genuinen, nicht an Heidegger vorbei zu denkenden Sprachphilosophie einleitet. Eine entsprechende Einordnung müssen sich PhA, S. 10 f., 72, 75–78, 91. Ob Taylor mit diesem Kurzschluss Heideggers und Merleau-Pontys der Sache gerecht wird, bleibe dahingestellt (PhA, S. 22 f., 33, 25, 28). 27 Das kann so freilich allenfalls für den späten Heidegger, nicht schon für Sein und Zeit gelten; vgl. M. Riedel, Hören auf die Sprache. Die akroamatische Dimension der Hermeneutik, Frankfurt/M. 1990, S. 63 (= HS); M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 151984, S. 163 (§ 34). Im Übrigen lasse ich Riedels Bemerkung im Hinblick auf den späten Heidegger hier lediglich als wichtige Problemanzeige eines Forschungsdesiderats gelten, nicht als unanfechtbares Ergebnis. 28 In der Lichtung des Seins erweisen wir uns für Taylor als »responsive to a call« (PhA, S. 119); aber es ist fraglich, ob das bedeutet, auf jemanden zu hören (ebd., S. 124, 118). Überdies revoziert Heidegger ausdrücklich das (von Taylor bemühte) Verständnis der Sprache als »Ausdruck« (vgl. Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 61979, S. 14, 128 ff., 247 zum Begriff des Ausdrucks [von Gedanken] bei Humboldt, sowie S. 28 f. zum Begriff des »Heißens«). E. Levinas erkennt in diesem Kontext ein »Judaisieren« des ›griechischen‹ Denkens; Gott, der Tod und die Zeit, Wien 1996, S. 163. 25 26

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auch Humboldt, der die Sprache als enérgeia eines Rede-Geschehens denkbar gemacht hat, und Cassirer, der den Blick für die ganze Weite symbolischer Formen geöffnet hat, gefallen lassen (PhA, S. 98, 100). 29 Ich möchte mich aber im Folgenden mit wenigen Bemerkungen auf Herder konzentrieren, um dann zu fragen, ob von ihm her nicht die menschliche Stimme in einer Art und Weise zur Geltung kommt, die sich nicht auf den Expressivismus à la Taylor aufzäumen lässt.

4.

Johann G. Herder, Wilhelm v. Humboldt und der Ursprung der Sprache

Bekanntlich kommt Herder 30 in seiner Auseinandersetzung besonders mit Condillacs Modell des Ursprungs der menschlichen Sprache zu dem Schluss, aus purem Geräusch werde sich niemals die Sprache ableiten lassen (AUS, S. 17 ff.). 31 Zwar hätten die Menschen eine »Sprache der Empfindung« mit den Tieren gemeinsam – auf der Ebene »empfindsamer Maschinen«, die ihre Schmerzäußerungen beispielsweise »auf andre Geschöpfe richten« und sie infolge dessen zu »mitfühlendem Vernehmen« aufgrund eines offenbar für unverbrüchlich gehaltenen »Bandes der Natursprache« bewegen können (AUS, S. 15 f.). Doch die eigentliche Sprache setze erst mit der »Besonnenheit« ein, die nur in einem freien, von der Herrschaft des Instinkts befreiten Leben möglich sei (AUS, S. 28, 31). Was Herder freilich zum Sprachlernen schreibt, zeigt, dass er es auch in völliger Einsamkeit für möglich gehalten hat. Der ihm des öfteren zugeschriebene Primat des Gehörs bedeutet nicht, dass Herder es ›sozial‹, in Bezug auf den Anderen gedacht hätte. 32 Er glaubt, es gebe keinen seeVgl. PhA, S. 97, 109. Gleichwohl ist Taylor davon überzeugt, der »expressivism did not put an end to subjectivism« (ebd., S. 117). Es geht hier nicht um eine verkürzte Erfolgsgeschichte. 30 J. G. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache [1772], Stuttgart 1985 (= AUS). 31 Es würde sich lohnen, im Lichte dieser Kritik Condillacs Theorie des Ursprungs der menschlichen Sprache nochmals zu lesen. Die Ursprungsfiktion zweier Kinder, die »nach der Sintflut […] in der Wüste umherirrten, bevor sie die Verwendung irgendwelcher Zeichen kannten«, nimmt eine menschliche Affizierbarkeit durch Rufe (nach Hilfe) in Anspruch, die sie als instinktiv einstuft, ohne sie ihrerseits weiter genetisch ableiten zu können; vgl. É. B. de Condillac, Essai über den Ursprung der menschlichen Erkenntnisse [1746], Leipzig 1977, S. 187 f. 32 Vgl. AUS, S. 57, 87, 160, 182. Das Ohr macht im »besonnenen« Hören aus dem 29

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lischen Zustand, der nicht wortfähig wäre; allein aufgrund der »Besinnung« aber werde ein Zeichen möglich, das dann auch als MerkMal und Merk-Wort bzw. als Mitteilungswort für andere fungieren könne (AUS, S. 33, 36, 43, 86). Dass Herder hier von einem »Dialogisieren« spricht, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass er Anderen im Erwerb der Sprache eine sozusagen nur beiherspielende Funktion zuerkennt. Gesellschaft scheint ihm erst zur Fortbildung der Sprache notwendig; und ohne Gesellschaft gerät das sprechende Subjekt leicht in eine Verfassung der Verwilderung, wie er meint. Mit einer genuin kommunikativen Erklärung des Sprachursprungs und -sinns haben wir es hier indessen nicht zu tun. 33 Zwar ist »keiner für sich da«. Jeder einzelne Mensch »ist in das Ganze des Geschlechts eingeschlossen, ist nur eins für die fortgehende Folge« (AUS, S. 98 f.). Aber damit behauptet Herder nur, dass nach dem verlorenen Ursprung der Sprache und ungeachtet ihrer Zerstreuung in verschiedenen Sprachen dennoch ein einheitlicher Sinn der Sprache unangefochten Bestand habe. 34 Deshalb spricht er von einer künftigen »Fortbildung der Sprache für die ganze Gattung«; von einer »Haushaltung des ganzen Geschlechts« und von einer »Kette der Kultur«, an die gleichsam alle Menschen gelegt seien (AUS, S. 113 ff.). Unübersehbar gerät Herder aber infolgedessen in Konflikt mit seiner Rede vom Menschen als erstem Freigelassenen der Schöpfung 35, der einerseits nicht mehr auf die Stimme der Natur hören muss und der andererseits zu einem poietischen sprachlichen Selbstverhältnis befreit scheint, das sich als ateleologisch, ohne Perspektive der Vollendung perfektibel erweist (AUS, S. 153 ff.). 36 Zwar unartikulierten Laut (psophos) einen sinnvollen (phoné), dabei findet nur Hören auf das lautliche Objekt, nicht auf den Anderen statt (TH, S. 183). 33 AUS, S. 95, 97, 119, 162 f.; vgl. Trabant, Artikulationen, S. 103; K. Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache [1934], Frankfurt/M., Berlin, Wien 1978, S. 86. 34 AUS, S. 67, 122 zum göttlichen Ursprung und zur Verbreitung der Sprache auf der Erde (S. 106 f.), die durch gegenseitigen Hass und Verachtung zu deren Zersplitterung zu führen droht (ebd., S. 109 f.), bis dass der gemeinsame Ursprung der Sprache »verwirrt« wird (ebd., S. 112). 35 J. G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (Herders Werke in fünf Bänden, Bd. 4), Berlin, Weimar 1982, S. 64 f. 36 Allerdings versucht Herder den bei Rousseau ateleologischen Begriff der Perfektibilität noch im Sinne einer Tendenz zur Vervollkommnung zu deuten, wie in seinen Briefen zur Beförderung der Humanität deutlich wird (Werke in fünf Bänden, Bd. 5, S. 65, 74). Anachronistisch aber erscheint Taylors Versuch, das expressive Leben des

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führt Herder die Rede von einer weisen Stimme der Natur (oder Natursprache, an der alle sensiblen Lebewesen Anteil haben, die ihren Schmerz äußern können) im Munde; doch bahnt er dem Denken einer individuellen Selbst-Geschichte den Weg, die durch unvorhersehbaren Ausdruck allenfalls nachträglich ›zu sich‹ findet. Gewiss sind die Konsequenzen dieses Denkens erst nach und nach gezogen worden; doch beginnt der integrale Zusammenhang zwischen dem – vergeblich gesuchten – Ursprung der menschlichen Sprache und ihrem ausstehenden teleologischen Gattungs-Sinn bereits in Herders Werk erkennbar brüchig zu werden. Was der sog. Expressivismus in seinem Falle als Ausdrucksgeschehen zum Vorschein bringt, ließ sich weder auf einen unangefochtenen Ursprung nachträglich zurückführen noch als in einer teleologisch vorgezeichneten Zukunft der Gattung aufhebbar denken. 37 Im Gegensatz zu Herder schien sich Humboldt weder auf einen Ursprung der Sprache noch auch auf ein Telos der Gattung verlassen zu wollen. Als er feststellte, Menschen seien nur Menschen durch die Sprache, dachte er die Sprache doch vom auf Erwiderung angelegten Sprechen her. Statt nach einem empirisch-diachronen Ursprung der Sprache zu fragen, warf er mit Kant die transzendentale Frage nach der »immerwährenden Genese der Sprache aus den Vermögen der Menschen« auf (TH, S. 31, 183). Ihm ging es also nicht um einen weit zurückliegenden Ursprung oder Anfang der Sprache, sondern um ihr jederzeit gegenwärtiges Entspringen und Sicherneuern (TH, S. 10 f., 96). »Wiederholte Verderbnisse der Verderbnisse verwischen alle Umrisse des Ursprungs« 38; aber die Besinnung auf die »wirklich spreEinzelnen (einschließlich seiner seelischen »Tiefe«) an eine »Stimme der Natur« wieder anzuschließen, die in diesem Leben zur Geltung komme, und sie so weit wie möglich wieder »in die ganze Geschichte der Menschheit« einzufügen. Wo Taylor in Quellen des Selbst (Frankfurt/M. 1996, S. 639–682) die »Wende zum Expressivismus« rekonstruiert, entsteht immer wieder der Eindruck eines restaurativen Projekts. 37 Aus dem gleichen Grund erscheint eine kommunitaristische Vereinnahmung der Tradition des Expressivismus als zweifelhaft. Keineswegs geht das sich ausdrückende Leben des Einzelnen so bruchlos in einer kollektiven Lebensform auf, wie es dem Anschein hat, wenn man den Ausdruck schließlich als restlos verobjektivierten gelten lässt, der im »objektiven Geist« seine Wahrheit findet, wenn es nach Hegel geht; vgl. Markova, »The origin of the social psychology of language«, S. 322 ff. 38 Für Humboldt gab es in der Tat kein Zurück mehr zum Ursprung (zur lingua adamia, Leibniz) bzw. zu einer ersten Namengebung, die den Menschen ihre Herrschaft über die Dinge zu sichern versprach (TH, S. 30, 86 f., 90 f.; HS, S. 54). Dagegen wusste sich Herder als Erbe einer »schaffenden Stimme«, die die Menschen zur »Be-

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chenden Menschen« und die enérgeia ihrer lebendigen Rede bleibt doch jederzeit möglich, glaubt Humboldt. Und sie zeige, dass sich erst im Gesagtes re-produzierenden, vernehmenden Anderen die sprachliche Synthesis des Denkens vollende (TH, S. 32, 72, 80). Hier ist von einem unvermeidlich gegenseitigen »Zeugen und Empfangen« mit Blick auf die Alterität des Anderen die Rede, der hören und erwidern muss, damit sich Sprache ereignen kann (TH, S. 40, 42). Erwiderung aber bedeutet verwandelte Rückkehr des »selbstgebildeten Wortes aus fremdem Munde« bzw. aus »fremder Denkkraft«. 39 Was man die akroamatische Synthesis genannt hat, vollzieht sich demnach erst vermittels des Hörens des Anderen und in meinem Hören auf die Stimme des Anderen, die mir vernommenes Gesagtes gleichsam befremdet zurückgibt. 40 Die sich an dieser Stelle aufdrängende Frage, wie weitreichend denn das Angewiesensein auf eine derartige, befremdende Rückgabe des Gesagten im Austausch zweier oder vieler Stimmen den Sinn der menschlichen Sprache bestimmt, wird überspielt mit Humboldts Rede von einer bloßen Neigung oder Anlage zur Geselligkeit mit einem Du. Könnte es an solcher Neigung oder Anlage auch fehlen und dennoch Sprache möglich sein? Ist ein »Ich« als bereits gegeben vorauszusetzen, das erst nachträglich, wenn es ihm beliebt, in »geselligen« Austausch mit Anderen tritt? Oder wird, ganz unabhängig von einer herrschung der Erde« befähigen sollte (Ideen, S. 61). Die Rede erscheint hier als Basis menschlicher Technik. 39 TH, S. 174; vgl. W. v. Humboldt, Gesammelte Schriften, Berlin 1903–1936, Bd. 6, S. 160, Bd. 5, S. 380; T. Borsche, Sprachansichten. Der Begriff der menschlichen Rede in der Sprachphilosophie Wilhelm v. Humboldts, Stuttgart 1981, S. 280 f. 40 Vgl. TH, S. 173 f., 184 zu Hegels Verfehlen einer genuin sozialen Stimme. – Menschliche Rede impliziert für Humboldt ein »Wecken des Vermögens des Hörenden«, das als eine Mindestgemeinschaft aller Menschen, die wenigstens als ansprechbar gelten, vorauszusetzen ist. In der Anrede Anderer werden diese freilich als Vernunftwesen angesprochen; und »vernünftige Wesen sind alle, die sich als solche von anderer Vernunft angesprochen wissen« (Borsche, Sprachansichten, S. 132). Mit Kant wäre auch von »fremder Vernunft« zu reden. Entscheidend ist hier, wie tief die Erfahrung des mit der Rede unvermeidlich verbundenen »Auseinandergehens« greift, wenn Gesagtes »aus dem Mund eines Andren wieder tönt«. Humboldt hat nicht weiter erörtert, inwiefern hier überhaupt der Begriff der Synthesis passt. Phänomenologisch wäre es treffender, von einer akroamatischen Diastase zu sprechen. Immerhin glaubte Humboldt, dass uns selbst noch aus »fremdestem […] Laut innige Verwandtschaft entgegenklingt« (Gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 175, 121). Kann das auch dann noch gelten, wenn an der Ansprechbarkeit des Anderen als eines vernünftigen Wesens selbst radikale, nicht auszuräumende Zweifel geweckt werden?

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derartigen Neigung, die menschliche Sprache in einem radikalen, unhintergehbaren Sinne erst dann überhaupt zu einer menschlichen, wenn die artikulierte Stimme des Einen die befremdliche Rückgabe des Verlautbarten durch die Stimme des Anderen empfängt? Bleiben diese Fragen offen, so erscheint die Hochschätzung Herders und Humboldts als Wegbereiter einer akroamatisch begründeten Sprachphilosophie als überaus zwielichtig. Trabant schreibt, der charakteristische, wirklich neue Zug der deutschen sprachphilosophischen Diskussion des 18. und des frühen 19. Jahrhunderts sei »dank Herders (Wieder-)Entdeckung des Gehörs die Gegenwart des Ohrs« gewesen (TH, S. 170, 175). Nachdem Sprache und Vernunft (lógos) seit Parmenides Angelegenheit der Anschauung geworden seien, sei erst mit Herder der entscheidende erste Schritt »von einer traditionell okularen, visuellen (und solipsistischen) Erkenntnistheorie zu einer aurikularen und auditiven – akroamatischen –, schließlich sprachlich-dialogischen Erkenntnistheorie« wenn nicht vollzogen, so doch möglich geworden (TH, S. 176). Aber geht es in der »Rehabilitierung« des Gehörs, die auch Humboldt im Hinblick auf die Erwiderung der eigenen Rede für unabdingbar gehalten zu haben scheint, nur um Akustik oder sinnliche Erkenntnis – oder vielmehr um den Sinn des Hörens als Aufgeschlossensein für die Stimme des Anderen als des Anderen? 41 Die Pointe liegt hier nicht in der Erinnerung daran, dass man zum Gebrauch der Sprache auf einen physiologischen Gehörapparat angewiesen ist, sondern darin, das Hören als Hören auf die Stimme des Anderen zu denken, die das Verlautbarte im Durchgang durch ihre Fremdheit zurückgibt. Genau das ist es, was man bei Hegel vermisst, der ja durchaus den stimmlichen Ton als »sich kundgebende Innerlichkeit« kennt (TH, S. 171), die er aber als »Erfahrung des Selbst« und nicht als »Erfahrung des Anderen« deutete, schon gar nicht auf der Spur einer irreduziblen Fremdheit seiner Stimme. Auch Hegel wusste ja, dass mittels der Sprache die für sich existierende Einzelheit des Selbstbewusstseins aus sich heraus tritt und nur so für Andere da ist (HS, S. 51) – aber eben als allgemeines Ich. Doch begriff er das Denken nicht als in sich mit einem Anderen konfrontiert und in sich geteilt,

Selbst Bühler spricht vom »Produzieren eines Schallphänomens«; Bühler, Sprachtheorie, S. 25.

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sondern als rückstandslos verobjektivierbar und aufgehend in einem Wir (HS, S. 65, 68). Begreift man dagegen das Gehör als Organ des Antwortens auf die befremdliche Stimme des Anderen, deren Aufhebbarkeit in einem Wir nicht vorauszusetzen ist, so stellt sich die Frage: Wie kann Sprache enérgeia und kommunikatives Geschehen der immer neuen Eröffnung von Anrede und Erwiderung sein im Verhältnis zu fremden Stimmen Anderer, die ihre Freiheit dabei nicht einfach einbüßen? Und wie kann sie Geschehen zwischen zweien oder mehreren sein, ohne sich einfach auf das Tun eines Subjekts zu reduzieren (HS, S. 61)? Wie kann sie sich darüber hinaus zwischenmenschlich und so vollziehen, dass dieses Geschehen nicht einfach minderwertig erscheinen muss, weil es »flüchtig« ist und dazu verurteilt scheint, Vorübergehendem und niemals Wiederzubringendem ausgeliefert zu bleiben? (HS, S. 52.) Lässt sich ein nicht derart mit Hegel zu entwertender Begriff zwischenmenschlicher Praxis im Verhältnis zu einem Du denken (HS, S. 55), wie es etwa Levinas in seiner Philosophie der Verantwortung beschreibt? Hat dieses Du allemal nur den Status einer (bereits vorhandenen) zweiten Person, an die man sich wendet? 42 Und ist dieses Sichwenden an sie bzw. das Sichwenden des Anderen an uns ein eher zufälliges Geschehen, wie es bei Herder und Humboldt gelegentlich den Anschein hat, oder haben wir es mit dem Sinn menschlicher Sprache erst dann zu tun, wenn nicht nur zufällig akustische Reize das Trommelfell eines Anderen affizieren, sondern wenn danach verlangt wird, dass man jemandem Gehör schenkt, d. h. nicht nur hört, was er oder sie sagt, sondern zuhört und womöglich auf ihn oder sie hört? In diesem Falle hätten wir es mit einem ethischen Sinn der Sprache zu tun, der sich allerdings einer physiologischen Akustik so wenig entnehmen lässt wie einer bloßen Beschreibung dessen, was im faktischen Sprachgebrauch tatsächlich geschieht. 43

42 So gesehen wäre die Frage nach einer »sozialen« Konstitution des Du noch gar nicht gestellt. 43 Das gilt auch für die Deutung der Stimme des Neugeborenen (Trabant, Artikulationen, S. 110), die etwa Hans Jonas umstandslos ›ethisiert‹.

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V · Der Andere spricht uns an

5.

Hören auf den Anderen?

An dieser Stelle wird deutlich, wie nahe einerseits die von Taylor für seine kommunitaristische Sozialphilosophie 44 in Anspruch genommene expressivistische Tradition bereits dieser ethischen Frage kommt; wie fern sie andererseits aber auch einem (jüdischen) Sprachdenken bleibt, das nicht vom bloßen Geräusch oder vom Ursprung der Sprache in der Zeit (gattungsgeschichtlich wie ontogenetisch 45) her kam, sondern vom Hören auf den Anderen, wie es Rosenzweig, Buber und Levinas durch Abrahams Antwort belegt sehen: »hier bin ich«. 46 Den Sinn der Sprache sehen sie nicht in bloßer Zeichenverwendung, Namengebung oder in der Kundgabe einer Person, deren Expression seit Karl Bühler sprachtheoretisch mit dem Appell zusammen gedacht wird (TH, S. 118 f.). 47 Vielmehr geht es ihnen um die dem Anruf des Anderen zu verdankende originäre Instituierung des Subjekts als eines Verantwortlichen. Diese ist nicht Sache eines indif44 Vgl. C. Larmore, Patterns of Moral Complexity, Cambridge 1987, S. 93 ff., wo Herders »pluralism and expressivism« ebenfalls als eine Art Proto-Kommunitarismus für ein Modus-vivendi-Modell sozialer Koexistenz heterogener Lebensformen ins Spiel gebracht wird. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass sich gleichwohl in der kommunitaristischen Wendung des Expressivismus eine ethnische Beschränkung menschlicher Ansprechbarkeit durchgesetzt hat, wie sie bereits in der Geschichte der Völkerpsychologie bei Moritz Lazarus, Heymann Steinthal und Wilhelm Wundt festzustellen ist. Diese Beschränkung bedeutet, dass der Ursprung und der Sinn der menschlichen Sprache zunächst im Rahmen eines (sei es genealogisch, sei es ›geistig‹ aufgefassten) Volkes darzulegen ist, d. h. im Rahmen einer ethnischen Zugehörigkeit, von der Fremde ursprünglich ausgeschlossen sind. Was dagegen Derrida die Eröffnung der menschlichen Sprache als solcher nennt, unterläuft gerade diese Beschränkung, denn sie geschieht auch und gerade angesichts des Anderen als eines Fremden. Vgl. H. Steinthal, »Einleitende Gedanken über Völkerpsychologie als Einladung zu einer Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft« [1860], in: Kleine Sprachtheoretische Schriften, Hildesheim, New York 1970, S. 307–379, hier: S. 336, 340 ff., 346. 45 Es wäre zweifellos anachronistisch, in diese Fragestellung evolutionäres Denken hineinzulesen. Was man mit Foucault die genetische Episteme des 18. Jahrhunderts nennen könnte, entfaltete sich zwar an der Schwelle zur Verzeitlichung auch der Entstehung von Sprache und Vernunft. Doch noch Herder macht an ihr halt. Für ihn sind Sprache und Vernunft in einem göttliche Gabe und nichts, was etwa einer (für ihn noch nicht denkbaren) Evolution zu verdanken wäre (vgl. Herder, »Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele«, in: Herders Werke in fünf Bänden, Bd. 3, S. 341–406, hier: S. 371. 46 F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt/M. 51996, S. 440 (= SE); E. Levinas, Ethik und Unendliches, Graz, Wien 1986, S. 81. 47 Bühler, Sprachtheorie, S. 28 f.

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Hören auf den Anderen?

ferenten Hörens auf Geräusche oder auf linguistisch Artikuliertes, sondern Antwort auf die Stimme des Anderen, die nach Verantwortung verlangt (was durch nichts zu beweisen, nur zu bezeugen ist). »Wenn Sprache den Menschen menschlich macht«, wie sich Trabant ausdrückt, so nicht allein deshalb, weil das Ohr »die Thür zur Seele darstellt« und weil mit dieser angeblichen Entdeckung Herders nach Condillacs erstem Schritt der wichtigste »zweite Schritt zu einer adäquaten Sprachphilosophie« getan wäre (TH, S. 179). 48 Das Ohr als das Organ der Humanisierung des Menschen durch Sprache zu verstehen, macht in einer durch Rosenzweig, Buber und Levinas belehrten Perspektive (ungeachtet aller Unterschiede, die sie trennen) nur ethisch Sinn – wobei der Begriff des Ethischen hier aber nichts mit seiner überlieferten Bedeutung zu tun hat, die sich auf ein Zusammenleben umwillen des Guten bezieht. Was die Genannten (und insbesondere Levinas) mit ›Ethik‹ meinen, betrifft vielmehr das radikale Geschehen der Eröffnung des Ethischen im verantwortlich-responsiven Bezug auf den Anderen selbst. Dieser im gelebten Verhältnis zu ihm realisierte Bezug geht allemal dem Denken des Ethischen voraus. 49 Für sich genommen, schreibt Rosenzweig, ist das Selbst einsam und sprachlos. Und er fragt sich, »wie ihm die Zunge gelöst, das Ohr erschlossen werden« sollte. 50 Nur als vom Anderen angesprochenes und in Anspruch genommenes kommt es zur Sprache. Es hat am Sinn der Sprache nur teil kraft des Wortes, das an es gerichtet wird (SE, S. 89, 162 f., 264). Nun setzt Rosenzweig aber auf ein »Hören ohne Widerrede«, das einer dem Anderen unterworfenen Hörigkeit gefährlich nahekommt (SE, S. 328, 343). Dabei kann es zur Hörigkeit nur kommen, wenn das Wort des Anderen auf einen Befehl hinausläuft, der jede weitere Interpretation zu erübrigen scheint. Streng genommen geht es Rosenzweig aber zunächst nur um ein unbedingVgl. demgegenüber zur Lage der Sprachphilosophie Mitte des 18. Jahrhunderts W. Franzen, »Einleitung«, in: Maupertuis, Sprachphilosophische Schriften, S. XXIX f., XLIII. Immerhin nahm auch schon Maupertuis von einer Kraft der ersten, sog. »natürlichen Sprache der Gesten und Schreie« an, dass sie »die ganze Empfänglichkeit des Herzens« zu erfüllen imstande sei, »welches ihr zuhört«. Das schreibt der Autor der Abhandlung über die verschiedenen Mittel, derer sich die Menschen bedient haben, um ihre Vorstellungen auszudrücken (ebd., S. 33–52, Abschnitt VII). 49 H.-D. Gondek, »Gesetz, Gerechtigkeit und Verantwortung bei Levinas«, in: A. Haverkamp (Hg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, Frankfurt/M. 1994, S. 315–330. 50 Zum Vorangegangenen vgl. SE, S. 72–77, 82, 87, 186, 230, 262. 48

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V · Der Andere spricht uns an

tes Zuhören, das die Frage der freien Zustimmung zu dem, was der Andere sagt oder verlangt, im Sinne des Hörens auf ihn keineswegs überflüssig macht. So ist das einzelne Selbst für den Anderen aufgeschlossen, wenn es »ganz und gar Ohr« ist und sich als angesprochen oder als angerufen realisiert. Dieses ›Realisieren‹ ist aber auf das – sei es stumme, sei es verlautbarte – Sagen des Anderen nicht einfach zurückzuführen. Nur wenn man das Selbst als sich vom Anderen so oder so angesprochen realisierendes nicht unterschlägt, ist der Bedeutung des Vokativs angemessen Rechnung zu tragen, den Rosenzweig in dialogphilosophisch höchst folgenreicher Weise zur Geltung gebracht hat. Entscheidend ist so gesehen weniger, dass das Selbst vom Anderen als Du her gedacht wird. (Das hat in den Augen Bubers auch Ludwig Feuerbach schon getan.) Vielmehr tritt, wie Rosenzweig selber ausdrücklich sagt, »an Stelle des unbestimmten […] Du« der Vokativ als Modalität des Anrufs so, dass jede Vergegenständlichung sowohl des Anderen als zweiter Person wie auch seines Sagens abgeschnitten wird (SE, S. 195 ff.). Gegenüber dem Anruf des Anderen kommt das Selbst stets zu spät: immer schon ist er ergangen; aber dem Selbst obliegt es, ihn zu hören, womöglich auf ihn zu hören und infolgedessen den Anruf nachträglich zu bewahrheiten, der zumal in seiner ethischen Bedeutung wie gesagt durch nichts zu beweisen, nur zu bezeugen ist. So gesehen muss der Sinn des Anrufs, statt den Hörenden zu einer passiven Hörigkeit zu verurteilen, rückhaltlos vom Selbst abhängig werden, das Antwort auf ihn gibt (oder sie unterlässt). So eröffnet der Anruf des Anderen Spielräume des Verhaltens zwischen bloßem Hören und Hören auf den Anderen bis hin zur Hörigkeit, die die Gefahr der Liquidierung der Sprache als eines Geschehens von Anspruch und Erwiderung heraufbeschwört. Während Humboldt diesen Spielraum so weit wie möglich öffnet, ohne ihn ethisch gewissermaßen engzuführen und dabei in der jüdischen Perspektive Rosenzweigs, Bubers und Levinas’ riskiert, den eigentlichen Sinn der Sprache ganz aus dem Auge zu verlieren, reduzieren letztere den ethischen Sinn des Geschehens von Anspruch und Erwiderung gelegentlich bis hin zur Heteronomie eines Befehls, der im Grunde nicht nicht befolgt werden kann. Demnach hätten wir im Grunde immer schon den Anspruch des Anderen als solchen, als Gebot, ihm gerecht zu werden, als Verlangen nach einer verantwortlichen Antwort, bejaht – auch wenn wir dies nachträglich verleugnen. Schlägt eine solche Verabsolutierung der Bedeutung des Anspruchs 202 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Hören auf den Anderen?

des Anderen nicht unvermeidlich in die Liquidierung seiner sprachlich-dialogischen Struktur um? Und wird der eigentliche Sinn der Sprache nicht der sprachlichen Auseinandersetzung entzogen, wenn man ihn auf einen unanfechtbaren Befehl zurückführt? Demgegenüber stellt sich die Frage, wie menschliche Rede ein offenes Geschehen der Auseinandersetzung in Anspruch und Erwiderung bleiben kann, ohne sich in einem indifferenten Austausch von Gesten, Zeichen, Symbolen, Gedanken und Argumenten zu erschöpfen, der uns nicht lehrt, welchen ›Sinn‹ es hat, sich in Anrede und Erwiderung einer aus unvordenklicher Ferne auf uns zurückkommenden Stimme des Anderen auszusetzen, von dem wir in letzter Instanz nicht wissen und niemals wissen werden, wer es ist, wenn die Fremdheit des Anderen sich nicht aufheben lässt. 51 Levinas glaubt, gerade die Fremdheit des Anderen führe auf die Spur des Befehls, der uns zur Verantwortung für den Anderen bestimme. Demzufolge ist es nicht das sinnliche Gehör, worauf es ankommt, wenn das Gesicht gleichsam diesen Befehl erteilt und insofern par excellence sprechende Realität ist, die sich der von Levinas immer wieder gebrandmarkten Gewalt des Lichts entzieht. Auch Levinas gibt sich als Apologet des Hörens und denunziert das Sehen als Gewalt, insofern es das Gesehene vergleichzeitige und sich von daher als unfähig erweise, dem Entzug des Anderen in eine uneinholbare Ferne und Fremdheit auf der Spur zu bleiben. Nur dem Hören auf den Anspruch des Anderen soll das gelingen können. Aber der Anspruch ›spricht‹ gerade aus seinem Gesicht, auch stumm und wortlos. Wie auch immer sich das rechtfertigen ließe, ist hier nicht näher zu untersuchen. Festzuhalten ist im Hinblick auf die von Trabant und anderen diagnostizierte Rehabilitierung des Ohrs und der Stimme in der deutschen Philosophie um 1800 nur, dass aus der angedeuteten jüdischen Sicht der eigentlich entscheidende Schritt zu einer »adäquaten Sprachphilosophie« keineswegs damit getan wird, dass man sich vom Sehen als der hauptsächlichen Quelle der Erkenntnis abwendet, um die menschliche Stimme und das Gehör an dessen Stelle zu inthronisieren. 52 Eine derart verkürzte Rehabilitierung der Stimme und des Gehörs würde gerade den ethischen Sinn der Sprache verfehlen, der sich allein im Hören auf den Anspruch des Anderen zeigt, der nach einer – verantwortlichen – Antwort verlangt. Dass 51 52

Vgl. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, Zehnte Abhandlung. Vgl. Trabant, Artikulationen, S. 102.

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V · Der Andere spricht uns an

dieser Gedanke einer Reduktion des freien Spielraums menschlichen Hörens auf eine Hörigkeit gefährlich nahekommt, die sich dem Verlangen des Anderen als einem Befehl unterwirft, offenbart, wie leicht man an dieser Stelle Gefahr läuft, jenen ethischen Sinn verfehlt zu denken, nämlich so, dass er im Grunde überhaupt keinen responsiven Spielraum mehr lässt. 53 Damit wäre der Spielraum einer freien, zwischen-menschlichen Sprachlichkeit unterschlagen, die weder im Rahmen einer kausalistischen Physik und Physiologie noch in einer rigorosen Ethik sich denken lässt, die nur noch auszuführen verlangt, was befohlen wurde. Die zwischen-menschliche Rede und ihre sprachphilosophische Rekonstruktion können die unangefochtene Geltung eines solchen Befehls niemals beweisen, allenfalls bezeugen. Die Bezeugung aber ist rückhaltlos der zwischen-menschlichen Anfechtbarkeit und dem Erfordernis überantwort, sich im zwischen-menschlichen Leben als überzeugend zu erweisen. Was man als Sinn der Sprache unter zweifelhafter Berufung auf ein erstes Wort geltend macht, das die Seele dem Anspruch des Anderen öffne (Rosenzweig), ist selber der sprachlichen Auseinandersetzung ausgeliefert. Nur in ihr und durch sie kann und muss sich zeigen, was die Stimme des Anderen über verbales Geräusch hinaus ›zählt‹ – selbst dann, wenn er uns als radikaler Feind begegnen sollte.

Auch wenn man keinen schroffen Gegensatz zwischen Judentum und Aufklärung etwa konstruiert, bleibt dieses Problem virulent; vgl. Y. Yovel, »Mendelssohns Projekt: Vier Herausforderungen«, in: W. Stegmaier (Hg.), Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition, Frankfurt/M. 2000, S. 331–350, hier: S. 345.

53

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Kapitel VI ›Offen‹ für den Anderen? Auf den Spuren einer An-Archie der Subjektivität Jeder könnte der andere sein, aber er kann es nicht. Helmuth Plessner 1 auch du, mit allem Eingefremdeten in dir, fremdest dich ein, tiefer, Paul Celan 2

1.

Phänomenologie des Anderen?

Die moderne Sozialphilosophie hat von Thomas Hobbes an gezeigt, wie Menschen im Verhältnis zu anderen existieren, unter ihren Augen, voller Furcht vor ihrer Gewalt und zutiefst abhängig von ihnen, wenn alles, was sie ausmacht, ihr relativer Wert, ihr Ansehen und ihre Macht, auf einem Markt der Reputation, des Respekts, der Achtung festgelegt wird und wenn sie nichts darüber hinaus sind. 3 »Ein Mensch von heute«, schrieb Jean-Jacques Rousseau seinerzeit, erscheint als »ein Nichts« nur (sofern er nicht zufällig Bürger dieses oder jenes Landes ist und wenigstens insofern ernsthaft als ›jemand‹ in Betracht kommt). 4 Gerade Rousseau brachte aber auch zur Gel1 H. Plessner, Die Frage nach der Conditio humana. Aufsätze zur philosophischen Anthropologie, Frankfurt/M. 1976, S. 103; vgl. M. Merleau-Ponty, Keime der Vernunft. Vorlesungen an der Sorbonne 1949–1952, München 1994, S. 61. 2 P. Celan, »Lyon, Les Archers«, in: Fadensonnen, Frankfurt/M. 1993, S. 24. 3 T. Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates [1651], Frankfurt/M. 1984, Kap. 11 und S. 133 ff. Noch N. Luhmann vertritt eine solche Auffassung des »Marktes« der Achtung. Bekanntlich setzte Kant gegen den Begriff des relativen, auf einen Markt zu beziehenden Wertes bzw. Preises seinen Begriff der Würde. 4 J.-J. Rousseau, Emil oder Über die Erziehung, Paderborn 1983, S. 13.

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VI · ›Offen‹ für den Anderen?

tung, was der Erfahrung zu verdanken ist, unter den gütigen Augen Anderer da zu sein und sich seines Lebens sicher zu sein. Jean Starobinski handelte in seiner Auseinandersetzung mit Rousseau nicht umsonst vom »Leben der Augen« als gleichsam sprechender. 5 Sie besagen schließlich etwas, wenn sie beschämen, etwas verbergen, feindselig wirken oder Freundlichkeit und Güte ausstrahlen. Die von Hobbes, Rousseau und Hegel zweifellos angeregte, dann aber eigenständig mit Edmund Husserl, Max Scheler, Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre einsetzende Sozialontologie, die überhaupt erst gefragt hat, wie uns der Andere ursprünglich gegeben ist, hat gleichwohl vorrangig vom Anderen als Gesehenem gesprochen. Während Hobbes, Rousseau und Hegel vor allem praktisch-agonale und antagonistische soziale Verhältnisse bedacht haben, setzt der phänomenologische Rekurs auf die für jegliche Sozialphilosophie primär maßgebliche Frage nach dem Gegebensein des Anderen von der Wahrnehmung her an. Das hat diesem Vorgehen immer wieder den Vorwurf eingetragen, dem Sehen vor dem Hören, dem anschaulich Gegebenen vor der Praxis, der Phänomenologie vor der Hermeneutik den Vorzug zu geben; und zwar so weitgehend, dass eben diese Präferenz dahin führt, die Stimme des Anderen zu überhören und zu missachten, wozu sie praktisch auffordert. Das ist – abgesehen von fragwürdigen Pauschalisierungen, die schon vielfach zurückgewiesen worden sind – gewiss kein geringer Vorwurf. Denn er läuft, zugespitzt gesagt, darauf hinaus, eben jene Disziplin, die mit phänomenologischen und sozialontologischen Mitteln dem Anderen als solchem – bzw. seiner eigentlichen Anderheit – auf die Spur zu kommen versprach, habe letztere ganz und gar verfehlen müssen. So eindeutig verlaufen die Fronten zwischen phänomenologischem und sozialontologischem Denken einerseits und dieser sich auf die Stimme des Anderen berufenden Kritik andererseits jedoch keineswegs. Das wird sich im folgenden Rückblick auf die Auseinandersetzung zeigen, die Emmanuel Levinas mit der Phänomenologie Maurice MerleauPontys geführt hat, welche wie keine andere dem Gedanken der Offenheit unserer Erfahrung verpflichtet ist. Levinas befragt sie kritisch daraufhin, ob sie nur eine Offenheit für Anderes behandelt oder ob sie darüber hinaus oder sogar vorrangig einer Offenheit für den Anderen als solchen auf der Spur ist, die Levinas als Verwundbarkeit begreifen wird – womit er sich klar von einer Phänomenologie ab5

J. Starobinski, Das Leben der Augen, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1984.

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Phänomenologie des Anderen?

setzt, der in der »intentionalen Auslegung der Fremderfahrung« nur Objektives zu begegnen scheint. So schreibt Edmund Husserl in den von Levinas und Gabrielle Pfeiffer frühzeitig übersetzten und die französische Rezeption der Phänomenologie überhaupt erst einleitenden Cartesianischen Meditationen des Jahres 1929: »Das Faktum der Erfahrung von Fremdem (Nicht-Ich) liegt vor als Erfahrung von einer objektiven Welt und darunter von Anderen (Nicht-Ich in der Form: anderes Ich) […].« 6 Zwar soll als »das an sich erste Fremde« gerade »das andere Ich« gelten 7; doch wird dieses seinerseits einer objektiven Welt bereits eingeordnet gedacht. Das ist gewiss nicht das letzte Wort Husserls in dieser Sache 8, aber die zitierte Stelle macht doch deutlich, wo Levinas der Phänomenologie schließlich nicht folgen konnte und wo er noch Jahrzehnte später 9, in seinen beiden Hauptwerken Totalität und Unendlichkeit (1961) und Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (1974), glaubte radikal von ihr abweichen zu müssen – ganz anders aber als so viele phänomenologische Häretiker vor ihm –, um auf diese Weise eine Sozialphilosophie als eine Philosophie »ursprünglicher Sozialität« 10 begründen zu können, die ihren Namen im Zeichen unaufhebbarer Alterität des Anderen überhaupt erst verdient. Diese Philosophie wird bestreiten, dass uns der Andere originär ›objektiv‹ – bzw. einer objektiven Welt ganz und gar eingeordnet – gegeben ist und dass es im sozialen Verhältnis zu ihm nur darum gehe, ›offen‹ für ihn zu sein oder sich ihm – aus freien Stücken – zu öffnen. In seinem Vorwort zur Neuauflage von Le temps et l’autre spricht Levinas 1979 u. a. unter Verweis auf Jean Wahls Collège Philosophique, in dem der Inhalt dieses Buches 1946/7 vorgestellt worden war, von einem intellektuellen »Klima der Öffnung«, das sich spätestens seit Anfang der 1930er Jahre abgezeichnet habe. Für dieses Klima stehen neben Vladimir Jankélévitchs Anknüpfung an die Berg6 E. Husserl, Cartesianische Meditationen, Hamburg 1977, § 48, S. 108. Hervorhebg. B. L. 7 Ebd., S. 109. 8 Man vergleiche nur B. Waldenfels, Der Stachel des Fremden, Frankfurt/M. 1990. 9 Auf die Totalität und Unendlichkeit vorangehende Rezeption der Phänomenologie kann hier mit Blick auf die frühen Schriften von Levinas nur en passant hingewiesen werden; vgl. E. Levinas, Carnets de captivité, Œuvres 1, Paris 2009, S. 62, 277, sowie insgesamt die v. a. in Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg i. Br., München 21987, versammelten methodologischen Schriften. 10 E. Levinas, Die Zeit und der Andere, Hamburg 1984, S. 10.

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VI · ›Offen‹ für den Anderen?

son’sche Philosophie erfahrener Zeit (1931) Jean Wahl mit seiner Hinwendung zum »Konkreten« (Vers le concrèt; 1932) und mit seinen Études Kierkegaardiennes (1938), Alexandre Kojèves anthropologische Hegel-Interpretation (1933–1939), die einem vitalen, das ganze Leben aufs Spiel setzenden Kampf um Anerkennung zur Geltung verhalf, sowie erste Übersetzungen und Rezeptionen der Husserl’schen Phänomenologie und der Heidegger’schen Ontologie, die Sartre und Merleau-Ponty im Sinne einer »phénoménologie existentielle« deuteten, welche sich ihrerseits zu den benachbarten Wissenschaften, vor allem zur Psychologie und zur Biologie, aufgeschlossen verhielt. 11 In diesen Jahren der Öffnung wird nun auch die Offenheit selbst als ein philosophisches Thema entdeckt – nicht die Offenheit eines epistemischen Subjekts für das Erkennbare, sondern die Offenheit eines inkarnierten, konkreten, situierten, verzeitlichten Lebens für die wilde Vegetation dessen, was schon vor jeglicher Objektivierung erfahrbar ist. Einer nicht gedachten, sondern gelebten Offenheit für das Erfahrbare gewann schon Henri Bergson einen transitiven Aspekt ab. Demzufolge leben wir diese Offenheit bzw. existieren sie – gemäß einer transitiven Deutung dieses Verbs, die für Levinas von größter Bedeutung sein wird. Dabei wird dieses ›existieren‹ ontologisch als ein Geschehen charakterisiert, das sich nicht auf ein subjektives Tun zurückführen lässt. Nicht ein bereits »vorhandenes« Subjekt öffnet sich der Welt; subjektives Leben geschieht vielmehr nach Maßgabe einer Offenheit des Seins, die uns nicht zu Gebote steht. So rief die Phänomenologie der Offenheit eine Ontologie der Erschlossenheit des Erfahrbaren auf den Plan, die verständlich machen sollte, wie es möglich ist, Seiendes im Offenen, im Horizont des Seins, wahrzunehmen. 12 Von Offenheit und Erschlossenheit war nicht selten mit einer ontologischen Emphase die Rede, die Levinas beargwöhnte. 13 Mündet diese Offenheit und Erschlossenheit nicht wie-

Vgl. ebd., S. 11 f.; E. Levinas, »Jean Wahl et Gabriel Marcel«, in: ders., X. Tilliette, P. Ricœur, Jean Wahl et Gabriel Marcel, Paris 1976, S. 13–31; P. Ricœur, G. Marcel, Entretiens, Paris 1968; sowie die ausführliche Darstellung bei B. Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/M. 1983, Kap. 1. 12 Levinas, Die Spur des Anderen, S. 109. 13 E. Levinas, Parole et silence, Œuvres 2, Paris 2009, S. 190, 377. Levinas, der den Primat der Existenzialien vor dem Existenziellen zurückweist, hat, wie sich hier zeigt, durchaus auch die Spätphilosophie Heideggers wahrgenommen. 11

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Phänomenologie des Anderen?

derum nur in eine »Sichtbarkeit des Selben für das Selbe«, in eine ontologische Odyssee, die jegliches Aus-sich-herausgehen ins Offene in ein Zu-sich-zurückfinden münden lässt? So könne eine radikale Exteriorität, eine radikale Fremdheit, die ›draußen‹ und fremd bleibt, nicht gedacht werden, wird Levinas der Phänomenologie vorwerfen. 14 »Die wahre Philosophie = begreifen, wie es kommt, daß das Aussichherausgehen auch Rückkehr zu sich ist und umgekehrt. Dieses Chiasma, diese Umkehrung begreifen. Dieses ist der Geist« – heißt es in einer späten Arbeitsnotiz Merleau-Pontys. 15 Exponiert uns diese Umkehrung oder »Reversibilität« aber einer radikalen Fremdheit? Heißt nicht Sehen, vom gesehenen Objekt Besitz zu ergreifen? Ist die Erfahrung wirklich einer »Begegnung mit dem Anderen« fähig, wie Merleau-Ponty meinte, der sie archetypisch in der Wahrnehmung realisiert sah? 16 Hatte sich die Phänomenologie der Offenheit genügend von einer Tradition gelöst, die die Erfahrung stets als eine assimilierende, einverleibende und besitzergreifende beschrieben hat? 17 Wenn man den Anderen besitzen, ergreifen und erkennen könnte, sagt Levinas, der diese Frage klar verneint, wäre er nicht der Andere. »Besitzen, Erkennen und Ergreifen sind Synonyme des Könnens« einer Subjektivität, die sich alles Wirkliche anzueignen strebt. 18 Insofern ist die Ontologie als Erste Philosophie für Levinas eine Philosophie der Macht – einer Macht, die sich scheinbar mit der Anderheit des Anderen nicht verträgt und es womöglich ausschließt, dass diese überhaupt ›gesehen‹ werden oder Gehör finden kann. 19

14 E. Levinas, Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989, S. 33, 54 (= HaM). 15 M. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, S. 256 (= SU). 16 Ausdrücklich sei auf die ausführliche Auseinandersetzung Merleau-Pontys mit den Positionen Husserls, Max Schelers, Sigmund Freuds und Jean Piagets verwiesen, die sich u. a. finden in: Keime der Vernunft, Kap. I und V. 17 Ich knüpfe an diese von Levinas aufgeworfenen Fragen hier nicht an, um zu beurteilen, ob man so der Phänomenologie der Offenheit wirklich gerecht wird, sondern lediglich, um die folgenreichsten Weichenstellungen auf dem Weg zu einer Ethik der Verwundbarkeit herauszustellen. Zu Levinas’ Kritik der Phänomenologie des Sehens vgl. Levinas, Die Zeit und der Andere, 38; HaM, S. 17. 18 Vgl. E. Levinas, »Le moi et la totalité«, in: Revue de métaphysique et de la morale 59 (1954), S. 353–373, hier: S. 366, sowie den Teil C in diesem Band. 19 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br., München 1987, S. 56, 295 (= TU); vgl. die Kritik dieses Machtbegriffs bei J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1976, S. 206 f. (= SD).

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VI · ›Offen‹ für den Anderen?

Diese Ontologie beschreibe ein Sein, behauptet Levinas, dem es in seinem Sein um dieses selbst bzw. um es selbst geht. Bezeichnet diese »fast Darwinische Formulierung« nicht bereits einen »ontologischen Egoismus«, wie er einer Welt angemessen ist, in der jeder, zumal unter Bedingungen der Knappheit und des gegenseitigen Misstrauens, latent dazu bereit sein muss, im Namen des eigenen Überlebens Gewalt anzuwenden, wie Hobbes bereits gezeigt hat? 20 Läuft nicht eine Philosophie, die einem angeblich ›vergessenen Sein‹ auf der Spur war, auf die Apologie eines »heidnischen Existierens« hinaus, dem ursprünglich jegliche Rücksicht auf den Anderen fremd ist und das sich womöglich nur aus einer gewissen Generosität heraus zur Sorge um den Anderen und zum Mitleid aufschwingt? Ist diese Philosophie – gemeint ist vor allem Heidegger, in zweiter Linie auch Merleau-Ponty, insofern er letzterem folgte – nicht längst von der geschichtlichen Wirklichkeit eingeholt worden? Kann eine Ontologie unserer Einfügung ins Sein angeben, was uns der Andere nicht etwa in einem luxuriösen Mitleid, sondern auf unhintergehbare Weise angeht? Ist sie auf der Höhe einer Zeit, die die Anderen millionenfach in der Namen- und Erinnerungslosigkeit zugrundegehen lässt und die uns eben deshalb abverlangt, zu denken, wie es möglich ist, dass uns noch der fernste, ›x-beliebige‹ Andere etwas ›angeht‹ – und zwar nicht irgendwie, sondern auf verantwortliche bzw. zu verantwortende Art und Weise? 21 Mit diesen Fragen wird die Suche nach der Quelle unserer Beunruhigung um den sterblichen Anderen zum zentralen Thema einer nach-phänomenologischen, zeitgemäßen Sozialphilosophie. Diese fragt nicht nach der Offenheit des Bewusstseins für eine erkennbare Welt – wie es der frankophone Kritizismus auf den Spuren Kants noch bei Léon Brunschvicg und nach dessen Vorbild die Genetische Epistemologie Jean Piagets getan hatte – und nicht nach einer ihm gegenüber vorgängigen Erschlossenheit des Seins, wie sie in der Ontologie Heideggers zur Sprache kam, sondern nach dem Grund dieser Vgl. HaM, S. 136. Levinas’ Heidegger-Interpretation wäre zu konfrontieren mit der entgegengesetzten Deutung, die darauf hinausläuft, dass die besagte Formulierung in Sein und Zeit nur die Kantische Charakterisierung des Menschen als »Zweck an sich selbst« reformuliere; vgl. C.-F. Gethmann, »Heideggers Konzeption des Handelns in Sein und Zeit«, in: A. Gethmann-Siefert, O. Pöggeler (Hg.), Heidegger und die praktische Philosophie, Frankfurt/M. 1988, S. 140–176, hier: S. 158. 21 Vgl. Levinas’ Bemerkungen in: F. Rötzer (Hg.), Französische Philosophen im Gespräch, München 21987, S. 92. 20

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Phänomenologie des Anderen?

Beunruhigung. Allerdings nicht nach dem Vorbild einer philosophischen Archäologie, mit dem von Husserl über Merleau-Ponty und Sartre bis hin zu Paul Ricœur immer wieder geliebäugelt wurde 22, sondern auf der Spur einer An-Archie der Subjektivität, die vom Anderen her ihren eigentlichen, ethischen Sinn empfängt: den Sinn einer Verwundbarkeit, die uns angesichts der Sterblichkeit des Anderen, jedes Anderen, zur Nicht-Indifferenz und Verantwortung für ihn bestimmt, wie Levinas meint. So führt die das theoretische Philosophieren seit alters her umtreibende ›Frage nach dem Grund‹ an den Rand des Abgrunds des namenlosen Verstummens Anderer; und sie zeigt, wie sich unser Leben praktisch als immer schon nicht-indifferent angesichts des Todes, zumal des gewaltsamen Todes 23 der Anderen vollzieht, ohne noch in sich selbst über einen zureichenden Grund oder über eine nicht weiter zurückführbare Ursache seiner selbst zu verfügen, nach der es die Philosophie spätestens seit Aristoteles verlangt hatte. 24 Die folgenden Seiten rekapitulieren diese Problemverlagerung von einer Phänomenologie der Offenheit hin zu einer an-archischen Beschreibung dieser Verwundbarkeit mit Blick auf Merleau-Ponty und Levinas, um zu ermitteln, was es im Lichte dieser Beschreibung bedeutet, für den Anderen als Anderen ›aufgeschlossen‹ zu sein. 25

Vgl. Vf., »Archeological Questioning: Merleau-Ponty and Ricœur«, in: P. Burke, J. Van der Veken (Hg.), Merleau-Ponty in Contemporary Perspective, Boston, Dordrecht 1993, S. 13–24. Wäre dieser Titel nicht bereits für die bekannte Wissenschaft vergeben gewesen, hätte Husserl ihn gerne für die Phänomenologie reklamiert. Die Phänomenologie war als die eigentliche philosophische Archäologie konzipiert! 23 Das ist gewiss kein nebensächlicher Zusatz. Wer die frühen Schriften von Levinas durchmustert, wird allerdings feststellen, dass sie sich erst nach und nach mit der Frage der Gewalt auseinanderzusetzen beginnen und deren höchst unterschiedliche Ursachen bedenken; vgl. etwa Levinas, Carnets de captivité, S. 251, 257, 290, 393; Parole et silence, S. 239, 246, 304 ff., 373. 24 Aristoteles, Metaphysik, A 2 982 b 7 ff. 25 Man wird im Übrigen feststellen, dass Levinas seine Leser im Zusammenhang mit seiner Subjektivitäts-Kritik in ein nur schwer zu entwirrendes Beziehungsgeflecht verstrickt. Unvermittelt, gleichsam in einem Atemzug, gilt die Kritik Heidegger oder Husserl, dann vor allem Sartre und – im Hintergrund – dem durch Fichte repräsentierten Idealismus. Dieses Geflecht aufzuklären bleibt ein Desiderat. 22

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VI · ›Offen‹ für den Anderen?

2.

Offenheit als Ekstase im Sein

Über alle Häresien im Verhältnis zu Husserl hinweg, die die phänomenologische Bewegung vor allem in Frankreich kennzeichnen, blieb ihr Weg bis zuletzt der einer phänomenologischen Philosophie der Offenheit der Erfahrung. 26 Dieser Philosophie machte Merleau-Ponty zur Aufgabe, unsere Öffnung zur Welt, zum Sein, als solche nicht nur zu beschreiben, sondern darüber hinaus auch auszusagen, wie es eine solche geben kann. 27 Dabei sieht sich die Phänomenologie von Anfang an mit der Schwierigkeit konfrontiert, wie von der »präreflexiven Zone der Öffnung zum Sein« Rechenschaft abzulegen ist, wenn der Blick auf sie schon durch die Wahrnehmung verstellt wird. Das Wahrgenommene tendiert von sich aus dazu, den Weg, den die Wahrnehmung zu ihm gebahnt hat, vergessen zu lassen. Das Wahrgenommene ist die Weise, »in der das sich offenbarende Sein recht eigentlich die Geschichte seiner Sichtbarkeit vergessen macht«. Dabei zieht sich das Bewusstsein selbst, dem das Wahrzunehmende zuvor erschlossen war, »aus den Erscheinungen zurück, um ihnen Platz zu machen«. Das unmittelbare, präreflexive, nicht objektivierte, gelebte und anfangs stumme Leben des Bewusstseins ist »dieses Erscheinenlassen im Rückzug, dieses Verschwinden im Erscheinenlassen«. 28 We26 M. Richir, Das Abenteuer der Sinnbildung, Wien 2000; ders., Phänomenologische Meditationen. Zur Phänomenologie des Sprachlichen, Wien 2001. 27 Gegen das Missverständnis, die Phänomenologie laufe lediglich auf eine neue Immanenzphilosophie hinaus, hatte sich schon Sartre gewehrt. Die Phänomenologie insistiert darauf, so Sartre, dass die Intentionalität des Bewusstseins es aus sich herausgehen lasse. »Und diese Überschreitung des Bewußtseins durch sich selbst, die man ›Intentionalität‹ nennt, findet sich in der Furcht, dem Haß und der Liebe wieder.« Am Ende findet sich »alles draußen« wieder: »alles, sogar noch [wir] selbst [finden uns] draußen, in der Welt, mitten unter den Anderen«. (J.-P. Sartre, Die Transzendenz des Ego, Hamburg 1982, S. 36 f.) Während Aron Gurwitsch als einer der treuesten Schüler Husserls noch an einem phänomenologischen Idealismus glaubte festhalten zu müssen, gingen Merleau-Ponty und Ricœur in dieser Hinsicht alsbald eigene Wege; vgl. A. Gurwitsch, Studies in Phenomenology and Psychology, Evanston 1966, S. 358; ders., Das Bewußtseinsfeld, Berlin, New York 1975, S. 185 f.; L. Embree, »Gurwitsch’s Critique of Merleau-Ponty«, in: Journal of the British Society for Phenomenology 12 (1981), S. 151–163; P. Ricœur, A l’école de la phénoménologie, Paris 1986, S. 80–86; ders., »Sur la phénoménologie«, in: Esprit 21 (1953), S. 821–329, hier: S. 838, sowie vom selben Autor: »Phénoménologie et herméneutique«, in: Phänomenologische Forschungen 1 (1975), S. 31–75. 28 E. Levinas, Zwischen uns, München, Wien 1995, S. 89 (= ZU); Merleau-Ponty, SU, S. 272.

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Offenheit als Ekstase im Sein

der das Bewusstsein noch auch das Sein sind demnach einer Phänomenologie der Wahrnehmung direkt zugänglich. Dennoch hält Merleau-Ponty bis zuletzt daran fest, dass die »Geschichte der Sichtbarkeit« als des Inbegriffs des Erfahrbaren überhaupt gewissermaßen regressiv, vom Wahrgenommenen her, aufzudecken ist; und zwar auf dem Wege einer nachträglichen Rückfrage nach einer das Wahrgenommene ermöglichenden Offenheit, die sich in ihm stets nur selektiv zeigen wird. So ist die fragliche, darüber hinaus gehende Offenheit niemals direkt zugänglich. Doch begnügt sich die Phänomenologie keineswegs mit dem Erfahrenen als dem Ergebnis oder Objekt subjektiver Erfahrung. Die Rechtfertigung der phänomenologischen Lehre, das weiß auch Levinas, schien »nie in der Apodiktizität der immanenten Sphäre zu liegen, sondern in der Öffnung des Spiels der Intentionalität, in dem Verzicht auf das feste Objekt, das bloßes Resultat ist und Verschleierung dieses Spiels«, welches jeglicher Sinngebung vorgängig ist und das Denken »außer sich« sein lässt (SdA, S. 135). Das Denken ist nur Denken eines existierenden Lebens, das ek-statisch im Sein lebt und von dieser Ekstase lebt. Zweifellos knüpft Merleau-Ponty in seinem Spätwerk, wo in diesem Sinne von einer ekstatischen Offenheit die Rede ist, an Gedanken des späteren Heidegger an. »Was andere Existenz genannt haben«, beschrieb er schon in der Phänomenologie der Wahrnehmung (1945) nicht im Lichte einer futurisierten Sorge, die vom jemeinigen Tod her auf die Gegenwart zurückkommt und vor allem in der Angst die Offenheit des In-der-Welt-seins als Schutzlosigkeit und Ohnmacht des Daseins im Überlassensein an es selbst realisiert. Und in seinen Vorlesungen am Collège de France hatte sich MerleauPonty bereits vorsichtig von den beim früheren Heidegger zu findenden »allzu berühmten Beschreibungen der Angst, der Freiheit oder der Sorge« 29 distanziert, blieb in der folgenden Zeit aber auf der Spur eines être oublié 30 bzw. unserer »Empfänglichkeit für Wahrheit« nach Maßgabe dieses Seins. Dieser Spur hatte auch das nicht mehr ausgeführte, in der Kandidaturschrift fürs Collège de France angekündigte Projekt L’Origine de la vérité folgen sollen, um das noch die späten Arbeitsnotizen Merleau-Pontys aus den Jahren 1959 und 1960 kreisen. Merleau-Ponty wird in den 1950er Jahren dem Denkweg Heideggers zumindest insofern folgen, als dieser »immer weniger 29 30

Merleau-Ponty, Vorlesungen I, S. 115 f. M. Merleau-Ponty, Signes, Paris 1960, S. 192, 195, 240.

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VI · ›Offen‹ für den Anderen?

von einem durch die Vorrangigkeit des Selbst getragenen Zustand der ›Exstase‹ oder von einer zentrifugalen Bewegung [spricht], die vom Selbst zum Sein verläuft«. Vielmehr sollte umgekehrt einem jemeinigen Selbst, das Erfahrbares in seiner Gegenwart versammeln kann, eine Offenheit für ein »vorobjektives Sein« vorausliegen. Dieses Sein, das uns »im Wahren« sein lässt, bevor wir Wahres aussagen, »ist der eigentliche Gegenstand der Philosophie«, bekennt MerleauPonty in seiner Vorlesung über die »Möglichkeit der Philosophie«. 31 Zwar wird die Philosophie auf den Spuren Husserls hier noch als eine Archäologie konzipiert, die verspricht, die grundlegenden »Archai« eines primordialen Geöffnetseins auf das Wahre hin zu ›entbergen‹. Tatsächlich aber führt die Phänomenologie des origine de la vérité nicht auf einen absoluten Grund, sondern auf die Spur eines schöpferischen, polymorphen être naissant, der inkompossible Möglichkeiten zeitigt, welche in keiner fertigen Welt unterzubringen sind. 32 Die Fruchtbarkeit dieses Seins soll sich in Welt-Möglichkeiten erweisen, für die wir offen sind, bevor wir mit Gottfried W. Leibniz das Notwendige und das Mögliche denken oder zu konstruktivistischen »Weisen der Welterzeugung« (Nelson Goodman) übergehen. Es handelt sich hier noch immer »im Grunde um das Sein von Heidegger«, das nun aber die Ekstase eines jemeinigen Seins weit hinter sich gelassen hat. Das Sein wird nun als ein »wildes« beschrieben, das keine Rationalisierung je wird bändigen können. Stellenweise scheint Merleau-Ponty mit einem ontologischen Rousseauismus liebäugeln zu wollen. Die Erfahrung bewegt sich in Erfahrbarem, das ihr vorgängig eröffnet ist als ein »Feld« dieses Seins. 33 Dieses Feld hält sich nicht in den Grenzen der Jemeinigkeit wie ein Leben zwischen Geburt und Tod. So wenig wie Schmerzen kann man zwar dem Anderen seinen Tod abnehmen. Weder Schmerzen noch den Tod kann ich anstelle des Merleau-Ponty, Vorlesungen I, S. 116. M. Merleau-Ponty, Sens et Non-Sens, Paris 1966, S. 23; SU, S. 264, 290. Kommt hier nicht die phänomenologische Ontologie, von Heideggers späterem ›abgründigen‹ Denken her, einer Philosophie der An-Archie entgegen? 33 Nicht das Ich, so schreibt Merleau-Ponty, ist die Möglichkeit dieses Feldes. Das »Ich, das ist in Wirklichkeit ein Niemand, es ist das Anonyme; es muß so sein, jeder Objektivierung, jeder Benennung voraus, um Fungierender zu sein oder derjenige, dem all dies zustößt. Das Ich, das benannt ist, das namhafte Ich ist ein Objekt. Das Ur-Ich, dessen Objektivierung dieses darstellt, ist der Unbekannte, dem alles zu sehen oder zu denken gegeben ist, an den alles appelliert, vor dem … es etwas gibt […]« (vgl. SU, S. 235, 228, 269, 313). 31 32

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Offenheit als Ekstase im Sein

Anderen erleiden oder erdulden. Dieses Wissen ist vielleicht der sicherste Hinweis auf ein zur unaustauschbaren Jemeinigkeit verurteiltes Leben. In der Ontologie des être sauvage verliert sich aber die Spur jemeinigen Lebens, seiner Sterblichkeit und Verwundbarkeit und ebenso der des Anderen. Der origine de la vérité unterwirft sich nicht einer angesichts des Todes um sich besorgten Jemeinigkeit. Das Leben im Wahren ist ursprünglich nur das Medium einer spontanen »synchronisation« mit der Fülle der Welt, deren Erfahrbarkeit »wie Wasser hervorquillt aus dem Riß des Seins« und nichts von der Angst und dem Verlust jeglicher Welt-Vertrautheit mehr verrät, der ein jemeiniges Dasein auf sich selbst zurückwirft (SU, S. 298). Dennoch erweist sich das Leben in der Fruchtbarkeit des Seins nicht als eine bruchlose Gegenwärtigkeit; im Gegenteil wird es ständig unterhöhlt von einer Abwesenheit, die im Spätwerk MerleauPontys ein melancholisches Moment zur Geltung bringt. 34 Wir befragen unsere Erfahrung gerade nicht, heißt es in Le visible et l’invisible, weil wir uns in ihr wiederfinden wollen; und wir befragen sie gerade nicht, weil wir alles Erfahrbare in unserer Gegenwart versammeln wollen. Wir befragen unsere Erfahrung vielmehr »gerade deshalb, weil wir wissen wollen, wie sie uns dem öffnet, was wir nicht sind. Es ist dadurch nicht einmal ausgeschlossen, daß wir in ihr eine Bewegung finden, die auf das aus ist, was uns in keinem Falle selbst gegenwärtig [présent en original] sein kann und dessen unwiderrufliche Abwesenheit [absence irrémédiable] deshalb unseren originären Erfahrungen zugerechnet werden müßte.« 35 Ist nicht das Vergangene das »unwiderruflich Abwesende« par excellence? Vom Vergangenen sagt Merleau-Ponty im Kontext seiner späten Freud- und Proust-Interpretation allerdings, es könne niemals aufhören, gewesen zu sein. Die Vergangenheit wird so, ähnlich wie Vgl. die Hinweise bei O. Pöggeler, »Heideggers logische Untersuchungen«, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.), Martin Heidegger: Innen- und Außenansichten, Frankfurt/M. 1989, S. 74–100, hier: S. 97, und K. Held, »Heidegger und das Prinzip der Phänomenologie«, in: Gethmann-Siefert, Pöggeler (Hg.), Heidegger und die praktische Philosophie, S. 111–139, hier: S. 125. 35 Merleau-Ponty, SU, S. 208; Le visible et l’invisible, Paris 1964, S. 211. Vgl. dazu E. Levinas, Eros, littérature et philosophie. Essais romanesques et poétiques, notes philosophiques sur le thème d’éros. Œuvres 3, Paris 2013, S. 180, wo von einer »accessibilité d’inaccessible« die Rede ist, was stark an Husserls Bestimmung des Fremden im Sinne einer »bewährbaren Zugänglichkeit des original Unzugänglichen« erinnert (Cartesianische Meditationen, Husserliana I, Den Haag, Dordrecht 1950, S. 144; § 52). 34

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VI · ›Offen‹ für den Anderen?

schon in Sein und Zeit (1927) und in Das Sein und das Nichts (1943), in der Gewesenheit aufgelöst, der scheinbar nichts etwas anhaben kann. Vermag Zerstörung – sei es durch Gewalt, sei es durch die Zeit selbst – irgendetwas daran zu ändern, dass das Zerstörte gewesen sein wird? Doch rückt Merleau-Ponty auch die Gewesenheit ihrerseits ins Licht einer temporalen Exteriorität, die sich nicht in ihr aufheben und vergegenwärtigen lässt. Bereits in der Phänomenologie der Wahrnehmung ist von einer nicht zu vergegenwärtigenden Vergangenheit die Rede, »die niemals Gegenwart war« und niemals in der Gegenwart aufgehen wird. 36 Merleau-Ponty stößt auf diesen Gedanken vom Problem einer phänomenologisch nicht ›reduzierbaren‹, präreflexiven Schicht der Erfahrung her, die sich dem Versuch widersetzt, in der Erinnerung des Bewusstseins »den vergessenen Moment zu finden, in dem es sich, ohne es zu wissen, dem Gegenstand verbunden hat […], jenen Moment, der, sobald er durch Erinnerung wieder erweckt ist, nachträglich zum Zeitpunkt einer in aller Freiheit eingegangenen Verbindung wird«. 37 So hat es allerdings noch den Anschein, als könne das Bewusstsein wenigstens im Nachhinein jegliche Vergangenheit in sich aufheben. Davon ist im Spätwerk, wo das Bewusstsein nicht mehr als Zentrum einer integralen Vergegenwärtigung fungiert, keine Rede mehr.

3.

Der Entzug des Anderen

Wo in Das Sichtbare und das Unsichtbare (posthum 1964 veröffentlicht) von einer mythischen »Zeit vor der Zeit« die Rede ist, die nicht aufhört, gewesen zu sein, hat Merleau-Ponty gerade eine nicht zu unterlaufende Nachträglichkeit des Bewusstseins selbst im Auge. 38 Aufgrund dieser Nachträglichkeit hinkt es gewissermaßen ständig dem Geschehen der Öffnung auf das Erfahrbare hinterher, ohne dieses je subjektiv in den Griff zu bekommen. Während aber diese Zeit die intentional zu vergegenwärtigende Zeit noch von innen unterwandert, spricht Levinas von einer absoluten, unvordenklichen Ver-

M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 283. E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br., München 1992, S. 172 (= JS). 38 Vgl. die Deutung dieses Sachverhalts bei E. Levinas, En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger, Paris 1949, S. 154. 36 37

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Der Entzug des Anderen

gangenheit, welche die phänomenologische Zeit selbst sprengt. Der Andere, behauptet Levinas, sei in einer nicht zu vergegenwärtigenden Zeit zuhause. Deshalb widersetze er sich für immer einer ›Verselbigung‹, die seine Anderheit in der Gegenwart der Erinnerung aufheben müsste. Gerade als unaufhebbare hinterlasse die Anderheit aber ihre Spur in der Gegenwart eines Subjekts, das angesichts des Anderen nicht umhin könne, ihr überantwortet zu sein im Sinne einer Nicht-Indifferenz, die es vor aller freien Stellungnahme zur Verantwortung für den Anderen bestimme. Angesichts des Anderen ist uns demnach auf unhintergehbare Weise eine radikale Verantwortung ›gegeben‹. Und bei diesem ›Gegebensein‹ handelt es sich nicht um einen indifferenten Befund, sondern um die ›Gabe der Verantwortung‹ 39, die uns dazu aufruft, uns im Konkreten als Verantwortliche zu erweisen. Diese Verantwortung ist angeblich durch nichts aus der Welt zu schaffen, weder durch einen hobbesianischen Naturzustand, in dem jeder den Anderen als eine potentiell tödliche Bedrohung wahrnimmt, noch auch durch einen manifesten Bürgerkrieg oder durch einen mit Waffen ausgetragenen Konflikt zwischen Staaten oder durch einen ›modernen‹ Genozid. Levinas knüpft – wie schon Kant vor ihm – an jenen Begriff des Naturzustandes von Hobbes an, wenn er sagt, »nur Seiende, die zum Krieg fähig sind, können sich zum Frieden erheben« (TU, S. 322). Allerdings behauptet Levinas im Gegensatz zu Hobbes die Gleichursprünglichkeit des Friedens mit der Möglichkeit des Krieges und den Vorrang des angesichts des Anderen gebotenen Friedens. 40 Der Friede ›beginnt‹ nach seiner Überzeugung bereits mit der nicht hintergehbaren Nicht-Indifferenz angesichts des Anderen, mit dem Imperativ, den der Andere, auch ohne zu sprechen, erteile: nicht an seinem Tod schuldig zu werden. In der Verantwortung nimmt demnach diese Nicht-Indifferenz angesichts der Sterblichkeit des Anderen Gestalt an, über die sich tödliche Gewalt in allen ihren Spielarten zwar hinwegsetzen kann, die sie aber niemals aus der Welt zu schaffen verSiehe dazu das folg. Kap. VII. Dieser Ansatz verbietet jeden naiven Pazifismus. Levinas begründet allerdings diese Gleichursprünglichkeit aus der Nicht-Gegenseitigkeit der Verantwortung für den Anderen heraus. Schon von daher handelt es sich nicht einfach um eine Variation des (reziproken) Kampfes um Anerkennung etwa. – Vgl. P. Ricœur, »The Self in Psychoanalysis and in Phenomenological Philosophy«, in: Psychoanalytic Inquiry 6 (1986), S. 448–457; ders., Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt/M. 1974, S. 480–484.

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mag, wie Levinas glaubt. Jener Befehl, den wir aufgrund unserer Nicht-Indifferenz dem Anderen gegenüber befolgen, erweist sich so gesehen gerade als die Macht der Ohnmacht, der Schwäche, des Preisgegebenseins des Anderen: Der Befehl hat seine tiefste Wirkung gerade dort, wo der Andere nicht mich bedroht, sondern im Gegenteil selbst vom Tod bedroht ist. Dann gebiete er, sich nicht am Anderen zu vergehen – was gewiss in vielfältigen Arten und Weisen möglich ist: im Mord, in der kriegerischen und genozidalen Gewalt, aber auch dadurch, ihn in seinem Tod allein und im Stich zu lassen. Dieser Befehl allein, der uns als für den Anderen Verantwortliche ›instituiert‹, kann gewiss tödliche Gewalt nicht unterbinden. Levinas spricht denn auch nicht von einer realen, sondern von einer »moralischen Unmöglichkeit«, den Anderen zu töten –, aber der Befehl schließt es absolut aus, dass man solche Gewalt als etwas anderes ausgibt, d. h. dass man so tut, als müsste sie sich nicht einmal über den Sinn der Verantwortung für den Anderen hinwegsetzen. 41 Wie wir wissen, ist ein Experiment, welches das Gegenteil schien beweisen zu sollen, auf europäischem Boden tatsächlich in großem Stil durchgeführt worden. 42 Levinas glaubt in dem, was zur Verantwortung angesichts des Anderen aufruft, den harten Kern einer radikalen, unerlassbaren und durch nichts zu umgehenden ›Subjektivierung des Subjekts‹ gefunden zu haben, der uns auf das Preisgegebensein des Anderen Antwort zu geben zwingt – »sans engagement préalable«. Das Engagement einer rückhaltlosen Freiheit kommt dagegen immer schon zu spät im Verhältnis zu der ethischen Situation, in der es sich angesichts des Anderen unvermeidlich befindet. Diese Situation kommt über uns, aus einer Zeit heraus, über die eine nur aus freien Stücken sich engagierende Freiheit keine Macht hat. Diese Zeit liegt ›vor‹ der Zeit, die diese Freiheit sich im Sinne ihrer Geschichte verständlich zu machen sucht. Von einer Vor-Zeitigkeit oder »antériorité antérieure à toute antériorité représentable: immémoriale« ist die Rede, die in temporaler Hinsicht jener Subjektivierung des Subjekts genau entspricht. 43 Diese Subjektivierung des Subjekts, die ihm das Gute der 41 E. Levinas, Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt/M. 1992, S. 20; ZU, S. 133, 184. 42 Allerdings vermisst man bei Levinas weitgehend spezifische Analysen verschiedenartiger Gewaltformen. 43 Levinas, HaM, S. 100; P. Ricœur, »Emmanuel Levinas, penseur du témoignage«, in: Repondre d’autrui, Neuchâtel 1989, S. 17–40, hier: S. 32.

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Verantwortung für den Anderen auf unhintergehbare Weise aufträgt, einerseits und die Exteriorität der Zeit des Anderen andererseits sind hier zwei Seiten ein und derselben Verabschiedung einer SubjektPhilosophie, die nicht zu denken erlaubte, wie das Subjekt dank einer ihm vor-gegebenen und auf-gegebenen Nicht-Indifferenz von Anfang an ein zum ethischen Leben bestimmtes sein kann. Angesichts des Anderen, von dem dieses Leben sich ableitet, ist nur mehr eine an-archische Subjektivität möglich, eine Subjektivität, die eben nicht in sich selbst ihre arché findet. 44 Dass sie in nicht-indifferenter Weise dem Anderen zu antworten hat, zeigt allerdings, dass diese Subjektivität unentbehrlich ist. Der Nekrolog zum angeblichen »Tod des Subjekts« hat noch lange nicht das letzte Wort. 45

4.

Die Nähe des Anderen – jenseits des Erfahrbaren?

Ist nun das Sein, von dem der späte Merleau-Ponty spricht, ›offen‹ für jene Zeit des Anderen? Bewegen wir uns hier noch auf der Traditionslinie einer Phänomenologie der Offenheit? Oder wird diese nun ihrerseits von einer radikalen Ethik der Verantwortung abgelöst? Wer Levinas’ Auseinandersetzung mit der Phänomenologie von der Théorie de l’intuition dans la phénoménologie de Husserl (1930) über En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger (1949) bis hin zum Grundgedanken eines Sich-vom-Sein-lösens in Autrement qu’être ou au-delà de l’essence (1974) verfolgt und sich vergegenwärtigt, wie tief diese Philosophie doch in der Phänomenologie verwurzelt bleibt, wird überrascht sein, mit welcher Eindeutigkeit und Schärfe Paradox spricht Levinas von einer »Vor-Ursprünglichkeit« dessen, was das Subjekt subjektiviert, um ihm die Verantwortung für den Anderen aufzutragen. Dieses VorUrsprüngliche muss sich freilich zeigen, thematisieren lassen und sich so dem Gesagten ausliefern. Und nur weil dies geschieht, kann man – nachträglich – die Aufgaben einer »An-Archäologie« skizzieren, wie es Levinas stellenweise tut. Der thematisierende Zugriff auf die An-Archie ist von Anfang an kontaminiert mit dieser Nachträglichkeit. So ist das Vor-Ursprüngliche in originärer und nicht hintergehbarer Weise selbst »nachträglich«. Das ist es, was uns Levinas unter dem Begriff einer AnArchie der Subjektivität zu denken zumutet; vgl. JS, S. 30–32, 222 f., 306, 361; SdA, S. 224; E. Levinas, Eigennamen, München, Wien 1988, S. 114, sowie Anm. 62, unten. 45 In Humanismus des anderen Menschen (S. 61–73) stellt Levinas selbst Affinitäten zwischen einem Vernunftdenken einerseits, das seinem ganzen Sinn nach »Archäologie« ist, und einer wissenschaftsgeschichtlich begründeten Apologie des Anonymen andererseits heraus, die Foucault zur These vom »Ende des Menschen« geführt hat. 44

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gelegentlich der phänomenologischen ›Offenheit‹ der Prozess gemacht wird. In Humanisme de l’autre homme wird der Offenheit »jedes Objekts für alle anderen […] in der Einheit des Universums, das durch die dritte Analogie der Erfahrung in der Kritik der reinen Vernunft regiert wird«, und der Offenheit einer ekstatischen Intentionalität eine dritte Offenheit gegenübergestellt (HaM, S. 93); die Offenheit der Verwundbarkeit als der eigentlichen, an-archischen ›Ursache‹ der Subjektivierung des Subjekts. 46 Nur vermittels dieser Verwundbarkeit exponiert sich das Subjekt – unfreiwillig – der Exteriorität, in der der Andere beheimatet ist, und überschreitet so das Sein, in dem es »kein wirkliches Außerhalb gibt«. 47 Deshalb hat die Ethik der Verwundbarkeit Vorrang vor jeglicher Ontologie – unter der Voraussetzung, dass man den Anderen nicht einem Denken in Kategorien unterwirft, die nur für belebte oder unbelebte Dinge angemessen sind, und unter der Voraussetzung, dass man den Anderen nicht lediglich als Seienden, d. h. gewissermaßen bloß ontisch maskiert wahrnimmt. 48 Husserls Feststellung, dass sich alles »Außen« phänomenologisch auf die »Innenbetrachtung der sich selbst im Außen äußernden Subjektivität« reduzieren lassen müsse, zieht die Frage nach sich, ob die Phänomenologie der Offenheit je über eine Transzendenz in der Immanenz hinauskommt. 49 Kann nach Husserls Voraussetzungen eine absolute Exteriorität, wie sie die radikale Anderheit des Anderen bedeutet, gedacht werden, die dem ›Selben‹ in keiner Weise einzuverleiben ist? Begegnet sich nicht im Bewusstsein, »das bis in die Transzendenz hinein immanent bleibt«, immer nur das Selbst bzw. das

Der Begriff der Verwundbarkeit soll gewiss besagen, dass das Subjekt sich in einer Position ohne Reserve befindet, d. h. dass es dem Anderen ausgeliefert ist. Doch während sonst das Ausgeliefertsein als Grund des Schmerzes beschrieben wird, den es wenn möglich zu vermeiden gilt, geht es Levinas gerade um das Gute einer moralischen Verwundbarkeit, die es zu bejahen gilt, denn sie schließt für das Leiden des Anderen auf. Der Schmerz, der daraus entstehen kann, ist in der Tat »nicht so sehr der bellende Wachhund unserer Gesundheit« als der Schrei der Empörung über das, was dem Anderen widerfahren ist. Vgl. dagegen F. J. J. Buytendijk, Über den Schmerz, Bern 1948, S. 144. 47 E. Levinas, Außer sich, München, Wien 1991, S. 77; ZU, S. 172. 48 Womit nicht suggeriert werden soll, die Wahrnehmung des Anderen als eines verkörperten Seienden sei einfach zu umgehen. 49 Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, § 41 f., sowie Held, »Heidegger und das Prinzip der Phänomenologie«, S. 115. 46

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Die Nähe des Anderen – jenseits des Erfahrbaren?

Selbe selbst? 50 Kann es hier einen Aufbruch zum Anderen hin oder einen Anspruch von ihm her geben? Scheinbar nicht, wenn gilt, was aus Zeilen von Paul Celans Niemandsrose hervorgeht, die Levinas’ Kritik des ›Selben‹ und der ›Verselbigung‹ des Anderen wie auf den Leib geschneidert scheinen: Das Selbe hat uns verloren, das Selbe hat uns vergessen, das Selbe hat uns – –

Und doch beherrscht uns das Selbe nicht restlos, denn es tut sich die Welt uns auf, mitten durch uns! […] diese wandernde, leere gastliche Mitte. Getrennt, fall ich dir zu, fällst du mir zu, einander entfallen, sehn wir hindurch […] 51

In diesem Sinne hat Merleau-Ponty in seinem Spätwerk Das Sichtbare und das Unsichtbare den Begriff der Welt ontologisch reinterpretiert: Durch sie treten wir aus uns heraus und öffnen uns auf die in unserer Gegenwart nicht aufhebbare Alterität des Anderen hin (ohne dass das allerdings auf unsere bewusste Initiative zurückzuführen wäre). Levinas misstraut aber dieser Lösung, wie sein Essay »Über die Intersubjektivität« deutlich zeigt. 52 Kann der phänomenologische Weltbegriff, wie ihn der späte Merleau-Ponty ›aisthesiologisch‹ von der gegenseitigen Berührung her als Inter-Korporeität deutet, wirkWie Levinas den Begriff des Selbst mit dem des Selben kurzschließt, hat frühzeitig bereits Derrida festgestellt; auch Ricœur folgt Levinas in diesem Punkt nicht. Vgl. SD, S. 167 f. 51 P. Celan, »Die Niemandsrose«, in: Ausgewählte Gedichte. Zwei Reden, Frankfurt/ M. 1980, S. 75 ff., hier: S. 78. Im Gedicht Stilleben erscheint diese gastliche Mitte der Welt als »das Fremde, des Gast du […] bist«; ebd., S. 41. 52 E. Levinas, »Über die Intersubjektivität«, in: Métraux, Waldenfels (Hg.), Leibhaftige Vernunft, S. 48–55. 50

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VI · ›Offen‹ für den Anderen?

lich der »radikalen Trennung« gerecht werden, ohne die sich nach Levinas’ Überzeugung »die ethische Ordnung der Sozialität« gar nicht verstehen lässt? 53 Die Sozialität wird, so schreibt er, »vom Antlitz aus bedeutet«, d. h. im Zeichen einer radikalen Fremdheit, die uns zugleich zur Nicht-Indifferenz ›angesichts des Anderen‹ bestimme. 54 Für ihn stellt sich die Sozialität, die uns im Zeichen dieser Fremdheit verbindet, von vornherein als ethische dar, nicht als bloße »Wahrnehmung des Anderen«. Levinas bekräftigt so seine Vorbehalte gegenüber einer Phänomenologie des Sozialen, die mit Husserls Cartesianischen Meditationen vom Problem der »Fremdwahrnehmung« ausgeht. Doch übersieht er nicht, wie weitgehend die Phänomenologie ihrerseits schon das Denken einer subjektiv anzueignenden Erschlossenheit alles Erfahrbaren, darunter auch der Anderen, unterhöhlt hatte. Schon Bergson schien in der ständigen Erneuerung der Dauer eine Transzendenz entdeckt zu haben, »die vom Selbst zum absolut Anderen überzugehen gestattet«. Und die Phänomenologie, die hier anknüpfen konnte, hatte gezeigt, wie das Spiel einer fungierenden Intentionalität die bloß objektivierende Intentionalität überschreiten musste, »von der der Idealismus lebt« (SdA, S. 152, 68 f.). Man begann so eine ständige Selbstüberschreitung der Erfahrung in ihr selbst zu entdecken. Nicht nur reicht über das in »lebendiger Selbstgegenwart« Erfahrene ein »Horizont von eigentlich Nicht-Erfahrenem, aber notwendig Mitgemeintem« hinaus; nicht nur bleibt hinter dem aktuell Erfahrenen eine »zumeist völlig dunkle Selbstvergangenheit« zurück; auch die zum Ausdruck gebrachte Erfahrung ›sagt‹ mehr, als sie aussagen kann. 55 Keine Bedeutungsintention ist ein ›reines Bedeuten‹. »Ce que nous voulons dire n’est pas devant nous, hors de toute parole, comme une pure signification. Ce n’est que l’excès de ce que nous vivons sur ce qui a été déjà dit« bzw. »l’excès de ce que je veux dire«. 56 Ebenso überschreiten und unterlaufen sich gegenseitig Tun und Getanes, Sehen und Gesehenes, Lesen und Gelesenes, Denken und Gedachtes. Erfahrung als Geschehen und Erfahrenes als dessen Produkt kommen nicht zur Deckung. Demnach muss man die Erfahrung, das

Ebd., S. 53. Ebd., S. 54. 55 Vgl. B. Waldenfels, Der Spielraum des Verhaltens, Frankfurt/M. 1980, S. 69, 87, 157 f. 56 Merleau-Ponty, Signes, S. 104, 112. 53 54

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Die Nähe des Anderen – jenseits des Erfahrbaren?

Denken, das Wahrnehmen und das Sagen als in sich außer sich und als sich in sich auf eine Weise überschreitend verstehen, die sich nicht aufheben lässt. Selbst in der Immanenz des Gedachten bleibt etwas draußen, wenn das Denken, wie Levinas sagt, selbst außer sich ist. Levinas bekennt sogar, dass ihm dieser Gedanke eine »ethische, d. h. wesentlich den Anderen berücksichtigende Sinngebung möglich« erscheinen ließ (SdA, S. 137 f.). Kann also doch die Phänomenologie der Offenheit der Anderheit des Anderen gerecht werden? Findet die Transzendenz, das Über-Maß der Exteriorität des Anderen, noch in einer Philosophie der Erfahrung Platz? Ist diese Philosophie einer Transzendenz gewachsen, der gegenüber das Subjekt antwortet auf das, »was über das Maß seiner Intentionen hinausgeht«? 57 In letzter Instanz ist Levinas’ Urteil in dieser Sache eindeutig. Benennt nicht der Begriff einer Erschlossenheit, die auch für das Andere, das Fremde und das Neuartige aufschließt, die ständige Möglichkeit, alles Außer-Ordentliche und Andere im Prinzip in eine weiterführende Erfahrung einordnen zu können – selbst wenn diese ihrerseits wiederum einen Schatten von Anderem werfen sollte, das ›draußen‹ bleibt? Nicht auf diese Weise, behauptet Levinas, kann man der Anderheit des Anderen gerecht werden. Erschlossen ist uns je nur der sichtbare und verstehbare, ›relative‹ Andere. Aber der Andere geht in Wahrheit »nicht vollständig auf in der Erschlossenheit des Seins, in der ich mich schon aufhalte wie auf dem Felde meiner Freiheit. Er begegnet mir überhaupt nicht vom Sein her.« 58 Der Andere kann zwar zum Objekt eines Blickes werden, der über das Gesehene herrscht, indem er den Anderen in die Scham stürzt, wie es Sartre beschrieben hat. Doch selbst in der Scham geht der Andere niemals auf. Wenn ich den Anderen, als ein Moment der Welt, als Beschämten gewissermaßen dingfest gemacht habe, habe ich ihn bereits verfehlt. »Ich habe ihm nicht in die Augen gesehen, ich bin nicht seinem Antlitz begegnet.« 59 Die Identifikation des Anderen verfehlt gerade seine »Nähe«, die sich in keiner Weise Levinas, Eigennamen, S. 114. Zweifellos begegnet der Andere auch als ein ›Seiender‹, doch ist er »nicht in die Form des Erscheinens eingeschlossen«; vgl. HaM, S. 6; SdA, S. 116. 59 Ebd. Die Begegnung mit dem Anderen, die für Levinas kein bloßes Sehen, sondern nur ein Sprechen leisten kann, hat gerade eine Unsichtbarkeit des Anderen zu gewärtigen, die gleichwohl ihre Spur hinterlässt im Gesicht des Anderen. Paradox spricht Levinas von einer »sichtbaren Unsichtbarkeit« und von einer nackten Gegenwart, »die durch einen Abschied zurückgelassen ist«. Dieser Abschied hat immer schon 57 58

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dem Bewusstsein oder der Erfahrung der Nähe verdankt. Das Subjekt der Erfahrung, so wie es bislang gedacht wurde, öffnet sich dieser Nähe nicht; selbst im negativsten Widerfahrnis bleibt es, wie Levinas in pointiertem Gegensatz zum phänomenologischen und hermeneutischen Erfahrungsbegriff sagt, der eigentliche »Garant für das gesamte Abenteuer des Seins […]. Gerade deshalb aber ist das Abenteuer kein Abenteuer. Niemals ist es riskant.« So bleibt das Subjekt »Selbstbesitz, Prinzipat, arché. Was ihm an Unbekanntem auch zustoßen mag, ist schon im voraus enthüllt, erschlossen, offenbar […]« (JS, S. 221). Nichts vermag es wirklich zu überraschen. Lässt sich demgegenüber denken, dass der Andere der Subjektivität selbst widerfährt, ohne im erfahrenen Anderen aufzugehen? Auf den ersten Blick wird diese Frage als paradox erscheinen. Kann vom Anderen nicht allemal nur als erfahrenem Anderen die Rede sein? Verweist uns diese Fragestellung nicht erneut auf ein transzendentales Ich als arché der Erfahrung zurück? Genau das möchte Levinas offenbar bestreiten, indem er von einer Verwundbarkeit oder auch Besessenheit der Subjektivität selbst spricht, die »auf anachronistische Weise jedem Engagement vorausgeht«. Die Vorgängigkeit der Nähe des Anderen ist »älter als das Apriori«. »Diese Formulierung bringt eine Art des Affiziertseins zum Ausdruck, die sich keineswegs der Spontaneität verdankt: Das Subjekt wird affiziert, ohne dass die Quelle der Affektion zum Gegenstand der Vorstellung würde.« Hier soll es sich um eine Beziehung zur Exteriorität handeln, die »›früher‹ ist als der Akt, der sie eröffnen könnte, Beziehung, die gerade nicht Akt, Thematisierung ist, nicht Setzung im Fichteschen Sinne«. 60 Eine Archäologie der Subjektivität geht nicht weit genug, denn sie stellt nicht die Frage, ob die Subjektivität selbst noch durch etwas ins Leben gerufen wird und ob sie, wenn wir dies annehmen stattgefunden. Insofern ist das »Subjekt«, das von ihm her eigentlich lebt, »von Geburt an verwaist«. Es lebt diasporisch. Vgl. SdA, S. 202–206, 284; ZU, S. 49. 60 JS, S. 223. Vgl. den Rückbezug auf Fichtesches Erbe, vermittelt über die Reflexionsphilosophie Jean Naberts, den Ricœur im Dialog mit Levinas herstellt in: »Emmanuel Levinas: penseur du témoignage«, S. 17–40. Während Levinas hier selbst auf Fichte Bezug nimmt, spielt er an anderen Stellen häufig auf Sartre an, um gelegentlich in einem Atemzug eine dem Cartesianismus verpflichtete Subjektivität und das Sein im Sinne von Sein und Zeit seiner Kritik zu unterziehen. Dabei gerät aus dem Blick, wie in Sein und Zeit der selbst im Denken einer nicht ›verdinglichten‹ Subjektivität latente Cartesianismus kritisiert wurde (vgl. JS, S. 46, 114, 323). Im Übrigen wird in Sein und Zeit gerade bestritten, dass das erschlossene Sein als ein »Feld der Freiheit« (s. o.) zu verstehen sei, dessen ein »Subjekt« noch mächtig wäre.

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müssen, diesen Verzug, ihr Später-sein gegenüber dem, was sie affiziert, je aufholen kann – sei es auch nur in der Weise, das ihr gegenüber Vor-Ursprüngliche zu ›übernehmen‹. 61 Kann ein solches Übernehmen den Rückstand der verspäteten (ethischen) Geburt der Subjektivität aus dem Geist des Anderen aufholen, um sie als arché all dessen zu behaupten, was sie affiziert? Diese Frage hat Levinas im Sinn, wenn er paradox von einer »Passivität diesseits aller Passivität« spricht, die nicht, in »intentionaler Begrifflichkeit«, als ein Übernehmen eines Erleidens oder Widerfahrens zu verstehen ist, d. h. »als eine Erfahrung, in die man im vorhinein immer schon eingewilligt hat, die bereits Ursprung und arché ist« (JS, S. 225). Die Exteriorität, in der der Andere beheimatet ist, wird nun so weit vom ›subjektiven‹ Leben abgerückt, dass dieses der Exteriorität nicht länger auf der Spur scheint folgen zu können, die sie im Gesicht des Anderen bzw. vermittels seines Angesichts hinterlassen hat. Jeder Versuch, dieser Spur nachzugehen, wird nur immer von neuem die unaufholbare Vor-Zeitigkeit und Vor-Ursprünglichkeit der Anderheit des Anderen bestätigen. 62 Immer wenn ein Subjekt Dass das Subjekt nicht seinen zureichenden Grund in sich selbst hat, wird in der klassischen Subjektivitätstheorie gelegentlich zwar auch anerkannt, doch dementiert sie, Henrich zufolge, vor allem dies: »daß nämlich in irgendeinem, das der Mensch als von sich verschieden […] erfährt, ein Anspruch gelegen sein könnte, in den das aufgeht, als was er sich selbst erfährt und wozu er sich aus seinem ihm selbst vertrauten Wesen bestimmt weiß«. Gerade um einen solchen, dem »Subjekt« nicht verfügbaren und in seiner Unverfügbarkeit vor-ursprünglichen Anspruch geht es dagegen Levinas; vgl. D. Henrich, »Die Grundstruktur der modernen Philosophie«, in: H. Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt/M. 1976, S. 97–121, hier: S. 111, 114. 62 Vgl. J. Derrida, Vom Geist. Heidegger und die Frage, Frankfurt/M. 1992, S. 107 f., 125, 130, sowie Anm. 44, oben. Derrida bezieht gerade diese Denkfigur auf den späteren Heidegger zurück (während Levinas’ Gesprächspartner fast immer der Autor von Sein und Zeit blieb). Heideggers späteres Denken des Seins als Ab-Grund wäre durchaus mit Levinas’ Begriff einer An-Archie der Subjektivität in Verbindung zu bringen, gilt Heideggers Kritik doch einer Philosophie, die alles, was ist, als »Gegenständiges« vorstellt und so der Herrschaft einer transzendentalen Subjektivität unterstellt. So werde das Sein zugunsten der Vernunft zum Verschwinden gebracht, heißt es bei Heidegger in: Der Satz vom Grund, Pfullingen 71992, S. 183. Diesem Vernunftdenken im Sinne einer Archäologie, die als transzendentale Frage nach dem Grund konzipiert ist, soll gerade nicht eine lediglich tiefer angesetzte, ontologische Archäologie entgegengestellt werden, sondern die Rückbesinnung auf ein Sein, das zwar ein »stiftendes Gründen« ermöglicht, das aber selbst ohne Grund, d. h. an-archisch bleibt (ebd., S. 188). Diesen an-archischen Zug bei Heidegger legt ausführlich R. Schürmann in Heidegger on Being and Acting, Bloomington 1987, dar; und zwar so, dass 61

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auftritt, war der Andere schon fort. Die Vor-Zeitigkeit und Vor-Ursprünglichkeit des Anderen offenbart die An-Archie der Subjektivität, die unfähig scheint, das zu denken, was das Subjekt affiziert, ohne sich erinnernd in dessen Gegenwart aufheben zu lassen. So offenbart sich das Versagen der Geschichte, des Gedächtnisses und der ›primären Erinnerung‹ eines inneren Zeitbewusstseins, d. h. jeglichen Vergangenheitsbezugs, der vergegenwärtigen zu können scheint, was uns affiziert. 63 Schlägt die Kritik einer Archäologie der Subjektivität also in eine Archäologie des Anderen um? ›Herrscht‹ nun statt eines allein in sich gegründeten Subjekts der Andere – kraft einer »absoluten Heteronomie«, wie Levinas sagt? Gefährdet nicht Levinas sein ganzes Unternehmen, indem er diese Denkmöglichkeit zulässt? Wird die Herrschaft einer rückhaltlos freien, ursprünglich zu nichts verpflichteten und gegenüber nichts verantwortlichen Subjektivität, der scheinbar »alles erlaubt« ist 64, zugunsten einer ethischen An-Archie abgesetzt, so kann doch diese An-Archie nicht ihrerseits wiederum herrschen, ohne sich selbst zu widersprechen: »Der Begriff der Anarchie, wie wir ihn hier einführen, geht dem politischen (oder antipolitischen) Sinn voraus, der ihm im allgemeinen Sprachgebrauch zukommt. Er kann

die An-Archie zwar als Erfahrung (durch ein korrelatives Entbergen [presencing] und Verbergen [absencing]) ermöglichend, nicht aber als »herrschend« gefasst werden kann. Die An-Archie erweist sich als nicht subjektivierbar und zwingt dazu, die Erfahrung als Antwort auf ein vorgängiges, keiner Freiheit zur Disposition stehendes Geschehen der Eröffnung/Verschließung von Erfahrbarem zu verstehen (ebd., S. 122 f.). Selbst die Verknüpfung dieses Antwortcharakters der Erfahrung (im Sinne einer An-Archie der Subjektivität) mit dem Begriff der Verantwortung lag Heidegger nicht fern: »Im Antworten übernehmen wir die Bestimmung des Geschehens und machen es dadurch zur Geschichte. Dieses Antworten ist ein Verantworten«, heißt es in »Hölderlins Hymnen ›Germanien‹ und ›Der Rhein‹« (Gesamtausgabe, Bd. 39, Frankfurt/M. 21989, S. 175). Levinas’ Kritik würde gewiss bei »übernehmen« und »machen« einsetzen. Mehr noch aber würde er die Verleugnung einer temporalen Exteriorität herausstellen, die aus seiner Sicht allein das Refugium des Anderen sein kann. (S. u., Anm. 68.) 63 Vgl. meine kritische Auseinandersetzung mit dieser Schlussfolgerung in: Vom Anderen her. Erinnern und Überleben, Freiburg i. Br., München 1997, Kap. VII zu Levinas’ Kritik der Geschichte. 64 Zur Revision dieses oft auf Dostojewski zurückgeführten Vorurteils vgl. J.-P. Sartre, Tagebücher. Les carnets de la drôle de guerre. November 1939 – März 1940, Reinbek 1984, S. 162; Vf., »Freiheit im Widerstand gegen sich selbst – zwischen Enttabuisierung und Re-Sakralisierung«, in: Philosophische Rundschau 64, Heft 3 (2017), S. 203–219.

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nicht, ohne sich selbst zu widerlegen, als Prinzip gesetzt werden […]. Die Anarchie kann nicht souverän sein wie die arché« (JS, S. 224). 65 Die Macht, mit der die Anderheit die Subjektivität heimsucht, darf nicht in die Zwangshaftigkeit einer Heteronomie münden, die, streng genommen, keine andere Wahl mehr ließe, als ihr Gesetz zu befolgen, und genau deshalb die Verantwortung, die dem Subjekt angesichts des Anderen aufgetragen wird, nicht mehr als eine Antwort würde gelten lassen können, wie sie Levinas annehmen möchte. Das Worauf des Antwortens (in) der Verantwortung beschreibt Levinas mit einer ganzen Kaskade von Begriffen, die symptomatisch ist für die Schwierigkeit, an dieser an-archischen Nahtstelle weiterzudenken. Von einem Trauma ist die Rede, das die Subjektivität heimsucht und sie »erwachen« lasse wie durch einen Schmerz im vom Übermaß an Licht geblendeten Auge. Aber auch von Ernüchterung, von Beunruhigung durch den Anderen, von Verstörung, ja von Erwählung durch die mir gegebene Verantwortung, von Verfolgung, von Entblößung im Dem-Anderen-ausgesetzt-sein sowie von Gastlichkeit ist die Rede, die sich darauf vorbereitet, den Anderen im Selben zu beherbergen, oder dazu von Anfang an bestimmt ist. An anderer Stelle kommt ein Befallensein des für den Anderen Verantwortlichen zur Sprache, das an eine Infektion denken lässt. An der entscheidenden Stelle wird diese Philosophie allzu vieldeutig. Gleichwohl hält sich in allen Variationen der entscheidende Grundgedanke durch, dass das Dem-Anderen-ausgesetzt-sein mehr als nur eine Offenheit dem Anderen gegenüber bedeuten muss, die einem Subjekt noch die Wahl ließe, sich ihr gegebenenfalls auch radikal zu verschließen. Die Entblößung der Subjektivität muss so weit gehen, sagt Levinas, dass der für den Anderen Verantwortliche ›offen wird‹ bis dahin, dass er sich von seinem Innersten, das am Seienden und am Sein klebt, trennt – bis dahin, dass er sich, selbstlos, vom Sein löst. Diese Entblößung, die das Subjekt davon befreien soll, dass es ihm in seinem Sein je nur um dieses selbst geht, bezeichnet der Begriff der Verwundbarkeit. Nach Maßgabe dieser Verwundbarkeit werden wir die Sorge um den AndeAber auch das Sprechen über die An-Archie beweist nicht etwa eine ›Herrschaft‹ der Sprache über das, was der Subjektivität vorausliegt – »sonst wäre die Anarchie noch der Arché des Bewußtseins untergeordnet«; vgl. SdA, S. 319. Nachdrücklich zu warnen ist hier davor, Levinas’ Begriff der An-Archie mit dem gewöhnlichen Begriff der Anarchie zu verwechseln, der zu einem denunzierenden Schlagwort geworden ist; vgl. H. Ebeling, Das Subjekt in der Moderne, Reinbek 1993, S. 46, 51, 188.

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ren gelehrt; aber nicht zusätzlich zur Sorge um uns selbst, die die Jemeinigkeit auf sich zentriert. Es geht gerade nicht um eine ethische Dimension, die zur jemeinigen Sorge nachträglich hinzukommen würde wie das sogenannte Mitleid gegebenenfalls zur Selbsterhaltung oder auch zu einem bloßen Mit-sein hinzukommt. Die Frage »Warum betrifft mich überhaupt der Andere?« oder »Bin ich meines Bruders Hüter?« hat nur Sinn, »wenn man bereits zur Voraussetzung gemacht hat, daß das Ich sich nur um sich selbst sorgt […]. Unter dieser Voraussetzung bleibt es in der Tat unverständlich, daß das absolute Außerhalb meiner – der Andere – mich betrifft« (JS, S. 260; vgl. HaM, S. 76). Es geht demgegenüber gerade darum, zu begreifen, wie ein Selbst erst eingesetzt, instituiert und gestiftet werden kann durch die Sorge um den Anderen, durch die Verantwortung für ihn. Keineswegs soll mitleidsethisch einer ›Großzügigkeit des Sich-dem-Anderen-anbietens‹ das Wort geredet, sondern der Sinn von Subjektivität selbst als ein der Sorge um den Anderen gewidmeter verständlich werden, der sich ›manifestiert‹, bevor wir die Verantwortung für den Anderen auf uns nehmen oder von uns weisen können. Entscheidend ist, dass noch die Zurückweisung und die Delegation von Verantwortung nur als Modi des ›Stehens‹ in ihr zu verstehen sind. Nicht ein conatus essendi und ein die Suche nach sich selbst antreibender Mangel an Sein-durch-sich-selbst steht ›am Anfang‹, sondern die Subjektivierung des Subjekts, die ihm die Verantwortung ›gibt‹ und die Subjektivität als arché absetzt. 66 Das Leben in der Verantwortung soll gerade befreien von der Sucht nach Erfüllung eines Begehrens oder einer Begierde, die das jemeinige Sein in Atem hält und es womöglich doch nie über sich selbst hinausgelangen lässt. Das Gute der Verantwortung liegt darin, dass sie uns aus dem guten Gewissen der Jemeinigkeit aufstört und uns angesichts der Schwäche, des Preisgegebenseins und des Leidens des Anderen ein schlechtes Gewissen haben lässt – das uns sonst, wäre mit Kant hinzuzufügen, niemals ›gemacht‹ werden könnte. 67 Unübersehbar wird hier die Situation des schuldlos Überlebenden, der trotz objektiver Schuldlosigkeit am Tod des Ande66 Vgl. Ricœur, Die Interpretation, S. 56–60. Als bloße Polemik kann man die Art, in der Levinas die Selbsterhaltung mit dem conatus essendi und mit der Rede vom Sein kurzschließt, dem es in seinem Sein um dieses selbst bzw. um es selbst geht, nicht abtun. Vgl. dazu exemplarisch W. Schulz, Ich und Welt. Philosophie der Subjektivität, Pfullingen 1979, S. 28, 48, 81, 182 ff. 67 Hier liegt eine auffällige Parallelität der Begründung der Unhintergehbarkeit der

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ren den Skrupel empfindet, (noch) am Leben zu sein, während der Andere der Geschichte zum Opfer gefallen ist, zum entscheidenden Hinweis auf das Gute, das in der Gabe der Verantwortung liegt; genauer: im schlechten Gewissen der Verantwortung derjenigen, die ein der darwinschen, dem Tod gegenüber indifferenten Überlebens-Logik widersprechendes, anderes Überleben bezeugen. Gewiss: auch ein verantwortliches Leben wird stets ein jemeiniges sein müssen. Die Gabe der Verantwortung selbst kann niemand delegieren; auch dann nicht, wenn die zu übernehmende Verantwortung ›abgegeben‹ bzw. auf Andere übertragen wird. Aber in der Verantwortung geht es um mehr als nur um ein Sein, das so oder so je umwillen seiner selbst existiert. Es geht um die »Substitution« jemeinigen Lebens, um ein Einstehen für Andere, das nach Maßgabe einer jeder Freiheit vorgängigen Verwundbarkeit geboten ist. Die Substitution muss darauf hinauslaufen, meint Levinas, zum nicht zu rechtfertigenden Leiden des Anderen ›nein‹ zu sagen. Jegliche Rechtfertigung des Leidens Anderer setzt sich über dieses ›Nein‹-Sagen hinweg, zu dem wir in unhintergehbarer Nicht-Indifferenz angesichts der Sterblichkeit des Anderen bestimmt sind. Diese Bestimmung entspringt wiederum weder einer Kausalität noch lässt sie die Freiheit, sich in einer indifferenten Gleichgültigkeit zu verschanzen. 68 Von vornherein geht uns das Leiden des Anderen unabweisbar als Verantwortliche etwas an (wie auch immer Verantwortung dann konkret zu ›tragen‹ ist); das ist es, was Levinas als Verwundbarkeit oder Subjektivierung des Subjekts beschreibt. Wir sind bzw. werden Subjekte demnach überhaupt nur deshalb, weil wir uns angesichts Anderer jederzeit und rückhaltlos die Frage der Verantwortung zuziehen können wie eine gutartige Krankheit – kraft einer ethischen Passivität, die gerade nicht in unserer Macht steht.

Verantwortung mit der Theorie des Gewissens als eines »Faktums der Vernunft« (Kant). 68 Bei Levinas ist die Nicht-Indifferenz einerseits einer Nicht-Unterschiedenheit des Anderen vom Selben entgegengesetzt, d. h. einem Denken, das keine radikale Differenz des Anderen kennt. Andererseits wird die Nicht-Indifferenz der Subjektivität, die dem Anderen in seiner radikalen, unaufhebbaren Differenz ausgesetzt ist, zugleich auch als eine ›moralische‹ Nicht-Gleichgültigkeit bestimmt. Diese NichtGleichgültigkeit versteht Levinas freilich nicht so, dass auch der Hass (der ja auf seine Weise auch als Nicht-Gleichgültigkeit im Verhältnis zum Anderen aufzufassen wäre) sie erfüllen könnte. Für Levinas heißt Nicht-Gleichgültigkeit immer auch ›Ja‹-Sagen zur Verantwortung.

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Manifestierte sich die Verwundbarkeit indessen nur als ein heteronomes Erleiden eines ethischen Anspruchs des Anderen unter dem Zwang eines fremden Gesetzes, so würde sie überhaupt keine diesem Anspruch antwortende Verantwortung zulassen. Liefe die Verwundbarkeit demgegenüber darauf hinaus, dass uns nur eine nicht-indifferente Antwort auf das Leiden des Anderen aufgegeben ist, die jederzeit auch ausbleiben könnte oder zu ignorieren wäre, so könnte nicht mit Recht von einer unabweisbaren Verantwortung die Rede sein. Von der Denkbarkeit eines dritten Weges hängt Levinas’ Kernproblem einer unhintergehbaren Nicht-Indifferenz, die die Subjektivität als eine ›ethisch‹ dem Anderen Antwort gebende instituiert, in besonderer Weise ab.

5.

An-archische Zugänglichkeit des Anderen

Die Verwundbarkeit angesichts der Sterblichkeit, Schwäche, Gebrechlichkeit, des Alterns des Anderen, das Nein-Sagen dazu, dass er in einer tödlichen Verlassenheit sich selbst überlassen wird, hat Sinn allein als ein »›Sorge tragen um die Bedürfnisse des Anderen‹, um seine Mißgeschicke und um seine Verfehlungen, das heißt als ein Geben« (JS, S. 168). Zum Geben, das wir nicht zurückgeben oder abgeben können, sind wir so bestimmt; das nicht-gegenseitige Geben ist der an-archische Sinn der Subjektivität und das, was sie zu ›sagen‹ hat. Weil uns dieser Sinn vor jeglichem Tun oder Unterlassen aufgegeben ist, können und müssen wir selbst zur Schau gestellte Gleichgültigkeit, selbst Ahnungslosigkeit vorschützende unterlassene Hilfeleistung und erst recht jedes Vergehen gegen die Existenzmöglichkeiten der Anderen – bis hin zum Verbrechen, zum Genozid – als einen Verstoß gegen die Aufgabe ethischen Lebens verstehen. Auch der scheinbar Gleichgültige kann aus diesem Leben demnach nicht austreten wie aus einem gemeinnützigen Verein. Auch die Indifferenz ist eine Weise des ›Stehens‹ in der Verantwortung. Auch diesseits von Recht und Gesetz, im sogenannten Naturzustand, verstößt so gesehen tödliche Gewalt noch gegen die uns gegebene Verantwortung – was auch immer konkret aus ihr folgen mag. (Etwa: nicht nur diese Gewalt zu unterlassen, den Anderen zu schonen, vor ihr in Schutz zu nehmen, auch präventiv; usw.). Auch im hobbesianischen Naturzustand werden nicht nur belebte Maschinen bzw. Organismen liquidiert – wogegen in einer falsch verstandenen Anarchie 230 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

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ja nichts spricht –; selbst in einem Krieg aller gegen alle herrscht das ›natürliche Gesetz‹ der Selbsterhaltung nicht unumschränkt. Wenn man freilich mit Levinas davon ausgeht, dass ein Befehl, nicht am Tod des Anderen schuldig zu werden, ›immer schon‹ ergangen ist, sollte dieses ›immer schon‹ doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass man der Realität des Befehls nur über seine effektive Befolgung näher kommt, so wie man nur von der Übernahme der Verantwortung für den Anderen her klären kann, was zu ihr aufgerufen hat. Von Anfang an ist Levinas’ Philosophie eine hartnäckige Auseinandersetzung mit dieser noch in Autrement qu’être immer wieder thematisierten Nachträglichkeit. Gewiß, Levinas möchte ein unhintergehbares Dem-Anderen-ausgesetzt-sein herausstellen, das seine absolute Vorgängigkeit und Vorrangigkeit gegenüber der Nachträglichkeit des Zugangs zu ihm behauptet und nicht von unserer stets mangelhaften Übernahme konkreter Verantwortlichkeit abhängig sein soll. So will Levinas die Wirklichkeit einer unhintergehbaren Verantwortung erweisen, die nicht von einer ohnehin allzu oft ausbleibenden Annäherung an den Anderen abhängt. Selbst wenn Nähe zum Anderen ›hergestellt‹ wird, soll es nicht die Annäherung des Subjekts sein, die über sie entscheidet. Denn »bei der Annäherung bin ich von vornherein Diener des Nächsten, von vornherein schon zu spät und schuld an der Verspätung […]« (JS, S. 195). Gerade die Nachträglichkeit der Annäherung soll die auf keine Vergegenwärtigung relative und irreduzible Realität eines vorgängigen Aufgerufenseins zur Antwort bestätigen. Dieses Aufgerufensein muss sich allerdings im Geschehen effektiver Verantwortung manifestieren, in dem das verantwortliche Subjekt zum ethisch sprechenden wird, auch wenn es nichts darüber verlauten lässt. Levinas nennt das das Sagen (dire) der Verantwortung, welches unsichtbar bleibt, solange es keine Spuren in verantwortlichem Tun, Denken und auch Schreiben hinterlässt. Insofern ist die Verantwortung auf Getanes angewiesen. Und sie erschließt sich auch nur vom Getanen her. Nur nachträglich wird sichtbar, was zu ihr aufgerufen hat. Genauso kommt die Bedeutung des vom Anderen ausgehenden Befehls, der zur Verantwortung aufruft, »durch denjenigen zustande […], der ihm gehorcht« (JS, S. 328). Wird somit nicht jene Gabe der Verantwortung bis ins Mark kontaminiert mit der Empirizität konkret übernommener oder auch versäumter, ignorierter oder abgeleugneter Verantwortung? Kann man am ethischen Primat einer absoluten Verantwortung gegenüber 231 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

VI · ›Offen‹ für den Anderen?

dem Anderen noch festhalten, wenn die Nähe des Anderen nur in einem Geben sich bekundet, das wiederum am schließlich Gegebenen, dem »dem eigenen Munde abgerungenen Brot«, sein Maß hat? Wird somit nicht die Nähe des Anderen allein von der übernommenen Verantwortung her bewahrheitet (und in zurückgewiesener Verantwortung geleugnet)? Ist die Nähe am Ende nichts ohne ihre Bezeugung im Konkreten? Und läuft man andererseits so nicht Gefahr, sie einer empirischen Realität auszuliefern, die gerade zu beweisen scheint, daß jene Indifferenz möglich ist? 69 Es war sicher ein zentrales Motiv von Levinas, dieser Gefahr begegnen zu wollen. Was er als ›ursprüngliche Sozialität‹ beschrieben hat, konnte bzw. wollte er sich nicht ohne eine Verantwortung vorstellen, der sich überhaupt niemand je zu entziehen vermag. So sollte die Gabe der Verantwortung jeglicher Gewalt entzogen sein, was auch immer die neuere Gewaltgeschichte darüber gelehrt haben mochte. Und um das denken zu können, sah er sich offenbar dazu gezwungen, diese Gabe in einer vor-ursprünglichen Vergangenheit bzw. in einem »tiefen Einst« (Paul Valéry) zu verorten, zu dem man sich allenfalls nachträglich verhalten kann – niemals aber so, dass es ethisch indifferent werden könnte. Es ist aber nicht zu übersehen, dass diese Gabe auch dem Ethiker nur nachträglich zugänglich werden kann. Zur An-Archie dessen, was die Subjektivität als eine verantwortliche ins Leben ruft, haben wir keinen unvermittelten Zugang im Sinne einer ›direkten Ethik‹. Deshalb kann zugleich Levinas’ Kritik einer erinnernden Zeitlichkeit nicht ohne Einschränkungen aufrechterhalten werden. Von dem, was der Subjektivität vorausliegt und sie ethisch überhaupt erst ins Leben ruft, können wir doch ebenfalls nur nachträglich, auf erinnernde Weise, sprechen. Die Frage ist freilich, wie der Erinnerungsbegriff hier noch Anwendung finden kann. Ist das Versagen einer vergegenwärtigenden Erinnerung nur als ein Scheitern zu werten, oder bahnt es einer vertieften Beziehung zur Vergangenheit des Anderen den Weg? Genau diese Frage treibt Levinas offenbar um, wo sein Denken um das Problem einer nicht zu vergegenwärtigenden Zeitlichkeit, die er Diachronie nennt, kreist und energisch die von Augustinus über Hegel, Husserl und Heidegger bis hin zu Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung herrschenden Modelle einer erinnernden 69

Siehe oben, S. 229.

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An-archische Zugänglichkeit des Anderen

Zeitlichkeit zurückweist. Eine solche Diachronie muss denkbar sein, soll es eine Zeit des Anderen geben können, in der dieser seine absolute Anderheit wahren kann. Wurde demgegenüber nicht die ›Wiederholung‹ zur ontologischen Grundstruktur der Zeitlichkeit erklärt, die jegliche Vergangenheit und Zukunft zu einer Modifikation der Gegenwart macht? Und führt Husserls Beschreibung des inneren Zeitbewusstseins nicht vor, dass selbst dort, wo eine Vergangenheit der Gegenwart in dieser sich einnistet, noch immer von einer gegenwärtigen Vergangenheit auszugehen ist, die sich als Erfahrung der Entgegenwärtigung an der Gegenwart selbst abzeichnet? War Husserl nicht ebenso wie Merleau-Ponty von der ›Unzerstörbarkeit‹ des Vergangenen überzeugt? 70 Musste dieses Denken einer es ständig wiederholenden und gegenwärtigenden Zeitlichkeit nicht deren Öffnung auf eine absolute temporale Exteriorität der Zeit des Anderen hin ausschließen? Genau das wirft Levinas der Zeitphilosophie Merleau-Pontys vor, ohne zu sehen, dass diese frühzeitig auf die Spur einer nicht zu vergegenwärtigenden Vergangenheit geführt hatte, »die niemals Gegenwart war« und nur nachträglich einer späteren Gegenwart gegenüber als vorzeitig erscheinen kann, ohne noch den »Vorbehalt« einer nur »freiwillig ihr gegenüber eingegangenen Verpflichtung« zu gestatten (s. o.; vgl. JS, S. 109, 161, 362). Muss nicht Levinas seinerseits die Rede von einer »ursprünglichen Vergangenheit, die niemals Gegenwart war«, auf eine ›spätere‹ Gegenwart sich stützen lassen, von der aus sich dieses »niemals« als Sichentziehen einer Diachronie darstellen kann? In diesem Sinne, scheint mir, spricht Levinas von einer »uneinholbaren Zeit des Anderen, der die Erinnerung nicht gewachsen ist«. 71 Diese Rede muss allerdings erneut das Problem aufwerfen, wie denn eine Annäherung an den Anderen möglich sein soll, wenn man ihn einer absoluten Exteriorität überantwortet sieht. Kann es eine Annäherung an den Anderen geben, die seine Alterität und Exteriorität nicht aufhebt? Muss man nicht im Lichte jener Nachträglichkeit die Exteriorität als mit dem Versuch einer Annäherung an den Anderen kontaminiert begreifen? Immerhin müsste eine erinnernde Annäherung in phäno-

So dass sich Hegel bestätigt sehen könnte, der feststellte, »die Momente, die der Geist hinter sich zu haben scheint, hat er auch in seiner gegenwärtigen Tiefe«; G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke 12 (Hg. E. Moldenhauer, K. M. Michel), Frankfurt/M. 1986, S. 105. 71 Levinas, JS, S. 239, 306; vgl. Derrida, SD, S. 164. 70

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menologischer Perspektive nicht so gedacht werden, dass sie zwangsläufig auf eine Verleugnung der unvordenklichen Vergangenheit des Anderen hinauszulaufen hätte. Bereits bei Merleau-Ponty rückt eine originäre Verspätung der erinnernden Subjektivität ins Blickfeld, die sich einer im Nachhinein als vorgängig erweisenden Vergangenheit gegenüber öffnet, ohne diese in der Gegenwart so aufzuheben, dass sie ihrer Fremdartigkeit beraubt würde. Man muss gerade die Alternativen infrage stellen, mit denen Levinas häufig allzu sehr in polemischer Absicht verfährt: Entweder man erinnert sich in der Langeweile des ›Selben‹ oder man ist besessen vom Anderen. Je mehr Levinas mit einem solchen Entweder-Oder operiert, desto unklarer wird, ob und wie uns sein Verantwortungsdenken auch einen neuartigen Vergangenheitsbezug aufgibt. Diese Frage führt zu einer Phänomenologie der Erfahrung zurück, von der Levinas sich glaubte absetzen zu müssen, weil sie radikaler Alterität nicht Rechnung zu tragen vermöge. 72 Die phänomenologische Zeit läuft jedoch keineswegs, wie Levinas sagt, auf die Unmöglichkeit einer Vergangenheit hinaus, die niemals Gegenwart war, sondern nur auf die Unmöglichkeit einer Vergangenheit, die sich nicht wenigstens als ›schon vorbei‹, d. h. als der Gegenwart entzogen bzw. sich entziehend zeigen würde. Solche Entzugserscheinungen hat Levinas selbst im Auge, wo er von einer Gegenwart spricht, die »jedem Bewußtsein vorausgeht und somit an-archisch zugänglich [!] ist in ihrer Spur«. 73 Offenbar ergibt sich auch für das Werk von Levinas die Frage, ob eine nicht umstandslos ›wiederholende‹, an-archische Erinnerung denkbar ist, die die unbefriedigende bloße Antithese einer unsagbaren, unvordenklichen Vergangenheit einerseits und einer in Erinnerung, Erzählung und Historiographie geschichtlich gebändigten Zeit andererseits, die von der Zeit des Anderen nichts mehr weiß, unterläuft. So zu fragen hat freilich nur Sinn, wenn man, im Gegensatz zu Levinas, der Erinnerung mehr zutraut als nur eine Verselbigung des Anderen, die ihn gerade durch die vergegenwärtigende Erinnerung unweigerlich in Vergessenheit fallen lassen müsste. So zu fragen hat nur Sinn, wenn man geschichtliches Leben selbst von der Vgl. HaM, S. 5; SdA, S. 197. Vgl. Außer sich, S. 140 f.; E. Levinas, »Gott und die Philosophie«, in: B. Casper (Hg.), Gott nennen. Phänomenologische Zugänge, Freiburg i. Br., München 1981, S. 81–123, hier: S. 99; TU, S. 71, 245.

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An-archische Zugänglichkeit des Anderen

Zeit des Anderen inspiriert denkt – im Gegensatz zu Levinas, der zunächst das Selbst mit dem ›Selben‹ ontologisch kurzschließt, um es dann einer ›Verselbigung‹ zu bezichtigen, die die Exteriorität des Anderen verleugne. So kann eine dem Selbst innewohnende Alterität des Anderen nicht mehr gedacht werden, mit der Folge, dass die Geschichte, die sich ein Selbst gibt, nur mehr als ein Vergessen des Anderen erscheint, das dem eigenen geschichtlichen Überleben dient. So gesehen gibt es keine Geschichte des Anderen. Und es kann keine von der Exteriorität des Anderen her inspirierte Geschichtlichkeit gedacht werden, die noch unser Überleben als ein Leben vom Anderen her verständlich machen würde. Wenn es sich nun scheinbar von selbst versteht, wie Derrida sagt, dass Levinas die Geschichte als »Blindheit dem Anderen gegenüber und als mühevollen Aufmarsch des Selbst beschreibt«, so kann es zu nichts führen, nach einer geschichtlichen Inspiration eines Lebens vom Anderen her zu fragen (SD, S. 141, 178). Es ist jedoch zu zeigen, dass Levinas selbst immer wieder den Sinn einer solchen, anderen Geschichtlichkeit in Betracht zieht. Soll ein unüberbrückbares Missverhältnis zwischen Geschichte und Ethik überhaupt vermieden werden, so muss man sich außerdem mit Derrida fragen, »ob die Geschichte nicht mit jenem Verhältnis zum Anderen beginnt, das Levinas jenseits der Geschichte ansiedelt« (SD, S. 144). Im Lichte dieser Fragen den Denkweg von der Phänomenologie der Offenheit zur Ethik der Verwundbarkeit kritisch erneut zu befragen, wie es geboten erscheint, würde freilich erfordern, dass die entscheidenden Weichenstellungen auf diesem Weg überprüft werden. Einer radikalen Anderheit in geschichtlicher Perspektive Rechnung zu tragen, bedeutet, die effektive Identifikation des Selben und des Selbst in Frage stellen zu müssen und das Selbst, das geschichtlich existiert, als von der Anderheit inspiriert zu denken. Weiter wäre zu fragen, ob es ein geschichtliches, gegebenenfalls gegen-geschichtliches Verhältnis zu dieser Alterität geben kann, das sie nicht umstandslos aufhebt. Andernfalls wäre die Vergangenheit, in die der Andere sich zurückgezogen hat, nicht mehr sicher vor der Gegenwart, die sie nochmals dem Vergessen weiht, indem sie Vergangenes bzw. Gewesenes erinnert. Lässt sich mit anderen Worten die Hermeneutik einer verstehenden Annäherung an den Anderen mit einer Differenz zusammen denken, die uns nicht-indifferent geschichtlich leben lässt, ohne diese Differenz im Sinne eines starren Anachronismus festzuschreiben? Muss nicht die nicht-indifferente Verantwortung für den Anderen auch in ge235 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

VI · ›Offen‹ für den Anderen?

schichtlicher Perspektive mit der Jemeinigkeit engstens verbunden gedacht werden? Gerade das verantwortliche (Über-)Leben in seiner Nicht-Austauschbarkeit kann die Jemeinigkeit nicht einfach überspringen. Aber indem Levinas dem jemeinigen Sein einen ontologischen Egoismus bescheinigt, unterstellt er, es sei eo ipso auf die Teleologie eines an Selbsterhaltung und -steigerung allein interessierten, latent kriegerisch veranlagten Lebens festgelegt. Spricht aber die Erzählung, die man immer wieder als die geschichtliche Manifestation eines solchen Lebens par excellence herausgestellt hat, im Zeichen einer solchen Ontologie narrativen In-der-Welt-seins wirklich nur die Sprache der Sorge um sich und des Interesses am jemeinigen Sein? 74 Leiht sie niemals einer tiefen Beunruhigung um den Tod des Anderen das Wort? Dass erzählte Geschichte letztlich nur ein Nekrolog über das Vergangene sein kann, in dem das Urteil der Geschichte sich ausspricht, bestreitet heute ein weit verzweigtes gegen-geschichtliches Denken, das seinerseits radikaler Nicht-Gleichgültigkeit angesichts des gewaltsamen Todes zahl- und namenloser Anderer in der Geschichte zur Geltung verhelfen möchte und sich nicht damit abfinden will, dass die erzählte Geschichte nur soll sagen können, wie die geschehene Geschichte indifferent über Leichen geht. Zwar scheint Levinas zunächst einer radikalen Außer-Geschichtlichkeit das Wort zu reden, die auch in einer Gegen-Geschichte nur verfehlt werden könnte, »doch hätten wir uns sicher nicht erlaubt«, bekennt er, an eine dem »Urteil der Geschichte« sich widersetzende Verantwortung zu erinnern, »wenn nicht die abendländische Geschichte an ihren Rändern die Spur von Ereignissen aufwiese, die einer anderen Bedeutung fähig wären, und wenn die Opfer der Siegeszüge, nach denen die Epochen der Geschichte benannt sind, sich vom Sinn dieser Geschichte abschneiden ließen«. 75 Wenn eine nicht-indifferente Subjektivität zu einer an-archischen Verantwortung angesichts des AnOntologisch hält sich die Theorie der Narrativität in der Tat an diesen Rahmen. Man befindet sich in gewisser Weise noch auf augustinischem Boden. Die zeitliche Zerspannung der Seele (distentio animi) zwischen Geburt und Tod, die uns in der Erzählung um eine geschichtliche Darstellung gelebter Zeit ringen lässt, prägt dieser Theorie eine »residuale subjektivistische Tönung auf« – vielleicht deshalb, »weil sich der Bezugsrahmen für die Problematik der Zeitlichkeit durch den Übergang vom Augustinischen animus zum Heideggerschen Dasein – auf dem Weg über Husserls Zeitbewußtsein – nicht radikal verändert hat«. Vgl. P. Ricœur, Zeit und Erzählung III, München 1991, S. 400, 408. 75 Levinas, JS, S. 381; vgl. ZU, S. 39. 74

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An-archische Zugänglichkeit des Anderen

deren bestimmt ist, wie Levinas glaubt, so kann diese Verantwortung ihren Sinn angesichts der Opfer doch nicht als einen schlechthin außer-geschichtlichen behaupten. Sie ruft vielmehr eine Anti-Geschichte auf den Plan, »wie sie sich ausgehend von der Verantwortung für den Anderen entwirft und Antwort auf eine unvordenkliche Vergangenheit ist« (ZU, S. 193, 208).

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Kapitel VII Verantwortung als Gabe

Nothing is definitive; there is still time. The delaying of death is possible only because of the Other, who – by constituting my responsibility – gives me time. Adriaan Peperzak 1

Der moralische Diskurs, speziell der Diskurs der Verantwortung, steht seit geraumer Zeit hoch im Kurs. Beschwörend spricht man von unserer Verantwortung für die kommenden Generationen, für die Umwelt, ja für die Erde und den teleologischen, nur ›nachhaltig‹ wenigstens bis auf weiteres zu sichernden Sinn der Existenz der menschlichen Gattung auf diesem Planeten. Moralisten brandmarken eine auf all das offenbar keinerlei Rücksicht nehmende Art des Wirtschaftens als scham- und verantwortungslose Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und stützen sich so – fahrlässigerweise vielleicht – auf die unverbrauchte Wirksamkeit einer moralischen Sprache, die sich leicht abzunutzen droht. Ein am Ende nur noch appellativer Verantwortungsdiskurs zieht allenthalben Überdruss nach sich. Selbst die, die seinen Absichten aufgeschlossen gegenüberstehen, empfinden den moralischen Diskurs, besonders den Diskurs in der Sprache der Verantwortung, nicht selten »als unerträgliche Feierlichkeit, als Deklamation und Predigt«. 2 Eine inflationäre moralische Rhetorik macht sich selbst einer gewissen Verantwortungslosigkeit verdächtig, wenn sie nicht bedenkt, wie sie moralischen Begriffen durch deren übermäßige Verwendung Schaden zufügt. Das ist zu bedenken, weil moralische Sprache und ihr Gebrauch selbst in der Verantwortung der Rede stehen. Traditionell wird diese Verantwortung vor allem als Rechenschaftsverantwortung aufgefasst, die sich vor Anderen durch Gründe

1 A. Peperzak, To the Other. An Introduction to the Philosophy of Emmanuel Levinas, West Lafayette 31993, S. 187. 2 E. Levinas, Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989, S. 103.

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VII · Verantwortung als Gabe

ausweisen muss. 3 Für alles, was in unserer Macht steht bzw. stand, haben wir uns demnach zu verantworten, also Rede und Antwort zu stehen. Das gilt auch für die Rede selbst, die sich als ein Tun mit Worten und durch Worte an ein Gegenüber wendet, um als Antwort und Gegenrede die Worte des Anderen zu erwidern, der uns stets dem Risiko eines Scheiterns unserer Sprechakte und der Gefahr aussetzt, dass sich uns unsere Absichten im Lichte seines Verhaltens effektiv in ihr Gegenteil verkehren. Dann müssen wir Rede und Antwort stehen auch für das, was wir (so) nicht gewollt haben. 4 Man verlangt von uns, für Folgen einzustehen, die sich ohne unser Zutun einstellten. Und man wird uns für den Gegen-Sinn zur Rechenschaft ziehen, der unsere eigenen Pläne durchkreuzt und zerstört. 5 Ungeachtet der geschichtlichen Tragweite solcher Erfahrung hat sich der moralische Diskurs erst spät, im 19. Jahrhundert mit dem Begriff der Verantwortung zu befassen begonnen; und dabei hat er sich zunächst weitgehend auf diese Rechenschafts-Verantwortung konzentriert, von der man annahm, sie müsse jedem erst beigebracht werden; und zwar auf dem Weg einer pädagogischen Moralisierung, die Andere moralisch und persönlich verantwortlich macht, indem sie ihnen ihr Verhalten zurechnet. Daraus wurde der Schluss gezogen, verantwortlich könne man überhaupt nicht von sich aus sein, sondern man werde stets von Anderen verantwortlich gemacht. 6 Der Gesichtspunkt der Verantwortung vor Anderen war unter dieser Voraussetzung so vorrangig, dass Fragen nach Quellen der Verantwortung für Andere weitgehend in den Hintergrund treten und im ethischen Denken ein Schattendasein fristen mussten. Eine Verantwortung für Andere wurde allerdings indirekt unter anderen Titeln, etwa unter dem der Fürsorge, der Solidarität, der Sympathie oder auch des Mitleids, berücksichtigt. Im Folgenden wird es um die Frage gehen, inwiefern die Rechenschafts-Verantwortung selbst Der griechische Begriff des lógon didónai besagt genau dies; vgl. K. Löwith, Sämtliche Schriften, Bd. 1, Stuttgart 1981, S. 129. 4 Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke Bd. 7, Frankfurt/M. 1986, § 118. 5 Vgl. J.-P. Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, Hamburg 1967, S. 205, 585 f., 738. 6 Vgl. K. Bayertz, »Eine kurze Geschichte der Herkunft der Verantwortung«, in: ders. (Hg.), Verantwortung, Prinzip oder Problem? Darmstadt 1995, S. 3–71, hier: S. 16. Klagt aber nicht das (nachträgliche) Verantwortlich-machen stets ein Verantwortlich-gewesen-sein ein? 3

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VII · Verantwortung als Gabe

einen Übergang zur Verantwortung für Andere nahelegt und ob diese bereits im Mitleid, so wie es die politische Philosophie der Neuzeit thematisiert hat, zu erkennen ist; und zwar als dasjenige, was unsere elementarste Sozialität ausmacht, wie es Levinas vermuten lässt. Geht es in der so überaus radikal neu ansetzenden Sozialphilosophie dieses Autors lediglich darum, aufs Neue ein Loblied auf das Mitleid anzustimmen, allen historischen Erfahrungen zum Trotz, die entschieden dagegen sprechen mögen, es für eine ›allgemein-menschliche‹ Gegebenheit bzw. Ausstattung zu halten, deren gänzliches Fehlen im Fall radikaler Mitleidslosigkeit daran zweifeln lassen würde, ob wir es überhaupt mit einem ›menschlichen‹ Phänomen zu tun haben?

1.

Rechenschaftsverantwortung und Gewissen

Im Einzelfall mag immer strittig sein, wofür jemand verantwortlich ist und wofür nicht. Doch dreht sich diese Frage in der Regel nur um Getanes oder um Unterlassenes, das hätte getan werden können. Für mein Dasein dagegen kann ich nicht verantwortlich gemacht werden. Dafür, dass ich überhaupt bin, dafür, dass womöglich nur ein anonymes Geschehen mich in der Urne der Mendel’schen Vererbung ausgelost hat, wie es der Molekularbiologe Jacques Monod auszudrücken beliebte, kann ich nichts. 7 Nicht mein Sein, nur Getanes habe ich mir zuzurechnen. Nur dafür ›kann man etwas‹, was in eigener Macht steht, was man so oder auch anders hätte tun können. Die effektive Zurechnung des Getanen wird stets nur nachträglich relevant. Doch wir wissen im Vorhinein um unsere spätere Zurechenbarkeit und um die Schuld, die Andere uns eventuell zuschreiben werden, insoweit sie meinen unterstellen zu können, dass wir ›aus freien Stücken‹ haben handeln können. Wer die Folgen seines Tuns und Unterlassens auf sich zu nehmen bereit ist, wird auch im Nachhinein noch zugeben müssen, dass er ›anders gekonnt‹ hätte. »Wer die Folgen auf sich nimmt, erklärt sich als frei und sieht diese Freiheit bereits im schuldhaften Akt am Werke; so kann ich sagen, ich habe ihn begangen. Diese Bewegung der Verantwortlichkeit von vorn nach rückwärts ist entscheidend: Sie konstituiert die Identität des moralischen Subjekts durch das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige hin7 J. Monod, Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie, München 1975.

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Rechenschaftsverantwortung und Gewissen

durch; wer das Unrecht tragen wird, ist identisch mit dem, der die Tat jetzt auf sich nimmt, und mit dem, der sie begangen hat.« 8 In diesem Begriff der Verantwortung im Sinne der moralischen Identität fließt die vergangenheitsbezogene, retrospektive Verantwortlichkeit als Zurechenbarkeit mit der zukunftsbezogenen Verantwortlichkeit für unser Tun (nicht erst für das Getane) zusammen, wobei diese prospektive Verantwortung ihrerseits nachträglicher Rechenschafts-Verantwortung vorgreift. 9 Insofern die so formal bestimmte moralische Identität tatsächlich gelebt wird, sprechen wir von einem ›verantwortlichen Menschen‹ und meinen damit auch eine Tugend, eine charakterliche Haltung oder Seinsweise, die moralisches Leben im Innersten prägt. Von dieser subjektiven Verantwortung wird im Allgemeinen eine objektive Verantwortung unterschieden, die man gemäß einer Aufgabe, einer Rolle oder einer institutionellen Regelung etwa zu tragen hat. Dabei wird häufig unterstellt, erst die subjektive Verantwortung erfülle die objektive Verantwortung mit Leben. Oft genug sind es gerade ›die Verantwortlichen‹, die objektiv Verantwortung tragen und sich doch ›verantwortungslos‹ verhalten – was ihnen umso leichter fällt, als ihre objektive Haftbarkeit keineswegs, wie man erwarten sollte, mit dem Gewicht der Verantwortung wächst. Dass man ›die Großen laufen lässt‹, ist eine von nur wenigen Ausnahmen bestätigte Regel. Im politischen Leben kommt die Verantwortung vor Anderen immer zu spät gegenüber der mangelhaften Verantwortung für die Anderen. Die gelebte Verantwortung für Andere aber ist es gerade, die eigentlich das Vertrauen in diejenigen müsste rechtfertigen können, die vor Anderen verantwortlich sind, indem sie objektiv Verantwortung tragen. Und nur gelebte Verantwortung wird dem objektiven Sinn der Verantwortung gerecht, den man nur nachträglich und immer zu spät einklagen kann. Von daher liegt es nahe, die Verantwortung vor Anderen ihrerseits ausgehend von der gelebten Verantwortung für Andere zu interpretieren. 10 Die Geschichte der Verantwortung bietet uns dafür freiP. Ricœur, »Schuld und Ethik«, in: K.-O. Apel et al. (Hg.), Praktische Philosophie/ Ethik, Bd. 1, Frankfurt/M. 1980, S. 328–344, hier: S. 335 ff. 9 Vgl. kritisch hierzu M. H. Werner, »Dimensionen der Verantwortung«, in: D. Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft, München 1994, S. 303–340, hier: S. 306. 10 Was nicht heißen soll und kann, dass die Verantwortung vor Anderen in der Verantwortung für Andere aufzulösen wäre. Es fragt sich aber, ob die – sei es gelebte, sei es nur nachträglich einzugestehende – Verantwortung vor Anderen nicht dazu neigt, sich primär an den Folgen zu orientieren, die man voraussichtlich »öffentlich abge8

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VII · Verantwortung als Gabe

lich wenig Anhaltspunkte, so sehr stand bislang die RechenschaftsVerantwortung im Vordergrund, von der her man auch die subjektive Verantwortung als Selbst-Verantwortung oder Eigen-Verantwortlichkeit zu begründen und zu implementieren versuchte. Dass ohne Eigenverantwortung und selbstverantwortliches Handeln kein Staat zu machen ist, sprechen die Pädagogen der Aufklärung immer wieder deutlich aus. Wie man Heranwachsende massenhaft von der Verantwortung vor einer strafenden Instanz zur Selbstverantwortlichkeit und von der Heteronomie zur Autonomie im Sinne einer eigenständigen und gemeinnützigen Lebensführung erziehe, war ihr moralisches Kernproblem. Autonomie heißt hier: Selbstbestimmung im Sinne eines effektiven praktischen Lebens, dessen »Vernünftigkeit« sich für jeden einzelnen »aus seiner künftigen Lage gegen die bürgerliche Gesellschaft« abzuleiten hatte. 11 Diese Pädagogik schließt im Begriff einer »bildsamen« moralischen Autonomie die Selbstbestimmung mit einer Rationalität kurz, die sich ihre objektive, von jedem selbst zu verantwortende gesellschaftliche Funktion zur Pflicht macht. Gewiss, die Zeit dieser Pädagogik erlebt auch einen unerhörten Aufschwung überwachender und strafender Instanzen, die in Fällen des Versagens der Selbstbestimmung zum Zuge kommen sollten. 12 Aber ein funktionierendes ›System‹ gesellschaftlichen Lebens war nur durch Implantierung der Selbstverantwortung in allen Einzelnen zu erreichen, die nicht erst sollten zur Rechenschaft gezogen werden müssen, um ihre Funktion zu erfüllen, sondern aus eigenem Antrieb sich dazu bestimmen sollten, verlässlich und ›gewissenhaft‹ moralisch motiviert zu handeln. Heinz D. Kittsteiner hat in seinem Buch Die Entstehung des modernen Gewissens wichtige Etappen auf den verschiedenen Wegen nachgezeichnet, die zur massenhaften Sozialisation eines systemfunktionalen Gewissens führten. 13 Die innere Stimme des Gewissens, rechnet bekommt« (wie Arnold Gehlen sich ausdrückte), um im Übrigen aber ein ›strategisches‹ Verhältnis zur eigenen Verantwortung nahezulegen. Es fragt sich darüber hinaus, ob die nur an voraussichtlicher Rechenschaft (wie ein moralischer ›Dienst nach Vorschrift‹) orientierte Verantwortung nicht selbst dort ›zu wenig‹ ist, wo man normalerweise keine anderen moralischen Kriterien anlegen würde. Dem kann ich hier nicht weiter nachgehen. Vgl. A. Gehlen, Moral und Hypermoral, Frankfurt/M. 1969, S. 151. 11 Vgl. Vf., Spuren einer anderen Natur. Piaget, Merleau-Ponty und die ontogenetischen Prozesse, München 1992, Kap. II. 12 Vgl. M. Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1977. 13 H. D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt/M. 1991.

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Rechenschaftsverantwortung und Gewissen

die das selbstverantwortliche Leben im System zu steuern und zur ständigen Selbstkorrektur anzuhalten hatte, sollte auch dann nicht schweigen, wenn man von Anderen unbemerkt der eigenen Verantwortung nicht gerecht wird. Es sollte sich nicht auf die rückblickende Selbstanklage eines schlechten Gewissens beschränken, das sich stets zu spät auf Verfehlungen bezieht, sondern sich als handlungsleitende Instanz bewähren, die sich ein gutes Gewissen bewahrt. 14 Statt sich nur von der Erwartung einer letzten, endgültigen Strafe ängstigen zu lassen, die man ihm von theologischer Seite als bevorstehende ausgemalt hat, sollte es ständig seiner objektiven Verantwortung selbstverantwortlich gerecht werden und sich dies als eigene moralische Leistung zurechnen. Wenn sich dies nicht in bloß äußerlicher Konformität mit den Verhaltenserwartungen Anderer erschöpft, bedarf es dazu einer inneren Instanz, des Gewissens. Im Gewissen hat der Einzelne zugleich seinen Ankläger und seinen Richter, der zur Rechenschaft zieht und so verantwortlich macht. So ist der Verantwortliche sich selbst verantwortlich, d. h. er stellt sich wie einen Anderen zur Rede. Der selbstverantwortliche Mensch steht so, als »zwiefache Persönlichkeit« und »gedoppeltes Selbst« (Kant) unter Anklage seiner selbst als eines Anderen und klagt sich auf dessen Geheiß wie ein Anderer an. So »findet sich [jeder] durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt in Respekt (mit Furcht verbundener Achtung) gehalten, und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) macht, sondern es ist seinem Wesen einverleibt. Es folgt ihm wie ein Schatten, wenn er zu entfliehen gedenkt.« 15 »In seiner äußersten Verworfenheit« kann es jeder Einzelne allenfalls dahin bringen, die unnachsichtig erinnernde Stimme des Gewissens ständig zu überhören, »aber sie zu hören kann er doch nicht vermeiden« (MS, S. 573). Im Grunde kann man demnach weder sich noch Anderen »ein Gewissen machen«, um erst dadurch verantwortlich zu werden. Ein schlechtes Gewissen kann man nur denen machen, die bereits eines haben. Gewissenlosigkeit kann es, streng genommen, nicht geben. Anders gesagt: »Gewissenlosigkeit ist nicht Mangel des Gewissens, sondern Hang, sich an dessen Urteil nicht zu kehren […]. Wenn es zur Tat kommt oder gekommen ist, so spricht Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 151984, § 59. I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. VIII (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, S. 573 (= MS).

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VII · Verantwortung als Gabe

das Gewissen unwillkürlich und unvermeidlich. Nach Gewissen zu handeln kann also nicht selbst Pflicht sein, weil es sonst noch ein zweites Gewissen geben müßte, um sich des Aktes des ersteren bewußt zu werden« (MS, S. 532). Die Moralisierung des Einzelnen, die die Aufklärer zu ihrem vorrangigen pädagogischen Ziel erheben, macht nicht aus einem bloß natürlichen Lebewesen, das keinerlei Gewissen ›hat‹, ein moralisches Wesen, dem man es erst anzuerziehen hätte, sondern verhilft so gesehen lediglich der inneren Stimme im Sinne der Selbstverantwortung mittels der Rechenschaft vor Dritten zur Geltung. Dabei sollte die Verantwortung allerdings nicht mit allem konform gehen, was diese verlangen, sondern einem durch diese Stimme zum Ausdruck kommenden Gesetz entsprechen, das als ein »Faktum der Vernunft« apriori bereits erlassen ist. Es fehlt dagegen, folgen wir Kant, vor allem an der nötigen »moralischen Affektlosigkeit« oder »Apathie«, solange nämlich die Sinnlichkeit noch einer unbedingten Achtung für das Gesetz im Wege steht. Wie allerdings die Stimme des Gewissens im Widerstreit mit der Sinnlichkeit den Sieg davontragen kann, um allein noch sich hören zu lassen, wissen wir nicht, denn bekanntlich gibt es »über das Kausal-Verhältnis des Intelligibelen zum Sensibelen […] keine Theorie«. Und wie es zur selbstverantwortlichen Autokratie der praktischen Vernunft kommen kann, die man durch eine heteronome Verantwortung vor Anderen voranzubringen hofft, entzieht sich ebenso dem Verständnis wie die Frage, warum sich der sinnliche Mensch überhaupt als empfänglich erweist für eine Moralisierung, die offenbar »natürliche Gemütsanlagen […], durch Pflichtbegriffe affiziert zu werden«, bereits voraussetzt. 16 Ohne diese Anlagen wären wir »sittlich tot«. Sie zu haben, kann aber nicht als Pflicht angesehen werden; es gibt keine Pflicht zur Pflicht – so wenig wie ein Gewissen vor dem Gewissen, das jeden dazu bestimmen würde, »sich eines anzuschaffen« (vgl. MS, S. 534). Eben die genetischen Theorien der Aufklärung, die den Weg von der Rechenschaftsverantwortung zu einer verinnerlichten Selbstverantwortung im Sinne der Achtung vor dem moralischen Gesetz beschrieben haben, müssen verneinen, dass man auf diesem Wege dem moralischen Leben gewissermaßen erst beitritt. Die Moralisierung »redet ins Gewissen«, wenn es sich nicht von sich aus deutlich genug verMS, S. 540 f., 574, 525; vgl. in der Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg 1974, S. 36 f., 41.

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Gegen eine a-pathische Moralität

nehmen lässt (MS, S. 532, 573); sie leistet jener Autokratie Beihilfe, erzeugt aber nicht die Bedingungen der Möglichkeit einer Teilnahme am moralischen Leben selbst. So gesehen gibt es keine originäre Geschichte der Verantwortung, nur einen ontogenetischen Weg zur Selbstverantwortung, die uns in der Form des Gewissens immer schon vorgezeichnet ist. In dieser Konzeption moralischer Subjektivität hat eine Verantwortung für den Anderen keinen eigenständigen Platz. 17 Abgesehen von der ›justiziablen‹ Verantwortung im Sinne der Zurechenbarkeit in den Augen der Anderen kann das Gewissen umso mehr ein rein innerliches, privates bleiben, als es jenseits des Todes auf »gerechten Lohn« gerade dann hoffen darf, wenn es auf einen irdischen, endlichen, zählbaren, äußerlichen und sichtbaren Lohn verzichtet. »Eine Art verborgenes Kalkül« setzt hier »noch auf den Blick Gottes, der das Unsichtbare sieht und in meinem Herzen sieht, was ich die Menschen nicht sehen lasse«. 18

2.

Gegen eine a-pathische Moralität

Eine Verantwortung für den Anderen thematisiert Kant jedoch indirekt in der Metaphysik der Sitten im Zusammenhang mit einer »Pflicht der Teilnehmung«, die von der »Mitleidenschaft« abgegrenzt wird: »Wenn ein anderer leidet und ich mich durch seinen Schmerz, dem ich doch nicht abhelfen kann, auch (vermittels der EinbildungsIm Grunde kommt der Andere als den Verantwortlichen ansprechende und auf diese Weise in Anspruch nehmende »zweite Person« bei Kant gar nicht vor; vgl. B. Waldenfels, »Response and Responsibility in Levinas«, in: A. T. Peperzak (Hg.), Ethics as First Philosophy. The Significance of Emmanuel Levinas for Philosophy, Literature and Religion, New York, London 1995, S. 39–52. 18 Was Nietzsche in der Genealogie der Moral »die lange Geschichte von der Herkunft der Verantwortlichkeit« nennt, wäre so gesehen auch das Produkt einer ›ökonomischen‹ Moral, in der wohl abzahlbare Schuld(en) und eine jenseits des Todes zu erwartende Entlohnung jemeinigen Lebens Platz findet, nicht aber eine Verantwortung für den Anderen, die sich nicht nur nicht ›lohnt‹, sondern aus ökonomischen Verhältnissen zwischen moralischen Gläubigern und Schuldnern überhaupt herausführt. Vgl. F. Nietzsche, Sämtliche Werke, Bd. 5 (Hg. G. Colli, M. Montinari), München 1980, S. 297 ff., 305 f. Gerade eine solche an-ökonomische Verantwortung versucht Levinas zu denken. Vgl. J. Derrida, »Den Tod geben«, in: A. Haverkamp (Hg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, Frankfurt/M. 1994, S. 331–445, hier: S. 434 f.; Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 141. 17

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VII · Verantwortung als Gabe

kraft) anstecken lasse, so leiden ihrer zwei; ob zwar das Übel eigentlich (in der Natur) nur einen trifft. Es kann aber unmöglich Pflicht sein, die Übel in der Welt zu vermehren, mithin auch nicht, aus Mitleid wohl zu tun […].« Eine »Mitleidenschaft«, die uns affiziert wie eine Ansteckung (so wie Gähnen »ansteckt« 19), hat für Kant keinen moralischen Sinn. Sie entspringt nicht etwa der spontanen Empfindung einer Verantwortung für das Leid des Anderen, die über das bloß ›affektive‹ Anteilnehmen hinaus praktisch bedeutsam würde. Diese von Jean-Jacques Rousseau im Diskurs über die Ungleichheit nahegelegte Vorstellung ist es gerade, der Kant widerspricht. Nach Rousseaus Ansicht hatte zwar bereits Bernard Mandeville gesehen, »daß die Menschen mit all ihrer Moral nie etwas anderes als Ungeheuer gewesen wären, wenn die Natur ihnen nicht das Mitleid zur Stütze der Vernunft gegeben hätte […]«. 20 Aber indem Mandeville das Mitleid (pitié) als ein »egoistisches Interesse« rechtfertigte, habe er den ethischen Kern des Phänomens verkannt. Der ethische Sinn des Mitleids, das Rousseau zunächst aus dem spontan empfundenen »Widerwillen, den Anderen leiden zu sehen«, erklärt, liege darin, uns dazu zu bestimmen, das Leid des Anderen als des Anderen abwenden zu wollen. 21 Die ›echte‹ pitié führt nicht etwa nur dazu, dass man die Augen abwendet; und sie bleibt auch nicht in einem bloßen Gefühl stecken. 22 Vielmehr soll sie dahin führen, dass wir uns das Leid des Anderen in gewisser Weise so zu eigen machen – bzw. es zu einer ›eigenen‹ Angelegenheit werden lassen, ohne es sich ›anzueignen‹ –, dass wir uns spontan dazu bestimmt erfahren, es abzuwenden und zu lindern, soweit das in unserer Macht liegt. 23 Vgl. MS, S. 594, sowie die Kritik der Vorstellung eines kausalen Affiziertwerdens bei H. Cohen, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Leipzig 1919, S. 163 ff. 20 J.-J. Rousseau, Emil – oder Über die Erziehung, Paderborn, München 61983, S. 224; ders., Diskurs über die Ungleichheit, Paderborn, München 1984, S. 141, 146 f. (= DüU); B. Mandeville, Die Bienenfabel, Frankfurt/M. 1980, S. 105, 130. 21 DüU, S. 143. Es fragt sich, wie die ethische Rede vom Mitleid, die sie nicht bloß auf ein ›prosoziales Verhalten‹ reduziert, überhaupt gerechtfertigt werden kann, wenn das Mitleid nicht dem Anderem als Anderem gilt; vgl. M. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie [1912], Bonn 1974, S. 48. Mitleid ist »Leiden am Leiden des anderen als dieses anderen«, betont der Autor. Scheler traute der Wahrnehmung des Anderen ein solches Aufgeschlossensein für den Anderen als Anderen zu (vgl. ebd., S. 28, 51). 22 Bereits Spinozas Unterscheidung von commiseratio und misericordia berührt dieses Problem; vgl. K. Hamburger, Das Mitleid, Stuttgart 1985, S. 123. 23 Es geht also nicht um ein bloß »sentimentales« oder »steriles« Mitleid, »das mit 19

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Gegen eine a-pathische Moralität

Einerseits schreibt Rousseau diesem Mitleid eine nicht reflexiv vermittelte Spontaneität zu, andererseits aber, schreibt er, »lassen wir uns zum Mitleid [erst dadurch] bewegen«, dass wir uns »außerhalb unserer selbst versetzen; indem wir uns mit dem Wesen, das leidet, identifizieren. Wir leiden nur insoweit, wie wir meinen, daß es leide […]. Man bedenke, wie viele erworbene Kenntnisse dieses SichVersetzen voraussetzt. Wie sollte ich mir Leiden vorstellen, von denen ich keine Vorstellung habe? Wie sollte ich leiden, indem ich einen anderen leiden sehe, wenn ich nicht einmal weiß, dass er leidet, wenn mir unbekannt ist, das es zwischen ihm und mir Gemeinsames gibt?« 24 Nur das Wissen – und nicht etwa ein unmittelbar mitleidendes Affiziertwerden vom Anderen – bahnt demnach überhaupt einen Weg zu ihm als Anderem. Während das »angeborene« Mitleid zunächst geradezu als eine affektive Substitution begriffen wurde, die uns vermittels des Gefühls »an die Stelle des Anderen versetzt« (DüU, S. 147), um uns dazu zu bewegen, »unser Sein [zu] verlassen, um das seinige anzunehmen« – also geradezu zum Anderen selbst zu werden und in diesem Sinne zu ›verandern‹, wie es scheint 25 –, schrumpft es nun zum bloßen Mit-Wissen. Wird dieses wiederum als eine Art ›Identifikation‹ beschrieben, so hat es den Anschein, als sei das Mit-Leid nur ein vom Anderen angeregtes, aber keineswegs wirklich fremdes Leid bzw. es verschwinde als fremdes im eigenen. Diesen Schluss hat Arthur Schopenhauer denn auch gezogen. 26 Seitdem steht in Frage, ob und wie die Nicht-Indifferenz des spontanen Mitleids angesichts des Anderen überhaupt mit der Differenz des Anderen so zusammengehen kann, dass es dessen ›fremdes‹ Leid nicht im eigenen auflöst. Rousseau verkompliziert diese Problemstellung weiter, indem er das Mitleid mit zwei ›naturgeschichtlichen‹ Deutungen der Entstehung menschlicher Sozialität in Verbindung bringt, die nur schwer einigen Tränen abgegolten« ist und sich womöglich mit ansonsten grausamem Verhalten verträgt (DüU, S. 145). 24 J.-J. Rousseau, Essai sur l’origine des langues, Ed. critique Ch. Porset, Paris 31976, S. 93. 25 DüU, S. 146. Zweifellos würde dieser Weg, dem Anderen sein Leid ›abzunehmen‹, die Differenz zum Anderen selbst tilgen. Rousseaus eigene Problemvorgabe (s. u.) wäre damit verfehlt. Dies gilt auch immer dann, wenn das fremde Leid als im Mitleid in ›eigenes‹ verwandelt gedacht wird; vgl. Hamburger, Das Mitleid, S. 67, 17, 41. 26 A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Sämtliche Werke, Bd. I, Frankfurt/M. 1986 (Hg. W. Frhr. v. Löhneysen), S. 511 ff.; vgl. auch Bd. III, S. 740.

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auf einen Nenner zu bringen sind. Der »natürliche« Mensch, der mit idealen Bedingungen der Erfüllbarkeit seiner Bedürfnisse und Wünsche rechnen kann, lebt in »tiefer Gleichgültigkeit« dahin (DüU, S. 267); er kennt den Begriff des Bösen nicht; und da er nichts entbehrt, hat er nicht den geringsten Grund, gegen den Anderen die Hand zu erheben. Der Naturzustand ist keine moralische Welt. Der Andere erscheint hier nicht einmal als der Andere, der den »Wilden« auf dem Weg des Mitleids zur Verantwortung für ihn bestimmen könnte. So gesehen kann das »angeborene« Mitleid hier nicht dem Anderem als Anderem gelten. Es ist nichts als ein prä-ethischer Affekt, der mit dem instinktiven Verhalten mancher Tierarten ohne weiteres auf eine Stufe zu stellen ist. Freilich beschreibt Rousseau dieses Verhalten suggestiv als ein gleichsam »menschliches«, weil es den eigenen Artgenossen gegenüber nicht gleichgültig bleibt (DüU, S. 143). Andererseits sieht Rousseau das Mitleid erst entstehen im Zuge der komparativen Existenz, die den Einzelnen im Banne des antizipierten Urteils der Anderen zu leben zwingt. Unter dieser Voraussetzung entsteht das Mitleid gleichursprünglich mit der Perversion der natürlichen Selbstliebe (amour de soi) zur Eigenliebe (amour propre), die angesichts der wahrgenommenen Differenz zum Anderen stets der Selbsterhaltung die erste Präferenz einzuräumen bereit ist und nur nachträglich gemildert werden kann durch jenen Widerwillen. Ethisch kommt das Mitleid in dieser Perspektive erst im Zeichen der komparativen Existenz zum Tragen, die sich vom Anderen bereits bedroht weiß und der Versuchung ausgesetzt ist, ihn als diese Bedrohung aus der Welt zu schaffen. 27 Das Mitleid erscheint hier als Palliativ gegen den Ausbruch des hobbesianischen Naturzustandes, den die Vernunft keineswegs aus eigener Kraft zu bändigen weiß. In gewisser Weise beschwört sie ihn sogar selbst herauf, denn sie untergräbt die »natürliche«, das »angeborene« Mitleid einschließende Affizierbarkeit des Menschen; sie lässt ihn sich »auf sich selbst zurückziehen; sie trennt ihn von allem, was ihm lästig ist und ihn betrübt«. Aufgrund einer ihrerseits indifferenten Vernunft sagt er »beim Anblick eines leidenden Menschen insgeheim: Stirb, wenn du willst, ich bin in Sicherheit […]. Man kann seinen Mitmenschen unter seinem Hier berührt sich Rousseaus Beschreibung des ›Falls‹ aus der natürlichen in die vergesellschaftete, komparative Existenz mit dem Hobbes’schen Naturzustand, der ein Zustand permanenten (latenten) Krieges im Zeichen gegenseitig antizipierter Vernichtungsdrohung ist.

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Fenster ungestraft umbringen; er braucht sich nur die Ohren zuzuhalten und sich ein paar Argumente zurechtzulegen, um die Natur, die sich in ihm empört, daran zu hindern, ihn mit dem zu identifizieren, den man meuchlings ermordet. Der wilde Mensch hat dieses bewundernswürdige Talent nicht […]« (DüU, S. 149). Man kann die »natürliche« Affizierbarkeit so sehr durch »depravierte Sitten« sozialisatorisch entstellen, dass die menschlichen Leidenschaften »sozusagen ihre Natur verändern« und die Gesellschaft »nur mehr eine Ansammlung artifizieller Menschen« darzustellen scheint (DüU, S. 267, 145). Muss aber infolgedessen eine radikale Historizität der pitié in Betracht gezogen werden, so ist die Möglichkeit verbaut, die angeblich ganz ›natürliche‹ Basis des Mitleids als einer affektiven Substitution zugleich als universelle auszugeben, die versprechen würde, die ethische Menschlichkeit des Menschen zu begründen. Daraus folgt die Entwertung des Mitleids zum bloßen, ethisch neutralen Gefühl, das sich im Lichte einer deontologischen Moralität einer vernunftlosen Sentimentalität ›empfindlicher‹ Gemüter verdächtig macht. 28 Diese Entwertung spiegelt sich noch in Tzvetan Todorovs aktuellem Rückgriff auf Rousseaus Theorie des Mitleids. Auch für Todorov ist das Mitleid zunächst ein »natürliches Gefühl«. Aber nicht alle empfinden es; und nicht alle in gleichem Maße. »Die Menschen entdecken es erst relativ spät in sich […].« Beim Kind fehlt es angeblich »so gut wie völlig; der Jugendliche macht zuerst die Entdeckung der Gerechtigkeit; und erst der Erwachsene gibt der ›Sympathie‹ im eigentlichen Sinne des Wortes einen besonderen Stellenwert: zweifellos deshalb, weil er erst nach und nach lernen mußte, sich um andere […] zu kümmern«. 29 Todorov traut dem Mitleid, der Sorge um Andere sowie konkreter Verantwortlichkeit für sie scheinbar kaum mehr zu, als kontingente und im Grunde nicht spezifisch moralische soziale ›Neigungen‹ zum Ausdruck zu bringen, die, wenn sie Gutes tun lassen, jedenfalls nicht einer Pflicht entspringen und insofern unter dem Begriff der Moralität gar nicht in Betracht kommen können. 30 Zweifel an dieser Einschätzung sind freilich angebracht. Offerieren uns diejenigen Situationen, in denen etwa unseVgl. Hamburger, Das Mitleid, S. 45, 54, 81. T. Todorov, Angesichts des Äußersten, München 1993, S. 328 (= AÄ). Dass Todorov von der psychologischen Forschungslage zur Ontogenese der Moral gar keine Notiz genommen zu haben scheint, sei nur im Vorübergehen vermerkt. 30 Vgl. Vf., »Von der Wahrheit moralischer Normalität«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43, Heft 1 (1995), S. 173 ff. 28 29

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re Verantwortung für Andere auf den Plan gerufen wird, wirklich nur Möglichkeiten ›prosozialen Verhaltens‹, an denen wir auch achtlos vorübergehen können, oder impliziert selbst diese ›Option‹ noch eine vorgängige Verantwortung für den Anderen, die man selbst dann noch bestätigt, wenn man sie verleugnet? 31 Diese Überlegung zieht Todorov selbst nur en passant, nicht aber systematisch in Betracht. Am Ende traut er nur einer universalistischen Vernunft zu, auf der Ebene des moralischen Urteilens eine Brücke zu schlagen von Mitleid, Sorge und Verantwortlichkeit im Sinne bloß ›natürlicher Neigungen‹, die womöglich auf einander ohnehin Nahestehende beschränkt bleiben, zur Verantwortung für ›unzugehörige‹ Fremde, die uns von diesen Neigungen offenbar nicht anempfohlen werden. 32 Der Verantwortung wird so abgesprochen, dem Anderen, der für Rousseau jeder andere sein konnte, als Anderem verpflichtet zu sein. Die Vernunft einer deontologischen Moralität etabliert demgegenüber eine universale Reziprozität austauschbarer Perspektiven, die Verantwortung lediglich im Sinne einer kontextspezifischen Anwendung von Positionen implizieren, welche sich bereits im Diskurs als verallgemeinerbar erwiesen haben. Die dezentrierte Vernunft des Gerechtigkeitsdenkens stützt sich zwar auf eine Logik des Perspektivenwechsels, die von jedem verlangt, seiImmer wieder streift Todorov dieses Problem, vor allem dort, wo er auf die Strategien eingeht, die es gewissen Tätern scheinbar erlaubten, das »Von-Auge-zu-Auge zu vermeiden«, dessen Widerstand sich in ihnen selbst gegen ihre Taten so lange geltend machte, wie der Andere nicht »reduziert« werden konnte auf eine Sache, eine Nummer, ein »Stück« (AÄ, bes. S. 198 f., 171, 333). Meist ist es der Blick des Anderen, der diesen Widerstand induziert und sich in letzter Instanz einer solchen Reduktion in den Weg stellt. Der Blick schien, in den Worten Robert Antelmes, zu besagen: man kann zwar einen anderen Menschen töten, aber man »kann ihn nicht in etwas anderes verwandeln« (Das Menschengeschlecht, München 1990, S. 306 f.) Todorov, der diese Worte ebenfalls zitiert, kommt hier einem zentralen Gedanken von Levinas sehr nahe, der besagt, dass aus dem Gesicht des Anderen eben der Kern des moralischen Verhältnisses der Menschen ›spricht‹, den auch die scheinbar völlig indifferente, unterschiedslose, industrielle Tötung nur verleugnen, den sie aber nicht aus der Welt schaffen kann. 32 Gleichwohl weist Todorov auf eine nicht auf ›Nächste‹ beschränkte, geradezu verschwenderische Sorge um Andere hin. In ihr sei gerade derjenige der »Reichere«, der »verschwenderischer« sei und sich in seiner Nicht-Gleichgültigkeit gegenüber den Anderen nicht von der Sorge um sich bevormunden lasse. Im Sinne dieser NichtGleichgültigkeit kann man in der Tat nur »von sich selbst etwas fordern; anderen kann man hier nur etwas geben« – nur aber, um insgeheim sich selbst zu belohnen, so dass das »Ich Urheber und Adressat der Handlung« bleibt und »ein Teil von mir gibt, ein anderer empfängt«? (AÄ, S. 325) 31

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nen logischen, ästhetischen und moralischen »Privatsinn« (Kant) zu überwinden, doch weist sie zumal in ihrer heute dominierenden kognitivistischen Variante jegliche Vorstellung eines ›verantwortlichen‹, nicht gewissermaßen kognitiv gefilterten Affiziertwerdens zurück, das uns für den Anderen als Anderen in nicht-indifferenter Weise aufschließen könnte. Das von Rousseau aufgeworfene Problem, wie ein dem Anderem als Anderem in seiner Differenz geltendes, nichtindifferentes Affiziertwerden zu denken sei, das praktisch zu werden verlangt und so unmittelbar ethisch bedeutsam wäre, findet so keine Berücksichtigung mehr. 33 Wer die natürlichen Neigungen einerseits und die Vernunft moralischen Urteilens andererseits so gegenüberstellt, wie es Todorov tut, muss die Moralisierung des Einzelnen letztlich so verstehen, dass sie ihn erst im Zuge der Entwicklung des moralischen Bewusstseins, speziell des Gerechtigkeitsdenkens, in das moralische Leben einführt. So gesehen tritt man, Kant zum Trotz, dem moralischen Leben, das das Leben einer urteilenden, universalisierenden Vernunft ist, erst bei 34, wenn man die entsprechenden kognitiven Voraussetzungen erfüllt. In welche Verlegenheiten uns diese Vorstellung stürzt, haben vor allem die Arbeiten von Ernst Tugendhat deutlich gemacht. Im Gegensatz zu Kant hält Tugendhat ein substanzielles, nicht nur analytisch bestimmtes Sollen für nicht mehr haltbar. Nicht nur was ›sollen‹ heißt, sei heute nur noch in der Kooperation mit empirischen Sozialisationsforschern zu klären; auch hinsichtlich der Beschreibung der auf das Sollen hinauslaufenden Moralisierungsprozesse seien wir auf sie angewiesen. Wenn das, was man heute oft den »moralischen Standpunkt« nennt 35, nicht synthetisch-apriorisch vorgegeben ist, dann muss man ihn erst einnehmen lernen im Zuge eines kontingenten Prozesses, den man in ontogenetischer Perspektive reGelegentlich spielt diese Problemstellung allerdings noch in die bereits vor Jahrzehnten im Bereich der Psychologie v. a. von Carol Gilligan (In a Different Voice. Psychological Theory and Women’s Development, Cambridge 1981) angestoßene Diskussion um eine eher »weibliche Moral« der Verantwortung und der Fürsorge für Andere im Gegensatz zu einer ›männlichen‹ Moral der Gerechtigkeit und der Fairness hinein. Vgl. G. Nunner-Winkler (Hg.), Weibliche Moral. Eine Kontroverse um eine geschlechtsspezifische Ethik, München 1995; M. Keller, Moralische Sensibilität: Entwicklung in Freundschaft und Familie, Weinheim 1996. 34 Hier beziehe ich mich auf die fast sarkastische Bemerkung von Levinas in: Schwierige Freiheit, Frankfurt/M. 1992, S. 53. 35 Vgl. W. Frankena, Analytische Ethik, München 1972, S. 138; E. Tugendhat, Probleme der Ethik, Stuttgart 1984, S. 25, 156, 158 (= PE). 33

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konstruieren kann. Auf dem ontogenetischen Weg zum moralischen Standpunkt aber wird sich die Frage stellen: »Warum [überhaupt] moralisch sein wollen?« Und diese Frage, die sich so scheinbar nur einer Position des vorgängigen Unbeteiligtseins am moralischen Leben stellt, wird auf irgendeine Weise im Prozess der Moralisierung ihre Antwort finden müssen. Menschen sind aber, so Tugendhat, zum Eintritt ins moralische Leben nicht durch Gründe zu bewegen. Wer sich überhaupt mit möglichen Gründen auseinandersetzt und sie ernsthaft in Erwägung zieht, ist ins moralische Leben bereits eingetreten – unter der Voraussetzung einer Motivation, die ihrerseits nicht rational begründbar erscheint. Tugendhat unternimmt es zu zeigen, »daß alle Moral auf einem empirischen Grund aufruht, auf der empirischen Voraussetzung einer bestimmten sozialpsychologischen Verfassung. Auf dieser untersten Ebene gibt es nichts zu begründen.« 36 Nur wem es auf (Wert-)Schätzung seitens Anderer ankomme – und das ist bei derart abhängigen Wesen wie Kindern aus Tugendhats Sicht zweifellos der Fall –, insofern dies Voraussetzung dafür ist, »sich selbst bejahen zu können«, dem müsse alles daran gelegen sein, sich als »intersubjektiv bejahenswert« erfahren zu können. Wenn aber das Bewusstsein, »moralisch intersubjektiv bejahenswert zu sein, die Bedingung dafür ist, sich selbst bejahen zu können, so heißt das ja, daß man die Moralität zu einer Kernkomponente dessen gemacht hat, wie man leben will«. Dafür freilich, dass einer so leben will, dass es ihm auf die Wertschätzung Anderer ankommt, gibt es nur kontingente, letztlich psychologische Gründe. Wenn jemand sich nicht so verstehen will und sich auch nicht auf die Bedingungen gegenseitiger Schätzung von Personen einlassen möchte, »kann ihm keine Moral andemonstriert werden«. 37 Die zentrale These lautet also, dass wir unser Leben im Sinne von Weiterlebenwollen nur bejahen können, wenn wir meinen, »daß es bejahenswert und d. h. schätzenswert ist«, und das heißt, dass die Selbstbejahung im ersten Sinn von »Bejahen« die »Selbstbejahung im zweiten, wertenden Sinn voraussetzt bzw. fordert, und dieser Sinn ist ein wesensmäßig intersubjektiver« (PE, S. 138). Wenn demnach PE, S. 4, 65, 48, 155. Vgl. vom selben Autor: Vorlesungen über Ethik, Frankfurt/M. 1993, S. 24 f. (= VE). 37 PE, S. 164, 138, 145; vgl. U. Wolf, Das Problem des moralischen Sollens, Berlin, New York 1984, S. 206 ff. 36

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die Selbstbejahung von der Wertschätzung Anderer abhängig gemacht ist, wird man fortan immer unter der Drohung eines möglichen Entzugs der Wertschätzung im Sinne einer internen Sanktion für eigenes moralisch falsches Verhalten leben müssen, die bis hin zur völligen Verachtung gehen kann. 38 Bevor man sich aber in die Abhängigkeit von der Wertschätzung Anderer begeben hat (die Tugendhat psychologisch voraussetzt), herrscht offenbar ein lack of moral sense im Sinne einer natürlichen Amoralität. Aber auch ›danach‹ können wir »immer für den lack of moral sense optieren«. 39 Das moralische Leben gestattet jederzeit, so scheint es, einen Beitritt und einen Austritt. Lässt man sich auch dann noch zum moralischen Leben ›motivieren‹, wenn Scham und Schuld als interne Sanktionen so wie Angst vor Liebesverlust oder vor sozialen Konsequenzen nicht hinreichend stark genug sind, die wir für den Fall in Kauf nehmen müssen, dass wir uns von der Moral befreit haben? Was, wenn weder das Nichtalleinseinwollen genug ängstigt, noch Ideale guten oder glücklichen Lebens anziehend genug erscheinen, um zum moralischen Leben zu motivieren? 40 Ein Rekurs auf den moral sense einer konkreten Verantwortlichkeit für Andere oder auf ein offenbar »moralisch richtungsloses« Mitleid, das sich vielleicht »generalisieren« ließe, reicht für Tugendhat jedenfalls nicht aus. Zwar tritt man, »wenn man sich zu den nahestehenden Menschen moralisch verhält, […] in die moraPE, S. 136. Diese Verachtung muss einschneidende Konsequenzen haben, wenn man bedenkt, dass das Ich, dem sie gilt, hier ganz in seinem Für-Andere-sein aufgehend gedacht wird, so dass es sein soziales ›Gesicht‹ als Person (Marcel Mauss) verlieren muss, wenn es von anderen verachtet wird, die ihm so die Grundlage seines »Wertes« entziehen. Dieser »Wert« selbst erweist sich so gesehen als ein bloß relativer, nicht als ein absoluter. Zu dieser Differenz in Verbindung mit dem Rollenbegriff vgl. M. Mauss, Soziologie und Anthropologie II, Frankfurt/M. 21999, Kap. IV und V, sowie T. Kobusch, Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Darmstadt 1993, S. 76, 234, 244; A. MacIntyre, After Virtue, Notre Dame, Indiana 21984, S. 126, und den Aufsatz von J. Feinberg, der mit der sozialen Rolle des Verantwortlichen bzw. Schuldigen die Idee einer moralisch-ökonomischen Buchführung verknüpft: »Handlung und Verantwortung«, in: G. Meggle (Hg.), Analytische Handlungstheorie, Bd. 1, Frankfurt/M. 1985, S. 186–224, hier: S. 192 f. Mit Recht zurückgewiesen wird die Verkürzung des Verantwortungsproblems, die durch seine Verknüpfung mit dem Begriff der Rolle und der Person bedingt ist, von Derrida, der hier ähnlich wie Levinas argumentiert, indem er die »Einzigkeit« des verantwortlichen Ich einklagt; vgl. »Den Tod geben«, S. 364. 39 Der Ausdruck stammt von D. W. Winnicott; vgl. VE, S. 74 ff., 61. 40 VE, S. 84, 60, 280, 240/4. 38

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lische Welt überhaupt ein, allen gegenüber«. 41 Aber für Tugendhat wie für Todorov gehen das Sorge-tragen für Andere und das Mitleid letztlich nur auf eine »natürliche Affektivität« zurück, die »kein Maß in sich trägt«. Nicht jeder ist eine compassionate person. Und die Mitleidenschaft zu verwerfen, bleibt immer möglich. 42 Es ist sogar denkbar, dass es zwei Kategorien von Menschen gibt. Die einen, die sich – im Sinne eines radikalen lack of moral sense – nicht nur indifferent geben, sondern es im Grunde auch sind und gegebenenfalls radikal mitleidslos alle moralischen Grenzen überschreiten bzw. für die es solche Grenzen gar nicht gibt; und die anderen, die selbst unter äußerstem Druck ihre Nicht-Indifferenz wenigstens im Sinne der Unmöglichkeit jeglicher Gleichgültigkeit zu erkennen geben (AÄ, S. 142, 227). Es ist genau diese denkbare Spaltung, gegen die der Begriff einer radikalen Verantwortung ins Feld geführt wird, der unterstellt, dass man niemals dem moralischen Leben aus freien Stücken oder aus eigener Machtvollkommenheit beitritt und dass man niemals die Option hat, aus ihm auszutreten wie aus einem gemeinnützigen Verein. Nicht einmal einem totalitären Regime oder einer rassistischen Beschränkung der Verantwortung auf eine Binnenmoral kommt die Macht zu, Verantwortungslosen und Unverantwortlichen einen wirklichen Austritt aus der radikalen Nicht-Indifferenz zu gestatten, die uns angesichts des Anderen immer schon zur Verantwortung für ihn bestimmt hat, wenn wir Levinas folgen. 43 In diesem Begriff ›radikaler Verantwortung‹ sehen wir die mit Blick auf Rousseau geltend gemachten Problemvorgaben wiederkehren: (a) den Gedanken einer Substitution, die einen Menschen an die Stelle eines Anderen treten lässt; und zwar (b) aufgrund einer Nicht-Indifferenz angesichts des Anderen, (c) die ihm als Anderem in seiner unaufhebbaren Differenz gilt und dabei praktisch wirksam VE, S. 185, 281. Hier wird aber nicht deutlich, wie es Nahestehenden gegenüber zu einer moralischen Einstellung kommt. 42 VE, S. 184 f.; vgl. Kant, MS, S. 594. 43 Diese Problemstellung entschärft allerdings nicht das Problem einer nachträglichen Vergleichgültigung der Nicht-Indifferenz selbst, die durch eine bestimmte Sozialisation möglich wird, sei es durch Distanz, sei es dadurch, dass man den Blick abwendet. Vgl. die pessimistischen Schlussfolgerungen von Todorov, AÄ, S. 273, 281, sowie die intensive, konzeptionell Hannah Arendt sehr nahestehende Auseinandersetzung mit der Herausforderung radikaler Vergleichgültigung des an sich nicht Gleichgültigen bei H. Broch, Die Schuldlosen. Roman in elf Erzählungen. Kommentierte Werkausgabe, Bd. 5, Frankfurt/M. 1974. 41

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zu werden verlangt (d). Levinas hat allerdings den Boden einer anthropologischen Diskussionsebene (zunächst mit Heidegger, dann aber entschieden über die Ontologie als Erste Philosophie hinausgehend) verlassen. Er fragt nicht nach einer natürlichen (etwa kausalen) Affizierbarkeit eines Seienden, das wir Mensch nennen und das vielfach zunächst als ein biologisches Wesen beschrieben wird. Es geht ihm auch nicht um moralische ›Eigenschaften‹ einer bereits ›vorhandenen‹ Subjektivität, die ihr neben anderen, etwa ›geistigen‹ Eigenschaften zuzusprechen wären. Das Aufgeschlossensein des Verantwortlichen für den Anderen als Anderen steht nicht auf der gleichen Stufe wie das der Augen für das Sichtbare oder wie das des Gehörs für das Hörbare. Es geht vielmehr um die ›Einsetzung‹ des Sinns menschlicher Subjektivität überhaupt. Diese Subjektivität ist nicht zuerst in indifferenter Weise da, um dann eine nachträgliche und nachrangige Beantwortung der Frage zu gestatten, was der Andere sie überhaupt ›angeht‹. 44 Der Sinn von Subjektivität soll vielmehr von vornherein als ein ethischer, von der Verantwortung für den Anderen her bestimmter verständlich werden. Entschieden revidiert wird so die noch in Kants Theorie des Gewissens erkennbare Abwertung des páthos gegenüber dem lógos der Verantwortung. Die Ethik der Verantwortung verlangt gerade nicht nach einer möglichst a-pathischen, von keinem Affiziertwerden getrübten und insofern ›reinen‹ Moralität. 45 Vielmehr wird moralische Subjektivität ganz und gar von der Aufgabe der Verantwortung her begriffen, die ihr ›immer schon‹ zugewachsen ist, die ihrer Freiheit vorausliegt und über die sie deshalb nicht frei disponieren kann. Insofern die Quelle der Verantwortung, das páthos des Affiziertwerdens vom Anderen, bei Levinas aber immer wieder als geradezu heteronom erzwungen beschrieben wird, kann es nicht gelingen, sie zugleich als eine ›Gabe‹, als ›Gabe der Verantwortung für den Anderen‹ nämlich, herauszustellen. Das aber müsste gelingen, wenn das Moment des Für-denAnderen der Verantwortung nicht wiederum in einer bloßen Verantwortung vor der gebietenden und gesetzgebenden Macht des AndeBereits in Karl Löwiths Habilitationsschrift »Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen« (1927/8) findet sich diese Problemstellung: Sämtliche Schriften, Bd. 1, S. 88; vgl. E. Levinas, Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, Freiburg i. Br., München 21988, S. 115 (= WG). 45 H. Cohen hat in seinem Exkurs zur Geschichte des Mitleids darauf aufmerksam gemacht, wie in dieser Geschichte das páthos der Etablierung des ethischen lógos zum Opfer fiel; Die Religion der Vernunft, S. 19, 161, 201. 44

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ren aufgehen soll. Solange das Denken dieser Macht bestimmend bleibt, muss die Verantwortung als Gehorsam und als Befolgen eines heteronomen Befehls, Gebotes oder Gesetzes erscheinen und kann als ethische Bestimmung eines Für-Andere-seins nicht angemessen zur Geltung gebracht werden.

3.

Bestimmung zur Nicht-Indifferenz

Im Begriff der radikalen Verantwortung wird nicht zunächst ein freies, daher auch zurechenbares Subjekt des Handelns angesetzt, das dann Andere verantwortlich machen können, weil man ihm die Freiheit zuschreiben kann, Gutes zu tun und Böses zu unterlassen. Das Subjekt des moralischen Lebens wird vielmehr selbst von Anfang an als ein ›zur Verantwortung bestimmtes‹ verstanden. Die Verantwortung instituiert die moralische Subjektivität selbst, ›subjektiviert‹ sie und lässt sie als eine, die unter den Augen des Anderen und angesichts seiner Sterblichkeit verantwortlich ist, im Sinne einer passionierten Freiheit zur Welt kommen. Die Verantwortung ist so gesehen kein sekundäres Attribut einer a-pathischen Freiheit, die an sich auch als nicht-verantwortliche zu denken wäre (WG, S. 218, 263). Die Freiheit hat nicht die Freiheit, im Sinne einer ursprünglichen Indifferenz gegenüber dem Anderen für einen Austritt aus der Verantwortlichkeit in die Unbelangbarkeit zu optieren. Die Verantwortung ist vielmehr gerade das, was uns nicht zu eigenen Bedingungen, sondern bedingungslos und ohne dass wir eine vorherige Position der NichtVerantwortlichkeit oder des moralischen Unbeteiligtseins in Anspruch nehmen könnten, immer schon ins moralische Leben eingetreten sein lässt. 46 Jede Entscheidung gegen dieses Leben kommt bereits zu spät und ist selbst nur als eine Weise zu verstehen, in der man in der Bestimmung zur Nicht-Indifferenz eine nachträgliche Position bezieht, der jedoch zuvor immer schon die Gabe der Verantwortung für den Anderen aufgegeben war. Jeder andere kann dieser Andere sein. In jedem Fall ist aber der Andere kein beliebiger anderer, sondern genau dieser, der in seiner Insofern ist Levinas’ Position deutlich auch vom Standpunkt von Hans Jonas abzugrenzen, der von einer »Selbstbereitung zu der Bereitschaft, sich […] affizieren zu lassen«, und so sich selbst zur Verantwortung zu bestimmen, spricht; vgl. H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/M. 1982, S. 65.

46

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Bestimmung zur Nicht-Indifferenz

Einzigkeit sogar ohne eigenes Zutun die Verantwortung für ihn, für sein Leben und für seinen Tod, hier und jetzt und unerlassbar von seinem Gegenüber abfordert. Diese Verantwortung ist von einem »Ethos des Unersetzbaren« (WG, S. 223) und einer radikalen, unter keine ›Kategorie‹ zu subsumierenden Differenz inspiriert, die paradoxerweise jeden Anderen als ›ganz anders‹ (und nicht wie ein Anderer anders) erscheinen lässt. 47 Der Tod des Anderen wird den Verantwortlichen ›in jedem Fall‹ wie ein »neuer erster Skandal« (Vladimir Jankélévitch 48) berühren, d. h. gerade nicht als ein ›Fall‹ einer ›Sterblichkeit im Allgemeinen‹, der alle Menschen mitleidlos unterworfen zu sein scheinen. Hier zeigt sich der radikale und geradezu maßlose Sinn der Verantwortung für den Anderen: sie bezieht sich noch auf seinen Tod; und zwar so, dass der Tod des Anderen die Frage nach dem »Seinsrecht« des Verantwortlichen aufwirft. Überlebt er nicht anstelle des Anderen? Für Levinas verbirgt sich in dieser Infragestellung des Verantwortlichen der tiefste Sinn unserer Beunruhigung um die Sterblichkeit des Anderen. Scheinbar gestattet sie kein schuldloses Überleben. 49 Vielmehr führt sie auf die Spur einer nicht zu erlassenden »Seinsschuld«. 50 Angesichts der Sterblichkeit des Anderen zu leben,

Genau an dieser Stelle entzündet sich allerdings ein bis heute fortwirkender Streit um die Frage, wie dieses Adverb (›anders‹) genau zu verstehen ist, wenn es nicht im Zeichen des ›ganz Anderen‹ eine theologische Ausflucht markieren soll. Siehe dazu die Kapitel VIII und IX in diesem Band. 48 V. Jankélévitch, Der Tod, Frankfurt/M. 2005, S. 14. 49 Auch ein ›verantwortliches‹ Überleben erscheint als ›unrecht‹, da es bedeutet, anstelle anderer zu leben, die nicht zugleich, am selben Ort, zur selben Zeit und unter Inanspruchnahme derselben Ressourcen etc. leben können. Man sollte in diesem Zusammenhang nicht übersehen, dass Levinas hier im Blick auf historische, etwa in der modernen Bevölkerungstheorie oder auch im Darwinismus reflektierte Bedingungen argumentiert, die es nicht gestatten, die Schuld, die er dem Überlebenden zuschreibt, einfach auf ›klinische Fälle‹ zu beschränken, in denen Überlebende dem Schicksal von Opfern zu nahe gekommen sind. Die hier eingeführte Schuld-Problematik bedarf allerdings einer kritischen Revision, die im Teil G unternommen wird. 50 Für Levinas ist das moralische Leben gleichursprünglich mit dem Eintritt in die Beunruhigung um die Sterblichkeit des Anderen; ihren extremsten Punkt erreicht diese Beunruhigung darin, dass sie sich als (Mit-)Schuld am Tod des Anderen und als Infragestellung des eigenen Seinsrechtes auch dann einstellt, wenn einen keine ›objektive‹ Schuld trifft. In dieser Infragestellung zeigt sich das Für-den-Anderen der Verantwortung gerade unbelastet von einer Schuld, die mir der Andere gegeben hätte. Sie kann insofern auch nicht als maßloses Defizit in einer moralischen ›Ökonomie‹ gedeutet werden, die zudem in den absurden Gedanken zu münden droht, dass die 47

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ist demnach nicht in indifferenter Weise möglich. Die Sterblichkeit des Anderen – nicht erst sein faktisch eintretender Tod – stellt den Lebenden, wie Levinas sagt, »unter Anklage«. Leben und Überleben angesichts des Anderen ist nur in der Verantwortung für ihn möglich, die seine Sterblichkeit einschließt. Diese Verantwortung entspringt nicht erst einem Tun, das man sich zurechnen lassen muss, insofern es am Tod des Anderen mitschuldig wird. Vielmehr infiziert diese Schuld bereits das Sein jedes Einzelnen. Von Anfang an ist der ›Sinn‹ dieses Seins ein ethisch bestimmter, denn er kann sich nur als eine Gestalt der Verantwortung für den Anderen ausformen, die uns ›gegeben‹ ist und nicht ›zurückgegeben‹ oder abgewiesen werden kann. Kann aber jene »Anklage« zugleich, wie es Levinas immer wieder nahelegt, mit einer ›Gabe‹ der Verantwortung für den Anderen vereinbar gedacht werden? Lässt nicht die Rede von einer solchen Anklage die Verantwortung für den Anderen letztlich ganz und gar in der Verantwortung vor dem Anderen aufgehen? Die »Anklage« erhebt zwar nicht ein anonymer Dritter im forum internum, wohl aber verfolgt der Andere den Verantwortlichen – bis zur »Besessenheit«, wie Levinas zu betonen nicht müde wird. Infolgedessen nagt das schlechte Gewissen 51 im Sein des Verantwortlichen – und dies umso mehr, als in unseren Tagen das Leben des Einen, wie man in Abwandlung eines Hegel’schen Diktums sagen könnte, der Tod des Anderen ist: »Sicherlich, jetzt, da uns das biologische Paradigma vertraut geworden ist, wissen wir, daß jede Gattung auf Kosten einer anderen lebt und daß innerhalb jeder Gattung jedes Individuum ein anderes ersetzt.« So kann man auch »in der Gesellschaft, so wie sie funktioniert, nicht leben, ohne zu töten, oder zumindest nicht, ohne den Tod von irgendjemandem vorzubereiten. Von daher ist die wichtige Frage nach dem Sinn von Sein nicht: Warum gibt es etwas und nicht nichts […], sondern töte ich nicht, indem Überlebensschuld letztlich nur damit abzugelten wäre, dass der Überlebende sich das Leben nimmt. 51 Hier liegt eine gewisse Parallele zu Kants »Faktum der Vernunft« vor. Zwar spricht die Stimme des Gewissens bzw. der Pflicht bei Kant das Gesetz aus; und als solche kommt sie von innen, während Levinas in der Verantwortung die »Befolgung« eines »Befehls« erkennt, der von außen, vom ›einzigen‹ Anderen her zur Sprache kommt, der keiner Kategorie und keinem Gesetz sich unterwirft; doch dieser Befehl ließe sich als nicht wiederum selbst unter Rekurs auf eine moralische Vernunft begründbares ›Faktum‹ einer – nicht-indifferenten – Vernunft deuten, ohne die wir, in Kants Worten, »sittlich tot« wären. Vgl. J.-L. Marion, Das Erotische. Ein Phänomen, Freiburg i. Br., München 2011, S. 148.

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Bestimmung zur Nicht-Indifferenz

ich bin? Habe ich ein Recht zu sein? Nehme ich, indem ich in der Welt bin, nicht den Platz von jemandem ein?« 52 Hier soll es sich um eine »Infragestellung der naiven und natürlichen Beharrlichkeit im Sein« handeln, die ihm nicht von außen zustößt, sondern die sich ihm aus ihm selbst heraus ergibt. Angesichts der Sterblichkeit des Anderen meldet sich ohne unser Zutun die Verantwortung als Gewissensbiss, als Skrupel, anstelle Anderer da zu sein und schon durch das bloße Dasein zum Komplizen ihres Todes zu werden. Mehr noch: keine ›übernommene‹ Verantwortung wird dieses schlechte Gewissen aufheben, denn »der Befehl, der mir bedeutet, diesem Tod gegenüber nicht gleichgültig zu bleiben, den Anderen nicht allein sterben zu lassen, und das heißt: für das Leben des anderen Menschen verantwortlich zu sein«, kann wiederum nur auf die Gefahr hin befolgt werden, »zum Komplizen dieses Todes zu werden« (WG, S. 252). Levinas besteht auf der Zumutung dieser Infragestellung, die er, wie gesagt, nicht von außen an das ›verantwortliche‹ Leben heranzutragen glaubt: Töte ich nicht, indem ich »im Sein beharre«, auch dann, wenn ich im Konkreten versuche, meiner Verantwortung gerecht zu werden? 53 E. Levinas, Ethik und Unendliches, Graz, Wien 1986, S. 95; ders., Außer sich, München, Wien 1991, S. 63. 53 Welche Zumutung für alle diejenigen, die daran gewöhnt sind, sich nur für das verantwortlich machen zu lassen, wofür sie etwas ›können‹ ! Welche Zumutung für diejenigen, die viel Mühe darauf verwandt haben, angesichts einer vielfach reklamierten Mit-Verantwortlichkeit – selbst für die Zukunft der Gattung, selbst für das Schicksal der Fernsten – eine residuale Unbelangbarkeit zu rehabilitieren! Rechtfertigt nicht gerade die dramatisierte Beschreibung einer scheinbar unbegrenzten Verantwortung dem Anderen gegenüber (als der jeder andere auftreten kann) das Ansinnen, sich von einer übermäßigen, ›weltweiten‹ Verantwortung entlasten zu wollen? Geht eine Moralisierung des Einzelnen nicht tatsächlich zu weit, wenn sie darauf besteht, »gegen seinen Willen« werde jeder kraft der Verantwortung für den Anderen »an den Platz aller [ge]stellt, als [ein] Stellvertreter für alle«? (Vgl. Levinas, WG, S. 99; Humanismus des anderen Menschen, S. 101). Wird die Verantwortung so nicht maßlos übersteigert? Levinas redet ja keineswegs einer ethics of care für Nächste, Anverwandte das Wort, die erst im Zuge einer nachträglichen ›Dezentrierung‹ auf den Horizont des Lebens und Sterbens anonymer Anderer hin geöffnet werden müsste. Eine erste, unbegrenzte Öffnung, die schon einer ›Verwundbarkeit‹ gleichkommt, ist in seiner Sicht vielmehr bereits in der Instituierung des moralischen Lebens selbst angelegt, denn sie geschieht angesichts des Anderen, der jeder andere sein kann. Jenem Einwand ist nur zu begegnen, wenn man die Verantwortung im Konkreten als eine stets beschränkte versteht. Wer sich für alles verantwortlich fühlt, kann für nichts Verantwortung übernehmen. Letzteres setzt begrenzte Verantwortungsbereiche, Kriterien der Haftbarkeit usw. voraus. Eine völlig geordnete Verantwortung 52

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VII · Verantwortung als Gabe

Hier scheint es, dass man in einer solchen Infragestellung nicht angeklagt wird, sondern dass man sich die Verantwortung ›gibt‹ 54 angesichts des Lebens und des Sterbens der Anderen. Freilich nicht im Sinne eines Aktes der Freiheit, sondern im Sinne einer Antwort, die man nicht umhin kann zu geben. Nur wenn die Verantwortung als eine solche Antwort gedacht wird, kann sie auch als Verantwortung für den Anderen begründet werden, die nicht in der Verantwortung vor einem anklagenden Anderen aufgeht. Für Levinas ist uns die Verantwortung für den Anderen nach Maßgabe einer »Geiselhaft« ›gegeben‹, die es nicht gestattet, sich von jener »Seinsschuld« zu entbinden. So aber erscheint die Verantwortung als heteronom erzwungen, mit der Folge, dass das Moment des Für-den-Anderen an ihr überhaupt zu verschwinden droht. Muss der Andere den Verantwortlichen nicht gerade von der Schuld eines naiverweise in Anspruch genommenen Seinsrechtes entbinden, um ein selbst-verantwortliches Sichhinwenden zu ihm zu ermöglichen, d. h. um einer ihm antwortenden Verantwortung Raum zu geben, ohne die die Verantwortung in einem kafkaesken ›Prozess‹ ohne benennbare Schuld und ohne erscheinenden Kläger als gänzlich fremdbestimmt gelten müsste? Ist nicht gerade eine Verantwortung vor dem Anderen, die womöglich nur eine ›Überlebensschuld‹ – vergeblich – sich abzutragen mühte, mit dem Gedanken einer Gabe der Verantwortung unvereinbar? 55 Wird die Verantwortung für den Anderen nicht erst unter der müsste allerdings in eine Pathologie der Verantwortung umschlagen. 70 000 Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes konnten sich gerade aufgrund ihrer fragmentierten, scheinbar völlig geregelten und beschränkten Verantwortung an dem organisierten Verbrechen eines »Verwaltungsmassenmordes« (H. Arendt) beteiligen, das am Ende niemand verübt haben wollte. Aus dieser Pathologie kann auf theoretischer Ebene nur die Konsequenz einer nicht fragmentierbaren, nicht regelbaren und insofern ›wilden‹ Verantwortung gezogen werden, die auch dann im Spiel bleibt, wenn nur gewisse Akten über den Schreibtisch des (Mit-)Täters gehen. Die Verantwortung ›angesichts‹ des Anderen, wie sie Levinas beschreibt, mit dieser, selbst durch eine völlige Bürokratisierung nicht aus der Welt zu schaffenden Verantwortung in Verbindung bringen zu wollen, setzt aber voraus, dass man jene Verantwortung nicht auf face-to-face-Situationen beschränkt. 54 E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br., München 1992, S. 278 f. (= JS). 55 Unermüdlich betont Levinas, dass die Gabe aus der ›Ökonomie‹ reziproken Gebens und Nehmens ausschert und dass sie nicht ›kapitalisiert‹ werden kann; gleichwohl spricht er im Blick auf die »Anklage« (s. o.), der die Verantwortung gerecht werden soll, von einem »Soll, das das Haben übersteigt« und auf Seiten des Verantwortlichen gar ein »grenzenloses Defizit« nach sich ziehen soll. So gesehen aber wird die Gabe

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Die Instituierung moralischer Subjekte

Voraussetzung möglich, dass sie nicht als ›Preis‹ für ein schuldhaftes Überleben eingefordert wird, sondern einem Geben entspringt, das nicht erzwungen oder, wie in einer »Geiselhaft«, geradezu erpresst sein darf? 56

4.

Die Instituierung moralischer Subjekte

Der Andere, lehrt Levinas, ›gibt‹ uns die Verantwortung, ohne sie uns eigens zuzuschreiben und ohne uns die Möglichkeit zu lassen, sie gewissermaßen zurückzugeben, sie von uns zu weisen oder gegen anderes einzutauschen. Jegliche Stellungnahme zur Verantwortung kommt der Gabe der Verantwortung gegenüber zu spät. Ich bin bereits verantwortlich oder als Verantwortlicher da, ohne zuvor im Sinne einer Bedingung meiner Verantwortung nach der Verantwortung des Anderen fragen zu können (WG, S. 20). Den Gedanken, dass man füreinander verantwortlich ist, weist Levinas zwar nicht gänzlich zurück, doch begründet er die Verantwortung strikt als nicht-reziproke. Ich bin nicht lediglich in dem Maße für den Anderen verantwortlich, wie dieser auch umgekehrt sich zu seiner Verantwortung mir gegenüber bekennt. 57 Weil die radikale, unerlassbare und nicht hintergehbare Verantwortung meiner Freiheit vorausliegt, haben wir in Levinas’ Sicht den sogenannten moralischen Standpunkt immer schon eingenommen, ohne je nach unserer Einwilligung gefragt worden zu sein. Während Theoretiker der Gerechtigkeit und der Fairness seit langem auf der Suche nach einem moralischen Gesichtspunkt sind, der »einer fundamentalen, ins verständigungsorientierte Handeln eingebauten Reziprozität« entspringen könnte 58, insistiert Levinas auf einer Verantwortung, die uns in Anspruch nimmt, bevor überder Verantwortung nicht etwa an-ökonomisch gedacht, sondern nur im Sinne einer niemals zu begleichenden Schuld beschrieben, die ich angesichts des Anderen immer schon habe (und nicht etwa mir gebe). Levinas überspielt auch grundsätzliche Probleme, wenn er im Blick auf diese Schuld zum einen »die Unterscheidung zwischen ›angeklagt werden‹ und ›sich anklagen‹« verblassen sieht und dann mit dem Sichanklagen (etwa im Leiden durch die Schuld des Anderen) das Für-den-Anderen der Verantwortung unmittelbar verknüpft; vgl. JS, S. 242, 279 f. 56 Von der »Geiselhaft« her will Levinas auch die Möglichkeit des Mitleids begründet wissen; vgl. Die Spur des Anderen, Freiburg i. Br., München 21987, S. 290. 57 Levinas, Außer sich, S. 29 ff. 58 J. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983, S. 175.

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VII · Verantwortung als Gabe

haupt jemand Geltungsansprüche reklamieren kann. Im Fall eines ›Verständigungsbedarfs‹ treten moralische Subjekte in den Diskurs ein, die bereits als angesichts des Anderen verantwortliche Subjekte instituiert sind und daher nicht die Wahl haben, etwa durch eine Verweigerung des diskursiven moralischen Standpunkts auch ihre Einfügung ins moralische Leben überhaupt zurückzuweisen. 59 Der Diskurs ist selbst nur eine Gestalt des moralischen Lebens, dem man nicht erst in der Gegenseitigkeit verständigungsorientierten Handelns beitritt, sondern das mit der nicht-gegenseitigen Verantwortung anhebt. 60 In dieser der Gerechtigkeit scheinbar eindeutig vorgeordneten Verantwortung liegt, folgen wir Levinas, der Sinn des moralischen Lebens, dem der moralische Diskurs lediglich eine nachträgliche und rationalisierte Form gibt. Dieser Sinn liegt noch dem verständigungsorientierten Handeln voraus, nämlich in der Instituierung moralischer Subjekte selbst. Nur Subjekte, die nach Maßgabe der Verantwortung für den Anderen ›subjektiviert‹ sind, können in den moralischen Diskurs eintreten und den Prozess einer Moralisierung durchlaufen. Dieser Prozess führt nicht etwa von der natürlichen Identität sich selbst erhaltender Organismen im Zuge einer kognitiven Entwicklung zur Reziprozität und zum Diskurs, sondern transformiert selbst nur ein angesichts des Anderen immer schon instituiertes moralisches Leben. Dieses Leben in der Verantwortung für den Anderen ist keineswegs auf die Sorge um Nahestehende beschränkt, es öffnet sich vielmehr einer unbegrenzten Affizierbarkeit, die keine Position der Reserve (reservatio moralis) zulässt, denn jeder andere kann der Andere sein, der uns die Verantwortung ›gibt‹. Damit aber ist zugleich das unüberwindliche Missverhältnis geVgl. die Kritik einer amoralischen Position bei B. Williams, Der Begriff der Moral, Stuttgart 1978, S. 11 ff. 60 Hier lässt Levinas an Hans Jonas’ Lokalisierung der Quelle der Verantwortung in der Affizierbarkeit eines »antwortenden Gefühls« gegenüber dem Kind denken. Jonas vertritt den Standpunkt, dass »Menschen potentiell schon ›moralische Wesen‹ sind, weil sie diese Affizierbarkeit besitzen, und nur dadurch auch moralisch sein können«; vgl. Das Prinzip Verantwortung, S. 162 ff. Aber ›besitzen‹ Menschen (manche, viele, alle) diese Affizierbarkeit nur in einem kontingenten psychologischen Sinne, wie Jonas mehrfach unterstellt? Und kann es sich bei dem Anderen, der einen »Anspruch von Seiendem« an den Verantwortlichen stellt, ursprünglich nur um Nachwuchs handeln? Oder ist das Kind in seiner Anderheit nur ein Beispiel für eine »archetypische Evidenz der Verantwortung«, die sich auf den Anderen als Anderen bezieht und nur paradigmatisch am Kind deutlich wird? 59

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Die Instituierung moralischer Subjekte

setzt zwischen der Verantwortung, die dem Anderen gerecht zu werden sucht, und den zahllosen Anderen, die eben diese Verantwortung dadurch benachteiligt, dass sie jeweils einem einzigen gilt. Darum ruft diese ›ungerechte‹ Verantwortung selbst die Frage nach der Gerechtigkeit auf den Plan, die andererseits aber niemals dem Anderen in seiner Einzigkeit gerecht wird. Es ist, als ob die Verantwortung, die nach Gerechtigkeit verlangt, einerseits und die Gerechtigkeit, die sich nur etablieren kann, um sogleich hinter der Verantwortung für den Anderen zurückzubleiben, andererseits nach einem höheren Prinzip verlangten, dessen Verwirklichung Verantwortung und Gerechtigkeit durch ihr wechselseitiges Missverhältnis zugleich zunichtemachen. Dieses Missverhältnis bestimmt Levinas mehrfach als ein mit der radikalen Verantwortung gleichursprüngliches, so dass man sich fragen muss, ob die zuvor unterstellte Vorordnung der Verantwortung gegenüber der Gerechtigkeit aufrechtzuerhalten ist. Levinas geht es offenbar nicht bloß um eine zweite Moral vor oder neben der Gerechtigkeit, denn die radikale Verantwortung selbst fordert die Gerechtigkeit und überfordert sie. Die Gerechtigkeit andererseits müht sich, allen Anderen gerecht zu werden, um der Verantwortung angesichts des Anderen, der jeder andere sein kann, zu ihrem Recht zu verhelfen. Eben dadurch aber verrät sie dieses ›Recht‹, dass sie sich nur an Dritte, wenn nicht an alle, so doch an mehrere oder viele Andere wenden kann und so den Anderen als je Einzigen unvermeidlich aus dem Auge zu verlieren droht. Diese Aporie muss als mit der Verantwortung gleichursprünglich betrachtet werden, denn »von vornherein wird im Anderen der Dritte vergegenwärtigt; im Erscheinen des Anderen als solchen sieht mich und geht mich bereits der Dritte an«. Der Dritte, die Welt der vielen anderen, anonym bleibenden Menschen tritt nicht als eine empirische Realität zum Nächsten hinzu. »In der Nähe des Anderen bedrängen mich – bis zur Besessenheit – auch all die anderen, die Andere sind für den Anderen, und schon schreit die Besessenheit nach Gerechtigkeit […]« (JS, S. 344). Der vermittels des Dritten sich ausweitenden Verantwortung wird nur die Gerechtigkeit gerecht werden können, die allein in der Welt der Gegenseitigkeit möglich ist. Die radikale Verantwortung indessen »schließt die Reziprozität aus« und bezieht sich doch jederzeit auf den Anderen als Nächsten und als Dritten: »In der Beziehung zum Anderen bin ich immer schon in Beziehung mit dem Dritten. Doch ist dieser Dritte ebenso mein Nächster. Von diesem Augenblick an wird die Nähe problematisch: man muß vergleichen, abwägen, 263 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

VII · Verantwortung als Gabe

überlegen, man muß die Gerechtigkeit praktizieren«; eine Gerechtigkeit aber, die als vergleichbar, auf der Basis einer distributiven Fairness etwa verrechenbar und sogar als austauschbar betrachten muss, was im Lichte der Verantwortung als unvergleichbar, nicht-austauschbar und schlechthin einzig erscheint. Paradoxerweise etabliert die Gerechtigkeit eine »Gleichheit zwischen dem, was sich nicht vergleichen läßt«. Darum droht die Gerechtigkeit den Anderen in seiner Einzigkeit und Anderheit vergessen zu lassen, d. h. in Ungerechtigkeit umzuschlagen. In diesem Falle wird der Andere zu einer »aus Augen und Ohren verfertigten Hülle«. »Das ist der springende Punkt: zum Thema geworden, ist der Andere ohne Einmaligkeit. Er wird der Gesellschaft übergeben, der Gemeinschaft verhüllter Seiender […]« (WG, S. 36). Dagegen lässt die Verantwortung die Anderen vergessen, wenn sie den Nächsten exklusiv privilegiert – und sie kann nicht umhin, sich mehr oder weniger exklusiv dem einen oder anderen Anderen zuzuwenden. Aufgrund der radikalen Verantwortung geht in der Tat »die Gerechtigkeit über die Gerechtigkeit hinaus«; aber auch die Verantwortung geht über die Verantwortung hinaus, denn der »Nächste, der mich in Beschlag nimmt, ist schon Gesicht, vergleichbar und doch auch unvergleichlich, einzigartiges Gesicht und Gesicht unter Gesichtern, sichtbar gerade in der Sorge um Gerechtigkeit« (JS, S. 344). So wie die Nicht-Gegenseitigkeit der Verantwortung Einspruch erhebt gegen eine selbstgerechte Gerechtigkeit gemäß den Symmetrieforderungen einer idealen Reziprozität, die nur einen »verallgemeinerten Anderen« kennt, so widersetzt sich die Gerechtigkeit einer angesichts der vielen, namenlosen Anderen geradezu verantwortungslosen Verantwortung, die sich auf den Nächsten beschränkt – wenn sie nicht selbst nach Gerechtigkeit verlangt. 61 Umgekehrt untersagt es die Verantwortung der Gerechtigkeit, am Nächsten vorüberzugehen – so wie die Gerechtigkeit der Verantwortung verbietet, beim nächstbesten Nächsten stehen zu bleiben. Die Verantwortung gebietet ein nicht-gegenseitiges, unvergleichbares Für-den-Anderensein; die Gerechtigkeit gebietet den Vergleich, den Ausgleich und den reziproken Austausch zwischen moralischen Subjekten, deren sterbliches Leben ihnen niemand abnehmen kann und das insofern unaustauschbar bleibt. Nur ein solches, unvertretbares Leben kann ›an die Stelle des Anderen treten‹ – ohne ihm aber sein Leben oder seinen 61

Vgl. Derrida, »Den Tod geben«, S. 388.

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Die Instituierung moralischer Subjekte

Tod abnehmen zu können; und nur unvergleichliche, zur »Substitution« befähigte, nach Maßgabe der Verantwortung für den Anderen subjektivierte Subjekte können sich einer moralischen Reziprozität unterwerfen, die ihnen den Austausch ihrer Gedanken, Standpunkte und Perspektiven abverlangt. Dieses ethische Chiasma einer Moral des Nächsten und einer Moral des Dritten, die sich in ihrem wechselseitigen Missverhältnis nicht zu einer Synthese bringen lassen, ist die Spannung, in der moralisches Leben sich bewegt. Nirgends und niemals wird die Zeit kommen, in der wir sagen können, jetzt seien wir der Verantwortung angesichts der Gerechtigkeit und der Gerechtigkeit angesichts der Verantwortung vermittels einer Aufhebung ihres Widerstreits zugleich gerecht geworden. Das vermittelnde moralische Leben ist selbst ohne Maß: zugleich bereit, im Namen der Einzigkeit des Verantwortlichen und des Anderen die Gerechtigkeit zu überschreiten in Richtung auf eine Gerechtigkeit, die gerechter sein müsste als die Gerechtigkeit, und bereit, sich einer absoluten, von aller Gerechtigkeit entbundenen Verantwortung zu widersetzen, die sich angesichts eines Einzigen zu einer geradezu unverantwortlichen Verantwortung steigern könnte. Was uns Levinas zu denken aufgibt, ist der Sinn eines moralischen Lebens in diesem ständigen Missverhältnis. Was hält es dazu an, sich nicht mit einer Gerechtigkeit ohne Verantwortung oder mit einer Verantwortung ohne Gerechtigkeit zu begnügen? Was veranlasst es dazu, in diesem Missverhältnis, zwischen einer auf Universalisierbarkeit drängenden Verpflichtung den Anderen gegenüber und einer tiefen Beunruhigung um den Tod und die Sterblichkeit des – stets ›einzigen‹ – Anderen nach Besserem, jenseits von Verantwortung und Gerechtigkeit zu suchen? Die Frage nach diesem Sinn ist für Levinas definitiv keine ethisch-anthropologische mehr. Gefragt wird nicht nach der ethischen Bestimmung eines zunächst indifferent da Seienden, dem die Identität eines gewissen ›Etwas‹ oder eines ›Jemand‹ unabhängig von und ›vor‹ der Frage der Verantwortung zukäme (WG, S. 223) und das sich im Lichte einer radikalen Historizität seiner ontischen Momente von einem bereits verlorenen ›natürlichen‹ Sein bis hin zu einem völlig »artifiziellen« Menschen (Rousseau) als nahezu beliebig wandelbar erweisen könnte. Für Levinas ist die Verantwortung für den Anderen auf diese Weise nicht anfechtbar, weil sie überhaupt nicht als Eigenschaft, Disposition oder Wesensbestimmung eines zunächst indifferent da Seienden, sondern nur als 265 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

VII · Verantwortung als Gabe

Aufgabe begriffen werden kann, die jedem menschlichen Dasein bereits vorausliegt und es in den ethischen Sinn seines Lebens ruft. Deshalb ist von einer ›Geburt‹ der moralischen Subjektivität aus dem Geist der Verantwortung für den Anderen die Rede. So gesehen tritt diese Subjektivität, als vom Anderen moralisch ›subjektivierte‹ und vom Anderen her ›gebürtige‹, immer zu spät auf im Verhältnis zu diesem Sinn, den sie dem Anderen als eine Gabe verdankt. Diese Gabe der Verantwortung bestimmt den Sinn moralischer Subjektivität so, dass sie sich nicht als auf dem Wege einer Archäologie der Subjektivität einholbar erweist. Die ethische Frage nach dem Grund oder Ursprung der Subjektivität kommt stets zu spät; und sie kann nicht hinter diese Gabe, dieses Immer-schon-für-den-Anderen-verantwortlich-sein zurück. Diese Gabe kann nicht, wie Gegebenes sonst, in sozialen Austauschprozessen zurückgegeben werden, zirkulieren oder gegen anderes eingetauscht werden. Die Gabe der Verantwortung für den Anderen, den Sinn moralischer Subjektivität, zurückgeben oder gegen anderes eintauschen zu wollen, käme einem moralischen Suizid gleich, der in Levinas’ Sicht jedoch nicht in unserer Macht steht. Moralisches Leben ›gibt‹ es überhaupt nur als ein mit dem Eintritt in die Beunruhigung um die Sterblichkeit des Anderen gleichursprüngliches. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Dieser ›Eintritt‹ hat aber, als die ›Geburt‹ der moralischen Subjektivität aus dem Geist der Verantwortung für den Anderen, immer schon stattgefunden. Genau dafür steht bei Levinas der Begriff der NichtIndifferenz bzw. der Unmöglichkeit der Indifferenz angesichts des Anderen. Als angesichts der Sterblichkeit des Anderen Verantwortlicher erfahre ich mich aber zugleich als einer, der den Tod des Anderen überleben kann. Die Verantwortung für den Anderen bestimmt zugleich den ethischen Sinn unseres Überlebens, das insofern seinerseits immer schon im Zeichen einer unmöglichen Indifferenz geschieht. * Der reale, historische Hintergrund dieses Ansatzes, der den Gedanken einer »Seinsschuld« nach sich zieht, ist gewiss, dass die Welt seit langem nicht mehr »groß genug für uns alle« ist, wie Kant noch sagen konnte. 62 Schon Rousseau mit seiner Beschreibung der ›komparati62

I. Kant, »Über Pädagogik«, in: Werkausgabe, Bd. XII, S. 693–761, hier: S. 728.

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Die Instituierung moralischer Subjekte

ven Existenz‹, einschneidender noch die Bevölkerungstheorie des frühen 19. Jahrhunderts hat aber die Illusion zerstört, es sei möglich, sein Leben zu leben, ohne den Anderen in seiner Existenzmöglichkeit zu bedrohen. 63 Für uns heute ist es offensichtlich, dass das dem Einen gegebene Leben – auch ohne sein Zutun und ohne Zurechenbarkeit im engeren Sinne – Anderen, die in diese Welt geboren werden oder denen man bereits die Geburt verweigert, ihre Möglichkeiten nimmt oder doch empfindlich beeinträchtigt. Diese von Levinas deutlich angesprochene Problemlage gestattet es nicht, den Verantwortungsdiskurs, wie bisher üblich, auf Formen des Verantwortlichmachens zu beschränken. Sie gibt uns vielmehr den Sinn einer bereits in unserem Sein den sterblichen Anderen antwortenden Verantwortung zu denken auf. Dabei geht es indessen nicht um die ›natürliche‹ und zugleich historisch kontingente Ausstattung eines zufälligerweise vorhandenen Subjekts mit gewissen Eigenschaften, die es dazu bewegen können sollten, sich von der bedauernswerten Lage Anderer affizieren zu lassen. Alle Grundannahmen, die in dieses bis heute in einschlägigen Diskussionen geläufige und vielfach unbefragt durchgehende Denken unversehens einfließen, stehen zur Diskussion: Levinas geht es nicht um ein irgendwie schon vorhandenes Subjekt, das sich aus freien Stücken für die Belange Anderer öffnet und interessiert, sondern um unsere originäre, niemals uns selbst zu verdankende Subjektivierung als Subjekte – nicht durch einen kausalen oder heteronomen Prozess der Unterwerfung (so als ob es nur darum ginge, die dem tradierten Subjektdenken geläufigen Denkweisen auf den Kopf zu stellen), sondern im Modus eines dem Anspruch des Anderen ›antwortenden‹ Verhaltens, dessen ›Responsivität‹ der Anderheit selbst auf der Spur ist. Levinas handelt in der Tat von der ›Spur des Anderen‹, insofern er in unaufhebbarer Art und Weise ›anders‹ ist und bleibt, so dass er niemals in der geistigen Gegenwart eines ihn wahrnehmenden, sich ihn vorstellenden oder denkenden Subjekts aufgehen kann. Infolgedessen tauchen nun allerdings neue, radikale Fragen auf. Ist denn der Andere nicht wie alles Andere ›anders‹ ? Oder erweist er sich paradoxerweise anders (als) ›anders‹ ? Muss das nicht sogar der Fall sein, wenn es denn stimmt, was Levinas gewiss nicht bewiesen hat, wohl aber zu bezeugen suchte, dass der Andere uns ›anders‹ als Vgl. R. P. Sieferle, Bevölkerungswachstum und Naturhaushalt, Frankfurt/M. 1990.

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VII · Verantwortung als Gabe

alles andere zu ethischen Subjekten macht, indem er uns vermittels unserer Responsivität ›subjektiviert‹ ? Diese vor allem von Paul Ricœur mit Levinas geführte Diskussion nehmen die beiden nachfolgenden Kapitel im Anschluss an einen längeren Exkurs zum Begriff der Gabe auf, der den hier entfalteten Gedanken einer als Gabe zu verstehenden Verantwortung für den Anderen, der ›anders‹ ist und bleibt, mit Blick auf soziale Praktiken kontextualisiert, die zeigen, dass jede Gabe sich nur nachträglich als solche bewahrheiten kann. Danach nehme ich mit Ricœur den Faden der Frage wieder auf, was das Adverb ›anders‹ in diesem Kontext überhaupt besagt (Kap. VIII), und widme mich dann dem vor allem von Dominique Janicaud erhobenen Vorwurf, es öffne, als Signum unaufhebbarer, womöglich verabsolutierter Alterität verstanden, einer philosophisch unzulässigen ›Theologisierung‹ des Anderen Tür und Tor (Kap. IX), dem man unter Berufung auf Levinas überhaupt erst das ihm angemessene sozialphilosophische Gewicht verliehen zu haben behauptete.

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Exkurs Die Gabe als nachträglich zu bewahrheitende Gegebenheit Geben […] List des Besitzes. Maurice Blanchot 1

Um Theorien der Gabe ist seit den grundlegenden ethnologischen Forschungen von Marcel Mauss ein regelrechter hype entstanden, der inzwischen den Eindruck erweckt, man wende sich dem Phänomen der Gabe und seiner radikalen Bedeutung jetzt erst mit der ihm gebührenden Aufmerksamkeit zu. Nachdem die wichtigsten kulturwissenschaftlichen Beiträge der letzten drei bis vier Jahrzehnte – von Marshal Sahlins über Maurice Godelier, Pierre Bourdieu, André Callié, Jacques Godbout und Jean Starobinski bis hin zu Marcel Hénaff – um eine begriffliche und empirisch fruchtbare Differenzierung des Phänomens der Gabe bemüht waren, erschien v. a. infolge von Jacques Derridas Rezeption der Theorie von Mauss seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wieder jeglicher Fortschritt in dieser Richtung als ganz und gar fragwürdig. Wenn den Titel der Gabe in Wahrheit nur eine »reine Gabe« verdient (so dass Mauss sein Thema im Grunde vollkommen verfehlt hätte, wie Derrida explizit behauptete), wie kann eine solche Gabe dann in Erscheinung treten? Wie zeigt sie sich als Gegebenheit? Und ist diese nicht ihrerseits als Gabe zu verstehen, die wir einer vorgängigen Gebung dessen zu verdanken haben, was sich uns zeigt? So verlagerte sich das Interesse von Phänomenen der Gabe aus den Bereichen der ethnologisch fundierten Sozialanthropologie und Kulturgeschichte zur Phänomenalität der Gabe als solcher und in die Ontologie als der Philosophie des Seins, das sich uns im Ereignis dessen, was sich uns zeigt, »gibt«, wie es der späte Heidegger lehrte. Weder in der Phänomenologie noch auch in der Ontologie aber kam der Diskurs über die Gabe zur Ruhe, waren doch beide Disziplinen ihrerseits seit langem in einen radikalen Revisionsprozess verwickelt, der sich um die Grenzen (bzw. um eine Kri-

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M. Blanchot, Die Schrift des Desasters, München 2005, S. 66.

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Exkurs · Die Gabe als nachträglich zu bewahrheitende Gegebenheit

tik) des Erscheinens (Ricœur) und um die Frage nach einem »Jenseits des Seins« (Levinas) drehte. 2 Dass gerade der Andere – als Adressat unseres Gebens oder von dem wir etwas empfangen – als Anderer gleichsam restlos erscheinen bzw. im Sein aufgehen kann, wurde mit Nachdruck bezweifelt. So wurde radikal fragwürdig, ob eine Ontologie die Aufgabe übernehmen kann, die originäre Gebung all dessen zu fundieren, was sich uns zeigt, darunter (phänomenologisch beschreibbare) Gegebenheiten, die – ethisch oder politisch – als Gaben aufzufassen sind, die wir Anderen zukommen lassen oder die von ihnen stammen. Überfordert gerade die Alterität des Anderen die Kompetenzen jeglicher Ontologie (wie es Levinas behauptete), muss dann die Ethik zur Ersten Philosophie werden, statt der Ontologie und der Phänomenologie (wie das Politische) nachgeordnet zu bleiben? Indem sie schließlich auch diese grundstürzenden Fragen aufwarf, rührte die Gabe-Thematik immer wieder an die Substanz der Philosophie. In ihren tiefsten Überzeugungen dadurch scheinbar bestätigt, konnten hier wiederum Theologen anknüpfen, die in der Gabe das »Ur-Wort der Theologie« (O. Bayer) wiederentdeckt fanden 3, während andere im Geben den Prozess originärer Formation verbindlichen sozialen Lebens zu erkennen meinen, das durch weitgehend ökonomisierte Austauschprozesse verschüttet worden sei. So will man an die Schöpfung, das Sein oder an das Soziale als Gabe erinnern und erweckt den Eindruck, im Diskurs über diesen vielfältig schillernden Begriff direkt mit dem Ursprung all dessen in Verbindung treten zu können. Während ein nüchterner politischer Blick darauf aufmerksam macht, wie Gaben als Geschenke bestechlich machen und sogar die Substanz ganzer Staaten korrumpieren können 4, versprechen sich viele von der Erinnerung an den Sinn einseitigen Gebens darüber hinaus geradezu eine Wiederbelebung menschlicher Generosität, die in einer »Ethik der Gabe« oder in einer »Politik der Gabe« sollte Gestalt annehmen können. So herrscht durch die euphorische Stimmung, mit der man aus der Ethnologie gewisse Theoreme

2 P. Ricœur, »Sur la phénoménologie«, in: Esprit 21 (1953), S. 821–839; E. Levinas, »Ist die Ontologie fundamental?« [1951], in: ders., Die Spur des Anderen, Freiburg i. Br., München 21987, S. 103–119. 3 Siehe dazu die nachfolgenden Kap. VIII und IX mit entsprechenden Literaturhinweisen. 4 Siehe Kap. XXIII.

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Exkurs · Die Gabe als nachträglich zu bewahrheitende Gegebenheit

in andere Diskurse exportiert, die sich von ihnen neues Leben erhoffen, eine Verwirrung, die um so schwerer aufzuklären ist, als der Diskurs über die Gabe wie angedeutet zwischen Ontologie (der Gebung des Gegebenen), Ethik (des Gebens), kulturwissenschaftlichempirischen Erkundungen von Gabe-Praktiken sowie unvermittelten Politisierungen changiert und überdies nicht selten mit dem außerordentlichen Versprechen einhergeht, uns von einer erdrückenden Vorherrschaft ›des‹ Ökonomischen zu entlasten oder gar von ihr zu befreien. Im Folgenden möchte ich vor diesem komplexen Hintergrund zu einer Zwischenbilanz der Diskussion dieses thematischen Feldes beitragen, ohne im verfügbaren Rahmen allerdings im Geringsten Vollständigkeit zu beanspruchen. Stattdessen konzentriere ich mich darauf, z. T. eklatanten interdisziplinären Rezeptionsverwerfungen entgegenzuwirken, die bislang festzustellen sind und dem Verständnis gleichfalls interdisziplinärer konzeptueller Kernprobleme des Gabe-Diskurses im Wege stehen. Über eine Bilanz der Diskussionslage hinausgehend unternehme ich sodann einen analytischen Versuch der Klärung einseitigen Gebens im Ausgang von radikal ernüchterten Besinnungen darauf, was man sich von der Gabe versprechen kann und was nicht. Dabei verfolge ich nur das bescheidene Ziel, genauer auszumachen, wo weiterer Klärungsbedarf besteht, wenn man wenigstens diese Vorstellung eines einseitigen, Anderen effektiv zugute kommenden Gebens konkretisieren möchte. M. E. markiert diese Vorstellung einen, wenn nicht den zentralen Brennpunkt der aktuellen Diskussion der Gabe, der ich mit der im Titel dieser Bilanz angekündigten These eine eigene Wendung geben möchte. Sie besagt, dass es sich bei der Gabe in der radikalen, einseitigen Bedeutung, wie wir sie bei Levinas, Derrida und Blanchot etwa antreffen, um eine stets nur nachträglich, vom Empfänger her zu bewahrheitende Gegebenheit handelt. Ob und wie sich die unabdingbare Differenzierung zwischen Ontologie (der Gebung dessen, was sich uns zeigt), Phänomenologie (der Beschreibung des Gegebenen) und Ethik (bestimmter Gabe-Praktiken) bewährt, steht dahin und bedarf einer erneuten kritischen Auseinandersetzung mit der sonderbaren Karriere der Gabe im gegenwärtigen Denken, das ich abschließend einer symptomatischen Befragung aussetze.

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Exkurs · Die Gabe als nachträglich zu bewahrheitende Gegebenheit

1.

Was man sich von der Gabe verspricht

In Ingeborg Bachmanns Anrufung des großen Bären findet sich eine Gedichtzeile, die zu denken gibt. Sie lautet: »Was mich retten könnte, ist noch nicht verschenkt.« 5 Sollte man sich durch Verschenken retten können? Wovor? Was gälte es zu verschenken? Etwas oder gar sich selbst? Wer käme als Empfänger eines solchen, geradezu maßlosen Geschenks in Betracht? Wem könnte es zugute kommen? Ist der oder die Andere der Adressat; oder müsste sie bzw. er vielmehr Geber dessen sein, was mich bzw. uns »retten« könnte? Was könnte uns derart gegeben werden, dass es verspräche, uns zu retten – womöglich nicht nur einmal, sondern für immer? Auf jeden Fall, so scheint es, müsste es sich um die Gabe eines Geschenks handeln, um etwas also, das umsonst zu haben ist, das sich aber niemand aus eigener Kraft verschaffen kann. Gewiss dient poetische Rede nicht dazu, Rätsel zu lösen; aber sie kann dazu dienen, sie uns wirklich zu denken zu geben – in diesem Falle die Suggestion, an ein Geschenk, dessen Empfänger wir sein dürften, oder an eine Gabe, die wir ›umsonst‹ zu geben hätten, an etwas, was den oder die Empfänger also nichts kosten und insofern keinen Preis haben dürfte, könnte ein Versprechen der Rettung geknüpft werden. Nicht ›umsonst‹, d. h. nicht vergeblich wäre demzufolge auf die Einlösung des Versprochenen zu hoffen. Dagegen hat Levinas die Hoffnung auf ein derartiges, maßloses Versprechen zurückgewiesen. Ein von der Gabe der Verantwortung inspiriertes Subjekt sei vielmehr zu einem Leben »ohne Versprechen« herausgefordert, d. h. zu einem Geben, das sich buchstäblich nichts davon verspricht (oder versprechen muss), vom Gegebenen zu ›profitieren‹. 6 Einseitig und umsonst sollte es erfolgen, ohne Rücksicht auf eine Rettung, die um keinen Preis der Welt zu haben ist. Für Levinas sind menschliche Subjekte von Anfang an als Empfänger einer (dem Anderen zu verdankenden) Gabe zu begreifen, die sie im Modus eines verantwortlichen Lebens nur weiterzugeben haben, einseitig und umsonst, aber vielleicht nicht vergeblich. Levinas denkt den Sinn des Gebens weder im Lichte der Aussicht auf Rettung noch auch als Generosität, die man niemandem schulden würde, sondern als Befreiung aus einem nur um sich kreisenden, sich erhaltenden I. Bachmann, Anrufung des Großen Bären. Gedichte, München 91985, S. 32. E. Levinas, Verletzlichkeit und Frieden, Berlin 2007, S. 154; ders., Zwischen uns, München 1995, S. 217. 5 6

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Was man sich von der Gabe verspricht

und womöglich steigernden und dennoch ständig sich selbst verhaftet bleibenden Selbstsein, wie es die Philosophie der Moderne ausgiebig beschrieben hat. Nur dank des Anderen haben wir Levinas zufolge etwas (oder sogar uns selbst) zu geben, ohne Rücksicht auf uns selbst. Nur deshalb scheinen wir nicht dazu verurteilt zu sein, ein ontologisch auf sich beschränktes Leben zu führen. Gewiss knüpft Levinas an das Phänomen der Gabe bzw. an den Sinn des Gebens keine Hoffnung auf Rettung; doch ist sein Denken ein prägnantes Beispiel dafür, wie man sich vom Geben und von der Gabe alles versprechen kann, worauf es in menschlicher Subjektivität und zwischen uns eigentlich ankommt. Damit steht er nicht allein, wie ein Blick in die einschlägigen Schriften Alain Calliés, Marcel Hénaffs, Lewis Hydes, Paul Ricœurs, Jacques Godbouts und anderer ohne weiteres zeigt. 7 Weit mehr noch als Levinas haben sich diese Autoren allerdings gefragt, wie eine Logik des Gebens bzw. der Gabe (sei es im Sinne einseitiger Vorleistungen, sei es des generösen Schenkens, der empathischen Wohltat oder der rückhaltlosen Liebe) in den Kontext heutiger Gesellschaften passt, die sich ganz und gar vom Interesse, von der ökonomischen Berechnung und von der um jeden Preis forcierten Kapitalbildung beherrscht zeigen. Liegt jene Logik auch den westlichen Arten des Wirtschaftens ursprünglich zugrunde? Bildet sie lediglich eine Art Komplement (an das man sich zu kompensatorischen Zwecken erinnert)? Oder markiert sie eine Auskehr aus der Herrschaft des Ökonomischen? Weist sie gar einen Weg der Rettung aus der Übermacht fataler ökonomischer Erfolge, deren Zeugen wir sind? Verspricht sie in diesem Sinne, an die Grundlagen des Sozialen diesseits oder jenseits des Ökonomischen zu erinnern? Durch die Überfülle dieser Fragen ist zumindest eine heilsame, nämlich die übliche rhetorische Beschwörung solcher ›Grundlagen‹ durchkreuzende Verwirrung entstanden, die uns dazu zwingt, aufs Neue zu ermitteln, ob das Geben bzw. die Gabe von radikaler Bedeutung sein könnte für das, was man gemeinhin menschliches Zusammenleben nennt. Was kann oder muss man sich von ihm versprechen, insofern es durch einseitiges Geben gestiftet und eröffnet, getragen oder von neuem inspiriert wird? Bevor ich auf diese Frage zurückVon anderen Autoren ganz abgesehen, die sich kaum als Gabe-Theoretiker, sondern wie C. Lévi-Strauss, G. Bataille und M. Serres als Theoretiker des Austauschs, der Verausgabung und des Parasitären einstufen lassen. Auf letztere konzentriert sich I. Därmann in Theorien der Gabe, Hamburg 2010.

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Exkurs · Die Gabe als nachträglich zu bewahrheitende Gegebenheit

komme, knüpfe ich im Folgenden zunächst an die wesentlich von Marcel Mauss angeregte, inzwischen nur noch schwer zu überblickende Diskussion über die Gabe an, insofern sie als einseitiges Geben zwischen im engeren Sinne ökonomischen Transformationen einerseits und einer Logik des Opfer(n)s andererseits zu lokalisieren ist (2.). Sodann wende ich mich der Frage nach der »Gegebenheit« bzw. Phänomenalität der Gabe zu. Zeigt sich die (einseitige) Gabe als Gabe von sich aus und ohne weiteres (3.)? Um diese maßgeblich von Derrida angestoßene Frage entbrennt bis heute Streit in den beteiligten Diskursen über das Rätsel der Gabe (4.), das allerdings nicht nur in ihrer Phänomenalität, sondern auch in ihrer Annehmbarkeit liegt (wovon Derrida weitgehend abgesehen hat) (5.). Das stellt sich nicht zuletzt heraus, wo die Gabe zur Weiter-Gabe (sogar des Gebens selbst) herausfordert; und zwar im Geist der Erwartung, das umsonst Gegebene möge Anderen wirklich zugute kommen in einer Zukunft, in der die Quelle des Gebens womöglich bereits versiegt sein wird. 8 Genau hier sehe ich den besten Ansatzpunkt dafür, meine o. g. These im Anschluss an die nachfolgende Bilanz der Diskussionslage zu erhärten.

2.

Gabe und Ökonomie: umsonst und/oder vergeblich

Fragen wir zuerst: was ist bzw. bedeutet ›umsonst‹ ? Zwei Antworten drängen sich auf (a, b). (a) Zunächst das, was ›gratis‹ ist bzw. ›nichts kostet‹, was also wenig wert ist. Was viel wert ist, müsste teuer sein; was teuer ist, müsste viel Wert haben (relativen Wert wohlgemerkt, d. h. einen hohen Preis). Von solchen Fehlschlüssen lässt sich ein ökonomischer Luxus leiten; von dem man alsbald zuviel hat 9, so dass man nur noch durch dessen Verschwendung symbolisches Kapitel aus ihm schlagen kann. 10 Die Verschwendung einer womöglich gelangweilten, Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 41980, S. 336. Ungeachtet einer Funktionalität der Verausgabung von Überflüssigem, wie mit Berufung auf N. Sombart herausgestellt worden ist; vgl. C. Bähr, S. Bauschmid, T. Lenz, O. Ruf (Hg.), Überfluss und Überschreitung. Die kulturelle Praxis des Verausgabens, Bielefeld 2009. 10 Wie es scheint, hat die hierzulande gelegentlich unter dem Titel einer »Ethik der Gabe« firmierende Neuauflage eines gewissen Euergetismus (M. Hénaff, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt/M. 2009, S. 395 [= PW]), der anstelle eines auf egalitäre Rechte gegründeten Sozialstaats die öffentliche Generosi8 9

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Gabe und Ökonomie: umsonst und/oder vergeblich

ihrer selbst überdrüssigen leisure class (Thorstein Veblen) schaltet gleichsam in das Register einer anderen Ökonomie um: viel Geld verschwenden heißt, viel Ansehen akkumulieren, bis man auch davon genug hat und auch das zuviel wird – es sei denn man kann ›nie genug‹ bekommen wie die Begierde (epithymía) in der Hybris und der Pleonexie, die immer noch mehr haben will. So kann der Verzicht attraktiv werden: Die auf alles verzichten, sind das nicht die Reichsten, auch wenn sie am Ende als die Ärmsten dastehen? Hat man uns nicht empfohlen, auf alles zu verzichten, um alles zu gewinnen? Aber bedeutet das nicht, dass es aus der Logik des Ökonomischen (bzw. aus ökonomischer Logik 11) überhaupt kein Entkommen gibt – und dass sich sogar die Rettung, die man uns in einer absoluten Lebenszusage versprochen hat, einem Tausch verdankt: Verzicht auf alles, um alles zu gewinnen? Wer danach handelte, würde realisieren, dass jegliches Kapital, pekuniäres und symbolisches, Geld wie Ansehen und Reichtümer aller Art, die viel wert zu sein scheinen, letztlich umsonst angesammelt werden. Alles, was nicht umsonst, also für einen mehr oder weniger hohen Preis zu haben ist und einen mehr oder weniger hohen Wert hat, würde demzufolge umsonst, d. h. vergeblich angehäuft. Und die Preisgabe von allem, was Wert zu haben scheint, wäre letztlich gerade nicht umsonst; sie würde sich (in eschatologität von Reichen setzen will, genau diesen Aspekt. Die vermeintliche Großzügigkeit (die gar keine Rücksicht darauf nimmt, ob sie nicht von Entrechteten, die ihr gegenüber keine verbrieften Ansprüche haben sollen, als demütigend empfunden werden müsste) soll v. a. sich selbst gefallen dürfen im Spiegel der Leistung, die »stolze Geber« (P. Sloterdijk) sich selbst attestieren, um nach eigenem Gutdünken von sich abzugeben. So lässt diese sonderbare »Ethik« die Gabe ohne Rücksicht darauf, ob sie Anderen wirklich zugute käme, umstandslos wieder in eine demonstrativ selbstgefällige politische Ökonomie einscheren. Vgl. http://www.faz.net/-gsf-13u23. 11 Die Debatte um die Gabe operiert im Allgemeinen ziemlich unbesorgt um eine Differenzierung verschiedener Ökonomiebegriffe (von der antiken Semantik [oîkos und nómos] über die moderne Nationalökonomie bis hin zu einem verallgemeinerten Ökonomiebegriff, wie wir ihn bspw. bei G. Bataille antreffen). Derrida weitet schließlich diesen Begriff derart aus, dass er überall dort Anwendung finden kann, wo etwas oder jemand zu einem Ausgang zurückkommt. So kann man von einer »Ökonomie der Heimkehr« (Odyssee), aber auch von einer »Ökonomie der Gabe« sprechen, wenn letztere in der Form des Dankes etwa zur gebenden Instanz zurückkehrt. Damit verbindet Derrida die (hier gerade nicht übernommene, dringend revisionsbedürftige) Vorstellung eines Annulliertwerdens der Gabe. An einer »wirtschaftsphilosophischen« Interpretation dieser Gedanken versucht sich u. a. W. D. Enkelmann, Beginnen wir mit dem Unmöglichen. Jacques Derrida, Ressourcen und der Ursprung der Ökonomie, Marburg 2010.

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scher Perspektive zumindest) absolut lohnen. 12 (b) So sind wir unversehens in ein zweites Bedeutungsfeld des Umsonst geraten: in die Vergeblichkeit. Was umsonst ist, das tun wir ohne Ertrag, ohne Erfolg, vergeblich und insofern womöglich vollkommen sinnlos oder überflüssigerweise. Versteht sich das nicht von selbst? – Und doch haben wir es mit Phänomenen zu tun, die dieser vermeintlichen Selbstverständlichkeit diametral entgegenstehen. Wir schätzen sie hoch wie nichts sonst, ohne ihnen einen Preis (bzw., in Kants Terminologie, einen relativen Wert) beizumessen. Damit meine ich nicht den absoluten Wert, den Kant mit der menschlichen Würde verknüpfte, sondern ›Dinge‹, die sich prima facie dem Denken in Preisen und Werten jeglicher Art entziehen und insofern als an-ökonomisch aufgefasst werden können. 13 Um derartige ›Dinge‹ scheint es sich zu handeln, wenn wir von Gaben sprechen. Insbesondere dann, wenn es sich um Geschenke handelt. 14 Gewiss: auch Gaben und Geschenke können teuer sein, dadurch die Beschenkten belasten und sie in die Verlegenheit bringen, gerade die großzügigsten Gaben nicht annehmen zu wollen, um nicht in die Lage zu geraten, sie unmöglich erwidern zu können. 15 So können Gaben und Geschenke machtlos machen und uns in eine zeitlich unbegrenzte Schuld stürzen. Wie sollten wir je die schuldlose Schuld abtragen können, die darin liegt, dass uns ein Anderer alles, alles Philipp Stoellger, der es als Theologe wissen muss, macht darauf aufmerksam, wie sehr die religiöse und theologische Rede »durchgängig von Figuren des Tauschs kontaminiert« ist; in: »Gabe und Tausch als Antinomie religiöser Kommunikation«, in: K. Tanner (Hg.), Religion und symbolische Kommunikation, Leipzig 2004, S. 185– 222, hier: S. 203. 13 Stattdessen spricht Ricœur in seinem Spätwerk weiterhin von einer »Ökonomie der Gabe«; vgl. Wege der Anerkennung, Frankfurt/M. 2006, S. 298 (= WdA), und stellt sie der Warenökonomie gegenüber, um dann nach »Überschneidungen und wechselseitigen Anleihen« zu fragen. Vgl. M. de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 73 f. 14 Einer Beschränkung der Gabe auf das Beispiel solcher ›Dinge‹ folge ich im Weiteren jedoch nicht. Es könnte sich nämlich herausstellen, dass sich gerade die einseitige Gabe, der ich nachgehe, in einem Sich-Geben nur indirekt zeigt, das nichts Dingliches zirkulieren lässt und weder etwas gibt, was man im engeren Sinne ›haben‹ noch auch einbüßen könnte. Wo uns der Andere im Sinne der Verantwortung inspiriert und sie uns auf diese Weise ›gibt‹, empfangen wir überhaupt kein ›Etwas‹ und geraten an Grenzen ontologischer Rede überhaupt. Vgl. P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 232 f. 15 Vgl. G. Simmel, »Exkurs über Treue und Dankbarkeit«, in: Soziologie, Frankfurt/ M. 1991, S. 652–670. 12

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Gabe und Ökonomie: umsonst und/oder vergeblich

von sich oder sogar sich selbst gegeben hat und auf diese Weise sich geopfert zu haben behauptet? Können wir eine derartige Gabe bzw. ein derartiges Opfer überhaupt annehmen? Und wenn eine solche Gabe unannehmbar zu werden droht, muss sie dann nicht als Gabe kaschiert werden, wenn sie dennoch erfolgen soll? Hier droht sich die Frage nach der Gabe jenseits des Ökonomischen unversehens in einer Logik des Opfers aufzulösen. Wird die Gabe geradezu maßlos (über alle Preise und Werte hinaus), kann sie dann aber überhaupt einem Anderen zugute kommen? Verlangen wir nicht gerade dies von der Gabe als Gabe bzw. als Geschenk? Und liegt nicht genau darin das, was Maurice Godelier das Rätsel der Gabe (l’énigme du don) genannt hat: nämlich in der Frage, wie eine Gabe, die keinen Preis oder Wert hat, überhaupt annehmbar sein kann, ohne in eine ›ökonomische‹ Form oder in eine Logik des Opfers wiedereinzuscheren? 16 Diese Frage suggeriert, dass die Gabe an der Annehmbarkeit durch den Anderen ihr (nicht-ökonomisches) Maß hat. Wenn sie im Extremfall die Form des Opfers eines Anderen annimmt, das weder einen Preis noch einen Wert hat und insofern geradezu maßlos sein muss, droht sie buchstäblich ›unannehmbar‹ zu werden. Was ohne Maß ist, sollte man nicht annehmen, weil es schlechterdings nicht zu erwidern ist, lehrt der sog. gesunde Menschenverstand. Daraus scheint zu folgen, dass es vor allem auf das Erwidernkönnen ankommt (und dass man sich möglichst nichts geben lässt oder geben lassen sollte, wenn das Erwidernkönnen in Frage steht). So gesehen bedeuten maßlose Gaben eine Gefahr für uns, weil sie jegliche Form der Erwiderung unmöglich zu machen drohen, die wir als angemessen betrachten könnten; und zwar auch dann, wenn man von einer Praxis der Gabe erwartet, zwischen uns eine soziale Verbindung überhaupt erst zu schaffen, die Formen der Reziprozität immer schon voraussetzen, aber nicht aus eigener Kraft hervorbringen können. 17 Soweit diese Fragen nicht unmittelbar zum Thema der Gabe,

M. Godelier, Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte, München 1999 (= RG). 17 Vgl. demgegenüber D. Cheal, The Gift Economy, London, New York 1988, S. 14 f., 22, der die Gabe kompromisslos einer bereits etablierten moral economy einfügt, sowie L. Hyde, The Gift, Edinburgh 2007, S. 48 ff.; J. Godbout, Le don, la dette et l’identité. Homo donator versus homo oeconomicus, Montréal 2000. 16

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Exkurs · Die Gabe als nachträglich zu bewahrheitende Gegebenheit

sondern zur Logik des Opfer(n)s gehören, werde ich ihnen hier nicht weiter nachgehen, sondern mich auf ein einseitiges Geben konzentrieren, dass sich im Gegensatz zur ökonomischen Logik von Preisen und Werten, die zwischen uns zirkulieren, die wir austauschen und einander zugute kommen lassen können, einerseits und einer Logik des Opfer(n)s andererseits abspielt. Zwischen diesen beiden Logiken erstrecken sich Spielräume eines Gebens, das (a) freiwillig – und ohne zureichenden Grund, (b) einseitig – und vor allem ohne Erwartung einer Erwiderung, (c) unberechnet – und insofern an-ökonomisch – (d) Anderen zugute kommen können soll, (e) ohne sie im Geringsten zu nötigen, sei es zur Inempfangnahme des Gegebenen als einer Gabe, sei es zur Erwiderung oder zur irgendeinem Ausgleich, nach dem man miteinander quitt sein könnte und die Gabe selbst egalisiert oder geradezu annulliert zu werden drohte. Speziell durch diese, von Derrida zur »Rückkehrlosigkeit« der Gabe (f) verschärfte Bestimmung 18 konnte der Eindruck entstehen, es gebe womöglich überhaupt keine Gaben. Denn belohnt sich nicht gerade der ›selbstlos‹ Gebende im Bewusstsein seines rückhaltlosen Tuns selbst? Kehrt insofern die Gabe zum Gebenden zurück? 19 Dürfte, wenn das absolut vermieden werden soll, eine »reine« Gabe weder dem Gebenden noch auch dem sie Empfangenden überhaupt als solche erscheinen?

3.

Gibt es die Gabe? Die Gabe als fragwürdige Gegebenheit

Sehen wir von dieser Aporie der Gabe ab, die eigentümlicherweise in der Philosophie die meiste Aufmerksamkeit gefunden hat, obgleich sie mit der Annahme einer Phänomenalität der Gabe in direktem Widerspruch zu stehen scheint 20, so fällt es nicht schwer, Beispiele J. Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, München 1993. Derrida scheint das immer wieder ungeprüft zu unterstellen. Hätte er aber in sozialphilosophischer Perspektive unterschiedliche Kontexte des Gebens in Betracht gezogen, so wäre ihm aufgefallen, dass das Geben vielfach im schmerzlichen Bewusstsein eines Ungenügens erfolgt: Man weiß, dass man in einer (globalen!) Lage allgemeiner Bedürftigkeit und des Angewiesenseins Anderer auf die Hilfe Dritter niemals genug tut, so dass das notorisch ›gute Gewissen‹ keinerlei Aussicht darauf hat, in einer narzisstischen Logik der Selbstbelohnung für einseitiges Geben zur Ruhe zu kommen. 20 Ich sage ›scheint‹, denn daran hat Derrida radikale Zweifel geweckt, ohne die Phänomenalität der Gabe aber einfach abzustreiten. Vgl. D. Mersch, Posthermeneutik, Berlin 2010, S. 36 ff., 62 ff. Demgegenüber suche ich nach Wegen, diese Phänomenalität zu retten; aber so, dass eine Inempfangnahme der Gabe denkbar wird, die nicht 18 19

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Gibt es die Gabe? Die Gabe als fragwürdige Gegebenheit

anzugeben, auf die die Kriterien (a-e) prima facie zutreffen. Man denke nur an Spenden für Fremde, denen die Spender unbekannt bleiben, so dass die Empfänger auch über deren Motive nichts in Erfahrung bringen können. 21 Handelten sie aus philantropischen Absichten 22, aus eingebildeter Generosität, aus Empathie mit Hilfsbedürftigen oder gar aus Güte oder Liebe, wie sie eine bestimmte, agapistische Tradition nahegelegt haben mag, die im Geben von Gaben die Möglichkeit der Religion ständig wiederholt, wie Callié meint? 23 Kann dieses Geben vollkommen unabhängig davon stattfinden, ob und wie es ›ankommt‹ ? Was, wenn die Empfänger sich durch das Gegebene wie durch ›milde Gaben‹ gedemütigt (statt beschenkt oder gar geliebt) fühlen, so dass ihnen der Weg der Dankbarkeit an die Adresse von (sei es ihnen bekannten, sei es anonymen) Spendern verbaut ist? Was, wenn sie glauben müssen, man lasse ihnen generös Gaben zukommen, statt ihnen das rechtmäßig Zustehende zu gewähren? Wie es scheint, ist es schwer, wenn nicht prinzipiell unmöglich, den Sinn des Gebens, bzw. der Gabe und ihres Gelingens einseitig vom Geben oder vom Empfang des Gegebenen her zu bestimmen. Zwischen Gebenden und Empfängern bleibt dieser Sinn zwischenzeitlich (und möglicherweise auf Dauer) unbestimmt. Wenn es sich aber so verhält, geben wir, wenn wir überhaupt (etwas oder uns selbst) geben, das Gegebene gleichsam so aus der Hand, wie wir Worte in den Wind sprechen oder eine Flaschenpost der Meeresströmung und damit einer Diachronie der Zeit überantworten, die bestenfalls auf eine Rückkehr zur gebenden Instanz und insofern auf eine Annullierung der Gabe selbst hinauslaufen muss. 21 Vgl. F. Adloff, S. Mau, »Zur Theorie der Gabe und Reziprozität«, in: F. Adloff (Hg.), Vom Geben und Nehmen, Frankfurt/M. 2005, S. 9–57, hier: S. 25 (= GN). Ein anderes, hervorragendes Beispiel, das hier nicht en détail entfaltet werden kann, ist die Gabe der Vergebung oder der Feindesliebe; vgl. P. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004, S. 736 ff.; ders., Das Rätsel der Vergangenheit, Göttingen 1998, S. 150 f. 22 Vgl. F. Adloff, S. Sigmund, »Die gift economy moderner Gesellschaften. Zur Soziologie der Philantropie«, in: GN, S. 211–235, hier: S. 215, 229. Hier wird die interessante Frage aufgeworfen, ob durch ein charitable giving nicht weit mehr als nur eine philantropische Sentimentalität zum Ausdruck kommt, nämlich die Sorge für eine imagined community einer sich anbahnenden Welt-Bürger-Gesellschaft, die sich nicht einfach auf schon vorhandene Institutionen stützen kann. 23 A. Callié, »Die doppelte Unbegreiflichkeit der reinen Gabe«, in: GN, S. 157–184, hier: S. 169; ders., Anthropologie der Gabe, Frankfurt/M. 2008 (= AG).

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Exkurs · Die Gabe als nachträglich zu bewahrheitende Gegebenheit

nachträglich herausstellen kann, was wir (wem, wie …) getan haben. 24 Schon diese wenigen einführenden Überlegungen zeigen, wie folgenreich es für unser gängiges Vorverständnis sozialen, politischen und geschichtlichen Handelns sein könnte, die Zeitlichkeit der einseitigen Gabe zu bedenken, die scheinbar niemals unverzüglich gelingen kann, sondern die Erfüllung ihres Sinns aufschiebt, dahingestellt sein lässt, verzögert oder im Advent belässt. Das aber bedeutet im Sinne meiner eingangs herausgestellten These, dass die Gabe darauf angewiesen ist, als solche auch in Empfang genommen werden zu können. Insofern muss man das Geben selbst als ein unvermeidlich zwischenzeitliches Geschehen begreifen, in dem zunächst unbestimmt bleibt, ob und wie es als solches auch gelingt. So gesehen begegnet uns die Gabe zunächst stets nur als zwischenzeitlich unbestimmte Gegebenheit, die gleichsam darauf wartet, als Gabe nachträgliche Bewahrheitung zu erfahren, durch die sie erst realisiert werden kann. Blicken wir unter den skizzierten Voraussetzungen nun auf die Karriere der Gabe in kulturwissenschaftlichen, philosophischen und politischen Diskursen der Gegenwart zurück, so fällt sofort auf, dass die Gabe (le don) ursprünglich nicht in dieser scheinbar emphatischen Bedeutung zur Sprache gebracht worden ist. Vielmehr bedarf gerade diese von mir bislang als zentral herausgestellte Bedeutung eigens der Erklärung. Um das im Einzelnen zeigen zu können, muss ich etwas weiter ausholen und auf die wichtigsten konzeptuellen Eckpunkte der Vorgeschichte dieser Diskurse eingehen. Vor allem die Kulturanthropologie war von Richard Thurnwald und Marcel Mauss über Claude Lévi-Strauss bis hin zu Marshal Sahlins, André Callié und Marcel Hénaff der Gabe als einem Phänomen sozialer Gegenseitigkeit auf der Spur. 25 Lévi-Strauss münzte Mauss’ Forschung nach Formen des Austauschs in archaischen Gesellschaften jedoch in eine logifizierte Theorie der Reziprozität des Frauentauschs zwischen verschiedenen Clans um und verlor infolgedessen das Phänomen der Gabe wieder weitgehend aus den Augen. 26 In der Soziologie, die Vgl. P. Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/M. 1993, S. 192 f.; ders., Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt/M. 1979, S. 220. 25 Vgl. die Übersicht bei G. Elwert, »Gabe, Reziprozität und Wartentausch«, in: E. Berg, J. Lauth, A. Wimmer (Hg.), Ethnologie im Widerstreit, München 1991, S. 159–177, sowie zur Unterscheidung von Reziprozität, Tausch und Gabe H. Berking, Schenken. Zur Anthropologie des Gebens, Frankfurt/M. 1996, S. 72 f. 26 Vor allem in C. Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt/M. 21984, Kap. V. Detailliertere Analysen müssen zeigen, ob das ein zu 24

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Gibt es die Gabe? Die Gabe als fragwürdige Gegebenheit

mit Georg Simmel und Theodor Litt frühzeitig Ansätze zu einer Phänomenologie der Wechsel- oder Gegenseitigkeit sozialer Perspektiven entwickelt hatte, kamen besonders jenseits des Atlantiks Austauschtheorien (George C. Homans, Peter Blau u. a. 27) zur Geltung, die sich ebenfalls nicht mit der Form und dem Sinn einseitigen Gebens befasst haben. Bis hin zu Alvin W. Gouldners Studien zur Reziprozität führen sie allenfalls nebenbei auf die Spur einseitiger Gaben 28 wie jener opening gifts, mit denen einander Unbekannte Austauschzyklen in Gang setzen können 29, in denen Gegengaben als bloße Erwiderungen niemals mehr der Freiheit ihnen vorausgegangener Vorgaben gleichkommen können, wie schon Simmel bemerkt hatte. Dagegen rollte Derrida den Prozess um die Gabe ganz neu auf, indem er gerade die Reziprozität in Frage stellte und Mauss’, von Lévi-Strauss affirmierte Einfügung der Gabe in Formen sozialen Austauschs zurückwies. In seinem großen Essay zu Søren Kierkegaard und Jan Patočka 30 sowie im Falschgeld-Buch über das Zeit-geben kaprizierte er sich auf den zuerst bei Bronisław Malinowski anzutreffenden Begriff der reinen Gabe 31, die uns in die besagte Aporie der Gabe verstrickt. Dagegen verwahrten sich wiederum Sozialanthropologen wie Callié, Godelier und auch Hénaff, die behaupteten, hartes Urteil ist. In seinen Beiträgen zur Strukturalen Anthropologie I, Frankfurt/M. 1978, jedenfalls insistiert Lévi-Strauss immer wieder darauf, die Wirkung eines transgenerationellen »Gesetzes« in Formen des Austauschs erwiesen zu haben, das einer diachronen, zwischenzeitlichen Unbestimmtheit der Gabe (s. u.) wenig Raum lässt. Vgl. M. Opitz, Notwendige Beziehungen, Frankfurt/M. 1975, S. 99 ff.; M. Kauppert, D. Funcke (Hg.), Wirkungen des wilden Denkens, Frankfurt/M. 2008. Wie »dürftig« (P. Ricœur, Hermeneutik und Strukturalismus, München 1973, S. 54) dieses vermeintliche Gesetz ausfällt, das sämtliche Verwandtschaftssysteme beherrschen soll, zeigt ein erster Vergleich mit aktuellen Analysen der Verwandtschaft (J. Butler, Antigone’s Claim, New York 2000) und der generativen Zeiterfahrung, die längst auch eine Rekonstruktion im Lichte einer Theorie der Gabe erfahren haben. Verwiesen sei nur auf T. Shchyttsova (Hg.), In statu nascendi. Geborensein und intergenerative Dimension des menschlichen Miteinanderseins, Nordhausen 2012. 27 Vgl. P. P. Ekeh, Social Exchange Theory, London 1974; J. K. Chadwick-Jones, Exchange Theory, New York 1976; S.-C. Kolm, »Introduction à la réciprocité générale«, in: Information sur les sciences sociales 22, no. 4/7 (1983), S. 569–621. 28 Vgl. A. W. Gouldner, Reziprozität und Autonomie, Frankfurt/M. 1984, S. 162 f. 29 Vgl. M. Sahlins, Stone Age Economics, London 1974. 30 J. Derrida, »Den Tod geben«, in: A. Haverkamp (Hg.), Gewalt und Gerechtigkeit, Benjamin – Derrida, Frankfurt/M. 1994, S. 331–445. 31 B. Malinowski, »Der Ringtausch von Wertgegenständen auf den Inselgruppen OstNeuguineas«, in: F. Kramer, C. Sigrist (Hg.), Gesellschaften ohne Staat. Gleichheit und Gegenseitigkeit, Frankfurt/M. 1978, S. 57–69.

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Exkurs · Die Gabe als nachträglich zu bewahrheitende Gegebenheit

Derrida bringe das (unbestreitbar vorliegende) Phänomen der Gabe (bzw. deren Phänomenalität) geradezu zum Verschwinden; es sei aber nicht zu bestreiten, dass es Gaben gebe – was Derrida, der an keiner Stelle schlicht empirisch argumentierte, allerdings keineswegs rundweg bestritten hatte. Zuletzt widersetzte sich Hénaff energisch der seit Derridas Studien über das Zeit-geben verbreiteten Tendenz, uralte Praktiken des Gebens von einem ihm als geradezu »absurd« erscheinenden Begriff einer »reinen« Gabe aus zu dekonstruieren. 32 Wo Derrida die Trennlinie zog: zwischen an-ökonomischer reiner Gabe einerseits und allen Austauschphänomenen andererseits, die bei ihm unter einen sehr weit gefassten und intern nicht weiter differenzierten Ökonomiebegriff fallen, da verlegt Hénaff entschlossen die Grenze: sie verläuft nun zwischen einer vielfach »zeremoniell« inszenierten, auf gegenseitige Anerkennung bedachten Gabepraxis einerseits und gewinnträchtigen Prozessen des mehr oder weniger vertraglich abgesicherten Gebens und Nehmens andererseits, in denen es gerade nicht darum geht, wie im ersten Fall ein soziales Band aufrechtzuerhalten oder gar zu stiften, sondern zu investieren, mit der Zeit zu spekulieren etc. Allerdings drohe eine Vorherrschaft derartiger Prozesse, die zweifellos das Soziale verkümmern lassen und schließlich ganz und gar veröden könnten. Diese Vorherrschaft habe die Gabe zu einem weitgehend privaten Phänomen depotenziert, dem scheinbar für den Zusammenhalt einer Gesellschaft keinerlei konstitutive Funktion mehr zukomme. Dabei zeigt sich Hénaff davon überzeugt, dass keine Gesellschaft ohne diese Funktion Bestand haben könne. Sein für die ganze bisherige Diskussion zweifellos Maßstäbe setzendes, bereits 2002 in französischer Sprache veröffentlichtes Buch Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie nimmt sich nun aber nicht vor, konkrete Vorschläge einer Rehabilitierung der Gabe in diesem Ähnlich kritisch hatte sich schon M. Godelier geäußert (RG, S. 294). J. Parry (»The Gift, the Indian Gift and the ›Indian Gift‹«, in: Man N. S. 21 [1986], S. 453–473, hier: S. 453) stufte den Begriff der »reinen Gabe« als pure Ideologie ein, die historisch mit der Vorstellung »reinen Selbstinteresses« (am Nützlichen, an Gewinn etc.) einhergehe. In der Tat sollte auch die Vorstellung von einer Ökonomie, die scheinbar ohne jegliche Gabe auskommen könnte, kritisch revidiert werden. Kann man überhaupt ein Gespräch eröffnen, ohne die zunächst einseitige Vor-Gabe von Vertrauen in eine entsprechende Antwort des Anderen? Wer so fragt, wird sich nicht mehr mit Versuchen zufrieden geben können, die (einseitige) Gabe und den (gegenseitigen) Austausch im Sinne von Wirklichkeitsbereichen oder Interaktionsformen voneinander zu trennen.

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Gibt es die Gabe? Die Gabe als fragwürdige Gegebenheit

Sinne zu unterbreiten, sondern erst einmal, diese Funktion selbst einsichtig zu machen. Und zwar ausgehend von der Gegenwart, in der die Gabe noch »ihre ganze Kraft bewahrt« habe, obgleich ihr keine »Forderung nach Gegenseitigkeit« mehr zugute komme (PW, S. 398). Diese Forderung findet Hénaff nachdrücklich bei Mauss bestätigt 33, dessen Kernthese tatsächlich lautete, die Gabe sei ein Phänomen obligater Erwiderung, der Gegenseitigkeit. Erstaunlicherweise kommt Hénaff gleichwohl zu dem Ergebnis, »wirklich geben« heiße, ohne Erwartung von Anerkennung und Erwiderung jeglicher Art das Spiel einer Beziehung zu eröffnen (PW, S. 405 34), die erst sekundär eine reziprok stabilisierte Form annehmen könne. Gleich zu Beginn erklärt Hénaff, das Vorbild einer solchen radikalen Einseitigkeit in Sokrates’ Uneigennützigkeit angetroffen zu haben (PW, S. 15). Es ist keine geringe Überraschung, die Frage nach der einseitigen Gabe mit solcher Wucht mitten in einem sozialanthropologischen Diskurs wiederkehren zu sehen, der sich – nach Derridas, vielfach zurückgewiesenen Interventionen – wieder ganz Marcel Mauss zugewandt und die Gabe der Gegenseitigkeit unterstellt hatte. 35 Auf der Suche nach der »Konstitution des gesellschaftlichen Lebens selbst« stößt Hénaff auf Hinweise auf eine radikale Asymmetrie (PW, S. 200 f.), die nicht so recht ins Konzept einer generalisierten Reziprozität passen wollen; jedenfalls dann nicht, wenn die einseitige Gabe zunächst »eine Brücke zu einem noch unsichtbaren Ufer« schlägt, wo man nicht weiß, ob und wie sie angenommen bzw. in Empfang genommen wird wie bei jenen opening gifts (PW, S. 209, 215). Hier erhebt sich die Frage, welche Formen an-ökonomischer Erwiderung sich als angemessene Antwort vorstellen ließen, wenn die Gebenden geradezu »sich geben« und »sich schenken« und auf diese Weise womöglich »ins Gegebene eingehen« (PW, S. 197, 157). 36 33 Der Untertitel von Mauss’ Essay Die Gabe [1925] lautete ja: Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt/M. 31984. 34 Hier erkennt Hénaff mit Recht in der Praxis des Gebens eine gewisse Nähe zur Gastlichkeit, die man dem Anderen als Fremdem gewährt (PW, S. 225, 228, 596–603). In beiden Fällen haben wir es mit einem das soziale Verhältnis zum Anderen eröffnenden einseitigen Geschehen zu tun, das erst sekundär in eine Form der Gegenseitigkeit einscheren, aber niemals im Austausch aufgehen kann. Vgl. die kulturphilosophischen und kulturwissenschaftlichen Beiträge in: A. Wierlacher, R. Bendix (Hg.), Gastlichkeit, Münster 2011; E. Fountoulakis, B. Previšić (Hg.), Der Gast als Fremder. Narrative Alterität in der Literatur, Bielefeld 2011. 35 Vgl. M. Panoff, »Marcel Mauss’s The Gift revisited«, in: Man (1970), S. 60–70. 36 Diesen Fragen hat J. Starobinski eindringliche Analysen gewidmet in: Gute Gaben,

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Angesichts dieser Asymmetrie der Gabe, die ein Verhältnis zum Anderen einseitig eröffnet, ohne sich auf eine bereits etablierte Reziprozität stützen zu können, ist für Hénaff »der Andere niemals sicher« (PW, S. 402). 37 Man weiß nicht und kann niemals vorab dessen sicher sein, ob und wie er die Gabe erwidern wird. Sie wird ihm zugemutet, aber so, dass ihm die Freiheit der Indifferenz oder der Zurückweisung der Gabe unbenommen bleibt; nur nicht die Freiheit, die jeder möglichen Erwiderung zuvor immer schon erfolgte Zumutung zurückzuweisen, sich als Empfänger einer Gabe zu realisieren. Kein »Geist der gegebenen Sache« (wie jenes von Mauss beschriebene magische hau 38) kann jedoch die Erwiderung erzwingen. Hénaff kommt zu dem Schluss, dass wir mit der Fähigkeit, in nicht zu erzwingender Art und Weise zu erwidern, begabt sind und dass diese Gabe Teil eines Erbes ist, eines »ursprünglich Gegebenen« (PW, S. 310), dem wir unsererseits in der Weise des Gebens antworten. An dieser Stelle bleibt Hénaff allerdings dunkel. Manche seiner Ausführungen lesen sich wie Anspielungen auf die andernorts geführte Diskussion um die Gabe einer Begabung zu geben, die ihrerseits Anderen nicht bloß Gaben, sondern geradezu das Geben weitergibt. 39 Hénaff fordert uns keineswegs im Sinne Georges Batailles zur Verschwendung auf (PW, S. 349 ff., 354 ff.). Vielmehr geht es ihm offenbar darum, die Verarmung einer Zeit deutlich zu machen, die weniger unter ihren (selbst verschuldeten, in der Tat exzessiven) Schulden leidet, als darunter, keinen Begriff von einer Erwiderung mehr zu schlimme Gaben. Von der Ambivalenz sozialer Gesten, Frankfurt/M. 1994, S. 63 ff. Den Autor beschäftigt die in der diskutierten Literatur oft vernachlässigte Frage, ob eine Gabe ihrem Empfänger nicht zugute kommen muss, um als Gabe gelten zu dürfen. Zu wenig wird bedacht, wie etwas Gegebenes überhaupt als Gabe derart gegeben werden kann, dass ihr Empfang oder ihre Annahme in diesem Sinne möglich ist. Darauf wird zurückzukommen sein. 37 Für M. Blanchot (Die Schrift des Desasters, S. 64) geht das so weit, dass ein historisches Ereignis sogar die Möglichkeit der Gabe bzw. des Gebens und des Inempfangnehmens der Gabe (vor allem der Gabe der Verantwortung, wie sie Levinas beschrieben hat) zerstören kann. Zu dieser Gabe, die uns wiederum zum Geben bestimmen soll, vgl. E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br., München 1992, S. 174, 177. 38 Mauss, Die Gabe, S. 33. 39 Wo jene Begabung ihrerseits als Gabe aufgefasst wird, die wir in unserem Sein einem ganz Anderen zu verdanken hätten, setzt eine ontotheologische Diskussion ein, die Gefahr läuft, die eingangs reklamierten Differenzierungen wieder zu unterlaufen; zumal dann, wenn aus einer Ontologie der Gabe kryptonormative Folgerungen abgeleitet werden, die uns das Geben zur Pflicht machen.

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haben, die man Anderen schuldet, ohne in ihrer moralischen Schuld zu stehen (PW, S. 365 ff.). So weiß man offenbar nicht, was man einander eigentlich ›angeht‹, weil man, wie Hénaff meint, keinen Sinn mehr hat für ein unberechnetes, einseitiges Geben und Erwidern. Am Ende würde sich die Wüste einer Welt »ohne Geber« ausbreiten, in der man noch Handel treiben und Profite einstreichen, aber im Grunde nichts mehr empfangen könnte. 40 Die Gefahr, die speziell durch einen »processus de marchandisation illimitée« drohe, laufe geradewegs darauf hinaus, dass ein ziviles und humanes Leben unmöglich gemacht werde. Wenn dagegen »irgend etwas Widerstand leistet«, so laut Hénaff (PW, S. 577) gerade das, was das Geben einseitig eröffnet und die Erwiderung zu einer Chance macht, die mit der Gabe verbundene Erwartung nicht zu enttäuschen, ohne sie in einer Art Gegenleistung gewissermaßen zu liquidieren. Darin, wie dies möglich ist, liegt nach wie vor das Rätsel der Gabe – Derrida zum Trotz, der in der Annahme und Erwiderung der Gabe ohne weiteres deren Annullierung erkennen will und sie auf diese Weise seinerseits in gewisser Weise unsichtbar macht. Aber lassen sich Phänomene wie die Dankbarkeit und die Weiter-Gabe nicht so deuten, dass sie zur Phänomenalität der Gabe nicht in Widerspruch stehen, sondern sie vielmehr geradezu erfordern, ohne aber darauf hinauszulaufen, sie aufzuheben? Will man einer Antwort auf diese Frage näher kommen, so wird man genauer untersuchen müssen, wie die Gabe als zwischenzeitlich zunächst unbestimmte Gegebenheit (der also ›Phänomenalität‹ zuzusprechen ist) in Empfang genommen werden kann, ohne annulliert zu werden, wenn sie als Gabe – nachträglich – realisiert wird. 41 PW, S. 581. Insbesondere nicht den Anderen als Anderen (»autrui dans sa radicale altérité«). Vgl. M. Hénaff, »De la philosophie à l’anthropologie«, in: Esprit, février (2002), S. 135–158, hier: S. 156 f. Genau genommen würde es sich womöglich gar nicht mehr um eine soziale oder politische Welt handeln, wenn es stimmt, dass eine solche Welt stets nur durch menschliches Handeln gestiftet, instituiert und auf Dauer gesichert werden kann. Es ist ein Desiderat, diesen, u. a. von Hannah Arendt betonten Gedanken mit der Kulturanthropologie der Gabe zu verknüpfen; vgl. die entsprechenden Hinweise auf den Ansatz Zimmermanns, dem es um die Stiftung und »ständige Ermöglichung« einer sozialen Welt durch (zunächst einseitiges) Geben geht, bei F. Rost, Theorien des Schenkens, Essen 1994, S. 50 f. 41 Vgl. in diesem Sinne die Überlegungen zu einer »adressatenlosen Dankbarkeit«, die eine anonyme Gabepraxis gleichsam ›honoriert‹, ohne im Geringsten in eine Rückgabe zu münden, bei G. Haeffner SJ, »Geben, Nehmen, Danken«, in: Stimmen der Zeit 213 (1995), S. 467–478, hier: S. 472, 474. 40

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Einseitig eröffnet die Gabe (wie die Stiftung von Vertrauen selbst nach dem tiefsten Zerwürfnis) in diesem Verständnis stets aufs Neue eine soziale, politische oder geschichtliche Beziehung und lässt dem Erwidern alle Freiheit, so dass dieses seinerseits wie eine (Gegen-) Gabe zum Zuge kommen kann; nicht aber, um einen Ausgleich herbeizuführen, durch den man quitt miteinander werden könnte, sondern um das Geben fortzusetzen, in welche Richtung auch immer, vielleicht in die Richtung Dritter, die ihrerseits nicht bloß relative Werte oder Gaben, sondern das Geben selber zirkulieren lassen, ohne je das Geben selbst zu annullieren. 42 Niemand, so scheint es, gibt allein aus eigener Kraft. Ohne den Anderen, der wie gesagt niemals gewiss ist, hätte ich weder etwas zu geben noch etwas zu erwidern. 43 Wenn das Geben-Können nicht aus eigener Machtvollkommenheit geschieht, wenn es vielmehr nur dank des Anderen möglich ist, von dessen Empfang jede Gabe und der Sinn des Gebens zwischenzeitlich abhängt, dann liegt es nahe, das Geben selbst als eine Gabe bzw. als etwas uns Gegebenes zu verstehen. Sind wir also als Geber ursprünglich selbst Empfänger des Geben-könnens? Woher ›haben‹ wir dieses Können oder empfangen es von neuem, wenn wir uns des GebenKönnens nicht aus eigener Kraft zu versichern vermögen? Mit diesen Fragen dringt der Diskurs über die Gabe vom Geben (einem vielfältig beobachtbaren, geradezu trivialen Prozess) über das Gegebene und die Gabe zu der Frage vor, was die Gabe überhaupt als solche ausmacht und gelingen lässt – immer vorausgesetzt, es gibt sie, die Gabe, sie ist eine Gegebenheit, mit der wir uns außerordentlich schwer tun, wenn wir in Erfahrung bringen wollen, was sie eigentlich zur Gabe macht. Angesichts dieser verwirrenden semantischen Befundlage können wir nicht umhin, kritisch von der Gabe zu sprechen. Das Ende der Naivität scheint auch hier gekommen, wie es Ricœur vor einem halHier bietet sich eine Bourdieu geradezu entgegengesetzte Deutung an. Während Bourdieu annimmt, die Logik scheinbar einseitiger Gaben verschleiere in Wirklichkeit nur eine von den Beteiligten in Wahrheit aufrecht erhaltene Logik der Reziprozität, sollte man sich fragen, ob nicht auch letztere dem Anschein nach gewahrt werden kann, um eine generöse, den Empfänger zu keinerlei Erwiderung verpflichtende Gabe möglich zu machen. Vgl. P. Bourdieu, »Marginalia – Some Additional Notes on the Gift«, in: A. D. Schrift (ed.), The Logic of the Gift, London 1997, S. 231–241, hier: S. 232. 43 Insofern fängt das Geben niemals bei uns selbst an, wie auch Blanchot mit Blick auf Levinas betont, indem er sich von der Vorstellung der Gabe als einer »wohlgefällige[n] Tat eines freien Subjekts« abgrenzt (Die Schrift des Desasters, S. 134). 42

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ben Jahrhundert feststellte, indem er schrieb: »Die Naivität gehört in die Kategorie des ›es gibt‹ : Es gibt Dinge, es gibt Natur; es gibt die Geschichte, es gibt das Gesetz der Arbeit, es gibt die Macht der Befehlenden.« 44 Im Sinne eines solchen empirischen Auflesens würde es also auch die Gabe geben – als ein Vorkommnis unter vielen anderen, ein empirisches Datum, zur Welt als dem Insgesamt des Gegebenen gehörig, das wir angeblich hinzunehmen haben wie jene »Tatsachen des Lebens«, von denen Wittgenstein bekanntlich behauptete, sie seien »das hinzunehmende, das gegebene [sic]«. 45 Paradoxerweise ist uns in der Moderne aber gerade das Gegebene eigenartig fremd geworden. Man denke nur an die vom englischen Empirismus (John Locke) und radikaler noch vom französischen Sensualismus (Étienne de Condillac) verfochtene Behauptung, gegeben seien uns zunächst nur Empfindungen (sensations), die uns ultimativ der Wirklichkeit versichern sollten, tatsächlich aber am weitesten von ihr entfernten. Das jedenfalls geht aus den Wahrnehmungstheorien des 19. Jahrhunderts hervor, denen zufolge allein unbewusste Schlüsse aus dem Empfundenen auf äußere Gegenstände den Kontakt zu der Wirklichkeit garantieren können sollten, die unter der Haut lokalisierten sense data gerade abzugehen schien. 46 So wurde eine förmliche Rehabilitierung des Gegebenen gegen den Empirismus (und gegen den Intellektualismus, der auf der gleichen epistemologischen Grundlage ruht) erforderlich, wie sie vor allem Maurice Merleau-Ponty im Anschluss an Edmund Husserl betrieb. Bei Merleau-Ponty macht wie auch bei Heidegger 47 und in anderer, z. T. dezidiert entgegengesetzter Art und Weise bei Levinas, Jacques Lacan, Michel Foucault und Maurice Blanchot bis hin zu Jean-Luc Marion das »es gibt« (il y a) eine schillernde Karriere; bei ersteren und letzterem aber gerade nicht als eine Kategorie der Naivität, sondern als Inbegriff unserer Einfügung ins Sein, das sich uns gibt (und zuP. Ricœur, Geschichte und Wahrheit [1955], München 1974, S. 202. L. Wittgenstein, Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, Werke Bd. 7, Frankfurt/M. 1984, S. 122, Nr. 630. 46 Zum wissenschaftsgeschichtlichen Kontext jenes Theorems und seiner Bedeutung für die Wahrnehmungstheorie vgl. Vf., »Eine Welt von Konsequenzen ohne Prämissen. Ein Nachtrag zur Geschichte des Theorems vom unbewußten Schluß. Mit Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaftsgeschichte und Phänomenologie«; in: Archiv für Begriffsgeschichte XXXIV (1991), S. 326–367. 47 M. Heidegger, Zeit und Sein, Tübingen 1969, S. 5, 9; ders., Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem ›Brief über den Humanismus‹, Bern 1954, S. 80. 44 45

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gleich entzieht). 48 Speziell Marion weiß sich in seinen ontologischen Untersuchungen zur Gabe und zum Geschehen einer Gebung (donation), die sie zeitigt, nach wie vor jenem Geist phänomenologischer Forschung verpflichtet, die untersucht, »wie sich das Gegebene als Gegebenes gibt« – wenn wir Levinas’ frühem, 1929 veröffentlichtem Aufsatz »Über die ›Ideen‹ von E. Husserl« folgen, von dem die Phänomenologie in Frankreich, angefangen bei Jean-Paul Sartre, maßgeblich ausging. 49 An dieser Stelle ist gut zu erkennen, was es bedeutet, mit Ricœur vom Ende der Naivität zu sprechen. Nicht, dass wir sie jemals völlig überwinden und in diesem Sinne ›aufheben‹ könnten, wie es sich scheinbar Eugen Fink vorgestellt hat. Die Naivität wird immer derjenige Modus der Erfahrung sein, in dem sich uns zuerst etwas darstellt (bzw. als zu Erfahrendes ›gibt‹, wie Levinas sich ausdrückt). In der Freude realisiere ich die Bedeutung des Gebens; in der Dankbarkeit erkenne ich das Geschenk des Anderen als Wohltat an; im zwiespältigen Gefühl drängen sich mir Implikationen einer selbstlosen Gabe auf, die mich belastet, weil ich mich ihr gegenüber unter keinen Umständen angemessen erkenntlich erweisen kann. Und der Verdacht Vgl. E. Levinas, Vom Sein zum Seienden, Freiburg i. Br., München 1997, S. 32, 69 ff., sowie dazu die editorischen Hinweise in M. Blanchot, Das Neutrale. Philosophische Schriften und Fragmente, Berlin 2010, S. 237, sowie Callié, AG, S. 117–9. 49 E. Levinas, Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte, Freiburg i. Br., München 2006, S. 37–78, hier: S. 48. Bekanntlich hat aber gerade Sartre eine »anthropologische« Deutung von Sein und Zeit favorisiert, die Heidegger im Humanismusbrief energisch zurückwies, der bereits in die Richtung des späteren Vortrags »Zeit und Sein« (1962) verweist, wo das Sein ausdrücklich ohne Rückbezug auf Ontisches rein als solches gedacht werden sollte (vgl. M. Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, S. 1–25). Die infolgedessen abgerissene Verbindung einer vermeintlich »direkten Ontologie« zur (Sozial-) Anthropologie kann man nicht einfach überspringen, wie es heute nicht selten geschieht, wo das ontologische Vokabular der Gabe, das Heidegger in diesem Vortrag entfaltet, über die Zwischenstation der Marion’schen Revision dieses Vokabulars suggestiv wieder auf die Forschungen von M. Mauss zurückbezogen wird. Wenn die sozialanthropologische Rede von der Gabe nicht von der Phänomenologie ihrer Gegebenheit und von der Ontologie der Gebung dessen, was sich zeigt, differenziert wird, ist die daraus entstehende unvermittelte Kontamination der beteiligten Diskursarten wirklich heillos. Weder Levinas noch Sartre, MerleauPonty oder gar Ricœur haben übrigens ihrerseits den Weg einer direkten Ontologie eingeschlagen, in der – erstaunlicherweise – am Ende »der Mensch« wieder auftaucht, der die »Gabe« des Ereignisses des Seins in Empfang nehmen können soll. Vom Anderen ist hier allerdings so wenig die Rede wie davon, die Gabe könne ihm zugute kommen und genau das müsse sich zeigen in dem, wie die Gabe sich als Gegebenheit ›gibt‹. 48

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führt auf die Spur fragwürdiger Absichten, die die Gabe vergiften (wie das Leben mit dem Tod). So leitet das naive Reden über das »es gibt« (il y a; nicht: ça donne), über das Geben, das Gegebene (le donné), die Gegebenheit (la donné) und Gaben wie von selbst zur Notwendigkeit einer zunächst sprachkritischen Revision über, die erweisen sollte, ob wir es unter diesen Problemtiteln (von Mauss bis Marion) überhaupt mit etwas Einheitlichem zu tun haben. Führt das Reden über die Gabe (als Gegebenes oder Gegebenheit) und über das Gegebene (als Gabe) tatsächlich auf die Spur eines einheitlichen Prinzips, das die Semantik beherrscht? Nein, befand Derrida. Es gebe kein vereinigendes Prinzip aller idiomatischen Ausdrücke, derer sich Mauss bediente; und es sei sicherlich unmöglich, »ein Wesenskonzept der Gabe« aus ihnen herauszulösen, »das die idiomatische Verschiedenheit transzendieren würde«. 50 Dennoch: das Phänomen der Gabe, insistierte auch Derrida, kann man kaum leugnen. Man muss demzufolge davon ausgehen: es gibt Gaben, es handelt sich um eine Gegebenheit, die schwerlich in Abrede zu stellen ist. 51 Und dieser Ausdruck wird, wenn wir neueren Analysen folgen, immer und unvermeidlich zweideutig bleiben 52; d. h. er wird die Frage nach sich ziehen, ob diese Gegebenheit ihrerseits als eine Gabe zu verstehen ist. Die Frage ist allerdings, ob sich das je von sich her, vom Phänomen des Gegebenen bzw. der Gabe selbst her ohne weiteres ›zeigen‹ kann, worauf ja die Phänomenologen setzten. Zeigt sich das Gegebene bzw. die Gabe von sich aus als Gabe? Liegt in diesem ›als‹ nicht eine signifikative Differenz, die uns darauf aufmerksam machen sollte, dass womöglich nichts einfach als Gabe gegeben, sondern alles, was hier in Frage kommt, als Gabe aufgefasst, verstanden, interpretiert

Derrida, Falschgeld, S. 68, 76 f. Dem müsste man allerdings weiter nachgehen und sich genauer mit einer weit zurückreichenden abendländischen Tradition auseinandersetzen, die ihre zwiespältig entlarvenden Triumphe überall dort meinte feiern zu können, wo sie nachgewiesen zu haben schien, dass auch die ›selbstlose‹ Wohltat sich ›letztlich nur‹ einem kaschierten Egoismus, die einseitige Gabe nur der nicht eingestandenen Erwartung einer Gegenleistung und die Spende nur einem fragwürdigen Narzissmus verdanken. Dieses ›letztlich nur‹ verrät den Geist eines beharrlichen Reduktionismus, der sich immer von neuem an gegenteiligen Ausgangsevidenzen abarbeiten muss, ohne je in einer vollendeten Reduktion zur Ruhe zu kommen, nach der sie uns nicht mehr umtreiben müssten. 52 Vgl. die entsprechenden Beiträge in: S. Gottlöber, R. Kaufmann (Hg.), Schuld – Gabe – Vergebung, Dresden 2011. 50 51

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Exkurs · Die Gabe als nachträglich zu bewahrheitende Gegebenheit

wird? 53 Angeblich lässt sich alles Mögliche – von der Anerkennung über den Takt und die Rücksichtnahme bis zur Höflichkeit und zum Vertrauen … – als Gabe rekonstruieren, wie manche Soziologen behaupten (vgl. GN, S. 42). 54 Zugleich soll eine »auf der Höhe der konkreten menschlichen Subjekte« sich haltende Sozialwissenschaft gleichwohl in der Lage sein, sich der Realität einer Gabe zu versichern, »die sich als solche weiß« (ebd., S. 176). Legt also die Erfahrung dieser Subjekte ohne weiteres fest, was als Gabe gelten kann? Oder haben wir mit Prozessen des Gebens (von Gaben) zu rechnen, die sich von sich aus keineswegs als solche darstellen und zu Selbstmissverständnissen verleiten? Ein Blick in die aktuelle Diskussion um die Gabe als Gabe zeigt, dass in diesen Hinsichten keine Einigkeit besteht. Strittig ist nach wie vor besonders, ob die Vorstellung von einer Gabe (ob »rein« oder nicht), die aus jeglicher Ökonomie ausschert, überhaupt sinnvoll ist.

4.

Die Gabe im Diskurs über die Gabe

Damit kommen wir zur kritischen Frage nach der Karriere der Diskurse, die die Gabe als Gabe zur Sprache gebracht haben. Welches Interesse verfolgen sie, wenn sie bspw. mit Callié einen homo donator beschreiben, der einseitig, freiwillig, ökonomisch desinteressiert, ohne Erwartung einer Erwiderung, handelt (GN, S. 181)? Warum insistiert man mit Derrida auf der (Un-)Möglichkeit einer »reinen Gabe«? Warum mit Bataille auf dem an-ökonomischen Denken einer Gabe, die in keinem sozialen Austausch je aufhebbar sein soll? 55 Warum mit Ricœur auf der Enttäuschungsresistenz vorbehaltloser Vorleistungen, die einen Bruch mit der Logik der Reziprozität heraufWobei ich hier voraussetze, dass das Interpretieren-als nicht auf eine einfache Erfindung hinausläuft, sondern seinerseits an ein Gegebenes anknüpft, das die Interpretation als Gabe zumindest nahelegt, sie aber nicht erzwingt. Keine Rede kann aber davon sein, eine Gabe zeige sich ohne weiteres von sich aus als Gabe. So wird die Phänomenologie auf eine Hermeneutik verwiesen, die an dieser Stelle eine Macht der Interpretation zur Geltung bringt. 54 Vgl. R. Esterbauer, »Zu einer Phänomenologie des Gebens«, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie XXXVII (1992), S. 89–112, hier: S. 101. 55 G. Bataille, Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität, München 1978, S. 59. Zweifellos handelt es sich um eine irreführende Berufung auf Bataille, der die Verausgabung oder Verschwendung nicht als dem Anderen ›zugute Kommendes‹ denkt. 53

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Die Gabe im Diskurs über die Gabe

beschwören sollen (WdA, S. 282–306)? Warum mit und gegen Bourdieu auf einem Interesse an Interesselosigkeit? 56 Handelt es sich in diesem Falle womöglich bloß um fragwürdige Privilegien jener, die der Armut ihres Reichtums entkommen wollen? Oder um eine »romantisierende Rückbesinnung auf die Welt der Gabe«, die es vielleicht nie gegeben hat (GN, S. 19)? Oder sollte es eine reine bzw. ganz einseitige Gabe geben? 57 Sollte man geben, ohne zu wissen wozu, ohne Anerkennung, ohne Dank (GN, S. 40)? Handelt es sich hier nicht um Formen der Entsagung, des Verzichts, des Widerrufs, der (vielleicht vergeblichen oder illusionären) Durchbrechung der Vorherrschaft einer Ökonomie, die jederzeit auch die reinste Gabe wieder zu absorbieren droht, sobald diese als solche zu Bewusstsein kommt? (Genau dieser Verdacht hatte Derrida dazu bewogen, den Begriff der Gabe aporetisch zuzuspitzen.) Nicht zufällig (bzw. nicht umsonst) ist die Karriere des GabeDenkens in einer Zeit festzustellen, die gerade im Exzess ihrer ökonomischen Erfolge zu begreifen beginnt, wie ›umsonst‹ all das kapitalisiert wird, was seinen Preis und Wert hat, was sich akkumulieren und reinvestieren lässt. Umsonst hier im Sinne von: vergeblich. Fühlt man sich angesichts des Reichtums und seines unaufhörlichen Wachstums, mit dem man uns jeden Tag in den Ohren liegt, ärmer denn je werden? Folgt etwa der gleichen Logik nun die Besinnung auf Prozesse der Verschwendung, der Verausgabung, des Verschenkens, des Stiftens und des Spendens? Will man durch all das dem Leben wieder eine andere, an-ökonomische Art von Reichtum verschaffen? Handelt es sich bloß um eine Neuauflage einer Variante des Ökonomischen oder im Gegenteil um eine veritable Auskehr aus dem Ökonomischen selbst? Und geht es darum, sich aus dessen unumschränkter Herrschaft zu retten, die sich sogar dort noch bemerkbar macht, wo man aus dem Verzicht auf alles Mögliche Kapital für ein Über-Leben diesseits oder jenseits des Todes zu schlagen sucht 56 GN, S. 176 ff. Zum Begriff des Interesses vgl. P. Bourdieu, L. J. D. Wacquant, Reflexive Anthropologie, Frankfurt/M. 2006, S. 148 ff. 57 Über weite Strecken präsentieren sich die Überlegungen Derridas wie hypothetische, nach dem Muster: wenn es eine reine Gabe gibt (und wenn die reine Gabe die einzige Alternative zur »Ökonomie« des Austauschs ist), dann muss sie »rückkehrlos« erfolgen, usw. An anderer Stelle kommt er Levinas nahe, wenn er den Empfang einer Gabe vom Anderen her beschreibt, die in der Gegenwart (présence) eines verantwortlichen Subjekts wie ein Geschenk (présent) ihre Spuren hinterlässt (Marx’ Gespenster, Frankfurt/M. 1995, S. 52 ff.).

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(AG, S. 160)? Die Vermutung ist nicht neu, diese Kaskaden brennender Fragen nach symptomatischen Implikationen der diskursiven Karriere der Gabe markierten eine kompensatorische Rhetorik, die dazu beitragen soll, sich von der kaum mehr zu ertragenden Vorherrschaft ›des‹ Ökonomischen (zumindest in gewissen kapitalistisch forcierten Varianten 58) und des Interesses auf rhetorischem Wege zu befreien. 59 Misstrauen ist jedenfalls angebracht angesichts eines Diskurses, der im Verdacht steht, die Gabe herbeizureden, wo sie sich nicht eindeutig von sich aus als Gabe zu erkennen gibt bzw. nicht von sich aus zeigt, was sie zur Gabe macht. 60 Das gilt auch für die Rede von einer Gabe der Verantwortung. Dass etwas gegeben wird, bedeutet keineswegs, dass es als Gabe gegeben wird. 61 Und das Geben als Gabe kann sich nicht einfach an den Intentionen einer gebenden Instanz bemessen, wenn es stimmt, dass der Sinn des Gebens zwischenzeitlich unbestimmt bleiben muss, bis das Gegebene so oder so in Empfang genommen wurde. Selbst dann kann niemals gewiss sein, dass ein ›wirkliches‹ Geben stattgefunden haben wird. Das ist auch gegen Jean-Luc Marion einzuwenden, der in seinem Buch Das Erotische feststellt, der Liebende, der dem/der Anderen seine Liebe schenkt, habe »das unvergleichliche Privileg, nichts zu verlieren«, auch wenn sie nicht erwidert wird, »denn eine gering geschätzte Liebe bleibt dennoch ganz und gar eine vollendete Liebe, so wie ein nicht angenommenes Geschenk ganz und gar ein gegebenes Geschenk bleibt«. Das Ausbleiben einer »Gegengabe« in der Form erwiderter Liebe würde nur das »königliche Privileg« bestätigen, umso weniger zu verlieren, je mehr sich der Gebende Die Rede vom Ökonomischen mit bestimmtem Artikel erweist sich bei näherem Hinsehen zweifellos aufgrund ihrer Undifferenziertheit als außerordentlich anfechtbar; siehe dazu das Kap. XXVII, 2. 59 GN, S. 219; Godelier, RG, S. 292. 60 Vgl. B. Waldenfels, »Das Un-Ding der Gabe«, in: H.-D. Gondek, B. Waldenfels (Hg.), Einsätze des Denkens, Frankfurt/M. 1997, S. 385–409. 61 Und wie die weiter oben bereits kurz angesprochene Politisierung einer angeblichen Ethik der Gabe beweist, ist es keine Harmlosigkeit, wenn man zu berücksichtigen vergisst, in welchem Kontext eine Deutung von Gegebenem als Gabe erfolgt. Wenn sich eine »gebende Hand« in ihrer öffentlich zur Schau gestellten Generosität selbst gefällt, so impliziert das die Unterstellung, die Empfänger hätten kein Recht auf das Gegebene. Eine solche, scheinbar generöse Praxis des Gebens hätte also die Kehrseite einer Wegnahme oder Bestreitung von Rechten. Bezeichnenderweise fragen sich die Verfechter einer solchen Praxis offenbar nicht, ob unter solchen Bedingungen überhaupt jemand ihre »Gaben« haben will. 58

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Zur Annahme der Gabe

»verschenkt«. So stößt die Liebe scheinbar »niemals auf etwas, das ihr fremd bleibt«. Keine Negativität vermöchte sich ihr zu widersetzen. Im Gegenteil: »je mehr ich mit Verlust liebe, desto mehr liebe ich ganz einfach«. 62 (Warum sollte man sich also nicht von vornherein vornehmen, mit Verlust zu lieben, d. h. aus der Liebe ein Verlustgeschäft zu machen?) Was ist aber von einer Liebe zu halten, die sich nicht im Leben des oder der Geliebten als solche zu bewahrheiten hätte, d. h. in der Erfahrung des Geliebtwerdens, die allein die Anderen machen können? 63 Die Gabe ist rückhaltlos abhängig vom Empfang, durch den sie sich überhaupt nur als Gabe bewahrheiten kann. Das bestätigt sich hier erneut. Sie geschieht, wenn es sie gibt, zwischen uns, in der Diachronie einer Zwischenzeit, die vorläufig unbestimmt lässt, ob, was und wie wir einander (überhaupt) etwas oder uns selbst einschließlich unserer Lebenszeit geben, die schließlich unseren Tod kosten wird. So kommt die Gabe zumal im Verhältnis der Generationen sehr leicht dem Opfer nahe, das seine Empfänger in eine Art Schuldknechtschaft verstricken und dazu auffordern kann, sich endlos erkenntlich zu erweisen. 64

5.

Zur Annahme der Gabe

Wiederum tritt hier neben das Rätsel der Gabe die Frage nach ihrem Empfangenwerden, das ich eingangs neben der Phänomenalität der Gabe als deren größtes Rätsel bezeichnet habe, dem man weiter nachforschen müsste: Wie ist es möglich, die Gabe des Anderen anzunehmen, ohne sich in einer pekuniären, symbolischen oder moralischen Ökonomie (wie der Dankbarkeit) derart erkenntlich zu zeigen, dass es zu einem Ausgleich oder zur Annullierung von Gaben durch RückGaben kommt (wie es Derrida befürchtete)? Soll das möglich sein (und wir haben Grund anzunehmen, dass dies möglich ist), so müsste J.-L. Marion, Das Erotische. Ein Phänomen, Freiburg i. Br., München 2006, S. 108 f. Ricœur spricht unumwunden von der »überschwenglichen Gabe der Agape« und schreibt auch ihr zu, sich vollkommen selbst zu genügen – jenseits allen Kalküls, aller Erwartung einer Erwiderung, des Vergleichs, der Reue, ja sogar der »Aufmerksamkeit für sich selbst« (WdA, S. 276 f.). Angeblich hat sie »nur ein Begehren: zu geben« – und zwar offenbar ohne Rücksicht darauf, ob das Gegebene beim Anderen als solches ›ankommt‹ (ebd., S. 280). 64 So gesehen stellt sich uns die Gabe als zwischen der Logik des Ökonomischen und der Logik des Opfers instabiles Phänomen dar. 62 63

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Exkurs · Die Gabe als nachträglich zu bewahrheitende Gegebenheit

sich eine Weise des Empfangs einer Gabe beschreiben lassen, die in eine Gegen-Gabe oder Weiter-Gabe münden kann, ohne auf eine Rückgabe hinauszulaufen. 65 Und eine Gabe, die der gebenden Instanz und ihrem Empfänger als solche erscheint, der also Phänomenalität zuzusprechen ist, müsste genau so angelegt sein, dass sie einen solchen Empfang zumindest zulässt. So gesehen könnte es sein, dass wir bislang vor allem den dankbaren Empfang notorisch falsch, nämlich als eine die Gabe quittierende Art der Rückgabe verstanden haben. 66 Von Georg Simmel bis Marcel Hénaff ist mit Recht betont worden, es könne kein soziales Leben geben, wo nichts gegeben werde. Aber das Geben von Gaben erfordert auch eine Annahme, die die Gabe nicht als Gabe aufhebt, annulliert oder liquidiert. 67 Insofern ist in das Geben ungeachtet seiner Einseitigkeit und Asymmetrie doch stets der Andere verstrickt, dem es gilt. Ohne ihn können wir überhaupt nichts geben. Nur dank des Anderen können wir geben. So ist das Geben immer schon ein Antworten auf den Anderen, zu dem wir im Modus der Responsivität in einem Verhältnis stehen, das wir niemals nur uns selbst verdanken. 68 Seinerseits greift das Geben dem Antworten des Anderen als des Adressaten des Gegebenen vor und muss wissen, nur durch dieses Antworten (wenn überhaupt) gelingen zu können. Gewiss verbindet Geben, vor allem dann, wenn das Gegebene als Gabe so gegeben wird, dass es dem Anderen wirklich zugute kommt. 69 Aber nicht jede Gabe ist in diesem Sinne wie eine Wohltat eine gute Gabe. Von Mauss bis Sartre wurde vielfach beschrieben, wie selbst das Schenken in Krieg und die Generosität in Unterwerfung und Zerstörung umschlagen können. 70 So gesehen hängt die Frage, ob man Anderen ›wirklich‹ etwas gegeben hat, am wenigsten von diesem Etwas, einem gegebenen Ding, einer Sache, die zwischen Gebenden und Empfängern hin und her wandern kann, sondern vom Geist ab, in dem das Gegebene gegeben und empfangen wird. Dieser In Kap. XXVI, 4 wird darauf zurückzukommen sein. Zweifellos genügt es nicht, an dieser Stelle einfach die Dankbarkeit als Lückenbüßer anzuführen, denn entscheidend ist doch, wie sie gedacht wird; vgl. bspw. G. Marcel, Das grosse Erbe, Münster 1952, wo einer »Welt der Dankbarkeitslosigkeit« eine explizit als Gabe bezeichnete Dankbarkeit entgegengestellt wird, die im Nachwort dann aber wieder in eine »geistige Ökonomie« einschert (S. 28 f., 80). 67 Vgl. J.-P. Sartre, Entwürfe für eine Moralphilosophie, Reinbek 2005, S. 648. 68 Vgl. B. Waldenfels, Antwortregister, Frankfurt/M. 1996. 69 Es wäre eigens zu untersuchen, ob bzw. warum das etwa von einer ›korrupten‹ Gabe nicht gesagt werden kann. 70 J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts, Reinbek 1993, S. 1018. 65 66

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Zur Annahme der Gabe

›Geist‹ ist in der Tat ein Un-Ding. 71 Am Gegebenen lässt er sich ebenso wenig eindeutig objektivieren wie in Intentionen einer gebenden Instanz oder in der Antwort derjenigen, die unverhofft, zwiespältig, gedemütigt, reich beschenkt oder wie auch immer zu Empfängern werden. Stets muss sich der Geist der Gabe durch die Diachronie der Zeit des Gebens, in zwischenzeitlicher Unbestimmtheit, erst als ein solcher nachträglich bewahrheiten, der dem Anderen wirklich zugute kommt. Wie die Fürsorge zwischen den Generationen hinreichend zeigt, durch die die Nachkommen überhaupt erst zu einem eigenen Leben befähigt werden, steht vielfach für lange Zeit dahin, wohin uns das Geben führt – ebenso wie die Frage, worum es im einseitigen Geben und in der ebenso einseitigen Erwiderung eigentlich geht, die nicht auf eine Rück-Gabe hinausläuft 72, sondern – umsonst – das Geben weitergibt. 73 Antworten, die vorgeschlagen worden sind, reichen von der Stiftung einer sozialen Welt auf der Basis »bedingungsloser Sinnressourcen« (Callié; AG, S. 104, 112 f.) über das bloß negative Motiv, sich von der fatalen Vorherrschaft des Ökonomischen zu befreien, die souveräne Verausgabung (Bataille), die jeden davor bewahren soll, in sich selbst verkapselt zu bleiben 74, bis hin dazu, Anderen Gutes zu tun

Viel zu wenig bedacht wird in der allgemeinen Euphorie, die neuerdings mit der Reaktualisierung Mauss’scher Gedanken einhergeht, wie jener Geist des Gebens von einem Un-Geist abzugrenzen ist, der sich in einer Politik kleiner und großer Geschenke manifestiert, deren Annahme korrupt macht. Die Frage, ob und wie eine Logik der Gabe politisiert werden kann, ist bislang kaum auch nur in Ansätzen aufgeworfen worden. Steht eine Praxis des Schenkens und des Sichbeschenkenlassens im Politischen nicht vielfach im Verdacht der Bestechlichkeit – wie den Aktivitäten von NGOs wie Transparency International ohne weiteres zu entnehmen ist? Sofern eine »Logik der Gabe« allein von interpersonellen Praktiken des Gebens und des Austauschs her entwickelt wird, läuft man Gefahr, deren politisch-institutionelle Rahmenbedingungen fahrlässig zu übersehen. Mit der Frage nach der Politisierbarkeit einer solchen Logik ist ein wichtiges Forschungsdesiderat benannt. 72 Das hat wohl Ricœur im Auge, wenn er die Wechselseitigkeit, in der das Gegebene keinen Preis hat (WdA, S. 294, 301, 324), von einer ökonomisierten Gegenseitigkeit abhebt (WdA, S. 289, 291). 73 Ob wir das Geben unsererseits von anderswoher empfangen haben, wie es Ricœur suggeriert, bleibe dahingestellt (WdA, S. 297). Im Übrigen versteht es sich von selbst, dass man nicht die Akte des Gebens selbst weitergeben kann, die ihrerseits die Empfänger dazu inspirieren werden, sie nachzuahmen und in diesem Sinne den Geist des Gebens weiterzugeben – ggf. im Geist der Liebe (agápe, nicht philía oder eros; WdA, S. 276 f.). 74 L. E. Kay, Das Buch des Lebens, Frankfurt/M. 2005, S. 319. 71

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Exkurs · Die Gabe als nachträglich zu bewahrheitende Gegebenheit

– um sich auf diese Weise zu retten. Würde in diesem Falle das Gelingen der Gabe nicht doch wieder auf eine subtile Form ihres Scheiterns hinauslaufen, insofern ihr entscheidender Vorteil letztlich dem gebenden Selbst zugute käme? Würde so gesehen die Phänomenologie der Gabe doch nur auf die Spur einer subtilen List des Besitzes führen, wie es Blanchot befürchtete? Noch, so scheint es, haben wir ungeachtet der starken, von Mauss bis Derrida, Starobinski, Callié und Hénaff immer wieder affirmierten Intuition, dass es die Gabe wirklich gibt, davon keine rechte Vorstellung, was es heißt, dass sie als dem Anderen umsonst (aber nicht vergeblich), freiwillig, einseitig und rückhaltlos zugute kommendes Geschehen wirklich gelingen kann. Muss sie nicht, um wirklich als Gabe gelten zu dürfen, tatsächlich auch gelingen? Gewiss aber nicht so, dass sie »nichts erwartet« bzw. erwarten lässt, wie Ricœur meint (WdA, S. 303). Wenn sie auch mit dem Verzicht darauf einhergeht, für sich etwas (wenigstens Dankbarkeit) zu erwarten, kann sie doch nicht ohne Aussicht darauf auskommen, dass die Gabe den Anderen zugute kommen möge. Wenn nicht in Erfahrung zu bringen ist, ob es dazu kommt, kann sie nichts von ihrem Gelingen und insofern nichts von ihrem eigentlichen Sinn wissen. Dazu genügt es nicht, dass sich das Geben unter die »Schirmherrschaft des Optativs« begibt (WdA, S. 305). Vielmehr muss es sich vom Anderen konkret vorgeben lassen, ob und wie es ›ankommt‹ und mehr oder weniger gelingt – sei es auch in der Dauer eines Lebens, in dem wir vielleicht niemals abschließend wissen werden, ob und was (und wie etwas oder jemand selbst) Anderen wirklich zugute gekommen sein wird. Das zeigt sich stets erst im Nachhinein – und womöglich über den Tod hinaus. Mauss’ Theorie ist heute, nach fast einhundert Jahren einer verwickelten Rezeptionsgeschichte, unter ganz anderen Vorzeichen wieder aufzugreifen als zu einer Zeit, die im Archaischen noch Vorbilder einer womöglich in Europa zu rehabilitierenden quasi-magischen ›Kraft‹ des Gebens und Erwiderns vermuten ließ. Nicht im Rekurs auf traditionale Lebensformen, sondern jenseits ihres konventionellen, kollektiv verpflichtenden Zuschnitts hat heute die Frage Gewicht, wie einseitiges Geben Anderen so zugute kommen kann, dass sie gerade nicht normativ zu Gegenleistungen verpflichtet werden, die nur darauf hinauslaufen könnten, einen Ausgleich wie zwischen Krediten und Rückzahlungen herbeizuführen. Diese Frage stellt sich zudem weniger im Kontext lokal beschränkter Lebensformen, wie sie seiner296 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Zur Annahme der Gabe

zeit die Kulturanthropologie vor Augen hatte, sondern vielmehr im welt-gesellschaftlichen Horizont einer Vielzahl anonymer Anderer, denen oft selbst elementarste Rechte vorenthalten werden und die Ansprüche auf das, was ihnen zusteht, nicht geltend machen können. In dieser klaffenden Lücke einer Ökonomie, die ihrem ursprünglichen Begriff spottet, interveniert ein Gabe-Denken, das nicht eine vermeintlich vom Zerfall bedrohte Gesellschaft zu (re-) integrieren hat, sondern einer globalen Vergesellschaftung in statu nascendi zugute zu kommen verspricht, wo es auf wahrgenommene Ansprüche Fremder antwortet. Das geschieht indessen nicht bloß in einer fragwürdigen Generosität, die sich narzisstisch selbst gefällt, sondern in einer Politik des Gebens, die gerade zu vermeiden sucht, dass das Gegebene wieder in eine Ökonomie (sei es auch nur eine moralische Ökonomie der Dankbarkeit) einschert, die sich auf einen Austausch reduzieren würde. Allzu lange hat man uns eingehämmert, dass wir zu anderem nicht in der Lage sind und dass wir unabänderlich vom ökonomischen Interesse geleitete Wesen seien. Doch so hat man auch das Ökonomische verkannt, das in Wahrheit schon in der einfachsten Kommunikation auf einseitiges Geben angewiesen ist, wie einschlägige Analysen eines Vertrauens beweisen, das durch riskierte Verletzbarkeit die Gelegenheit gibt, es nicht zu enttäuschen und es gerade dadurch einseitig stiftet. 75 Noch zu entdecken bleibt, in welchem Ausmaß niemals völlig normalisierbare Praktiken einseitigen Gebens das Ökonomische in allen seinen bekannten Spielarten unterwandern – angefangen bei der intergenerationellen Zeiterfahrung, in der uns die Gabe zuerst begegnet, nämlich in der Form des uns gegebenen, umsorgten und verantwortlich gemachten Lebens. Doch muss man sich hüten, allgemein zu erklären, ›das Leben‹ sei die Gabe, auf die es hier ankommt. Schließlich handelt es sich um ein an ihm selbst tödliches, sterbliches, endliches und unvermeidlich von Verletzungen gezeichnetes Leben, für das zu sorgen keinerlei »Anspruch auf Kostenerstattung« (Kant) begründet. 76 ›Gegeben‹ und ›weitergegeben‹ wird nicht ›das Leben‹, sondern die verantwortliche Fürsorge für ein eigenes Leben Anderer, die uns im besten Falle lange und verlässlich trägt, bevor wir sie als solche begreifen können. Dann sind wir nicht ›in die Welt geworfen‹, sondern uns im Dasein immer schon vor-gegeben, wie es

75 76

Vgl. Kap. XIV, 6; XXV, 4. Darauf wird zurückzukommen sein in Kap. XV.

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Exkurs · Die Gabe als nachträglich zu bewahrheitende Gegebenheit

Merleau-Ponty, der frühe Ricœur und Hannah Arendt lehrten. 77 Doch ob man darin die Spur einer Gabe – etwa der Gabe der Verantwortung selbst – entdecken und anerkennen kann, dass sie einem zugute gekommen sein soll, steht dahin in einer geschichtlichen Zwischenzeit, die das nur nachträglich, von den Empfängern her bewahrheiten kann. Nur in deren Leben schließlich kann die Gabe ›ankommen‹ und, wenn überhaupt, gelingen als ein an-ökonomisches oder trans-ökonomisches Tun. Ob sich das politisch – im Horizont eines Lebens unter und mit zahllosen anonymen Anderen – deuten lässt bzw. ob jegliche Politisierung eines solchen Tuns nur auf eine Politik hinauslaufen kann, die aus ihm lediglich symbolisches Kapital schlägt, um sich auf diese Weise selbst zu bereichern, auch das bleibt zu bedenken. Darüber hinaus stellt die Gabe eine eminente und aktuelle Herausforderung nicht zuletzt auch an die Adresse der Philosophie dar, die sich mit dem skizzierten zerklüfteten und verwirrenden Diskussionsfeld auseinandersetzen muss, denn es tangiert und unterwandert ihren eigenen Sinn. Hat man von ihr nicht behauptet, sie gebe zu denken? – Nach diesem Exkurs zum Problem der Gabe nehme ich nun den ›roten Faden‹ wieder dort auf, wo ich ihn liegen gelassen habe: bei der Frage nämlich, was es heißt, der Andere, der uns die Verantwortung gibt und auf diese Weise zu einer passionierten Freiheit bestimmt, ist und bleibe ›anders‹ – anders als alles andere aber, so dass sich die ihm attestierte Alterität nicht in einer uferlosen Diversität auflöst.

Vgl. M. Merleau-Ponty, Sens et Non-Sens, Paris 51966, S. 36; ders., Phänomenologie der Wahrnehmung [1945], Berlin 1966, S. 463, 486; H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 41985, 5. Kapitel; P. Ricœur, Le Volontaire et l’involontaire, Paris 1950, S. 33 und die Schlusskapitel III/I und III/II ebd., wo die intergenerationelle Erfahrung vor dem Hintergrund einer Einwilligung (consentement) einer Einfügung ins Sein beschrieben wird, das der Autor geradezu als Gabe (don de l’être) auffasst. 77

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Kapitel VIII Der Andere im Selbst Anders (als) anders Geist […] ist Antwort des Menschen an sein Du […] die alle anderen einschließt. Martin Buber 1 Du hast kein Gesicht […]. DER ANDERE: Du wirst mich nicht los. Ich habe tausend Gesichter. Ich bin die Stimme, die jeder kennt. Ich bin der Andere, der immer da ist. Der andere Mensch, der Antworter. Wolfgang Borchert 2 Lauter niemand. Franz Kafka 3

1.

Veränderung und Veranderung

Verdient ein schlichtes Adverb wie ›anders‹ überhaupt besondere Aufmerksamkeit? Nach der Lektüre von Paul Ricœurs kleiner Schrift Autrement 4, die im Untertitel eine Relektüre von Emmanuel Levinas’ zweitem Hauptwerk ankündigt, das den barocken Titel trägt Autrement qu’être ou au-déla de l’essence, dt. Anders als Sein oder anders als Sein geschieht, muss man zweifellos sagen: ja. Zwar ist alles ›anders‹, alles jedenfalls, was sich unterscheiden lässt, was insofern individuiert vorliegt, seien es auch nur zwei Sandkörner, die wir äußerlich nicht voneinander unterscheiden können, oder Elemente des Ster-

M. Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1962, S. 41, 77. W. Borchert, Draußen vor der Tür und ausgewählte Erzählungen, Reinbek 1965, S. 13, 59. 3 F. Kafka, »Der Ausflug ins Gebirge«, in: Erzählungen, Frankfurt/M. 1976, S. 27. 4 P. Ricœur, Autrement. Lecture d’Autrement qu’être ou au-déla de l’essence d’Emmanuel Levinas, Paris 1997 (= A). 1 2

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VIII · Der Andere im Selbst

nenstaubs, aus dem wir bestehen. Alles, was insofern unter der Platonischen großen Gattung des Verschiedenen Platz findet 5, wäre also gleich, insofern es verschieden ist und sich unterscheiden lässt, werden Dialektiker sogleich hinzufügen. Drohte es andernfalls nicht das Eine und die Identität zu unterminieren, auf deren Denkbarkeit die Philosophie von Platon bis Hegel unbedingt verpflichtet zu sein schien (die andere allerdings mit Jacques Derrida oder Gilles Deleuze längst genüsslich in alle Winde zerstreuen)? Andererseits ist aber nichts je einfach gleich oder dasselbe; es sei denn es erweist sich als solches, wenn es verglichen wird. Demnach entspränge auch das, was Beliebiges ›anders‹ erscheinen lässt, erst dem Vergleich, der gerade voraussetzt, dass nichts einfach gleich oder verschieden ist, wohl aber sich in diversen Hinsichten als wie auch immer begrenzt vergleichbar erweisen kann. Solche Hinsichten bringen als solche ausdrücklich scheinbar nur Lebewesen vom Typ homo sapiens sapiens ins Spiel, die ihrerseits anders oder verschieden sein mögen, die sich aber von Anderem deutlich dadurch abheben, dass sie ihrerseits sich unterscheiden, um Anderes und Andere als ›anders‹, ›verschieden‹, ›different‹ oder auch als ›divers‹ zur Geltung zu bringen 6; nicht nur im Verhältnis zur Welt und zu Anderen, sondern auch zu sich selbst. Als Subjekte des Sichunterscheidens verändern wir uns und werden verändert, so dass wir uns selbst in der Zeit und durch unsere Verzeitlichung als ›anders‹ erfahren. Davon legt nicht nur eine reichhaltige Literatur, sondern auch die Philosophie von Aurelius Augustinus über Michel de Montaigne und Marie-F.-P. G. Maine de Biran bis hin zu Michael Theunissen, Paul Ricœur, François Jullien und vielen anderen Rechenschaft ab. Wir erfahren aber nicht nur Veränderung, die bewirkt, dass wir ständig ›anders‹ werden, sondern auch Veranderung, um einen schon bei Edmund Husserl begegnenden Neologismus aufzugreifen, der in der Sozialontologie Theunissens in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zum Terminus geworden ist, die sich um die Frage dreht, was überhaupt Andere als solche – bzw. ihre ›Anderheit‹, um es mit Martin Buber zu sagen – ausmacht. 7 Das müsste man jedenfalls schon in Erfahrung bringen, Platon, Sophistes, 256 b, 258 b. C. Geertz, »The Uses of Diversity«, in: Michigan Quaterly Review 25 (1986), S. 105–123. 7 Vgl. E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929–1935 [= Husserliana XV], Den Haag 1973, S. 450; Buber, Das dialogische Prinzip, S. 135, 221; M. Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialonto5 6

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Veränderung und Veranderung

wenn man angeben können will, was Veranderung im Gegensatz zu Veränderung besagen soll. Für eine Philosophie und Literatur, die bis hin zu Imre Kertész an Friedrich Hölderlins Hyperion oder an das Diktum Arthur Rimbauds Je est un autre anknüpft, gewiss keine nebensächliche Schwierigkeit. 8 Besagt letzteres nicht, dass wir selbst verandert, d. h. zu Anderen werden können – unter Umständen derart weitgehend, dass das Ich- oder Selbstsein geradezu in einem ›immer schon‹ Anderen aufgelöst wird? Ist es aber nicht selbstverständlich, dass »Du […] kein anderer als Du selbst [bist]« (Petrarca) und dass ebenso alles Seiende »nichts anderes ist, als es ist« (Nicolaus Cusanus)? Demnach wäre ich nur ich, nichts und niemand anderes, du nur du, nichts und niemand anderes, und »das Andere nichts anderes als das Andere«, das Du bzw. das Ich hingegen das Nicht-Andere. 9 Schon für Buber, der sich von Johann G. Herder, Wilhelm v. Humboldt, Ludwig Feuerbach und Franz Rosenzweig anregen ließ, und für Husserl war demgegenüber klar, dass wir nicht nur neben Anderen leben, um erst nachträglich durch sie eine Veränderung oder Veranderung zu erfahren – sei es im Guten wie durch einen Freund, ein ›anderes Selbst‹ (állos autós, wie es im Buch IX der Nikomachischen Ethik auftaucht), sei es im Zeichen einer potenziell tödlichen Gewalt, die Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert, also zur Zeit des englischen Bürgerkrieges und des 30-jährigen Krieges auf dem europäischen Kontinent, dazu bewog, die Furcht vor dem Anderen zum wichtigsten politischen Affekt und zur Maßgabe des Politischen zu erklären. Wir ko-existieren vielmehr so, dass uns eine radikale Veranderung geradezu ausmacht. Wir sind selbst, in unserem eigenen, selbsthaften Leben, derart verandert, dass es gerechtfertigt erscheint, das Selbst nicht bloß als äußerlich veränderliches, fortwährend zu Anderem werdendes, sondern als in sich verandertes zu begreifen – ohne es aber in der Veranderung gänzlich aufzulösen. Das bringt logie der Gegenwart, Berlin 21977, S. XIII, Anm. 16. Siehe auch die Anm. 95 unten zum Terminus ›Anderheit‹. 8 Vgl. F. Hölderlin, »Das Thalia-Fragment«, in: Werke, Tübingen, o. J., S. 573–593, hier: S. 588 (»Ich war ganz ein andrer geworden«, heißt es hier); A. Rimbaud, »Lettre à Georges Izambard, Charleville, le 13 mai 1871«, http://www.mag4.net/Rimbaud/ Documents1.html; E. Levinas, Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989, S. 92; I. Kertész, Ich – ein anderer, Reinbek 1999. 9 T. Leinkauf, Grundriss. Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350– 1600), Bd. 1, 2, Hamburg 2017, S. 19, 1121.

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VIII · Der Andere im Selbst

schließlich Ricœurs Buchtitel Soi-même comme un autre (1990) und dessen deutsche Übersetzung Das Selbst als ein Anderer (1996) zum Ausdruck. Er deutet an, dass wir nicht einfach wir selbst oder Andere sind, sondern (in gewisser Hinsicht) als Andere verstanden werden können und uns als Andere bzw. verandert erfahren. ›Anders‹ sind nicht nur Dinge oder Menschen, die sich als Verschiedene vergleichen können. Und als ›anders‹ erweisen wir uns nicht nur im Verhältnis zu Anderen, von denen wir uns unterscheiden und gegen die man sich abgrenzt, gegebenenfalls um sie als Fremde oder Feinde auszugrenzen. Als ›anders‹ entpuppt sich darüber hinaus das sich unterscheidende, verschiedene und fremde Selbst in sich selbst. Es ist anders als es selbst, so dass es die darin liegende Ander(s)heit nicht einfach vergleichsweise vor sich bringen kann wie in einer distanzierten Unterscheidung von anderem. Daraus ergibt sich, dass nur ein in sich verandertes Selbst einem anderen Selbst begegnen kann, dem Selbst einer oder eines Anderen, die bzw. der wiederum in sich selbst auf nicht distanzierbare Art und Weise verandert sein wird. Nur so, unter dieser Voraussetzung, ist auch Kommunikation möglich, die, weit über einen freien Austausch von Sprechakten hinaus, in sich Veranderte in ihren Verhältnissen zueinander in eine unabsehbare Resonanz versetzt. Wie sich jemand an jemand anderen wendet, wird so gesehen niemals nur beabsichtigte und dem Anderen transparente Wirkungen haben, sondern Unabsehbares anklingen lassen, das sich jeglichem äußeren Vergleich von Verschiedenem entzieht. 10

2.

Alteritätsvergessenheit und Gewalt

Genau dieses Modell des Vergleichs beherrscht aber nicht selten selbst das bemühteste und wohlwollendste Denken der Ander(s)heit des Anderen, die man im Zeichen einer »Politik der Differenz« von Martha Minow über Iris M. Young bis hin zu Seyla Benhabib oder im Rahmen einer Apologie vielfältiger, zu bejahender menschlicher diversity zu achten verlangt. In diesem Denken triumphiert ein vielfach Vor allem die Psychoanalyse Jacques Lacans baut mit ihrer Unterscheidung von sujet, moi, autre und grand Autre auf dieser Einsicht auf; vgl. H. Lang, Die Sprache und das Unbewußte. Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse, Frankfurt/M. 1973, Kap. III, 1. 10

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Alteritätsvergessenheit und Gewalt

nivellierter Begriff der Verschiedenheit, der Differenz und des Andersseins, das man von Rosa Luxemburg über Theodor W. Adorno bis hin zur Behindertenrechtskonvention der UN zur Maßgabe des Politischen gemacht hat. 11 Ricœur selbst hat den Verdacht geäußert, es mache sich eine indifferente Rede von Differenz (differentia), Verschiedenheit (varietas, diversitas) und Anderssein (alteritas) breit, die im Grenzfall paradoxerweise genau das, wofür man Respekt, Achtung und Anerkennung verlangt, in einer begrifflichen Nacht der Gleichgültigkeit untergehen lassen könnte. 12 Sollte es sich wirklich so verhalten, dass in einer Zeit, die wie keine andere je zuvor ›dem Anderen‹ zu philosophischer, aber auch politisch-rechtlicher und lebenspraktischer Anerkennung verholfen hat, geradezu eine Liquidierung der ihm eigenen theoretischen und praktischen Brisanz droht? Macht sich diese Zeit sogar einer gewissen Alteritätsvergessenheit schuldig – ungeachtet gegenteiliger Eindrücke, die man ohne weiteres unter Hinweis auf Georg W. F. Hegels Sozialphilosophie, auf George H. Meads Theorie der Vergesellschaftung, auf Edmund Husserls Phänomenologie der Intersubjektivität, Martin Heideggers Kritik einer »Vergessenheit der Differenz als solcher« und Jürgen Habermas’ Lobrede auf die »Einbeziehung des Anderen« begründen könnte? 13 Diesen Verdacht hat zuletzt Marcal Hénaff energisch vorgebracht. Nicht nur Aristoteles habe, wie Ricœur meinte, »für einen ausdrücklichen Begriff der Andersheit« keinen Platz gehabt. 14 »Bei den Modernen« (selbst bei Kant und Hegel) fehle er sogar noch

R. Luxemburg, »Zur russischen Revolution« [1918], in: Gesammelte Werke Band 4, Berlin 2000, S. 359; 3. Randnotiz; https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxem burg/1918/russrev/teil4.htm; T. W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt/M. 1978, S. 131; http://www.behindertenrechtskonvention.info/uebereinkommen-ueber-dierechte-von-menschen-mit-behinderungen-3101/#artikel-3-allgemeine-grundsaetze; H. Bielefeldt, Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention, Berlin 32009. Im Kapitel XXI wird auf diese konkreten Implikationen anerkannten ›Andersseins‹ ausführlich zurückzukommen sein. 12 P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 346 (= SaA). 13 Zu letzteren vgl. M. Heidegger, Identität und Differenz, Pfullingen 91990, S. 59; J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M. 21997, S. 19, 58. Hier wird einer »differenzempfindlichen« Inklusion des Anderen das Wort geredet, die Ander(s)heit als solche aber nicht eingehend befragt. 14 M. Hénaff, Die Gabe der Philosophen. Gegenseitigkeit neu denken, Bielefeld 2014, S. 171, 174, 176, 179. 11

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VIII · Der Andere im Selbst

mehr. 15 Gerade das, was den Anderen als Anderen ausmacht, sei in ein »tiefes Vergessen« gefallen, das erst Levinas durchbrochen habe. Genau darum aber gehe es »seit dem Auftauchen der Moderne«: »den Anderen als solchen zu denken, das heißt als ein Selbst, das anders ist als man selbst«. 16 Da ist es wieder, dieses rätselhafte, an zentraler Stelle eingeführte Adverb, das doch in keiner Weise sich selbst erklärt und von sich aus anzeigt, inwiefern es seinerseits ›anders‹ funktioniert als der normale Sprachgebrauch, von dem wir allerdings zunächst ausgehen müssen – auch wenn von vornherein erhebliche Zweifel daran bestehen, ob der auf den ersten Blick unvollständige Ausdruck »anders als Sein« (autrement qu’être), den Ricœur in seiner Auseinandersetzung mit Levinas einer sprachkritischen Diskussion aussetzt, überhaupt auf eine im üblichen Sinne adverbiale Rede hinauslaufen soll. Wie soll man denn ›den Anderen als solchen‹ bzw. das, was er ›ist‹ oder was ihn ausmacht, anders denken – den Anderen, der für Levinas auf die Spur eines »Jenseits des Seins« führt, wie sein an Platon 17 gemahnender Buchtitel ja sofort anzeigt? Wie soll man den Anderen denken, wenn er sich nicht nur auf andere Weise als ›anders‹ erweist denn beliebiges anderes, sondern über jede seins-immanente Andersheit hinausweist? Erweist er sich so gesehen paradoxerweise anders ›anders‹ als alles andere, ohne je als ›nicht-anders‹ in das Selbe zurückzufallen? Dann wäre er gerade nicht im gewöhnlichen Sinne bloß ›anders‹. 18 Phänomenologisch – d. h. im Lichte derjenigen Methodologie, die sowohl für Levinas als auch für Ricœur in dieser Hinsicht vor allem (aber keineswegs ausschließlich) maßgeblich war 19 – müsste Vgl. E. J. Koehn, D. Schmidt, J.-G. Schülein, J. Weiß, P. Wojcik (Hg.), Andersheit um 1800. Figuren – Theorien – Darstellungsformen, München 2011. 16 Hénaff, Die Gabe, S. 165 f. 17 Platon, Politeia, Buch VI, 509 b. 18 Vgl. E. Levinas, Zwischen uns. Versuch über das Denken an den Anderen, München, Wien 1995, S. 225, 229, sowie die Bezugnahme auf Paul Celan im Ricœur gewidmeten Text »Vom Sein zum Anderen« in: E. Levinas, Eigennamen. Meditationen über Sprache und Literatur, Wien 1988, S. 56 ff. Was scheinbar auf eine bloße Verdoppelung hinausläuft (anders ›anders‹ sein), lässt sich gerade nicht in einer dialektischen Logik einfangen, für die sich, nach platonischem Vorbild, »das Selbe als das ›Verschiedene des Verschiedenen‹ darstellt«; M. Merleau-Ponty, »Die dialektische Philosophie«, in: ders., Vorlesungen I, Berlin 1973, S. 82 ff.; Platon, Sophistes, 256 c ff. 19 Tatsächlich ist Levinas’ Haltung zur Phänomenologie zutiefst ambivalent. Sogar ein Bruch mit ihr wird in Erwägung gezogen; vgl. E. Levinas, Die Spur des Anderen. 15

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Alteritätsvergessenheit und Gewalt

man diese Frage in eine andere übersetzen: wie zeigen sich Andere als Andere, wie erweisen sie sich als solche, wie treten sie als solche in Erscheinung? Wenn sie nicht als solche in Erscheinung treten, wie sollte man dann überhaupt von ihnen reden können? Eine erste Antwort scheint auf der Hand zu liegen: Andere sind nicht einfach ›anders‹ ; wir begegnen ihnen vielmehr, so dass wir an eine gewisse Phänomenalität, sei es auch eine Epiphanie oder eine Hyperphänomenalität, die über sich selbst hinausweist, anknüpfen können, in der sie sich als (anders) ›anders‹ erst erweisen. Sie würden demnach originär als Andere in Erscheinung treten; und zwar konkret vielfach dadurch, dass deutlich wird, wie/inwiefern sie ›anders‹ sind, indem sie ›anders‹ denken, leben, lieben, zur Welt kommen und wieder von ihr scheiden. 20 So sehr Levinas bezweifelt hat, ob das ›Licht‹ der Phänomenalität, des Verstehens und rationalen Begreifens dem Anderen als solchem wirklich gerecht werden kann 21 und so sehr er darum bemüht war, den Anderen nicht in seinem Erscheinen aufgehen zu lassen, so sehr werden andere, die darin ein esoterisches ›Wissen‹ vermuten, an dieser Stelle vielleicht erleichtert feststellen: damit, mit diesem Anders-Denken, -Leben, -Lieben und -Sterben, haben wir in der Tat zu tun: in der Anthropogeografie und Soziologie diverser Lebensformen, in der Ethnologie, im Zeichen eines gewissen Multikulturalismus und im Denken des Politischen, wo es sich mit unaufhebbarem Widerstreit zwischen verschiedenen und einander fremden Lebensweisen befassen muss. Aber genau diese Sicherheit wird uns durch Levinas aus der Hand geschlagen, der gelegentlich zu behaupten scheint, jegliches exoterische Wissen müsse den Anderen als solchen verfehlen 22, der sich als ›Anderer‹ gerade dadurch erweise, dass er sich Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg i. Br., München 21987. 20 Für Levinas ist klar: die eigentliche Freiheit des Anderen liegt in seiner Fremdheit (Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br., München 1987, S. 100). Ricœur andererseits zieht eine »Komponente der Fremdheit« gewissermaßen als Zutat »zur einfachen Andersheit« in Betracht in: »Vielfältige Fremdheit«, in: Andersheit – Fremdheit – Toleranz, Ulm 1999, S. 11–30, hier: S. 25. 21 J. Derrida, »Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken von Emmanuel Levinas«, in: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1976, S. 121–235. 22 Was, ironischerweise, schon aus dieser Feststellung hervorgeht, die ja die Andere verfehlt, die Levinas in Totalität und Unendlichkeit als paradigmatische Figur der Alterität eingeführt hatte. Unverfänglich ist es gewiss nicht, in der Rede vom Anderen die Andere mit zu meinen, als bestünde nicht die Gefahr, diese Differenz zu über-

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allem theoretischen und praktischen Zugriff entzieht. Die naheliegende Gegenfrage, woher Levinas das seinerseits ›wissen will‹, verfängt nicht ohne weiteres, denn es steht gerade in Frage, ob das Wissen, ganz gleich in welcher Form, überhaupt als diejenige Modalität der Erfahrung in Betracht kommen kann, in der uns der Andere als Anderer aufgeschlossen ist, begegnet und sich als erfahrbar erweist. Kein Zweifel: Levinas ist alles andere als ein Erkenntnistheoretiker. Ihm geht es nirgends darum, ein exo- oder esoterisches Wissen, eine spezielle ›Gnosis‹, eine rationalisierte dóxa oder eine geläuterte epistéme in Anspruch zu nehmen, um seine Leser davon zu überzeugen, was den Anderen bzw. die Andere als solche(n) ausmacht. Am Anfang seines Fragens danach stand überhaupt kein philosophisches ›Problem‹ solcher Art, das sich nach gängigem Verständnis besser früher als später auch als ›lösbar‹ erweisen sollte. Ebenso wenig lag ihm daran, diese Frage künstlich zu verrätseln, um ein Geheimnis aus ihr zu machen, oder sie einer Phänomenologie der Erkenntnis zu unterwerfen. Zwar kann man mit Fug und Recht behaupten, dass am historisch-biografischen Anfang seiner philosophischen Forschung die Auseinandersetzung mit Husserls Theorie der Intuition und mit den Cartesianischen Meditationen stand. 23 Aber seine beiden Hauptwerke, Totalität und Unendlichkeit. Ein Versuch über die Exteriorität (1961) und Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (1974), drehen sich längst nicht mehr um Beschreibungen einer intentionalen Erschlossenheit des Anderen, die Levinas gelegentlich umstandslos, und zwar von der Impression über alle Formen der Wahrnehmung bis hin zum vernünftigen Urteil, als Weise einer epistemischen Relation zum Anderen einstuft. Ihm ging es vor allem darum, einem einzigartigen, ungeahnten, radikalen und exzessiven Anschlag auf die Alterität des Anderen selbst philosophisch Rechnung zu tragen, als den er offenbar die NSVerbrechen auffasste. Deren Besonderheit erschöpfte sich nach seinem Dafürhalten nicht in einem bloß quantitativ einzigartigen Massenmord ungeheuerlichen Ausmaßes; sie lag vielmehr in dem Ziel, die Spur des Anderen als des Anderen selbst auszulöschen. Unabhängig davon, wie eine solche Deutung der fraglichen historischen Ereigspielen. Einen einfachen grammatikalischen Ausweg aus dieser Schwierigkeit gibt es allerdings nicht. 23 Siehe dazu Kap. VI, 1 sowie S. Malka, Emmanuel Levinas. Eine Biografie, München 2003.

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nisse zu rechtfertigen ist 24: Levinas’ Philosophie wird von vornherein die Spitze gebrochen, wenn man sie als erbauliche Theologie, als spezifisch ›jüdisches‹ Idiom oder als bloße Apologie liest, die sich um ihre eigene Diskursivität scheinbar weitgehend unbesorgt zeigt. An einer gewissen Sorglosigkeit in dieser Hinsicht entzündet sich nicht zuletzt auch Ricœurs Kritik. Doch hat er deutlich gesehen, warum sich Levinas in die radikale Schwierigkeit verstricken musste, von der Anderheit des Anderen auf ganz neue Weise Rechenschaft abzulegen; auch auf die Gefahr hin, alles zu verraten, was eine von Platon und Aristoteles über Hegel bis hin zu Husserl ungeachtet der islamisch-iberischen Umwege ihrer Überlieferung 25 als ›abendländisch‹ eingestufte Vernunft als logische Diskursivität zur Geltung gebracht hatte, für die man verantwortlich Rechenschaft abzulegen hat. Für Levinas bestand die entscheidende Herausforderung, der er sich ›nach 1945‹ sein Leben lang, auch um den Preis eines Bruchs mit der Methodologie der Phänomenologie, zu stellen versuchte, in jener Gewalt und in der Bedeutung, die ihr als einem vernichtenden Anschlag auf die Alterität des Anderen selbst zukam, wie er meinte. Für seine Sozialphilosophie ergab sich daraus die absolute Dringlichkeit, den Anderen so zu denken, dass diese Gewalt in ihrem Scheitern begriffen werden kann, das nicht aus der Landung der Alliierten in der Normandie am D-Day, aus der Niederlage der NS-Wehrmacht und aus der Befreiung Deutschlands vom Alptraum des sogenannten Dritten Reiches folgte, sondern von vornherein unvermeidlich war – wenn es denn stimmt, dass sich die Alterität des Anderen in eine Exteriorität oder Transzendenz zurückgezogen hat, in die kein destruktives menschliches Tun reicht. Denken wir uns also Andere bzw. das, was sie als solche ausmacht, so, dass sie jeglichem Zugriff, jeglicher Verfügung und Gewalt entzogen sind, schlägt Levinas vor. 26 Denken wir die absolute Machtlosigkeit der Gewalt angesichts des Anderen, jeder Anderen, 24 Z. Bauman, Modernity and the Holocaust, New York 1991; T. Todorov, Angesichts des Äußersten, München 1993; Vf., Geschichte als Antwort und Versprechen, Freiburg i. Br., München 1999; Y. Ternon, Der verbrecherische Staat. Völkermord im 20. Jahrhundert, Hamburg 1996; E. Traverso, Auschwitz denken. Die Intellektuellen und die Shoah, Hamburg 2000; ders., Moderne und Gewalt. Eine europäische Genealogie des Nazi-Terrors, Köln 2003; N. Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 22003. 25 R. Brague, Europa. Eine exzentrische Identität, Frankfurt/M. 1993. 26 So ist wohl auch die Widmung von Jenseits des Seins zu verstehen: »Dem Gedenken der nächsten Angehörigen unter den sechs Millionen der von den Nationalsozialisten Ermordeten, neben den Millionen und Abermillionen von Menschen aller Kon-

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die allemal auf die Spur jener Exteriorität führt. Dieser Spur zu folgen, ist nicht Aufgabe einer Dechiffrierungsarbeit, wie man sie von Sigmund Freud bis hin zu Carlo Ginzburg konzipiert hat. 27 Ihr folgen kann vielmehr nur ein verantwortliches Leben, dem nolens volens die Aufgabe sich stellt, es niemals zu einer absoluten Verlassenheit Anderer kommen zu lassen, in der sie ihrerseits jegliche Beziehung zu Anderen einbüßen würden. Mit diesem Begriff belegte Hannah Arendt im Anschluss an ihre politische Deutung der »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« die Erfahrung einer Weltlosigkeit, in der es schließlich »keinen Anderen« mehr gibt, wie sie bündig in einer ihrer Vorlesungen an der New School for Social Research im Jahre 1965 feststellte. 28 Levinas ging es dem gegenüber nicht darum, dies als empirische Erfahrung anzufechten, sondern darzutun, dass man auch in der grausamsten und exzessivsten, in der routiniertesten und gleichgültigsten Untat niemals ethisch vom Anderen verlassen sein kann, der unweigerlich für alles verantwortlich mache, was man ihm antut. Jede Zurückweisung und jede ›Übernahme‹ von Verantwortung kommt demgegenüber zu spät. Das ist es, was Levinas zu zeigen versuchte. Und für diesen Versuch bezeugte Ricœur größten Respekt. 29 Das konnte für ihn jedoch nichts am Gewicht seiner rigorosen Einwände ändern, die sich am Gebrauch eines einzigen Adverbs entzündeten.

3.

Anderes und Andere

Dabei wurde darauf, was den Anderen ›anders‹ erscheinen lässt und wie infolgedessen dieses Wort zu gebrauchen ist, explizit längst vorher reflektiert. Man denke nur an die nach wie vor aktuelle Habilita-

fessionen und aller Nationen, Opfer desselben Hasses auf den anderen Menschen, desselben Antisemitismus.« 27 C. Ginzburg, Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, München 1988. 28 H. Arendt, Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München, Zürich 22006, S. 78 f. 29 Mündl. Mitteilung anlässlich der Konferenz des Goethe-Instituts Istanbul, des dortigen Frankreich-Zentrums und der Bosporus-Universität zum Thema Why Freedom? am 9. 4. 2001; vgl. Vf., »Freiheit und Verantwortung angesichts der Herausforderung radikaler Gewalt«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51, Nr. 1 (2003), S. 25–44.

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tionsschrift Karl Löwiths Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928). 30 Zunächst hebt Löwith das Verhältnis von »Etwas zu Etwas« davon ab, wie sich »Einer zum Anderen« verhält (§ 13a). Wir sind im Verhältnis zueinander Andere, denen eine eigene bzw. eigenartige Andersheit derart eignet, dass es nicht möglich ist, je von Etwas aus zum Anderen zu gelangen, wie es Löwith zufolge Hegel versucht hat (§ 14). Nur angesichts einer ›anderen‹ Andersheit können wir einander in unserer Eigenartigkeit und Individualität auf Erwiderung hin ansprechen; und zwar gegenseitig (§§ 15, 26), was sich im System der Personalpronomina niederschlägt. 31 Das Reden miteinander ermöglicht auch das Reden über Andere, anonyme Neben-, Mitmenschen und Zeitgenossen, deren Unterschiede ein »nivelliertes allgemeines Anderssein eines jeden als jeder andere« (§ 10) zum Verschwinden bringen kann. Infolgedessen nimmt Löwith an, dass als »Meinesgleichen« streng genommen nur persönlich Begegnende in Betracht kommen, die sich »radikal von der dritten Person« unterscheiden, die in »unpersönlicher« Weise da sei (§ 10, S. 70). Dritte kommen demnach nur nachträglich zu primär persönlichen Verhältnissen dazu wie ›irgendwer‹. So handelt Löwith vom persönlichen Du, nicht durchgängig vom Anderen. Mit »jemand anderem« spricht man persönlich so, dass unabsehbar viele Andere (als Dritte; § 37 b, S. 154) ausgeschlossen sind. Die Beziehung zu einem konkret begegnenden Anderen (alter) erscheint auf diese Weise deutlich getrennt von Verhältnissen zu Dritten, mehr oder weniger Unbekannten (alii). 32 Demgegenüber reduziert sich die Alterität bei Levinas nicht auf das Du-sein (obgleich er sie zweifellos primär von einer Begegnung von Angesicht zu Angesicht her erläutert), und ihr ist eine Tertialität von vornherein einbeschrieben, so dass man niemals ganz ›unter sich‹ ist und Dritte in ihrer Pluralität die Anderheit des singulären Anderen niemals ganz Im Folg. zit. n. K. Löwith, Sämtliche Schriften 1, Stuttgart 1981. Allerdings beweisen sie in ihrem Angelegtsein auf wechselseitige Rede ethisch nichts; also gerade das nicht, worauf es Levinas ankommt, der nirgends davon spricht, man lasse die Rede des Anderen ›auf sich zukommen‹, um sich infolgedessen als verantwortlich zu erweisen; ebd., S. 129, 149. Für Levinas ist der Anspruch des Anderen, ob in ›verbaler‹ oder unausdrücklicher Form, immer ein Widerfahrnis (páthos). 32 Noch Z. Bauman argumentiert ähnlich und somit in diesem Punkt nicht-levinasianisch in seiner Postmodernen Ethik, Hamburg 1995, S. 170. Die »Anderheit des Dritten« sei »von einer ganz verschiedenen Art« als die des persönlich Begegnenden, heißt es hier. 30 31

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los sind. 33 Der Andere gilt ihm überdies (im Unterschied zu Kant, auf den Löwith Bezug nimmt; § 39e) nicht zunächst als freies Wesen, als homo noumenon und Subjekt praktischer Vernunft, sondern als Ansprechender und uns in Anspruch Nehmender. Bevor ich mich zu ihm ›ins Verhältnis setzen‹ kann, wie man irreführend sagt, muss ich es schon hinnehmen, immer und unvermeidlich ›zu spät‹ zu kommen im Verhältnis zu seinem Anspruch. So ist von einer (vor-)ursprünglichen Verspätung und Nachträglichkeit ihm gegenüber die Rede, die bei Löwith kaum zur Sprache kommt, der im Durchgang der Positionen Kants, Hegels und Kierkegaards schließlich auf die Frage stößt, ob nicht jeder Andere ›unvergleichlich‹ und ›unaufhebbar‹ Einzelner bleibt, wenigstens – oder ›spätestens‹ – vor Gott 34, wenn schon nicht im Horizont einer Vernunft, die alles einem Gleichmachen des Ungleichen unterwirft, ob im gerechten Vergleich (Aristoteles 35) oder in ihrer Auslieferung an eine alles dem Tausch überantwortende Ökonomie, die auch das Persönliche versachlicht oder zur Ware verdinglicht (Karl Marx 36). Demgegenüber besteht Löwith darauf, dass im Verhältnis zum ›persönlichen‹ Anderen eine nicht auf sachliche oder dingliche Verhältnisse reduzierbare Andersheit zum Tragen kommt, die sich darin zeige, dass man sich (auf Erwiderung hin) einander zuwendet, wechsel- und gegenseitig, und im Bewusstsein der Verantwortung dafür. Was die Abwehr einer verdinglichenden Veranderung angeht (um mit Theunissen zu reden), so schlägt Levinas in die gleiche Kerbe. Aber für ihn setzt die Analyse der Verantwortung sowohl auf der Ebene der Rede als auch angesichts einer jenseitigen richtenden Instanz zu spät an: ein in der Welt begegnender, aber kraft seiner Alterität niemals in ihr aufgehender, x-beliebiger Anderer, zu dem wir keinerlei ›persönliches‹ Verhältnis haben müssen, genügt, um uns auf ganz andere Art und Weise, als es je im Verhältnis zu etwas anderem der Fall sein kann, zum Anderen als Anderem ins Verhältnis zu setzen. 37 Vgl. A, S. 36; P. Delhom, Der Dritte. Lévinas’ Philosophie zwischen Verantwortung und Gerechtigkeit, München 2000. 34 Löwith, Sämtliche Schriften 1, S. 183, 192. 35 Nikomachische Ethik V, 1132 a 7. 36 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie [1857/58], Berlin 1953, S. 70 ff. 37 Gegen diese auf den ersten Blick sehr klare Konzeption richten sich in dem Maße Einwände, wie geltend zu machen ist, dass ein leibhaftiges Selbst niemals an jeglicher 33

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Was Löwith als Prozess einer Versachlichung denkbar erscheinen lässt, in dem die Beziehung zum Anderen Verhältnissen zu etwas anderem nachgebildet wird, hatten auch Martin Buber in Ich und Du (1923) und später Michael Theunissen in seiner Darstellung der Sozialontologie der Gegenwart (1965) im Blick. Noch die aktuelle Diskussion um den bei Löwith so weit ich sehe nicht als Terminus auftauchenden Verdinglichungsbegriff zeigt sich von dieser Option beunruhigt. 38 Dass sie besteht, zeigt, dass die m. W. erstmals bei Max Scheler begegnende Rede vom Anderen als Anderem keinen unnötigen Pleonasmus bedeutet. 39 Nicht ob, sondern wie man auf Andere bezogen ist oder sich auf sie bezieht und zu ihnen ins Verhältnis setzt (oder gesetzt wird), entscheidet darüber, was mit jenem einfachen Adverb eigentlich auf dem Spiel steht, von dem wir nun wissen, dass es eine andere Ander(s)heit anzeigt als sie je im Verhältnis zu anderem anzutreffen ist. 40 Das schließt versachlichende oder verdinglichende Übergriffe nicht aus. Aber Levinas wird dessen ungeachtet behaupten, dass die Anderheit des Anderen, und zwar jedes anderen, nicht erst die Anderheit eines weltjenseitigen ›absolut Anderen‹, jeglicher Macht und Gewalt widersteht. In ihr, so hofft er (oder will er uns glauben machen), zeigt sich ein außerordentlicher, sogar (moralisch) unüberwindlicher Widerstand gegen sie. 41 Kein anderer Vorwurf gegen das mit Husserl, Scheler, Löwith, Heidegger und vielen anderen zur Geltung kommende sozialontologische Denken wiegt vergleichbar schwer wie der, dass es gerade von Andersheit von Etwas (bspw. des Körpers, dem es einwohnt) gleichsam vorbei begegnen oder uns in Anspruch nehmen kann. Mit dieser Frage setzt sich Ricœur in Das Selbst als ein Anderer auseinander, wo es um eine Verschränkung von Selbstheit (ipséité) und Selbigkeit (mêmeté) geht. 38 A. Honneth, Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie, Frankfurt/M. 2005; Vf., Rezension in: Zeitschrift für philosophische Forschung 61, Nr. 3 (2007), S. 393–397. 39 Siehe Anm. 21 zu Kap. VII. 40 Um darauf aufmerksam zu machen, empfiehlt es sich, von Anderheit statt von einer alles mögliche Andere betreffenden Andersheit zu sprechen (ohne allerdings eine säuberliche Trennbarkeit zu suggerieren). Vgl. den Vorschlag von F. Dastur, eine »altérité d’autrui (l’altérité de l’aliud, l’Anderheit) qui s’annonce […] dans l’altérité constitutive du soi« von einer »altérité [d’essence temporelle] de l’alter, l’Andersheit« zu unterscheiden, in: »Paul Ricœur: Le soi et l’autre. L’altérité la plus intime: la conscience«, in: Institut Catholique de Paris (Hg.), Paul Ricœur. L’herméneutique à l’école de la phénoménologie, Paris 1995, S. 59–71, hier: S. 71. In der Literatur ist allerdings keine einheitliche Sprachregelung dieser Art anzutreffen. 41 Auf diesen Widerstand geht das Kapitel X in diesem Band ausführlich ein.

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diesem Widerstand nichts ahnen lasse. Muss es infolgedessen nicht ganz und gar die Herausforderung der radikalsten Gewalt verfehlen, der sich eine zeitgemäße Sozialphilosophie stellen muss? Keinen anderen Autor trifft diese Kritik härter als Heidegger 42, dem Levinas letztlich vorwirft, von der ›wahren‹ Anderheit des Anderen nichts zu verraten. Zweifellos kennt Levinas, was in Sein und Zeit zur Fürsorge und zu einem Mitsein zu lesen ist, von dem es heißt, in ihm sei jeder Andere wie der Andere, aber keiner er selbst; jeder sei vielmehr der Gleiche wie der Andere, insofern er Anderer ist als er selbst. So verfällt man einem ›Man‹ und verfehlt am Ende die Eigentlichkeit eines authentischen Daseins, das paradoxerweise nur am Ende, angesichts des je-meinigen, eigenen Todes, in völliger »Unbezüglichkeit« auf Andere zu sich selbst zu kommen scheint. 43 Weder in Heideggers Beschreibung der Stimme des Gewissens noch auch in seinen späteren sprachphilosophischen Schriften stößt Levinas auf die Spur dessen, was den Anderen in Wahrheit ›anders‹ sein oder erscheinen lässt: nämlich gerade dadurch, dass er nicht im mit Heidegger verbal gedeuteten Sein 44 und Erscheinen aufgeht. In dieser Hinsicht finden auch die Cartesianischen Meditationen Husserls wenig Gnade, in denen andere durchaus Spuren einer Veranderung (othering) meinten nachweisen zu können. 45 Das Gleiche gilt für Merleau-Ponty, in dessen Sorbonne-Vorlesungen die Beziehungen zum Anderen (autrui) thematisch werden 46, für Eugen Fink, der ausdrücklich davor gewarnt hat, »die Andersheit nicht ernst« zu nehmen und mit einer Identifikation mit dem Anderen »durch den

Ich habe allerdings keinerlei Hinweise darauf, dass dieser Autor seinerzeit begriffen hätte, was für seine Ontologie mit dieser Kritik auf dem Spiel stand. Vgl. E. Levinas, »Das Diabolische gibt zu denken«, in: J. Altwegg (Hg.), Die Heidegger Kontroverse, Frankfurt/M. 1988, S. 101–105. 43 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1984, §§ 25 ff., § 53, S. 263. 44 Auf diese Deutung zielt Levinas auch im Titel seines zweiten Hauptwerkes ab, obgleich er mit essence oder auch essance ein ›Wesen‹ anzusprechen scheint. Vgl. E. Levinas, Zwischen uns. Versuch über das Denken an den Anderen, München, Wien 1995, S. 88. 45 R. Kearney, K. Semonovitch, »At the Treshold. Foreigners, Strangers, Others«, in: dies. (Hg.), Phenomenologies of the Stranger. Between Hostility and Hospitality, New York 2011, S. 3–29, hier: S. 7, 9; D. Birnbaum, The Hospitality of Presence. Problems of Otherness in Husserl’s Phenomenology, Stockholm 1998, Kap. VI und VII. 46 Dt. M. Merleau-Ponty, Keime der Vernunft. Vorlesungen an der Sorbonne 1949– 1952, München 1994, Kap. V. 42

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Anschein der Verschiedenheit hindurch« zu liebäugeln 47, und selbst für Sartre, dessen Sozialontologie Levinas mehrfach streift, ohne aber auffällige Affinitäten herauszuarbeiten. 48

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Irgend ›jemand anderes‹, der Andere und die Geschichte

Für Levinas hätte sich vor allem eine eingehendere Auseinandersetzung mit Sartre gelohnt, der ebenfalls die Beziehung zum Anderen (autrui) im Horizont einer Tertialität beschrieb, die über Gruppen bis hin zu einer anonymen Serialität ging, in der es jeder hinnehmen muss, nur wie irgendein unpersönlicher Anderer zu zählen. 49 Zwar verfolgte Sartre im Vergleich zu Levinas auf den ersten Blick gerade entgegengesetzte Interessen: nämlich die Erfahrung, dem Anderen ausgesetzt zu sein, als unvermeidliche ontologische Entfremdung herauszuarbeiten und zugleich eine historisch-dialektische Vernunft zu begründen, die aus den menschlichen Gewaltverhältnissen sollte hervorgehen können. Auf den ersten Blick könnte man sich kaum weiter E. Fink, Traktat über die Gewalt des Menschen, Frankfurt/M. 1974, S. 163. Die zitierte Formulierung kann nichts anders bedeuten, als dass Fink dem Anderen eine Alterität über die bloße Verschiedenheit hinaus attestiert, die man dem ›verschiedenen‹ Anderen im Vergleich mit Anderen zuschreibt. Wenn der Andere dagegen ursprünglich als Fremder begegnet und so zur Herausforderung für das Politische wird, in dem man unaufhörlich ein Spiel mit dem »Bestehen auf den Unterschieden« treibt (ebd., S. 164), dann ist er zunächst gerade nicht als bloß von Anderen Verschiedener oder Unterschiedener ein ›Anderer‹. 48 T. Bedorf, A. Cremonini (Hg.), Verfehlte Begegnung: Levinas und Sartre als philosophische Zeitgenossen, München 2005; Vf., »Passionierte Freiheit als Gabe? JeanPaul Sartres Entwürfe für eine Moralphilosophie nach dem letzten ›Weltkrieg‹«, in: Unaufhebbare Gewalt. Umrisse einer Anti-Geschichte des Politischen. Leipziger Vorlesungen zur Politischen Theorie und Sozialphilosophie, Weilerswist 2015, Kap. IX; E. Levinas, Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte, Freiburg i. Br., München 2006, S. 101–136. 49 Zum uneinheitlichen Wortgebrauch (autrui vs. autre) – überdies mit variabler Groß- und Kleinschreibung, vgl. J. Bloechl, »Words of Welcome. Hospitality in the Work of Emmanuel Levinas«, in: Kearney, Semonovitch (Hg.), Phenomenologies of the Stranger, S. 232–241. Noch Jacques Rancière beschäftigt die Frage des ›Zählens‹. Allerdings wehrt er polemisch ab, was er bei Levinasianern für einen Ethizismus hält, der auf eine im Grunde un-politische oder anti-politische Unterwerfung unter den vorgegebenen Anspruch eines ›absolut Anderen‹ hinauslaufe. J. Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt/M. 2002, S. 144. Ähnlichen Missverständnissen sitzt A. Badiou auf in: Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen, Wien 2003, S. 35 ff. 47

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von Levinas entfernen. Bei näherem Hinsehen zeigen sich indessen überraschende Verwandtschaften. Trotz einer nach den Verbrechen der Nazis und dem Stalinismus nur allzu verständlichen Geschichtsverachtung 50 hat Levinas zu keiner Zeit die Aufgabe einer praktischen Philosophie der Zukunft geleugnet. Nur hat er diese Zukunft auf die Diachronie des Anderen verpflichtet, die sich angesichts jedes Anderen abzeichnet. Schon Die Zeit und der Andere (1946/47) macht deutlich, dass Levinas alles daran lag, das moderne Geschichtsdenken auf die ›authentische‹ Zeit des Anderen zu verpflichten, statt umgekehrt die Anderheit des Anderen in einer unabsehbaren und womöglich wiederum brutalen Zukunft der menschlichen Gattung aufgehen zu lassen, für die man sie so oft glaubte opfern zu dürfen. 51 Auf eine Perspektive der Humanisierung der Gattungsgeschichte mochte Levinas nicht gänzlich verzichten. Jedoch verlangte er, einen Humanismus des anderen Menschen zu konzipieren, für den die Achtung der Anderheit jedes Anderen zur wichtigsten Maßgabe werden sollte. Dagegen schien Sartre zu beschreiben, wie sich die Spur dieser Anderheit in der Anonymität einer Geschichtlichkeit verlieren muss, die es nicht mehr zulässt, dass man einander von Angesicht zu Angesicht begegnet. 52 So ist von einer Zirkulation der Alterität die Rede, die »immer woanders« zu sein scheint (EM, S. 634, 669), so dass schließlich »niemand« mehr als Anderer begegnet. Autrui, das ist für Sartre in diesem Horizont einfach ›anderswer‹, irgendjemand, ein Beliebiger. 53 Und doch insistiert Sartre auf einer Singularität des Anderen, die der Geschichte nicht zur Verfügung stehe (EM, S. 166). So sei jeder ein »nicht-geschichtliches Absolutes innerhalb der GESCHICHTE«. Darum wissen wir aber nur, heißt es an anderer Stelle, weil genau das bezeugt wird (EM, S. 741). »Ich [bin] Zeuge des Anderen« – und zwar als eines Anderen, der in keinem (entfremdenden) Blick und in keiner ihn vereinnahmenden geschichtlichen Perspektive je aufgeht. 54 Ohne die unübersehbaren Differenzen zwischen Sartre Vgl. Vf., »Geschichte – vom Anderen her«, in: Vom Anderen her. Erinnern und Überleben, Freiburg i. Br., München 1997, Kap. VII, S. 229–259. 51 E. Levinas, Die Zeit und der Andere, Hamburg 1984, S. 48. 52 J.-P. Sartre, Entwürfe für eine Moralphilosophie, Reinbek 2005, S. 207 f., 634 (= EM). 53 Siehe dazu Vincent v. Wroblewskys Vorwort zu den Entwürfen, S. 20, sowie Delhom, Der Dritte, S. 78 ff. 54 EM, S. 881 f.; vgl. J.-P. Sartre, »L’Universel singulier«, in: Situations IX, Paris 1972, 50

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Irgend ›jemand anderes‹, der Andere und die Geschichte

und Levinas einebnen zu wollen, kann man doch feststellen, dass sie in der Einschätzung übereinkommen, dass »die Geschichte die Geschichte der Menschen ist, sofern sie alle für jeden, jeder für alle andere sind« (EM, S. 93). Das aber heißt, dass auch die Geschichte »stets [eine] andere als sie selbst ist«, denn sie ereignet sich zwischen uns als Anderen, deren Anderheit sie nicht zu totalisieren vermag in einer dialektischen Synthese, wäre mit Levinas hinzuzufügen. Insofern muss das Ansinnen vollkommen vergeblich sein, »aus der Alterität herauszutreten« (EM, S. 96) – in der Geschichte genauso wie im Verhältnis zum Anderen und zu sich selbst. Demnach bleibt jeder von uns in seinem scheinbar so klar abgegrenzten, angeblich auf Autarkie und Autonomie abzielenden Für-sich-sein unumgänglich von Alterität affiziert bzw. verandert. Auch eine Gemeinschaft historisch-solidarisch Handelnder kann es, wenn überhaupt, nur eingedenk dessen geben, dass sie im Verhältnis zur Welt, zu den Anderen und zu sich selbst von einer unkontrollierbaren Alterität unterwandert werden, die sie jederzeit verändern und in Andere verwandeln, d. h. verandern kann – sofern sie nicht immer schon verandert und damit anders bzw. Andere als sie selbst sind. Allerdings besteht Levinas darauf, angesichts jedes Anderen, selbst eines radikalen Feindes, auf eine gute Alterität zu stoßen, die sich als ›gut‹ gerade dadurch erweist, dass sie uns eine durch nichts aus der Welt zu schaffende Verantwortung für ihn gibt. An diesem Punkt scheiden sich jedoch wiederum die Geister. Haben gewisse Verbrechen nicht buchstäblich vor Augen geführt, dass sich auch diese Verantwortung liquidieren lässt? Zielt darauf nicht auch Arendts Begriff der Verlassenheit ab, »in der es keinen Anderen mehr gibt«? 55 Gibt es also keine ›unberührbare‹ Anderheit des Anderen? Kann man deren Spur auslöschen und sich auf eine radikale Unverantwortlichkeit zurückziehen? Wie zuletzt Jacques S. 152–190, hier: S. 183 f. Dieses Nicht-Aufgehen ist entscheidend. Keineswegs geht es hier nur um die Rehabilitierung eines ens singulare, eines Einzelseienden, das am Ende – ungeachtet aller Schwierigkeiten, es begrifflich zu fassen – ›restlos‹ in der Geschichte aufzugehen droht; vgl. Leinkauf, Grundriss, S. 9, 45, 50, 431, 1138, 1149, 1574; zur Frage der Begreifbarkeit und ›ineffablen‹ Bestimmbarkeit S. 438, 988, 1539, zur restlos historischen Anschauung der menschlichen Verhältnisse ebd., S. 965, 968, 1000. 55 Siehe oben, Anm. 28. Bei Levinas taucht die Verlassenheit ironischerweise als Rückübersetzung von déréliction und délaissement auf. Mit beiden Worten ist Heideggers »Geworfenheit« übersetzt worden, die nun bei Arendt gerade nicht gemeint ist; vgl. Levinas, Die Zeit und der Andere, S. 22.

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Derridas Auseinandersetzung mit Jean-Luc Nancy gezeigt hat, sind wir mit diesen, von ›modernen‹ Formen der Gewalt aufgeworfenen Fragen noch lange nicht fertig. 56 Und vielleicht wird man niemals mit ihnen fertig werden. Levinas selbst sucht sich dem abgründigen Sog dieser Fragen zu entziehen, wenn er darauf hinweist, bereits Platon habe das Jenseits-des-Seins, von dem her uns eine durch keine Gewalt zu treffende Alterität des Anderen widerfahre, als das Gute erkannt. 57 Wenn das Gute der Verantwortung für den Anderen aber seine Quelle in einer Diachronie hat, die gegenüber jeglicher ›innerweltlichen‹ Zeit auf an-archische Weise vorgängig sein soll, ist es dann nicht auch schlechterdings unzerstörbar? Bei aller Sympathie für derartige an-archische Gedankengänge, hat sich auch Maurice Blanchot einer solchen, allzu einfachen Ausflucht widersetzt. Spricht Levinas im Rekurs auf das Gute nicht immer noch die Sprache eben der Ontologie, die er definitiv hinter sich zu lassen behauptete? 58 Muss eine angeblich mit jeglicher Ontologie brechende Ethik, welche einen geradezu ›wahnsinnigen‹ Exzess des Guten über jedwede konkrete Verantwortung oder Gerechtigkeit hinaus zur Geltung bringt, die überhaupt erst von uns Menschen einzurichten und zu garantieren wäre und insofern uns zur Disposition stehen müsste, nicht an ihrem eigenen Übermaß irre werden? 59 Muss sie nicht jeglichen sicheren sprachlichen Anhalts wie auch jeglicher sie stützenden Ordnung entbehren? Für Blanchot erschöpft sich diese Frage mitnichten im bekannten Kontingenz-Problem, dem zufolge die Moderne nach Hobbes überhaupt nichts mehr anerkennen kann, was nicht auch anders sein könnte. Hatte Kant nicht noch mitten in dieser Kontingenz geglaubt, sich an der Unverbrüchlichkeit eines Kosmos und einer Stimme des Gewissens orientieren zu können, die ihm absolute Ehrfurcht vor einer gegebenen (intelligiblen) Ordnung einflößten, wie er im »Beschluß« der Kritik der praktischen Vernunft schrieb? Für Blanchot musste die moderne Erfahrung des Desasters genau diese letzte SiJ. Derrida, Berühren, Jean-Luc Nancy, Berlin 2007, S. 87, 101, 115. E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br., München 1992, S. 58; G. Agamben, Die Sprache und der Tod. Ein Seminar über den Ort der Negativität, Frankfurt/M. 2007, S. 72 f. 58 Vgl. zu Ontologie und Sprache M. Blanchot, Das Neutrale. Philosophische Schriften und Fragmente, Berlin, Zürich 2010, S. 169, 171, 174, 230. 59 M. Blanchot, Politische Schriften 1958–1993, Zürich, Berlin 2007, S. 178; ders., Die Schrift des Desasters, München 2005, S. 36, 40. 56 57

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Irgend ›jemand anderes‹, der Andere und die Geschichte

cherheit zerstören, um eine äußerste Schutzlosigkeit (desabritement) freizulegen. 60 Und Levinas ist diese Radikalisierung des Begriffs desaströser Gewalt keineswegs entgangen, wie seine Sorbonne-Vorlesungen (1975/6) deutlich machen, die unter dem Titel Gott, der Tod und die Zeit veröffentlicht worden sind. Dort heißt es mit Bezug auf Blanchot, das Desaster habe jegliche »astronomische Ruhe der Welt beunruhigt«, »wobei man das Des-aster im etymologischen Sinne des Wortes verstehen muß: In der Welt nicht unter den Sternen sein«; d. h. jeglichen Anhalts an einer quasi-kosmischen und intelligiblen Welt zu entbehren, zu deren innerer oder äußerer Ordnung man buchstäblich und im übertragenen Sinne des Erhabenen ›aufschauen‹ dürfte. 61 Erst infolge dieser Erfahrung haben wir uns, so scheint es, einem Ausgesetzt-sein zu stellen, das sich weder vom neuplatonischen »Einen« noch von einem kosmischen Weltvertrauen oder durch eine transhistorische Vernunft beruhigen lässt. Die alte, seit Terenz in zahllosen Variationen kolportierte Redeweise homo sum, humani nil a me alienum puto (»nichts Menschliches ist mir fremd«) ist nun endgültig als Leichtfertigkeit enttarnt. Das Desaströse lässt sich auch nicht als »Anderes der Vernunft« in ihr aufheben. 62 Es bleibt in seiner abgründigen Gewaltsamkeit unaufhebbar fremd und stellt die »Weltlichkeit der Welt« selbst radikal in Frage. 63 Vor diesem Hintergrund muss man es verstehen, dass Levinas feststellt, nichts sei ›mehr fremd‹ als der Andere. Er ist uns und sich selbst fremd nicht zuletzt dadurch, dass er uns jegliche Gewissheit, uns auf dem Boden einer ›immer schon‹ gemeinsamen und fest gegründeten Welt zu bewegen, entzieht. Gerade unter dieser Voraussetzung gelte es den Anderen als Fremden zu achten, der mit dem Namen Gottes zu verknüpfen oder sogar gleichzusetzen sei. »Alles andere ist toter Buchstabe. Alles andere ist Literatur«, heißt es in der ersten, oft kommentierten TalmudLesung von Levinas. 64 Darauf hätte Blanchot, dem eine solche Gleichsetzung ganz fern lag, möglicherweise geantwortet: dann machen wir Blanchot, Die Schrift des Desasters, S. 44, 118 f., 155, 165. E. Levinas, Gott, der Tod und die Zeit, Wien 1996, S. 155. Vgl. Anm. 17 zu Kap. III. 62 Vgl. H. Böhme, G. Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt/M. 1985. 63 E. Levinas, Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, Freiburg i. Br., München 21988, S. 153. 64 E. Levinas, Vier Talmud-Lesungen, Frankfurt/M. 1993, S. 52; zum Kontext vgl. D. Hollander, »Contested Forgiveness: Jankélévitch, Levinas, and Derrida at the Col60 61

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eben Literatur (die man nicht derart geringschätzen sollte, zumal wenn uns in Wahrheit gar kein anderer Denkweg offensteht) – oder wir betreiben nolens volens eine Art der Philosophie, die niemals dessen sicher sein kann, ob sie nicht bloß ›tote Buchstaben‹ produziert, und schon verfällt, wenn sie in dieser Hinsicht gar keine Selbstzweifel umtreiben.

5.

Verschiedenheit, Asymmetrie und Beziehung zum Anderen

Es geht hier nicht um eine fragwürdige Art der Grenzpolitik, die sich an der oft angemahnten Wahrung des angeblich unzweideutigen »Gattungsunterschieds« zwischen Philosophie und Literatur entzündet, von dem man so viel Aufhebens gemacht hat. Es geht vielmehr um eine möglichst unvoreingenommene Auslotung dessen, was angesichts des Anderen und über ihn, der uns nur in einer unaufhebbaren Alterität und Pluralität begegnet (und so zu denken ist), überhaupt sagbar ist. Das ist auch die Hauptsorge Ricœurs, der hartnäckig auf der Prüfung der Frage besteht, ob sich überhaupt eine Sprache vorstellen lässt, die der Anderheit des Anderen gerecht zu werden vermag. Dabei handelt es sich keineswegs um eine bloße Redensart. Ausdrücklich spricht Ricœur in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen von einer Alteritätskomponente der Gerechtigkeit 65 und in Wege der Anerkennung von einer »singularisierenden Anerkennung«, die angesichts des Anderen als des Anderen gefordert sei. Mit einer aristotelischen Billigkeit ist hier ebensowenig auszukommen wie mit einer Apologie der »Einbeziehung des Anderen«, dessen Anderheit wie bei Jürgen Habermas gar nicht weiter bedacht wird (so dass sie sich bei passender Gelegenheit sogleich wieder als bloße Verschiedenheit entpuppt). 66 Nicht die Herausforderung selbst, mit der uns Levinas in loque des intellectuels juifs«, in: E. Weber (Hg.), Living Together. Jacques Derrida’s Communities of Violence and Peace, New York 2013, S. 137–152. 65 P. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004, S. 142; ders., Wege der Anerkennung, Frankfurt/M. 2006, S. 204 ff. 66 Bei A. Finkielkraut, Die Undankbarkeit, Berlin 2001, heißt es deshalb, der rezente Kosmopolitismus sehe im Fremden nur eine heilsame Herausforderung, jede (radikale) »Andersartigkeit« verschwinde aber aus seinem Blickfeld, kurz: »es gibt kein Außen mehr« (S. 37). Bezeichnenderweise wird das oder der Fremde aber auch hier mit bloßer Verschiedenheit kontaminiert.

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Verschiedenheit, Asymmetrie und Beziehung zum Anderen

dieser Hinsicht konfrontiert, stellt Ricœur in Abrede. Vielmehr treibt ihn vor allem ein sprachkritischer Skrupel um: Wie soll und kann überhaupt eine Philosophie, die im Zeichen des Anderen als Sozialphilosophie sogar zur Ersten Philosophie aufgerückt zu sein scheint 67, von ihrem wichtigsten Begriff Rechenschaft ablegen; wie erst, wenn suggeriert wird, der Andere sei womöglich ›ganz anders‹ ? Wird auf diese Weise nicht etwas prädiziert und gewissermaßen ontologisch festgeschrieben, was man im gleichen Zug in ein Jenseits-des-Seins und jeglicher Ontologie zu entrücken hofft? 68 Wer sich die frühen sozialphilosophischen Texte Ricœurs anschaut, wird rasch feststellen, dass sie sich bereits mit der Alterität des Anderen und mit der Frage befassen, ob ihr etwa im Zeichen der Kantischen Würde oder nach Maßgabe der Scheler’schen Sympathie entsprochen werden kann. 69 Für Ricœur steht fest, dass die »absolute Existenz« des Anderen (autrui) nicht empfunden werden kann (senti); sie müsse vielmehr in praktischer Hinsicht als dasjenige postuliert werden, was jeglicher Prätention unserer Sympathie Grenzen setze, die Person des Anderen auf eine wünschenswerte Qualität zu reduzieren; und sie müsse als dasjenige begriffen werden, was die Erscheinung des Anderen fundiere. So drängt sich Ricœur eine Rückkehr zu Kant auf – nicht um die Beschreibung des Erscheinens des Anderen zu vervollständigen, sondern um den Sinn der Existenz zu verstehen, die sich in diesem Erscheinen ankündigt. 70 In Soi-même comme un autre (1990; dt. Das Selbst als ein Anderer) dagegen bezweifelt Ricœur, der hier den starken Einfluss von Levinas zu erkennen gibt, ob man mit Kant auch der Differenz des Anderen als des Anderen gerecht werden könne. Er wirft die Frage auf, ob Kant nicht in der Art, wie er den Anderen ebenso wie das Selbst der Herrschaft des moralischen Gesetzes unterstellt, dem Gedanken einer irreduziblen Anderheit des Anderen widerspricht (SaA, S. 269 f.). Gerade der BeSiehe S. Strasser, »Emmanuel Levinas: Ethik als Erste Philosophie«, in: B. Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/M. 1983, S. 218–265, hier: S. 239, wo auch der Bezug auf das verbal gedeutete Sein zur Sprache kommt, gegenüber dem sich der Andere als ›anders‹ erweisen soll. 68 Vgl. die Beschreibung einer Krise der Prädikation, die allerdings nicht E. Levinas, sondern M. Merleau-Ponty, C. Castoriadis und M. Foucault im Blick hat, bei G. Gamm, Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang aus der Moderne, Frankfurt/M. 1994, S. 57, 67, 255–267. 69 P. Ricœur, »Sur la phénoménologie«, in: Esprit 21 (1953), S. 821–839; ders., »Sympathie et respect«, in: Revue de Métaphysique et de Morale 59 (1954), S. 380–397. 70 P. Ricœur, »Kant et Husserl«, in: Kantstudien 46 (1954/5), S. 44–67, hier: S. 65. 67

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griff der Menschheit – »eingeführt als ein zwischen der Verschiedenheit der Personen vermittelnder Begriff« – scheint ihm die Anderheit zu schwächen und nahezu zu eliminieren (SaA, S. 272 ff., 320 f.). Bleibt nicht selbst die Menschheit als dasjenige, was alle Einzelnen achtungswürdig macht, in gewisser Weise indifferent gegenüber der Unterscheidung von Personen und nur in diesem Sinne zu einer Einschreibung in das Feld der Pluralität der Personen fähig? Aus Ricœurs Sicht kann man mit Kant nicht wirklich zur Anderheit des Anderen vordringen bzw. sich von ihr in Anspruch nehmen lassen. (Aber lässt sich die Stimme des Gewissens nicht entsprechend rekonstruieren?) Von Levinas hat sich Ricœur davon überzeugen lassen, dass es eine solche Anderheit ›gibt‹ und dass sich keine unverkürzte Ethik aufstellen lässt, die nicht ausweist, wie wir ihr gerecht werden können. »Anderheit« steht hier nicht für einen kategorisierbaren Gegenstand der Erfahrung. In ihrer ethischen Bedeutung ›gibt‹ es sie nur vermittels unserer Antwort auf ihren Anspruch, der seinerseits durch die Antwort bezeugt wird. Die Anderheit ist kein – womöglich ontologisch spezifizierbares – Etwas, sondern zeigt sich nur im Worauf der Antwort. Tatsächlich ist von radikaler Anderheit bei Ricœur freilich eher nebenbei die Rede (SaA, S. 399). Er weigert sich, die Anderheit des Anderen in eine absolute Irrelation, in das also, was bei Levinas »Exteriorität« heißt, zu entlassen. Wenn es, so Ricœur, eine irrelative Anderheit des Anderen gibt und wenn von ihr dessen ungeachtet oder sogar gerade deshalb ein Ruf oder eine Aufforderung, ja sogar der Befehl, die Verantwortung für den Anderen zu tragen, ausgeht (selbst wenn der Andere als Gewalttäter auftritt), dann muss doch auf diese Herausforderung des Anderen eine Art Antwort erfolgen: der Ruf muss gehört, die Aufforderung angenommen und der Befehl befolgt oder doch wenigstens als solcher vernommen werden können. Andernfalls scherte die Anderheit des Anderen in eine völlig a-soziale Exteriorität aus, die es in keiner Weise mehr gestattete, so etwas wie eine Beziehung zum Anderen zu denken. Ricœur will keineswegs in Abrede stellen, dass es eine radikale, unüberwindliche Asymmetrie im Verhältnis zum Anderen geben kann; dann nämlich, wenn wir mit jeglicher Antwort zu spät kommen, die wir ihm geben. Aber wenn die Asymmetrie, die von der radikalen, irrelativen Anderheit des Anderen herrührt, durch nichts »kompensiert« wird, so sein Argument, lässt sich letztlich überhaupt kein ›Verhältnis‹ zu ihr mehr denken. Und können wir nicht, wäre 320 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Verschiedenheit, Asymmetrie und Beziehung zum Anderen

hinzuzufügen, von radikaler Anderheit nur im Sinne eines Überschusses über den empirisch, raum-zeitlich situiert erscheinenden Anderen hinaus sprechen? Müssen wir insofern nicht unvermeidlich von einer Art Verhältnis und Beziehung ausgehen? Und muss eine wie auch immer geartete soziale Beziehung, in der radikale Anderheit zur Geltung kommt, um ein Element irreduzibler Asymmetrie in sie einzuführen, nicht unvermeidlich in eine Form der Gegenseitigkeit wieder einscheren, wenn die Anderen einander eingedenk ihrer radikalen Anderheit begegnen? Würden sich in diesem Falle nicht zwei Asymmetrien und eine Struktur der Gegenseitigkeit, die die Form der Anerkennung etwa annehmen kann, wie zwei Seiten ein und derselben, allerdings in sich gebrochenen Sozialität zueinander verhalten? 71 Darauf läuft Ricœurs Antwort an Levinas formal tatsächlich hinaus. So soll ein einseitiger Ansatz vom Selben, etwa von einem Ich aus, das den Anderen konstituiert, wie es Husserl vorsah, ebenso vermieden werden wie ein einseitiger Ansatz vom Anderen her, wie ihn Ricœur bei Levinas zu erkennen meint (SaA, S. 223, 398). Nur ein Selbst, das sich als in sich von radikaler Anderheit des Anderen betroffen realisiert, kann eine ›sozial‹ deutbare Beziehung zu ihm unterhalten. Das schließt ein untilgbares Moment der Asymmetrie nicht aus, wohl aber, dass die Anderheit einer absoluten Exteriorität überantwortet wird, auf die keinerlei Antwort mehr Bezug nehmen könnte. Die Antwort, die wir dem Anderen geben, ist aber nur eine Antwort, wenn sie in gewisser Weise Bezug nimmt auf ihn, d. h. wenn sie in einem allgemeinen (nicht spezifisch moralisch zu verstehenden) Sinne ›Rücksicht nimmt‹ auf den Anderen. 72 Es lohnt sich, auf die Frühschriften Ricœurs zurückzugehen, um deutlicher zu sehen, wie nach dem Zweiten Weltkrieg mit Scheler und Kant die Frage nach dem Anderen auftaucht und wie sie sodann in Geschichte und Wahrheit (1955) in eine geschichtstheoretische Perspektive einmündet, in der sich zeigt, dass »der Mensch [von Anfang an] anders [war] als der Mensch«. Dafür sei die »sprachliche

Vgl. A. Peperzak, »Autrui et moi-même comme autrement autre«, in: Institut Catholique de Paris (Hg.), Paul Ricœur. L’herméneutique à l’école de la phénoménologie, S. 73–84, hier: S. 82. Weitergeführt wird diese Problematik diesseits des Rheins von mehreren Autoren u. a. in: B. Keintzel, B. Liebsch (Hg.), Hegel und Levinas. Kreuzungen – Brüche – Überschreitungen, Freiburg i. Br., München 2010. 72 Zu einer entsprechenden Differenzierung des Begriffs der Antwort vgl. B. Waldenfels, Antwortregister, Frankfurt/M. 1994, sowie Ricœur, SaA, S. 230 f. 71

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Zerrüttung«, mit der wir alle leben müssen, das sichtbarste Zeichen. 73 Bereits hier taucht der Gedanke auf, bei der Menschheit handle es sich tatsächlich um einen irreduziblen Plural »radikal vielfacher« Zentren der Sinnbildung. 74 Dann aber wird Ricœur zum Sprachtheoretiker, Semiotikkritiker und schließlich zum Hermeneuten, als der er heute vor allem bekannt ist. 75 Noch später, nämlich erst in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, besinnt er sich auf den inneren Zusammenhang von Geschichte und Zeugnis und bringt mit Gabriel Marcel und dann auch mit Levinas einen radikalisierten Zeugnisbegriff zur Sprache, der schließlich für Bezeugtes einsteht, das nicht im Gesagten, Geschriebenen und Überlieferbaren aufgeht. 76 Damit ist ein Schlüsselbegriff – das Gesagte – gefallen, ohne den sich nicht nur Ricœurs Verhältnis zu Levinas, sondern auch die Radikalisierung einer Sozialphilosophie nicht verstehen lässt, die das Verhältnis zum Anderen nicht länger primär als epistemisches, sondern als sozial beglaubigtes aufzufassen zwingt.

6.

Unterwerfung unter den Anderen?

Ricœurs sprachphilosophische Gedanken, die noch Anfang der 1970er Jahre weitgehend im Schatten Hegels entfaltet worden waren 77, werden in seinen späten Schriften immer wieder um die von Levinas behauptete Unaufhebbarkeit des Sagens (dire) im Gesagten (le dit) kreisen. Wobei von Anfang an klar ist, dass es sich hier keineswegs nur um eine sprachliche Korrelation handelt, wie man sie in der Linguistik (Ferdinand de Saussure), in Diskurstheorien (Jürgen Habermas) und selbst in der Analytischen Philosophie (Donald Davidson) antrifft, wo parole und langue, die Pragmatik der Äußerung und P. Ricœur, Geschichte und Wahrheit, München 1974, S. 288. Ebd., S. 61. Siehe auch zum Begriff des Nächsten ebd., S. 111–119. 75 Vgl. J. Greisch, R. Kearney (Hg.), Paul Ricœur. Les métamorphoses de la raison herméneutique: actes du colloque de Cerisy-la-Salle 1988, Paris 1991. 76 P. Ricœur, »Gabriel Marcel et la phénoménologie«, in: Entretiens autour de Gabriel Marcel, Neuchatel 1976, S. 53–74; ders., »Emmanuel Levinas, penseur du témoignage«, in: Répondre d’autrui, Neuchâtel 1989, S. 17–40; ders., »Entre éthique et ontologie: la disponibilité«, in: M. Sacquin (éd.), Gabriel Marcel, Paris 1989, S. 157– 165, 193–200. 77 P. Ricœur, »Hegel aujourd’hui«, in: Etudes théologiques et réligieuses 49 (1974), no. 3, S. 335–355; ders., »Le ›lieu‹ de la dialectique«, in: C. Perelman (ed.), Dialectics, The Hague 1975, S. 92–108. 73 74

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die Semantik der Aussage, Aussageakt und argumentativer Gehalt, Ereignis und Handlung unterschieden werden, und zwar so, dass es jedes Mal auf eine Unterordnung des Sagens unter das Gesagte hinausläuft, das von einem souveränen Subjekt beherrscht wird, ohne dass dem Sagen noch eigenes Gewicht zukäme (A, S. 6 f.). Wenn das Gesagte alles ist, so Levinas, sind wir dazu verurteilt, restlos in die Geschichte als einen großen Nekrolog einzugehen. Was sich in ihm nicht sagen lässt, muss dem absoluten Vergessen anheimfallen. Aber sind wir nicht singuläre Wesen, deren Existenz sich geradezu als ein ständiges Sagen vollzieht? 78 War das nicht schon von Søren Kierkegaard, Karl Jaspers, Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre zu lernen? Ist Existenz, so wie sie von Heidegger im Anschluss an Kierkegaard beschrieben worden ist, nicht geradezu ein ständiges, transitiv-verbal zu verstehendes Geschehen namens ›sein‹ ? Genau so haben Sartre und Levinas immer Heidegger verstanden. Und das weiß auch Ricœur: Wir sind bzw. existieren unsere Angst, unsere Furcht, aber auch die Freude, die Trauer und die Hoffnung. Levinas aber insistiert: nicht in einem Dasein, das um sich selbst oder um sein Sein besorgt ist, sondern in einem diachronen Leben von Anderen her und auf Andere hin, in einer Zwischenzeit, in der das Geschehen menschlichen Lebens ganz und gar als ein von Anderen angesprochenes und an Andere sich wendendes begriffen werden muss. Woraus aber soll nun folgen, dass dieses Leben sein Maß an einer Sagbarkeit und Ausdrückbarkeit haben müsste, die es rückhaltlos ›in die Geschichte eingehen‹ lassen könnte, sofern es sich überhaupt verstehen und begreifen lässt? Aus gar nichts, antwortet Levinas schroff. Menschliches Leben vollzieht sich für ihn buchstäblich unter den (nicht entfremdenden) Augen des Anderen, gegebenenfalls auch wort- und sprachlos, stumm und taub – und dennoch nicht jeglicher Rede fremd. Die Sprache, um die es eigentlich geht, kommt für Levinas gerade nicht im Sagbaren und Gesagten zur Geltung. Ihre Angelegenheit ist überhaupt nicht (jedenfalls nicht primär) die Geltung und der Geltungsanspruch, auf den sich so viele derart konzentrieren, dass sie den allemal vorgängigen Anspruch Anderer ›an unsere Adresse‹ ganz aus dem Auge verlieren. Dabei vollzieht sich unser Leben anders, auf andere Weise (statt nur in der kommunikativen Auseinandersetzung, im Streit um anfechtbare Geltungsansprüche Vgl. Vf., Geschichte im Zeichen des Abschieds, München 1996, dort das Lemma ›Sagen‹.

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und im Kampf um Wahrheit), ›anders als Sein oder als Sein geschieht‹, d. h. auch: um eines Anderen willen, der nicht relativ ›anders‹ ist wie irgendetwas anderes oder irgendwelche ›Anderen‹, sondern derart anders, dass ihm/ihr überhaupt nicht mit ontologischen, kategorialen oder existenzialen Mitteln beizukommen ist. Es geht demnach nicht um ein seinsimmanentes Anders-sein, sondern um ein seinstranszendentes Anders-als-Sein – das sich allerdings niemals anders als in der Bewegung eines Überschreitens, d. h. niemals an einer Welt vorbei abzeichnen kann, in der die Andersheit leibhaftiger, verkörperter Anderer begegnet. Aber wie kann Levinas dieses andere ›anders‹ noch spezifizieren, konkretisieren oder bezeugen, das nun offenbar das seinstranszendente Anders-als-Sein von einem seinsimmanenten Anders-sein abheben soll? Nicht nur Ricœur hegt den Verdacht, Levinas lege es geradezu darauf an, uns dem Anders-als-Sein zu unterwerfen; und zwar so, dass die »Metakategorie« der Alterität auf die Alterität des Anderen reduziert zu werden droht. 79 Dann würde die Ander(s)heit gewissermaßen monoton. Sie bezöge sich auf nichts anderes mehr. Genau das will Ricœur offenbar vermeiden – und auf diese Weise die Ander(s)heit bewusst gewissermaßen in einer polymorphen Schwebe halten, die gewährleisten soll, dass sie sich nicht aufhebt, »indem sie das Selbe wie sie selbst wird«, sei es auch, paradoxerweise, im Zeichen des Anders- oder Jenseits-des-Seins (SaA, S. 426). Wie auch immer ihr ›Sagen‹ zum Ausdruck und schließlich zur Geltung kommt, besagt sie bei Levinas nicht letztlich immer dasselbe? Befiehlt sie uns nicht immerzu die Verantwortung und Gerechtigkeit angesichts des Anderen, der jeder andere sein kann – auch der a-politische Barbar der Antike, der friedlose Seeräuber des neuzeitlichen Völker- und Naturrechts, der fremde Wilde der Anthropologen der frühen Neuzeit, der unmenschliche Feind der Französischen Revolution, der elitäre Übermensch Nietzsches und der diskriminierte Untermensch der Nazis oder der anti-politische Rassist unserer Tage? Wird auf diese Weise nicht das Sagen der Verantwortung rigoros auf 79 P. Ricœur, »De la métaphysique à la morale«, in: Revue de Métaphysique et de Morale 4 (1993), S. 455–477, hier: S. 469 f. In diese Richtung zielt auch schon Merleau-Ponty in seinem posthum veröffentlichten Spätwerk Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1996, S. 113. Ebenso noch F. Dastur, »Das Denken des Anderen: Eine französische Besonderheit?«, in: T. Bedorf, G. W. Bertram, N. Gaillard, T. Skrandies (Hg.), Undarstellbares im Dialog. Facetten einer deutsch-französischen Auseinandersetzung, Amsterdam, Atlanta 1997, S. 29–50, hier: S. 44 f.

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Gesagtes reduziert, das als bloßes Verlangen nach Verantwortung gleichzeitig eigentümlich leer bleibt? Das Sagen wird mit seiner Bedeutung doch seinerseits ganz zweifellos gesagt, ausgesagt, niedergeschrieben und überliefert. Auch für dieses ›Phänomen‹ muss doch offenbar gelten: worüber auch immer wir sprechen, wovon wir handeln, ›ist‹ doch zweifellos auf irgendeine Art und Weise. Selbst eine Fiktion, eine Phantasie, eine Halluzination oder eine gespenstische Erscheinung ist (als Fingiertes, als Vorgestelltes, Halluziniertes, Imaginäres) real (zumindest als ›reelles‹ Moment intentionalen Lebens; das hatte schließlich die Phänomenologie gelehrt). Und dieses ›Sein‹ kann und muss ausgesagt werden können (wenn auch nicht unbedingt eindeutig prädiziert, wie es Aristoteles gefordert hatte). Gewiss doch, gibt Levinas zu, aber in der Weise des Widerrufs (dédire; A, S. 9); auch auf das Risiko hin, gleichsam rückwärts aus einem okzidentalen Denken wieder auskehren zu müssen, das sich in Levinas’ Augen von Platon und Aristoteles bis hin zu Hegel, Husserl und Heidegger ganz und gar als eine Philosophie des Gesagten entpuppt hatte. 80 Indem er das als eine spezifische Form des Versagens europäischen Sprachdenkens brandmarkt, will Levinas nicht etwa ›Theologie‹, sondern radikale Sprachkritik betreiben. Und diese greift Ricœur auf in der Sorge, das ›Anders-alsSein‹ lasse sich womöglich gar nicht oder nur im Zuge der Zerschlagung einer Rationalität abendländischen Typs ›anders‹ sagen. So spricht er von einem verbalen Terrorismus (A, S. 26), zu dem sich Levinas im Kampf mit der ontologischen Überlieferung offenbar genötigt sah, die wie ein vielköpfiges Tier immer von neuem ihr grässliches Haupt erhebe. Ausgerechnet mit den von ihm selbst als verbale Gewalt denunzierten Mitteln des Rhetorischen nimmt Levinas den Kampf auf, um dasjenige vor Vereinnahmung zu bewahren, was doch jeglichem Sein und jeglichem Geschehen des Daseins entzogen sein sollte, das sich verstehen lässt und das auf Aussage angelegt zu sein scheint. Ricœur weist auf das Paradox hin, dass mit einem unerhörten verbalen crescendo vom Trauma über die grenzenlose Schuldigkeit und Unverzeihlichkeit der Anklage, unter der angeblich jeder angesichts des Anderen steht, etwas beschworen wird, was sich piano scheinbar gar nicht (überzeugend) sagen lässt. (Wenn doch, warum hat sich Levinas dann nicht einer behutsameren Sprache beE. Levinas, »Hegel und die Juden«, in: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt/M. 1992, S. 177–181, hier: S. 181.

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dient?) Ersetzt so, nach altvertrautem Muster, rhetorische Gewalt argumentative Kraft? 81 Handelt es sich um das nicht eingestandene Scheitern des Versuchs, der Ethik im Zeichen des Anderen zu einer von der Ontologie abgekoppelten Sprache zu verhelfen? Warum bedient sich Levinas eines deklaratorischen, »fast kerygmatischen« Tons, wo er doch das Übermaß des Pathischen beschreiben möchte, das uns vom Anderen her ohnehin widerfährt? Wenn das so ist, warum muss man dann das Pathische im Pathetischen zu überbieten versuchen? Dementiert Levinas’ Rhetorik nicht, was ihr zwischen pianissimo und mezzoforte nicht zulänglich zu beschreiben gelingt? Beschwört der Gedanke der Substitution für den Anderen nicht eine Nähe, die niemals nahe genug ist, um jeden Zweifel auszuräumen, ob uns der Andere im Geringsten ›etwas angehen‹ muss? Lässt sich das überhaupt sagen bzw. aussagen, wenn sich der Verdacht erhärtet, dass jede Prädikation darauf hinausläuft, jegliche ›wahre Alterität‹ zu tilgen (wie sie im Ereignis der Annäherung des Anderen, an ihn und in seiner Nähe gegeben sein mag)? Handelt es sich dabei um einen Verrat am Sagen, dessen jede aussagende Rede zu bezichtigen wäre, oder um einen Verrat des Sagens selbst, das doch darauf angewiesen ist, ›zur Sprache zu kommen‹ – wenn auch nicht unbedingt in der Form der Prädikation? Kann umgekehrt das Gesagte ›verraten‹, was ihm auf dem Weg des Ausdrucks und der Aussage womöglich zum Opfer gefallen ist? Würde es sich dann um einen ›guten Verrat‹ handeln, durch den paradoxerweise gerade das Gesagte einem Sagen beizustehen verspräche, das sozusagen nicht an sich halten kann, sondern sich seiner selbst entäußern muss, um sich zu verraten? Alles kommt hier darauf an, ob sich diese Entäußerung anders als eine Hegel’sche Objektivierung denken lässt, die das Sagen als im Gesagten aufgehoben erscheinen lassen würde. 82 Nichts lag jedenfalls Levinas daran, das Gesagte, die Aussage und schließlich den Diskurs einfach zu denunzieren, um sich auf eine Idiomatik zurückzuziehen, die sich jeglicher Rechenschaftsgabe für nicht unzweideutig Prädiziertes einfach entziehen dürfte. Ohnehin kann man ja auf die Bedeutung des Sagens nur zurückgehen vom Gesagten her. Die Frage ist allerdings, ob und wie letzteres transforVergleichbare Einwände kommen schon in Derridas früher Levinas-Kritik (in »Gewalt und Metaphysik«) zum Vorschein. 82 P. Ricœur, »Objektivierung und Entfremdung in der geschichtlichen Erfahrung«, in: Philosophisches Jahrbuch 84 (1977), S. 1–12. 81

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Unterwerfung unter den Anderen?

miert wird, wenn man von einer Besinnung auf das Sagen zum Gesagten zurückkommt. Für Levinas bleibt nach einem Rückgang vom Gesagten auf das Sagen nichts unverändert. Keineswegs handelt es sich um einen Prozess der Thematisierung unter vielen anderen; vielmehr darum, den Sinn der menschlichen Rede selbst ganz neu zu bedenken. Von der Besinnung auf das Sagen her soll nämlich die Stellvertretung für den Anderen als (vor-) ursprünglicher Sinn der Sprache selbst ›zur Sprache kommen‹ – auch auf die Gefahr hin, auf diese Weise als Gesagtes diskursiv zur Disposition gestellt und rückhaltlos angefochten zu werden. Für Levinas ist dessen ungeachtet die Sprache kein Gefäß, das sich mit beliebigen Inhalten füllen lässt. Zur Sprache muss kommen, was sie als solche eigentlich ausmacht. Und das ist nicht das bloße Aussagenkönnen (Aristoteles), der Ausdruck (Johann G. Herder, Wilhelm v. Humboldt), die symbolische Kommunikation (Ernst Cassirer) oder ein entbergend-verbergendes Wahrheitsgeschehen (Martin Heidegger), sondern die Verantwortung für den Anderen als Anderen, der sich aber als derart ›anders‹ erweist, dass sich keine Art der Aussage vorstellen lässt, die nicht Gefahr liefe, sein Anders-als-sein auf ein bloßes Anderssein zu reduzieren. Es ehrt Ricœur, dass er sich mit seinen Rückfragen an Levinas’ Adresse auf eine außerordentliche Irritation seines (und unseres) Sprachdenkens eingelassen hat, um eine vielfach in beschwörendem Ton vorgetragene Philosophie daraufhin zu prüfen, was aus ihr folgen würde, wenn man annähme, auf das Sagen jenseits oder diesseits des Gesagten sei zurückzugehen und ihm lasse sich der Sinn der Sprache in der Nähe des Anderen entnehmen, und zwar nach Maßgabe einer Passivität, die uns überhaupt keinen Einspruch und keine Ausflucht mehr aus der Verantwortung angesichts des Anderen zu gestatten scheint. So wird das, was bei Levinas als dogmatisch erscheinen mag, in den Status einer Hypothese überführt, die zu denken gibt. Muss man einer scheinbar von jeglicher Verantwortung absolvierten Gewalt eine heteronome Unterwerfung unter die Verantwortung entgegensetzen? Wäre das überhaupt im Sinne eines vertretbaren Verantwortungsbegriffs überzeugend? Muss nicht auch Levinas zugestehen, dass alles auf die übernommene, nicht zurückgewiesene Verantwortung ankommt? Gewiss. Aber er sah sich außerstande – im Sinne eines quasi lutherischen Hier-stehe-ich-und-kann-nicht-anders –, die Verantwortung des Sagens selbst zur Disposition zu stellen. Eine absolut nicht-verantwort327 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

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liche Rede musste für ihn undenkbar sein. Deshalb entzog er die Quelle der Verantwortung dem menschlichen Zugriff so weit wie nur möglich – um sie schließlich in einer unvordenklichen Zeit zu lokalisieren, die nie Gegenwart gewesen sein kann oder sein wird. Zwar fragt sich Levinas, ob man nicht seit Henri Bergson einer solchen »authentischen« Zeit auf der Spur gewesen ist 83, doch am Ende setzt er sich sogar vom Spätwerk Merleau-Pontys Das Sichtbare und das Unsichtbare ab, wo ausdrücklich von einer Vergangenheit die Rede ist, die nie Gegenwart war und nie Gegenwart werden wird 84, und besteht darauf, nicht etwa bloß eine innerzeitige oder der phänomenologisch reduzierten Zeit immanente Verspätung und Nachträglichkeit im Blick zu haben. Levinas orientiert sich denn auch nicht, wie Ricœur, an der augustinischen distentio animi, der Zerspannung der Seele in den Ekstasen der Zeit 85, oder an der diastasis der Neuplatoniker 86, wenn er von einer Dia-Chronie spricht, die sich jeglicher Retention und Wiederholung, jeglicher Erinnerung und jeglichem Gedächtnis widersetzt und unvordenklich (immémorable) bleibt. Erneut zieht er sich damit den Einwand zu, in ontologische Sprache zurückzufallen, die im gleichen Zug revoziert wird. Zeichnet sich nicht auch eine unvordenkliche Vergangenheit (genauso wie eine nicht antizipierbare Zukunft) von der Präsenz einer Gegenwart aus ab? Wie sollte anders auch von einer Nähe des Anderen die Rede sein können, die uns aus einer auf die phänomenologische Zeit unbezüglichen Diachronie heraus betrifft, wie Levinas meint? Ist eine diastatisch gedachte Diachronie wirklich dazu verurteilt, alles in ›Gegenwart‹ zusammenzufügen, um jegliche Spur der Alterität des Anderen zu tilgen? Kann ihr also nichts wirklich verloren gehen – obwohl Phänomene der Trauer wie auch der historischen Erinnerung vielfach das Gegenteil zu lehren scheinen? Muss sie »alles zu Substanz erstarr[en]« lassen, ohne je Zeit verlieren zu können? Muss sich nicht auch eine »Diachronie, die aller Synchronisierung gegenüber widerständig

Levinas, Die Spur des Anderen, S. 69 ff. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 208; siehe auch die entsprechenden Hinweise in Kap. VI, 2. 85 P. Ricœur, Zeit und Erzählung. Bd. I: Zeit und historische Erzählung, München 1988, Kap. I, 1. 86 A, S. 12; W. Beierwaltes, Das Denken des Einen, Frankfurt/M. 1985; B. Waldenfels, Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, Berlin 2012, S. 41, 73, 97, 142. 83 84

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bleibt«, als ein solcher Widerstand gegenwärtig abzeichnen? 87 Kann das nicht gerade unter Hinweis auf das Gedenken im Zeichen jenes Verbrechens deutlich gemacht werden, dessen Opfern Levinas’ zweites Hauptwerk gewidmet ist?

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Unhintergehbare conditio historica: unsere Nachträglichkeit, unsere ›Irre‹

An dieser Stelle stößt Ricœur auf ein für ihn »unermessliches« Paradox (A, S. 24): gerade im Zeichen der Erinnerung an das äußerste Verbrechen, das von radikalstem Hass inspiriert war, wird ein absoluter Entzug des Anderen in ein unvordenkliches Jenseits, ein Andersals-Sein gedacht, demgegenüber wir immer schon zu spät gekommen sind, angeblich ohne uns je der Nähe entziehen zu können, die uns zu ›passiven‹ Empfängern einer Gabe macht: einer Gabe der Verantwortung für den Anderen, jeden anderen, nicht zuletzt für den radikalen Feind selbst, ohne die unser Dasein ethisch tot wäre. Ricœur macht es sich jedoch nicht wie so viele andere leicht damit, dieses paradoxe Denken einfach als ›undenkbar‹, als ›widersprüchlich‹ und als Zumutung zurückzuweisen. Er anerkennt, wie mir scheint, rückhaltlos, wie Levinas sich von der Erfahrung radikaler Gewalt hat bedrängen lassen, um zu realisieren, wie sie ihm (und uns) jegliche Gewissheit, zu leben, zu existieren oder ›da‹ zu sein, aus der Hand schlagen musste. ›Wirklich‹ leben, existieren und ›da‹ zu sein, heißt das nicht: ›ethisch‹ leben, d. h. im Zeichen der Gabe der Verantwortung, die niemand je sich selbst verdanken kann? Jene Erfahrung 88 ist es, was Levinas’ Philosophie nur als eine historisierte Sozialphilosophie verständlich macht. Sie gibt Antwort auf eine abgründige, alle Begriffe in Mit-Leidenschaft ziehende Herausforderung ungeahnter und prima facie unvergleichlich radikaler Gewalt. In Wahrheit leben wir nicht, weil wir ›am Leben‹ sind; und wir existieren nicht nach Maßgabe eines Daseins, das um sich selbst oder um das Sein besorgt ist; wir leben und existieren nur als vom Anderen ansprechbare, vorausgesetzt, der Andere kommt ›anders‹ Levinas, Jenseits des Seins, S. 37. Gegen Levinas besteht sein Kontrahent auf der geschichtlichen Dimension dessen, was gerade ›Erfahrung‹ genannt wurde; vgl. P. Ricœur, Geschichtsschreibung und Repräsentation der Vergangenheit, Münster 2002, S. 40 f., 44.

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zur Geltung als nur durch uns. Radikal ›anders‹ ist er aber nur dann, wenn sein Anspruch uns auf unverfügbare Art und Weise entzogen ist, ohne darum vollkommener Gleichgültigkeit zu verfallen, die uns nichts angehen müsste. Appelliert dieser Diskurs nicht bedingungslos an uns – an unbestimmte Andere, irgendwelche Andere im Sinne Sartres –, in deren Leben sich überhaupt nur ein solcher ›Entzug‹ abzeichnen kann? Und liefert er sich nicht genau dadurch rückhaltlos der Anfechtbarkeit aus? Ricœur insistiert darauf, dass sich Levinas auf diesem Denkweg kritischen Gegenfragen nicht entziehen sollte. Muss diese Ansprechbarkeit und der ihr zugeschriebene, keineswegs lediglich phänomenologisch ›aufgewiesene‹ ›Sinn‹ nicht wenigstens bezeugt werden? Tut das nicht Levinas selbst (statt ›Beweise‹ und möglichst ›stichhaltige Argumente‹ liefern zu wollen)? Muss er nicht hinnehmen, dass das ›Sagen‹ seines Denkens durch Verschriftlichung in das Gegenwärtige, Erinnerbare, Versammelbare und damit in Geschichte eingeht? Levinas war nicht so naiv, das rundweg bestreiten zu wollen. Er fragte aber, wie dieses Eingehen in Geschichte geschehen kann; und ob es unweigerlich so geschehen muss, dass jegliche Alterität (unvordenklicher Vergangenheit und der Spur des Anderen) im Hegel’schen Sinne ›aufgehoben‹ und derart synchronisiert wird, dass sich nur noch eine restlos vergegenwärtigte Diachronie denken lässt. Wo Ricœur das Zeugnis (attestation, témoignage) untersucht hat 89, ist er m. E. nahe bei Levinas, insofern er sich auf vielfältige Arten des Sagens einlässt, die – von der Todesfuge Paul Celans über Benjamin Brittens War Requiem und Georges Didi-Hubermans Meditationen über Bilder, die Position beziehen bis hin zu den neueren Video-Archiven 90 – sämtlich keine Beweise zu liefern beanspruchen, sondern auf poetischen, pikturalen oder auch musikalischen Wegen ihren Lesern, Betrachtern und Hörern erst einmal zumuten, das Be-

89 U. a. in P. Ricœur, Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen, Göttingen 1998. 90 Vgl. S. Friedländer (Hg.), Probing the Limits of Representation, Cambridge 1992; U. Baer (Hg.), ›Niemand zeugt für den Zeugen.‹ Erinnerungskultur nach der Shoah, Frankfurt/M. 2000; G. Didi-Huberman, Wenn die Bilder Position beziehen, München 2011; ders., Überleben der Glühwürmchen, München 2012; S. Knopp, S. Schulze, A. Eusterschulte (Hg.), Videographierte Zeugenschaft, Weilerswist 2016; M. Däumer, A. Kalisky, H. Schlie (Hg.), Über Zeugen. Szenarien von Zeugenschaft und ihre Akteure, München 2017.

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zeugte zu glauben. 91 Die daran anschließende Diskussion hat gezeigt, wie sehr jedes Wissen, nicht nur das im engeren Sinne historische, auf einer solchen Glaubens-Zumutung aufbaut, die zur Bindung (religio, religatio) an den Anspruch des Anderen herausfordert. Das heißt keineswegs, dass nun der Diskurs über den Anderen in ›Religion‹ oder in ›Theologie‹ im üblichen Sinne des Wortes umschlagen muss 92, solange daran festgehalten wird, dass sich jegliches religiöse Denken nicht nur rückhaltloser Befragung aussetzen, sondern auch »verdächtig« bleiben muss, worauf Levinas selbst bestanden hat 93, ohne allerdings genug zu bedenken, ob die Rede von einem ›ganz Anderen‹ nicht eine gefährliche Hypostasierung bedeutet, die den methodologischen Atheismus bereits verrät, dem sie eigentlich verpflichtet sein müsste. Es ist nicht zu übersehen, wie ambivalent Levinas in dieser Hinsicht bis zum Schluss blieb. Wie kann man als Phänomenologe, der sich dieser methodologischen Maßgabe verbunden fühlt, einen Buchtitel wie diesen akzeptieren: De Dieu qui vient à l’idée? 94 Hat Levinas auf diese Weise nicht den Verdacht Dominique Janicauds bestätigt, er betreibe eine Theologisierung der Phänomenologie und infolgedessen geradewegs deren Abschaffung? Wie weit kann man eigentlich darin gehen, auf dem ›Anders‹-sein des Anderen über jegliches Sein/sein hinaus zu bestehen, ohne dass das In-Erscheinung-treten des Anderen undenkbar und buchstäblich unbeschreibbar wird? Diese Fragen betreffen beileibe nicht Levinas allein. Auch Hannah Arendt hat den »Erscheinungsraum«, in dem wir einander als Andere begegnen, im Zeichen einer alteritas (von griech. héterótes 95) »Das Anders-als-Gesagt des Sagens sucht sich«, schreibt Ricœur dazu, »– und verleiht sich vielleicht – ein anders gesagt« (A, S. 3; dt.: ders., Anders. Eine Lektüre von Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht von Emmanuel Levinas, Wien, Berlin 2015, S. 10 f.) – auf Wegen (itinéraire), die unabsehbar bleiben. 92 Schon gar nicht im Sinne eines starren Gegensatzes von repressiver Rückbindung und »Exodus aus dem Statischen«, mit dem Ernst Bloch operiert in: Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reiches, Frankfurt/M. 21977, S. 13, 73, 262; vgl. auch J. Derrida, G. Vattimo, Die Religion, Frankfurt/M. 2001; B. H. F. Taureck, Emmanuel Lévinas zur Einführung, Hamburg 32002, S. 37 f.; siehe dazu das anschließende Kapitel zu D. Janicaud. 93 E. Levinas, »Ein Brief Jean Wahl betreffend«, in: ders., Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte, S. 89. 94 Siehe oben, Anm. 63. 95 So erläutert schon R. Eislers Wörterbuch der Philosophischen Begriffe, Berlin 1904, Bd. 1, S. 35, den Begriff der Anderheit: »(alteritas): Übersetzung der έτερότης 91

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gedacht, die die Frage aufwirft, ob sie im Rahmen eines buchstäblich zwischen-menschlichen inter-esse überhaupt zur Erscheinung kommen kann. 96 Bei Levinas ist jedoch gerade nicht eine bloße Verschiedenheit oder Besonderheit gemeint, an der alles Anteil hat und die vom Sein jederzeit wieder ›eingeholt‹ wird, wie er befürchtet. Sein autrement soll ja gerade dieses Sein selbst und damit alles ›Andere‹ transzendieren, das »in gewisser Weise in den Negativitätszwischenräumen des Seins zirkuliert« (A, S. 5) – als »ein Dazwischen-Seiendes [intér-essement]«, das allerdings »den Triumph und nicht die Subversion des Seins kennzeichnet«, wie Ricœur feststellt. Für Levinas geht es jedoch im Anders-als-Sein nicht um Lücken, Risse und Bruchlinien im Sein, sondern um ein désintéressement als ein Sichlösen von ihm, um ein Absolvieren. Nur wenn man das nicht verkennt, ist zu vermeiden, dass Levinas ohne Umschweife in eine Apologie der Differenz eingemeindet wird, die paradoxerweise Begriffe wie Besonderheit, Verschiedenheit, diversity, Anderssein, Anderheit und Fremdheit unterschiedslos in einen Topf wirft (wodurch sie unüberbietbar up-to-date und gedankenlos zugleich ist).

bei ARISTOTELES[,] bei PLATO: ἔτερον: Verschiedenheit der Gattung (Met. X, 8, 1058a 7). ›Alteritas‹ bei BOËTHIUS (Comm. Isag. p. 33), ›Alietas‹ bei THOMAS. Nach PLOTIN hat der νους […] im Unterschiede vom ›Einen‹ (ἔν) eine Anderheit (έτερότης), weil er in sich eine Zweiheit des Erkennenden und Erkannten hat. Von der Anderheit im metaphysischen Sinne, als von der Eins ausgehend, spricht GEORGIUS VENETUS (Opp. III, 38).« Hier werden aber Andersheit und Anderheit nicht unterschieden; und von einer ›Unaufhebbarkeit‹ letzterer im Einen Plotins, im Selben (N. Cusanus) oder in einer alles umfassenden Einheit (unitas) ist nicht die Rede; vgl. Leinkauf, Grundriss, S. 1094, 1100, 1120, 1124, 1135, 1154; zur Andersheit des Anderen S. 1379. 96 Vgl. H. Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, München, Zürich 41985, S. 164 f. Wo Arendt von menschlicher Pluralität schreibt, meint sie ausdrücklich nicht eine alteritas als Besonderheit, die allem verschiedenen bzw. unterscheidbaren Lebendigen eigen sei, sondern ein Sich-von-Anderen-unterscheiden, das sich als Einzigartigkeit artikuliert. In politischer Hinsicht trennt sie schematisch die relative Verschiedenheit, die eine unaufhebbare Pluralität der Menschen hervorbringe, von einer absoluten Verschiedenheit, mit der »Politik gerade nichts zu schaffen« habe. Aber kann das der Fall sein, wenn »Politik […] von vornherein die absolut Verschiedenen im Hinblick auf relative Verschiedenheit und im Unterschied zu relativ Verschiedenen« organisiert? H. Arendt, Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, München 1993, S. 12, 15. Schon diese Formulierung zeigt, dass sich auch eine derart ernüchterte Autorin wie Arendt, die schließlich nur politische Theoretikerin sein wollte, nolens volens die von Levinas und Ricœur herausgearbeiteten Fragen danach zuzieht, was die Pluralität von Anderen als Anderen eigentlich ausmacht.

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Ricœur hat diese Gefahr erkannt, fragt aber erneut zurück: Selbst wenn man es konsequent vermeiden könnte, die Anderheit des Anderen immerfort einer mit Hobbes komparativ, mit Hegel dialektisch oder auch mit den Lobrednern auf eine »Politik der Differenz« als divers beschriebenen allgemeinen Andersheit zu unterwerfen, ist es überhaupt denkbar, das Anders-als-sein des Anderen nicht auf eine Variation des Andersseins zu reduzieren und es eben dadurch zu verraten? 97 Sind wir nicht zu Formen des Verrats geradezu verurteilt 98 – zu zweideutigen allerdings, die indirekt doch ›verraten‹, was sie verfehlen? So wenig wie Levinas oder seine Leser kann Ricœur an dieser Stelle mit einer einfachen Antwort aufwarten. Er begnügt sich stattdessen damit, deutlich zu markieren, was »methodologisch […] auf dem Spiel steht« (A, S. 10) in einer komplexen Theorie-Architektonik, welche unentwegt zwischen Verb und Nomen, Sagen und Gesagtem, Ethik und Ontologie, Verantwortung und Gerechtigkeit, Nähe des Anderen und Dritten, Dia-Chronie und Gegenwart der Erinnerung, vor-ursprünglicher An-Archie und menschlicher Subjektivität laviert, die sich alles Gesagte wieder anzueignen neigt; und zwar selbst dann, wenn sie genau das energisch dementiert. Ist am Ende das Beste, was man über dieses Theoretisieren sagen kann, dass es in dieser zerklüfteten Topografie des Denkens nicht zur Ruhe kommt, indem es sich bedingungslos auf das páthos einer geschichtlichen Erfahrung einlässt und sich ihr aussetzt, ohne sich in eine normativistische Selbstgerechtigkeit zu flüchten, die besonders diesseits des Rheins so oft suggeriert, man wäre bereits fertig mit dem, was uns im Zeichen des Anderen anders zu denken geben sollte – im Zeichen einer Anderheit, an der die adverbiale Rede von allem, was ›anders‹ ist, irrezuwerden droht, wenn sie hyperbolisch auf eine Ander(s)heit abzielt, die vollkommen ›anders‹ als alles andere sein soll, ohne aber in das Selbe einzuscheren? Die Frage, mit der ich dieses Kapitel beDas betrifft jegliche Formen des Aussagens und Benennens. In ihnen erschöpfen sich aber nicht die Formen der Rede, die uns zur Verfügung stehen – wie etwa die Elegie und die Klage, die nicht bloß auf »stumpfe« Weise eine Abwesenheit des Anderen zum Ausdruck bringt, sondern sie »erklingen« lässt. Auf die Dürftigkeit ontologischer Rede macht Ricœur selbst mit Levinas aufmerksam, wo er ihn mit den Worten zitiert: das »Sein bezeichne […], statt zu erklingen.« 98 Ricœur spricht gar von einer »trahision de la trahision« (A, S. 9). Diesen Verrat sollte man freilich nicht über Gebühr moralisieren, wenn er auch zu verstehen geben und in diesem nicht-moralischen Sinne ›verraten‹ kann, worauf er sich bezieht. 97

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schließen möchte, lautet, ob es sich nicht – statt um ein bloß ›irrtümliches‹ Denken auf Abwegen – um eine ›Irre‹ handelt, der nicht auszuweichen ist und die, mit Ricœur zu reden, unsere nicht hintergehbare conditio historica geradezu ausmacht. 99 Diese Frage, so viel scheint sicher, wird uns spätestens dann wieder einholen, wenn offenkundig geworden ist, wie weitgehend man sich mit ausgefeiltesten Algorithmen über alles und jeden Kenntnis verschafft hat, der an einer globalisierten Kommunikation teilnimmt. Längst wissen angeblich anonyme Maschinen weit mehr über jeden von uns, als wir je über auch nur eine(n) Andere(n) in Erfahrung bringen werden. Heute, so scheint es, wird die effektivste ›Transzendenz‹ über den konkret erfahrbaren Anderen hinaus von Maschinen realisiert, deren virtuelles Wissen man zu opportunen Zwecken nur zu aktivieren braucht. Die Zukunft wird zeigen, ob die angemahnte Erinnerung an eine selbst durch raffiniertestes Wissen nicht greifbare Alterität, die eine Diachronie eines Lebens von Anderen her und auf Andere hin inspirieren kann, nur eine hoffnungslos veraltete platonisch-cartesianische Nostalgie darstellt 100 oder ob man eines Tages triftige Gründe dafür haben wird, sich auf ein Anders-Denken des Anderen zurück zu besinnen 101, dessen ›Unaufhebbarkeit‹ im Gesagten, Geschriebenen und Gedachten kein bloßer Mangel, sondern vielleicht ein gutes Scheitern bedeutet, das uns davor bewahren könnte, am Exzess eines grenzenlosen Wissens irrezuwerden, in dem alles ›Andere‹ und jeder Andere sich künftig als Gewusstes wiederfände – rest- und spurlos. 102

Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 441 f. Bekanntlich fusioniert ja Levinas das Gute im Sinne Platons mit der Rede vom Unendlichen, wie sie bei Descartes (in der dritten der Meditationen über die Erste Philosophie) anzutreffen ist (A, S. 28), um die Phänomenologie damit zu überfordern, diesen Zusammenhang als erfahrungsmäßig ›gegebenen‹ aufweisen zu sollen. 101 Oder sich darauf in neuer Art und Weise zu besinnen. Hierher gehört, was Ricœur zu einer quasi-ontologischen Post-Ethik schreibt (A, S. 35), die nicht darauf festgelegt sein sollte, Traditionen, die abzureißen drohen, nur neu zu bekräftigen oder sich gar zum bloßen Klischee herabgesunkener Redensarten wie der von der »Freiheit des Andersdenkenden« zu bedienen. Im Lichte der Auseinandersetzung Ricœurs mit Levinas ahnt man, welche abgründigen Schwierigkeiten der Versuch aufwirft, dieses ›anders‹ begreiflich zu machen und wie unzureichend uns die philosophische Überlieferung darauf vorbereitet hat. 102 Würden wir den Anderen ganz und gar ›kennen‹ (bzw. zu ›kennen‹ glauben), wäre seine Nähe am Ende getilgt, suggeriert Levinas in Eigennamen, S. 99. 99

100

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Unhintergehbare conditio historica: unsere Nachträglichkeit, unsere ›Irre‹

Lässt sich aber der unaufhebbaren Alterität des Anderen überhaupt noch mit phänomenologischen Mitteln beikommen? Ohne eine positive Antwort auf diese Frage, die auch Levinas immer wieder umgetrieben hat, einfach vorauszusetzen, vertieft das folgende Kapitel mit Bezug auf einen seiner energischsten Kritiker die Bedenken, die sich dagegen aufdrängen.

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Kapitel IX Atheismus und religio Verrat am Versprechen der Phänomenologie? Nichts kommt von allein. Nichts ist gegeben. Gaston Bachelard 1

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Fragwürdige Berufung auf ›das Gegebene‹

Wie auch immer diverse Philosophien ihrem vornehmsten Anspruch nachkommen, zu denken zu geben, sie müssen allemal zunächst zeigen, worauf sie sich beziehen. Ohne dass sich etwas (von sich aus) zeigt oder (durch uns) zeigen lässt, gibt es überhaupt nichts zu denken. So gesehen müsste der erst spät, nämlich zweieinhalb Jahrtausende nach der Erfindung der Metaphysik mit dem Anspruch auf den Titel einer Ersten Philosophie aufgetretenen Phänomenologie tatsächlich ein wenigstens methodologisch vorrangiger Status zukommen – zumindest als Heuristik, die aufzuklären verspricht, was und wie sich etwas zeigt. Mehr noch: Vom Sich-Zeigen oder Inerscheinungtreten als solchem hätte sie Rechenschaft abzulegen; und zwar so, dass es für jedermann nachvollziehbar sein müsste. Einzigartiges Versprechen der Phänomenologie: jedem, der sich dafür unvoreingenommen interessiert, das in diesem Sinne Gegebene bzw. die Gegebenheit des Gegebenen als solche aufzuklären und von diesem Unterfangen niemanden auszuschließen – weder auf dem Niveau einer solchen Heuristik noch im Rang einer Ersten Philosophie. Würde sie dieses Versprechen einlösen können, so wäre zumindest nicht mehr strittig, worauf wir uns jeweils beziehen, wenn wir streiten, worauf wir also im Sinne des Strittigen Bezug nehmen, um uns wenigstens darin einig zu sein, was als das Gegebene zu gelten hat. Geben Phänomenologen darüber nicht in der Tat längst verlässlich Auskunft?

1 G. Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis [1938], Frankfurt/M. 1987, S. 47.

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Fragwürdige Berufung auf ›das Gegebene‹

Dominique Janicauds methodologische Bestandsaufnahme der Phänomenologie bzw. einiger Autoren französischer Provenienz, die sich zeitweise als deren prominenteste Vertreter hervorgetan haben oder als solche angesehen worden sind, gelangt zu einem ganz anderen Ergebnis. Nach Jahrzehnten phänomenologischer Forschung, deren methodische Konturen in den Augen vieler Beobachter weitgehend unscharf geworden sind, müsste der Streit um das Gegebene als solches eigentlich neu entbrennen, wenn man Janicauds Schriften ernst nimmt, denen insofern große Bedeutung zukommt, als sie die Forderung erheben, sich auf die Gegebenheit des Sichzeigenden erneut zu besinnen, da ihr methodologischer Status aus dem Blick geraten zu sein scheint – paradoxerweise gerade durch gewisse »Neue Phänomenologen«, die ihrem Begehren nach einem absolut Anderen, dessen sie sich wenigstens als Fehlendem unbedingt vergewissern wollen, freien Lauf lassen. Auf dem Spiel steht weder bloß die rasch abzutuende Polemik eines »Pamphlets« (Jocelyn Benoist) gegen die Phänomenologie noch auch nur die Forderung nach Rückkehr zu deren prinzipiellen Ansprüchen im Sinne einer neuen – nicht auf Aristoteles’ Metaphysik sich berufenden – Ersten Philosophie, wie sie Husserl in einschlägigen Texten propagiert hat. Auf dem Spiel steht vielmehr die Erneuerung jenes Versprechens unter unumgänglich veränderten Bedingungen, die Janicaud in seiner Diagnose einer zwar manches Aufsehen erregenden, aber im Grunde unwiderruflich um ihre Einheit gebrachten phénoménologie éclatée zusammenfasst. 2 Ob auf diese Weise deren Wahrheit ans Licht kommt, sei es ihre fällige Ernüchterung und Reduktion auf einen bescheidenen Residualzustand, sei es ihre durchgreifende Renovierungsbedürftigkeit, sei es ihr endgültiges Versagen, steht dahin. Jedenfalls ist die gestellte Diagnose umso mehr von Bedeutung, wie sie sich in der Rückbesinnung auf das ›konkret‹ Gegebene als die Schwelle (seuil) bezieht, die keine Philosophie jemals endgültig überschreitet (LP, S. 30 f., 145, 191). Es geht also nicht nur um die Phänomenologie als eine Teildisziplin der Philosophie, sondern um die Bestimmung dessen, womit Philosophie, gleich welcher Provenienz, eigentlich anheben müsste und woran sie sich unaufhörlich ›abzuarbeiten‹ hätte, wie man heute gerne sagt. 2 Vgl. D. Janicaud, La phénoménologie dans tous ses états, Paris 2009, S. 17–37 (= LP).

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IX · Atheismus und religio

Eine methodologische Rückbesinnung auf die Ursprünge der Phänomenologie, die manche wie einen Tempel zu verteidigen scheinen (LP, S. 168), hilft in dieser misslichen Lage allerdings nicht ohne weiteres. Ironischerweise war ja gerade der Phänomenologie von Anfang an eine innere Pluralisierung beschieden, die schon Paul Ricœur vor Jahren als Dynamik fortgesetzter und längst nicht mehr auf einen orthodoxen Lehrgehalt zu verpflichtender Häresien charakterisiert hat. 3 Janicaud zufolge haben wir es heute darüber hinaus, speziell seit dem Tod Maurice Merleau-Pontys im Jahre 1960 und dem Erscheinen von Emmanuel Levinas’ erstem Hauptwerk, Totalité et infinie, im Jahre 1961, allerdings mit einer verschärften Lage zu tun. Wesentlich angeregt von diesem Werk, so meint er, habe sich eine starke Tendenz bemerkbar gemacht, die Grenzen der Erfahrung bzw. des Gegebenen zunehmend zu ignorieren (LP, S. 21, 65). So geraten die »Neuen Phänomenologen« in den Verdacht, den Sinn der Phänomenologie und ihr einzigartiges Versprechen zu verraten. In der Absicht, diesen Sinn zu verteidigen, unternahm Janicaud zweimal 4, in den Jahren 1990 und 1998, den Versuch, einige Wortführer, die dem ursprünglichen Sinn dieser Disziplin ganz und gar untreu geworden zu sein schienen, daran zu erinnern, worauf diese eigentlich Anspruch zu erheben hätte. Erinnern wir uns! Anderslautenden Aussagen zum Trotz, ist die Phänomenologie nicht gleichsam mit einem Schlag und in einer methodologisch bis heute allgemein verbindlichen Form entstanden. Das zeigen weit vor Husserls Logischen Untersuchungen (1900) einsetzende, bis auf Charles S. Peirces phaineroscopie und auf Johann H. Lamberts Lehre vom Schein zurückgehende begriffsgeschichtliche Reflexionen Karl Schuhmanns und Herbert Spiegelbergs hinreichend. »Phenomenology was not founded: it grew«, stellt letzterer mit Walter Biemel fest. 5 P. Ricœur, A l’école de la phénoménologie, Paris 1986, S. 156. Genau genommen drei- bzw. sogar viermal. Denn Janicaud bezieht sich auf die inkriminierten »Neuen Phänomenologen« bereits in einem chronologisch zuerst verfassten, tatsächlich aber erst an zweiter Stelle veröffentlichten Text unter dem Titel Rendre à nouveau raison? in: La philosophie en Europe (éd. R. Klibanski, D. Pears), Paris 1993, S. 156–193, bes. S. 174–181, und in seiner wichtigen Einführung zu LP, S. 17–37, siehe unten. 5 W. Biemel, H. Spiegelberg, »Phenomenology«, in: Encyclopædia Britannica; https:// www.britannica.com/topic/phenomenology. Zum Vorangegangenen vgl. K.-O. Apel, Der Denkweg von Charles S. Peirce, Frankfurt/M. 1975, S. 204 ff., 212 ff.; K. Schuhmann, »›Phänomenologie‹. Eine begriffsgeschichtliche Reflexion«, in: Husserl Studies 1 (1984), S. 31–68; LP, S. 180. 3 4

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Fragwürdige Berufung auf ›das Gegebene‹

Und dieses Wachstum hat zu einer kaum mehr zu bändigenden Divergenz heterogener Ansätze geführt. Zwar hat es immer wieder Versuche gegeben, der Disparatheit und Heterogenität diverser Phänomenologien eine einzige und »wahre« Phänomenologie entgegenzusetzen. Doch schon Husserls Meditationen über die Erste Philosophie (1923/4), mit denen er die Philosophie erklärtermaßen auf eine neue und endgültige Grundlage zu stellen hoffte, waren von einer gewissen Dissidenz in München und Göttingen sowie besonders vom sich ankündigenden Einfluss Heideggers überschattet, der mit Sein und Zeit (1927) aus den Bahnen einer transzendentalen Phänomenologie ausschert und eine bis heute höchst folgenreiche ontologische Richtung einschlägt, die die für Husserl unabdingbare Korrelation zwischen einem intentionalen Subjekt der Erfahrung einerseits und dem Erfahrenen als solchen andererseits einer radikalen Befragung zu unterziehen verlangt. Für viele wurde Husserl allerdings gerade dadurch zum Begründer der Phänomenologie, dass er auf der Gegebenheit des Erfahrenen für ein Subjekt insistierte, dem sich das buchstäblich ›erfahrungsgemäß‹ Gegebene als solches zeigt oder »gibt« – wie Levinas in Anlehnung an Husserl in symptomatischer Zweideutigkeit schreibt. 6 In Husserls Augen hatte sich Hegel, der ebenfalls auf den Begriff der Phänomenologie als der eigentlichen Wissenschaft von der Erfahrung des Bewusstseins Anspruch erhoben hatte, keineswegs strikt an diese methodologische Vorgabe gehalten (vgl. LP, S. 20 f.). Und im Gegensatz zu Heidegger war es für Husserl undenkbar und unakzeptabel, die Phänomenologie als eine solche Wissenschaft nicht von Anfang an auf jene Korrelation zu stützen. 7 Nur unter dieser Voraussetzung versprach die Phänomenologie (so wie sie ihm vorschwebte) tatsächlich den Anspruch einzulösen, an dem das antike Denken des Psychischen ebenso gescheitert war wie der neuzeitliche Empirismus John Lockes, der Sensualismus Étienne de Condillacs, der Positivismus Ernst Machs und Richard Avenarius’ sowie die moderne, ebenfalls vom Plural heimgesuchte Psychologie: den Anspruch nämlich, endlich eine Wissenschaft aus und von der Erfahrung zu etablieren, die dem wirklich Erfahrenen gerecht werden

E. Levinas, »Über die ›Ideen‹ von E. Husserl«, in: ders., Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte, Freiburg i. Br., München 2006, S. 37–78, hier: S. 48. 7 Vgl. LP, S. 90; K. Held, »Einleitung«, in: E. Husserl, Die phänomenologische Methode, Stuttgart 1985, S. 5–52, hier: S. 46 f. 6

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müsste. 8 Sollte etwa der Mensch, der nicht zuletzt durch sogenannte Erfahrungswissenschaften überhaupt erst all das möglich gemacht hat, was als gültige Erkenntnis anerkannt, ist, selbst keinen Platz im Konzert der Wissenschaften finden? Sollte das menschliche »Erfahrungsleben« keiner Aufklärung in einer Wissenschaft der Erfahrung zugänglich sein? Was Foucault schon vor Jahrzehnten zur Verabschiedung der Phänomenologie zugunsten einer Archäologie der Humanwissenschaften bewogen und sodann zur Erforschung ganz und gar kontingenter Wissensformationen geführt hatte, in denen der Mensch fortan keinen Platz mehr zu haben schien 9, steht für Janicaud noch längst nicht fest. Von Heideggers Kritik ontischen Denkens belehrt, sucht er jedoch ebenfalls nicht Zuflucht bei einer für überholt gehaltenen Anthropologie, sondern erwartet nach wie vor viel von einer ontologischen Revision der Möglichkeitsspielräume menschlicher Erfahrung und verlangt im Grunde eine Wiedervorlage der Frage, was wir heute auf diesem – vielleicht einzig noch gangbaren Weg – einer Philosophie aus und von der Erfahrung erwarten dürfen. Ist am Ende auch dieser Traum schon ausgeträumt, wie es Husserl von einer als »strenger Wissenschaft« zu betreibenden transzendentalen Phänomenologie befürchtet hatte? 10 Wird sich auch Janicauds Anstoß zur Erneuerung des phänomenologischen Traums als vergeblich erweisen? Ist er selbst einer der letzten Träumer der Phänomenologie? Auf diese Frage wird man keine angemessene Antwort geben können, wenn man nicht realisiert, dass die Konfliktlinien heute deutlich anders verlaufen als zu jener Zeit, als die ersten Häretiker sich anschickten, sich vom Vorgedachten unbillig zu entfernen. Während Husserl den Anspruch einer Wissenschaft verteidigte, die aus der Erfahrung stammt, um von ihr transzendental-phänomenologisch Rechenschaft abzulegen, sah Heidegger hier einen un8 Vgl. H. Drüe, Edmund Husserls System der phänomenologischen Psychologie, Berlin 1963; M. Herzog, C. F. Graumann (Hg.), Sinn und Erfahrung: phänomenologische Methoden in den Humanwissenschaften, Heidelberg 1991; M. Sommer, Evidenz im Augenblick. Eine Phänomenologie der reinen Empfindung, Frankfurt/M. 1987; Vf., »Disziplinierte Naivität und Grenzen der Erfahrung. Marginalien zu aktuellen Problemen der Phänomenologie«, in: Phänomenologische Forschungen NF 4/2 (1999), S. 213–237. 9 Vgl. den Bericht d. Vf., »Abgebrochene Beziehungen: Merleau-Ponty und Foucault über Ontogenese und Geschichte«, Teil I in: Philosophisches Jahrbuch 101/1 (1994), S. 200–217; Teil II in: Philosophisches Jahrbuch 101/2 (1994), S. 178–194. 10 Husserliana VI, S. 508; zum Kontext vgl. L. Landgrebe, Der Weg der Phänomenologie, Gütersloh 1963, S. 187.

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erkannten Szientismus am Werk, der sich der Besinnung darauf widersetzt, wie es überhaupt zu jener Korrelation von Subjekt (der Erfahrung in allen ihren Modalitäten) und Objekt (im Sinne des Erfahrenen als solchen) kommt, die durch den Prozess des Erfahrens selbst verbürgt wird. Indem Heidegger diesen Prozess ontologisch befragt, knüpft er zunächst an Husserls ursprünglichen Anspruch an, das Gegebene genau so, wie es sich zeigt, und in den Grenzen, in denen es sich zeigt, beschreiben zu können. 11 Aber im Unterschied zu Husserl radikalisiert er nun die Frage, wie es überhaupt dazu kommen kann, dass sich das Gegebene (bzw. dessen eigentliche »Gegebenheit«) einem Subjekt darstellt. Auch Husserl wusste, dass sich das Gegebene als solches keineswegs dem sogenannten common sense, in der sogenannten natürlichen Einstellung oder in einem bloß ontischen Denken ohne weiteres als dasjenige präsentiert, was sich zeigt bzw. gibt. Als solches muss es vielmehr von der Phänomenologie erst hervorgebracht werden in reduktiven Prozessen der Reinigung von Vormeinungen und -urteilen, die die Frage nach der Gegebenheit des Gegebenen als solche gar nicht aufkommen lassen. Doch für Heidegger handelt es sich bei dieser Gegebenheit niemals bloß um subjektiv »Vermeintes«, sondern um das ontologische Ereignis einer anonymen Gebung, in der sich das, was sich zeigt, »gibt«, ohne dass dieses Geschehen auf ein Subjekt der Erfahrung zurückzuführen wäre.

2.

Ein ›altes‹ (hermeneutisches) Grundproblem sog. ›Neuer Phänomenologie‹

Dieser in Heideggers späteren Schriften, aber auch bei Jan Patočka und Merleau-Ponty variierte a-subjektivistische Gedanke, der das Husserl’sche Subjekt der Erfahrung nicht etwa als deren Autor, sondern allenfalls als passiven Empfänger jenes Geschehens erscheinen lässt, hat in der jüngeren Geschichte der Phänomenologie tiefe Spuren hinterlassen. Vor allem dadurch, wie dieses Geschehen gedeutet wurde. Keineswegs ›zeigt‹ oder ›offenbart‹ es sich einfach infolge einer phänomenologischen Reduktion und der sogenannten Epoché. 12

E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie [1913], Tübingen 1980, § 24, S. 43 f. 12 Vgl. LP, S. 67, 143, wo sich der Autor auf Patočka und Ricœur stützt. 11

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An dieser Stelle, wo unverkennbar wird, dass der Phänomenologie als radikalem Fragen nach dem Sinn der Gegebenheit des Gegebenen unvermeidlich eine hermeneutische Dimension innewohnt 13, insofern sie sich dazu gezwungen sieht, diese Gegebenheit zu deuten, zu verstehen und zu interpretieren, zeichnet sich die Quelle eines bis heute nicht geschlichteten und vielleicht niemals zu schlichtenden Streits um die Sache der Phänomenologie selbst ab, wie par excellence in Janicauds Kritik an Michel Henry, Jean-Luc Marion und Emmanuel Levinas deutlich wird, denen er eine inzwischen zum polemischen Schlagwort avancierte »theologische Kehre« hin zu einer »Neuen Phänomenologie« zum Vorwurf macht, die ihren Namen in methodologischer Hinsicht 14 eigentlich nicht mehr recht verdiene. So polemisch, wie diese Kritik sich zunächst darstellt, so erstaunlich mutet es an, dass Janicauds Herausforderung an jene »Neuen Phänomenologen«, die in seinen Augen diesen Titel im Grunde zu Unrecht tragen, bislang diesseits des Rheins kaum angemessen gewürdigt worden ist. Einschlägige jüngere Einführungen in die Phänomenologie und deren Methoden erwähnen sie überhaupt nicht. 15 Selbst in einem Autorenhandbuch, das im Titel Die französische Philosophie im 20. Jahrhundert (2009) einen umfassenden Anspruch zu erheben scheint, fehlt ausgerechnet ein Lemma Janicaud, dessen Kritik einer theologischen Kehre nebenbei als »in dieser Allgemeinheit« »sicherlich« überzogen abgetan wird. 16 Im Überblick über Neue Phänomenologie in Frankreich von Hans-Dieter Gondek und László Tengelyi (2011) wird allerdings mit Blick auf Jacques Derrida zugestanden, dass man Grund dazu hat, »die schlimmsten Befürchtungen Janicauds« bestätigt zu finden. 17 Und der Verdacht ist nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen, dass im Fall gewisser Schriften von

Vgl. LP, S. 34, 231; P. Ricœur, »Phénoménologie et herméneutique«, in: Phänomenologische Forschungen 1 (1975), S. 31–75. 14 Das ist eine wichtige, oft übersehende Einschränkung (vgl. LP, S. 63, wo deutlich wird, dass Janicaud keineswegs jegliche Theologie zurückweist). 15 F. Fellmann, Phänomenologie zur Einführung, Hamburg 2006; D. Zahavi, Husserls Phänomenologie, Tübingen 2009; N. Depraz, Phänomenologie in der Praxis, Freiburg i. Br., München 2012. 16 L. Tengelyi, »Marion, Jean-Luc«, in: T. Bedorf, A. Gelhard (Hg.), Die französische Philosophie im 20. Jahrhundert. Ein Autorenhandbuch, Darmstadt 2009, S. 243 ff., hier: S. 247; vgl. B. Waldenfels, Idiome des Denkens, Frankfurt/M. 2005, S. 77 f. 17 H.-D. Gondek, L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, Berlin 2011, S. 430. 13

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Ein ›altes‹ (hermeneutisches) Grundproblem sog. ›Neuer Phänomenologie‹

Jean-Luc Marion, Jean-Louis Chrétien und Michel Henry, die eine christliche Konfession gewiss nicht bloß unfreiwillig verraten, ebenfalls Grund zur Sorge besteht. 18 Realisieren die jeweiligen Anhänger der einen oder anderen Richtung überhaupt, was auf dem Spiel steht? Janicaud treiben nagende Zweifel um, deren Berechtigung hier nicht im Einzelnen zu beurteilen ist. Doch gibt es hinreichend Anlass dazu, die in Frankreich seit 1991 in der Revue de métaphysique et de morale (no. 96) im Gang befindliche und am Collège International de Philosophie (1992) unter Beteiligung von Jean Greisch, Michel Haar, Françoise Dastur u. a. sowie in Phénoménologie et théologie (1992) vom Herausgeber Jean-François Courtine in Verbindung mit Chrétien, Marion, Ricœur und Henry fortgeführte Debatte systematisch wieder aufzugreifen (selbst wenn die Kraft jener Kehre inzwischen als zweifelhaft erscheint). Janicaud selbst hat dazu nach der Publikation von Le tournant théologique de la phénoménologie française im Jahre 1990, die auf Veranlassung des Institut International de Philosophie in Verbindung mit der UNESCO erfolgte, mit einem zweiten Band, La phénoménologie éclatée (1998), wichtige Anstöße gegeben. Versehen mit einem kurzen Kommentar von Jean-Pierre Cometti und einer auf das Jahr 1997 zurückgehenden wichtigen Einführung des Autors zur Genealogie seiner Schlüsseltexte und mit vielen Verweisen auf sekundäre Literatur 19, finden sich beide Schriften inzwischen unter dem Titel La phénoménologie dans tous ses états (2009) vereint. 20 Ansätze zu einer Revision dieser Debatte im deutschsprachigen Kontext bietet u. a. der von Michael Gabel und Hans Joas edierte Band Von der Ursprünglichkeit der Gabe, der auch Texte zur Frage nach der Gegebenheit des Gegebenen enthält, in denen Marion

Unzweifelhaft dann, wenn etwa J.-L. Chrétien eine phénoménologie chrétienne (LP, S. 53) für sich und konfessionelle Sympathisanten reklamiert. (Für wen sonst?) Ist eine solche Wissenschaft nicht genauso ein Ding der Unmöglichkeit wie eine »deutsche Physik« – es sei denn, der fragliche Terminus zeigt nur eine bestimmte ›Perspektive‹ an und soll keine theoretische, exklusive Okkupation signalisieren? 19 Ohne diese Verweise i. E. zu wiederholen, sei besonders auf die Anmerkungen 3–11 und 30 zu Kap. 1 von La phénoménologie éclatée verwiesen (LP, S. 292 ff.). 20 Janicaud nimmt Ricœurs methodologisch ganz und gar akzeptierten Beitrag zum Courtine-Band als einzigen der zuvor von ihm Angegriffenen von seiner Kritik aus, wohingegen er in den Repliken der anderen jede echte Antwort vermisst (LP, S. 27 f., 63, 159 f.). Verwiesen sei auch auf die Einführung zu D. Janicaud, Tournant théologique de la phénoménologie française. Phenomenology and the ›theological turn‹ : the French debate, Fordham 2000, S. 1–15. 18

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wie auch in Étant donné (1997) überwiegend schroff auf Janicaud repliziert. Unbeachtet bleibt allerdings, warum dieser sich dabei kaum ernst genommen fand (LP, S. 163 f.). 21 Im Grunde handelt es sich nach wie vor um eine Nicht-Debatte, die erst auszutragen wäre. Sie dürfte allerdings kaum fruchtbar werden, wenn sie auf dem Niveau pauschaler Vorwürfe – etwa einer als Häresie oder als illegitimer Abweg eingestuften Kehre – verharrte und deren Kritik darauf beschränkte, »Abweichler« auszuschließen oder auf den richtigen Weg der Phänomenologie zurückzuführen, von der man doch frühzeitig behauptet hat, es gebe sie, Husserl zum Trotz, gar nicht in der Einzahl, sondern nur als in sich vielfältige und Anderen gegenüber aufgeschlossene »Bewegung«, die solches Parteidenken gar nicht nötig haben dürfte. Janicaud hat einen von ihm selbst als »imperial« eingestuften Anspruch ›der‹ Phänomenologie allerdings gar nicht im Sinn. Er weiß sehr wohl, dass es auch sogenannte Neue Phänomenologien (neben anderen) nur im Plural gibt; darunter nicht wenige, die sich gegenseitig ignorieren, um einen fragwürdigen Alleinvertretungsanspruch für eine Disziplin zu erheben, die sich einst durch ihren für alle vorbehalt- und bedingungslos an menschlicher Erfahrung Interessierte offenen Charakter hatte auszeichnen sollen. 22 Angehörigen sesshafter Ethnien nicht unähnlich, scharen sich ungeachtet dessen loyale Schüler gelegentlich wie um Herdfeuer, die Fremden wenig einladend erscheinen. Doch weit mehr als derart Menschliches, Allzumenschliches steht auf dem Spiel, wenn Janicauds durchaus maßvoll vorgetragene Polemik zutreffen sollte, dass diejenigen, die das Erbe jener neuen Ersten Philosophie angetreten zu haben behaupten, deren methodologische Universalität dadurch verraten, dass sie sie – womöglich unerkannt und insofern auf höchst ideologieverdächtige Art und Weise – auf exklusive religiöse, theologische oder konfessionelle Grundlagen stellen. Um diesen Verrat, nicht etwa um die Legitimität religiöser Erfahrung oder Inspiration (LP, S. 28) und um deren theologische Deutung an sich, drehte sich im Kern Janicauds Sorge. J.-L. Marion, »Sättigung als Banalität«, in: M. Gabel, H. Joas (Hg.), Von der Ursprünglichkeit der Gabe. Jean-Luc Marions Phänomenologie der Gabe in der Diskussion, Freiburg i. Br., München 2007, S. 96–139, hier: S. 107, 110, 120, sowie in dem Beitrag »Eine andere ›Erste Philosophie‹ und die Frage der Gegebenheit«, ebd., S. 56– 77, hier: S. 70. 22 Vgl. M. Merleau-Ponty, »Möglichkeit der Philosophie«, in: ders., Vorlesungen I, Berlin 1973, S. 110–117, hier: S. 114. 21

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Verspielt man auf diese Weise nicht den zentralen Anspruch dieser Philosophie auf den Titel einer möglichst unvoreingenommenen universalen Wissenschaft von der menschlichen Erfahrung sowie von den Bedingungen ihrer Möglichkeit und Unmöglichkeit? Ob das dazu führen wird oder bereits dazu geführt hat, dass sich eine phénoménologie éclatée niemals mehr von dieser zerstrittenen Lage erholen kann und dass sie im Verhältnis zu Husserl und/oder Heidegger nicht nur unwiderruflich ins Zeitalter ihrer Epigonalität, sondern auch ihrer Zerstreuung und Provinzialität eintritt, bleibe dahingestellt. Ebenso bleibe dahingestellt, ob die rhetorische Figur der »Kehre« (tournant, turn; LP, S. 29) mit Recht das Bild einer illegitimen Abkehr, eines Irrwegs, einer mit Ricœur ironischerweise als häretisch (also als Abfall von einem wahren, doxisch verfestigen Glauben) einzustufenden Abwendung oder – als vrai tournant (LP, S. 274) – im Gegenteil das Bild einer Rückwendung (retournement) zur Immanenz der Erfahrung suggeriert. Auf jeden Fall ist die Metapher der Kehre keineswegs unverfänglich, wenn sie eine einfache ›Zurück-‹ oder, alternativ, eine einfache ›Vorwärts‹-Bewegung nahelegt, so als hätte man zwischen einer überkommenen Theologie einerseits und einer von ihr endgültig befreiten, säkularisierten Phänomenologie andererseits zu wählen. 23 Steht einer derart simplifizierten Alternative nicht schon der von Janicaud durchaus in Rechnung gestellte Befund entgegen, dass theologisches und phänomenologisches Denken an einer Sprachlichkeit Anteil hat, deren Geschichtlichkeit sich dessen Vertreter weder jeweils für sich reklamieren und vereinnahmen noch auch technisch neutralisieren können?

3.

Ein methodologischer Atheismus

Dennoch: Von einer solchen »wahren« Rückwendung scheint sich Janicaud tatsächlich eine weitgehende Befreiung von der Last theologischer Hypotheken zu versprechen, die in seinen Augen den Sinn des phänomenologischen Projekts zu ruinieren drohen. Diese Hypotheken, auf die anfangs vor allem Karl Löwith aufmerksam gemacht

Dass man darüber längst hinaus ist, zeigt H. de Vries in Philosophy and the Turn to Religion, Baltimore, London 1999, wo Janicaud allerdings ebenfalls als Verursacher von Simplifikationen abgetan wird (S. xi f.).

23

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hat 24, gehen speziell im Fall Heideggers 25 gewiss weit über eine an sich unstrittige Zuständigkeit phänomenologischer Arbeit für alle, also auch religiöse Erfahrungen unterschiedlichster Art hinaus, deren »reale« Geltung kraft der phänomenologischen Reduktion genauso suspendiert 26 bleibt wie im Fall der Erfahrung des Wahnhaften, des Imaginären und des Fiktiven. Für Janicaud steht denn auch nicht die religiöse Erfahrung (gleich welcher Couleur) auf dem Spiel, wenn er den Vorwurf einer »Theologisierung« der Phänomenologie erhebt. Vielmehr glaubt er, dass bei Henry, Levinas und Marion die Phänomenologie selbst zu einer Art Kryptotheologie wird und insofern als jene universale Wissenschaft geradezu aufhört zu existieren. Auf dem Spiel steht insofern in der Tat eine Wende, Krümmung oder Verbiegung phänomenologischer Arbeit in eine falsche Richtung, die ihr Ende bedeuten könnte oder schon eingeläutet hat, ohne dass es die Betreffenden recht realisiert hätten. Wo genau setzt dieser Vorwurf nun aber an? Und ist er von systematischer Tragweite auch für diejenigen, die für Streitigkeiten in mehr oder weniger isolierten Provinzen diverser Neuer Phänomenologien keinerlei Interesse aufbringen müssen und es den Wissenssoziologen überlassen können, deren quasi-ethnische Prozesse zum Vorschein zu bringen? Am besten lässt sich jene Frage mit Bezug auf die von Marion 27 systematisch neu entfaltete Diskussion um die Frage herausarbeiten, K. Löwith, »Phänomenologische Ontologie und protestantische Theologie«, in: O. Pöggeler (Hg.), Heidegger: Perspektiven zur Deutung seines Werkes, Königstein/ Ts. 1984, S. 54–77. 25 M. Jung, »Heidegger und die Theologie. Konstellationen zwischen Vereinnahmung und Distanz«, in: D. Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch, Stuttgart, Weimar 2003, S. 474–481. 26 Was auch immer wir erfahren (mag es auch ›irreal‹, ›geträumt‹, ›fiktiv‹, ›imaginär‹ sein), es lässt sich im Wie seiner subjektiven Gegebenheit, darin also, wie es sich als subjektiv Vermeintes zeigt, erforschen. Dabei glauben sich Phänomenologen – anders als Mircea Eliade etwa in seinen Rekonstruktionen der »Sehnsucht nach dem Ursprung«, die der Wahrheit »existenzieller Situationen« des In-der-Welt-seins nachgehen – jeglicher Stellungnahme zur Geltung des Vermeinten enthalten zu können (und enthalten zu müssen). Insofern können sie sich auch für religiöse Erfahrung aufgeschlossen erweisen. Auch das vermeintlich Offenbarte soll im Wie seiner Gegebenheit als Vermeintes herausgearbeitet werden, so wie auch der Glaube an jemanden oder an etwas. Vgl. M. Eliade, Die Sehnsucht nach dem Ursprung. Von den Quellen der Humanität, Frankfurt/M. 1976, S. 27. 27 J.-L. Marion, »Reduktive ›Gegen-Methode‹ und Faltung der Gegebenheit«, in: Gabel, Joas (Hg.), Von der Ursprünglichkeit der Gabe, S. 37–55; ders., »Eine andere ›Erste Philosophie‹ und die Frage der Gegebenheit«, ebd., S. 56–77, hier: S. 66, 73. 24

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inwiefern das Sich-Zeigen dessen, was sich laut Husserl in seiner Gegebenheit »selbst gibt«, eigentlich als »gegeben« zu verstehen ist. Anders als Husserl will Marion das Sich-Zeigen konsequent als ein Sich-Geben bzw. als eine Gebung (donation) deuten. Das Erscheinende als das Gegebene soll sich als Spur einer Gebung zeigen, der es sich verdankt. Ein kleiner, aber entscheidender Schritt führt von hier aus zu der Annahme, genau diese Gebung offenbare sich als Gabe, die sich vermittels des Erscheinens als eines Sich-Gebens herausstellen soll. So deutet Marion aber das Sich-Zeigen als ein Geben, das er phänomenologisch nur zum Vorschein zu bringen meint, ohne den fraglichen Phänomenen oder dem eigentlichen Sinn ihres Erscheinens dabei Gewalt anzutun. Und er glaubt nur phänomenologische Deskription zu betreiben, wenn er feststellt, das Sich-Zeigende erlege sich uns als Gegebenes auf. Für alles Gegebene soll gelten, dass es sich als Sich-Zeigendes und Gegebenes »mir aufdrängt, mich vorlädt und mich bestimmt« – »weil ich nicht sein Urheber bin«. »Das Gegebensein (la donnée) verdient seinen Namen, da es mich vor vollendete Tatsachen stellt, es stößt mir zu. Darin unterscheidet es sich von jedem berechneten, synthetisierten und konstituierten Objekt, da es als ein Ereignis geschieht. Diese unvorhergesehene Ankunft kennzeichnet es als Gegebensein (donnée) und bezeugt in ihm die Gegebenheit (donation).« 28 Janicaud hält den terminologischen Kurzschluss zwischen der in Anlehnung an Heideggers Ereignisbegriff 29 gedeuteten Selbstgebung einerseits und dem Begriff der Gabe andererseits, der höchst missverständliche sozialanthropologische Assoziationen weckt und im aktuellen, an Marcel Mauss anschließenden Gabe-Diskurs bereits für erhebliche Verwirrung gesorgt hat 30, für systematisch ebenso irreEbd., S. 72. Aber kann das, was uns widerfährt, allein aufgrund seines Widerfahrnischarakters auch schon als ›vollendete Tatsache‹ gelten? 29 Was Janicaud ebenfalls für irreführend hält (LP, S. 209). 30 Vgl. den obigen Exkurs sowie den Rundbrief Nr. 35 (2010) der Abt. Religionsphilosophie und Vergleichende Religionswissenschaft, Universität Dresden, den Schwerpunkt »Gabediskurse« in: Theologie der Gegenwart 55 (2012), Nr. 1, sowie die Ausgabe 2013 des Journals für Religionsphilosophie; Vf., »Zum Dank – oder nicht? Phänomenologische Überlegungen zur ›Ökonomie‹ der Gabe in intergenerationeller Hinsicht. Ausgehend von Jean-Luc Marion, Lewis Hyde und Jacques Derrida«, in: ebd., S. 26–40. Es ist ein wichtiges Desiderat, die Kontamination des von Mauss ausgehenden Gabe-Diskurses mit einer Phänomenologie der Selbstgebung (donation) à la Marion im Lichte von Janicauds methodologischer Kritik zu revidieren. Vgl. die Diskussion zwischen Derrida und Marion »On the gift«, in: J. D. Caputo, M. J. Scan28

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führend wie die Behauptung einer Art Autorität, mit der sich uns das Gegebene angeblich »auferlegt«. Muss sich eine Phänomenologie, die sich ihrer hermeneutischen Dimension bewusst bleibt, einem Hineininterpretieren des Gabecharakters in die Phänomenalität als solche nicht widersetzen? Und kann der allgemeine Sinn der Phänomenalität speziell aus gesättigten (saturés) Phänomenen herausgelesen werden, die sich dadurch auszeichnen, dass sie einen sprachlich uneinholbaren Überschuss an Anschauungsgehalt aufweisen? Wird darin tatsächlich »die Wahrheit aller Phänomenalität« deutlich, wie Marion behauptet? 31 Und folgt aus dieser »Wahrheit« wirklich der Sinn unseres Antwortens auf sie, insofern wir uns nachträglich, d. h. ihr gegenüber immer schon zu spät kommend, als »vorgeladen« und durch sie ›bestimmt‹ erfahren? Zu was eigentlich? Wird die Referenz auf dieses hochproblematische ›Wir‹ nicht konterkariert von der unverhohlenen Bezugnahme auf kontingente religiöse Gedankenfiguren, die uns als bloße Empfänger erscheinen lassen? Und das womöglich im Sinne eines imperativischen Bestimmtwerdens durch den Sinn einer unverfügbar vor-gegebenen Gabe (wie es bei Levinas ausdrücklich der Fall ist, bei dem sich die Gabe und der Befehl, ihr verantwortlich gerecht zu werden, kaum noch unterscheiden lassen)? Kann man sich an diese Gedankenfiguren anlehnen, ohne im gleichen Zug jenes ›Wir‹, auf das sich eine universale Wissenschaft von der Erfahrung beziehen sollte, zu durchkreuzen bzw. unmöglich zu machen? Janicauds Kritik jener fragwürdigen Kehre zwingt in der Tat dazu, diese Fragen mit der gebotenen Nüchternheit aufzuwerfen. In dieser Hinsicht steht er nicht allein. Janicaud ist sich mit Kant und Ricœur der Frage nach den Grenzen bewusst, in denen der Andere in Erscheinung treten kann. 32 Ricœur gibt darüber hinaus zu bedenken, ob das immer wieder (besonders von Levinas) bemühte Antwortverhältnis, in dem wir zum Anspruch des Anderen stehen, überhaupt unabhängig von den zutiefst religiös imprägnierten, kontingenten Traditionen zu beschreilon (eds.), God, the Gift and Postmodernism, Bloomington, Indianapolis 1999, S. 54– 78. 31 Marion, Étant donné, S. 317. Auch im Verständnis jener Saturiertheit folgt Janicaud Marion nicht. 32 Vf., »Die Frage nach dem Anderen zwischen Ethik und Politik der Differenz: eine vorläufige Bilanz. Kant, Ricœur und Levinas im Horizont sozialontologischen Denkens«, in: Phänomenologische Forschungen II (2005), S. 193–220; P. Ricœur, »Sur la phénoménologie«, Esprit 21 (1953), S. 821–839; vgl. LP, S. 275.

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ben ist, an deren Sprache man sich nicht selten unerkannt anlehnt. 33 Symbolisiert am Ende jedes Gesicht einen »Berg Sinai«? 34 Gehen die Kompetenzen der Phänomenologie so weit, dies als etwas aufweisen zu können, was sich (ohne hermeneutisches Zutun) zeigt? Oder haben alle diejenigen, die sich erklärtermaßen mit Husserl, Heidegger, Marion und selbst Levinas einem »methodologischen Atheismus« 35 verpflichteten, die ihnen insofern obliegende Neutralität bereits verletzt, wenn sie der Spur des Anderen bis in ein Jenseits-des-Erscheinens hinein nachgehen, in dem sie die Quelle des Anspruchs des Anderen glauben derart identifizieren zu können? Führen die methodischen Wege der Phänomenologie wirklich bis in dieses Jenseits oder allemal nur bis dorthin, wo sich ein letztlich fremd bleibender Überschuss über das Erfahrene hinaus ankündigt? Am Ende von Soi-même comme un autre (10. Abhandlung) weigert sich Ricœur selbst, über dieses Jenseits Genaueres auszusagen. Aber er scheint sich unter dem Eindruck der Ethik von Levinas doch dem Gedanken genähert zu haben, dass es womöglich der Erfahrung selbst zuzutrauen ist, auf die Spur eines Jenseits des Erscheinens zu führen, von dem her gerade die ethische Bedeutung der Existenz des Anderen einleuchten soll. 36 Deshalb spricht Levinas von der »Erfahrung des Anderen« als der »Erfahrung par excellence«. 37 Wenn diese am Ende einen »Bruch mit der Phänomenologie« verlangt, wie Derrida mit Blick auf Levinas zu bedenken gibt, geraten wir dann an unüberwindliche Grenzen allen Zeigens und Sich-Zeigens? 38 Oder bleibt die ethisch motivierte Kritik der Phänomenologie bis zuletzt dem Erscheinen treu – paradoxerweise also gerade bis zu dem Punkt, Das gibt Ricœur zu bedenken in »Phänomenologie der Religion«, in: P. Ricœur, An den Grenzen der Hermeneutik, Freiburg i. Br., München 2008, S. 85–94, hier: S. 89. 34 P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 404. Siehe Kap. V, 2. 35 E. Husserl, Ideen I [= Husserliana III/1], Den Haag 1976, S. 124 f.; M. Heidegger, Gesamtausgabe Bd. 26, Frankfurt/M. 1978, S. 177, 211. 36 Skeptisch dagegen beurteilt Ricœur diesen Ansatz in »Religion, Atheism, and Faith«, in: A. MacIntyre, P. Ricœur, The Religious Significance of Atheism, New York, London 1969, S. 59–98, hier: S. 71; vgl. zur Kritik des Spurbegriffs auch B. H. F. Taureck, Metaphern und Gleichnisse in der Philosophie. Versuch einer kritischen Ikonologie der Philosophie, Frankfurt/M. 2004, S. 208, 215 f., 222 f. 37 So scheint Levinas in der Tat die spätere Frage Courtines (in der Einführung zu Phénoménologie et théologie [1992]) zu bejahen, ob es eine spezifische Form der Phänomenalität, des Erscheinens oder einer Epiphanie gibt, die den Sinn des ganzen phänomenologischen Unternehmens, dessen Ziele und Methoden im Kern betrifft. 38 J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1976, S. 169, 232. 33

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IX · Atheismus und religio

wo das Erscheinen sich gewissermaßen selbst durchstreicht, um auf das zu verweisen, was nicht erscheint? 39 Wenn in diesem Sinne eine »indirekte« oder »negative« Phänomenologie (LP, S. 100 f., 269) dessen möglich sein sollte, was als Nicht-Phänomenales das Erscheinen selbst affiziert, so muss sie allerdings darauf verzichten, dieses ›Andere‹ direkt zur Sprache bringen zu wollen. Janicaud ist seinerseits nicht weit entfernt von diesem Gedanken, wo er auf den Spuren Merleau-Pontys wandelt, der in seinem posthum veröffentlichten Spätwerk Le visible et l’invisible gezeigt hatte, wie eine »unwiderrufliche« Form der Abwesenheit »unseren originären Erfahrungen zugerechnet werden müßte«. 40

4.

Religio und religatio unter Verdacht

Für diese Abwesenheit wie auch für den Anspruch des Anderen gilt: Unsere Erfahrung setzt nicht unmittelbar mit ihr bzw. mit ihm ein, sondern ist zur nachträglichen Bezugnahme auf dasjenige verurteilt, was sie zur Antwort herausgefordert hat. Auch Philosophen, die sich wie Levinas vielfach an die Phänomenologie anlehnen, ihr aber letztlich nicht zugetraut haben, über die ›Gabe‹ der Verantwortung, die wir angeblich dem Anspruch des Anderen zu verdanken haben, genügend Auskunft zu geben, sehen sich immer wieder dazu gezwungen, phänomenologisch zu argumentieren, um all jenen, die sich an die Grenzen einer nicht nur im privativen Sinne atheistischen bzw. agnostischen Philosophie 41 halten wollen, verständlich zu machen, was für unsere Erfahrung aus diesem Anspruch folgt. Gerade die Nachträglichkeit der ethischen Antwort, die wir dem Anderen geben (oder verweigern), soll ein vorgängiges Aufgerufensein zur Antwort (und zwar nicht zu irgendeiner Antwort, sondern gerade zu einer verantwortlichen Antwort) bestätigen. Diese Paradoxie bürdet der Phänomenologie einerseits das Bedenken ihrer eigenen Grenzen auf, Vgl. B. Waldenfels, »Erfahrung des Fremden in Husserls Phänomenologie«, in: Phänomenologische Forschungen 22 (1989), S. 39–62, hier: S. 49. 40 M. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, S. 208; vgl. LP, S. 51, 53, 63, 223, 269, wo Janicaud nur eine invisibilité absolu abwehrt, nicht aber einen Überschuss an Unsichtbarem über das jeweils Sichtbare hinaus. 41 Zweifellos möchte Janicaud sowohl eine privativ (á-theos) gedachte Methodologie als auch eine Negation Gottes im Sinne eines athéisme dogmatique überwinden bzw. solche Positionen suspendieren (LP, S. 176 ff.). 39

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was uns hier auf eine in der phänomenologischen Gegenwart nicht einholbare Exteriorität des Anderen verweist; andererseits aber verlangt sie uns gerade einen disziplinierten Rekurs auf die konkreten Antworten ab, die wir geben oder zu geben versäumen (bzw. verweigern). 42 Durchaus in diesem Sinne verlangt Janicaud, sich wieder auf Husserls Maßgabe zu besinnen, das Erscheinende als solches zur Sprache zu bringen – und zwar in den Grenzen, in denen es sich gibt. Das schließt nicht aus, dass man auf eine Nicht-Phänomenalität im Erscheinen, die es von innen unterhöhlt, sowie auf eine Trans- oder Hyperphänomenalität stößt, die über es hinausgeht 43 Wohl aber hält es Janicaud für phänomenologisch unakzeptabel, von einer hypostasierten und angeblich reinen Exteriorität des Anderen auszugehen (LP, S. 68 f., 73). Seinen Gegnern wirft er vor, die Methoden der phänomenologischen Reduktion zu verraten, sich nicht an die (wie auch immer transzendierte) Immanenz des Erscheinenden zu halten und infolgedessen die Grenzen einer phänomenologischen Wissenschaftlichkeit zu überschreiten, die nur als atheistische (à la Sartre und Merleau-Ponty; LP, S. 42, 144 44) auch ihrem eigenen universalen Anspruch gerecht werden könne, mit dem ihre Zugänglichkeit und potenzielle Nachvollziehbarkeit für jedermann gewährleistet sein sollte. Auf den ersten Blick steht das aber nicht dem Versuch entgegen, auch ein Begehren nach dem Anderen oder Trauer um dessen bereits ein-

An dieser Stelle muss sich die Phänomenologie der konkreten historischen Erfahrung und den Zeugnissen aussetzen, in denen sie sich bezeugt findet. Das wird zu wenig beachtet, wo man unbestreitbaren Affinitäten zu Traditionen Negativer Theologie nachgeht. D. Westerkamp, Via negativa. Sprache und Methode der negativen Theologie, München 2006. 43 Vgl. R. Bernet, »Differenz und Anwesenheit. Derridas und Husserls Phänomenologie der Sprache, der Zeit, der Geschichte, der wissenschaftlichen Rationalität«, in: Phänomenologische Forschungen 18 (1986), S. 51–112; M. Richir, »Der Sinn der Phänomenologie in ›Das Sichtbare und das Unsichtbare‹«, in: A. Métraux, B. Waldenfels (Hg.), Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken, München 1986, S. 86–110, hier: S. 95 f.; J. Patočka, Die Bewegung der menschlichen Existenz, Stuttgart 1991, S. 177 f.; B. Waldenfels, Einführung in die Phänomenologie, München 1992, S. 19 ff., 58, 63, 73; ders., Hyperphänomene, Berlin 2012. 44 An dieser Stelle sollte man sich allerdings vor simplifizierenden Einstufungen hüten. Selbst Sartre hat in seiner Diskussion des Hasses ausdrücklich angemerkt, »die Möglichkeit einer Moral der Befreiung und des Heils« sei nicht auszuschließen (Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek 1993, S. 719). 42

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getretenen Verlust 45 phänomenologisch aufzuklären und zu untersuchen, ob sich die (nicht von vornherein hypostasierte) Anderheit des Anderen nicht dem kognitiven und praktischen Zugriff der Erfahrung entzieht; und zwar auch in den Modalitäten der Antizipation und der Erinnerung. Genau so hatte Levinas zunächst von der »Spur des Anderen« gesprochen. 46 Doch ist nicht von der Hand zu weisen, dass er den Anderen gelegentlich geradezu mit Gott zu identifizieren scheint, woraufhin Janicaud den Vorwurf erhebt, so schlage eine Negative Phänomenologie in die Metaphysik einer fragwürdigen »phänomenologischen Theologie« um (LP, S. 22 f., 53 f.). Aber hat Levinas nicht stets betont, dass »das Religiöse stets verdächtig« bleiben muss 47 und dass es philosophisch niemals über den Status eines höchst prekären und rückhaltlos der Anfechtbarkeit ausgesetzten Deutungsvorschlags hinaus gelangen kann und darf, der die Erfahrung im Sinne einer in ihr selbst aufweisbaren religio oder religatio an den Anderen deutet, ohne den Anderen aber als ›absolut Anderen‹ zu identifizieren? 48 Man kann mit Fug und Recht bestreiten, dass sich Levinas selbst immer daran gehalten hat. 49 Aber muss man mit Janicaud schon in der Rede von einem solchen Begehren einen Verrat an der Phänomenologie wittern? Muss man es ihr untersagen, diesem ›Phänomen‹ als solchem nachzugehen? Bevormundet Janicaud auf diese Weise nicht den Auftrag der Phänomenologie, der menschlichen Erfahrung in ihrer ganzen Breite und Tiefe gerecht zu werden? Und überschätzt er nicht die phänomenologische Methode der Reduktion, wenn er Ob sich dieser Verlust in eine quasi geschichtsphilosophische Perspektive einschreiben lässt, wie es scheinbar Jean-Luc Nancy und in anderer Weise auch Gianni Vattimo getan haben, bleibe dahingestellt; vgl. G. Vattimo, Jenseits der Interpretation. Die Bedeutung der Hermeneutik für die Philosophie, Frankfurt/M. 1997; J.-L. Nancy, S. Benvenuto, »Entzug der Göttlichkeit. Eine dialogische Spurensuche«, in: Lettre International 59 (2002), S. 76–80; G. Vattimo, Glauben – Philosophieren, Stuttgart 1997; J.-L. Nancy, Die Anbetung. Dekonstruktion des Christentums 2, Zürich 2012. 46 E. Levinas, Verletzlichkeit und Frieden, Berlin, Zürich 2007, S. 177, 181 f., 190, 195; H. Putnam, »Levinas and Judaism«, in: S. Critchley, R. Bernasconi (Hg.), The Cambridge Companion to Levinas, Cambridge 2002, S. 33–62. 47 Siehe Anm. 93 zu Kap. VIII. 48 E. Levinas, »Ein Brief Jean Wahl betreffend«, in: Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte, S. 89; C. Rößner, Anders als Sein und Zeit, Nordhausen 2012, S. 83. 49 Denunziert er nicht ein ›atheistisches Sehen‹ ? Levinas, Verletzlichkeit und Frieden, S. 116. 45

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glauben macht, sich konsequent an sie zu halten, verbürge schon Wissenschaftlichkeit im Sinne einer konsequent atheistischen Methodologie? Kann die Phänomenologie nicht Strukturen einer religio oder religatio an den Anspruch des Anderen herausarbeiten, ohne sie im Geringsten als religiös im konventionellen Sinne des Wortes oder gar theologisch zu affirmieren? 50 Letzteres wäre in der Tat mit der Methode der Reduktion als der Suspendierung jeglicher »Seinsgeltung« des Erfahrenen unvereinbar. Ob es das ›gibt‹, worauf sich unsere Erfahrung gerade an ihren inneren und äußeren Grenzen bezieht (oder von woher sie sich nachträglich in Anspruch genommen realisiert), steht allemal dahin. So kann die Phänomenologie aufklären helfen, inwiefern unsere Erfahrung sich – vom ästhetisch Sublimen (Jean-François Lyotard) bis hin zum desaströsen Schrecken (Maurice Blanchot 51) – auch durch dasjenige affizierbar und traumatisierbar erweist, was niemals ganz im Erfahrenen aufzugehen verspricht. 52 Aber sie kann nicht direkt im Nicht-, Trans- oder Hyperphänomenalen Fuß fassen und affirmieren, gerade von einem Jenseits des Erfahrenen her seien wir etwa dazu berufen oder aufgerufen, ihm gerecht zu werden (weil es sich uns angeblich »auferlegt«, wie Marion schreibt). Genau das aber scheint vor allem Levinas gemeint zu haben, wo er den buchstäblich unfassbaren Anspruch des Anderen im Modus des Vokativs zur Sprache bringt. Keineswegs redete er ja nur mit Merleau-Ponty einem Überschuss der Erfahrung über das Erfahrene hinaus das Wort; vielmehr war er in seinen Analysen des Vokativs 50 Vgl. E. Reinmuth (Hg.), Subjekt werden. Neutestamentliche Perspektiven und politische Theorie, Berlin, Boston 2013; E. Feil, Religio, Bd. I: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs vom Frühchristentum bis zur Reformation, Göttingen 1986. Entscheidend ist, dass es sich nicht einfach um eine Rückbindung an den Anderen handelt, sondern um einen Rückbezug auf dessen Anspruch, der als Anspruch an Andere und auf etwas (etwa als Recht) niemals eindeutig dem Anspruchsereignis selbst zu entnehmen sein wird. Hier knüpfen Klärungsversuche der politischen Dimension des Anspruchs des Anderen an. Vgl. die entsprechenden Beiträge in U. Bröckling, R. Feustel (Hg.), Das Politische denken. Zeitgenössische Positionen, Bielefeld 2010. 51 J.-L. Nancy, »Das Neutrale, die Neutralisierung des Neutralen«, in: M. Blanchot, Das Neutrale. Schriften und Fragmente zur Philosophie, Berlin 2010, S. 7–13, hier: S. 11; M. Gutjahr, M. Jarmer (Hg.), Von Ähnlichkeit zu Ähnlichkeit. Maurice Blanchot und die Leidenschaft des Bildes, Wien 2016. 52 In diesem Sinne, meine ich, spricht sich Janicaud auch gegen eine »Noematisierung« der Phänomenologie aus; vgl. LP, S. 124.

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einem Exzess des Guten auf der Spur, das uns als für den Anderen Verantwortliche instituiere. Aber auch Levinas wusste, wie sehr genau dieses Verantwortlich-sein-vom-Anderen-her durch die historische Erfahrung und speziell durch die Zeugnisse ärgster Verbrechen angefochten wird. So sah er schließlich keinen anderen Ausweg, als sich einer Sprache der Bezeugung zu bedienen, aus der für ihn hervorging, dass wir für den Anderen, für jeden Anderen als Anderen, als Fremden und angesichts seiner irreduziblen Singularität – verantwortlich sind, auch wenn darin eine eminent gewaltsame Überforderung liegen sollte. Dabei bezweifelte er nachdrücklich, ob die in der griechischen Antike Husserl zufolge »urgestiftete« Vernunft, in deren Geschichte sich Janicaud noch mit seiner großen Arbeit Hegel et le destin de la grêce (1975) ohne Wenn und Aber eingeschrieben hatte 53, überhaupt dazu in der Lage ist, diese Verantwortlichkeit zum Vorschein zu bringen. Bereits in seinem ersten Hauptwerk 54 hatte Levinas behauptet, bei Hegel gebe es keinen Anderen, der seinen Namen verdient (TU, S. 40 f.). Hegel kenne nur eine unpersönliche Vernunft, die ein Spiel des Selben treibe und auf keinen Anruf des Anderen höre (TU, S. 77, 121); und er wisse nur um ein der Vernunft beraubtes Draußen, aber nicht um ein Außen der Vernunft selbst, das sich noch sagen und denken ließe. So sei auch der Andere nicht thematisierbar; aber die Rückkehr zu ihm, der in unaufhebbarer Trennung verbleibe, sei gerade der Sinn menschlicher Erfahrung (TU, S. 145). Auf diese Weise bringt Levinas von Descartes her eine im europäischen Logos dialektisch nicht fassbare, scheinbar nach einer anderen Idiomatik verlangende Unendlichkeit absoluter Differenz des Anderen zur Sprache, die sich in der Sozialität, speziell im Ausdruck des Anderen ereigne (TU, S. 282, 315) und sich in ihm als zu bejahender unendlicher Überschuss über alle Erfahrung hinaus erweise, die wir vom Anderen haben können. So ist der Sinn unseres Verhältnisses zum Anderen – ohne gemeinsame Gattung (TU, S. 277 f., 310) – nicht Wissen und Repräsentation, sondern – das ist Janicaud nicht entgangen (LP, S. 240) – Empfang und Aufnahme, kurz: Gastlichkeit in unserer mehr oder weniger schutzlosen Gegenwart. 55 Dieser »biblisch«, Vgl. in LP S. 119, 122 f., wo Janicaud das phänomenologische Sehen-lassen (faire voire) mit dem »logos au sens grec« kurzschließt. 54 Zit. nach der dt. Ausgabe Totalität und Unendlichkeit, Freiburg i. Br., München 1987 (= TU). 55 Zum »Empfang« (accueil) der Exteriorität des Anderen in der menschlichen Sensibilität LP, S. 70, sowie zum »désabritement de la présence« ebd., S. 57. Auch der frühe 53

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originär vom Judentum bezeugte, im okzidentalen Denken noch immer beherbergte, aber in ihm niemals aufgehende Sinn stifte auch das Worumwillen der Sprache (vgl. LP, S. 79).

5.

Das Scheitern einer passion du dehors

Im Wissen um die rigorose Kritik, die dieser Ansatz frühzeitig durch Derrida erfahren hat, hat Levinas seine Hegel-Kritik später, in Autrement qu’être ou au-delà de l’essence (1974) erneuert, ohne dass man sagen könnte, die Aussicht, dass sich jewgreek und greekjew (James Joyce) und womöglich noch andere Idiome des Denkens treffen könnten, habe sich unzweifelhaft bewahrheitet. 56 Janicaud scheint die an dieser Stelle zu führende Auseinandersetzung keineswegs ganz und gar umgehen zu wollen, wenn er die von ihm gebrandmarkten theologischen Häretiker zur Ordnung eines Erscheinungsbegriffs und eines phänomenalen Logos ruft, der dem Sehen und dem Licht jegliche – scheinbar nur dialektisch denkbare (LP, S. 77, 80) – Rationalität der Erfahrung vorbehält. Denn er ist sich der Kritik, die das okulare Regime dieser Rationalität von hermeneutischer Seite erfahren hat, durchaus bewusst (LP, S. 236). Ohne überkommene Grenzen zwischen Verteidigern des Sehens und des Lichts vermeintlich autonomer Vernunft einerseits und Apologeten des Hörens auf eine angeblich befehlende Stimme des Anderen andererseits zu ziehen, kann man an dieser Stelle eine unvermindert aktuelle Herausforderung erkennen, die sich nicht durch eine auf eindeutige Grenzziehungen abzielende philosophische FlurbereiRicœur war (was Janicaud, der sich mehrfach an ihn anlehnt, nicht bemerkt) von einer Phänomenologie der Aufmerksamkeit her auf diesen Gedanken gestoßen, wo er in Le volontaire et l’involontaire (Paris 1950, S. 147) einen »accueil de l’autre en tant qu’autre« zur Sprache brachte. Im Spätwerk Wege der Anerkennung (Frankfurt/M. 2006, S. 91) ist – darauf wurde im vorangegangenen Kapitel VIII (Anm. 65) bereits hingewiesen – in diesem Sinne von der »Gnade der Alterität« und in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen (München 2004, S. 590) von einer Alteritätskomponente die Rede, die das Selbst vor dem Kurzschluss mit sich selbst bewahre; und zwar nach Maßgabe einer Rezeptivität (Kant) oder vielmehr einer passiven Sensibilität (Levinas), die es uns unmöglich macht, uns als autonome oder souveräne Wesen zu ›setzen‹. 56 Vgl. Levinas, Jenseits des Seins, S. 137 f., 204, 210; B. Keintzel, B. Liebsch (Hg.), Hegel und Levinas. Kreuzungen – Brüche – Überschreitungen, Freiburg i. Br., München 2010.

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nigung aus der Welt schaffen lässt. 57 Das Hören nimmt nicht ohne weiteres die Form eines Hörens-auf an, das in eine neue oder alte Hörigkeit angesichts der Exteriorität eines ganz Anderen umschlagen müsste. Gerade das kann eine Sozial-Phänomenologie des Hörens zeigen. Andererseits würde diese sich in ganz unnötiger Art und Weise selbst beschränken, würde sie sich weigern, allen bezeugten Manifestationen eines Anspruchs oder Anrufs Beachtung zu schenken, auf den wir (wie par excellence im Hören) unvermeidlich nur nachträglich Bezug nehmen können. Der Rekurs auf solche Manifestationen erspart uns allerdings nicht die kritische Beurteilung oder Approbation dessen, was hier als Anspruch oder Anruf bezeugt wird. Und zu diesem Zweck muss die Phänomenologie in der Tat die sprachliche, nicht zuletzt tief in religiösen Überlieferungen verwurzelte Artikulation des Anspruchs des Anderen dekontextualisieren, um ihn für sich genommen zu erforschen – auch auf die von Alasdair MacIntyre diagnostizierte ›Gefahr‹ hin, sich an »religious vocabulary emptied of belief-content« 58 nur anzulehnen und über die Erkundung eines sei es abwesenden, sei es kognitiv und praktisch nicht fassbaren Anderen nicht wesentlich hinaus zu gelangen. 59 Liegt in der Bedachtsamkeit dieser Anlehnung, statt einer Gefahr, nicht auch die einzigartige Liberalität phänomenologischer Methoden, die verlangen, sich des Urteils darüber zu enthalten, ob es diesen Anderen mit seinem rätselhaften Anspruch in der Tat ›gibt‹ – und zwar in der Form einer Gabe des Seins oder der Verantwortung – oder ob die Entscheidung dieser Frage unerheblich wird, wie es Giorgio Agamben glauben macht? Kommen wir in dieser Hinsicht mit einem »Tun als ob« aus, das sich kaum noch von einem »Tun als ob nicht« unterscheiden lässt? 60 Janicaud haben wir zweifellos eine wichtige Anregung zur ReviLetzteres ist allerdings Janicaud nicht einfach zu unterstellen, zumal er sich für eine »pluralistische« Phänomenologie ausspricht, die für die Grenzen des Erscheinens aufgeschlossen sein soll (LP, S. 32, 36). 58 A. MacIntyre, »The Debate about God: Victorian Relevance and Contemporary Irrelevance«, in: ders., P. Ricœur, The Religious Significance of Atheism, S. 1–56, hier: S. 43, 53. 59 Ob sich unter diesen Bedingungen die schon bei H. Cohen festzustellende Tendenz vollenden kann, die Überlieferung Negativer Theologie in einem ethischen »Denken des Anderen« bzw. des Nächsten und des Fremden aufzulösen oder aufzuheben, bleibe dahingestellt (vgl. Westerkamp, Via negativa, S. 191, 224; TU, S. 295, 309, 434, 444). 60 G. Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt/M. 2006, S. 47 ff.; vgl. die Einführung der Herausgeber Caputo und Scanlon in: God, the Gift and Postmodernism, S. 1–15, hier: S. 15. 57

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sion der Frage zu verdanken, inwieweit eine methodologisch möglichst unvoreingenommene Philosophie einer passion du dehors (LP, S. 171) nachgeben kann, von der sich das französische Denken von Georges Bataille und Maurice Blanchot über Michel Foucault bis hin zu Jacques Derrida fasziniert zeigt. Ernst zu nehmen ist sein Einwand, Phänomenologen dürften nicht unter Berufung auf ein angebliches Sich-Zeigen kaschieren, was man in gewisse Phänomene so hineindeutet, dass die Phänomenologie selbst als eine für fremdes Denken gastlich aufgeschlossene Disziplin in ihr Gegenteil verkehrt zu werden droht. Das bedeutet aber nicht, dass man nun im Gegenzug ohne jegliche Passion dieser Art auskommen müsste und sich mit Mikel Dufrenne auf die Freude eines ungetrübten Zur-Welt-seins zu beschränken hätte (LP, 173). Schließlich stößt die von Janicaud selbst eingeforderte, methodologisch ernüchterte Phänomenologie selbst wieder auf eine pathische Dimension menschlichen Lebens (LP, S. 114, 272), für die wir uns nicht nur als glücklich in der Welt Seiende ›ästhetisch‹ interessieren, sondern auch als vom Anderen Inspirierte und zugleich zutiefst Erschütterte – ohne Verlass darauf, ob es je eine Wissenschaft aus und von der Erfahrung wird geben können, die davon Zeugnis angemessen abzulegen vermöchte. Ob sich die konstruktiven Vorschläge Janicauds zu einer pluralistischen, primär deskriptiven, aber auch explikativen Erforschung von Invarianten menschlicher Erfahrung in dieser Hinsicht als tragfähig erweisen werden 61, wird sich zeigen müssen. Er selbst blieb offenbar skeptisch und zog, scheinbar auf Foucault anspielend, einen Abschied vom Willen zum Wissen in Betracht (LP, S. 265). Aber scheitert letzterer ggf. nur an jenen Sachen, zu denen Husserl »zurück« wollte und die dem Willen zum Wissen nach wie vor hartnäckig entzogen bleiben? 62 Einige von Janicauds Kontrahenten und auch Ricœur, den er wiederholt als verlässlichen Gewährsmann eines kritischen Umgangs mit jenem Begehren nach dem Anderen zitiert, waren anderer Auffassung: Am Anderen, dessen In-Erscheinung-treten sich niemals auf eine solche ›Sache‹ reduzieren lässt, scheitert der Zugriff des Wissens, der Vorstellung, der Repräsentation. 63 Weit entVgl. LP, S. 191, 227, 229, 254, 256 f. Zum »retrait des choses« in diesem Sinne vgl. LP, S. 266; zum Scheitern an jenen »Sachen« H. Blumenberg, Zu den Sachen und zurück, Frankfurt/M. 2007. 63 Bei Levinas mündet diese Einsicht in eine Ethik des Sagens (dire), die das Gesagte (le dit) überbordet. Siehe dazu das Kapitel VII in diesem Band. Es erstaunt nicht wenig, wie sehr sich Janicaud selbst in seinen Vorschlägen zu einer phénoménologie 61 62

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fernt davon, sich in einer bloßen Polemik zu erschöpfen, konvergieren m. E. beide Auffassungen in der Frage, ob es sich nicht um ein gutes Scheitern handelt, das ein entfesseltes Wissen davor bewahren könnte, am eigenen Erfolg zugrunde zu gehen. Dieser Frage gehen die nachfolgenden Kapitel des Teils C denn auch nach: Setzt uns der Andere in seiner Alterität Widerstand so entgegen, dass wir nur in einem ›guten‹ Sinne von ›Scheitern‹ sprechen können? Diese Frage wird zunächst auf das leibliche Selbst (Kap. X), sodann auf die Sprache (Kap. XI), auf die Macht (Kap. XII) und auf das Medium der Interpretation (Kap. XIII) zu beziehen sein, an dem nicht vorbeizukommen ist, wenn man der Alterität des Anderen ›zur Geltung verhelfen‹ will – unvermeidlich auf die Gefahr hin, sie der Sprache, der Macht und der Interpretation dabei widerstandslos auszuliefern. Eben diese Gefahr wird, den ersten Band dieses Projekts abschließend, mit Blick auf die sprachliche und politische Macht von Interpretationen untersucht, die sich des Anderen als eines technisch zu Reproduzierenden bemächtigen (Kap. XIV). So kann, in mehreren hermeneutisch-politischen Schritten über Levinas hinausgehend, deutlich werden, wie die Rede vom Anderen einer Interpretationsmacht ausgesetzt ist, gegen die sie sich selbst behaupten muss, soll sie nicht die Alterität sprachlich liquidieren, der sie nach dem bis hierher entfalteten Verständnis doch verpflichtet sein müsste.

minimaliste einem solchen Denken ›überschüssigen‹, aber keineswegs ›überflüssigen‹ Sagens nähert (LP, S. 262–273).

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Teil C Der Widerstand des Anderen

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Kapitel X Das leibliche Selbst und der Widerstand des Anderen Das Subjekt ist […] endlich und unfrei […] durch den niemals ganz beseitigten Widerstand der Objekte. Georg W. F. Hegel 1 Von keinem Widerstande beschränkt, […] fühlten [wir] uns und andre nicht. Sich aber nicht zu fühlen, ist der Tod. Friedrich Hölderlin 2

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Vom Leben zum menschlichen Leib

Mit dem Widerfahrnis von Widerstand hängt engstens zusammen, was wir als leibliches Leben erfahren und warum es uns als solches fraglich wird. Würde leibliches Leben ungestört bzw. widerstandslos verlebt, so hätte es kaum je Anlass dazu, sich als Leben zu befragen. Jedoch ist die Erfahrung von Widerstand dafür nur eine notwendige, nicht hinreichende Bedingung. In der Auslieferung an schmerzhaften Widerstand schwindet jeder Spielraum, in dem sich das Leben als Leben fraglich werden könnte. Durch immer neue Überwindung von Widerständen gedeiht leibliches Leben, das Xavier Bichat in seinen Recherches physiologiques sur la vie et la mort (1800) geradezu durch das »Ensemble der Funktionen« definierte, »die dem Tod widerstehen«. 3 So beweist es sich seine Kraft. Selbst ein nur durch ständige Überwindung von Widerständen erarbeitetes und erkämpftes Leben kann – ob als normales oder intensiv sich verausgabendes, als ge-

Zit. n. M. Riedel, Theorie und Praxis im Denken Hegels [1960], Frankfurt/M., Berlin, Wien 1976, S. 41. 2 F. Hölderlin, Werke, Tübingen, Reutlingen, Stuttgart o. J., S. 605. 3 X. Bichat, Recherches physiologiques sur la vie et la mort, Paris 1800; zum Kontext vgl. J. Starobinski, Aktion und Reaktion. Leben und Abenteuer eines Begriffspaares, Frankfurt/M. 2003, S. 124 f. 1

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sundes oder exzessiv gesteigertes, als gutes oder glückliches – sich selbst genügen, solange sich ihm kein hemmender oder auch einschneidender Widerstand in den Weg stellt, der sich nicht einfach durch mit neuer Kraft sich anstrengendes oder gesteigertes Leben (im Sinne der Intensität, der Gesundheit, des Guten oder des Glücks) überwinden oder aus dem Weg schaffen lässt. Wo das nicht gelingt, schlägt die im Widerstand erfahrene Störung des Lebens sehr leicht in Verstörung um, vor allem dann, wenn sie nicht mehr abzuwenden ist und irreversibel bleibt wie eine Läsion, eine Wunde oder eine Verletzung, die nicht mehr heilen wird. In diesem Falle keimt aus dem verletzten Leben (wenn es nicht ganz und gar im Schmerz aufgeht und auf diese Weise jeglichen Spielraum einbüßt) ein ganz anderes Staunen als dasjenige, auf das sich die Philosophie traditionell als Quelle der theoría beruft (taumázein). In Anlehnung an Georges Canguilhem 4 könnte man von einem »vitalen« oder pathischen Staunen sprechen, das sich, wie er meint, zunächst in der Angst, dann aber auch in der befremdlichen Frage äußert, warum uns bar jeglicher Rechtfertigung in einer irrationalen Kontingenz geschieht, was uns verstört, verletzt, verwundet und uns so einen Vorgeschmack von einem rückhaltlosen Ausgesetztsein gibt, in dem schließlich der Tod triumphiert. Leibliches Leben kann aufgrund seiner rückhaltlosen Verletzbarkeit durch ihm Widerfahrendes jederzeit in eine solche Fraglichkeit stürzen, die es nicht durch mit neuer Kraft angestrengtes oder gesteigertes Leben auszugleichen vermag und die sogar das Leben als Leben in Frage stellt. Verdient es diesen Titel überhaupt, wenn es sich im ständigen Streben nach schierer Intensität, Gesundheit, Glück oder nach dem Guten als im Prinzip jederzeit derart verletzbar und verwundbar erweist, oder verdient den Namen Leben in Wahrheit erst, was nicht länger derart rückhaltlos affizierbar zu sein verspricht (wie ein Leben nach dem Tod, mit dem die Philosophie seit Platon spekuliert)? In radikaler Fraglichkeit des Lebens als Leben steht auf dem Spiel, was es als Leben eigentlich ausmacht und wie (bzw. in welchem Sinne) es gedeiht, verkümmert oder zerstört zu werden droht. Alle diese Fragen sind durch ein anonym sich vollziehendes (genetisch reproduktives und evolutionäres) Geschehen, das weit vor

4 G. Canguilhem, Das Normale und das Pathologische [11943/21966], München 1974, S. 65.

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Vom Leben zum menschlichen Leib

der Geburt des Einzelnen seinen Ursprung hat und weit nach seinem Tod zum Ende kommen wird, in keiner Weise vorentschieden. Zwar hat der Begriff des Lebens, das als ein solches Geschehen gedacht wird, nicht zuletzt durch eine äußerst einflussreiche Gruppe von sog. life sciences heutzutage Hochkonjunktur, doch können wir uns bei dem Versuch, zu bestimmen, was Leben diesseits des Todes eigentlich ausmacht, weniger denn je auf diese Wissenschaften stützen, in die der Begriff des Lebens sozusagen ausgewandert scheint, wie bereits Canguilhem feststellte. Folgen wir diesen Wissenschaften, allen voran der Biologie, so findet Leben da statt, »wo Evolution möglich ist«, die sich im heute vorherrschenden Verständnis bekanntlich auf eine reproduktionsfähige DNS sowie auf die Mechanismen genetischer Variation und Selektion stützt. 5 Das Leben, von dem in diesem Sinne die Rede ist, vollzieht sich anonym durch die Lebewesen hindurch – zu welchem Zweck auch immer. Es nimmt weder auf die Geburt oder auf den Tod des Einzelnen noch auf das langfristige Überleben einer Art oder Gattung Rücksicht. Aus dem Tod der Lebewesen schlägt es gerade Kapital, um sich, scheinbar zwecklos, über ihn hinweg fortzusetzen. Dieses Leben nun bezeichnet Canguilhem als geradezu »entvitalisiertes Leben«. 6 So gesehen gewinnt man auf dem Weg von der naiven LebensErfahrung zu den Wissenschaften vom Leben, die es zu erkennen versprechen, nicht nur etwas, sondern verliert gerade die Vitalität des Lebens aus dem Blick, wie Canguilhem andeutet. Haben wir nicht allen Grund, uns an die »vitalen Fragen« zu erinnern, die schließlich überhaupt erst auf die Spur dieser Wissenschaften geführt haben? 7 5 Vgl. G. Canguilhem, Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie, Frankfurt/M. 1979, S. 149; E. Mayr, Eine neue Philosophie der Biologie, München, Zürich 1991. 6 Canguilhem, Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie, S. 153. Um es sich erklärbar zu machen und um sich eine Wissenschaft des Lebens zu verdienen, müsse der Mensch die »naiven Objekte seines vitalen Fragens« vielfach verfremden (heißt es hier) und einen Begriff des Lebens konstruieren, dessen Schicksale eine historische Epistemologie nachzeichnen kann, die dezidiert auf die Ambitionen einer Phänomenologie verzichtet, die glauben macht, dieser Begriff sei heute noch auf die naive Erfahrung des Lebens zu gründen; vgl. G. Canguilhem, »Tod des Menschen oder Ende des Cogito?«, in: M. Marques (Hg.), Der Tod des Menschen im Denken des Lebens, Tübingen 1988, S. 17–51. 7 Davon war Canguilhem tatsächlich überzeugt, wie u. a. seine Überlegungen zu den Grenzen der Rationalität sog. Wissenschaften vom Leben wie der Biologie, mehr noch aber der Medizin hinreichend zeigen (G. Canguilhem, Grenzen medizinischer Rationalität, Tübingen 1989). Diese Überlegungen bringen mit Nachdruck ein leibhaftiges

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X · Das leibliche Selbst und der Widerstand des Anderen

Bringen uns Wissenschaften, die diese Fragen vergessen lassen, geradezu um ein Verständnis der Vitalität unseres Lebens, seiner Störungen und Verletzungen? Müssen sie auf diese Quellen der Fraglichkeit des Lebens als Leben nicht ihrerseits zurückkommen, wenn sie sich nicht auf bloß intellektuelle, kostspielige Abenteuer reduzieren sollen? Die u. a. von Canguilhem angeregte Rückbesinnung auf »vitale Fragen« leibhaftigen Lebens, das sich als Leben selbst befragt, zwingt so gesehen auf das zwischen Geburt und Tod sich vollziehende Leben zurückzukommen, das sich stets als schon geboren und noch lebend (zwischen anderen) vorfindet. Während Geburt und Tod in der Geschichte des Lebens allenfalls insofern in Betracht kommen, als es gerade aus der Fruchtbarkeit und Sterblichkeit der lebenden Wesen Kapital schlägt, verweist die Geburt auf den vorgängigen, gastlichen oder ungastlichen Empfang im Leben Anderer, der Tod auf das Scheiden aus dem Leben unter und mit ihnen. So gesehen kann von leibhaftigem Leben nur als einem ›zwischenzeitlichen‹ die Rede sein, das sich geschichtlich mit dem Leben Anderer verflochten weiß, die früher oder später leb(t)en. In ihm brechen originär jene Fragen danach auf, was menschliches Leben als Leben eigentlich ausmacht. Das ist auch in Ricœurs Schriften von seiner frühen Theorie des Willentlichen und des Unwillentlichen bis hin zu seinem Spätwerk Gedächtnis, Geschichte, Vergessen ein maßgeblicher Ansatzpunkt für eine Philosophie der Leiblichkeit, die zwar nirgends als solche im Zentrum der Aufmerksamkeit dieses Philosophen steht, die aber sein Denken immer wieder als ein Desiderat beschäftigt hat, das er auch in der für ihn maßgeblichsten Schrift zur Philosophie der Leiblichkeit, in Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung, noch nicht eingelöst gesehen hat. Im Folgenden werde ich mich allerdings weniger mit Ricœurs Abgrenzung von Merleau-Ponty 8 als vielmehr mit Leben wieder zur Sprache, von dem in den Wissenschaften, die sich dieses Begriffs bemächtigt haben, allenfalls noch indirekt die Rede ist. – Während man vom Leben in den sog. life sciences allgemein ohne weiteres gemäß objektiver Kriterien reden kann, die (bis auf Grenzfälle) auf jedes Lebewesen zutreffen, hebt die Rede von leibhaftigem Leben auf die im gelebten Leben selber erfahrene Vitalität ab. Lebend erfährt sich dieses Leben als mehr oder weniger (gesund, gut, glücklich, intensiv) lebend, ohne normalerweise Grund zu der Frage zu haben, was das Leben als Leben eigentlich ausmacht. Erst dann hat es wie gesagt Grund, danach eigens zu fragen, wenn es in seinem Leben gestört, verstört und mit der Möglichkeit seiner Zerstörung konfrontiert wird. 8 Vgl. dazu Vf., »Zeit, Lebensgeschichte und Narrativität. Ricœur und Merleau-Pontys

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Vom Leben zum menschlichen Leib

Kernpunkten seines eigenen Ansatzes zu einer solchen Philosophie befassen. Dabei folge ich seinen verschlungenen, in hunderten von Schriften entwickelten Denkwegen nicht in erster Linie chronologisch, sondern in der Absicht, im Sinne einer Art Bilanz die für Ricœur durchgängig wichtigsten Hauptprobleme 9 herauszupräparieren, die ich thesenartig zuspitze (2.). Diese Probleme konzentrieren sich auf die Vorstellung einer leibhaftigen, irdischen Subjektivität, die sich vor allem im Widerstand, den sie an sich selbst, durch die Dinge und durch Andere erfährt, als endliche zu realisieren gezwungen ist. Wie schon in seinem Frühwerk, so rekurriert Ricœur auch in seinem späten Hauptwerk Das Selbst als ein Anderer auf die Philosophie Maine Marie-F.-P. G. de Birans, deren Analyse der Widerstandserfahrung (3.) er als einen Vorgriff auf Heideggers Hermeneutik der Endlichkeit des Daseins interpretiert, die ihrerseits aber energisch im Zeichen einer paradoxerweise dem Selbst eigenen Andersheit revidiert wird, mit der Ricœur die Erfahrung des Widerstands verknüpft sieht (4.); und zwar zunächst im Verhältnis des Selbst zu sich als einem Anderen, dann aber auch im Verhältnis zum Anderen in seiner Fremdheit. Wie sich Ricœur hier mit Levinas auseinandersetzt, führt auf die Frage, (5.) ob der dem Anderen zu verdankende Widerstand nicht ein Verständnis des Selbst sprengt, das in dem, was ihm widersteht, nur negative Hemmnisse, Störungen oder Herausforderungen zu deren Überwindung und zur Bestätigung der (willentlichen) Lebenskraft des Selbst erkennt. Am Ende wird die – bis heute offene – Frage aufgeworfen, ob und wie dieser andere Widerstand als leibhaftig widerfahrender zu denken ist. 10 Phänomenologie der Wahrnehmung«, in: S. Orth, A. Breitling (Hg.), Vor dem Text. Hermeneutik und Phänomenologie im Denken Paul Ricœurs, Berlin 2002, S. 45–70. 9 Wenn ich hier von ›durchgängig‹ wichtigsten Problemen spreche, so möchte ich damit nicht unterstellen, Ricœur habe sie in seinen frühen, mittleren und späten Schriften unverändert aufgeworfen. Das gilt schon für den im Spätwerk zentralen Begriff des Selbst nicht, den Ricœur ausdrücklich gegen einen allzu sehr in Begriffen der Selbigkeit gefassten »Charakter« abgrenzt, wie er noch in Le volontaire et l’involontaire (Paris 1950; 21967) verwandt worden war. 10 Damit wird genau die Gegenrichtung zu einer kulturkritischen Literatur eingeschlagen, die von der Diagnose ausgeht, in den saturierten Gesellschaften des Westens sei man längst auf dem Weg in eine ›widerstandslose‹ Welt, die ihren Realitätscharakter weitgehend einbüßen müsse, wenn man auch an künstlichen, eigens gesuchten und produzierten Widerständen keinen Anhalt mehr finde. Dass derart auch über jeglichen ethischen Widerstand zu verfügen ist, ist, wie sich zeigen wird, zu bestreiten – von der partiellen Berechtigung jener ganz bewusst ›übertriebenen‹ Kulturkritik

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2.

Ansatzpunkte zu einer Philosophie der Leiblichkeit im Denken Paul Ricœurs

Um eine Philosophie der Leiblichkeit entfalten zu können, die Ricœurs ganzes Werk begleitet, sich aber nirgends bei ihm ausformuliert findet, müsste man viel weiter ausholen, als es hier möglich ist. Ich nenne nur kurz einige Stationen seiner Denkwege, an denen sich besonders prägnante Elemente einer solchen Philosophie finden. (1) An erster Stelle ist die bereits angesprochene, 1950 veröffentlichte Theorie des Willentlichen und des Unwillentlichen zu nennen, wo der Leib als Medium und zugleich als Hindernis eines praktischen cogito in den Blick kommt, das dem Leben Artikulation und Richtung verleihe. Gesucht wird hier nach einem ›inkarnierten‹ (weder bloß objektiven noch transzendental reduzierbaren) Subjekt, das im Leben verwurzelt bzw. situiert zu denken ist, ohne in ihm aufzugehen, insofern es auf Projekte abzielt und sich in Entwürfen realisiert, die sich den eigenen Leib gefügig machen und auf seine Mitwirkung im Sinne einer vorgängigen Gefügigkeit (docilité) angewiesen sind. 11 (2) In Die Fehlbarkeit des Menschen (1960) (dem ersten Teil der Phänomenologie der Schuld) tritt der Leib als Inbegriff einer je-meinigen, in der Welt situierten endlichen »Perspektive« auf, die zugleich jegliche Öffnung auf die Welt hin ermöglicht und eine im Denken angestrebte, ungetrübte Universalität vereitelt; und zwar auf radikale, unüberwindliche Art und Weise. Deshalb ist von der wesentlich dem Leib bzw. der Überantwortung an leibliche Existenz zuzuschreibenden »Fehlbarkeit« die Rede. Bereits in Arbeiten der 50er Jahre rückte der ursprünglich von Gabriel Marcel und Karl Jaspers inspirierte Begriff der leibhaftigen Existenz mehr und mehr an das Dasein im Sinne Heideggers heran 12, doch bleibt diese begriffliche Zuordnung bis ins Spätwerk hinein problematisch. (Darauf wird zurückzukommen sein.) Unter Verweis auf die Einfügung des cogito ins Sein redet Ricœur einer ontologischen Dezentrierung des Subjekts das Wort, welche die sog. kopernikanische Wende im Sinne Kants einmal abgesehen. Vgl. G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956, § 26, S. 199 ff. 11 P. Ricœur, Philosophie de la volonté. Le volontaire et l’involontaire, Paris 1950. 12 Vgl. P. Ricœur, »Le renouvellement du problème de la philosophie chrétienne par les philosophies de l’existence«, in: Le problème de la philosophie chrétienne, Paris 1949, S. 43–67; ders., »L’Humanité de l’homme«, in: Studium Generale 15 (1962), S. 309–323, hier: S. 320, linke Kolumne.

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Ansatzpunkte zu einer Philosophie der Leiblichkeit im Denken Paul Ricœurs

konterkariert. Diese Gedankenfigur greift Ricœur immer wieder auf und suggeriert damit, er habe sich der Heidegger’schen Kritik an einem nicht in der Welt situierten Subjekt konsequent angeschlossen, das sich umwillen seiner eigenen Macht ein »Weltbild« bzw. eine umfassende Repräsentation des Seienden fabriziere. 13 (3) Das Dasein, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht, wird schließlich mit Spinozas conatus essendi kurzgeschlossen, aber so, dass es im Streben nach Sein nicht etwa darum geht, sich bloß zu erhalten, sondern darum, im vollen Sinne da zu sein. 14 So wird das Dasein bzw. das, was zuvor als leibliche Existenz charakterisiert worden ist, zum Medium eines Begehrens, das sich im zwischenzeitlichen, sterblichen Leben niemals befriedigen lässt. Das erklärt die eschatologische Perspektive der Hermeneutik des Freud-Buchs Die Interpretation (1965). (4) Was den Leib angeht, so zeigt sich hier die schon in den frühen Kommentaren Ricœurs zu Merleau-Ponty deutlich spürbare Skepsis gegenüber einer die Leiblichkeit primär von der Wahrnehmung her denkenden Philosophie. Ricœur besteht auf der Sagbarkeit alles Erfahrenen und misstraut der »stummen Finsternis« des Leibes. Er besteht des weiteren auf der hermeneutischen Kompetenz, jegliche noch so ›tief‹ in einer unbewussten Leiblichkeit verborgene Signifikanz des Gelebten (vecu) explizit zum Vorschein zu bringen. So trägt in seiner mittleren Schaffensphase eine expressive Vernunft 15 den Sieg davon, die bis in die 1970er Jahre hinein unverkennbar von einer Hegel’schen Theorie des Sagens und Gesagten geprägt bleibt (und von deren rigoroser Kritik, die sie bei Levinas erfahren hat, noch nichts ahnen lässt). 16 Wie auch immer der Leib von einer Kraft des Begehrens unbewusst bestimmt wird, die Signifikanz dieses leiblich realisierten Begehrens bleibt für Ricœur grundsätzlich sagbar und lässt ihn darauf hoffen, dass der Lebenszusammenhang eines leiblichen Selbst narrativ zum Vorschein zu bringen ist. M. Heidegger, Holzwege, Frankfurt/M. 61980, S. 73–93. P. Ricœur, »Zum Grundproblem der Gegenwartsphilosophie. Die Philosophie des Nichts und die Ur-Bejahung«, in: R. Wisser (Hg.), Sinn und Sein, Tübingen 1960, S. 47–65. 15 Hier liegen Bezüge zur aktuellen Diskussion um die unter diesem Titel firmierenden, die Phänomenologie der Leiblichkeit aber ignorierenden Philosophie Robert Brandoms und zum Paradox des Ausdrucks bei Merleau-Ponty nahe. 16 P. Ricœur, »Objektivierung und Entfremdung in der geschichtlichen Erfahrung«, in: Philosophisches Jahrbuch 84 (1977), S. 1–12. 13 14

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(5) Erstaunlicherweise verliert sich die Spur der in den 1960er Jahren zentralen Begriffe wie Kraft und Begehren weitgehend in der späteren Theorie der Narrativität sowie im Spätwerk, das vor allem durch Das Selbst als ein Anderer (frz. 1990/dt. 1996) Gedächtnis, Geschichte, Vergessen (frz. 2000/dt. 2004) und durch Wege der Anerkennung (2006) repräsentiert wird. Allerdings zeigt sich Ricœur im zuletzt genannten Buch nach wie vor der ontologischen Hermeneutik des In-der-Welt-seins (und somit der bereits angesprochenen Revision von Kants kopernikanischer Revolution) verpflichtet, gibt ihr aber mit Bezug auf Levinas’ 1959 zuerst veröffentlichte Schrift Der Untergang der Vorstellung 17 nun eine ganz andere Wende. Levinas wird mit den Worten zitiert, »die Philosophie des eigenen Leibes läßt die intentionale Bewegung hin auf das Vorgestellte in allen impliziten – nicht vorgestellten – Horizonten der leiblichen Existenz wurzeln«. 18 Diese Bemerkung geht in ihrer Tragweite erheblich über die Heidegger’sche Kritik des »Weltbildes« hinaus (in die sie sich hier gleichwohl auf den ersten Blick einzufügen scheint). Am Horizont dieser Horizonte, wenn man so sagen darf, zeichnet sich nämlich die eigentümliche, nicht zu vergegenwärtigende Präsenz des Anderen ab, die jegliche Philosophie der Leiblichkeit radikal zu überfordern droht. Während Merleau-Ponty einer Offenheit des Leibes für alles Wahrnehmbare das Wort geredet hatte, setzt Levinas eine Verwundbarkeit des leibhaftigen Subjekts dagegen, die es gerade für die Anderheit des Anderen dort sensibilisiert, wo seine ›Aufgeschlossenheit‹ nicht hinreicht (und die gerade nicht davon abhängen soll, ob sich das fragliche Subjekt aus freien Stücken dazu bereit findet, sich als für den Anderen aufgeschlossen zu erweisen). Nur weil diese Sensibilität nicht in der Offenheit eines für die Welt aufgeschlossenen corps-sujet (Subjekt-Leib 19) aufgeht, steht dieses in Verbindung mit dem Anderen als (radikal) Anderem. Wir erfahren in Wege der Anerkennung zwar einiges darüber, wie sich Ricœur eine Anerkennung des Anderen vorstellt, der sich dem Anerkennenden letztlich in einer radikalen Alterität entzieht; doch bleibt gerade die leibhaftige Dimension dieser Anerkennung

In: E. Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg i. Br., München 21987, Kap. 4. 18 P. Ricœur, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt/M. 2006, S. 83, 86. 19 Vgl. M. Merleau-Ponty, Vorlesungen I, Berlin 1973, S. 98. 17

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und dieses Entzugs rätselhaft. Und an den Begriff der Sensibilität, der in Levinas’ zweitem Hauptwerk, Jenseits des Seins (1974), von zentraler Bedeutung ist, knüpft Ricœur hier gar nicht an. (6) In Gedächtnis, Geschichte, Vergessen bekennt sich Ricœur wiederum zum Vokabular einer ontologischen Hermeneutik, die mittels gewisser Existenzialien angeben können sollte, wie ein leibhaftiges Dasein »auf den Schauplätzen der Welt auftaucht« und wie es sich dort von Ansprüchen affizierbar erweist, die ihm nicht zur Disposition stehen. 20 Nach wie vor hält Ricœur an der in Sein und Zeit begründeten Unterscheidung des Existenzialen vom Existenziellen fest, obgleich er die außerordentliche Schwierigkeit sieht, hier eine eindeutige Grenze zu ziehen. Wie soll man etwa eine existenzielle, sei es persönliche, sei es gemeinschaftliche Empfänglichkeit für geschichtliche Ansprüche Anderer von einer leiblichen Affizierbarkeit unterscheiden, die als Existenzial geschichtlichen Lebens einzustufen wäre? Ricœur spricht mit Bedacht von einer conditio historica, die auf eine direkte Ontologie geschichtlicher Existenz verzichtet, weil er sich in dieser Frage keine unanfechtbare Antwort zutraut. Wie und inwieweit leibliches geschichtliches Leben (bzw. Dasein) für die Ansprüche Anderer aufgeschlossen ist oder sein muss (auch unwillentlich), das ist nur aus ihrerseits erst hermeneutisch zu rekonstruierenden Bedingungen geschichtlicher Existenz zu ersehen. Gerade deren leibliche Dimensionen vermisst Ricœur bei Heidegger. Er findet das »Existenzial des Leibes« verborgen bzw. verschüttet in den Meditationen über Geburt und Tod, das Zwischen und die Geschichtlichkeit, in der das Dasein sich als zu verstehendes entfaltet. Doch verlange es nach einer Überwindung des »logischen Abgrunds zwischen den Existenzialien, die sich um die Sorge als Kern drehen, und den Kategorien, unter denen die Seinsweisen der bloß vorhandenen und zuhandenen Dinge aufgegliedert werden« (GGV, S. 533). 21 In der Tat gibt jene Zweideutigkeit leiblichen Lebens, das ›geführt‹ und entworfen wird, während es zugleich ohne unser Zutun abläuft, einen unübersehbaren Hinweis in diese Richtung. Etwas derart Zweideutiges, das gelebt wird und sich zugleich durch uns, aber

P. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004, S. 533 (= GGV). Ricœur spricht gelegentlich von einem Existenzial, aber auch von einer »Kategorie« des Leibes; vgl. seinen Aufsatz »Philosophieren nach Kierkegaard«, in: M. Theunissen, W. Greve (Hg.), Materialien zur Philosophie Sören Kierkegaards, Frankfurt/ M. 1979, S. 579–596.

20 21

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ohne eigenes Zutun, vollzieht, ohne dass wir hier je eine eindeutige Grenze zu ziehen vermöchten, kann niemals bloß vorhanden oder zuhanden sein für uns (obgleich der Leib auch als Körper zu traktieren und bio-technisch manipulierbar ist). Im Zeichen der Sorge mag das leibliche Leben bewusst verlebt und geführt werden; aber auch als unbesorgtes bzw. sorgloses geht es voran und kommt zu Tode. So gesehen kümmert es sich nicht um die Sorge; und die Sorge kann am ›Ablauf‹ des Lebens nichts ändern. Das Existenzial des Vorlaufens zum je-meinigen Tod lässt Ricœur so wenig wie vor ihm Sartre und Levinas unverändert gelten. Mit Spinoza gibt er zu bedenken, ob nicht »der freie Mensch […] an nichts weniger [denkt] als an den Tod« (GGV, S. 549). Heidegger hätte das für durchaus vereinbar gehalten mit seiner Beschreibung des Existenzials der Sorge, das doch unterschiedliche existenzielle Haltungen zum eigenen Tod und zum Tod Anderer keineswegs ausschließen sollte. Ricœur aber scheint die Trennbarkeit zwischen existenzieller und existenzialer Hermeneutik selber grundsätzlich in Zweifel ziehen zu wollen und stellt in Aussicht, dass sich die in Sein und Zeit durchgeführten Analysen möglicherweise revidiert wiederholen ließen; und zwar so, dass man der Gebürtigkeit mit Hannah Arendt gegenüber dem Sein zum Tode Vorrang einräumt (GGV, S. 577). »Nirgendwo vielleicht wird das Fehlen einer Reflexion über den Leib lebendiger spürbar, die es erlaubt hätte, die Gebürtigkeit als Bedingung des Bereits-da-Seins und nicht nur als Ereignis der Geburt in falscher Symmetrie zu dem noch nicht fälligen Ereignis des Todes auszuweisen« (ebd.). 22 Würde man diese Reflexion im Sinne Ricœurs umsetzen wollen, so wären die folgenden Eckpunkte seiner Hermeneutik des Selbst dabei zu berücksichtigen: (1) Von einem leiblichen Selbst und seinem Lebenszusammenhang wissen wir durch Selbst-Bezeugung und Narrativität. In beiden Hinsichten zeigt sich, um wen es sich handelt. Das Selbst ist die Antwort auf die Frage, wer es ist. (2) Die praktisch bezeugte oder narrativ gegebene Antwort auf diese Frage stiftet oder rekapituliert einen Lebenszusammenhang, der

Zu bestimmen, welche Konsequenzen von einem entsprechend neuen Ansatz für die Klärung der Begriffe Genealogie, Abstammung und Überlieferung zu erwarten sind, bleibt vorläufig ein Desiderat (vgl. GGV, S. 584, 608, 626).

22

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sich am leibhaftigen Selbst auch abspielt. 23 So überkreuzt sich die Wer-Frage mit der Frage, was unter dem Leib so gesehen vorzustellen ist. Diese Überkreuzung hat Ricœur als ein Chiasma von Selbstheit (ipséité) und Selbigkeit (mêmeté) zu denken versucht, um verständlich zu machen, wie das Selbst an der Selbigkeit des Leibes teilhaftig und wie umgekehrt der Leib als inkarnierte Wirklichkeit eines Selbst zu verstehen ist, ohne sich in der Selbigkeit eines Körpers zu erschöpfen. (3) Das leibliche, ungefragt in die Welt gesetzte Selbst existiert zwischenzeitlich, so aber, dass es das Zwischen als Spielraum seines eigenen Lebens selbst konstituiert. (4) Der Lebenszusammenhang geht auf natürliche Weise aus dem Leben Anderer hervor, artikuliert sich aber erst in späterer geschichtlicher Anknüpfung an ihr Leben. Aus der Natur steigt jemand, ein personales Wesen, auf und »bewohnt« die Natur (wie MerleauPonty schreibt 24), um wieder in sie zurückzufallen. Zwischenzeitlich wird ein Leben gelebt, das zugleich abläuft und sich als solches in historische Horizonte anonymer Zeitgenossenschaft und der Überlieferung einfügt. (5) Eine zeitgemäße Hermeneutik des leiblichen Selbst verlangt nach einer (bis heute nur in Ansätzen entwickelten) Theorie der Generativität. Leibliches Leben wird nicht bloß anonym ›reproduziert‹, sondern setzt das Leben Anderer auf mehr oder weniger weit verzweigten Wegen der Filiation, der Erbschaft, von (teils ökonomischen, teils moralischen) Schuldzusammenhängen und des Versprechens fort. Als überlebendes Leben erweist es sich mannigfaltig verflochten mit dem Leben Anderer, die ihm, sei es als Verwandte, sei es als lediglich Bekannte oder anonyme Zeitgenossen und längst Verstorbene, vorausgegangen sind. Zugleich erweist es sich als sterb-

Der Zweideutigkeit des Lebens, das einerseits in der realen Zeit befristet ist und andererseits seine zwischenzeitlichen Horizonte selbst konstituiert, können wir nach der von Ricœur ausführlich in Zeit und Erzählung entfalteten Theorie der Narrativität nur poetisch Rechnung tragen, indem wir einen Lebenszusammenhang erzählen, von dem wir zugleich voraussetzen, dass er sich am leibhaftigen Leben zuvor abgespielt hat. (Von Ricœurs Theorie dreifacher Mimesis sowie der narrativen Refiguration des gelebten Lebens bzw. eines [prä-]narrativen In-der-Welt-seins sehe ich hier ebenso ganz ab wie vom fragwürdigen Zusammenhang der Theorie der Narrativität mit der späteren Apologie der Selbst-Bezeugung bei Ricœur.) 24 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung [1945], Berlin 1966, S. 488. 23

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lich und muss sich im Vorgriff auf seine Sterblichkeit seinerseits als ein Leben begreifen, das von Anderen überlebt werden wird. Ungeachtet einer Reihe von Arbeiten, die sich dem einen oder anderen Punkt widmen, steht eine Philosophie des leiblichen Selbst, die es in seiner gelebten Geschichtlichkeit (etwa als generatives) differenziert entfalten würde, bis heute aus. 25 Das erklärt zu einem guten Teil, warum man sich nach wie vor primär an die Biologie wendet, um zu erfahren, was es mit dem menschlichen Leben speziell in generativer Hinsicht auf sich hat. Doch für die Biologie gibt es nur das anonyme Sterben wie auch ein namenloses Zur-Welt-kommen im Verlauf eines unaufhörlichen Reproduktionsgeschäfts (GGV, S. 550), in dem wir unsere vitalen Fragen (um Canguilhems Formulierung noch einmal aufzugreifen) nicht wiedererkennen, selbst wenn wir die Lektionen der Biologie verinnerlichen und uns selbst bloß als Lebewesen verstehen. Zur Welt kommen, heißt das aber nicht, als Sohn oder Tochter dieser oder jener leiblichen, Pflege- oder Adoptiveltern mehr oder weniger gastliche Aufnahme zu finden? Wird eine solche Welt, die uns überhaupt erst das Überleben ermöglicht, nicht sozial originär gestiftet bzw. buchstäblich eingeräumt? Dabei kommt es nicht notwendig auf sog. leibliche, allemal auf eine legal fiction (James Joyce) gegründete Verwandtschaft derer an, die in einer geteilten Lebensform Nachkommen nicht nur das Überleben sichern, sondern womöglich auch Bedingungen eines guten Lebens bieten. Und der Horizont der Welt, die sozial gestiftet wird, kann sich schließlich weit über die Nächsten hinaus erstrecken – in Verflechtungen von Generationen, die synchron weit in eine anonyme Zeitgenossenschaft und diachron bis tief in vielfach verzweigte VorGeschichten weisen. 26 Wäre es einer hermeneutischen Ontologie unwürdig, zu erforschen, wie diese Horizonte leibhaftig im Leben des Einzelnen präsent sein können? Und verdankt sich die Sachlichkeit einer Biologie, die von geschichtlichen Filiationen, Erbschaften und Schuldzusammenhängen rein gar nichts weiß, nicht einer artifiziellen Reduktion menschlicher Generativität auf schiere Reproduktionsvorgänge (und deren evolutionäre Konsequenzen), von denen aus man mühsam zu rekonstruieren versucht, wie ein leibliches Leben aus der Natur auftauchen, geschichtliche Form annehmen und schließlich wieder zu Materie zerfallen kann? 25 26

Vgl. aber Anm. 86 zu Kap. XIV. Vgl. P. Ricœur, Zeit und Erzählung III, München 1991, S. 173 ff.

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Ansatzpunkte zu einer Philosophie der Leiblichkeit im Denken Paul Ricœurs

In Frankreich stand diese schon in den Vorlesungen MerleauPontys an der Sorbonne (1949–1952) und am Collège de France (1956–1960) nahezu allgegenwärtige Frage 27 der Biologie nie so fern wie diesseits des Rheins die Erforschung der Existenzialien einer Wissenschaft vom Menschen und vom Leben. Ungeachtet der bis heute vor allem mit den Namen Kurt Goldstein und Helmuth Plessner verbundenen Brückenschläge zwischen diesen Wissenschaften 28 waren die bekannten Abgrenzungen Heideggers von der Anthropologie und Biologie höchst folgenreich, wohingegen vor allem Goldstein bei Aron Gurwitsch, Maurice Merleau-Ponty und auch bei Georges Canguilhem starke Beachtung fand; vielfach in Verbindung mit Rückgriffen auf Henri Bergson und Affinitäten zur deutschsprachigen romantischen Biologie und Psychologie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die sich zu der Zeit, als Ricœur an seinem ersten Hauptwerk (Le volontaire et l’involontaire) arbeitete, breiter Resonanz erfreuten. 29 Das Gleiche gilt für die nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkt einsetzende Hegel-Rezeption, die die Frage nach der Möglichkeit einer dialektischen Biologie provozierte. 30 Statt aber in dieser Richtung danach zu suchen, was die von Canguilhem so genannte »ontologische Originalität« des Lebens ausmachen könnte, ließ sich Ricœur, abgesehen von Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung (und spärlichen Hinweisen auf dessen posthumes Werk Das Sichtbare und das Unsichtbare) von den existenziellen Analysen der Leiblichkeit bei Gabriel Marcel leiten, auf dessen Werk er immer wieder zurückgekommen ist. 31 Bis zum Vgl. M. Merleau-Ponty, Keime der Vernunft, Vorlesungen an der Sorbonne 1949– 1952, München 1994; ders., Die Natur. Vorlesungen am Collège de France, München 2000, S. 76, 86, 94. 28 Vgl. T. Ebke, Lebendiges Wissen des Lebens. Zur Verschränkung von Plessners Philosophischer Anthropologie und Canguilhems Historischer Epistemologie, Berlin 2012, sowie die Rezension d. Vf. in: Phänomenologische Forschungen 2014 (2015), S. 309–318. 29 G. Canguilhem, »Note sur la situation faite en France à la philosophie biologique«, in: Revue de Métaphysique et de Morale 52, no. 3/4 (1947), S. 322–332; M. Klein, »Sur les resonances de la philosophie de la nature en biologie moderne et contemporaine«, in: Revue Philosophique 144 (1954), S. 514–543. 30 G. Canguilhem, »Hegel en France«, in: Revue d’histoire et de philosophie religieuses 28–30 (1948–50), S. 282–297. 31 Vgl. bes. P. Ricœur, G. Marcel, Entretiens, Paris 1968; P. Ricœur, »Entre Gabriel Marcel et Jean Wahl«, in: E. Levinas, X. Tiliette, P. Ricœur, Jean Wahl et Gabriel Marcel, Paris 1976, S. 57–87. Im Übrigen ist Le Volontaire et l’involontaire bereits Gabriel Marcel gewidmet. 27

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X · Das leibliche Selbst und der Widerstand des Anderen

Schluss gilt ihm Marcel (neben Michel Henry und Merleau-Ponty) als Kronzeuge einer intimen, leiblichen Passivität, die in Das Selbst als ein Anderer schließlich zum ersten Paradigma der dem Selbst innewohnenden Andersheit aufrückt. Das Verdienst, den deutlichsten Hinweis auf diese Andersheit geliefert und damit überhaupt erst die philosophische Arbeit am ›eigenen Leib‹ (corps propre) angebahnt zu haben, schreibt Ricœur allerdings einem anderen zu: Maine de Biran nämlich.

3.

Maine de Biran

Bis heute bekannt ist Maine de Biran für seine Analyse der Erfahrung der Anstrengung (sensation d’effort 32) bzw. des Widerstands, der sich menschlicher Anstrengung entgegenstellt. Durch Wilhelm Dilthey ist diese Analyse in den Kontext des sog. Realitätsproblems, d. h. der epistemischen Frage gestellt worden, wie es zum Glauben an die Realität der Außenwelt kommt. 33 Ricœur dagegen erkennt im Werk Maine de Birans weit mehr, nämlich den Keim der Heidegger’schen Ontologie der Befindlichkeit. 34 Es lohnt sich, die entscheidende Anmerkung, die auf diese Spur führt, ausführlich zu zitieren: »In gewissem Sinne kann Heideggers Theorie der Befindlichkeit als Krönung des Biranschen Unternehmens interpretiert werden. Die Analytik des Daseins wendet sich von vornherein dem zu, was für Maine de Biran am Rand der Analyse der Anstrengung blieb, nämlich der Anerkennung der äußeren Existenz als einen Widerstand der Dinge in der Erfahrung der aktiven Berührung. In der Tat mußte man bei Maine de Biran zunächst durch die Beziehung von Anstrengung und Widerstand hindurch, ehe man sozusagen am Rande der Erfahrung des dem wollenden Ich immanenten tätigen Körpers die Tastprobe der Realität machen konnte. Dadurch daß er das Existenzial des ›In-der-Welt-Seins‹ zum Rahmen der gesamten Analyse macht, eröffnet Heidegger den Weg zu einer Ontologie des Leibes, in der Vgl. kritisch zu diesem Begriff vor allem J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts, Reinbek 1993, S. 540 f., 574 ff. 33 Vgl. W. Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. V, Göttingen 1922 ff., S. 90–135; sowie M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos [1927], München 1947, S. 18 f., 54; G. Scholtz, Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt/M. 1995, S. 241. 34 Vgl. Ricœur, Le Volontaire et l’involontaire, S. 323. 32

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Maine de Biran

dieser sich nicht nur als Inkarnation des ›Ich bin‹ zu denken gäbe, sondern als praktische Vermittlung des In-der-Welt-Seins, das wir alle je neu sind. Diese Verbindung von Leib und Welt würde es erlauben, die eigentlichen passiven Modalitäten unserer Begierden und Stimmungen als Zeichen, Symptom und Anzeige des Kontingenzcharakters unserer Einfügung in die Welt zu denken« (SaA, S. 393, Anm. 35). »Gäbe«, »würde« … – diese Konjunktive zeigen deutlich genug an, dass Ricœur auch hier weit entfernt davon ist, sich auf Sein und Zeit als zureichende Grundlage einer Ontologie des Leibes berufen zu wollen. Die Gründe, die aus seiner Sicht dagegen sprechen, ähneln stark denjenigen, die noch in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen genannt werden (s. o.). 35 Statt nun zu fragen, wie Maine de Biran möglicherweise Heidegger gewissermaßen vorgearbeitet hat 36, möchte ich im Folgenden näher darauf eingehen, ob sich der Beitrag seiner Philosophie (bzw. seines Tagebuchs, auf das ich mich weitgehend beschränken werde) in der besagten Analyse der Widerstandserfahrung erschöpft bzw. ob sie nicht einer reichhaltigeren Hermeneutik der dem Selbst paradoxerweise, wie Ricœur sagt, innewohnenden und es sogar konstituierenden Andersheit Vorschub leistet (SaA, S. 394). Wird diese Andersheit nur den sogenannten Lastcharakter des Daseins bestätigen, wie es Ricœur suggeriert? Wie wichtig diese Frage für das Ricœur’sche Projekt einer Hermeneutik des (leiblichen) Selbst sein muss, erhellt schon daraus, dass genau hier, wo es um die mit Maine de Biran und Heidegger ins Auge gefasste Passivität einer als Last geltenden Befindlichkeit geht, »zum erstenmal dem Ausdruck des ›Selbst als eines Anderen‹ [›soi-même comme un autre‹] seine volle Stärke« zukommen soll (SaA, S. 394). So scheinen die nachDas Thema der Verleiblichung wird in Sein und Zeit demnach insbesondere durch die Vorherrschaft sog. uneigentlicher Formen der Sorge geradezu erstickt; vgl. SaA, S. 394 f. 36 Schon in Le Volontaire et l’involontaire äußert Ricœur in dieser Hinsicht deutliche Vorbehalte. Vor allem bemängelt er, Maine de Biran habe niemals deutlich den corps propre vom Organismus unterschieden (S. 302 f.). Im Übrigen folgt Ricœur der Generalthese Maine de Birans keineswegs kritiklos, die Realität der sog. Außenwelt ergebe sich nur aus (primär taktilen) Widerstandserfahrungen und als Korrelat eines aktiven bzw. handelnden Selbst. Man vergleiche nur, was er zum Geruchssinn oder zum Gehör ausführt (ebd., S. 314 ff.). Ricœurs Kritik rehabilitiert schließlich eine Objekte repräsentierende Wahrnehmung, in der der willentliche Anteil minimal, wenn überhaupt vorhanden ist, und weigert sich, die Wahrheit, die in ihr erschlossen sein mag, etwa voluntaristisch zu fundieren. 35

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folgenden Überlegungen zu Maine de Biran zwar ins Abseits der Philosophiegeschichte zu führen; tatsächlich drehen sie sich aber um den hier zur Sprache gekommenen Kern dieser Hermeneutik. 37 Maine de Biran fragt sich: was oder wer bin ich im Lichte von Widerstand, der sich mir in den Weg stellt? Seine Antwort: puissance spontanée, dann auch effort volontaire, d. h. freies und spontanes Wollen, aber auch gewollte Anstrengung: effort voulu. 38 So stoße ich auf Hindernisse, suche sie aber auch. Dinge stehen mir nicht nur im Weg, die ich umgehen oder aus dem Weg räumen kann; sie hindern und hemmen nicht nur meine Bewegung, meine Vorhaben etc.; sie bieten sich mir auch als zu überwindende Herausforderungen eines Willens an, der sich durch ihre Überwindung als solcher bewährt und deshalb des Widerstands unumgänglich bedarf, um seinerseits Widerstand auszuüben. Fassen wir den Begriff des Dinges an dieser Stelle nur weit genug, so erkennt man, wie Maine de Biran hier einen Ansatzpunkt für eine Phänomenologie der Arbeit und menschlicher Praxis generell gewinnt, die sich in einer Welt voller Hindernisse bewegt und nach ihnen sucht. 39 Maine de Birans Aufmerksamkeit richtet sich freilich dezidiert nach innen, wie es auch der Titel seines Journal intime ankündigt. Den ihm selbst gewissermaßen widerständigsten Widerstand entdeckt er nicht in der sogenannten Außenwelt, sondern in dem, was Ricœur die innere Andersheit des Selbst nennen wird; und zwar in dreierlei, allerdings analytisch nicht fein säuberlich zu trennenden Hinsichten: (a) in einer beharrlichen Defizienz, Schwäche und Kraftlosigkeit seiner selbst; (b) in einer nicht zu beherrschenden Alteration seiner selbst; und (c) in einem Sichentzogensein, das sich ebenfalls der Macht über sich widersetzt. Zu (a): die Erfahrung der Defizienz, Schwäche und Kraftlosigkeit äußert sich in Bekenntnissen geringen Selbstvertrauens, mangelnder Ricœur rekurriert auch deshalb auf die Widerstandserfahrung, weil sie ihm zu beweisen scheint, wie der Eigenleib vermittelt »zwischen der Intimität des Ich und der Exteriorität der Welt« (SaA, S. 388) – als ob das eine zunächst ohne das andere gegeben sein könnte. Handelt es sich hier nicht um einen (ontogenetisch gesehen) späten Ansatzpunkt, ohne dass Ricœur ein originäres Sichabzeichnen der Differenzierung zwischen Ich und Welt eigens bedenken würde? 38 M.-F.-P. G. Maine de Biran, Tagebuch, Hamburg 1977, S. XXXIX (= T). 39 In seinen frühen Auseinandersetzungen mit Merleau-Ponty verwendet Ricœur die Rede von einer Welt von Hindernissen und Wegen mehrfach (im Gegensatz zu einer zum Schauspiel reduzierten Welt, die sich einem bloß ›sehenden cogito‹ darbiete). 37

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Tatkraft, schlechten Gedächtnisses, nervöser Unruhe und ständiger Unzufriedenheit. 40 Gelegentlich werden die Erfahrungen der Unruhe und der Unzufriedenheit in einem ›aus den Fugen geratenen‹ Leben temporal akzentuiert, so dass sich (zu b) eine nicht zu beherrschende, andauernde Alteration in einer »Zeit, die sich verzettelt«, abzeichnet, die den Menschen »auf nichts festlegen« und »in ganz andere sich verwandeln« lässt. 41 Das geschieht auf natürliche Weise im Altern, aber auch in einem »Wind der Unbeständigkeit«, dem nichts entgegenzusetzen sei. So herrschen Zerstreutheit und Geistesabwesenheit in einem Leben ohne Einheit, gegen das sich verzweifelt der Wille zu behaupten sucht, ein »geistiges Leben« über dem animalischen (vie animale) bzw. »äußerlichen« Leben zu führen. Das geistige Leben sollte sich »abtrennen« können vom animalischen und äußerlichen Leben, um schließlich über ihm zu stehen und sogar aus ihm herauszutreten (T, S. 105). Eben das bleibt aber der beschränkten Macht über sich versagt (T, S. 170) – aus unverständlichen Gründen. Zu (c): In sich selbst findet Maine de Biran nicht die dort mit Augustinus gesuchte eigene Wahrheit (T, S. 96). Gegen seinen Willen sieht er sich deshalb dazu gezwungen, sich mit anderen einzulassen, ja sogar nur durch die anderen zu sein, und realisiert, dem ständigen Vergleich mit ihnen nicht entgehen zu können. 42 Dem eigenen, inneren Leben wohnt der Mensch »gleichsam nur als Zeuge bei« (T, S. 174); aber er kann sich als Zeuge niemals selbst genügen, denn ihm bleiben die Gründe seiner Lebensschwäche und seiner ständigen, unzuverlässigen Veränderlichkeit verborgen, die ihm einen unüberwindlichen Widerstand in ihm selbst entgegensetzt 43 und den eigenen

Vgl. T, S. 45, 50, 52, 55, 57. T, S. 17, 30, 59. 42 T, S. 111, 148, 165. Dem Vergleich ausgesetzt bleibt Maine de Biran nicht zuletzt deshalb, weil er sich als unfähig erkennt, sich aus eigener Kraft wertschätzen zu können (T, S. 95). 43 Wie aber, das bleibt phänomenologisch aufzuklären. Keineswegs handelt es sich um einen aktiven Widerstand, den man einem rätselhaften, vielfach als ›böse‹ einzustufenden Gegen-Subjekt in sich selbst zuschreiben könnte. Eher geht es um eine anonyme Widersetzlichkeit (adversité), wie sie Merleau-Ponty immer wieder bedacht hat, u. a. in dem einschlägigen Aufsatz in Das Auge und der Geist, Hamburg 1984, S. 114–134. Erstaunlicherweise greift Merleau-Ponty hier aber nicht auf seine eigene, in den Jahren 1947/8 geführte Auseinandersetzung mit Maine de Biran zurück. Sie blieb ohnehin auf die bekannte cartesianische Erblast beschränkt. Vgl. M. MerleauPonty, L’union de l’âme et du corps chez Malebranche, Biran et Bergson, Paris 1968. 40 41

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Willen schwächt. Deshalb liebäugelt er damit, sich der Passivität des Unwillentlichen einfach zu überlassen. Keineswegs erschöpft sich die Bestandsaufnahme Maine de Birans in einer Liste von Mängeln. 44 Genau so aber wird sie Ricœur deuten: als Ansatz zu einer Hermeneutik der ›belastenden‹ Passivität des Daseins, die sich der willentlichen Selbstbestimmung hartnäckig entzieht und ihr auf diese Weise Autonomie verwehrt. Was Ricœur in seinem frühen Werk über das Willentliche und das Unwillentliche in Aussicht stellt, ist letztlich vor allem das Sichabfinden mit dem – bzw. die bewusste Einwilligung in das –, was sich dem Willen relativ oder absolut entzieht. Aber so weit ich sehe, kommt im Zeichen der Passivität als der von Maine de Biran beschriebenen inneren Andersheit des Selbst keine ›positive‹ Bedeutung dessen zum Tragen, was ihm als Widerstand begegnet – es sei denn die Bedeutung einer Provokation zur Überwindung des Widerstands durch einen gesteigerten Willen. Dieser Ansatz gerät nun aber unvermeidlich in eine Krise, wo Ricœur die zweite Gestalt der Andersheit 45 in Betracht zieht, die das Selbst affiziert, um es in sich zu verandern.

4.

Zurück zu Paul Ricœur: Die dem Selbst innewohnende Andersheit und der Widerstand des Anderen

Die komplexen Analysen der leiblichen Passivität als erster Gestalt der dem Selbst eigenen Andersheit täuschen über eine alte Überzeugung nicht hinweg, von der Ricœur kaum abzurücken bereit war: dass diese Passivität als eine Kategorie (oder als ein Existenzial) des Leidens aufzufassen ist. Dafür benennt Ricœur bezeichnende Beispiele: lauter Unfähigkeiten nämlich, die als »Minderungen des Handlungsvermögens« eingestuft werden (SaA, S. 385 f.). Das Selbst wird als ein primär ›vermögendes‹, als Subjekt eines Könnens beschrieben, das sich Einschränkungen seiner praktischen Kompetenzen gefallen lassen und sie in gewisser Weise akzeptieren lernen muss; vor allem dort, wo es mit der Freiheit Anderer in Konflikt gerät. Das jedenfalls lehrt die bis heute fast unangefochten vorherrEr wäre deshalb reizvoll, Maine de Biran mit Friedrich Schlegels romantischer Apologie der Passivität zu vergleichen. 45 Vgl. zu den drei »Arten« der Andersheit, die als aufeinander irreduzibel, aber nicht als klar voneinander trennbar beschrieben werden, SaA, S. 426. 44

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Zurück zu Paul Ricœur

schende politische Theorie, die allein im Recht das Mittel der Wahl erkennt, mit dem einander ins Gehege kommende Freiheiten zu befrieden sind. Nahtlos fügt sich in diese Theorie eine Sozialphilosophie ein, die im Anderen kein bloßes Hindernis, sondern einen Widerstand sui generis erkennt, der nicht zu liquidieren, sondern als solcher anzuerkennen ist. Im Einzelfall mag dieser, sei es im Streit, sei es im Widerspruch oder schweigend ausgetragene Widerstand zu umgehen sein; und es sind verschiedene »Wege der Anerkennung« denkbar. Aber nichts, so scheint es, ist daran zu ändern, dass jeder Andere unbedingt nach Anerkennung verlangt und sogar einen Kampf um Leben und Tod heraufbeschwören kann, wenn dieses Verlangen nicht befriedigt wird. 46 So setzt diese Sozialphilosophie im Prinzip zu allem fähige Subjekte voraus, die im Kampf um Anerkennung einander als Quellen des Widerstands einer potenziell tödlichen Freiheit begegnen, wie es schon Thomas Hobbes gelehrt hatte. Doch soll die darin liegende dramatische, im Kampf um Leben und Tod zu bestehende Herausforderung schließlich in gegenseitiger Anerkennung aufzuheben sein, zu der sich jeder aus eigener Einsicht durchringen muss. So beschränkt sich die zunächst zu tödlicher Gewalt befähigte Freiheit am Ende selbst. Dass aber im Anderen ein Widerstand liegen könnte, der sich nicht als derart bedrohlich und nicht nur als negative Einschränkung des eigenen Handlungsvermögens deuten lässt, kommt nicht in den Blick. Genau diese Frage drängt sich Ricœur indessen in Das Selbst als ein Anderer auf, wo er die zweite Form der Passivität in Betracht zieht: das Affiziertwerden von der Andersheit des Anderen. Die Rede ist hier von einem Selbst, das sich nur durch das hindurch erkennt, was ihm leibhaftig widerfährt (SaA, S. 395). Aber widerfährt ihm denn vom Anderen her vor allem eine Einschränkung seiner Handlungs- und Verfügungsmacht? Und wäre die, wenn es sich so verhält, vor allem als negative zu begreifen, d. h. so, dass es allemal besser wäre, nicht unter ihr zu leiden? Ihre äußerste Zuspitzung erfährt diese Frage, wo Ricœur sich gezwungen sieht, auf die Herausforderung einer Gabe der Verantwortung zu antworten, die wir, Levinas zufolge, Kritisch zur hier ausgesparten Theorie der Anerkennung vgl. Vf., Rezension von P. Ricœur, Wege der Anerkennung, Frankfurt/M. 2006; ders., Vom Text zur Person. Hermeneutische Texte (1970–1999), Hamburg 2005, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 60 (2006), Nr. 4, S. 609–615.

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dem Anderen gerade deshalb verdanken, weil er als Fremder in einer jeglichem theoretischen und praktischen Zugriff entzogenen, absoluten Exteriorität beheimatet ist (SaA, S. 404 ff.). Ricœur nähert sich dieser Frage auf einigen äußerst dicht geschriebenen Seiten, die alle zentralen Probleme der Intersubjektivität tangieren; angefangen bei der ersten, je-meinigen Empfindung des Leibes, der als das »am ursprünglichsten Meinige und von allen Dingen das allernächste« eingestuft wird (SaA, S. 390). 47 So soll alles Erfahrbare zunächst mir bzw. für mich gegeben sein, ohne dass ich je ins Eigene eingetreten wäre oder aus ihm austreten könnte (SaA, S. 393). Eröffnet wird auf diese Weise das Milieu einer Primordialität gegenüber jedem Vorsatz, das sich gleichwohl als Organ meines Willens anbietet, ohne dessen bloßer Gegenstand zu sein (SaA, S. 390). 48 Wie gehabt wird hier gezeigt, wie der eigene Wille leiblich verwurzelt zu denken ist in einer vorgängigen Andersheit, die paradoxerweise erst nachträglich als solche in Erscheinung tritt – wenn ›ich‹ da bin. Auf dieser Grundlage geht Ricœur zu der Frage über, wie eigenes, willentliches Tun in ein Erleiden des Anderen umschlägt (SaA, S. 397) und wie insofern der eigene Leib mit dem des Anderen verflochten zu denken ist. Findet dabei, fragt Ricœur, tatsächlich ein Übersteigen der Eigenheitssphäre in Richtung auf den Anderen als Fremden statt? 49 Genau hier stößt er auf die Herausforderung von Levinas: Handelt es sich auch in diesem Falle nur um eine negative Beschränkung meines Handlungsvermögens, meines Könnens? Um eine mir sich widersetzende Macht oder Quelle der Gewalt? Oder vielmehr um eine Macht ohne Gewalt bzw. geradezu um eine gute Gewalt, die meiner Macht und Gewalt schlechterdings entzogen scheint und die mir genau als solche die Gabe der Verantwortung gibt, wie Levinas meint?

Ohne dass hier gefragt würde, wie es überhaupt zur originären Abgrenzung vom Deinigen oder mir Fremden kommt. 48 Und zwar selbst dann, wenn das Selbst der Versuchung nicht widerstehen kann, sich durch Vergegenständlichung seiner selbst vergewissern zu wollen. 49 Zur Appräsentation ohne Anschauung als originärer Präsentation, die in der Ähnlichkeit mit dem Anderen auf die Spur einer unüberwindlichen Asymmetrie führt und gleichwohl eine »analogische Übertragung« vom Eigenen auf den fremden Körper als Leib zulassen soll, der seinerseits ›selbsthaft‹ existiert, vgl. SaA, S. 401 f. Ricœur schließt sich hier der Binnenperspektive derer an, die einander begegnen, im Gegensatz zu Peter Strawson, der die Gegebenheit eines Körpers für primär hält, um dann zu fragen, wie letzterer auch noch der ›meinige‹ sein kann (ebd., S. 48, 51). 47

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Zurück zu Paul Ricœur

Von der ersten leiblichen Empfindung über die gegenseitige Appräsentation arbeitet sich Ricœur schließlich in Richtung einer ›dialogischen‹ Beziehung vor, in der sich deren Gegenseitigkeit mit einer Asymmetrie im Verhältnis zum Anderen verschränkt 50, wie sie Levinas beschrieben hat. Ricœur liegt allerdings daran, die bei Levinas ständig in Anspruch genommene Ansprechbarkeit vom Anderen als Struktur der Selbstheit aufzuweisen (SaA, S. 425), statt das Selbst als fatal in sich selbst befangen zu beschreiben (wie es Levinas in einer anderen Terminologie 51 getan zu haben scheint). So hofft er offenbar, das Selbst in seiner »erdhaften Verfasstheit« (SaA, S. 184) bzw. irdischen Situierung begriffen und zugleich im Sinne einer leibhaftigen Ansprechbarkeit vom Anderen davor bewahrt zu haben, uninspiriert nur um sich selbst zu kreisen. Diese ›Lösung‹ bleibt freilich erklärtermaßen rätselhaft. Sie kann, wie Ricœur ausdrücklich eingesteht, die verschiedenen Gestalten der Andersheit nicht klar und deutlich voneinander unterscheiden. Kaschiert die dem Selbst innewohnende Andersheit, die in der Passivität des eigenen Leibes aufscheint, etwa die Andersheit des Anderen (oder umgekehrt)? Führt die Erfahrung des Sich-selbst-entzogen-seins, wie sie mit Maine de Biran zur Sprache kommt, etwa ganz irrtümlich oder in Wahrheit auf die Spur einer Ansprechbarkeit durch den Anderen? Der Philosoph bekennt, diese Frage nicht entscheiden zu können. Er weiß nicht und kann nicht wissen, ob die Andersheit der Ansprechbarkeit durch den Anderen mit der Passivität des eigenen Leibes verwechselt oder kontaminiert wird; und umgekehrt: ob letztere auf die Spur des Anderen führt oder nur auf eine »Leerstelle« verweist. So scheint nicht nur die Idee der Andersheit, sondern auch deren Philosophie im »Zustand der Zerstreuung« verharren zu müssen. Aber ist das nicht der der Andersheit tatsächlich angemessene Zustand? »Nur eine Rede, die anders ist als sie selbst […] wird der Meta-Kategorie der Andersheit angemessen sein. Andernfalls hebt die Andersheit sich auf, indem sie das Selbe wie sie selbst wird …« (SaA, S. 426).

Ganz außer Betracht bleibt hier die schwierige Frage des Übergangs von der Ontologie zur Ethik (SaA, S. 408, 419). 51 Nämlich in einer Terminologie der Selbigkeit, was schon Derrida mit Nachdruck kritisiert hat. 50

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X · Das leibliche Selbst und der Widerstand des Anderen

5.

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Wie gezeigt, finden sich zwar nur verstreute Ansatzpunkte zu einer Philosophie der Leiblichkeit bei Ricœur. Doch lässt sich ein von den frühen Schriften bis ins Spätwerk hinein feststellbarer harter Kern seiner Überzeugung identifizieren, der zufolge ein willentliches, praktisch ›fähiges‹, leibliches Subjekt Widerstand primär als Herausforderung dazu begreift, sich selbst zu behaupten. Zwar kennt schon die frühe Theorie des Unwillentlichen Widerfahrnisse und Dimensionen der Erfahrung, an denen der menschliche Wille scheitert oder in die er einwilligen muss. Doch herrscht die Überzeugung vor, am Widerstand, sofern er nicht als unüberwindlicher hinzunehmen ist, könne das Selbst allemal seine Kraft bewähren: Demnach wäre Widerstand vor allem eine Herausforderung zur Selbststeigerung – und würde insofern jene eingangs ins Spiel gebrachte Fraglichkeit des Lebens als Leben nicht aufbrechen lassen. Dagegen setzt das Spätwerk, vor allem Das Selbst als ein Anderer, nun aber doch einen neuen, mit dieser Sicht kaum zu vereinbarenden Akzent. Im Widerstand, der sich dem Selbst in der Form einer ihm eigenen Andersheit bemerkbar macht, wird es auf die Spur einer anderen, befremdlichen Anderheit geführt, die dem Anderen als Fremdem zu verdanken sein soll. Nicht nur wird in der Erfahrung der Passivität unklar, ob wir es mit jener dem Selbst eigenen Andersheit oder bereits mit der befremdlichen Anderheit des Anderen zu tun haben. Auch der Sinn der Auseinandersetzung mit der Ander(s)heit gerät nun in ein bedenkliches Zwielicht. Im Verhältnis zu sich selbst gilt die Passivität weitgehend als möglichst zu überwindendes Hindernis. Sofern ihr nicht derart beizukommen ist, muss sie allenfalls hingenommen und akzeptiert werden. Dagegen liegt in der Anderheit bzw. Fremdheit des Anderen, wenn wir mit Ricœur Levinas folgen, geradezu der Sinn einer Befreiung von dem das Selbst scheinbar beherrschenden Zwang, unter allen Umständen ›können‹ zu müssen und möglichst jeden Widerstand (sofern er nicht hinzunehmen ist) machtvoll überwinden zu müssen. Selbst wenn das Selbst etwas lässt, tut es das scheinbar noch. Selbst das Lassen und Unterlassen untersteht noch seiner Verfügung (wenn wir diesem Ansatz folgen). Selbst wenn es darauf verzichtet, den nächsten Widerstand zu überwinden, ist das noch Ausdruck des Könnens. Was es indessen nicht ›vermag‹, ist, auf eine Weise nicht zu können, die nicht als Lassen doch wiederum eine Art Tun wäre. Das 382 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

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heißt nicht, dass es nicht das Versagen seines Könnens erfahren müsste. Aber affirmiert nicht noch die Erfahrung des Versagens den Maßstab des Können-sollens und Können-müssens, an dem ein praktisches Selbst, wie es Ricœur beschreibt, sich selbst misst? Stößt ein solches Selbst je auf eine Infragestellung seiner selbst, der es nicht mit Versuchen der Steigerung seines Könnens gerecht zu werden versuchen kann? Hat es insofern je einen radikalen Grund, sein Leben als Leben zu befragen? Kann Ricœur die Passivität anders denn als einen Mangel an oder Einschränkung von Können beschreiben, die einen homo capax kränken müsste? Kann er von seinem Begriff des sujet capable her einen nicht-privativen Begriff von Passivität denken? Mit der Herausforderung, einen solchen Begriff zu denken, sieht sich Ricœur unvermeidlich konfrontiert, wo er realisiert, wie die dem Selbst eigene Ander(s)heit auf die Spur des fremden Anderen führen kann (ohne sich eindeutig von letzterer unterscheiden zu lassen). Diese Spur führt aber auf einen nicht-privativen Begriff der Passivität; und sie motiviert Levinas dazu, eine ›Absetzung‹ des Könnens zu denken, die nicht auf ein Versagen des Könnens oder menschlicher Verfügungsmacht hinausläuft. Die einschlägigen Analysen in Totalität und Unendlichkeit, wo Levinas seine Überlegungen hierzu entfaltet, können hier nicht ausführlich dargestellt werden. 52 Nur soviel: diese Analysen setzen den Widerstand, den der Andere in seiner Fremdheit darstellt, ausdrücklich ab von jedem Etwas, das vielleicht noch nicht ganz im Griff, bearbeitet, angeeignet oder überwunden sein mag. Jeglicher praktisch überwundene Widerstand mag anderes nach sich ziehen, was zur Bearbeitung noch aussteht. Das schafft eine Unruhe ohne Sicherheit, die das Können immer von neuem antreibt (TU, S. 201 ff., 230). Aber ist nicht das noch nicht Überwundene bereits ›virtuell überwunden‹ ? Lässt es nicht immer darauf hoffen, später überwunden zu werden? Der Widerstand des Anderen ist nicht von dieser Art, behauptet Levinas. Gewiss: der Andere kann als Macht auftreten, die sich geradezu als Herausforderung dazu anbietet, überwunden zu werden; sei es im sozialen Spiel, im politischen Kampf um Anerkennung oder im militärischen Krieg. Und bedeutet klassischen sozialontologischen Analysen zufolge die Behauptung einer sozialen und politischen Existenz E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br., München 1987 (= TU).

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nicht vor allem: sich gegen Andere am Leben zu erhalten, zu bestehen und zu widerstehen, notfalls auch unter Einsatz physischer Gewalt – dann aber auch Bestehen durch Selbst-Ständigkeit, sei es als Besitzindividualist, sei es als Vertragspartei, die sich auf ihre Zusagen und Versprechen festlegen lässt? 53 Doch Levinas bricht mit diesem sozialontologischen Vorverständnis, wo er den Widerstand des Anderen ›positiv‹ zu denken versucht; und zwar so, dass er das Selbst vom Können selbst zu entlasten verspricht – auf die Gefahr hin allerdings, dass es dem Widerstand des Anderen nicht mehr mit eigenen Mitteln seines Lebens beizukommen vermag und sich eben deshalb radikal in Frage gestellt sieht (TU, S. 283 f.). Wenn es stimmt 54, dass uns gerade der Andere in seiner Fremdheit die Gabe der Verantwortung für ihn gibt, und wenn diese Gabe selbst exzessiver Mordmacht widersteht als ein »unendlicher Widerstand«, der nicht wie irgendeine Materie negierbar ist, so haben wir es hier nicht mit etwas Realem zu tun, was in der Dimension des Könnens, der Macht oder der Gewalt stärker wäre als ein machtvoll oder gewaltsam sich behauptendes Selbst (TU, S. 285 f.). 55 Und doch soll es sich um einen absoluten Widerstand handeln, der das Selbst nicht etwa daran hindert, als sujet capable ganz es selbst zu sein (und nach eigenem Gutdünken gut, glücklich oder intensiv zu leben), sondern es vor aller Initiative als ethisches instituiert. Auf diese Weise will uns Levinas davon überzeugen, dass niemand aus eigener Kraft ein ethisches Leben zu leben vermag. Was sich dem Können radikal entzieht und im gleichen Zug ein solches Leben möglich machen soll, haben wir Levinas zufolge einer passiven Ansprechbarkeit durch den Anderen zu verdanken, die nicht wie die Passivität im Sinne Ricœurs noch immer ein herabgemindertes Tun oder Können wäre. Levinas sieht diese Ansprechbarkeit einer Bezeugung (attestation) anvertraut, deren philosophische Fragwürdigkeit kaum zu bestreiten ist. 56 Nicht zuletzt verlangt sie eine (noch immer ausstehen53 Noch Ricœur knüpft an diese Tradition an, wo er die Selbst-Ständigkeit (maintien de soi) und das Versprechen zusammen denkt und einer Wankelmütigkeit (versatilité) des Selbst entgegensetzt, das nicht aus eigener Kraft dafür scheint bürgen zu können, wer es in Zukunft sein wird (vgl. SaA, S. 205). 54 Diese Frage stellt sich für Levinas wie auch für Ricœur letztlich als ein Problem der Bezeugung dar, nicht als eine Frage der Verifizierbarkeit. 55 Vgl. J.-P. Sartre, Tagebücher. Les carnets de la drôle de guerre. November 1939 – März 1940, Reinbek 1984, S. 57. 56 Anfechtbar erscheint vor allem, wie Levinas zwei voneinander zu unterscheidende

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de) Antwort auf die Frage, wie diese Ansprechbarkeit ein leibhaftiges Selbst affizieren kann, das allein auch für Andere einzustehen und Verantwortung zu übernehmen vermag. So appelliert der Anspruch des Anderen, auch wenn er das Können des Selbst radikal unterlaufen sollte, doch rückhaltlos an dessen praktisches Sein. 57 Levinas, scheint mir, hat das Verständnis dieses Zusammenhangs überall dort verbaut, wo er das Selbst auf eine Idem-Identität reduziert und es im gleichen Zug als blind und taub für die Fremdheit des Anderen beschrieben hat. Ricœur insistiert demgegenüber mit Recht darauf, dass der Anspruch des Anderen nach einer Ansprechbarkeit verlangt, die nur einem Selbst ›eigen‹ sein kann – eigen als etwas Befremdliches aber, das ihm, wenn die Analysen des 10. Kapitels in Das Selbst als ein Anderer zutreffen, nicht einmal deutlich zwischen sich als einem Anderen und der Ander(s)heit des Fremden zu unterscheiden erlaubt. Was den fraglichen Widerstand anbetrifft, von dem her Ricœur das Selbst zu denken versucht, würde sich daraus die Konsequenz ergeben, dass wir nicht wissen und nicht wissen können, ob uns in der Alterität, die uns als Andere ausmacht, Andere oder wir uns selbst radikal widerstehen. Dabei steht nicht weniger auf dem Spiel als die Frage, ob wir einem fatalen, das Selbst immer auf sich selbst zurückwerfenden Können entgehen, zu dem wir sogar in der äußersten Passivität verurteilt bleiben müssten, wenn wir einer weit zurückreichenden philosophischen Tradition folgen, die in ihr nur den Grenz(und von einander zunächst unabhängige) Gedanken gewissermaßen fusioniert: Dass der von ihm als »absolut« eingestufte Widerstand, der in der Alterität des Anderen liegen soll, (a) den Begriff eines sujet capable zu revidieren zwingt, das scheinbar in allem, was ihm widerfährt, nur eine Einschränkung seiner praktischen Vermögen erkennen kann, und dass sich daraus (b) ohne weiteres eine ethische Antwort auf die Frage ergibt, was Leben als Leben eigentlich ausmacht. Levinas offeriert an dieser Stelle als Antwort in erster Linie den Begriff der Verantwortung für den Anderen. Tatsächlich kann aber vom Anderen zunächst nur eine Herausforderung zur Verantwortung ausgehen; ob und wie sie angenommen bzw. aufgegriffen wird, bleibt stets Sache derer, die sie als gewissermaßen an sich adressiert erfahren. Selbst wenn sie eine dem Anderen jeweils antwortende Verantwortung bezeugen, enthebt sie das doch gewiss nicht der Vielfalt möglicher, nicht selten einander widerstreitender Antworten auf die Frage, was Leben als Leben eigentlich ausmacht. Ich hebe mit dieser wiederholten Formulierung im Übrigen nicht auf eine fragwürdige ›Eigentlichkeit‹ ab, sondern setze zunächst nur voraus, dass sich diese Frage häufig negativ gegen wie auch immer als beschränkt, fade, falsch, ungut, verfehlt oder unglücklich erfahrenes Leben richtet. 57 Selbstverständlich weiß auch Levinas das; vgl. seine Ausführungen zur »Stiftung des Wortes« in einer Welt, in der es zu geben und zu helfen gelte (TU, S. 313).

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fall eines geminderten Vermögens erkennt. Auf dem Spiel steht weiter die Frage, ob sich eine als Andersheit des Selbst vorgestellte Passivität nicht nur negativ – als Leiden –, sondern als Inspiration durch den Anderen denken lässt – trotz der nicht zu beschönigenden Schwierigkeit, zwischen sich als einem Anderen und der Anderheit des Fremden nicht deutlich unterscheiden zu können. Diese Fragen kulminieren schließlich in dem Rätsel, wie eine solche Inspiration zugleich einer radikalen Exteriorität des Anderen auf der Spur sein und zugleich dem Leib sich einschreiben können soll, ohne ihm nur zur Last zu fallen.

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Kapitel XI Widerstand und Sprache: Widerständige Rede in politischer Perspektive Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. […] gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht. Soll man nun sagen, daß man notwendig »innerhalb« der Macht ist, daß man ihr nicht »entrinnt«, daß es kein absolutes Außen zu ihr gibt […]? Michel Foucault 1

Würde sich uns kein Widerstand entgegenstellen und müssten wir selbst keinen leisten, würden wir womöglich überhaupt nichts erfahren; am Ende würde sich uns keinerlei Realität mehr anzeigen. Davon zeigt man sich im modernen Widerstandsdenken von Marie-F. Maine de Biran über Wilhelm Dilthey bis hin zu Maurice Merleau-Ponty und Paul Ricœur ebenso überzeugt wie von der Grundannahme, die Sprache eröffne einen Königsausweg aus Beziehungen, die, wenn mäßiger Widerstand keinen Erfolg hat, ständig dahin zu tendieren scheinen, ihn so weit wie möglich zu verstärken, bis endlich verzweifelter Widerstand zu allen Mitteln greift, auch zu ›Mord und Totschlag‹. Wie kein anderer hat Emmanuel Levinas die Überzeugung verfochten, die Sprache werde überhaupt erst dadurch zu einer wirklich ›sprechenden‹ (bzw. »Wort« 2), dass sie niemals vergessen lässt, dank des Anspruchs des Anderen mit einem absoluten Widerstand konfrontiert zu sein, der, wie er meint, selbst von radikalster Gewalt nicht zu überwinden sei. Aber wie passt das dazu, dass man sich zumal in politischen Beziehungen doch vielfältigen Widrigkeiten, Hindernissen, der Negativität des ›Ungerechten‹ und des als ›böse‹ Erachteten glaubt bedingungslos widersetzen zu müssen? Auch ethischer Radi-

1 M. Foucault, Sexualität und Wahrheit. Bd. 1. Der Wille zum Wissen, Frankfurt/M. 1983, S. 116. 2 Vgl. E. Levinas, Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt/M. 1992, S. 157.

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XI · Widerstand und Sprache

kalismus à la Levinas kann kaum in Abrede stellen, dass es in diesem Sinne mannigfaltige Anlässe zu berechtigtem Widerstand gibt. Beschränkt er sich am Ende darauf, zu verlangen, diesen Widerstand mit Worten auszutragen, deren ›Gebrauch‹ aber von einem absoluten Widerstand her zu denken, der sich, jenseits aller ›Rhetorik‹, angesichts des Anderen zeigen und dazu auffordern soll, eben diesem Widerstand keinen Widerstand entgegenzusetzen? Dieser Frage wird hier im Rückgang auf eine alte, chiasmatische Verhältnisbestimmung von Rhetorik und Philosophie nachgegangen, die für die Kraft und den Sinn menschlicher Sprachlichkeit einstehen. Gezeigt wird, wie mehr oder weniger gewaltsamer Widerstand in und mit Worten von Anfang an sprachphilosophisches Denken herausforderte, das ihn zunächst als dialektisch aufhebbaren beschrieben hat. 3 Die Kritik dieses Denkens gibt rhetorische Spielräume von Widerstreit und Dissens frei, die in Theorien des Agonalen geradezu als Lebenselement des Politischen aufgefasst werden. Jedoch macht sich auch Widerstand gegen dieses Verständnis agonalen Widerstands bemerkbar; vor allem in einer Ethik der Alterität, in Theorien ›ausgesetzter‹ Gemeinschaft und in Diskursen über ›unbedingte‹ Demokratie, die uns nicht als ein für alle Mal zum Widerstand gegeneinander verurteilt begreifen und somit zum Widerstand gegen ein solches Widerstandsdenken auffordern. In dieser Perspektive geht es im Folgenden um eine Verhältnisbestimmung ethischen und politischen Widerstands.

1.

Kraft und Sinn: Einleitung zum Verhältnis von Rhetorik und Philosophie

Rhetorik als Praxis (und deren überlieferte Reflexionsform) bezieht sich vorrangig auf die Wirksamkeit und insofern auf die Kraft menschlicher Sprachlichkeit in allen ihren Erscheinungsformen, auch in solchen, die gar nicht eigens auf Wirksamkeit bedacht sind, denen aber gleichwohl ein rhetorisches Moment unvermeidlich innewohnt. Letzteres gilt in dieser Perspektive auch für philosophische Idiome jeglicher Art, die dem Sinn des Gesagten, des Geschriebenen, des Überlieferten verpflichtet sind. Insofern lässt sich gar keine Philoso-

3 Vgl. R. Bubner, Dialektik als Topik. Bausteine zur einer lebensweltlichen Theorie der Rationalität, Frankfurt/M. 1990.

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Kraft und Sinn

phie (auch keine dezidiert anti-rhetorische) denken, der überhaupt keine Rhetorizität eigen wäre. 4 Das bedeutet weder, Philosophie ganz und gar in Rhetorik aufgehen zu lassen, noch auch das Umgekehrte: dass sich Rhetorik in einer Philosophie absorbieren ließe, die von der Wirksamkeit menschlicher Sprachlichkeit, insbesondere vielfältiger Formen der Rede (von der Anrede und Wortergreifung bis hin zum diskursiven Gespräch), explizit Rechenschaft abzulegen versucht. Vielmehr haben wir es mit einer Art Überkreuzung von Rhetorik und Philosophie zu tun, insofern Rhetorizität jeglicher Philosophie innewohnt (ohne sich in ihr völlig transparent machen zu lassen) und umgekehrt jede rhetorische Praxis und deren Deutung die philosophische Frage nach ihrer sinnhaften Wirksamkeit im Modus einer Kraft oder Macht aufwirft, der nicht allein mit rhetorischen Mitteln beizukommen ist. So könnte man in einer vorläufigen Annäherung an das problematische Verhältnis von Rhetorik und Philosophie sagen, erstere stehe für die Kraft menschlicher Sprachlichkeit ein, letztere für deren Sinn; aber so, dass die Kraft als ›sinnhaft‹ ausgerichtete und der Sinn umgekehrt als ein im Modus der Kraft wirksamer zu bedenken ist, ohne dass dabei Sinn und Kraft zur Deckung kommen könnten. Insofern erweisen sich die Dimensionen der Kraft und des Sinns auf allen Ebenen menschlicher Sprachlichkeit als miteinander verknüpft, ohne sich aufeinander reduzieren zu lassen. Das gilt auch für die theoretische Sprache, in der man sie zum Ausdruck bringt. In hermeneutischer Perspektive kam Paul Ricœur deshalb zu dem Schluss, dass »die Sprache der Kraft […] von der Sprache des Sinns niemals zu besiegen« ist. 5 Gilt auch das Umgekehrte (was weit weniger sicher erscheint), so bleiben sowohl die irreduziblen Dimensionen der Kraft und des Sinns als auch diese ›Sprachen‹ aufeinander verwiesen und aneinander gebunden, ohne dass sich ihr Verhältnis synthetisieren ließe. Menschlicher Sprachlichkeit in jeglicher (unbewussten, intendierten, rohen oder auch kunstvollen) Form wohnt im Hinblick auf ihre Wirksamkeit ein Moment der Kraft (dýnamis) inne; sei es als

Vgl. H.-G. Gadamer, »Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik«, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt/M. 1973, S. 57–82. 5 P. Ricœur, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud [1965], Frankfurt/M. 1974; C. Taylor, »Force et sens, les deux directions irréductibles d’une science de l’homme«, in: G. Madison (Hg.), Sens et existence, Paris 1975, 124 ff. 4

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energetisches im Rahmen einer Ökonomie des Psychischen, sei es als force illokutionärer Akte, wie sie von den Sprechakttheoretikern beschrieben wurde, sei es als Überzeugungskraft argumentativer Rede. (Es ist ein Desiderat, den Begriff der Kraft entsprechend differenziert zu entfalten.) Umgekehrt muss jedes Moment der Kraft mit einer Dimension des Sinns verknüpft sein, insofern es überhaupt menschlicher Sprachlichkeit zuzurechnen ist. Nur als Grenzfälle ließen sich eine Kraft, die von jeglichem Sinnbezug abgelöst wäre, und ein Sinn denken, dem jegliche Kraft fehlte. Hier hat der Begriff des Sinns freilich einen sehr weiten Umfang: von ›sinnhafter‹ Sinnlichkeit über Sinn als Bedeutung bis hin zum als ›sinnvoll‹ Affirmierbaren. Sofern Sinn als mehr oder weniger wirksamer aber mit einer Dimension der Kraft verknüpft sein muss, gilt in jedem Fall: er wirkt allemal auf leibhaftige Subjekte. Nur leibhaftige Subjekte können ›sinnhafte‹ Kraft erfahren und ausüben; nur solche Subjekte können sich auch auf diese Kraft als solche besinnen und sie im Hinblick auf ihre sinnhafte oder sinnvolle Ausrichtung bedenken. Von einer mit Sprache verbundenen Kraft wissen wir überhaupt nur deswegen, weil sie auf uns wirkt und dabei auf Widerstand trifft. So gesehen ist die – sei es passive, sei es aktive – Widerstandserfahrung der eigentliche Ausgangspunkt unseres Fragens nach dem Zusammenhang von Kraft und Sinn; besonders dort, wo wir uns dazu herausgefordert erfahren, Widerstand zu leisten 6, weil wir an Grenzen des Hinnehmbaren geraten, wenn die Lebbarkeit unseres Lebens auf dem Spiel steht. Von Theorien des Widerstands wäre demnach zu erwarten, dass besonders sie Bewegung in das von der Antike her vertraute Spannungsverhältnis von Rhetorik und Philosophie bringen. Im Folgenden werde ich auf diese nach wie vor offene, als Desiderat markierte Frage das Augenmerk lenken, dabei jedoch weniger von ausgearbeiteten Theorien ausgehen können, sondern, vorsichtiger, von ansatzweisen Theoretisierungen des Zusammenhangs von Widerstand und Sprache sprechen. Denn es liegen zwar sozialwissenschaftliche, politische und historische Widerstands-Theorien in großer Zahl vor, kaum aber solche, die eigens auf das Verhältnis von Rhetorik und Philosophie selbst abstellen und sich dabei zugleich darauf besinnen, wie der fragliche Zusammenhang von Widerstand und 6 Vgl. P. Bourdieu, L. J. D. Wacquant, Reflexive Anthropologie, Frankfurt/M. 2006, S. 133 ff.

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Von der Widerrede zum Sprachdenken

Sprache dieses Verhältnis ggf. zu revidieren zwingt. Deshalb hat die folgende Darstellung des Themas ›Widerstand und Sprache‹ unvermeidlich primär den Charakter einer Exposition eines außerordentlich weitläufigen interdisziplinären Problemfeldes 7, für die einzelne Autoren überwiegend in exemplarischer Absicht herangezogen werden – und zwar unter der skizzierten Ausgangsprämisse, dass wir mit einem chiasmatischen Verhältnis zwischen Rhetorik und Philosophie, zwischen einer Dimension der Kraft, die jeglicher (menschlichen) Sprachlichkeit innewohnt, einerseits und einer Dimension des Sinns andererseits zu rechnen haben. Das heißt, dass Kraft und Sinn miteinander verknüpft sind und gewissermaßen nicht ohne einander auskommen, obwohl oder vielmehr gerade weil sie sich als nicht aufeinander reduzierbar erweisen. Das gilt für die spontan an Andere sich wendende Anrede ebenso wie für die subtilste Besinnung auf den Zusammenhang von Kraft und Sinn selbst: sie aktiviert eine Kraft, der sie niemals selbstmächtig ganz und gar Herr wird – so wie jegliche Rhetorik, welche sich ihrer frei glaubt bedienen zu können, die Frage nach ihrer ›sinnhaften‹ und ›sinnvollen‹ Wirksamkeit aufwirft, ohne auf diese Herausforderung wiederum nur mit rhetorischen Mitteln antworten zu können. So bleibt das skizzierte Verhältnis von Rhetorik und Philosophie auf allen Ebenen von einem unaufhebbaren Mit- und Gegeneinander zweier Dimensionen gekennzeichnet, die bis heute das dialektische Denken herausfordern, das auf die Aufhebbarkeit des Widerstreits zwischen den Momenten der Kraft und des Sinns menschlicher Sprachlichkeit hat hoffen lassen.

2.

Von der Widerrede zum Sprachdenken

Nachdem bereits mehrfach das Ende der angeblich erst durch den linguistic turn der Philosophie des 20. Jahrhunderts beendeten »Sprachvergessenheit« bzw. »-unbewusstheit« ausgerufen worden ist 8, hat man die Ursprünge der Sprachphilosophie rückwärts weit über Pioniere der sprachanalytischen Philosophie (Ludwig Wittgenstein, John L. Austin, Gilbert Ryle u. a. 9), die Anthropologen und Vgl. die von G. Kalivoda, H. Kalverkämper und G. Ueding herausgegebenen (bislang erst teilweise erschienenen) Handbücher Rhetorik, Bd. 1–9, Berlin 2015 ff. 8 Siehe Anm. 5 zu Kap. V in diesem Band. 9 M. Dummett, Ursprünge der analytischen Philosophie, Frankfurt/M. 1988. 7

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Kulturtheoretiker der Genese der Sprache (Heymann Steinthal, Lazarus Geiger, Ernst Cassirer u. a. 10) sowie die Expressivisten der Moderne (Johann G. Herder, Wilhelm v. Humboldt, Georg W. F. Hegel 11) hinaus bis in die Antike zurückverfolgt, die zwar keine ausgefeilte Sprachphilosophie im engeren Sinne kennt, wohl aber eine im Dialog mit der Rhetorik entfaltete Philosophie der Rede, durch die Sprache zunächst praktisch geschieht und wirklich ist. Nicht etwa erst durch Austins Buch How to do things with words (1962), vielmehr schon bei den Sophisten und bei Platon wurde deutlich, wie man etwas mit Worten tun kann. Platon war es auch, der zahllose, erst wiederzuentdeckende Hinweise darauf gab, dass wir uns keineswegs unproblematisch in der Sprache (oder wenigstens in einem Idiom) wie in einem gastlichen Haus heimisch fühlen können, wenn es stimmt, dass dem Sprechen eine Kraft (dýnamis) zukommt, die bewirken kann, dass aus Worten und Taten zerstörerischste Feindschaften erwachsen. Im Zorn, einer jedes Gehör verweigernden Leidenschaft, kann man sich demnach dazu versteigen, Andere untergehen zu lassen wie verachtete Selbstmörder, derer niemand mehr gedenken wird. Üble Rede kann nicht nur Geringschätzung zum Ausdruck bringen und Andere verleumden, sondern sie »zu Stein verstummen« lassen und ihren guten Namen derart ruinieren, dass sie aus dem kollektiven Gedächtnis für immer getilgt werden. 12 Auch die klassische Rhetorik wusste um diese Gefahr und bemühte sich von Gorgias bis Cicero immer wieder um ein rednerisches Ethos, das sich der mit Worten ausgeübten Gewalt widersetzen sollte. Übles Reden kann, das wussten sie zweifellos, herbeiführen, was wir heute, im Anschluss an Orlando Patterson oder Judith Butler, einen sozialen und politischen Tod nennen, gegen den es sich präventiv zur Wehr zu setzen gilt – wenn nicht durch seinerseits gewaltsames Tun, dann durch eine gewaltlos Widerstand leistende Gegenrede. Genau das ist die Form, in der uns Sprache zuerst als Sprache begegnet: nicht etwa im ›eingespielten‹ Sprachgebrauch, der, solange er normal funktioniert, gar keinen Grund dazu gibt, Gedanken auf G. Hartung, Sprach-Kritik. Sprach- und kulturtheoretische Reflexionen im deutsch-jüdischen Kontext, Weilerswist 2012. 11 C. Taylor, Philosophical Arguments, Cambridge, London 1995. 12 Vgl. Platon, Nomoi, 679e, 935a; 647b; Euthydemos, 285a; Nomoi, 721c, 873d; Kriton, 44d, 49d; Symposion, 198c. Als Rechtsbegriff kennt das römische Recht die damnatio memoriae; vgl. H. Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997, S. 51. 10

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ihn zu verschwenden, sondern im Widerstand leistenden Akt der Gegenrede, der überhaupt erst nachträglich darauf aufmerksam macht, was mit unserer Sprachlichkeit immer schon auf dem Spiel steht. Durch die Widerrede, die davon abhängt, angehört zu werden, erfahren wir, dass (und wie) wir uns als kommunikativ aufeinander angewiesen begreifen müssen – am Ende rückhaltlos und radikal, wenn es sich herausstellt, dass die Lebbarkeit unseres Lebens davon abhängt. In Theoretisierungen ›widerständiger‹ Rede kommt genau das zur Sprache. Insofern bringen sie nicht etwa bloß einen speziellen Aspekt sogenannten ›Sprachgebrauchs‹, sondern die existenzielle Dimension unserer Sprachlichkeit selbst zum Vorschein. Nur dank Anderer, die uns in ihr Leben aufgenommen haben, konnten wir überhaupt zu sprechenden Subjekten werden; zu Subjekten, die zeit ihres Lebens darauf angewiesen bleiben, in Prozessen der Anrede und der Erwiderung bestätigt zu bekommen, dass sie in einem nicht nur biologischen Sinne überhaupt leben bzw. existieren. Wenn das stimmt, kann das Ausbleiben oder die Verweigerung jeglicher Anrede und Erwiderung einen sozialen und politischen Tod herbeiführen. Diese existentielle Dimension der menschlichen Sprachlichkeit fand man nachträglich, infolge einer ›performativen Wende‹ der Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts, bereits in deren antiken Anfängen bestätigt. 13

3.

Im dialektischen Für und Wider

Bereits Platon wusste, wie man »rechtfertigend das Gewaltsamste herbeireden« kann, nämlich eine polemogene Feindschaft, die am Ende die pólis derart zu zerstören droht, 14 dass Worte nichts mehr dagegen ausrichten können. Nicht so sehr der Realisierung eines idealen, vielleicht utopischen Guten, sondern vorrangig der Abwendung dieses größten Übels, das jegliche Verbundenheit der gewaltsam gegeneinander Vorgehenden aufzulösen vermag, dient denn auch die Mäßigung der Rede und jeglicher Gegenrede, die vorbildlich im philosophischen Diskurs sollte vor Augen führen können, wie man den Vgl. A. Hetzel, »Das Rätsel des Performativen. Sprache, Kunst und Macht«, in: Philosophische Rundschau 51, Heft 2 (2004), S. 132–159; H. Kuch, S. K. Herrmann (Hg.), Philosophien sprachlicher Gewalt, Weilerswist 2010. 14 Platon, Nomoi, 715a; Politeia, 351. 13

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laut Herkalit (angeblich) im Sein angelegten Krieg (pólemos 15) und den Zwang zur strittigen Auseinandersetzung des Widersprüchlichen umwillen der Rettung des politisch Gemeinsamen austragen kann. Bekannt sind die Ratschläge, die Platon in diesem Sinne gegeben hat: nicht mit Gewalt (bía), sondern freiwillig sollte man sich beraten und dabei auf alles zu antworten versprechen, was irgendeiner fragt. 16 So bezeigen die einander Zuhörenden und ggf. auch aufeinander Hörenden gegenseitige Achtung; am meisten aber dann, wenn sie gleichsinnig der Wahrheit verpflichtet sind, die sie im Wechselspiel von Rede und Gegenrede ans Licht zu bringen versuchen. Das wiederum gelingt nach Platon nur, wenn man bereit ist, sich dem Anderen als Antwortender zu stellen und sich widerlegen lassen, wenn der Andere zeigt, wie man sich selbst widerspricht. 17 Idealiter kommt die philosophische, diskursive Gegenrede, die sich dem Anderen nur mit Gründen und Argumenten widersetzt, ganz ohne Gewalt und sogar ohne Zwang aus und lässt dem Streit nur noch derart entschärft freien Lauf. Wohin auch immer er die Beteiligten führen wird, sie werden den Weg der gemeinsamen Auseinandersetzung demnach allemal nur aus eigener Einsicht und am Ende versöhnlich beschreiten – solange zumindest, wie überhaupt um das Wahre (und nicht um bloßen Schein) sowie um wirkliches Wissen (und nicht um »gesprochene Schattenbilder«) in den wirklich wichtigen menschlichen Angelegenheiten gestritten wird 18, zu deren Beurteilung jeder aus eigener Einsicht, nicht durch subtile Rhetorik oder demagogische Überredung (peithó), sollte gelangen können. Umgekehrt betonen die Rhetoriker immer wieder die Gewaltlosigkeit der Göttin Peitho, die sich (etwa auf einigen klassischen Vasenbildern) entsetzt vom Schwert abwendet, während ihre Gegenspielerin Bia (die Göttin der Gewalt) niemals redet. Protarchos sagt in Platons Dialog Philebos: »Ich […] habe immer vom Gorgias vielfältig gehört, daß die Kunst zu überreden vor allen andern bei weitem den Vorzug verdiene. Denn diese mache sich alles unterwürfig freiwillig und E. Fink, Traktat über die Gewalt des Menschen, Frankfurt/M. 1974, S. 21, 164 f., 172; Vf., »Widerstreit und Dissens«, in: H. Vetter, M. Flatscher (Hg.), Hermeneutische Phänomenologie – phänomenologische Hermeneutik, Frankfurt/M. 2005, S. 135–155; B. H. F. Taureck, Krieg, Vater und Herrscher aller Menschen? Kriegsskepsis in kriegsproduktiver Zeit, unveröff. Ms. 2017. 16 Platon, Theages, 126a; Alkibiades I, 143c; Gorgias, 447c. 17 Platon, Protagoras, 337b, 348a; Gorgias, 457a; Sophistes, 268b. 18 Platon, Euthydemos, 272a; Phaidros, 260a; Sophistes, 234c; Gorgias, 451d. 15

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nicht mit Gewalt und sei also bei weitem die trefflichste unter allen Künsten.« 19 In ihrer Ausrichtung auf den Sinn möglichst gewaltfreier sprachlicher Auseinandersetzung sind sich, dessen ist Platon gewiss, die Griechen von Natur aus ursprünglich einig – allerdings nicht derart sicher, dass dieser Sinn nicht infolge einer Eskalation ihres Streits (éris, neîkos) zum Bürgerkrieg (stásis) aufgelöst und zerstört werden könnte (diálysis 20). Die Archäologie der Natur der polítes, also derer, die der pólis als einer gemeinschaftlichen Lebensform (bíos) zugehören, enthüllt diesen teleologischen Sinn. Man muss sich nur dazu bereitfinden, ihn auch zu verwirklichen. Andernfalls droht ein Überhandnehmen unvernünftiger Auseinandersetzungen, die schließlich in der stásis »größte Zerrissenheit und Konfusion« herrschen lassen und zu einem rational nicht mehr zu bändigenden Krieg eskalieren können. (Gewiss war die stásis als eine derartige Bedrohung politischen Lebens mehr als ein bloßes Klischee. 21) Genau dieser Gefahr widersetzt sich Platons Philosophie menschlicher Rede. Sie ist selbst eine Form philosophischer Widersetzlichkeit gegen eine (von Platon stellenweise leichtfertig mit der Rhetorik identifizierte) Gewalt des Sprechens, die den Sinn vernünftiger Koexistenz aus dem Auge verliert und dabei die Sprache missbraucht. Dass letzteres unmöglich im Sinn der archäologisch-teleologisch aufgefassten Natur derer liegen kann, die sprechen können, zeigen die einschlägigen platonischen Dialoge, die ein bis heute, d. h. bis zur transzendentalpragmatischen Diskurstheorie (Karl-Otto Apel), zur Theorie gesellschaftlicher Verständigungsverhältnisse (Jürgen Habermas), zur sog. Neuen Rhetorik (Chaïm Perelman) und diversen neueren Dialogtheorien (Bernhard Casper, Francis Jacques, Vittorio Hösle u. a.) zwar vielfach revidiertes, gleichwohl aber wenigstens seinem gewaltkritischen Sinn nach vorbildliches Modell vernünftig restringierten ›widerständigen Sprechens‹ entworfen haben. In diesem Modell ist eine Widerrede, die sich nicht als rationaler, dialektisch zu bearbeitender und idealiter auflösbarer Widerspruch präsentiert, überwiegend schlecht angesehen, beschwört sie doch einen andauern-

Platon, Philebos, 58a–b. N. Loraux, »Das Band der Teilung«, in: J. Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt/M. 1994, S. 31–64. 21 Vgl. Diogenes Laertios, Leben und Lehre der Philosophen, Stuttgart 1998, S. 445; M. I. Finley, Das politische Leben in der antiken Welt, München 1991, S. 15, 137, 157. 19 20

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den, argumentativ nicht zu befriedenden Widerstreit und anhaltenden, gewaltträchtigen Dissens herauf, der die konfliktlösende, dialytische Potenz des diskursiven Streits zu überfordern droht. Diese Hypothek belastet heute noch Theorien des Konsenses, die als Alternative zur dialektisch zu sichernden Übereinstimmung offenbar lediglich einen rational nicht auszutragenden Machtkampf vorsehen, in dem eine Position nur auf Kosten der ihr widerstreitenden zu triumphieren versucht. 22 Wo die Dialektik des Dialogs und des Diskurses versagt, kann man, so scheint es, überhaupt nicht mehr »eines Sinnes« sein, wie es, Aischylos’ Orestie zufolge, die Eumeniden der Stadt Athen selbst für den Fall allseitiger Verfeindung gewünscht hatten. 23 Versagt die Dialektik der Rede, so droht scheinbar die Zerstörung des Politischen selbst, in dem sich die Natur sprechender, vernunftbegabter Lebewesen gemeinschaftlich, in der Form einer koinonía politiké, sollte manifestieren können. Alle genannten Voraussetzungen dieses Modells eines idealiter zwang- und gewaltlosen Für und Wider, in dem eine dialektische Rationalität einvernehmlicher Unterredung jeglichen Widerstand aufzuheben verspricht, werden in Theoretisierungen widerständiger Rede nun aber in Frage gestellt.

4.

Widerstand auf dem Weg in die Sprache, in der Sprache und über sie hinaus

Aus Theorien dialektischer Aufhebbarkeit diskursiver Widersprüche ergeben sich drei problematische Folgen: dass (a) Widerstreit, Dissens und Gewalt nur in einer privativen Perspektive in Betracht kommen, d. h. als Formen des Mangels an (oder des Versagens von) dialektischer Vernunft; (b) dass diese Phänomene nicht eigens als solche bedacht werden, da sie nur als im rechten Sprachgebrauch zu Überwindendes gelten; und schließlich (c), dass sie nicht als konstitutiv für die menschliche Sprachlichkeit im Allgemeinen und als ihr womöglich unaufhebbar immanent aufgefasst werden. 24 Das hat zur Folge, dass Vgl. M. Frank, Die Grenzen der Verständigung, Frankfurt/M. 1988, S. 16, zu Lyotard. 23 C. Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt/M. 1983, S. 206–222. 24 Vgl. demgegenüber J. Butler, Die Macht der Geschlechternormen, Frankfurt/M. 2009, S. 283. 22

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Widerstand auf dem Weg in die Sprache, in der Sprache und über sie hinaus

eine Phänomenologie widerständigen Sprechens entweder gar nicht oder nur in unzureichender Art und Weise entfaltet werden kann. Denn die traditionellen Theorien dialektischer Sprachlichkeit beschränken dieses Sprechen im Grunde auf das diskursive (möglichst gewaltlose) Ausfechten von Widersprüchen, in dem Dissens nur vorübergehend, als bedauerlicher Mangel an Einigkeit, auftritt, niemals aber positiv zum Sinn sprachlicher Auseinandersetzung beiträgt. Gegen alle diese Beschränkungen wenden sich Theoretisierungen widerständigen Sprechens, die den fraglichen Zusammenhang von Widerstand und Sprache überdies nicht auf Phänomene expliziten Widerstands in sprachlicher Form verkürzen können. Denn es zeigt sich, dass Widerstand bereits (a) auf dem Weg in die Sprache hinein, (b) in verschiedenen Idiomen selbst und (c) im Versuch, sich ihrer prosaischen Beschränkungen zu entledigen, d. h. in einer Wendung gegen die Sprache als Sprache, zum Vorschein kommt. Von Aristoteles über Johann G. Herder, Martin Heidegger und Ernst Cassirer bis hin zu gegenwärtigen Theorien expressiver Vernunft (Robert Brandom) wurde einhellig behauptet, Menschen existierten sprachlich, ihr weltliches Leben, ihre Wirklichkeit bzw. ihr Dasein sei durch und durch sprachlich verfasst. Zwar können wir der Weltlosigkeit (ein Ausdruck Hannah Arendts) ebenso verfallen wie der Sprachlosigkeit. Aber beides geschieht demnach allemal doch nur im Horizont eines immer schon gegebenen und unvermeidlich sprachlich verfassten In-der-Welt-seins. Ungeachtet dieses ontologischen Befundes kommen wir aber zur Welt, so wie wir zur Sprache erst kommen: nicht indem wir in sie »geworfen« werden, wie es Heidegger in Sein und Zeit ausgedrückt hat, sondern indem wir in ihr gastliche Aufnahme finden – und zwar als jemand, der darum nicht gebeten hat und als ursprünglich Welt-Fremder die Muttersprache, d. h. die Sprache der Anderen, als erste Fremdsprache zu lernen hat. Damit geht eine originäre Subjektivierung einher: Man erlangt den Status eines sprachlichen Subjekts, das im dreifachen Sinne als jemand etwas zu sagen hat: die betreffende Person kann reden, sie ist unter Umständen befugt zu reden und sie kann zur Rede gestellt werden (so dass sie sich entschuldigen, rechtfertigen, Gründe geben kann in der Praxis des lógon didónai). Das ist kein ein für alle Mal sicherer Übergang. Denn subjektivem Leben müssen Möglichkeiten eines lebbaren Lebens, das um seine Lebbarkeit ringt, buchstäblich an Ort und Stelle eingeräumt werden; aber so, dass dabei die ursprüngliche, vorsprachliche Welt-Fremdheit nie völlig überwunden werden 397 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

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kann. Georges-Arthur Goldschmidt hat den Widerstand dieser WeltFremdheit gegen eine durchgängige Versprachlichung eindrücklich bezeugt. 25 In der Zugehörigkeit zu einem sozialen und politischen Leben mit und unter Anderen macht man sodann die dreifache Erfahrung, nichts zu sagen zu haben (es nicht zu können, nicht dazu befugt zu sein, sich nicht entschuldigen/rechtfertigen zu können usw.). Dagegen schlägt das Ungenügen an der (jeweiligen) Sprache vielfach in poetische Versuche um, über sie hinaus zu gelangen, um mit ihren eigenen Mitteln mehr zu versuchen, als ihre konventionellen, prosaischen Modalitäten zu gestatten scheinen. So zeigt sich, wie sich Widerstand vor der Sprache, in mannigfaltigen Idiomen und gegen sie bemerkbar macht: (a) als Widersetzlichkeit gegen eine völlige Versprachlichung, (b) als Widerstand mit sprachlichen Mitteln und (c) als Widerstand gegen diese Mittel selbst in Richtung auf ein Sagen, das womöglich mehr zu leisten verspricht als das prosaisch Gesagte, ohne aber nichts zu sagen. Niemand tritt aus freier Entscheidung in die Sprache ein und stimmt zu, ihr fortan bedingungslos unterworfen zu sein. Immer schon finden wir uns als sprachlich sozialisierte Wesen vor; so aber, dass Spuren der Gewalt dieser Subjektivierung erkennbar bleiben, und so, dass diese Gewalt nachträglich in Frage gestellt werden kann. Es ist gerade die Sprache, die uns dahin führt und uns die Mittel dafür zur Verfügung stellt, sie selbst, als Sprache, in Frage zu stellen, wie es in vielfachen Wendungen gegen den Logos des Apophantischen, im Denken des Nicht-Identischen, im Zuge einer »Flucht aus der Kategorie« und auf der Spur eines Jenseits des Seins (von Platon über die Tradition Negativer Theologie bis hin zu Emmanuel Levinas) festzustellen ist. 26 Demnach werden Wesen, denen ursprünglich alles Wesentliche mangelt, 27 keineswegs rest- und bedingungslos sozialisiert. Sie gehen niemals ganz in einem Idiom auf, so eingespielt es (im Sinne Ludwig Wittgensteins) auch in einem sensus communis sein mag und so selbstverständlich es auch einen »Hintergrund des Einleuchtens« 28 in der doxischen, laut Heidegger von der aristotelischen G.-A. Goldschmidt, Der bestrafte Narziß, Zürich 1994. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 151984, § 33 f.; T. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1975; G. Gamm, Flucht aus der Kategorie, Frankfurt/M. 1994. 27 H. Blumenberg, »Anthropologische Annäherung an die Rhetorik«, in: Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1991, S. 104–136, hier: S. 124. 28 Bubner, Dialektik als Topik, S. 97. 25 26

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Zur Negativität sprachlichen Widerstands in der Austragung von Dissens

Rhetorik zum ersten Mal thematisierten »Alltäglichkeit des Miteinanderseins« 29 vorgeben mag, das weitgehend plausibel macht, was man im Rahmen gewisser Lebensformen kommuniziert. Ungeachtet dessen bleibt der Status sprechender Subjekte lebenslang ein prekärer aufgrund unaufhebbarer Welt-Fremdheit, die sich durchgängiger Versprachlichung widersetzt und auf diese Weise ihrerseits dazu herausfordert, sich ihr zu widersetzen. Nachträglich wird so die Gewalt einer ursprünglichen Versprachlichung sichtbar, die wir regressiv nicht mehr ganz und gar unterlaufen können (es sei denn um den pathologischen Preis des Widerrufs unserer Sprachlichkeit, d. h.: jeder Möglichkeit, uns mit sprachlichen Mitteln mit Anderen in Verbindung zu setzen – in eine Verbindung, die keineswegs immer schon und unverbrüchlich besteht). So bleibt, nachdem das vor-sprachliche Schweigen gebrochen und das Sprechen aus dem Körper eines sozialisierten Subjekts »herausgestoßen« wurde, 30 nur eine ›Flucht nach vorn‹ in die Auseinandersetzung mit Anderen, auch auf die Gefahr hin, im dreifachen Sinne nichts zu sagen zu haben, jedoch ständig zur Rede gestellt zu werden und sich verteidigen zu müssen, wie es eine angeblich unabdingbare »Selbsterhaltung durch Reden« mit rhetorischen Mitteln verlangt, die misologische Motive nährt. 31

5.

Zur Negativität sprachlichen Widerstands in der Austragung von Dissens

Unter der Maßgabe der Selbsterhaltung bringt das neuere rhetorische Denken Widerstand in der Form des Redens primär in fünf Hinsichten zur Sprache: Indem es fragt, (1) wer oder was widersteht bzw. widersetzt sich (2) wem/was (dem Wogegen des Widerstands), (3) auf welche Art und Weise (eher passiv, in einer passion de vérité, hinhaltend, aktiv mit Macht oder Gewalt, 32 in Formen wütenden, desartikulierten Protests mit Anderen oder geduldigen und solidarischen Heidegger, Sein und Zeit, S. 138; ders., Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, Frankfurt/M. 2002, S. 151. 30 R. Barthes, Das semiologische Abenteuer, Frankfurt/M. 1988, S. 30, 80. 31 J. Kopperschmidt, Rhetorica, Hildesheim 1985, S. 230, 232; ders. (Hg.), Rhetorische Anthropologie, München 2000. 32 H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 41985, S. 196 f.; Vf., »›Ich empöre mich, also sind wir‹ ? Zur fragwürdigen Politisierbarkeit einer ›re29

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Aufbegehrens gegen Dritte etc. 33), (4) in einer gegebenen, ggf. im richtigen Moment (kairós) umzugestaltenden Situation 34, (5) warum, mit welchem kurz-, lang- oder unbefristeten Ziel? Letzteres betrifft das Worumwillen widerständigen Sprechens. Jedoch sind wir auch mit Widerstand gegen dieses Modell sprachlichen Widerstands selbst konfrontiert, d. h. mit einem theoretischen Widerstand, der besonders im Kontext einer nachhaltigen Politisierung traditioneller Sprachphilosophie und Rhetorik nach einem anderen Denken von Sprache und Widerstand verlangt. 35 Phänomenologisch werden diese Fragen zunächst nicht vom Worumwillen des Widerstands, sondern von dem her herausgefordert, wogegen er sich richtet. Insofern liegt eine negativistische Methodologie der Erforschung widerständigen Sprechens nahe. In der konkreten Widerstandserfahrung ist häufig viel deutlicher, wozu er sich negativ verhält, als das, worauf er hinauswill. Typischerweise richtet sich für sich selbst oder Andere (advokatorisch) eintretender Widerstand 36 dagegen, dass herrschende, hegemoniale Interessen, die als solche vielfach erst zu entlarven sind, die Anerkennung und Implementierung für legitim gehaltener Ansprüche unterdrücken – im Extremfall dadurch, dass das jeweilige Idiom als Ganzes totalitär in Beschlag genommen wird, wie es Georges Orwell in seinem Roman 1984 beschrieben hat. Über die Reklamierung für berechtigt gehaltener, aber verletzter Ansprüche hinaus richtet sich Widerstand auch dagegen, nicht einmal einen Anspruch auf etwas geltend machen zu können, und schließlich dagegen, Andere erst gar nicht in einer angemessenen Artikulation eigener Ansprüche in Anspruch nehmen zu können. 37 Regelmäßig mündet verschärfte Kritik daran, sich gar nicht artikulieren und kein Gehör finden zu können, in den Vorwurf, nicht bellischen‹ Energie – mit Blick auf Albert Camus’ Der Mensch in der Revolte«, in: Scheidewege. Jahresschrift für skeptisches Denken (2018), i. E. 33 Vgl. F. Proust, De la résistance, Paris 1997. 34 F. O’Murchadha, Zeit des Handelns und Möglichkeit der Verwandlung. Kairologie und Chronologie bei Heidegger im Jahrzehnt nach Sein und Zeit, Würzburg 1999; engl. Version: The Time of Revolution, London 2013. 35 Siehe dazu im Folgenden die Abschnitte 7–9. 36 Vgl. N. Luhmann, Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, Frankfurt/M. 21997, S. 189. 37 J.-F. Lyotard, »Die Rechte des Anderen«, in: S. Shute, S. Hurley (Hg.), Die Idee der Menschenrechte, Frankfurt/M. 1996, S. 171–182; B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, Frankfurt/M. 2006, Kap. V.

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Zur Negativität sprachlichen Widerstands in der Austragung von Dissens

einmal die Bereitschaft dazu sei gegeben, Anderen Aufmerksamkeit und Gehör zu schenken und ihnen gegebenenfalls auch zuzustimmen, wenn sich ihre Anliegen als berechtigt erweisen. Von dieser nicht zu verrechtlichenden, d. h. nicht durch ein positives Recht sicherzustellenden Bereitschaft hängt tatsächlich jegliches widerständige Sprechen ab, wenn es sich an Andere wendet. Gleich welche Anliegen es geltend macht, es kann nicht einmal in dem Fall, dass von ihm die soziale und politische Existenz der Subjekte des Widerstands abhängt, unter Berufung auf positive Rechte erzwingen, dass ihm wirklich Gehör geschenkt wird. Es gibt ein Recht auf freie Meinungsäußerung, nicht aber darauf, dass sich Andere im Verhältnis zu einem Anspruch an ihre Adresse und den geäußerten Standpunkten gegenüber auch tatsächlich aufgeschlossen erweisen müssten. Wer sich äußern kann, aber kein Gehör findet, muss auf Dauer daran zweifeln, ob er überhaupt (sozial, politisch) existiert. Das bringt Roland Barthes auf den Punkt, wenn er schreibt, das Verlangen, Gehör zu finden, bedeute eigentlich, dass Andere zur Kenntnis nehmen und bestätigen sollen, dass diejenigen wirklich existieren, die sich an sie wenden. 38 Vor jedem (wie auch immer ›rhetorisch‹ ausgetragenen) Streit um Geltungsansprüche, vor jeder diskursiven Aushandlung strittiger Positionen müssen in der Tat Andere überhaupt als Subjekte sinnvoller Rede zugelassen sein und Beachtung finden. Genau an diesem Punkt zweigen neuere Theorien des Dissenses von traditionellen Theorien sprachlicher Auseinandersetzung ab, die sich auf bereits etablierte diskursive Spielräume beschränken und untersuchen, wie man sich dialektisch und umwillen der Erarbeitung einer gemeinsamen Sicht der Dinge in ihnen bewegen kann. Diese Theorien reduzieren den Begriff des Dissenses nicht auf eine möglichst gewaltlos auszutragende Nichtübereinstimmung in diskursiven Beurteilungen einer als strittig bereits ausgemachten Sache, sondern lokalisieren ihn im Sinne einer sozialen bzw. politischen Aisthesiologie im allerersten Auftauchen eines abweichenden Anspruchs an Andere, 39 der erst sekundär, wenn letztere diesem Anspruch Aufmerksamkeit geschenkt haben, im Hinblick auf seine fragliche Berechtigung und Geltung zu beurteilen ist. In der Form eines solchen Anspruchs an Andere nimmt R. Barthes, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt/M. 1990, S. 255; siehe dazu Kap. XIII, 6. 39 J. Rancière, Ist Kunst widerständig?, Berlin 2008, S. 14 f.; ders., Der emanzipierte Zuschauer, Wien 2009, S. 22. 38

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der Dissens nicht die Form eines Widerspruchs, 40 sondern die Form eines mehr oder weniger gewaltsamen, ereignishaften und Jean-François Lyotard zufolge nicht durch eine dritte Instanz zu schlichtenden oder aufzuhebenden Widerstreits an, der eine etablierte Rede-Ordnung durchkreuzt, ohne sich zuvor seiner Berechtigung dazu versichern zu können. Denn das hieße, eine sprachliche Auseinandersetzung über diesen Anspruch führen zu müssen, deren Möglichkeit gerade in Frage steht und überhaupt erst eröffnet werden muss. Das können Andere nur tun, indem sie nach einer solchen Auseinandersetzung verlangen, ohne sich vorher der Berechtigung dazu zu versichern. Wenn darin eine Gewaltsamkeit liegt, so ist sie weitgehend unvermeidlich. Allerdings wird es entscheidend darauf ankommen, ob und wie in einem unvermeidlich responsiven Geschehen die mehr oder weniger gewaltsame Herausforderung eines Anspruchs an Andere beantwortet wird – sei es durch Weg- und Überhören, sei es durch Hinhören und Würdigung und am Ende auch durch Anerkennung eines berechtigten Anspruchs, selbst wenn dieser mit anderen Ansprüchen derart konfligiert, dass keine Versöhnung oder dialektische Synthese absehbar wird. Insofern kann sich der in der Eröffnung der Auseinandersetzung liegende Dissens in dieser selbst fortsetzen, ohne aufhebbar zu werden. Die Frage ist dann, ob sich einem widerständigen Sprechen, dem es gelungen ist, die Auseinandersetzung zu erzwingen, noch andere Möglichkeiten als die einer forcierten Selbsterhaltung durch Reden gegen Andere eröffnen, die am Ende in einen Krieg mit Worten zu münden droht, auch wenn man auf einen Krieg mit Waffen verzichtet hat (so dass Worte in höchst zweideutiger Art und Weise an die Stelle von Waffen treten). 41 In diesem Fall befriedet die Austragung des Dissenses nicht etwa die sozialen und politischen Verhältnisse, sondern stellt womöglich nur ein Supplement des pólemos bereit, der uns angeblich ontologisch zu rückhaltloser Auseinandersetzung, sei es im Wortgefecht, sei es im bewaffneten Kampf gegeneinander, zwingt. Damit stellt sich allerdings die Frage, wie es den Beteiligten unter dieser Bedingung soll gelingen können, Gegner zu bleiben, ohne Feinde zu werden, die ihre Beziehung zu zerstören drohen. 42 Müssen sie sich, wenn sie das 40 41 42

G. Ueding, Moderne Rhetorik, München 2000, S. 114. Kopperschmidt, Rhetorica, S. 211. C. Mouffe, Über das Politische, Frankfurt/M. 2007, S. 69.

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Zur Negativität sprachlichen Widerstands in der Austragung von Dissens

abwenden wollen, wieder auf ein teleologisches Worumwillen widerständiger Rede besinnen? Kann ein solches Worumwillen aber als der Auseinandersetzung entzogen vorgestellt werden? Oder ist es seinerseits rückhaltlos der unvorhersehbar-ereignishaften Austragung von Dissens derart ausgesetzt, dass es immer wieder neu zu ermitteln ist? Niemand, auch kein philosophischer Experte in Sachen Kommunikation, ist »allein des Vernünftigen mächtig«, so dass er es sich ersparen könnte, mit Anderen in dieser Hinsicht zu Rate zu gehen. 43 Es gibt scheinbar keine im Voraus (archäologisch und/oder teleologisch) gesicherte Gemeinschaft der Verständigung, auf die wir uns mittels erneuter Vergemeinschaftung nur immer wieder zu besinnen bräuchten. Vielmehr setzt jeder Versuch, sich in einer zum Widerstand herausgeforderten und ihn herausfordernden Rede an Andere zu wenden, die niemals restlos und um jeden Preis zu etablierende Gemeinschaft mit ihnen immer wieder neu aufs Spiel. Jeder Versuch riskiert, nicht Gehör zu finden und in die Erfahrung eines sozialen oder politischen Todes zu münden. 44 Zwar mag man einen solchen Tod überleben können, so dass man Andere erneut in freimütiger Rede (parrhesía) auf Erwiderung hin ansprechen und ihnen auch ohne Berufung auf ein bereits anerkanntes juridisches Recht freier Rede (isegoría) Wahres zu denken geben (paradidonai) kann, um sie im Sinne des praktisch Besten zur Gemeinschaft einzuladen. 45 Doch die Aussetzung (im zweifachen Sinne des Wortes) von Gemeinsamkeit und Gemeinschaft auf die Gefahr hin, nichts dergleichen wirklich zu erfahren, bleibt doch jedes Mal unvermeidlich. Und sie mutet Anderen unabdingbar einen originären Dissens im Auftauchen eines fremden Anspruchs zu, dem sie sich allemal nur nachträglich und niemals so stellen können, dass es gelingen könnte, sich dessen Fremdheit zu eigen zu machen. So gesehen steht am Beginn jeder Auseinandersetzung mit Anderen das páthos menschlicher Sprachlichkeit, d. h. das Widerfahrnis eines fremden, insofern niemals von etablierten Rede-Ordnungen ›rhetorisch‹ zu reglementierenden Anspruchs, der, als fremder, weder Ueding, Moderne Rhetorik, S. 125. J. Shklar, Political Thought and Political Thinkers, Chicago, London 1998, S. 68; J. Butler, Hass spricht, Berlin 1998, S. 45, 49 f. 45 Ueding, Moderne Rhetorik, S. 129; M. Foucault, Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France (1981/1982), Frankfurt/M. 2004, S. 465–470; ders., Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83, Frankfurt/M. 2009, S. 65, 78 f., 409. 43 44

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in einem gemeinschaftlichen êthos noch auch in einem universalen lógos der Verständigung je aufgehen kann. Und dieses Widerfahrnis fordert dazu auf, dem Anspruch des Anderen Gehör zu schenken, ohne das je erzwingen zu können. Das heißt, wie Jacques Rancière am Beispiel des Menenius gezeigt hat 46, freilich nicht, dass es allemal nur eine Frage der Großzügigkeit derer wäre, die etwas zu sagen haben, ob sie sich dazu herablassen, einem fremden Anspruch Aufmerksamkeit zu schenken. Zwischen Subjekten widerständiger Rede, die sich in unvorhergesehener Art und Weise an Andere wenden, einerseits und ihren Adressaten andererseits, im Zwischenraum dieses inter-esse (Hannah Arendt), findet vielmehr ein niemals ganz nach Regeln ablaufendes und absehbares, vielmehr irreguläres responsives Geschehen statt, in dem die Adressaten nicht nicht hören können, aber nicht zuhören müssen. Mag der Anspruch Anderer sich auch als unbedingter Gehör zu verschaffen suchen, er kann doch nichts daran ändern, dass er nur unvermeidlich vernommen, aber doch nicht auf jeden Fall und uneingeschränkt beachtet werden muss.

6.

Zur Agonalität verurteilt? Kritik des Widerstandsdenkens

Bedeutet das nun aber, dass diejenigen, die im Versuch, sich Gehör zu verschaffen, Widerstand dagegen ausüben, womöglich sozial und politisch mangels Beachtung überhaupt nicht zu ›zählen‹, nur auf einen rhetorischen Sprachkampf mit symbolischen Mitteln setzen können? Bleibt es dabei, dass sie sich mit einem auf Gewalt verzichtenden agonalen Verhältnis abfinden müssen, in dem sie nur durch die Kraft, Macht und Stärke ihrer eigenen Formen des Protestes, der Ein- und Widerrede vorankommen können? Müssen sie auf diese Weise zu einem Sprach-Macht-Kampf auf Dauer verurteilt bleiben, in dem sie nur immer wieder versuchen können, ihren Willen auf rhetorischen Wegen durchzusetzen, wenn sie ungeachtet ihrer mehr oder weniger begründeten Wut und ihres mehr oder weniger berechtigten Zorns nicht die Macht haben, Anderen ihren Willen aufzuzwingen? J. Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt/M. 2002, S. 35– 38; ders., Ist Kunst widerständig?, S. 63; vgl. A. Koschorke, S. Lüdemann, T. Frank, E. Matala de Mazza, Der fiktive Staat, Frankfurt/M. 2007, S. 15, 29, 351. Siehe auch Kap. XIX, 2, wo darauf zurückzukommen sein wird.

46

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Zur Agonalität verurteilt? Kritik des Widerstandsdenkens

An dieser Stelle, wo die Optionen einer agonalen Existenz geradezu zwanghafte und fatale Züge eines Strebens nach Hegemonie 47 annehmen, gehen Theoretisierungen widerständiger Rede ihrerseits zum Widerstand gegen das Modell eines solchen Redens über. Statt nur erneut die rhetorischen Register zu sichten, die ihm von der inventio (die das zu Sagende findet) über die písteis (die Aufstellung der Beweise), ihre táxis (Anordnung im Diskurs), lexis (ihre verbale Ausformung) und hypókrisis (die Inszenierung des Diskurses durch den Sprechenden) bis hin zu Techniken Vertrauen erweckender Rede (fidem facere) zur Verfügung stehen, wenden sie sich gegen die Vorherrschaft einer agonalen Sprachlichkeit, die seit der Sophistik (ca. 450–380 v. u. Z.) das ganze Sprechen zu absorbieren drohte und ungeachtet aller Niederlagen, die sie inzwischen erlitten hat, im politischen Sprachkampf bis heute fragwürdige Triumphe feiert. Eine schon von Blaise Pascal bemängelte destruktive Eristik zeigt sich bloß daran interessiert, Gegner durch Widersprüche, in die man sie verwickelt, auszustechen oder zu liquidieren. 48 Ist das aber der Sinn alles widerständigen Sprechens: über Andere den rhetorischen Sieg davonzutragen, um auf diese Weise sozial und politisch zu überleben? Lässt es sich so gesehen nur auf der Folie einer Ontologie der Selbsterhaltung und der Selbststeigerung verstehen, die scheinbar ständig darauf aus sein muss, sich gegen Andere (sprachlich) am Leben zu erhalten, um ihrer rhetorischen Macht nicht zum Opfer zu fallen? Oder ist das ein Zerrbild menschlicher Kommunikation? Müssen wir, wenn es sich so verhalten sollte, nach Auswegen aus der (von Roland Barthes nicht umsonst als »faschistoid« denunzierten und zuvor von Georges Bataille als geradezu tödlich gebrandmarkten 49) sprachlichen Kommunikation suchen? Oder eröffnet diese selbst noch andere, nicht auf Gedeih und Verderb agonale Wege menschlicher Sprachlichkeit? Im Lichte dieser radikalen Frage geht es Theoretisierungen widerständiger Rede nicht nur um die Beschreibung gewöhnlicher rhetorischer Mittel, mit denen man sich dem Willen Anderer erfolgreich E. Laclau, Emancipation(s), London, New York 1996, S. 45 f.; ders., »Dekonstruktion, Pragmatismus, Hegemonie«, in: C. Mouffe (Hg.), Dekonstruktion und Pragmatismus, Wien 1999, S. 111–154. 48 Barthes, Das semiologische Abenteuer, S. 43. 49 R. Barthes, Das Neutrum. Vorlesung am Collège de France 1977–1978, Frankfurt/ M. 2005, S. 162; G. Bataille, Die Freundschaft und Das Halleluja (Atheologische Summe II), München 2002, S. 89. 47

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widersetzen kann, sondern um eine Kritik rhetorischen Widerstandsdenkens selbst, insofern es uns traditionell als zum Sprach-MachtKampf verurteilte Wesen aufzufassen nahelegt. Über die klassische Topik hinaus, die gezeigt hat, wie sehr sich das effektive Reden auf Ressourcen des sogenannten gesunden Menschenverstandes (wie Gemeinplätze, das Glaubhafte und für möglich bzw. wahrscheinlich Gehaltene etc.) auf kluge (phronetische) Art und Weise stützen muss, setzt sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend die Forderung nach einer neuartigen Sprachlichkeit durch, der man buchstäblich Außerordentliches zutraut: nämlich eine womöglich revolutionäre, auf jeden Fall aber subversive, nicht zuletzt mit ästhetischen und poetischen Mitteln vorgehende Praxis der Sprache, die sich der Herrschaft einer normalisierten Sprachlichkeit sollte widersetzen können, sei es im Sinne einer unkontrollierbaren Sensibilität (Roland Barthes), sei es im Zeichen des Nicht-Identischen (Theodor W. Adorno) oder der Exteriorität des Anderen (Emmanuel Levinas). Wie sollte man sich aber, statt nur destruktiv »Risse i[m] System des Sinns« zu bewirken, produktiv gegen die Herrschaft der Sprache bzw. einer normalisierten, nur das Identische aussagenden und dem Seienden verpflichteten Sprachlichkeit wenden können? 50 Wird von uns nun verlangt, aus jeglichem »System des Sinns« überhaupt auszuscheren, um ein poetisches Sagen anzurufen, dem gegenüber die Prosa jeglicher rhetorischen und anti-rhetorischen Rede geringgeschätzt werden müsste? An dieser Stelle drängt sich die Frage nach dem Wie möglichen Widerstands auf, der sich nicht nur gegen die Macht und Gewalt Anderer, sondern gegen das angebliche Verurteiltsein zu einer agonalen Sprachlichkeit selbst richten könnte; und zwar so, dass davon auch der ›normale‹ Sprachgebrauch inspiriert zu werden verspricht. Nicht nur in einem taktischen, sondern in einem radikal das eingangs skizzierte, tradierte Denken sprachlichen Widerstands gegen Andere subvertierenden Sinn hat man alle performativen Register der Sprachlichkeit durchmustert: von der Suspendierung der Wortergreifung, die dem Anderen den Vortritt lässt, statt das Wort nur zu ergreifen, um es sich zu eigen zu machen 51, über ein intermediäres Schweigen, das sich dem Agonismus von Rede und Gegen-Rede entzieht, indem es Andere zu einer Aussprache einlädt, die nicht immer 50 51

Barthes, Das semiologische Abenteuer, S. 12, 18. G. Agamben, Das Sakrament der Sprache, Berlin 2010, S. 89.

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schon Gegen-Rede sein muss, bis hin zu einer figürlichen, metaphorischen und katachrestischen Redepraxis 52, die unvorhergesehene Spielräume der Abweichung eröffnet, um Auswege aus ständigem Reden gegeneinander und aus der Fixierung auf Ja-Nein-Stellungnahmen zu Geltungsansprüchen zu weisen, für die sich die moderne Diskursethik allein zu interessieren scheint. 53 Diese längst nicht mehr (wie bei Aristoteles) im Verhältnis zur eindeutigen Rede als defizient einzustufende Redepraxis erkämpft, lässt aber auch und eröffnet mehr oder weniger zwanglos neue, digressive (politische und antipolitische) Spielräume – man denke an Michail Bachtins russische Apologie einer dissidenten »Sprache des Lachens«, an Václav Havels tschechisches Plädoyer für eine politisch widerständige Selbstironie und an György Konráds ungarische Antipolitik 54 – in allen (mündlichen, schriftlichen, virtuellen) Registern menschlicher Sprachlichkeit, die allen zugutekommen können. Diese Praxis lässt und eröffnet nicht allein Spielräume einer »nicht richtig gefügten« 55 Rede, die irreguläre Bedeutungen, Anspielungen und Nuancen ins Spiel bringt und dafür sensibilisiert, was immer auch anders gemeint und gesagt werden könnte und insofern kontingent bleibt, sondern darüber hinaus Spielräume der Alterität, in denen das Geheimnis aller Kommunikation liegt (nicht nur der »Literatur«, der manche diese Praxis vorbehalten sehen). Schließlich wendet sie sich an Andere als Andere und sucht ihnen als solchen zu begegnen. 56 Nicht nur jeder Andere, auch jedes Selbst, als im Verhältnis zu sich selbst ›Anderer‹ (soi-même comme un autre), weicht von sich selbst ab, wie Paul Ricœur gezeigt hat. Anders und ein Anderer sein heißt: auf unabsehbare Art und Weise anders/Anderer zu sein – im Verhältnis zu sich selbst und zu Anderen. Diese Ander(s)heit macht paradoxerweise auch vor der Kategorie des Andersseins selbst nicht halt. Andernfalls höbe sich wie gesagt »die Andersheit […] auf, inG. Posselt, Katachrese, München 2005; A. Hetzel, Die Wirksamkeit der Rede. Zur Aktualität klassischer Rhetorik für die moderne Sprachphilosophie, Bielefeld 2011, S. 305, 319 f. 53 J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1984; vgl. dagegen F. Jullien, Dialog über die Moral, Berlin 2003. 54 M. Bachtin, Literatur und Karneval, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1985, S. 35; V. Havel, »Anatomie einer Zurückhaltung«, in: F. Herterich, S. Semler (Hg.), Dazwischen. Ostmitteleuropäische Reflexionen, Frankfurt/M. 1989, S. 34–64; G. Konrád, Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen, Frankfurt/M. 1985. 55 Hetzel, Die Wirksamkeit der Rede, S. 321. 56 Vgl. D. Mersch, Posthermeneutik, Berlin 2010. 52

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dem sie das Selbe wie sie selbst wird«. 57 Allerdings ist es fraglich, ob sich überhaupt Formen der Kommunikation vorstellen lassen, die sich einem Zwang der Normalisierung zu widersetzen vermögen, durch die diese Andersheit des Selbst und der Anderen systematisch verkannt, vergessen oder verdrängt wird. Ist etwa »entgegen dem, was gewöhnlich angenommen wird, […] die Sprache nicht die Kommunikation, sondern ihre Negation«, wäre mit Georges Bataille zu fragen. 58 Kann dem eine katachrestische Praxis entgegenwirken, die nicht nur Möglichkeiten der Resignifikation von bereits Gesagtem innerhalb oder am Rande gewisser Sprachspiele, sondern auch außerordentliche Spielräume der Alterität eröffnet und freihält, die es uns gestatten würden, einander eingedenk einer ursprünglichen WeltFremdheit zu begegnen, die niemals aufgehoben werden kann? Oder wird jedes denkbare Idiom nur versagen können angesichts dieses Anspruchs einer außerordentlichen Gastlichkeit, die zu versprechen scheint, dass wir trotz oder vielmehr gerade angesichts dieser ursprünglichen und nicht zu tilgenden Fremdheit weiterhin im Zusammenleben mit Anderen aufgenommen bleiben können? 59 Diese Frage führt uns zum Wofür oder Worumwillen widerständiger Rede. Françoise Proust spricht in ihrer Widerstands-Theorie von einem »loi immanente à un sujet«, das es zur unbedingten Widersetzlichkeit gegen den Tod bestimme. Die Rede ist von einem »résister à l’irrésistible« 60, wie es der (endgültige) Tod bedeutet. Über einen solchen, an den Physiologen Xavier Bichat und seine berühmte Definition des Lebens als Widersetzlichkeit gegen den Tod erinnernden Widerstand hinaus wird Widerstand aber von jeder Verletzung der Würde und in politischer Hinsicht speziell von Ungerechtigkeiten provoziert, die das Leben unlebbar (inviable bzw. invivable 61) zu machen drohen. In diesem Fall wird man auch einer drückenden Übermacht ggf. nicht weichen und selbst in eine vorläufige Niederlage P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 426. Siehe dazu bereits das Kap. VIII, 6, oben. 58 Bataille, Die Freundschaft, S. 89. 59 M. Blanchot, Das Unzerstörbare, München 1991, S. 106. 60 F. Proust, »Résister à l’irrésistible. Entretien avec Françoise Proust«; http://daniel bensaid.org/Resister-a-l-irresistible?lang=fr. 1998. 61 Inviable meint zunächst ›nicht lebensfähig‹ (wie beim Neugeborenen); dagegen spricht bereits Gaston Bachelard von einem anderen Leben »qu’il faut désigner par un néologisme et une contradiction comme une vie invivable«; in: G. Bachelard, Lautréamont [1939]. Nouvelle édition augmentée, Paris 1965, S. 97. 57

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womöglich niemals sich fügen, sondern umwillen einer Welt, »qui mériterait son nom de monde«, mehr oder weniger zäh, hinhaltend und organisiert den Widerstand aufrechterhalten – solange die Macht im Spiel ist, die ihn herausfordert, sei es auch die Übermacht des Todes selbst, die Andere für sich einspannen. 62 Wo Macht ist, zeigt sich Widerstand, nimmt Proust mit Foucault an. Widerstand dient indessen keineswegs nur purer Selbsterhaltung, der Prävention eines sozialen und politischen Todes, der eintritt, wenn wir überhaupt nicht mehr Gehör finden, oder dazu, eine Niederlage in einem agonalen Machtspiel abzuwenden, welches angeblich dazu zwingt, dass man einander unbedingt zu übertreffen suchen muss. Widerstand wird auch gegen ein Modell sprachlichen Widerstands selbst aufgeboten, dem zufolge wir in der einen oder anderen Weise zum Sprach-Macht-Kampf (oder, wie von Foucault polemisch behauptet wurde: zum Krieg 63) gegeneinander geradezu verurteilte Lebewesen zu sein scheinen. Man sucht nach Auswegen aus derart fatalen Implikationen dieses Modells im Namen einer Alterität, die wir nicht nur jedem Anderen als ›verschiedenem‹ Anderem zuerkennen oder zugestehen, wie es noch in Habermas’ Apologie sogenannter Differenzsensibilität vorgesehen ist, sondern deren fremder Anspruch uns immer schon zuvorgekommen ist, auch wenn wir uns »auf Erwiderung hin« 64 selbst an oder gegen jemanden wenden.

Dass letzteres auch und gerade »im Namen des Volkes« geschehen kann (und hierzulande in großem Stil geschehen ist), bleibt unvergessen. Man erinnere sich nur daran, wie der ehemalige Präsident des NS-Volksgerichtshofs Roland Freisler die Angeklagten, die vor ihm erscheinen mussten, niederschrie. Der seinerzeit zum inneren Kreis der Weißen Rose zählende, damals 24-jährige Willi Graf quittierte das allerdings mit einem unvergleichlichen Lächeln, nachdem er zum Tode verurteilt worden war. Bezeugte dieses zugleich nichts und viel sagende Lächeln nicht den äußersten, gewaltlosen Widerstand gegen die Gewalt und deren Ohnmacht? Vgl. das Zeugnis von K. Schüddekopf in: K. Vielhaber, Gewalt und Gewissen. Willi Graf und die »Weisse Rose«. Eine Dokumentation, Würzburg 1963, S. 101–105. Wir sind hier allerdings weit davon entfernt, diese Fragen auszuschöpfen. 63 M. Foucault, Dispositive der Macht, Berlin 1978, S. 29, 40, 71. 64 K. Löwith, »Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen«, in: Sämtliche Schriften, Bd. 1, Stuttgart 1981, S. 9–197, hier: S. 122. 62

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XI · Widerstand und Sprache

7.

Widerstand und Alterität

Es ist keine Übertreibung, auf die Sozialphilosophie der Alterität – die erst im 20. Jahrhundert, nach den schwersten seriellen Verbrechen zur Geltung gekommen ist, die gegen Andere und deren Anderheit selbst denkbar sind – die nachdrücklichste Besinnung auf die Frage zurückzuführen, worin der Widerstand liegt, der zu einer widerständigen Rede herausfordert, und woher er rührt. Wie gezeigt wurde, ist man auf diesen Begriff erst durch die Vorarbeiten Marie-François Maine de Birans und Wilhelm Diltheys aufmerksam geworden, die von Martin Heidegger bis hin zu Paul Ricœur tiefe Spuren hinterlassen haben. 65 Was ›wirklich‹ ist, lehrte v. a. Dilthey auf den Spuren Hegels, wirkt auf uns und wird insofern als Kraft erfahren, die auf Widerstand trifft. Insofern kommt jegliche Realität wesentlich durch die Erfahrung von Kraft und Widerstand zur Geltung. Ricœur insistierte zuletzt in Das Selbst als ein Anderer (1996) mit Levinas jedoch darauf, dass keineswegs nur etwas im üblichen Sinne Reales uns widersteht (sei es als bloßes Hindernis, sei es als aktiv Widersetzliches, sei es als pathologisch Schmerzhaftes etc.) und zur Anstrengung herausfordert, den fraglichen Widerstand zu überwinden. Vielmehr ist gerade dort, wo diese Anstrengung in größtem Ausmaß unternommen worden ist, nämlich in der genozidalen Gewalt und in den seriellen Morden des 20. Jahrhunderts, ein Widerstand anderer Art, nämlich ein moralischer Widerstand zum Vorschein gekommen, von dem Levinas behauptete, er habe sich als unüberwindlich erwiesen: der Widerstand des Gesichtes (visage) des Anderen, aus dem das Verlangen (oder sogar das Gebot) gleichsam spreche, nicht an seinem Tod (und nicht einmal an seiner Sterblichkeit) schuldig werden zu sollen. So gesehen ist die Anderheit des Anderen gerade keine bloß visuelle Realität, sondern sie ›sagt‹ oder besagt etwas; aber nicht als Gesagtes, sondern in der Form eines Sagens (dire), zu dem sich jedes Vorgehen gegen Andere und jedes Zugehen auf sie bereits verhalten muss. In der ›Optik‹ dieses Ansatzes ›spricht‹ das Gesicht und gebietet etwas – auch gänzlich wortlos –, nämlich absolute Nicht-Indifferenz angesichts der Sterblichkeit des Anderen. Vermittels dieser Nicht-Indiffe-

65

Vgl. das Kapitel X in diesem Band.

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renz soll sich der durch keine Mordmacht überwindbare, radikalste Widerstand des Anderen offenbaren. 66 Levinas hat nicht behauptet, das beweisen zu können; wohl aber glaubte er, sich in diesem Sinne auf die Bezeugung eines unverfügbaren Anspruchs des Anderen stützen zu können. Diese Bezeugung bedeutet ihrerseits keinen unanfechtbaren Geltungsanspruch, wohl aber einen nicht-veritativen Wahrheitsanspruch im Modus der attestation 67, die uns immer schon auf der Spur dieses Anspruchs existieren und insofern, mit Martin Heidegger oder Václav Havel gesprochen, »im Wahren« (d. h. der Frage nach Wahrheit und Unwahrheit ausgesetzt) sein lässt. Insofern wir uns stets nur nachträglich auf diesen immer schon vorgängigen Anspruch beziehen können, erweist dieser sich als unverfügbar und der Widerstand, der in ihm liegt, als unüberwindlich. Streng genommen wissen wir allerdings von einem solchen Anspruch und Verlangen nichts. 68 Es geht hier überhaupt nicht um eine epistemische Wahrheit, um Erkenntnis oder wenigstens bis auf weiteres gesichertes Wissen, sondern um das páthos bzw. Widerfahrnis der Zumutung, sich zum Anderen niemals indifferent zu verhalten. Das heißt, niemals kann uns ein Anderer je als bloße Sache begegnen, zu der wir uns in souveräner Freiheit so oder so, ggf. auch in genozidaler Gewalt, vollkommen ›gleichgültig‹ verhalten könnten. Eine solche Freiheit steht nicht in unserer Macht. Wohl aber eine Freiheit nachträglicher Neutralisierung oder Vergleichgültigung jenes Verlangens, in dem so gesehen nur eine ethische Herausforderung zu einer nicht-indifferenten Antwort auf den Anspruch des Anderen liegt, nicht aber eine effektive Bestimmung dessen, wie (und ob überhaupt und ob angemessen) auf diesen Anspruch im Sinne des Anderen Antwort zu geben ist. Versteht man Levinas so, dann ist es ausgeschlossen, aus seiner Philosophie der Alterität eine Art Ethizismus abzuleiten, der jegliches E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br., München 1992. 67 P. Ricœur, »L’attestation: entre phénoménologie et ontologie«, in: J. Greisch, R. Kearney (Hg.), Paul Ricœur: les métamorphoses de la raison herméneutique, Paris 1991, S. 381–403; P. Ricœur, »Entre éthique et ontologie: la disponibilité«, in: M. Sacquin (éd.), Gabriel Marcel, Paris 1989, S. 157–165, 193–200; P. Ricœur, »Emmanuel Levinas: Penseur du témoignage«, in: J.-C. Aeschliman (Hg.), Répondre d’autrui, Neuchatel 1989, S. 17–40. 68 Vgl. J.-F. Lyotard, J.-L. Thébaud, Politik des Urteils, Berlin, Zürich 2011, S. 90, 119. 66

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soziale und politische Reden und Tun mit Worten und ohne Worte einer eindeutigen ethischen Norm unterwerfen würde, aus der zu ersehen wäre, wie wir uns zum Anderen (in einer Vielzahl anderer Anderer) verhalten und wie wir uns im Zeichen der Alterität des Anderen darüber hinaus einem agonalen Sprachverständnis widersetzen sollten. Gewiss zu Unrecht ist aber ein solcher Ethizismus Levinas u. a. von Jacques Rancière und Alain Badiou vorgeworfen worden 69, die dabei weitgehend übersehen haben, wie sich Levinas’ Apologie der Alterität schon in seinem ersten Hauptwerk, Totalität und Unendlichkeit (1961), für eine Dimension der Tertialität und damit für ein genuin politisches Denken all der Gestaltungsspielräume öffnet, in denen ethische Ansprüche einer Vielzahl anderer (ökonomischer, ökologischer, technischer, systemischer) Ansprüche widerstreiten, ohne dass eine Synthese im Rahmen einer gesellschaftlichen Sittlichkeit abzusehen wäre, die alle diese Ansprüche in sich aufzuheben verspräche. Zweifellos berechtigt ist aber die Kritik an Levinas, weder seine Philosophie noch die Realisierung des Anspruchs des Anderen könne je »ohne Rhetorik« 70 auskommen, wie es Levinas ausdrücklich glauben macht. Nicht nur bedient er sich wie kaum ein anderer eminent gewaltsamer Metaphern (wie der Geisel [otage], in deren Rolle wir uns angeblich als Adressaten des Anspruchs des Anderen befinden, von dessen Präsenz – ohne jedes Zutun unsererseits – ein unüberwindlicher ethischer Widerstand ausgehe). Er übersieht auch, wie sehr dieser Anspruch darauf angewiesen ist, beispielsweise als gerechter artikuliert und mit heterogenen Ansprüchen konfrontiert und zum Ausgleich gebracht zu werden, wenn ihm nicht das soziale und politische Leben in geradezu weltfremder Art und Weise vollkommen unterworfen gedacht werden soll (was auf eine Zerstörung des Sozialen und des Politischen hinauszulaufen droht, wie schon die frühe Levinas-Kritik von Jacques Derrida andeutete 71). In dieser Perspektive haben wir allen Grund, vom radikalsten, ethischen Wider-

Siehe Anm. 49 zu Kap. VIII, sowie O. Marchart, Die politische Differenz, Berlin 2010, S. 175 f.; D. Mersch, »The Political and the Violent. On Resistances«, in: A. Esch-van Kan, S. Packard, P. Schulte (Hg.), Thinking, Resisting, Reading the Political, Zürich 2013, S. 65–88. 70 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br., München 1987, S. 95. 71 J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1976, S. 226. 69

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stand gegen die Vorstellung vermeintlich souveräner Selbstbehauptung gegen die sprachliche Macht Anderer aus auf die Frage zurückzukommen, wie sich uns Praktiken widerständiger Rede im Lichte der angedeuteten Radikalisierung des Problems darstellen, was es überhaupt bedeutet, zu widerstehen und wie bzw. worumwillen das geschehen kann bzw. muss.

8.

Widerstand im Zeichen des Politischen

Von Platon über Kant bis in die politische Gegenwart hinein (etwa bei Judith N. Shklar, Françoise Proust und Emmanuel Renault) wird immer wieder die Erfahrung von Ungerechtigkeit als ausschlaggebendes Motiv dafür genannt, dass Menschen Einspruch erheben, d. h. dass sie ihrer Stimme Gehör verschaffen wollen, um sich dem zu widersetzen, was ihnen prima facie unannehmbar und mit einem menschlichen, wirklich sozialen oder politisch akzeptablen Leben unvereinbar zu sein scheint. 72 Diese Engführung ist allerdings strittig, da mit Recht darauf hingewiesen wurde, dass etwa die Erfahrung von systematischer Demütigung, die Verletzung elementarer Rechte, die man selbst am eigenen Leib erfährt oder die Andere erleiden, und die individuelle Erfahrung eines mundtot gemachten, marginalisierten oder prekären, so oder so als geradezu ›unlebbar‹ erfahrenen Lebens ebenso ernst zu nehmen sei. 73 Darüber hinaus ist mit Nachdruck bestritten worden, es lasse sich noch ein Begriff politischer Gemeinschaft oder Gesellschaft verteidigen, der impliziert, genau eine Norm könne noch unproblematisch als Worumwillen oder télos sozialen und politischen Lebens verteidigt werden. Während Verteidiger dieses Standpunkts nach wie vor nach einer richtigen und nicht-pathologischen Ordnung des Sozialen und des Politischen fragen, behaupten deren Kritiker, auf diese Weise würde ein durch nichts zu rechtfertigendes Vorverständigtsein im Sinne dieser Norm geradezu hypostasiert, wohingegen die Erfahrung doch lehre, dass Dissens vor nichts haltmache, auch nicht vor der Frage,

Vgl. J. N. Shklar, Über Ungerechtigkeit, Frankfurt/M. 1997; E. Renault, L’Expérience de l’injustice, Paris 22017. 73 Vgl. A. Margalit, Politik der Würde, Berlin 1997; Metodo. International Studies in Phenomenology and Philosophy 2014; I. Lorey, Die Regierung der Prekären, Wien 2012. 72

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wozu wir überhaupt miteinander sprechen und uns streiten. Nachdem fragwürdige Idealisierungen eines Konsenses, der menschliche Kommunikation geradezu überflüssig machen würde, zurückgewiesen worden sind 74, zieht man sich verstärkt auf nur mehr prozedurale Konzeptionen des Sozialen und des Politischen zurück, die besagen, nicht in einem Vorverständigtsein über gemeinsame Ziele, sondern allein in der Form der Auseinandersetzung selbst liege dasjenige, was uns ungeachtet aller möglichen Konflikte verbinde bzw. verbinden sollte. In Annahmen eines solchen Vorverständigtseins sieht man eine Depolitisierung des Politischen, das in Wahrheit weiterhin von (wenn auch vielfach kaschierten) tief greifenden Konflikten geprägt sei, die auch alle Vorstellungen davon in Mitleidenschaft ziehen müssten, wozu wir uns auseinandersetzen. So widersetzen sich Apologeten des Dissenses einer Pseudo-Harmonie, die sie in jeder Unterstellung einer Einigkeit erkennen; sei es auch nur die Einigkeit darin, inwiefern man sich uneinig ist und wie das auszutragen wäre. Und sie dramatisieren so weitgehend wie nur möglich den existenziellen Einsatz, der, wie sie meinen, immer auf dem Spiel stehe, wo man mit der Herausforderung speziell politischer Lebensformen konfrontiert sei. Wenn wir Rancière folgen, dann handelt es sich tatsächlich um eine Frage von (politischem) Leben und Tod. Wer nicht gehört wird, existiert politisch nicht und sieht sich dazu gezwungen, sich dem unter allen Umständen zu widersetzen. Das kann aber, meint Chantal Mouffe, nicht bedeuten, zu allen denkbaren Mitteln zu greifen. So sehr sie Sympathie hegt für ein polemologisches, von Carl Schmitt inspiriertes Denken des Politischen, so sehr insistiert sie am Ende selbst darauf, auch im Kampf um politische Existenz müsse man Gegner bleiben und dürfe nicht zum Feind werden, der letztlich auf die Vernichtung des Anderen abziele. Deshalb plädiert sie dafür, antagonistische Beziehungen so weitgehend wie nur möglich in agonale Verhältnisse zu überführen und sie daran zu hindern, wieder in ›feindlich‹-antagonistische umzuschlagen. (Appelliert Mouffe auf diese Weise nicht ihrerseits an eine politische Einigkeit, obwohl sie sich von diesem Begriff immer wieder polemisch distanziert?) Wird nicht dort, wo antagonistische Politik darüber hinaus zur Vernichtungspolitik mutiert, in der Tat das Politische mit zerstört, das immer noch um die zentrale Herausforderung der Regelung der sog. 74

A. Wellmer, Sprachphilosophie, Frankfurt/M. 2004.

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gemeinsamen Angelegenheiten gleichsam gravitiert? 75 Es steht jedoch nicht fest, was unter gemeinsamen Angelegenheiten zu verstehen ist und ob sie von Anderen, die behaupten, sie zur Sprache zu bringen und sich um sie zu kümmern, nicht rhetorisch okkupiert und für partikulare Zwecke in Dienst genommen werden. Wer darf überhaupt beanspruchen, für sie zu sprechen? Eine Identität des politischen Willens aller mit einer volonté générale, wie sie Jean-Jacques Rousseau gedacht hat, lässt sich nicht mehr verteidigen 76; zumal dann nicht, wenn jedermann zunächst nur einer global de-limitierten multitude, keineswegs aber von vornherein einem dêmos angehört, der sich als souveränes Volk in einem solchen Willen artikulieren Finley, Das politische Leben in der antiken Welt, S. 13; D. Sternberger, Die Politik und der Friede, Frankfurt/M. 1986, S. 79, 84 f. 76 É. Balibar, Der Schauplatz des Anderen. Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität, Hamburg 2006. Balibar wirft kritisch mit Blick auf Rousseau die entscheidende Frage auf: ›wie wird ein Volk zum Volk‹ ? Gewiss nicht durch Überwindung bloßer aggregation durch association ohne geringste Distanz (S. 93 ff.). Stets bleibt es gewissermaßen grundiert durch ein unkontrollierbares Kommen und Gehen (S. 60. 90), also durch Fluktuationen, die in der Frage der Zugehörigkeit unvermeidlich zu unscharfen Grenzen führen, ohne dass sich die ›Menge‹ der Leute (multitudo, masse; S. 52, 193) eindeutig als historische Einheit oder als politische Körperschaft identifizieren ließe (S. 97). Die originäre Unbestimmtheit des Volkes manifestiert sich auch affektiv: sei es als Unbeständigkeit des »gemeinen Mannes« (plebs, vulgus), sei es als »Rottieren« (S. 100; Kant), als Potenzial der Insurrektion, des Aufruhrs (S. 62, 98, 303). Das affektive Potenzial einer ›Menge Volk‹ wird nur gebändigt, wenn die Betreffenden ihre Wut, ihren Zorn und ihre Empörung bzw. deren Ausdruck zivilisieren, indem sie letzteren auf Erwiderung hin, möglichst mit Gründen, an Andere adressieren und ihnen freie Spielräume des Antwortens einräumen, in denen die Anlässe, Gründe und Ursachen der Wut etc. dem Streit ausgesetzt werden können. Andernfalls schlägt dieses Potenzial in anti-politische Destruktivität um. Das ist der Grund der vielfach bekundeten Furcht vor dem Volk als aufrührerischer Masse (S. 53, 64 ff., 74, 89), die Balibar mit Spinoza analysiert (É. Balibar, Spinoza et la politique, Paris 1985, bes. S. 46, 84, 103). In der Tat muss die Empörung in diesem Sinne vom Geist des Politischen bestimmt sein, soll sie nicht in selbstgerechte Gewalt gegen Andere münden. Diese Gefahr besteht aber ständig. Das affektive Potenzial des Volkes ist nicht ein für alle Mal zu zivilisieren. Deshalb müssen sich ›die Leute‹ auch vor sich selbst fürchten. Andernfalls wird der Ausdruck ihrer Affekte selbst ›fürchterlich‹ (Balibar, Der Schauplatz, S. 78). – Nicht überzeugt bin ich davon, dass der Andere, der in diesem Sinne politische Rücksicht verdient, (nur) »durch das Recht präsentiert« wird, wie bei Balibar zu lesen steht (S. 108), der sich weitgehend Kant und dessen Idee einer »Selbstorganisation des Volkes« im Modus einer »das Recht verwaltenden Gesellschaft« anzuschließen scheint (S. 115). In der Tat ist diese Organisation »nichts Gegebenes«, denn sie setzt voraus, dass Andere als solche überhaupt in Erscheinung treten und Gehör finden können (S. 116). Das ist nicht allein rechtlich, sondern nur durch politische Responsivität zu verbürgen. 75

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könnte. 77 Ebenso wenig lässt sich die Souveränität eines allgemeinen Willens verteidigen, der die Differenzen, die uns trennen, in sich aufzuheben verspräche – bis auf eine Kakophonie des Sozialen, der keine substanzielle Wirklichkeit zu bescheinigen ist, wenn wir Hegel folgen. Wenn jemand für die gemeinsamen Angelegenheiten als ›allgemeine‹ spricht, so kann er oder sie doch niemals mit dem Allgemeinen zusammenfallen und muss ehrlicherweise dementieren, mit eigener Stimme das Allgemeine unmittelbar auszusprechen. Nur ein Rückzug aus einer solchen Anmaßung des Allgemeinen würde Anderen ein gleiches Rederecht zubilligen und ihnen zutrauen, sich mit gleicher, möglichst nicht anmaßender Berechtigung für die gemeinsamen Angelegenheiten auszusprechen. So gesehen gelingt das nur, wo jeder von sich aus dieser Anmaßung widersteht und bereit ist, das Wort Anderen (zurück) zu geben, so dass sie zu einem freien Meinungsaustausch beitragen können. Genau diese Vorstellung erscheint in dissenstheoretischer Sicht als naiv. Ist der freie Meinungsaustausch in einer Kultur des Konflikts, die Regeln fairer Gegnerschaft einhält, also politische Verfeindung ausschließt, im Übrigen aber scheinbar jeden über alles reden lässt, nicht pure Ideologie? Setzen sich nicht unter dem Anschein einer solchen Liberalität nur hegemoniale Machtinteressen durch, die Anderen niemals aus freien Stücken Spielräume der Rede einzuräumen bereit sind? Bleibt als einzige Option dann nur noch der mit symbolischen Mitteln, sei es agonal, sei es antagonistisch auszutragende Machtkampf, der wohl wechselnde Frontlinien zulässt, aber grundsätzlich keinen Ausweg kennt? In der politischen Theorie ist derzeit eine Renaissance des Agonalen, des unversöhnbaren Gegensatzes (der bei Michael Hardt und Antonio Negri noch von ferne an den alten Klassengegensatz zwischen Proletariat und Kapital erinnert) festzustellen, so als ob man fürchten würde, wenn man nicht um hegemoniale Macht kämpfe, müsse das Politische wieder verschwinden, das man in politischen Widerstandsbewegungen von Tunesien über Birma (bzw. Myanmar) und die Türkei bis hin zur Ukraine vielfach meinte ›wiederkehren‹ zu sehen. Aber haben uns die alten, hegemonialen Machtkämpfe wirk-

Vgl. P. Virno, »Multitude und das Prinzip der Individuation«, in: M. Pieper et al. (Hg.), Empire und die biopolitische Wende, Frankfurt/M., New York 2007, S. 35–48; ders., Grammatik der Multitude, Wien 2014.

77

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lich viel gelehrt? Und schlagen diese Bewegungen wirklich in die gleiche, agonistische Kerbe? Wenigstens eines, wird man vielleicht sagen, war aus bislang vorherrschenden Antagonismen zu lernen: wie eine liberale Demokratie diese Kämpfe – zwischen Ohnmacht und Machtbesessenheit – entschärfen und sogar normalisieren kann in geregelten Formen der Auseinandersetzung. Man nennt das Streitkultur. Aber auf eine etablierte Kultur dieser Art können sich politische Widerstandsbewegungen gerade nicht verlassen. Vielmehr sehen sie sich vielfach mit geradezu klassischen Formen der Unterdrückung freier Rede, der Zensur (auch des Internets) und der Drangsalierung konfrontiert, denen sie unter jeweils spezifischen kulturellen Bedingungen nur ihren Erfindungsreichtum entgegensetzen können, um es nicht zu frontalen Konflikten kommen zu lassen, in denen sie womöglich nur unterliegen könnten. Viel spricht dafür, dass in diesen Fällen gerade die schroffe antagonistische und agonale Konfrontation vermieden wird zugunsten lateraler, ›frontale‹ Konflikte unterlaufender Kämpfe, die ohne eine militante, gewaltbereite Anhängerschaft ebenso auskommen wie ohne eine Diabolisierung der jeweiligen Gegner, mit denen man doch zusammenleben muss. In diesen lateralen Protest- und Widerstandsformen widersteht man also auch in einem doppelten Sinne sich selbst: nämlich der Tendenz zur moralistischen Militanz und der Versuchung, die jeweiligen Gegner im Grunde aus der Welt schaffen zu wollen, weil man sich ein Zusammenleben mit ihnen nach nicht selten desaströsen Erfahrungen nicht mehr vorstellen kann oder will. Bestätigt sich so gesehen nicht die Einschätzung Chantal Mouffes, dass es im Politischen darauf ankomme, agonale, aber nicht bis zur Verfeindung vorangetriebene Gegensätze so auszutragen, dass selbst tiefster Dissens nicht beschönigt und kaschiert wird und doch eine politische Auseinandersetzung führbar bleibt, die wenigstens insofern ihren Namen verdient, als sie niemals auf eine Vernichtung des Gegners abzielt? Setzt nicht auch sie in diesem Sinne auf eine Kultur des Konflikts, die sich nun allerdings rückhaltlos als eine Kultur des Dissenses im unaufhebbaren Widerstreit heterogener Positionen bewähren soll? 78 Handelt es sich hierbei lediglich um eine Präzisierung dessen, was man seit jeher unter einer Kultur des Konflikts verstanden hat, oder haben wir es doch mit einer Radikalisierung des Demokratischen selbst zu tun? 78

C. Mouffe, Agonistics, New York, London 2013.

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9.

Ausgesetzte Gemeinschaft – im Zeichen ›unbedingter‹ Demokratie

Letzteres behaupten Verteidiger einer ›unbedingten‹ Demokratie, die keine Regierungs- oder Herrschaftsform unter anderen meint, sondern – laut Jean-Luc Nancy – nichts anderes als die »Wahrheit« 79 der zugleich unvermeidlichen und unabdingbaren Verfassung politischer Koexistenz betrifft. 80 Wo immer sprechende Subjekte aufeinander treffen und zu einer Regelung ihres Lebens in Formen einer sozialen oder politischen Koexistenz herausgefordert sind, können sie demnach in Wahrheit nicht umhin, sich den Bedingungen einer unbedingten Demokratie zu stellen. Zwar kann man diese Bedingungen leugnen oder zu kaschieren versuchen; dann aber verfällt das soziale und politische Leben einer Unwahrheit, die sich nur in Formen von Zwang und Gewalt manifestieren kann. Anders verhält es sich, wenn diese Wahrheit, nämlich der Befund, dass jedes sprechende Subjekt rückhaltlos Anderen ausgesetzt ist, ohne sich einer im Voraus bestehenden Verbindung oder Gemeinschaft versichern zu können, realisiert und anerkannt wird. Diese Einsicht verspricht keine Zwang- und Gewaltlosigkeit sozialer und politischer Koexistenz, wohl aber, dass wenigstens die Grundbedingungen nicht verkannt werden, welche jede Lebensform voraussetzt, die wir einzurichten und auf verlässliche Art und Weise zu stabilisieren versuchen. Zu diesen Bedingungen zählt in erster Linie, dass wir uns, auf Gedeih und Verderb auf Erwiderung angewiesen, rückhaltlos Anderen aussetzen müssen, wenn wir uns an sie wenden, und dass jede Gemeinschaft oder Gesellschaft, die sich darauf gründet, ihrerseits infolgedessen ›ausgesetzt‹ bleibt. Dabei erweist sich dieser ›Grund‹ nicht als festes Fundament, sondern gerade als Fehlen jeglicher sicheren Begründung. Jede (ge79 J.-L. Nancy, Wahrheit der Demokratie, Wien 2009; ders., Zum Gehör, Zürich, Berlin 2010. Geht es hier wirklich um ›nichts anderes‹ ? Für eine demokratische Lebensform genügt die von Nancy bemühte Wahrheit zweifellos nicht. Fast ganz spart er sich Überlegungen zu ›zivilen‹ Umgangsformen etwa, die sich gerade im polemogenen Konflikt bewähren müssen. Auch die von ›radikal‹ sich gebärdenden Theoretikern des Politischen so oft gelobten agonalen und antagonistischen Konflikte hängen hinsichtlich ihrer Dynamik entscheidend davon ab, wie sie (›zivilisiert‹ oder nicht) ausgetragen werden. Auch ein Übermaß an ›radikalem‹ Konflikt wirkt am Ende nicht mehr demokratisch belebend, sondern schlicht unerträglich. 80 Vgl. R. Heil, A. Hetzel, D. Hommrich (Hg.), Unbedingte Demokratie, BadenBaden 2011.

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Ausgesetzte Gemeinschaft – im Zeichen ›unbedingter‹ Demokratie

meinschaftliche oder gesellschaftliche) Lebensform ist darauf angewiesen, sich immer von neuem im Geschehen von Anrede und Erwiderung zu (re)stabilisieren; keine kann und sollte je zu einer festen Institution gleichsam gerinnen, die die Illusion nähren würde, sie müsste nicht immer wieder ausgesetzt werden in der Erfahrung des Einanderausgesetztseins. Dieser an-archische Gedanke liegt Theorien unbedingter Demokratie unverkennbar – paradoxerweise – zu Grunde, wo sie darauf insistieren, soziales und politisches Leben sei auf überhaupt keinen festen Grund zu gründen; vielmehr erweise es sich in den Formen, die es annimmt, als abgründig kontingent. Nur die an-archische Herausforderung, die im zugleich unvermeidlichen und unabdingbaren Einanderausgesetztsein liegt, scheint dieser Kontingenz entzogen zu sein. Eine unbedingte und in diesem Sinne radikale Demokratie erkennt das schonungslos an. Sie realisiert, dass sie sich niemals auf zureichende Bedingungen stützen oder berufen kann. 81 Zugleich öffnet sie sich für Ansprüche aller Art und erweist sich in diesem Sinne als unbedingt gastlich. Sie schließt nichts und niemanden aus, auch nicht ihrerseits unbedingte Ansprüche, durch die sie absolut überfordert zu werden droht. Unbedingte Demokratie gibt es nur in diesem Widerstreit zwischen ihrem eigenen Anspruch unbedingter Offenheit für die Ansprüche Anderer, deren Wahrnehmung und Artikulation sie zulassen soll, die sie aber mit konfligierenden heterogenen Ansprüchen zum Ausgleich zu bringen versuchen muss, ohne im Namen einer Kultur des Kompromisses Anderen von vornherein abverlangen zu können, unbedingte, als unverzichtbar geltende Ansprüche zu relativieren oder aufzugeben. So gesehen kann eine unbedingte – nämlich nicht auf zureichende Bedingungen zu stützende, sich auf unbedingt demokratische Art und Weise für unbedingte Ansprüche öffnende – Demokratie nur eine tragische Angelegenheit sein, die allen, die sich zu ihr als der ›Wahrheit‹ des Einanderexponiertseins bekennen, den Verzicht darauf abverlangt, sich ganz und gar mit ihr zu identifizieren, für sie zu sprechen oder ihre vermeintliche Identität für sich in Anspruch zu nehmen. Die unbedingte Demokratie gehört überhaupt niemandem. Sie ist gerade das unbedingte, der angeblich unumschränkten Vorherr81 Vgl. W. Brown, States of Injury. Power and Freedom in Late Modernity, New Jersey 1995, S. 30 ff.

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schaft bloßer Selbsterhaltung durch (rhetorisches) Reden sich widersetzende Angebot an jedermann, in einer globalen multitude bzw. in einem de-limitierten dêmos 82 Gehör zu finden, ohne im Geringsten Bedingungen des Eintritts in eine dialogische oder diskursive Gemeinschaft geltend zu machen. Vor allem muss sie sich als unbedingt gastlich erweisen; erst in zweiter Linie ist nach Bedingungen einer wie auch immer kulturell, politisch und rechtlich eingeschränkten (sekundären oder tertiären 83) Gastlichkeit zu fragen, die Anderen, Fremden (und uns selbst als Anderen und Fremden) konkrete Möglichkeiten der Rede und des Gehörtwerdens einräumt und ggf. vorgibt. Wer dafür ›Partei ergreift‹, dass eine unbedingte Demokratie diesem Anspruch der Gastlichkeit gerecht werden sollte, kann bzw. darf das wiederum nicht auf eine Art und Weise tun, die eine identitäre Okkupation des Demokratischen heraufbeschwört, denn das würde dem Sinn einer gastlichen Demokratie direkt zuwiderlaufen. So muss sich auch jede Politik, die sich für Medien und Foren der Artikulation widerständiger Rede einsetzt, gleichsam selbst ins Wort fallen, wo immer sie in die Gefahr gerät, sich mit dem Demokratischen zu identifizieren, sei es auch mit den besten Absichten. Somit lässt sich eine demokratische Politik, die im Namen einer möglichst weitgehenden Sicherstellung der Möglichkeiten widerständiger Rede für eine unbedingte Demokratie eintritt, nur als eine anti-rhetorische Politik der Des-Identifikation denken 84, die jeglicher Okkupation einer arché des Demokratischen oder eines Wir, einer kollektiven Identität, sich widersetzt, welche aus der Erfahrung des rückhaltlosen Einanderausgesetztseins rhetorisch politisches Kapital glaubt schlagen zu dürfen. Anti-rhetorisch ist diese Politik nicht etwa, weil sie jegliche Rhetorizität (selbst die in jeder Rede liegende, unvermeidliche Dimension ihrer Kraft und Wirksamkeit) von sich weist, sondern insofern sie sich einer Rhetorik widersetzt, die dazu verführt, selbst über die bedingungslose Herausforderung zu einer ›unbedingten‹ Demokratie im Sinne kollektiver Identität verfügen zu wollen. Indem sie demgegenüber die Nicht-Verfügbarkeit dieser Herausforderung affirmiert, entsagt diese Politik zugleich ihrer eigenen Macht und anerkennt, sich ihrerseits in einem nachträglichen Verhältnis zu einem Virno, Grammatik der Multitude, S. 25–42. Zu dieser Unterscheidung vgl. Vf., »Soziale Gastlichkeit: radikal, selbstverständlich, angefeindet«, in: U. Link-Wieczorek (Hg.), Gastlichkeit, Leipzig 2018, S. 29–54. 84 Nancy, Wahrheit der Demokratie, S. 56. 82 83

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radikalen Einanderausgesetztsein zu befinden, dessen sie niemals Herr wird. Allerdings arbeitet auch eine solche anti-rhetorische Politik ihrerseits unvermeidlich mit rhetorischen Mitteln – auf die sie sich indessen nicht reduzieren lässt. Die Kritik, die sie am Rhetorischen anbringt, zielt ungeachtet der ihr eigenen Rhetorizität auf ein Politisches, das nicht im Rhetorischen aufgeht. Weder Politik noch Kritik gibt es jedoch schlechterdings jenseits jeglicher Rhetorizität im Sinne einer in der Dimension des Sinns unaufhebbaren Kraft menschlicher Sprachlichkeit. Zudem lässt sich jede Rhetorik, sofern sie sich nicht auf eine bloße politische Technik reduziert, sondern als Rede zu(m) Anderen aufzufassen ist, auf eine philosophische Hypothek hin befragen, die sie selbst nicht einlöst. Wie können wir auf rhetorischen Wegen überhaupt von Anderen als Anderen angesprochen und in Anspruch genommen werden? Und wie können wir unsererseits Andere als Andere erreichen – d. h. sie in unvermeidlich zweideutiger Art und Weise ›treffen‹ und ihnen begegnen? Das ist eine zwiespältige, sowohl auf die Kraft menschlicher Sprachlichkeit als auch auf ihren eigentlichen Sinn zielende Frage, die weder mit Mitteln der Rhetorik allein, noch auch durch deren Umgehung zu beantworten sein wird. Hier zeichnet sich erneut ein chiasmatisches Gegen- und Miteinander von Kraft und Sinn, von Philosophie und Rhetorik ab, die sich gegenseitig vor einer abstrakten – und im pejorativen Sinne des Wortes weltfremden – Verselbständigung bewahren. Nur unter dieser Voraussetzung ist auch vor einer identitären Okkupation des Demokratischen mit Blick auf eine Politik der Des-Identifikation zu warnen. Letztere entkommt der Rhetorizität menschlicher Sprachlichkeit so wenig (absolut) wie das, was man traditionell Rhetorik nennt, der philosophischen Frage (absolut) entgehen kann, ob sie überhaupt den Anderen und die Anderen zu erreichen vermag, die auf eine Zugehörigkeit zu politischen Lebensformen rückhaltlos angewiesen sind. 85 Was die Apologie der unbedingten Demokratie voraussetzt, ist zunächst nur dieses ›Wissen‹ : Wir existieren als aufeinander im Modus von Anspruch und Erwiderung Angewiesene und insofern gemeinsam, aber ohne jede darüber hinaus gesicherte Gemeinsamkeit oder Gemeinschaft. Unter dieser Voraussetzung nur kann es eine (politische) Welt geben, in der wir einander rückhaltlos ausgesetzt blei85

Vgl. dazu das Kap. XVII, 5.

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ben und davon abhängen, dass man uns in ihr – idealiter unwiderruflich – aufnimmt. Und nur unter dieser Bedingung können wir sowohl zur Welt als auch zur Sprache kommen. Dieser Vorgang wiederholt sich im Grunde ständig, wenn es stimmt, dass faktisch niemand je absolut unwiderruflich infolge seiner mehr oder weniger gastlichen Aufnahme in die Lebensformen Anderer zur Welt und zur Sprache gekommen sein kann. Das Sprechen-können haftet uns nicht als ontische Eigenschaft eines zôon logon échon an. Sprechen, Einspruch erheben, protestieren und auf diese Weise zu politischen, sich solidarisierenden Subjekten werden können wir nur dank eines prekären Geschehens von Anrede und Erwiderung, das im Prinzip jederzeit wieder aussetzen und sogar endgültig verkümmern kann, so dass die Rede von einem sozialen und politischen Tod nicht einfach als bloß metaphorisch abzutun ist. Das führen nicht zuletzt konkrete Erforschungen der Lebenslagen von Staatenlosen, Illegalen, prekären Existenzen und vielfältiger Formen ›nackten Lebens‹ vor Augen 86, die wie ein »interiorisiertes Außen« 87 längst auch die vermeintlich gut integrierten Staaten des sogenannten Westens radikal in Frage stellen, die sich verbal zur »Einbeziehung« oder »Inklusion« eines jeden bekennen. Es wird sich zeigen müssen, ob die Negativität der Erfahrung all jener, die sich in einem solchen Außen wenn nicht dem sozialen und politischen Tod, so doch der Unterwerfung ihres nackten Lebens, anhaltender Verunsicherung, systematischer Ungerechtigkeit, fortgesetzter Demütigung oder auch schierer Ignoranz und Indifferenz vieler Anderer ausgesetzt sehen, effektiv einer »demokratischen Melancholie« 88 entgegenwirken kann, in der manche bereits das »Ende der Demokratie« gekommen sehen – das Ende einer Demokratie wohlgemerkt, die an ihrer eigenen Saturiertheit zu ersticken droht, wenn sie sich nicht der Negativität all jener Erfahrungen vergewissert, die sich bis auf Weiteres als unaufgehoben und vielleicht auf Dauer als unaufhebbar erweisen. An diesen Erfahrungen entzündet sich nach dem hier entfalteten Verständnis ein Widerstand, dem die Sprache bzw. verschiedene Idiome gewiss Mittel an die Hand geben im Kampf um die grundsätzlich prekäre Lebbarkeit eines Lebens mit und unter Anderen. Doch haben sich diese Mittel als außerordentlich Vgl. M. Pieper, T. Atzert, S. Karakayali, V. Tsianos (Hg.), Biopolitik – in der Debatte, Wiesbaden 2011. 87 J. Butler, G. C. Spivak, Sprache, Politik und Zugehörigkeit, Berlin 2007, S. 15. 88 Vgl. P. Bruckner, Die demokratische Melancholie, Hamburg 1991. 86

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Ausgesetzte Gemeinschaft – im Zeichen ›unbedingter‹ Demokratie

zwiespältige erwiesen im unaufhebbaren Spannungsverhältnis von Rhetorik und Philosophie, von Kraft und Sinn menschlicher Sprachlichkeit, das ein radikalisiertes Widerstandsdenken im Zeichen des Anderen neu zu bedenken zwingt.

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Kapitel XII Macht, Widerstand und dessen Verherrlichung Das Zeugnis für den Anderen in profaner Perspektive Nie waren wir elender als am Gipfel unserer Macht! Alfred Adler 1 Der Andere […] als derjenige, dem gegenüber ich nicht können kann. Widerstand gegen meine Vermögen. Emmanuel Levinas 2

1.

Macht, andere Macht und ihr Anderes: Widerstand

Ist Macht als solcher, unter allen Umständen, ein eindeutiges Prädikat zuzuschreiben – etwa »dumm« und »töricht« (wie Lukrez und Barbara Tuchmann meinten), »böse« (wie Jacob Burckhardt meinte), »fürchterlich« (wie Fjodor Dostojewski meinte), »kreativ« (wie Friedrich Nietzsche und Michel Foucault meinten), »dämonisch« (wie Max Weber, Friedrich Meinecke und Gerhard Ritter meinten) oder »korrupt« (wie Lord Acton meinte)? Vermutlich wird heute niemand mehr ohne weiteres sagen wollen, Macht sei dies oder das eindeutig, im Allgemeinen, von Natur aus, wesentlich oder immer und unvermeidlich. 3 Die aufgeworfene Frage ist auch gar nicht so gemeint, dass wir hier eine Entscheidung herbeiführen sollen. Mit Bedacht hat man 4 A. Adler, »Bolschewismus und Seelenkunde«, in: Internationale Rundschau, Bd. 4, Zürich 1918, S. 597–600; zit. n. H. F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, Zürich 1985, S. 789. 2 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br., München 1987, S. 116 (= TU). 3 Vgl. bspw. F. Rosenzweig, Hegel und der Staat, Berlin 2010, S. 230 f. 4 Ich beziehe mich auf das aus der Feder von Bernhard H. F. Taureck stammende Exposé des Symposiums zum Thema Macht in Alf (1.–3. Mai 2015), sowie auf H. Münkler, Der grosse Krieg. Die Welt 1914–1918, Reinbek 2015, S. 790 f. 1

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Macht, andere Macht und ihr Anderes: Widerstand

den bestimmten Artikel weggelassen, also nicht von ›der‹ Macht gesprochen, weil man sich sofort den Einwand zugezogen hätte, dass es ›die‹ Macht gar nicht gibt. Jacob Burckhardt sagte gleichwohl wirklich, »die Macht« sei »an sich böse, gleichviel wer sie ausübe«. 5 Warum? Weil sie »gierig« sei und nach immer mehr Macht strebe. Wohlgemerkt: nicht wir, die Macht ›auszuüben‹ glauben, sondern sie, ›die Macht selbst‹, wird hier als hyperbolisch-gierig eingestuft und offenbar als eine Form der Hybris moralisiert. Sie, die Macht als Subjekt, würde demzufolge nach immer mehr Macht streben, bis ihr schließlich, so wäre zu extrapolieren, nichts mehr im Wege steht. Die Gier ›der‹ Macht wäre demnach erst dann befriedigt bzw. erschöpft, wenn nichts mehr dazu veranlassen könnte, nach mehr Macht zu streben. Unweigerlich müsste, so scheint es, dieser zweifelhafte Erfolg ›der‹ Macht auf das Ende ihrer Gier hinauslaufen. So würde sich ›die‹ Macht schließlich von ihrer eigenen Hyperbolik selbst heilen. In diesem Falle wäre sie denn auch nicht mehr mit Jacob Burckhardt als ›böse‹ einzustufen. Was steht ihr aber im Wege, bis es so weit ist? Folgen wir letzterem, so kann es streng genommen nicht etwa eine andere Macht sein, denn auch die wäre ja eine Manifestation ›der‹ Macht und würde der gleichen Dynamik unterliegen. Die Gier ›der‹ Macht – einmal vorausgesetzt, die These des Schweizer Historikers träfe zu – kann sich nicht gegen irgendeine bestimmte andere Macht, sondern logischerweise nur gegen das richten, was nicht Macht ist, worüber ›die‹ Macht in ihrem Anwachsen aber immer mehr Macht gewinnen könnte, bis sie schließlich über das Andere der Macht endgültig triumphieren würde. Was soll das aber sein, worüber Macht derart Macht gewinnen könnte, die sie nicht von Anfang an, qua Macht, schon hat? Die Rede vom Anderen der Macht suggeriert dialektische Denkfiguren. Aber gibt es überhaupt ein eindeutiges Anderes ›der‹ Macht als deren Widerpart, auf den sie synthetisch zu beziehen wäre? Michel Foucault, dessen Name mit Buch- und Aufsatztiteln wie diesen verbunden ist: Dispositive der Macht, Die Maschen der Macht, Mikrophysik der Macht hat das bestritten. Was auch immer man als Anderes ›der‹ Macht in Betracht ziehen wird – von der Gewalt bis hin zur Liebe kommt einiges in Frage –, dieses Andere muss ihr, um als Widerpart von Macht gelten zu können, unaufhebbaren Widerstand entgegensetzen; und zwar der Macht als solcher, nicht irgendeiner 5

J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Stuttgart 1935, S. 97.

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Macht, gegen die man mit Gegen-Macht vorgehen könnte. Dass man mit Macht gegen Macht Widerstand leisten kann, versteht sich von selbst. Alle Macht stellt sich als Gegen-Macht dar, die sich gegen andere Macht durchzusetzen versuchen muss. Keineswegs aber versteht es sich von selbst, was darunter zu verstehen wäre, dass sich Macht als solche mit Widerstand konfrontiert sehen könnte. Was könnte ›der‹ Macht als solcher Widerstand leisten, ohne selbst wiederum Macht zu sein? Macht wird überhaupt nur dort erforderlich, wo etwas nicht von selbst geschieht, wo man etwas, Dinge, Prozesse, Menschen, Strukturen ›bewegen‹ und ihnen eine bestimmt Richtung geben muss, damit etwas herauskommt, was von allein nicht passieren würde. So gesehen muss Macht immer ausgeübt werden; sei es mit subtilem, schwer erkennbarem, sei es mit deutlichem und dramatischem Nachdruck. Machtvoll eben. Und das ist notwendig, weil sich nicht von selbst einstellt, worauf die Ausübung von Macht aus ist. Dieses ›nicht von selbst‹ zeigt an, womit sich Macht auseinanderzusetzen hat, will sie effektive und nicht nur behauptete oder bloß angemaßte Macht sein. Gemeint ist Widerstand. Macht ist erforderlich, wo sich Widerstand geltend macht. Und der ist vielfältiger Art. Erinnert sei nur an einige der wichtigsten Thematisierungen dieses Phänomens in der modernen Philosophie. Sie handelt (1.) vom Widerstand des Anderen, so wie er von Hobbes und Hegel als potenziell tödliche Macht und Gewalt bis hin zu aktuellen Anerkennungstheorien (von Alexandre Kojève über Axel Honneth bis Paul Ricœur und Marcel Hénaff) zur Sprache gebracht worden ist; (2.) vom Widerstand des eigenen, inneren Lebens, wie er in Maine de Birans Analyse der Anstrengung (sensation d’effort 6) beschrieben worden ist, mit der man sich Widerständen entgegenstellt, auf die man stößt, die man aber auch sucht als Herausforderungen des Willens, der sich an ihnen misst; (3.) vom Widerstand der äußeren Welt, wie ihn Wilhelm Dilthey in seiner Theorie des sog. Realitätsproblems, d. h. der epistemischen Frage beschrieben hat, auf welche Weise es zum Glauben an die Realität der Außenwelt kommt 7; (4.) vom gesellschaftlichen Widerstand gegen Unterdrückung, Entfremdung und Klassengewalt in 6 Vgl. kritisch zu diesem Begriff vor allem J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts, Reinbek 1993, S. 540 f., 574 ff. 7 Vgl. W. Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. V, Stuttgart, Göttingen 1922 ff., S. 90– 135.

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Formen von Subversion, des Protests, revolutionärer Gewalt, wie er besonders bei den Sozialisten und Marxisten zur Sprache gebracht wird. Diese kurze Liste ist selbstverständlich alles andere als vollständig. Sie reicht aber aus, um deutlich zu machen, dass Widerstand sowohl als gewaltsame Bedrohung wie auch als inneres und äußeres Hindernis, als eigene, fremde und anonyme Widersetzlichkeit und als Anhalt zum Vorschein gekommen ist, ohne den es überhaupt kein menschliches Leben geben kann. Es kommt allerdings entscheidend darauf an, von welcher Art dieser Anhalt ist. Nicht jeglicher Widerstand verspricht Leben bzw. ein Leben, auf das es uns ankommt. Es wird sich zeigen – und damit markiere ich gewissermaßen den Fluchtpunkt meiner Überlegungen –, dass es uns um einen bestimmten Widerstand gegen uns selbst gehen muss. Nur durch und im Widerstand leben wir überhaupt; jedoch unter der Bedingung, dass er uns überfordern und zerstören kann. Dem, was sich uns widersetzt oder uns widersteht, setzen wir uns mehr oder weniger aktiv und machtvoll entgegen; aber unvermeidlich als endliche und leibhaftige Subjekte, die im Verhältnis zu Anderen, zur Welt und den Dingen, aber auch im Verhältnis zu sich selbst an Grenzen ihrer Macht stoßen, wo ihnen vielfältiger Widerstand begegnet. So vielfältig uns Widerstand begegnet bzw. widerfährt, so vielfältig muss die Macht sein, die dazu in der Lage sein soll, ihn in Schach zu halten, ihm auszuweichen, ihm eine andere Richtung zu geben oder ihn (möglicherweise endgültig) zu überwinden. Mit einer machtvollen öffentlichen Demonstration sind Widerstände, die in uns selbst liegen (angefangen bei der Furcht, dem in der Politischen Philosophie der Neuzeit von Hobbes über Friedrich Nietzsche bis hin zu Judith Shklar wichtigsten politischen Affekt 8), nicht ohne weiteres zu überwinden. Und mit subversiver Arbeit an der Psychologie dieser Widerstände sind unmittelbar keine ökonomischen Machtstrukturen anzugreifen. Macht, heißt das, soll sie effektiv sein – und wäre sie nicht effektiv, wäre sie gar nicht Macht –, muss sich nach dem Widerstand richten, den sie überwinden soll. Da die Quellen des Widerstands aber C. Robin, Fear. The History of a Political Idea, Oxford, New York 2004; Vf., »Furcht, Gewalt und Bejahung eines ausgesetzten Lebens. Aktuelle phänomenologische und sprachphilosophische Beiträge zur Nietzsche-Forschung«, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung 44 (2015), S. 569–589.

8

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vielfältiger Art (und unübersehbar viele) sind, muss auch Macht vielfältige Formen annehmen. Macht hat es nirgends, so scheint es, unmittelbar mit einem Anderen ›der‹ Macht zu tun, gegen das sie sich langfristig durchsetzen könnte, um die ihr unterstellte Gier zu stillen. Vielmehr haben wir es mit einer Vielzahl diverser Widerstände zu tun, gegen die eine ebenso diverse Vielzahl von ›Mächten‹ gesetzt werden muss. Dagegen legt Jacob Burckhardt die Unterstellung nahe, in allen Formen von Macht walte ›die‹ Macht; und die ihr zugeschriebene Gier könne erst dann zur Ruhe kommen, wenn sich effektiver Macht ›der‹ Macht nichts mehr zu entziehen vermöchte, also wenn es keinen Widerstand mehr geben würde, gleich welcher Art. In einer widerstandslosen Welt würde sich allerdings auch eine derartige, triumphale Macht in nichts auflösen müssen. Nur wo es Widerstand gibt, wird ja Macht herausgefordert. Mangels irgendeines Widerstands müsste Macht in absolute Ohnmacht umschlagen und sich letztlich auflösen, denn sie hätte nichts Anderes mehr gegen sich, an dem sie sich als Macht beweisen könnte. Hier stoßen wir an eine harte Grenze jeglicher Macht. Sie ist endlich, insofern sie sich das, wogegen sie sich richtet, vorgeben lassen muss. 9 Sie kann sich den Widerstand nicht aus eigener Machtvollkommenheit verschaffen. Es sei denn, sie erfände ihn. Dann aber würde sie sich gar nicht mit Anderem, sondern nur mit sich selbst auseinandersetzen. Auch das wäre eine Form der Ohnmacht. Macht ist also auf Anderes angewiesen, was ihr Widerstand entgegensetzt. Von diesem Anderen hängt sie logisch und praktisch ganz und gar ab. Dieses Andere begegnet ihr aber in vielfältigen Formen, die sich auch durch den Begriff des Widerstands nicht einfach auf einen Nenner bringen lassen. Vor allem deshalb, weil sich unter den vielfältigen Erscheinungsformen von Widerstand mindestens einer findet, der sich nicht wiederum als Gegen-Macht verstehen lässt. Widerstand wird nicht nur auf sehr unterschiedliche Art und Weise ausgeübt (stumm und subtil oder laut und brutal, frontal und direkt oder lateral und indirekt, zäh, hinhaltend, verbissen oder verzweifelt); Widerstand hat auch ganz verschiedene Gründe und Quellen – von widerfahrener Ausbeutung, Erniedrigung und Demütigung, über Zorn und Empörung, die sie hervorrufen, bis hin zur Ungerechtigkeit, die schon darin liegen kann, jemand anderen nicht wahrzunehmen oder indifferent zu übergehen. Jeder von diesen ›anderen‹ 9

Ich folge hier Kants Bestimmung des Endlichen.

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Macht, andere Macht und ihr Anderes: Widerstand

ist aber ein Anderer, wurde behauptet, der Anspruch darauf erhebt und hat, als solcher, angesichts seiner radikalen Alterität, wahrgenommen, beachtet, anerkannt und gewürdigt zu werden. Die darin liegende Gleichheit wird infolgedessen subvertiert durch die Singularität jedes Anderen, der ›ganz anders‹ (tout autre, wholly other, every bit other) sei – wie häufig mit Jacques Derrida oder auch mit Emmanuel Levinas betont wird. 10 Letzterer behauptet explizit, kein Anderer lasse sich in seiner Alterität seinsimmanent theoretisch oder praktisch ›fassen‹, begreifen, verstehen oder unserer Verfügung unterstellen. Gerade in seiner Fremdheit liege die eigentliche Freiheit des Anderen. 11 Den machttheoretischen Folgen, die sich aus dieser Philosophie der Alterität ergeben, werde ich mich im nächsten Schritt (2.) zuwenden. Vorläufig steht fest, dass es schlecht bestellt ist um einen Begriff wie ›die‹ Macht, wenn wir wie angedeutet Macht vom Widerstand her denken, den sie verringern, dem sie ausweichen oder den sie (vorläufig, auf Dauer oder endgültig) überwinden soll. Sie zerstreut sich, so scheint es, unweigerlich in eine vermutlich irreduzible Vielfalt von Machtmanifestationen, die so vielgestaltig sein werden wie die Widerstände, mit denen sie sich auseinanderzusetzen haben. So wenig wie von Widerständen im Plural wird man von ›der‹ ebenfalls in den Plural gesetzten Macht sagen können, sie sei ›an sich‹ dies oder das (böse oder gut, dumm oder kreativ etc.). Ein solches absolutes Prädikat ist ihr nicht zuzusprechen, weil es Macht nur in Verhältnissen zu Widerständen geben kann, die sie herausfordern bzw. die sie herausfordert. Und auch von den Widerständen wird man nicht sagen können, sie seien ›an sich‹ gut oder schlecht, misslich oder förderlich – etwa gemäß der bekannten Devise »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker«. Sie unterstellt, dass jeglicher nicht-tödliche WiderJ. Derrida, »Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der ›Religion‹ an den Grenzen der bloßen Vernunft« [1994], in: ders., G. Vattimo, Die Religion, Frankfurt/M. 2001, S. 9–106, hier: S. 101; E. Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg i. Br., München 1992, Kap. 7, III; E. Weber (Hg.), Living Together. Jacques Derrida’s Communities of Violence and Peace, New York 2013, S. 6, 19, 177. 11 Levinas, TU, S. 100, 120; vgl. das Kap. VIII in diesem Band. Wie das Vorwort zur dt. Ausgabe von Totalité et Infini deutlich macht, hat sich Levinas erst spät von der ontologischen Sprache so weit wie möglich distanziert, die die Rede vom ›ganz‹ oder auch ›radikal‹ Anderen zunächst noch prägte. Davon sehe ich hier ebenso ab wie von Levinas’ Zuordnung des Widerstandsbegriffs (résistance) zur Herrschaft des ›Selben‹ (TU, S. 47). 10

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XII · Macht, Widerstand und dessen Verherrlichung

stand gewissermaßen dazu da ist, überwunden zu werden, und dass letzteres auf jeden Fall zu begrüßen ist, ohne ein derart erkauftes Überleben in Frage zu stellen. Am Widerstand dessen, was man überleben kann, soll sich die Kraft eines mächtigen und in seiner Macht sich selbst erhaltenden, sich bestätigenden und sich womöglich steigernden Subjekts erweisen. Doch jene Philosophie der Alterität konfrontiert uns mit einem Widerstand ganz anderer Art, für den genau das nicht gilt. Bis hierher ist nur Folgendes erreicht: wir wissen nun, dass es weder ›die‹ Macht noch auch ›den‹ Widerstand gibt. Wir haben es mit vielfältigen Quellen von Widerstand und infolgedessen mit nicht weniger vielfältigen Formen von Macht zu tun, so dass die Eingangsfrage, ob Macht ›an sich‹ böse, dämonisch, dumm oder kreativ ist, gewissermaßen keinen Anhalt mehr hat an einer Phänomenologie der Macht, die sie dort aufsucht, wo sie sich zeigt und auf den Plan gerufen wird; dort nämlich, wo sich Widerstand geltend macht. Darüber hinaus besteht der Anfangsverdacht, unter vielfältigen Formen von Widerstand finde sich wenigstens einer, nämlich der von der Alterität des Anderen ausgehende, der nicht ohne weiteres als Provokation von Macht zur Überwindung dessen zu verstehen ist, was sich ihr widersetzt.

2.

Widerstand und das Gute: Emmanuel Levinas

Nun ist von phänomenologischer Seite behauptet worden, diese in der Alterität des Anderen liegende Form des Widerstands sei ungeachtet aller Zweifel, die sich gegen eine generelle moralische Qualifikation ›der‹ Macht als solcher richten, als ›gut‹ zu beurteilen; und zwar gerade deshalb, weil sie uns auf die Spur des Guten selbst zu führen scheint 12, das ›jenseits des Seins‹ seine Quelle hat, wie Levinas (ähnlich wie Platon und Plotin) sagte. 13 Im Folgenden werde ich auf diese Phänomenologie eines Widerstands eingehen, der als ›guter‹ Widerstand beschrieben wird und damit die Frage aufwirft, ob er E. Levinas, Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989, S. 76. Platon, Politeia, 509 b; Plotin, »Enneaden« V, 5 [32], in: Schriften, Bd. III, Hamburg 2004; J. Derrida, »Glaube und Wissen«, S. 34 f.; ders., Wie nicht sprechen: Verneinungen, Wien 1989, S. 59, 65 f.; B. H. F. Taureck, »Rhetorik und Philosophie im klassischen Griechenland«, in: A. Hetzel, G. Posselt (Hg.), Handbuch Rhetorik und Philosophie. Handbücher Rhetorik Bd. 9, Berlin, Boston 2017, S. 23–52, hier: S. 37.

12 13

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Widerstand und das Gute: Emmanuel Levinas

nicht auch eine Macht, die ihm förderlich ist, als ›gute‹ Macht zu verstehen zwingt. Auf diesem Denkweg kann es im Lichte des bisher Gesagten jedoch nicht mehr darum gehen, wiederum ›die‹ Macht mit einem absoluten Attribut (diesmal: ›gut‹) zu versehen, wohl aber darum, ob sich in einer unübersehbaren Vielfalt von Macht-Widerstand-Konstellationen, die jegliche allgemeine Bewertung von Macht unmöglich zu machen scheint, nicht doch eine Möglichkeit der ethischen Qualifikation von Macht abzeichnet. Emmanuel Levinas scheint sich in das von Maine de Biran über Dilthey, Heidegger, Merleau-Ponty bis hin zu Ricœur reichende Widerstandsdenken einzuschreiben, wenn er feststellt, der menschliche Leib sei »das Hindernis schlechthin«. 14 Anknüpfend an Maine de Biran und Heidegger sieht das auch Ricœur so, der aber verlangt, die Heidegger’sche Ontologie der Befindlichkeit, in der der »Lastcharakter des Daseins« zur Sprache kam 15, durch eine Hermeneutik leibhaftigen In-der-Welt-seins zu erweitern. Nur so könne man auch »dem Kontingenzcharakter[] unserer Einfügung in die Welt« gerecht werden. 16 Diese Einfügung kommt hier im Lichte der Erfahrung, ihr passiv ausgesetzt zu sein, und als Einschränkung menschlichen (Handeln-)Könnens 17 zur Sprache, mit der man sich mehr oder weniger abfinden muss, um schließlich in das, was sich menschlicher Macht entzieht, auch einzuwilligen. Was sich menschlicher Macht im Einzelnen konkret entzieht und was sich früher oder später von ihr möglicherweise überwinden lassen wird, steht allerdings nicht von vornherein fest. Nur eines steht a priori fest: dass wir je selbst als verkörperte, endliche Wesen, die Macht ausüben können, in unserer Leiblichkeit und Endlichkeit für uns selbst unüberwindlich sind. (Daran vermag selbst ein Suizid nichts zu ändern.) Bedingung der Möglichkeit jeglicher Ausübung von Macht ist absolute Ohnmacht angesichts dieses Befundes. Nur E. Levinas, Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte, Freiburg i. Br., München 2006, S. 28. 15 Vgl. P. Ricœur, Philosophie de la volonté. T. I. Le Volontaire et l’involontaire, Paris 1950, S. 323. 16 P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 393, Anm. 35. 17 Vgl. ebd., S. 385 f. Dass im Anderen ein Widerstand liegen könnte, der sich nicht als bedrohlich und nicht nur als negative Einschränkung des eigenen Handlungsvermögens deuten lässt, kommt so zunächst nicht in den Blick. Genau diese Frage drängt sich Ricœur jedoch auf, wo er die Passivität des Affiziertwerdens von der Ander(s)heit des Anderen in Betracht zieht. Die Rede ist hier von einem Selbst, das sich nur durch das hindurch erkennt, was ihm leibhaftig widerfährt (ebd., S. 395). 14

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XII · Macht, Widerstand und dessen Verherrlichung

unter der Bedingung, bereits als leibliches und endliches Wesen zu existieren, ist Ausübung von Macht möglich, die daran absolut nichts ändern kann, so sehr sie auch (utopische) Aussichten auf ein nicht mehr leibhaftig in der Welt situiertes und seine Endlichkeit überwindendes Leben eröffnen mag. Anders als Ricœur begreift Levinas das leibhaftige, situierte Leben aber nicht als Existenzweise eines homo capax, der jeglichen Widerstand als bloße Einschränkung, Behinderung oder Herausforderung seines Willens erfahren müsste. Er fragt sich vielmehr, ob nicht gerade im Anderen ein Widerstand liegt, der sich nicht in einer solchen Perspektive als negativer Geltung verschafft. Kommt, anders gefragt, vom Anderen her ein Widerstand zum Vorschein, der nicht etwa das Machtpotenzial eines Subjekts einschränkt, behindert oder zu zerstören droht, das ganz und gar darauf angelegt zu sein scheint, sich im Verhältnis zu sich selbst, zu Anderen und zur Welt sein Können zu beweisen? Genau so spricht Ricœur von einem sujet capable – und kommt infolgedessen mit dem heterodoxen Ansatz von Levinas in Konflikt, der einen Widerstand des Anderen beschreibt, welcher uns nicht etwa einschränken, sondern gerade die Möglichkeit eines ethischen Lebens eröffnen soll (TU, S. 283). Allerdings unter der Bedingung, sich als absolut unüberwindlicher bemerkbar zu machen, so dass überhaupt keine Macht etwas gegen ihn scheint ausrichten zu können. Der Kern von Levinas’ Philosophie liegt zweifellos in der Apologie einer Verantwortung, die wir uns, wie er meint, angesichts jedes Anderen zuziehen wie eine Krankheit oder die uns gegeben ist wie eine Gabe. Das Widerfahrnis (páthos) dieser Gabe bedeutet (wenigstens), nicht am Tod des Anderen schuldig werden zu sollen, darüber hinaus aber, ihn wirklich leben zu lassen. Und diese Forderung ist, so behauptet Levinas, jeglichem Verhalten zum Anderen zuvor ›immer schon‹ bereits ergangen. Ihr gegenüber kommen wir ›immer schon‹ zu spät. Daraus folgt u. a. die nicht etwa faktische, sondern ethische Unmöglichkeit des Mordes (TU, S. 120, 284 f., 327). Man kann Andere umbringen und ihnen auf alle möglichen Arten Gewalt widerfahren lassen. Aber in keinem Fall kann man etwas daran ändern, dass es sich jedes Mal um Gewalt handelt, die vom Anderen her (und nicht etwa nur, weil wir sie so ›definieren‹) als Verletzung, Verwundung oder Zerstörung einzustufen ist, die ›nicht sein soll‹. Levinas spricht in diesem Zusammenhang explizit von einem unüberwindlichen ethischen Widerstand; aber auch davon, dass tragischerweise gerade 432 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

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ein solcher Widerstand die Mord- und Verletzungsmacht Anderer provoziert. Paradoxerweise kann laut Levinas sogar nur ein der seinsimmanenten Gewalt entzogenes Gesicht (visage) auch verletzende, verwundende und zerstörerische Gewalt auf sich ziehen. Der aber soll es gleichwohl absolut nicht zugänglich sein. 18 Und daher soll der geheimnisvolle, von ›jenseits des Seins‹ her zur Geltung kommende, aber niemals in einem gewaltsamen mundanen Leben aufgehende ethischen Widerstand rühren, gegen den keine Gegen-Macht und Gewalt etwas auszurichten vermag. Darüber hinaus versucht uns Levinas davon zu überzeugen, dass wir nur aufgrund jener Gabe der Verantwortung überhaupt ein ethisches Leben leben können, zu dem wir allein aus eigener Kraft und Machtvollkommenheit niemals vorstoßen würden, ungeachtet aller utilitaristischen, altruistischen und pro-sozialen Überlegungen, die dafür sprechen mögen. Weit entfernt, nur als eine negative Beschränkung unseres Handlungsvermögens, unseres Könnens und unserer Macht in Betracht zu kommen, gilt hier gerade das, was ihr absolut entzogen ist und einen ›unendlichen‹ Widerstand, den Widerstand des Unendlichen selbst nämlich, entgegensetzt, als die eigentliche Inspiration eines ethischen Lebens, das wir uns nicht selbst verschaffen können (TU, S. 285 f.). Explizit ist allerdings auch von guter Gewalt die Rede, die der Macht und Gewalt Anderer schlechterdings entzogen scheint. Gewiss: der Andere kann als Macht auftreten, die sich geradezu als Herausforderung dazu anbietet, überwunden zu werden; sei es im sozialen Spiel, im politischen Kampf um Anerkennung oder im militärischen Krieg. Und bedeutet klassischen sozialontologischen Analysen zufolge die Behauptung einer sozialen und politischen Existenz nicht vor allem: sich gegen Andere am Leben zu erhalten und ihnen mit Macht oder Gewalt zu widerstehen, sei es, um nur zu überleben, sei es, um den allgemeinen Kampf um Anerkennung zu bestehen? Levinas bricht mit diesem sozialontologischen Vorverständnis, wo er den Widerstand des Anderen als einen »unendlichen Widerstand« ›positiv‹ zu denken versucht, der nicht wie irgendeine Materie negierbar ist. So gesehen haben wir es hier nicht mit etwas Realem zu tun, was in der Dimension des Könnens, der Macht oder der Gewalt stärker wäre als ein machtvoll oder gewaltsam sich behauptendes Selbst (TU, S. 230, 284 ff.). Und doch soll es sich um einen absoluten Widerstand handeln, der das Selbst nicht etwa daran hindert, als sujet capa18

Levinas, Die Spur des Anderen, S. 198; TU, S. 324.

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XII · Macht, Widerstand und dessen Verherrlichung

ble ganz es selbst zu sein (und nach eigenem Gutdünken gut, glücklich oder intensiv zu leben), sondern es vor aller Initiative als ethisches instituiert. Auf diese Weise will uns Levinas davon überzeugen, dass niemand aus eigener Kraft ein ethisches Leben zu leben vermag. Was sich dem Können radikal entzieht und im gleichen Zug ein solches Leben möglich machen soll, haben wir Levinas zufolge einer passiven Ansprechbarkeit durch den Anderen zu verdanken, die nicht wie die Passivität im Sinne Ricœurs als ein herabgemindertes Tun oder Können zu verstehen ist. Bringt Levinas auf diese zweifellos befremdliche Art und Weise, die Gabe der Verantwortung für den Anderen zu beschreiben, nun aber lediglich einen anderen, nämlich ethischen Macht-Typus oder darüber hinaus ein Anderes ›der‹ Macht zur Sprache? Kann sein Denken als ein Beispiel dafür gelten, wie man ›der‹ Macht als solcher entkommt? Oder zeigt es genau umgekehrt, wie man ›der‹ Macht allenfalls wiederum eine andere Macht, eine – wenn auch das Sein transzendierende – Gegen-Macht, entgegensetzen kann?

3.

Herrliche oder verherrlichte Macht? Emmanuel Levinas mit Blick auf Giorgio Agamben

Levinas schreibt sich zwar in die Tradition der Phänomenologie ein und fühlt sich einem »methodologischen Atheismus« verpflichtet, der niemals ›Religion‹ oder gar ›Theologie‹ affirmativ einfach in Anspruch nehmen darf. Doch muss man sich fragen, ob es ihm gelungen ist (oder überhaupt gelingen konnte), jenen ›guten‹ Widerstand des Anderen phänomenologisch aufzuweisen 19, der den ebenso ›guten‹ Sinn einer Macht stiften sollte, die ihm gerecht zu werden versucht. Levinas hegte in dieser Hinsicht selbst erhebliche Zweifel. Und es ist gewiss kein Zufall, dass er den ethischen Widerstand, der vom Anderen ausgehen soll, schließlich ganz und gar dem Zeugnis anvertraut, das für ihn einstehen soll. 20 Den Begriff des Zeugnisses entfaltet Levinas jedoch nicht in der Auseinandersetzung mit der Historik oder mit dem Recht, um etwa den Wahrheitsanspruch des Bezeugten kriSiehe dazu das Kap. IX in diesem Band. E. Levinas, Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, Freiburg i. Br., München 21988, S. 65, 146, 221; TU, S. 290; Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br., München 1992, S. 265 (= JS). 19 20

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Herrliche oder verherrlichte Macht?

tisch einzuschätzen. 21 Vielmehr baut er explizit auf ein »Sagen vor allem Gesagten«, auf ein nur angesichts des Anderen und scheinbar nur im Verhältnis zu ihm zu bezeugendes »Zeugnis der Unendlichkeit«, dem gegenüber jegliche diskursive Kritik zu spät komme (JS, S. 317). Die Unendlichkeit aber wird als »Herrlichkeit« ausgegeben, so dass das Zeugnis geradewegs zum »Zeugnis der Herrlichkeit« werden kann (JS, S. 319). 22 Aber wird auf diese Weise nicht die angeblich über jegliche Gewalt erhabene Bedeutung, die dem Gesicht des Anderen zugeschrieben wird, insofern sie einen unanfechtbaren ethischen Sinn unseres Lebens stiften soll, verherrlicht? Und verherrlicht Levinas nicht auch das Zeugnis bzw. die Bezeugung der Unendlichkeit des Anderen selbst? Tatsächlich liest man in Jenseits des Seins: »durch die Stimme des Zeugen wird die Herrlichkeit des Unendlichen verherrlicht« (JS, S. 321). Machtkritisch wäre nachzufragen, ob die besagte Verherrlichung nur als Nachvollzug einer bereits ›gegebenen‹ (und als solche phänomenologisch aufweisbaren) Herrlichkeit und Herrschaft zu verstehen ist oder ob sie die Herrlichkeit nachträglich selbst allererst hervorbringt. Müsste das nicht auf eine Verherrlichung des Zeugnisses – und insofern auf dessen Ermächtigung zur Bezeugung des Unendlichen – hinauslaufen? Giorgio Agamben hat zu dieser Frage im Teil II.2 seines Homosacer-Projekts unter dem Titel Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung Bedenkenswertes gesagt. 23 In diesem Buch geht Agamben auf Aristoteles’ Begriff des unbewegten Bewegers zurück, den er als Archetyp der Theorie einer Macht versteht, die herrscht, aber nicht regiert (HH, S. 105, 23 24). In den römischen Kaisern Augustus und Konstantin sieht Wie es anderswo, besonders bei Ricœur, aber auch bei anderen Autoren mehrfach geschehen ist; vgl. P. Ricœur, An den Grenzen der Hermeneutik. Philosophische Reflexionen über die Religion, Freiburg i. Br., München 2008; Vf., »Aktuelle Historisierungen der Zeugenschaft. Zur ›Kritik einer Wissenspraxis‹ und zum ›Recht der Literatur‹ jenseits von Wissen und Recht«, in: Philosophische Rundschau 59, Heft 3 (2012), S. 217–235. 22 Siehe auch das Kap. 9 in E. Levinas, Ethik und Unendliches, Wien 1986, S. 80 ff., sowie ders., Gott, der Tod und die Zeit, Wien 1996, S. 207 f. 23 G. Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung (Homo sacer II.2), Berlin 2010 (= HH). 24 Zu den Quellen des geflügelten Wortes le roi règne, mais il ne gouverne pas vgl. HH, S. 90 f., 94, 107. Es wird auf Adolphe Thiers, den früheren Präsidenten der (dritten) Republique française (1871–73) zurückgeführt und wurde von Eric Petersen und 21

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XII · Macht, Widerstand und dessen Verherrlichung

Agamben die politische Gewalt realisiert, die sich auf eine solche, allerdings nicht mehr wie bei Aristoteles das Sein durchherrschende, sondern transzendente Macht beruft (HH, S. 24). Die für ihn entscheidende Frage lautet, wie solcher Macht politische Bedeutung zukommt in Zeiten, die Herrschaft (über die Welt) und Regierung (in der Welt) nicht mehr zusammenfallen lassen (HH, S. 309). Ob diese Differenz bis heute die »Substanz des Abendlandes« und unser politisches Denkens prägt, kann hier dahingestellt bleiben. Was mich an dieser Stelle interessiert, ist der Zusammenhang von Herrlichkeit und Verherrlichung, Herrschaft und Macht. Die Herrlichkeit einer göttlichen Instanz, die über die Welt herrscht, führt Agamben auf eine Praxis der Verherrlichung zurück, die Zweifel daran weckt, ob das Verherrlichte an sich (kat’auto) ›herrlich‹ ist (und insofern überhaupt keiner Verherrlichung bedarf; HH, S. 246–257). Könnte es sein, dass sich hinter dem blendenden Anschein des Verherrlichten in Wahrheit gar nichts verbirgt, »kein Körper und keine Substanz« (HH, S. 233)? Ist die Herrlichkeit sowie die ihr zugeschriebene Herrschaft am Ende nichts als der trügerische Glanz des leeren Zentrums (HH, S. 252), das ihn paradoxerweise nur ausstrahlt, weil es verherrlicht wird? Der Ästhetizismus der Verehrung des Herrlichen legt demnach nahe, dass die Praxis der Verhüllung einer der menschlichen Einsicht entzogenen Herrschaft wie auch die Klage über einen von der Welt abgeschiedenen deus absconditus überhaupt erst die Imagination jenes Zentrums heraufbeschwört, um ihm souveräne Herrschaft zu attestieren. Diesen Mechanismus muss man aber vor sich verbergen, um gewissermaßen im Tausch für diese Verherrlichung selbst an der Herrlichkeit teilhaben zu können (HH, S. 282 ff., 267). Würde dieser Mechanismus durchschaut, dann müsste klar werden, dass die vermeintliche Teilhabe nur auf die eigene Praxis der Verherrlichung zurückgehen kann und womöglich jeglichen anderen Rückhalt einbüßen muss. Warum bedarf die verherrlichte Herrschaft überhaupt einer Verherrlichung, wenn sie von sich aus schon von unüberbietbarer Herrlichkeit ist (HH, S. 236)? Genügt sie sich etwa doch nicht selbst? Für Agamben ist offenbar ungewiss, ob die Herrlichkeit nicht wirklich in Carl Schmitts Revisionen politischer Theologie wieder aufgegriffen. https://fr.wiki pedia.org/wiki/Adolphe_Thiers; https://www.erudit.org/fr/revues/ltp/2007-v63-n2ltp1952/016787ar/; C. Schmitt, Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie, Berlin 31990, S. 51 ff.

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Herrliche oder verherrlichte Macht?

reines Menschenwerk und insofern substanz- und machtlos ist (HH, S. 233, 243, 294). »Wenn die Macht ihrem Wesen nach Tatkraft und Effizienz ist, weshalb müssen ihr ritualisierte Akklamationen und Lobpreisungen dargebracht werden […], weshalb muß etwas, das in seinem Wesen Wirksamkeit […] ist, hieratisch in der Herrlichkeit erstarren« (HH, S. 235)? In Agambens Sicht liegt das Rätsel von Herrschaft und Macht in der Praxis einer Verherrlichung, deren Wirksamkeit man vor sich selbst verbirgt. Denn diese Praxis stattet ein unzugängliches Jenseits mit einer unanfechtbaren Autorität aus, die sich als nicht verherrlichte aus eigener Kraft keine Geltung verschaffen könnte. Demnach herrscht sie, bleibt aber machtlos. Genau so sucht Agamben das Funktionieren des Regierens verständlich zu machen: Es bindet sich an eine verherrlichte Herrschaft, die sich ständig entzieht und gerade als eine derart entzogene das Regieren mit einer Autorität ausstatten kann, der es sich mangels verherrlichter Aura niemals aus sich selbst heraus zu versichern vermöchte (HH, S. 123). So verschafft sich weltliche Macht durch eine Praxis der Verherrlichung ein Ansehen, ohne das sie nicht scheint auskommen zu können. Dabei befreit sich aber ein Regieren, das sich im Glanz einer glorifizierten Herrlichkeit darstellt, von der angeblichen Souveränität einer eigentümlich machtlosen Macht, die herrscht, aber nicht regiert. Genau das macht das Regieren überhaupt möglich (HH, S. 145). Paradoxerweise soll diese herrschende, ohnmächtige Macht 25 die zentrale Voraussetzung für politisches Regieren sein, das sich seinerseits des ›herrlichen‹ Ansehens dieser Macht bedienen kann, um vorzuspiegeln, ihm stehe keineswegs nur profane politische Gewalt zur Verfügung (HH, S. 131). Zweifellos hat Agambens Beitrag zur Geschichte des Politischen, insbesondere zur Theorie einer Regierung, die sich auf eine verherrlichte Herrschaft stützt (aber kaschiert, wie sie das tut), unmittelbar keine Parallele bei Levinas. Jedoch ist Agambens Entlarvung jener Ermächtigungspraxis politischer Macht möglicherweise lehrreich im Hinblick auf Levinas’ Lobrede auf ein Zeugnis, das sich einerseits dem Unendlichen bzw. seiner »Herrlichkeit« unterwirft, insofern es gar nichts anderes zu bezeugen hat, das aber andererseits selbst im Verdacht steht, diese Herrlichkeit nur durch eine nachträgliche Verherrlichung zu beschwören; und zwar so, dass daraus unmittelbar eine Vgl. E. Levinas, Zwischen uns. Versuch über das Denken an den Anderen, München, Wien 1995, S. 21.

25

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XII · Macht, Widerstand und dessen Verherrlichung

politische Maßgabe und sogar eine potenziell bedrohliche Ermächtigung von Zeugen resultieren kann, und unter Berufung auf einen ethischen Widerstand, der angeblich von keiner ›weltlichen‹ Macht zu überwinden oder aus der Welt zu schaffen ist. Darin läge paradoxerweise die außerordentliche (ethische) Macht des Anspruchs des Anderen, der zugleich eigentümlich machtlos erscheint, da er doch zugegebenermaßen von sich aus überhaupt nichts gegen Macht und Gewalt auszurichten vermag, die jedoch – Levinas zufolge – darin scheitern soll, diesen Anspruch zu vernichten oder auch nur ihn indifferent zu übergehen. Was den Anderen, jeden Anderen, in Wahrheit zum unverfügbar ›Anderen‹ macht, das kommt demnach nur vermittels des Zeugnisses zum Vorschein – als ihm Entzogenes. Aber gerade als jeglichem praktischen und theoretischen ›Zugriff‹ Entzogene sollen Andere als Andere geachtet, gewürdigt oder einbezogen werden, wie es auch im Rahmen einer »Politik der Differenz« etwa verlangt wird, ohne dass jedoch die abgründigen Folgen bedacht werden, die es haben muss, wenn man das, was Andere als solche ausmacht, rückhaltlos einem Zeugnis anvertraut, dem Levinas ohne weiteres den Sinn zuschreibt, die Alterität des Anderen zu verherrlichen. Das tut Levinas, indem er sich einer Gewalt entgegenstemmt, von der er annimmt, sie habe die Alterität des Anderen auslöschen wollen, um eine absolute Indifferenz im Verhältnis zu allen möglich zu machen, die man seriell liquidieren oder anders umbringen, verletzen und verwunden wollte. Und als Einspruch gegen diese Gewalt ist Levinas’ Philosophie eine eminente Herausforderung – gerade weil sie sich letztlich auf nichts anderes stützt als eben auf die bezeugte Alterität des Anderen. Aber indem Levinas diese explizit (und keineswegs nur ›rhetorisch‹) verherrlicht, installiert er sie wie eine unumschränkte gute Macht, die über uns zu herrschen scheint (ohne regieren zu können, um es mit Agamben zu sagen).

4.

›Dämonie‹ der Verantwortung und Selbstentmächtigung

Diese von keiner Gewalt anzugreifende Macht liegt nach Levinas allein darin, uns zur Verantwortung für den Anderen, jeden anderen als Anderen, zu bestimmen; ohnmächtig aber ist sie ganz und gar, wenn es darum geht, wie wir uns zur Gabe der Verantwortung verhalten sollen bzw. können – und mit welchen politischen Folgen. Der 438 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

›Dämonie‹ der Verantwortung und Selbstentmächtigung

in dieser – nur zu bezeugenden, niemals beweisbaren – Macht liegende Widerstand mag sich als Widersetzlichkeit dagegen Geltung verschaffen, mit Anderen indifferent zu verfahren. Aber aus ihm ist in keiner Weise unmittelbar abzuleiten, was unter konkreten sozialen, politischen, rechtlichen, kulturellen und historischen Umständen im Sinne dieser ›guten‹, verherrlichten Macht zu tun ist, die unter solchen Umständen niemals mehr generell und eindeutig dieses Prädikat verdienen wird – was erneut den Verdacht wecken muss, sie verstricke sich unvermeidlich in die von Historikern wie Max Weber, Friedrich Meinecke und Gerhard Ritter, aber auch von Phänomenologen wie Jan Patočka und vielen anderen herausgearbeitete »Dämonie«. Letzterer wollte ungeachtet dieses Verdachts unbedingt daran festhalten, »das verantwortliche Leben […] als eine Gabe« zu begreifen, die »den Charakter des Guten« habe. Was er als »das Dämonische« bezeichnete, gedachte er »in eine Beziehung zur Verantwortung« zu bringen, »in der es originär und primär nicht ist«. 26 Demnach wäre das Dämonische nicht der Gabe der Verantwortung selbst anzulasten, sondern würde ihr vorausliegen oder wäre lediglich auf eine sekundäre und nachträgliche Verstrickung in missliche Umstände zurückzuführen, die es nicht gestatten, diese Gabe eindeutig und generell als etwas Gutes aufrechtzuerhalten. Genau daran scheiden sich bis heute die Geister, wie vor allem Derridas eindringliche Auseinandersetzung mit Patočka und Levinas gezeigt hat. 27 Letzterer war sich der ›Korruptibilität‹ der Verantwortung, die ihr unter konkreten Umständen stets und unvermeidlich droht, allerdings deutlich bewusst, wie seine Überlegungen zum Begriff des Dritten sowie seine Schriften zum Politischen zeigen. 28 So muss auch er, am Ende des vielleicht letzten Versuchs, wenn nicht ›die‹ Macht, so doch eine seinstranszendente, scheinbar ganz andere Macht ethisch – im Lichte jenes ›unendlichen‹ Widerstands – generell zu qualifizieren, 26 J. Patočka, »Ist die technische Zivilisation zum Verfall bestimmt?«, in: ders., Ketzerische Essais zur Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1988, S. 121–145, hier: S. 132, 126. Hervorhbg. B. L. 27 J. Derrida, »Den Tod geben«, in: A. Haverkamp (Hg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, Frankfurt/M. 1994, S. 331–445; siehe auch Derridas Jan Patočka Memorial Lecture von 1992 unter dem Titel »Ketzertum, Geheimnis und Verantwortung: Patočkas Europa«, in: J. Patočka, Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte, Berlin 2010, S. 181–211. 28 E. Levinas, Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die Politik und das Politische, Berlin, Zürich 2007.

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XII · Macht, Widerstand und dessen Verherrlichung

zugeben, dass auch eine verherrlichte Macht des ›ganz Anderen‹ rückhaltlos dem Spiel vielfältiger Widerstände und Mächte ausgeliefert zu denken ist, in deren unabsehbarem Zusammenspiel sich erst zeigen kann, was von ihr zu halten ist. Im Zusammenspiel diverser Mächte wird Macht heute zwar noch von einigen Potentaten offen verherrlicht und ›repräsentativ‹ zur Schau gestellt. Machtgeschichtlich und machttechnisch handelt es sich dabei aber vielfach um eher schlichte und narzisstisch motivierte Erscheinungsformen einer Macht, die sich vom Eindruck abhängig macht, den sie auf Andere macht. 29 Dagegen beweist raffinierte Macht ihre Effektivität viel mehr dadurch, dass sie allenfalls Spuren hinterlässt, 30 um in ihrer gesichtslosen Anonymität umgekehrt die Spuren aller Anderen zu sammeln und sie womöglich restlos in Gewusstes zu überführen. 31 Würde ihr das gelingen – und würde sie uns glauben machen, dass das gelingen kann –, so wäre dieser medialen Macht, die tatsächlich unerhört gierig zu sein und keine Grenzen zu kennen scheint, mitsamt ihren strategischen Nutzern ein triumphaler Erfolg beschieden. 32 Allerdings um den Preis, von einer niemals in Modi epistemischer Erfahrung aufhebbaren Bezeugung einer Macht nichts mehr ahnen zu lassen, die gerade in einem nicht-privativ vorzustellenden Entzug des Anderen als des Anderen liegt. Durch diesen Entzug ›fehlt‹ uns nichts, was noch zu wissen wäre. Vielmehr stiftet er im Verständnis derer, die ihn verteidigen, eine Unverfügbarkeit des Anderen, deren Liquidierung möglicherweise auf einen Alptraum hinauszulaufen droht, der offensichtlich die gegenwärtigen Diskussionen um Exzesse virtuellen und algorithmisch fabrizierten Wissens umtreibt, das schließlich jeden vollkommen erkennbar werden lassen könnte. 33 Teils lächerliche, teils eher bedrückende Erscheinungsformen werden von Washington über Ankara bis Moskau medial reichlich verbreitet. Wir ersparen uns überflüssige Kommentare. 30 K. Röttgers, Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik, Freiburg i. Br., München 1990. 31 P. Wehling (Hg.), Kulturelle Deutungen des Nichtwissens im Wandel?, Bielefeld 2015; Vf., »Das Soziale im Lichte radikaler Infragestellung. Zwischen uralter Sozialität, liens sociaux und Wiederkehr der ›sozialen Frage‹«, in: Philosophischer Literaturanzeiger 70, Nr. 4 (2017), S. 374–404. 32 B. H. F. Taureck, Überwachungsdemokratie. Die NSA als Religion, Paderborn 2014. 33 Vgl. G. Agamben, Profanierungen, Frankfurt/M. 2005, S. 70–91; S. Mau, Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen, Berlin 2017. 29

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›Dämonie‹ der Verantwortung und Selbstentmächtigung

Ob dagegen eine Verherrlichung des Zeugnisses, so wie sie Levinas vorschwebte, etwas auszurichten vermag, bleibe hier dahingestellt. Die zuvor zu klärende Frage ist, wie das gegebenenfalls zu denken wäre. Diese Frage fächert sich nach dem Gesagten in folgende, engstens miteinander verknüpfte Probleme auf, die ich abschließend (ohne besonderen Anspruch auf analytische Trennschärfe) aufliste: 1. Auf den ersten Blick stellt sich Levinas’ Philosophie der Alterität als eine Theorie dar, die den Anspruch des Anderen jeglicher Macht entzieht, um einen unüberwindlichen (ethischen) Widerstand zur Geltung zu bringen. 2. Als nicht einmal von radikal vernichtender Gewalt zu liquidierender Widerstand erscheint dieser jedoch als eigentümlich mächtig – allein in ethischer Hinsicht aber, so dass der Anspruch des Anderen prima facie für einen anderen Macht-Typus zu stehen scheint, der jedoch genauso wie das, was das Zeugnis als ›Herrliches‹ verherrlicht, eigentümlich machtlos bleibt. Der ethische Anspruch des Anderen vermag von sich aus nichts in der (politischen) Welt auszurichten. Er kann es nicht mit realer mundaner, sublunarer Macht aufnehmen, um ihr aus eigener Kraft eine andere, real stärkere Macht entgegenzusetzen. Vielmehr soll gerade im Angewiesensein des Anderen auf die Verantwortung, die andere für ihn übernehmen – in dieser Schwäche und Hilflosigkeit also –, dasjenige liegen, was jeglicher Macht eine unüberwindliche Grenze setzt. Insofern ist hier nicht von einer anderen Macht, sondern wirklich von einem Anderen der Macht die Rede, das ihr keinerlei ›realen‹, wohl aber ethischen (machtlosen) Widerstand zu leisten vermag (TU, S. 383). Ob als Anderes der Macht oder als ethische, real machtlose Gegen-Macht oder »gute Gewalt«, die Levinas durch das nachträglich für den Anderen einstehende Zeugnis zum Zug kommen sieht: in jedem Fall wird der Widerstand des Anderen als ethisch ›gut‹ qualifiziert. 3. Diese (ethische) Macht richtet von sich aus nichts aus; es sei denn sie wird bezeugt. Sie ist politisch machtlos und rückhaltlos darauf angewiesen, dass man sich zu ihr bekennt und sie als verbindlich betrachtet, usw. Das jedoch beschwört die Gefahr einer Selbst-Ermächtigung im Namen des Anderen herauf, die sich den ihm unterstellten Anspruch zu eigen macht, in Beschlag nimmt und gegebenenfalls nach eigenem Gutdünken mit ihm verfährt. 4. Damit drängt sich die Parallele zu einer Herrschaft auf, die nicht regiert. Wie diese (verherrlichte) Herrschaft ist der ethische Widerstand des Anderen unfähig, von sich aus effektive Macht zu 441 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

XII · Macht, Widerstand und dessen Verherrlichung

sein, die uns zu irgendetwas konkret (politisch) veranlassen könnte. Insofern ist er (wenn Macht effektive Macht sein muss, um als solche gelten zu können) definitiv ohnmächtig und rückhaltlos auf politische Macht angewiesen, die ihm zu effektiver Wirksamkeit verhelfen muss. Wie das konkret geschieht, berührt entscheidend die Frage, was von der (ethisch inspirierten, aber politisch relativierten) Macht zu halten ist. 5. Der ethische Widerstand des Anderen soll unvermeidlich bzw. bedingungslos in das Politische hineinwirken, 34 wo jeder andere, jeder Flüchtling, jedes Opfer wirtschaftlicher, ökologischer oder ethnischer Gewalt, jedes misshandelte Kind, jede weiterhin diskriminierte Frau, jeder Fremde ein ›Anderer‹ ist. So kann der ethische Widerstand aber nur als politisch machtloser wirken. Im Verhältnis zu politischer Macht ist der ethische Widerstand des Anderen ein ›Anderes‹ jeglicher Macht und kann es mit keiner effektiven Machtform ›auf der gleichen Höhe‹, nämlich als politische Macht, aufnehmen. 6. Zu einer ›Begegnung‹ von ethischer (Gegen-)Macht und politischer Macht kommt es erst, wenn der Anspruch des Anderen ›politisiert‹ und umgekehrt das Politische in ein ethisches Licht gerückt wird. 35 Das geschieht (bei Levinas 36) durch ein Zeugnis, das den Anspruch des Anderen verherrlicht. Als ›machtvoll‹ erscheint der Anspruch des Anderen mitsamt der Verantwortung für ihn, die in deren ›Gabe‹ liegen soll, erst dank des Zeugnisses, das für diesen Anspruch spricht und einsteht. Und so gewinnt das Zeugnis selbst Macht, indem es sich als von der Herrlichkeit des Bezeugten als dem (vorgeblich) Anderen ›der‹ Macht gleichsam autorisiert ausgeben kann. 7. Damit läuft es zugleich Gefahr, sich eben das politisch zu eigen zu machen, was zunächst als ethisches Anderes ›der‹ Macht eingeführt worden war. Das kann – perverserweise und insofern mit zweifelhaftem ethischem Anspruch –, darauf hinauslaufen, mit dem Anderen ›der‹ Macht Machtpolitik zu machen und dabei diese Aneignung unkenntlich werden zu lassen, d. h. unter Berufung auf die ›Spur‹ des Anderen, die jeglicher menschlichen Verfügung entzogen

Einschlägigen Rekonstruktionen zufolge jedenfalls; vgl. U. Bröckling, R. Feustel (Hg.), Das Politische denken. Zeitgenössische Positionen, Bielefeld 2010. 35 Ich sehe hier davon ab, wie sehr Levinas gerade mit einer Metaphorik und Metaphysik des Lichts ins Gericht gegangen ist. 36 Das ist eine wichtige Einschränkung. In keiner Weise will ich nahelegen, Levinas’ Rede von Herrlichkeit sei im Hinblick auf das zu Bezeugende alternativlos. 34

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›Dämonie‹ der Verantwortung und Selbstentmächtigung

gedacht wurde, über die politische Bedeutung des Anderen verfügen zu wollen. 8. Das Zeugnis für den Anspruch des Anderen kann, wenn überhaupt, dieser Pervertierung nur entgehen, indem es diese Aporetik der Bezeugung selbst offenlegt und sich insofern entmächtigt. Nicht einmal dann ist es allerdings vor einem Ideologieverdacht sicher, der darauf hinausläuft, in einer demonstrativen Selbstentmächtigung, die im Namen eines Anderen der Macht erfolgen soll, wiederum nur den Ausdruck eigener ›Machtvollkommenheit‹ zu sehen. 9. Das Zeugnis für den Anspruch des Anderen und den Widerstand, der in ihm liegt, kann allenfalls insofern als glaubwürdig gelten, als es sich diesem Verdacht rückhaltlos aussetzt, gerade nicht aber, indem es ihn auszuräumen versucht. Es muss insofern sich selbst Widerstand leisten, sobald es Gefahr läuft, sich das Bezeugte anzueignen. 37 Genau darauf wäre Hölderlins Einsicht 38, geringfügig variiert und ins Politische gewendet, zu münzen: Von keinem Widerstand gegen uns selbst beschränkt, würden wir uns und Andere nicht fühlen und in gewisser Weise tot sein.

Wie es im ›moralistischen‹ Eintreten für ›Opfer‹ jeglicher Couleur so oft festzustellen ist, das in seinem anmaßenden Pathos sehr leicht gerade das aus den Augen verliert, worauf es eigentlich verpflichtet sein müsste, wenn wir Levinas, Derrida, Ricœur und anderen Verteidigern der politischen Bedeutung eines starken Alteritätsbegriffs Glauben schenken: die unverfügbare Anderheit jedes Anderen. 38 Siehe Kap. X, Anm. 2. 37

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Kapitel XIII Interpretationsmacht Macht der Interpretation und Interpretation der Macht – in der Perspektive einer Revision des Politischen Und wenn […] ich den Anderen fortgesetzt (wenn auch heimlich) erobern wollte, indem ich mich stellte, als entsagte ich ihm? Wenn ich mich entfernte, um ihn in um so sicherem Gewahrsam zu haben? Roland Barthes 1

1.

Macht versus Interpretation – ein irreführender Gegensatz

Dass es darauf ankomme, die Welt wirklich zu verändern, statt sie nur verschieden zu interpretieren, besagt eine der bekanntesten (und angesichts ihrer polemischen Stoßrichtung berüchtigtsten) Forderungen, die in der Moderne verfochten worden sind. Geradezu militant weist sie nicht nur eine Jahrhunderte alte hermeneutische Disziplin, die für manche bis heute mit der Philosophie identisch ist, als unerheblich für die Zukunft menschlicher Praxis zurück, sondern unterstellt darüber hinaus, diese Praxis bedürfe ihrerseits keiner Interpretation. In seiner Auseinandersetzung mit den Junghegelianern warnt Karl Marx sogar vor Interpretationen, insofern sie nur darauf hinauslaufen, »das Bestehende anders zu interpretieren, d. h., es vermittels einer anderen Interpretation anzuerkennen«. 2 Was sozusagen diesen Nettoeffekt hat, stuft der Autor der Deutschen Ideologie als »Phrase« ein und verspricht seinerseits, einer längst überfälligen Wissenschaft der Wirklichkeit den Weg zu bahnen, die endlich als das anzuerkennen sei, was sie ist: das geschichtlich tatsächlich Wirkende, das am Ende auf eine Aufhebung des Bestehenden hinauslaufen müsse, wie Marx mit und gegen Hegel glaubte zeigen zu können. R. Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt/M. 1988, S. 122. K. Marx, »Deutsche Ideologie (1845/46)«, in: Die Frühschriften, Stuttgart 1971, S. 339–485, hier: S. 341, 345.

1 2

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Macht versus Interpretation – ein irreführender Gegensatz

Die Brisanz der 11. These von Marx über Feuerbach liegt nicht zuletzt in dem, was sie suggeriert: nur zu interpretieren bedeute, nichts zu verändern; und umgekehrt: auf der Basis wahrer Einsicht in die Wirklichkeit etwas (oder sogar die Welt im Ganzen) verändern zu wollen, bedeute, nicht (oder zumindest nicht ›bloß‹) zu interpretieren. Interpretation wäre demnach machtlos, und wirkliche Macht der Veränderung könnte auf Interpretation verzichten. Bei näherem Hinsehen zeigt sich freilich, dass es Marx gerade um die Kritik einer Macht der Interpretation ging, die »das Bestehende« affirmiert, also Veränderung verhindert. So interpretierte er seinerseits als eine Form der Macht, was sich auf den ersten Blick als unbezüglich auf Macht, nämlich als ›bloßes‹ Interpretieren, darstellt. Nur als rhetorische These beeindruckt zunächst der Gegensatz von Macht und Interpretation, den die Polemik der Deutschen Ideologie tatsächlich zu revidieren zwingt, indem sie suggeriert, die auf Kritik des Bestehenden verzichtende Interpretation sei in Wahrheit eine Form der Macht, die Veränderung verhindert. Um das zu zeigen, muss sich aber die auf Veränderung dringende Gegenmacht, der Marx das Wort redet, ihrerseits durch Interpretation ihren Weg bahnen. Sie muss nämlich zeigen, dass das, was bloß Interpretation zu sein schien, in Wahrheit als Affirmation einer Wirklichkeit zu verstehen ist, die keine Anerkennung verdient. So gesehen stellt Marx in seiner Polemik gegen das bloße Interpretieren selber ein bemerkenswertes Beispiel einer im Hinblick auf ihre geschichtlichen Folgen außerordentlichen Macht der Interpretation dar, die zu einer revidierten Interpretation der Macht herausfordert. Die Macht der Interpretation kommt hier gerade dadurch zum Tragen, dass sie unterstellt, sich jeglicher Interpretation zu enthalten. Sie führt so vor Augen, wie es möglich ist, Macht durch Interpretation auszuüben; und zwar auch und gerade dann, wenn behauptet wird, auf jegliche Interpretation zu verzichten. Diese Einsicht zwingt zu einer Interpretation der Macht als Interpretationsmacht, die allerdings nicht auf Marx, sondern wesentlich auf seinen Zeitgenossen Friedrich Nietzsche zurückgeht, der darauf insistierte, jedwede Macht laufe auf (mehr oder weniger gewaltsames) Interpretieren hinaus und keine Interpretation könne machtfrei zum Zuge kommen. Demnach wäre es unmöglich, je der Herrschaft interpretativer Macht zu entgehen. Selbst die einfachste Empfindung mache sich schon das Empfundene als solches interpretativ »zurecht«, lehrt Nietzsche. Statt Macht und Interpretation gewissermaßen auseinanderzudividieren 445 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

XIII · Interpretationsmacht

und die subtile Verflechtung beider Begriffe zu kaschieren, wie es Marx getan hat, bringt er sie auf diese Weise zur Deckung und legt darüber hinaus nahe, es müsse uns unumgänglich um interpretative Macht und um deren Steigerung gehen. 3 Seine neue Interpretation der Macht besagt: als Interpretationsmacht ist sie überall anzutreffen; und ihr ist nicht zu entkommen, insofern unser Leben darauf angelegt scheint, unbedingt an der Steigerung dieser Macht interessiert zu sein. 4 Der Interpretationsmacht ist nicht etwas ganz anderes, sondern wiederum nur eine andere Macht, nämlich eine Macht der Uminterpretation entgegenzusetzen (wie sie Nietzsche in seinem Programm der »Umwertung der Werte« selber praktiziert hat; KSA 12, S. 109). Die auf Nietzsche zurückgehende Kritik an einer bloß äußerlichen Entgegensetzung von Macht und Interpretation hat jedoch längst nicht mehr das letzte Wort. Inzwischen wird mit Nachdruck die von ihm nahegelegte Identifikation von Macht und Interpretation bestritten, die nur Aussichten auf nicht enden wollende agonale oder antagonistische Konflikte zwischen einander widerstreitenden Interpretationsmächten zu eröffnen schien. Sind wir wirklich dazu ver3 F. Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente 1885–1886«, in: Sämtliche Werke, Bd. 12 (Kritische Studienausgabe [= KSA], Hg. G. Colli, M. Montinari), München 1980, S. 114, Nr. 108. Tatsächlich impliziert freilich Nietzsches Begriff des Willens analytisch zunächst nur, dass das Gewollte realisiert werden möge. Wenn es sich beim Gewollten um ein prâgma (das intentionale Korrelat menschlichen Tuns) handelt, so muss man davon ausgehen, dass der Wille darauf ausgeht, es realisieren zu können (vgl. dazu P. Ricœur, Philosophie de la volonté. T. I. Le Volontaire et l’involontaire, Paris 1950, S. 190 ff.). Dieser Begriff der Macht als eines Könnens deckt sich nicht mit einem komparativen oder relativen Begriff einer Macht, die darauf abzielt, einer anderen Macht bzw. der Macht Anderer überlegen zu sein. (In KSA 11 findet man beides unter Titeln wie »Bezeigung der Macht«, »Verwendung«, »Ausübung« [S. 563] und als »Commandiren an andere Subjekte« [S. 650].) Die fragwürdige Popularität von Nietzsches Begriff eines Willens zur Macht (KSA 11, S. 611) verdankt sich nicht unwesentlich einer Kontamination beider Bedeutungen. Im Folgenden geht es mir allerdings nicht um Nietzsche-Exegetik, die sich mit einer Vielzahl von Aphorismen des Philosophen befassen müsste, welche gegen eine solche Kontamination und darüber hinaus für Erfahrungen der Machtlosigkeit jeglicher Interpretation (z. B. angesichts eines bestimmten Schmerzes) sprechen. 4 Von hermeneutischer Seite wird später freilich eine Differenz in dieser von Anfang an zwiespältigen These geltend gemacht. Mit Heidegger affirmiert etwa Jean Greisch »eine gewisse Gewaltsamkeit« als überall dort »unvermeidlich«, wo es Interpretation gibt, bestreitet aber, dass dies mit »einem Machtanspruch über existenzielle Möglichkeiten und Verbindlichkeiten« zu tun habe (J. Greisch, Hermeneutik und Metaphysik. Eine Problemgeschichte, München 1993, S. 195; M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 151984, S. 312 f.).

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Macht versus Interpretation – ein irreführender Gegensatz

urteilt, in solchen Konflikten gegeneinander anzutreten, um über Andere hermeneutisch, rhetorisch und praktisch zu triumphieren? 5 Und haben wir allein nach diesem Vorbild womöglich auch das Politische zu verstehen, wie es eine Apologie des Konflikts zu besagen scheint, die im Kampf um Hegemonie geradezu das Lebenselixier des Demokratischen zu erkennen meint? 6 Das wird u. a. von Roland Barthes bestritten, dessen Schriften hier im Anschluss an die Position Nietzsches zur Diskussion gestellt werden. Sie werfen das über Marx und Nietzsche hinausweisende Problem auf, ob Macht und Interpretation gerade in ihrer Verflechtung angesichts des Anderen in Frage stehen, dessen Begehren sie als Modi der Bemächtigung und Aneignung alles Sinnhaften zuwiderzulaufen drohen. Diese Überlegung könnte uns dazu zwingen, nicht nur die schlichte Entgegensetzung, sondern auch die Identifikation von Macht und Interpretation zu überwinden, um besser zu verstehen, was in ihrer gegenseitigen, dialektischen oder chiasmatischen Verflechtung 7 – über Macht und Interpretation hinaus – eigentlich auf dem Spiel steht. 5 Das war die Einschätzung Carl Schmitts in seiner Schrift Der Begriff des Politischen (Berlin 61996, S. 122), in der er zugleich nahelegte, nur durch politische Dezision und souveräne Machtbefugnis ließen sich solche Konflikte beherrschen. Schmitt lässt keinen Zweifel, woraus er diese Lehre gezogen haben will: »Der grauenhafte Bürgerkrieg der christlichen Konfessionen wirft […] sofort die Frage auf: Wer deutet und vollzieht in rechtsverbindlicher Weise diese fortwährend interpretationsbedürftige [!] Wahrheit? Wer entscheidet, was wahres Christentum ist? Das ist das unvermeidliche Quis interpretabitur? Und das unaufhörliche Quis judicabit? Wer münzt die Wahrheit in gültige Münze um? Auf diese Frage antwortet der Satz: Autoritas, non veritas, facit legem. Die Wahrheit vollzieht sich nicht selbst, dazu bedarf es vollziehbarer Befehle.« 6 Vgl. C. Mouffe, »Deliberative Democracy or Agonistic Pluralism?«, in: Social Research 66 (1999), S. 745–758; dies., Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt/M. 2007. 7 Wie schon M. Merleau-Ponty in seinem Spätwerk Das Sichtbare und das Unsichtbare (frz. 1964; dt. München 1986) gezeigt hat, ist eine dialektische Aufhebung von Gegensätzen nicht der Weisheit letzter Schluss. Zwar spricht er hier noch von einer »Dialektik ohne Synthese« (S. 129), doch in Wahrheit ging es ihm um ein »überkreuztes« Verständnis von unaufhebbaren Gegensätzen (ebd., S. 209, 274, 328 ff.). Für den Gegensatz von Macht und Interpretation würde das bedeuten: nicht interpretationsfreie Macht und machtlose Interpretation sind dialektisch zu vermitteln, vielmehr hätten wir ein Chiasma von Phänomenen der Interpretation einerseits, die stets schon mit einem Machtindex versehen sind, und Phänomenen der Macht andererseits, die ihrerseits niemals interpretationsfrei sein können, zu denken; so aber, dass die Differenz von Interpretation und Macht nicht in einer synthetischen Konzeption von Interpretationsmacht aufzuheben ist.

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XIII · Interpretationsmacht

2.

Was bedeutet ›Interpretationsmacht‹ ?

Der Begriff der Interpretationsmacht impliziert zweierlei. Gemeint ist (a) einerseits der Sachverhalt der Manifestation einer Macht, die sich der Interpretation als eines Mittels ihrer Durchsetzung bedient; andererseits (b) wird auch der Interpretation selbst Macht zugesprochen. Beide Bedeutungen des Begriffs können konvergieren, ohne notwendigerweise zur Deckung kommen zu müssen, wenn festzustellen ist, dass eine Macht sich auf Interpretation stützt, die ihrerseits eine machtvolle Wirkung entfaltet. Im Übrigen werfen beide Bedeutungen wiederum das Problem der Interpretation von Macht auf. Denn was verstehen wir überhaupt unter Macht, wenn wir davon ausgehen, sie könne durch Interpretation ausgeübt werden? Würde eine genauere Untersuchung dieser Frage nicht nach einer Interpretation der Macht der Interpretation verlangen? Und wäre dieser Interpretation wiederum eine Macht der Interpretation der Macht zuzuschreiben? In den mittlerweile klassischen Bestimmungen menschlicher Macht tauchen diese Fragen nicht auf. Man denke nur an die v. a. auf Maine de Biran zurückgehende Diskussion des Widerstandsbegriffs, die zunächst auf die willentliche Anstrengung abzielt, welche die Überwindung des Widerstands erfordert. In der Anstrengung manifestiert sich die Macht, etwas zu tun, Dinge zu bearbeiten, sich mit der »Widrigkeit« (adversité) der Welt auseinanderzusetzen, als ein Können oder Vermögen. 8 Max Weber sieht den sozialen bzw. politischen Widerstand im Willen des Anderen, der dazu herausfordert, sich gegen ihn durchzusetzen, ggf. auch mit Gewalt. 9 Während 8 Vgl. J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts, Reinbek 1993, S. 574 ff.; sowie das Kap. X in diesem Band. 9 Ausdrücklich heißt es ja im § 16 von Wirtschaft und Gesellschaft, wo Weber die Macht definiert, es handle sich um »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht« (Hervorhebg. B. L.). Damit sind Gewaltmittel offensichtlich eingeschlossen, die auch das nach Hobbes »Größte« heraufbeschwören können, was Menschen vermögen: den Anderen zu töten. So gesehen muss man Webers Definition von Macht in der neuzeitlichen Geschichte einer primär negativen Sozialität situieren, die Hegel, über Hobbes hinausgehend, bekanntlich als eine Dialektik von Anerkennungskämpfen gedeutet hat. So konnte Hegel neu ›interpretieren‹, worum es in der vom Anderen gefährdeten Selbsterhaltung eigentlich geht: nicht um das nackte Überleben und um dessen Sicherheit nämlich, sondern um das »geistige«, angeblich nur in und durch Anerkennung zu realisierende Leben. Diese Deutung behauptet sich bis heute

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Was bedeutet ›Interpretationsmacht‹ ?

Weber auf diese Weise nahelegte, Gewalt könne als Steigerungsform der Macht gedacht werden, insistierte Hannah Arendt auf der Heterogenität von Macht und Gewalt. Wer Gewalt ausübt, so befand sie, hat bereits seine Macht verloren, die in Wahrheit darauf angewiesen sei, im Einverständnis mit Anderen zu bewirken, worauf sie hinaus will. 10 In dieser Richtung hat dann Michel Foucault weiter gedacht, dem es darum ging, Phänomene der Macht herauszuarbeiten, die nicht vom Paradigma des Befehls, von der Durchsetzung gegen Andere (wie bei Weber) oder von der Untersagung her als solche verstanden werden können, sondern produktiv Wirkungen stimulieren, die nicht zuletzt dadurch zustande kommen, dass Menschen sich gefügig in »Dispositive der Macht« einpassen, um in deren Sinne selbst, d. h. scheinbar nicht fremdbestimmt und nicht von Anderen beherrscht zu handeln. 11 Foucault hat auf diese Weise der Diskussion des Machtbegriffs dadurch eine neue Wendung gegeben, dass er solche Dispositive überhaupt erst als Strukturen der Macht kenntlich bzw. verständlich machte. D. h., er hat wesentlich die Interpretation der Macht als Macht vorangebracht, um auch dort auf deren Spuren aufmerksam zu machen, wo sie sich prima facie gar nicht als solche darstellt. Das hat andere dazu veranlasst, gerade darin eines der wichtigsten Merkmale von Macht zu sehen: sich als Macht derart unsichtbar zu machen, dass nur Spuren zu ihr führen. Deren ›Witz‹ liegt demnach darin, indirekt auf eine Macht hinzuweisen, die sich als Macht nahezu unkenntlich macht, um gerade dadurch höchst effektiv zu wirken. In diesem Sinne, meine ich, sprechen wir auch von einer Macht der Interpretation als einer Macht, die sich durch Interpretation manifestiert; und zwar um so effektiver, wie die Interpretation als Interpretation unkenntlich wird. Letzteres kann spezieller Ausdruck einer Macht sein, die gerade dadurch zustande kommt, dass invisibilisiert mit einer bemerkenswerten Interpretationsmacht derart, dass kaum mehr deren Anfechtbarkeit deutlich wird. So wird geradezu unvorstellbar, menschliches Leben könne es diesseits oder jenseits der Anerkennungsbedürftigkeit geben. Vgl. aber A. Schäfer, C. Thompson (Hg.), Anerkennung, Paderborn, München, Wien, Zürich 2010; Vf., »Am Rande der Lebbarkeit eines sozialen Lebens. Anerkennung und sozialer Tod in der Philosophie Judith Butlers«, in: Verletztes Leben, Zug 2014, Kap. VIII. 10 H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 41985, S. 196 ff. 11 M. Foucault, »Die Maschen der Macht«, in: Schriften IV, Frankfurt/M. 2005, S. 224–244. Wie eng sich Foucault dabei immer noch an die klassischen Definitionen der Macht anlehnt, wird ersichtlich aus seinen Überlegungen zu »Subjekt und Macht«, ebd., S. 269–294, bes. S. 285 ff.

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XIII · Interpretationsmacht

wird, was sie veranlasst, nämlich etwas als etwas zu verstehen – während sie den Anschein erweckt, als würde sie selbst nichts tun, was auf die Spur dieser im ›als‹ liegenden signifikativen Differenz führen müsste. 12 Wenn sie Dinge und Worte, Menschen und politische Verhältnisse scheinbar gar nicht ›als‹ etwas aufzufassen veranlasst und interpretiert, sondern einfach so nehmen lässt, wie sie sind, übt sie dem Anschein nach gar keine Macht der Interpretation aus, sondern führt nur vor Augen, was sich (angeblich) auch ohne ihr Zutun so oder so verhält bzw. so ist. 13 Dagegen wandte Nietzsche ein, tatsächlich sei es niemals möglich, etwas nur als das zu nehmen, was es ist. Bereits in der Wahrnehmung sei eine Macht der Interpretation wirksam, die (unvermeidlich) etwas als etwas »zurechtmacht«, wie er meinte. In diesem Sinne sprach er in der Genealogie der Moral von »interpretierenden Kräften« im Sehen, »durch die doch Sehen erst ein Etwas-Sehen wird«. 14 Dabei zielte er sowohl auf sinnliche Erfahrung als auch auf ein begrifflich vermitteltes, »perspektivisches Erkennen« ab und suggerierte, in jedem Falle handle es sich um etwas, das wir als etwas realisieren, auch wenn wir dieses ›als‹ zunächst wiederum nicht eigens als solches zur Kenntnis nehmen, wenn wir nur aufzufassen glauben, was (es) ist, oder wenn uns das regelrecht verordnet worden ist. 15 Dabei kann es sich auch um die Macht des sog. common sense handeln, der den Anschein erweckt, die Dinge gerade so zu nehmen, wie sie sind, ohne sich im Geringsten auf Spielräume ihrer Interpretierbarkeit zu stützen; vgl. C. Geertz, Dichte Beschreibung, Frankfurt/M. 2003; zur signifikativen Differenz B. Waldenfels, Der Spielraum des Verhaltens, Frankfurt/M. 1980. 13 Genau darauf laufen zahlreiche Formen klassischer Ideologiekritik hinaus. Angefangen bei Marx’ Anspruch, die Hegel’sche Dialektik »vom Kopf auf die Füße« zu stellen. Vgl. P. Ricœur, Lectures on Ideology and Utopia, New York 1986; S. Kofman, Camera obscura. Von der Ideologie, Wien, Berlin 2014. 14 F. Nietzsche, »Zur Genealogie der Moral«, KSA 5, S. 365. Würden wir Nietzsche in dieser Interpretation folgen, so wäre allerdings eine Nivellierung der Begriffe Verstehen, Deuten und Interpretieren die Folge. Um das zu vermeiden, empfiehlt es sich, die in jeder Erfahrung wurzelnde signifikative Differenz vom Verstehen, das sie als solche realisiert, und das Verstehen wiederum von einem (selbst-)kritischen Deuten abzuheben, das bis zur wissenschaftlichen Interpretation reichen kann. 15 Aktuelle Analysen führen deutlich vor Augen, wie weit politische Macht auch in einer mehr oder weniger ›gelenkten‹ Demokratie darin gehen kann, jeglichen öffentlichen Interpretationsspielraum so zu tilgen, dass diejenigen, die für sich ein ›Recht auf Interpretation‹ geltend machen, Gefahr laufen, sich für hermeneutische Vergehen strafbar zu machen. Z. B. dann, wenn sie als ›Kunst‹ deklarieren, was einer theologisierten Staatsideologie zuwiderläuft und von dieser geradezu als »Sinnverbrechen« 12

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Friedrich Nietzsches Apologie der Macht als einer Interpretationsmacht

Im Folgenden stelle ich zunächst die wichtigsten Ansatzpunkte dieser nietzscheanischen Deutung menschlicher Macht als einer Interpretationsmacht heraus (3.), zu der wir scheinbar einerseits verurteilt sind (wenn es stimmt, dass wir sie niemals nicht ausüben können) und von der wir andererseits besessen sein müssen (wenn es stimmt, dass wir umwillen souveränen Lebens alles daran setzen müssen, uns diese Macht zu beweisen). Anschließend (4.) lote ich mit Roland Barthes Grenzen menschlicher Interpretationsmacht aus, die für eine Revision des Politischen von zentraler Bedeutung sind. Desiderate einer solchen Revision kommen abschließend zur Sprache (5.).

3.

Friedrich Nietzsches Apologie der Macht als einer Interpretationsmacht

Heute wird der Begriff der Interpretation zumeist einer hermeneutischen Erfahrung zugeschrieben 16, in der man sich bewusst (und kritisch) dazu verhält, dass man etwas so oder anders als etwas wahrnehmen, beschreiben, narrativ darstellen oder auch erklären kann. 17 eingestuft werden kann. Vgl. M. Ryklin, Mit dem Recht des Stärkeren. Russische Kultur in Zeiten der ›gelenkten Demokratie‹, Frankfurt/M. 2006, S. 206, 236. 16 Hermeneutiker lehren uns, dass es gar nicht möglich ist, etwas als etwas aufzufassen, ohne dieses ›etwas‹ dabei deutend zu verstehen; und zwar so, dass dabei unvermeidlich ein Kontingenzspielraum entsteht. Etwas als etwas verstehen, heißt, es nicht anders zu verstehen (was grundsätzlich möglich wäre). Das hermeneutische ›als‹ hätte gar keinen Sinn, wenn das (erste) ›Etwas‹, worauf wir uns verstehend beziehen, und das (zweite) ›Etwas‹, als das wir es im wie auch immer begrenzten, fragmentarischen oder misslungenen Verstehen zum Vorschein bringen, schlicht zusammenfallen könnten. Schon auf der Ebene der Wahrnehmung ist das ›als‹, die signifikative Differenz, unvermeidbar und unterhintergehbar. Von der bekannten Diskussion um den (von Heidegger behaupteten) Primat des »hermeneutischen Als« der Auslegung vor dem prädikativen, »apophantischen Als« der Aussage sehe ich hier ab; vgl. dazu Greisch, Hermeneutik und Metaphysik, S. 72. Machtkritisch wäre der Horizont dieser Diskussion um die Frage zu erweitern, ob nicht das Sehen-als wie auch das Zeigenals und das Deuten-als, in dem sich Etwas als Etwas zeigt oder Etwas gezeigt wird, unvermeidlich bedeuten muss, dass dieses Etwas zugleich zu etwas ›gemacht‹ wird. 17 E. Angehrn, »Selbstverständigung und Identität. Zur Hermeneutik des Selbst«, in: B. Liebsch (Hg.), Hermeneutik des Selbst – im Zeichen des Anderen. Zur Philosophie Paul Ricœurs, Freiburg i. Br., München 1999, S. 46–69; E. Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, Weilerswist 22004. Demgegenüber hatte Heidegger behauptet, das (menschliche) Dasein vollziehe sich geradezu im Modus des Verstehens. Damit war freilich nicht gemeint, es verstehe allemal ›gut‹ oder ›richtig‹, sondern nur, es habe sich ständig mit dem Zu-Verstehenden auseinanderzusetzen, es bedürfe selbst

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Demgegenüber dehnt Nietzsche den Begriff der Interpretation sogar auf sinnliche Kräfte aus, die schon in der elementarsten Erfahrung etwas ›perspektivisch‹ zum Vorschein kommen lassen. So legt er nahe, auch den Begriff der Interpretationsmacht entsprechend weit zu fassen. Wird aber Macht nicht erst ausgeübt, wo aktiv interpretiert wird und man weiß, dass man etwas als etwas auffasst und anderen (offen oder kaschiert) zu verstehen gibt? Man wird sagen: das kommt darauf an, was wir unter Macht verstehen. So schlägt die Frage nach der Macht der Interpretation unversehens in das Problem der Interpretation der Macht um. Speziell Foucaults genealogische Forschungen zu in der Moderne zutrage getretenen neuartigen Formen der Macht haben die Aufmerksamkeit auf zuvor kaum beachtete Machtwirkungen gelenkt, die sich gerade darin als überaus subtil erweisen, wie sie interpretativ wirken, ohne als solche auch zum Vorschein zu kommen. So legen uns gewisse Spielarten einer vielfältigen, schwer zu ortenden BioMacht die Interpretation allen, also auch menschlichen Lebens als eines reproduktiven und evolutionären Geschehens nahe, ohne dass sofort klar wäre, ob daraus nicht ein reduktives, womöglich gewaltsames Verständnis menschlicher Generativität folgt. Stattdessen entsteht der Eindruck, menschliches Leben könne nur als reproduktives verstanden werden. Leben findet ja in den Augen der Biologen überall dort statt, wo auf der Basis organischer Selbsterhaltung Evolution möglich ist. 18 Leben ist demnach ein reproduktives und evolutionäres Geschehen. Da gibt es so gesehen nichts (anders) zu verstehen oder (anders) zu interpretieren. 19 Gerade ein derart ›biologisiertes‹ Leben ist seit dem 19. Jahrhundert zum Gegenstand neuartiger Formen der Macht geworden, die es für die Nation und den Staat in Dienst gedes Verstehens und geschehe auch umwillen des Verstehens. Charles Taylor hat Heideggers ontologisch-existenzialen Begriff des Verstehens in diesem Sinne in die (ontische) Rede vom Menschen als einem »hermeneutischen Tier« umgemünzt (worin ihm Paul Ricœur zeitweise gefolgt ist). 18 Nach G. Canguilhem, Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie, Frankfurt/M. 1979, S. 149. 19 Inzwischen hat freilich die Wissenschaftsgeschichte selbst vor Augen geführt, wie sehr sich die moderne Biologie vom Buch des Lebens (Thomas v. Aquin) über die durch eine sog. Messenger-RNS übertragenen Informationen bis hin zum angeblich ›lesbaren‹ genetischen Code gewisser Interpretamente bedient, von deren Funktion sie im Sinne einer Hermeneutik des Lebens aus eigener Kraft nicht angemessen Rechenschaft ablegen kann. Siehe dazu L. E. Kay, Das Buch des Lebens. Wer schrieb den genetischen Code?, Frankfurt/M. 2005.

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nommen haben. 20 In dieser Zeit weisen national-staatliche Ideologien den gleichen Grundzug einer interpretativen Macht auf, die sich als solche unkenntlich zu machen strebt. Sie insinuierten die Nation, die sie fingierten, als etwas Ursprüngliches, Autochthones. Erst im historischen Abstand eines Jahrhunderts ist durch die Aufklärung genealogischer Mythen deutlich geworden, wie man mit der Fiktion einer ursprünglichen Natürlichkeit der eigenen Nation Politik machen konnte 21 – unter der Voraussetzung, dass diese Fiktion nicht als solche erkannt werden durfte. So kann der Nationalismus in seinen verschiedenen Spielarten gewiss als Beispiel par excellence für eine Interpretationsmacht gelten, deren Macht nicht zuletzt gerade darin lag, keinen Gedanken daran aufkommen zu lassen, dass sie sich einer ideologischen Interpretation tatsächlich zerstreuter Anfänge nationalen Lebens als geschichtlicher Ursprünge eines gemeinschaftlichen Seins verdankte. Der gleiche Mechanismus kaschierter Interpretation, die gerade als solche Macht begründet, lässt sich freilich auch in einer Kultur scheinbarer Ideologiefreiheit beobachten, in der man »schroff und unverhohlen«, wie Roland Barthes fand, Bedürfnisse deklariert, die auf den ersten Blick überhaupt keiner Deutung, Sublimation oder Legitimation mehr bedürfen (DN, S. 168). Wenn man in der Artikulation von Bedürfnissen nur mehr anzugeben glaubt, worin ›tatsächlich‹ die affektive Grundlage gewisser Konsumwünsche bspw. liegt, hat man auch in diesem Fall keinen Sinn mehr für interpretative Momente, die in eine solche Artikulation effektiv eingehen. So kann das Leben, die Nation oder auch die Gesellschaft als das »System der Bedürfnisse« (Hegel) aufgrund vorgängiger Reinterpretationsleistungen zu einem pseudo-objektiven Sachverhalt gerinnen, in den keinerlei Interpretation eingegangen zu sein scheint. Aber gerade dadurch, dass dies erfolgreich suggeriert wird, wird Macht ausgeübt, die am subtilsten dort zum Tragen kommt, wo sie auf den ersten Blick keine Spur einer Interpretationsleistung mehr erkennen lässt, sondern vorgibt, nur empirisch zu registrieren, was ist, um sich genau darauf lediglich realistisch einzustellen. 22 So gesehen besteht grundsätzlich M. Foucault, Sexualität und Wahrheit. Erster Band, Frankfurt/M. 1983, Kap. V. B. Schoch, »Der Nationalismus – bekannt, nicht erkannt«, in: B. Meyer (Hg.), Eine Welt oder Chaos?, Frankfurt/M. 1996, S. 47–89. 22 Beispiele für eine solche Verquickung von Empirismus und Realismus finden sich zahlreich in H. Münklers Buch Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt/M. 22007. Es nimmt »Rea20 21

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dort, wo (politisch) empirisch und realistisch gedacht und argumentiert wird, der Verdacht, dass Interpretationsleistungen derart zum Verschwinden gebracht werden, dass der Verweis auf empirisch Gegebenes wie auch die realistische Berufung darauf, man müsse ihm als solchem Rechnung tragen, als nahezu unanfechtbar erscheint. Denn der Realismus würde unter diesen Voraussetzungen der Empirie ja nur angemessen gerecht werden. Und wie kann man überhaupt etwas anderes wollen, wenn das empirisch Gegebene (in richtiger Auffassung) schon selber beinhaltet, was es zu tun aufgibt? Roland Barthes spricht in diesem Zusammenhang von einem Empirismus, der sich aller Last und Kontingenz der Interpretation glaubt entledigen zu können. 23 Ist aber das ›unmittelbar faktisch Gegebene‹ ein Mythos – genauso wie im Übrigen ein angeblicher Realismus, der notorisch leugnet, Gegebenes in kontingenten Spielräumen seiner Interpretierbarkeit auch anders verstehen zu können (oder zu sollen) – dann brauchen wir eine Interpretation der Macht, um die Macht der Interpretation 24 zu begreifen, welche die Spuren der Macht für den, der sie zu lesen versteht, gerade dort verrät, wo sie erfolgreich glauben macht, überhaupt nicht (und nichts) interpretiert zu haben. 25

lismus« für sich in Anspruch als einzig noch akzeptable normative Grundlage einer Politik (und einer Wissenschaft vom Politischen), die – im Gegensatz zu »schönfärberischen Apologeten des Staates« – auf das sieht, was tatsächlich geschieht und dieses als allein maßgeblich betrachtet (S. 349, 395) im Sinne eines »Primats der Effizienz«, demzufolge Politik und Ethik getrennte Wege gehen müssen, wie es scheint. So bekennt sich der Autor auf den Spuren Machiavellis zu einem »Pathos des Tatsächlichen«, das vorgeblich nur die »reine Faktizität« bzw. »das Unmittelbar-Faktische« im Blick hat (S. 40 f., 243, 247). 23 R. Barthes, Das Neutrum. Vorlesung am Collège de France 1977–1978, Frankfurt/ M. 2005, S. 293 (= DN). 24 Dabei wird sich unsere Interpretation der Macht ihrerseits unvermeidlich in der Dimension der Macht bewegen müssen, so dass sie die Macht, mit der sie sich gegenständlich befasst, zugleich im Rücken hat. Die Interpretation der Macht impliziert ihrerseits eine Macht der Interpretation, die sie paradoxerweise um so mehr kaschiert, wie sie unterstellt, die Macht genau als das zum Vorschein gebracht zu haben, was sie ist. So gesehen dürfen wir kaum erwarten, es im Verhältnis zwischen Macht und Interpretation mit einer bloß äußerlichen Relation zwischen gänzlich heterogenen Elementen zu tun zu haben, wenn Macht unvermeidlich interpretativ verfährt und wenn Interpretationen unvermeidlich einen Machtaspekt haben – auch und gerade dann, wenn sie vorgeben, etwas nur zu nehmen, wie es ist. Das gilt auch für die Macht als Gegenstand der Interpretation. 25 Bis hin zum berüchtigten TINA-Prinzip, das besagt, die politische Wirklichkeit lasse uns überhaupt keine Alternative zu einem bestimmten Handeln, das mit Not-

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Stoßen wir auf interpretative Macht nur durch ihre Spuren 26, so muss es sich immer um Spuren dessen handeln, dass es sich nicht so verhält. Selbst die erfolgreichste interpretative Macht kann bzw. darf das, was sie in bestimmter Art und Weise ›zu verstehen gibt‹, nicht restlos auf vorgeblich Gegebenes reduzieren. Denn in diesem Fall höbe sie sich als interpretative Macht geradezu selbst auf. Solange sie als interpretative Macht im Spiel ist, kann sie nicht umhin, am Zu-verstehen-Gegebenen ein minimales Zeichen der Kontingenz nicht zu tilgen. Andernfalls erschiene letzteres nur mehr als das, was es (angeblich) ist. Und daran gäbe es buchstäblich nichts mehr zu deuteln. So kann interpretative Macht nur so lange eine Macht der Interpretation bleiben, wie sie nicht gänzlich ausschließt, das Interpretierte könnte auch anders wahrgenommen, verstanden und gedacht werden; und das, obgleich die Macht der Interpretation gerade darin scheint liegen zu müssen, etwas (wie das Leben, die Nation oder die Bedürfnisse etc.) in bestimmter Art und Weise effektiv so und nicht anders zu verstehen zu geben. Im Extremfall triumphiert sie damit hegemonial derart, dass man sich ein anderes Verstehen kaum mehr vorzustellen vermag. 27 Auch eine derart überlegene Interpretationsmacht ist aber nicht davor geschützt, fragil zu werden – entweder (a) weil sie aus sich heraus brüchig wird (sei es auch nur infolge der schieren Langeweile ihrer andauernden Vorherrschaft); oder (b) weil ihr mehr oder weniger überraschend eine Gegeninterpretationsmacht bzw. eine Interpretationsgegenmacht in die Quere kommt und Widerstand zu leisten beginnt. Im Fall der Gegeninterpretationsmacht 28 richtet sich der Widerstand speziell gegen eine bestimmte Art und Weise, etwas als etwas wahrzunehmen, zu denken, zu verstehen zu geben, d. h. zu wendigkeit aus der Realität hervorzugehen scheint und alles andere als ›unrealistisch‹, ›weltfremd‹ abzuqualifizieren erlaubt. 26 Siehe Kap. XII, 4. 27 Mit der Folge, dass Grenzen einer Normalität gezogen werden, die das, wodurch sie in Frage gestellt wird, nicht mehr ›ernst nehmen‹ lassen, wie Rorty beobachtet hat (»Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie«, in: ders., Solidarität oder Objektivität?, Stuttgart 1988, S. 82–125, hier: S. 98). 28 Man denke nur an die Geschichten der Außenseiter, die um ihre historische Repräsentation kämpften, oder an die Geschichte der Frauen; vgl. J.-C. Schmitt, »Die Geschichte der Außenseiter«, in: J. LeGoff, R. Chartier, J. Revel (Hg.), Die Rückeroberung des historischen Denkens, Frankfurt/M. 1990, S. 201–243; A. Corbin, A. Farge, M. Perrot u. a., Geschlecht und Geschichte. Ist eine weibliche Geschichtsschreibung möglich?, Frankfurt/M. 1989.

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kommunizieren. Um eine bislang dominante Interpretationsmacht darin, wie sie dies veranlasst, in Zweifel ziehen zu können, muss die Gegeninterpretationsmacht mindestens herausstellen, (a) dass das besagte ›Etwas‹ in kontingenter (d. h. nicht: arbiträrer bzw. beliebiger) Art und Weise auch anders wahrgenommen, gedacht und kommuniziert werden kann, so dass wenigstens ein Interpretationsspielraum zum Vorschein kommt. Ein bornierter common sense etwa wird allein dadurch schon fragil. Darüber hinaus (b) muss deutlich werden, inwiefern etwas für die heterogene Interpretation spricht – im Gegensatz zur bislang vorherrschenden Interpretation, gegen die sich erstere richtet. Es geht also nicht bloß um Kontingenz bzw. andere Möglichkeiten der Interpretation, sondern um Dringlichkeiten, Herausforderungen, Notwendigkeiten. Das leuchtet ohne weiteres ein, wenn in unerwarteter Art und Weise Ungerechtigkeiten zur Sprache gebracht werden, die bislang niemand als solche wahrgenommen hat oder die niemand als solche ›zählen‹ wollte. 29 In Nietzsches Schriften finden sich zahlreiche Hinweise auf beide Punkte. Allerdings in prinzipieller Verschärfung. (a’) Nicht nur kann etwas anders oder als anderes interpretiert werden. Vielmehr soll die These der Re- oder Uminterpretierbarkeit unvermeidlich für alles, sogar für das gelten, was wir empfinden, erst recht aber für alles, was wir wahrnehmen, fühlen, denken, verstehen und kommunizieren können. Die hermeneutische Kontingenz ist insofern unumgänglich, d. h. notwendigerweise im Spiel. Auch eine hegemoniale Interpretationsmacht kann diese Kontingenz niemals restlos auslöschen. Sie gäbe sich andernfalls als Macht der Interpretation auf. (b’) Die hermeneutische Kontingenz kann aber, wenn wir Nietzsche folgen, nicht dadurch bewältigt werden, dass man sich auf eine interpretationsunabhängige Realität etwa beruft. Als Ausweg bleibt in dieser Lage nur ein komparativer Umgang mit verschiedenen Interpretationen – was die Frage aufwirft, woran er sich bemessen ließe. Nietzsche selbst offeriert an dieser Stelle Interpretationen von Interpretationen. Nachdem er erklärt hat, es gebe nur ein perspektivisch interpretierendes Sehen und Erkennen 30, so dass die Welt infolgedessen »noch einmal unendlich« werde 31, deutet er dieses Erkennen wie-

29 30 31

Siehe Anm. 48 zu Kap. XVI. Nietzsche, »Zur Genealogie der Moral«, KSA 5, S. 365. Nietzsche, »Die fröhliche Wissenschaft«, KSA 3, S. 343–652, hier: S. 626.

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derum als eine Art Einverleibung und Umfälschung. 32 Es fabriziere aus dem anonymen Geschehen des Denkens (in dem ›es denkt‹) ein subjektives Tun, dem ein menschliches Subjekt zugrunde zu liegen scheint. 33 Aber nichts von all dem, befindet Nietzsche bekanntlich, ›gibt es‹ wirklich. »Der Mensch begreift nicht, wie anthropomorph er ist« 34, d. h. wie er selbst die sinnfremdesten Vorgänge in eine Art Tun umdeutet, dem ein Täter und ein Ziel zugrunde zu liegen scheint. Deshalb sieht sich Nietzsche dazu genötigt, diese Umdeutung im Zuge einer Gegendeutung zu entkräften. Nach dem gleichen Schema deutet Nietzsches Diagnose zufolge der Mensch als ›Entwicklung‹ oder fortschreitenden Prozess, was nur ein divergentes genealogisches Geschehen oder schlicht ein Verhängnis sei, dem kein teleologisches Prinzip unterlegt werden könne. 35 Die auf diese Weise rhetorisch suggerierte ›Wahrheit‹ der genealogischen Aufklärung Nietzsches, die das anthropomorphe Deuten nur zu demystifizieren scheint, würde freilich dem zuvor behaupteten hermeneutischen Perspektivismus und der Universalität der Interpretation direkt widersprechen, würde Nietzsche sie nicht ins Ironische wenden. 36 Wahrheit im Sinne dessen, was tatsächlich der Fall ist, lässt sich ja kaum mehr feststellen, wenn jegliche Realität und sogar jeglicher Text unter der Interpretation verschwunden ist (KSA 5, S. 56) – ebenso wie das Sein im Schein 37, so dass nur noch eine oberflächliche Zeichen-Welt (KSA 3, S. 593) übrig bleibt, die keinen Bezug auf eine objektive Wirklichkeit oder auf eine interpretationsunabhängige Realität mehr zu gestatten scheint. Außerhalb des Interpretierten ›gibt es‹ demnach nichts mehr, nicht einmal ein Etwas, das als in sich Identisches festzustellen wäre. Gegen alles Identitätsdenken behauptet Nietzsche: »es gibt« nichts Gleiches (ebd., S. 471 f.). Wir machen gleich, was nicht gleich ist. (Dann wäre immerhin das gleich Gemachte gleich. Steht gerade das aber interpretationsunabhängig fest? WürNietzsche, »Jenseits von Gut und Böse«, KSA 5, S. 9–244, hier: S. 167, 207. Ebd., S. 30 f.; »Götzen-Dämmerung«, KSA 6, S. 55–162, hier: S. 77, 91. 34 Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente 1869 bis Ende 1874«, KSA 7, S. 9–838, hier: S. 103. 35 KSA 7, S. 123 ff.; 1, S. 308; 6, S. 96, 169, 181. 36 Umgekehrt kaschiert Nietzsche seine Interpretation, wenn er ›feststellt‹, der Mensch »ist« Krieg (KSA 5, S. 120, 161; vgl. 3, S. 526.) und zwischen Vater und Sohn finde eine »Kriegsgeschichte« statt (»Menschliches, Allzumenschliches I«, KSA 2, S. 9–366, hier: S. 222). 37 KSA 6, S. 75. Was bekanntlich zur »Abschaffung« von Sein und Schein führen soll. 32 33

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de das nicht allem zuwiderlaufen, was Nietzsche zur Unhintergehbarkeit des Interpretierens gesagt hat?) Wir identifizieren, was nicht identisch ist und verleihen so Identität, die sich letztlich auf etwas Fingiertes reduziert. Wir kommen allerdings gar nicht darum herum, Identität zu fingieren, denn wir müssen uns angeblich »die Welt zurechtmachen« (ebd., S. 477), sei es auch nur, um überleben zu können. Wer wirklich leben will, wird sich damit freilich niemals begnügen, sondern alle bloß zu diesem niederen Zweck fingierten Meinungen und Überzeugungen unnachsichtiger Revision aussetzen – umwillen eigenen, d. h. souveränen Über-Lebens, das sich niemals mit einem Glauben an eigene Meinungen zufriedengeben wird, der sich als Überzeugung ausgibt, um womöglich darauf polemogene ›unbedingte Wahrheiten‹ zu stützen. 38 Nietzsches Philosophie der Interpretation kann man in dieser Perspektive als eine Apologie ihrer Macht verstehen, die besagt: (1) Alles ›ist‹ Interpretation. (Auch diese Prädikation.) D. h., wir können nicht nicht interpretieren. Wir sind zur Interpretation verurteilt; wir müssen ständig interpretieren und sind ohnmächtig bzw. nicht in der Lage, nicht zu interpretieren. Es gibt nichts Uninterpretiertes; nicht einmal auf der Ebene der Empfindung. 39 Selbst der Schmerz würde uns demzufolge etwas zu verstehen geben – allerdings nicht ohne unseren eigenen Anteil daran, das Schmerzhafte und das, woran

KSA 2, S. 356 ff.; 13, S. 343. Zweifellos fungiert dieses souveräne Über-Leben als der eigentliche Maßstab, an dem Nietzsche misst, wozu Interpretationen taugen sollen. Er interpretiert also die Funktion von Interpretationen so, dass sie idealiter einem souveränen Über-Leben sollten dienen können; ggf. auch durch die Erfindung von Feinden, wenn das Leben anders nicht zu intensivieren ist (»Also sprach Zarathustra I«, KSA 4, S. 9–102, hier: S. 45, 58). Dagegen lehnt Nietzsche die bloß aus Ressentiments erfolgende Verfeindung scharf ab, verstrickt sie sich doch in eine tiefe Abhängigkeit vom Anderen, der als schließlich Gehasster unentbehrlich wird für die Aufrechterhaltung eigener Identität, die ›in Wahrheit‹ gar nichts mit ihm gemeinsam haben darf. 39 Es konnte nicht ausbleiben, dass man auf dieser Grundlage glaubte feststellen zu müssen, es gebe gar keine uninterpretierten Data der Erfahrung und keine Tatsachen (nach der Devise: ›alles ist Interpretation‹) – und auch dies sei zweifellos ›Interpretation‹. Mangels eines Gegenbegriffs führt sich eine derart überzogene These allerdings sehr leicht ad absurdum. Vgl. G. Vattimo, Jenseits der Interpretation. Die Bedeutung der Hermeneutik für die Philosophie, Frankfurt/M., New York 1997, S. 29 ff. Hermeneutisch adäquater wäre es, die These ›Alles ist Interpretation‹ so zu reformulieren: uns widerfährt nichts, was nicht unser (wie auch immer unzureichendes und überfordertes) Verstehen herausforderte. 38

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es uns leiden lässt, als Schmerzhaftes zum Vorschein zu bringen. 40 (2) Keine Interpretation lässt sich mit einem ganz und gar Uninterpretierten oder Interpretationsunabhängigen vergleichen. Wir können nur Interpretationen mit Interpretationen vergleichen und sie gegeneinander ausspielen. Dabei kommt es auf deren relative Macht an. Eine Interpretation triumphiert über eine andere, ohne dass ihr darum Recht zu geben wäre. (3) Im agonalen Konflikt der Interpretationen geht es nicht um Wahrheit jenseits der Interpretation(en), sondern darum, sich eines möglichst souveränen Über-Lebens zu vergewissern. Das ist jedenfalls Nietzsches Interpretation der Macht, die er als Interpretationsmacht bereits auf der Ebene der Empfindung und der Wahrnehmung am Werke sieht. 41 Als Interpretation der Macht kann sie freilich nicht umhin, auf Spuren anderer Interpretationsmöglichkeiten der Macht zu führen. Nietzsche will ja nicht sagen: das … ist Macht. Er redet weder einem Empirismus noch einem bloßen Realismus das Wort. Vielmehr will er sagen: so (als solche) ist Macht zu verstehen – im Interesse souveränen Lebens, das seinerseits als Leben radikal in Frage steht und infolgedessen ebenfalls anders verstanden werden kann. Die notwendige Kontingenz des Verstehens macht auch vor dem Leben (bzw. vor dem Verstehen von Leben als Leben) nicht halt. Versprechen wir uns wirklich Leben von einer agonalen interpretativen Macht, der es nur darauf ankommt, sich ihre eigene Souveränität zu bestätigen und die von diesem Gedanken geradezu besessen zu sein scheint? Müssen wir infolgedessen gefangen sein zwischen der Ohnmacht angesichts einer Interpretationsmacht, die wir scheinbar nicht nicht ausüben können, einerseits und einer Machtbesessenheit umwillen souveränen Lebens andererseits? Stellt sich hier nicht die Apologie einer Macht, deren Interpretation auf die Spur einer scheinbar nichts auslassenden Interpretationsmacht geführt hatte, als subtile Infragestellung gerade unserer Freiheit heraus, um die es Nietzsche vor allem ging? Verstrickt

An dieser Stelle schreckt R. Rorty dagegen davor zurück, auch den Schmerz ganz und gar der Macht menschlicher Interpretation ausgesetzt zu verstehen; vgl. Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1992, S. 160. 41 Dabei droht der Begriff der Interpretation wiederum seine Konturen gänzlich einzubüßen (vgl. Anm. 14 und 16): die Unterschiede zwischen perzeptivem Auffassenals, Verstehen und interpretativem Auslegen, das (wie auch Nietzsche wusste) zur hermeneutisch-interpretativen Kunst werden kann (KSA 5, S. 255), werden verwischt. Vgl. dazu ausführlich Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, S. 153 f. 40

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uns diese nun in ein Nicht-anders-Können (als interpretieren) und in ein Müssen (im Dienst der Macht), das keinerlei Freiheit vom Interpretieren und von der Macht mehr zu gestatten scheint (vgl. KSA 12, S. 140 [151])? Genau diese Fragen haben Roland Barthes beunruhigt. In seinen Vorlesungen am Collège de France (1977/8) unter dem Titel Das Neutrum scheint er Nietzsche zunächst beizupflichten, der in der Genealogie der Moral erklärt hatte, »alles Überwältigen und HerrWerden [ist] ein Neu-Interpretieren, ein Zurechtmachen« (DN, S. 259). Aber auch das Umgekehrte legte Nietzsche nahe. Demnach realisiert sich jegliche Macht auch interpretativ, als ein hermeneutisches »Zurechtmachen«, in dem es letztlich um das eigene, souveräne Über-Leben geht; und umgekehrt: alles Interpretieren läuft auf ein Überwältigen hinaus. Damit geht die Unterstellung einher, als hermeneutische Praxis sei das interpretative Zurechtmachen nicht etwa dem Anspruch verpflichtet, dem zu Verstehenden gerecht zu werden; vielmehr ergebe sich ihr Sinn aus dem Willen zur Macht. Kann sich nun Roland Barthes als überaus sensibler, semiologischer Analytiker der menschlichen Sprache diesem Verständnis von Interpretationsmacht anschließen? Stimmt er insbesondere der These zu, in allem Interpretieren sei letztlich eine Form der Überwältigung und Beherrschung zu sehen – und nicht etwa der Versuch, zu Verstehendem gerecht zu werden? Und verfolgt Barthes dabei die Absicht einer machtkritischen Entlarvung so genannter Interpretation, oder affirmiert er mit Nietzsche eine Interpretation der Macht, die in ihr in erster Linie eine dem eigenen Über-Leben verpflichtete Macht der Interpretation erkennt? Auf den ersten Blick geht Barthes wesentlich über Nietzsche hinaus. Weit entfernt, nur eine bestimmte hermeneutische Praxis, die wir Interpretation nennen, machtkritisch entlarven zu wollen, stellt er jeglichen Sprachgebrauch und sogar die Sprache selbst unter den Verdacht der Gewaltsamkeit. Das wirft schließlich die Frage auf, ob und wie man sich zu dieser teils der Sprache im Allgemeinen, teils einem bestimmten Sprachgebrauch und speziell der politischen Rede zugeschriebenen Gewaltsamkeit verhalten kann. Kann man einem unauflöslichen, inneren Zusammenhang von Sprache und Gewalt bzw. von Politik und Gewalt überhaupt entkommen – oder haben wir hier allen Grund zur Verachtung der Sprache sowie des Politischen selbst, wenn wir in unserem sprachlich verfassten und politischen Leben überhaupt nicht der Gewalt entsagen können, auch dann nicht, wenn wir es wirklich woll460 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Friedrich Nietzsches Apologie der Macht als einer Interpretationsmacht

ten? Läuft Barthes’ Gewalt-Denken im Hinblick auf Sprache und Politik darauf hinaus, sich defätistisch mit der ihnen angeblich unvermeidlich innewohnenden Gewaltsamkeit zu arrangieren? Im Folgenden werde ich (4.) zuerst auf diese radikale Sprachkritik eingehen und dann (5.) auf spezifisch politische Implikationen zu sprechen kommen, die sich aus ihr ergeben. Anschließend (6.) rückt die Frage in den Vordergrund, ob uns Barthes dazu auffordert, aus dem Politischen auszukehren oder es umzuinterpretieren, sofern es im Verdacht steht, sich tief in Macht und Gewalt zu verstricken. Arbeit an einer solchen Uminterpretation würde zweifellos wiederum einen Aufwand an Macht erfordern: gegen die Vorherrschaft einer ›Konfliktkultur‹ und einer Apologie des Agonalen, die im Politischen nichts als Kampf um Hegemonie erkennen kann und davon alle Vitalität des Politischen abhängig macht. Alternativ hätten wir demnach nur die Aussicht, in eine ›postpolitische‹ Ära einzutreten. So fordern uns die Lobredner des agonalen (wenn nicht antagonistischen) Konflikts denn auch zum interpretativ auszutragenden Machtkampf auf. Ihnen zufolge bewährt sich Politik im agonalen Konflikt, in dem man offen erkennbar, subtil oder geradezu subkutan Interpretationen gegeneinander durchzusetzen versucht. Demnach wäre am Konflikt zwischen Interpretations- und Gegeninterpretationsmächten nicht vorbeizukommen. Auch eine andere Interpretation der Macht, die in ihr nicht bloß eine Interpretationsmacht mit hegemonialer Absicht erkennen wollte, wäre so zum Machtkampf aufgefordert. Wie zur Freiheit, so wären wir so gesehen zur Macht verurteilt, d. h. aber: nicht in ihrem Besitz, sondern von ihr besessen und absolut unfähig, ihr anderes als wiederum nur Macht entgegenzusetzen. 42 Abschließend werde ich zur Diskussion stellen, ob sich mit Barthes Auswege aus dieser Aporetik denken lassen.

Das klingt schon in Heideggers Nietzsche-Deutung an, wo es heißt, dass »die Macht als Übermächtigung machtet« – was man zweifellos auch auf die Subjekte der Macht beziehen kann (M. Heidegger, Nietzsche, Bd. 2, Pfullingen 1961, S. 105). Die Macht verurteilt uns zum Kampf, schreibt Nietzsche; und Heidegger schließt daraus: »um was gekämpft wird, ist im voraus entschieden: es ist die Macht selbst, die keiner Ziele bedarf« und der wir als solcher unterworfen zu sein scheinen (ebd., S. 125).

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XIII · Interpretationsmacht

4.

Ansatzpunkte einer radikalen Sprachkritik

Nicht zuletzt als Analytiker und Historiker der Rhetorik sowie als Dechiffrierer der »Mythen des Alltags« macht sich Barthes über den Zusammenhang von Sprache und (interpretativer) Macht keine Illusionen. Doch hängt er nicht dem Ideal einer »nicht deformierbaren« Sprache an, die der »Allgegenwart der Macht« entgehen könnte und »die alle nur möglichen Vorsichtsmaßnahmen gegen die Interpretation ergriffen« hätte. Das nämlich würde auf ihren Tod als lebendige Sprache hinauslaufen, wie Barthes unter Hinweis auf die Mathematik feststellt. 43 Andererseits ist er keineswegs bereit, sich einer unumschränkten Herrschaft der Interpretation auszuliefern. Im Gegenteil plädiert er für ein Begehren, »alle Ordnungen, Gesetze, Drohungen, Anmaßungen, Terrorismen, Ermahnungen, Ansprüche« und alle »Formen des Bemächtigenwollens [zu] suspendieren« 44, zu denen mit Nietzsche grundsätzlich auch die Interpretation zu rechnen wäre, in welcher Form auch immer. Mehr noch: dieses Begehren verlangt nach »Enthaltung von Gewalt«. 45 Es begehrt danach, gewähren zu lassen, was sonst allzu rasch hermeneutisch ›zurechtgemacht‹ wird. Den ersten Schritt in diese Richtung versteht Barthes als eine Art neutralisierender epoché, die vom Zwang entbinden soll, etwas so oder so zu erfahren, zu deuten oder gelten zu lassen. Letzteres scheint das alleinige Interesse der von den Griechen der Antike favorisierten Kultur des Konflikts, der Eristik und der späteren, von Barthes als geradezu neurotisch eingestuften Formen der Disputation gewesen zu sein (DSA, S. 43). Im Wortgefecht um das, was ›gilt‹, kaschiert jeder möglichst den Widerspruch mit sich selbst (statt aus ihm womöglich zu lernen) und zielt auf »Herabsetzung, Beseitigung, Vernichtung eines Partners« bzw. Gegners, der nach Kräften in offenkundige, nicht mehr zu leugnende Widersprüche getrieben wird. Allerdings bändigt die Eristik wie auch der rhetorisch

R. Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt/M. 1964, S. 117; ders., Die Körnung der Stimme. Interviews 1962–1980, Frankfurt/M. 2002, S. 294 (= KSI). 44 Dies zielt auch auf jegliche rhetorische Praxis, insofern sie als eine kommunikative Technik zu verstehen ist, durch die man »im Besitz des Sprechens« zu bleiben versucht (Das semiologische Abenteuer, Frankfurt/M. 1988, S. 17 [= DSA]). 45 Zugleich wird aber das Begehren selber als Gewalt begriffen; DN, S. 43; vgl. KSI, S. 333. 43

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Ansatzpunkte einer radikalen Sprachkritik

geregelte Streit das Ansinnen einer Liquidierung, die den Anderen mit Worten niederstreckt. 46 Barthes geht freilich weit über eine sprach-macht-kritische Revision bestimmter Praktiken der Rede und der Gegenrede hinaus, indem er die »assertive, behauptende Natur der Sprache« selbst angreift, die uns immerfort dazu zwinge, etwas zu affirmieren oder zu bestreiten (und so die Negation zu bejahen; DN, S. 88 f., 91). 47 Wie kann man dem »Behauptungszwang«, der in der Sprache selbst zu liegen scheint, entgehen? Und wie soll man sich der aus ihm folgenden Marotte entziehen, ständig gegen Behauptungen zu opponieren, um möglichst »Recht behalten« zu können, indem man die von Anderen erhobenen Geltungsansprüche bestreitet (ebd., S. 128)? Barthes würde so nicht fragen, wäre er nicht überzeugt davon, dass »Neutrales« dem Zugriff des Sinns bzw. der Semiokratie 48 oder Semiurgie der assertorischen Rede entzogen ist. 49 Diskursiv dasjenige kontrollieren zu wollen, was sich tatsächlich der Beherrschung des Sinns und der Kontrolle der Rede entzieht, hält Barthes für eine abwegige Vorstellung, ja für »reinen Wahn« (DSA, S. 88). Was auch immer die behauptende, diskursive Rede für sich in Anspruch nehmen mag, ihr entgeht gerade das, was sich jeglichem Zugriff von Macht und Gewalt entzieht. 50 Als »treibende Kraft des Sinns« lässt sie vor allem den Konflikt gelten, der zur Entscheidung zwingt: entVgl. N. Deitelhoff, Überzeugung in der Politik. Grundzüge einer Diskurstheorie internationalen Regierens, Frankfurt/M. 2006, die die skizzierte Einstellung wie üblich allein dem strategischen Sprechen zuschreibt. 47 Dabei macht sich Barthes keine Illusionen über all die rhetorischen Floskeln, die nur suggerieren, man sei der behauptenden Macht der Sprache entkommen (DN, S. 67, 93, 114) – sei es auch durch ein ›Vielleicht‹, das alles in der Schwebe zu lassen scheint, oder durch ein taoistisches Unterlaufen der Logik binärer Oppositionen (Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, S. 122 f.). Hier liegen bemerkenswerte Affinitäten zur Negationskritik F. Julliens vor; vgl. dessen Buch Schattenseiten. Vom Bösen oder Negativen, Zürich, Berlin 2005; Vf., »Ein- und Aussetzen der Arbeit des Negativen. Bestandsaufnahme und Perspektiven phänomenologischer Revision negativistischen Denkens«, in: E. Angehrn, J. Küchenhoff (Hg.), Die Arbeit des Negativen. Negativität als philosophisch-psychoanalytisches Problem, Weilerswist 2014, S. 122– 152. 48 M. de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 26. 49 DN, S. 41; R. Barthes, S/Z, Frankfurt/M. 1987, S. 174. 50 Barthes scheint Macht und Gewalt nicht deutlich zu unterscheiden. Dieser hier nicht ausführlich zu entfaltende Unterschied lässt sich m. E. nicht ohne das Moment der Verletzung denken, die auch in Hannah Arendts einschlägigem Versuch noch keine Rolle spielt, Gewalt weder als bloße Steigerung von Macht noch auch als Macht46

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weder dieses oder jenes hat Anspruch auf Geltung, die zu bejahen oder zu verneinen ist. 51 Ein Drittes, Unentschiedenes, in der Schwebe Bleibendes, bloß eventuell Mögliches, Unentscheidbares, Indifferentes oder Neutrales wird allenfalls vorübergehend geduldet, gibt aber nicht zu denken als Milieu des Lebens, wie es die Literatur vor Augen führt. Von ihr wäre demgegenüber zu lernen, wie wir in diesem Milieu sensibel lebten könnten, indem wir uns all dem Nichtunterschiedenen oder nicht (eindeutig) Unterscheidbaren (adiáphora 52) aussetzen, das sich nur um den Preis eminenter Gewaltsamkeit in das Schema eines Paradigmas, eines rhetorisch-dialektischen Für und Wider (dissoi lógoi 53) oder eines agonalen Konflikts pressen ließe, in dem es nur noch darum ginge, wer ›recht behält‹. 54 So plädiert Barthes für eine Suspendierung des sprachlichen Machtkampfes und für einen radikalen »Verzicht auf das [Recht-] Habenwollen« (DN, S. 44) im gleichen Zug. Erst der Verzicht darauf, Recht haben und behalten zu wollen, sei es für sich allein, sei es im agonalen Konflikt mit Anderen, verspräche jenes Begehren zu befriedigen, das sich hier – in scharfem Gegensatz zu Nietzsche – als das Begehren nach Leben einer vielleicht unumgänglich »verzweifelte[n] Vitalität« entpuppt, wie Barthes mit einem Ausdruck Pier Paolo Pasolinis andeutet (DN, S. 45, 133). ersatz, sondern als Rücksichtslosigkeit gegen mangelnde Zustimmung Anderer zu eigenem Handeln zu denken. 51 Barthes spricht hier vom »unerbittlichen Binarismus des Paradigmas« (DN, S. 33). 52 ἀδιάφορα bzw. »Mitteldinge« sind nach dem Verständnis stoischer Philosophie »nicht unterschiedene« Dinge, die sich in ethischer Perspektive einer Einstufung als gut oder böse entziehen und insofern neutral sind. 53 D. T. J. Bailey, »Excavating DISSOI LOGOI 4«, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 35 (2008), S. 249–264; https://en.wikipedia.org/wiki/Dissoi_logoi 54 Vgl. DN, S. 40, Anm. 34. Barthes vernachlässigt allerdings weitgehend, worauf es in einer diskurstheoretischen Interpretation eines Konflikts von Geltungsansprüchen ankommt: das ›Recht-geben‹ aufgrund eigener Einsicht in das überlegene (vermeintlich auf diese Weise ›zwingende‹) Argument des Anderen. Jedoch bleibt dieses Modell weitgehend an der Austragung diskursiver Widersprüche orientiert und vernachlässigt seinerseits die Erfahrung nicht diskursiv auszutragenden Widerstreits. Ob im Übrigen gewisse Strömungen der Hermeneutik nicht längst Alternativen und Auswege aus dem dialektischen Kampf haben denkbar werden lassen, bleibe hier dahingestellt; vgl. E. Rudolph, »Seit ein Selbstgespräch wir sind. Hermeneutische Kriterien einer Ethik des Individuums im Anschluß an Schleiermacher«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, Heft 1 (1992), S. 88–100, wo ein nicht dialektisch versöhnbarer Widerstreit mit einem »legitimen Protest des Einzelnen« dagegen, im Allgemeinen aufgehen zu sollen, zusammengedacht wird (ebd., S. 98 f.).

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Ansatzpunkte einer radikalen Sprachkritik

Warum ist an dieser Stelle von Verzweifelung die Rede? Sie erklärt sich für Barthes auf den ersten Blick aus dem (vergeblichen) »Haß auf den Tod«. Damit ist nicht nur der finale ›Exitus‹ gemeint, sondern mehr noch ein Tod, der in der Sprache und durch die Sprache zu erleiden ist und an dem ihr Gebrauch selbst schuldig wird, wenn er sich indifferent ihrer »Arroganz« überlässt, die Barthes mit der »Gewalt des Satzes« gewissermaßen kurzschließt. Insofern geht es ihm nicht allein um eine Arroganz in der Sprache, sondern um eine Arroganz der Sprache, gegen die kein rhetorisches Kraut gewachsen zu sein scheint. Kein sprachliches Mittel verspricht, den »behauptenden Charakter« der Sprache abzuschwächen. Dieser erweist sich als »unzerstörbar«. D. h. jeglicher Gebrauch der Sprache würde sich einer »Gewalt des Sagens« (violence de dire) mehr oder weniger schuldig machen. 55 Allein die Literatur, die mit dieser Gewalt zu spielen gestattete, verspräche, der Arroganz der Sprache in gewisser Weise entgegenzuwirken. Wenn die fragliche Arroganz allerdings mit der Sprache als solcher zusammenfallen würde, wäre es um Spielräume wenigstens geringerer Gewalt schlecht bestellt. Die Gewalt würde vielleicht nicht das Universum 56, aber doch die Sprache ganz und gar beherrschen. Allenfalls ließen sich noch Formen guter bzw. ›gerechter Gewalt‹ denken, mittels derer man Andere auf dem Weg der Rührung (animos impellere), der Überzeugung (fidem facere; probatio) oder auch der Beweisführung (písteis) für sich einzunehmen und um Vertrauen zu werben versuchen könnte (DSA, S. 55). Jedoch würde der Gewaltbegriff derart ausgeweitet, dass sich (a) die der Sprache selbst zugeschriebene Gewalt, (b) die Gewalt speziell der behauptenden Rede und (c) die Gewalt eines mit Worten wie mit Waffen gegen Andere sich richtenden (politischen) Sprachgebrauchs kaum mehr voneinander unterscheiden ließen. Wer an Spielräumen wenigstens geringerer Gewalt(samkeit) interessiert ist, müsste nach Ansatzpunkten eines Sprachgebrauchs forschen, der sich nicht indifferent einer angeblichen Arroganz der Sprache ausliefert, sondern effektiv darauf verzichtet, sie zum Mittel des Besitzenwollens zu machen – sei es auch eines Rechtes oder eines Geltungsanspruchs. In diesem Sinne zieht Barthes mit Maurice

55 56

DN, S. 268 (vgl. R. Barthes, Le neutre, Paris 2002, S. 207). Vgl. Barthes’ Bezug auf de Maistre; DN, S. 279.

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Blanchot 57 die Müdigkeit als einen Zustand in Betracht, »der nicht besitzergreifend ist, der absorbiert, ohne in Frage zu stellen« (DN, S. 53). Müdigkeit und Erschöpfung, die sich angesichts der behauptenden Macht der Sprache einstellen, eröffnen freilich nur Rückzugsmöglichkeiten, Arten und Weisen, sich speziell dem Zwang des Aussagens, des Bejahens und Bestreitens zu entziehen. So wenig wie das Schweigen, das Barthes in diesem Zusammenhang ausführlich erörtert, führen sie aber ohne weiteres auf die Spur eines nicht ›arroganten‹ Sprachgebrauchs. Auch das »Recht auf Schweigen«, das Barthes dem antiken Recht auf Rede (isegoría; DN, S. 57) als ein Recht entgegenhält, weder sprechen noch widersprechen zu müssen, führt hier nicht weiter. Selbst der gängigen Beteuerung eigener Offenheit, die sich angeblich ›alles‹ vom Anderen sagen und ›über alles‹ mit sich reden lässt, traut Barthes kaum einen besseren Sprachgebrauch zu. Einer »Moral der Offenheit« misstraut er zutiefst, die implizit jegliches Unausgesprochene (oder auch Unaussprechliche) leugnet und unablässig betont, es dürfe alles gesagt werden, es müsse alles gesagt werden und es werde tatsächlich alles gesagt, während sie sich zugleich trefflich dazu eignet, »kleine Aggressionen« zu lancieren (DN, S. 60). Folgt nicht regelmäßig auf die Phrase ›offen gestanden …‹ eine Taktlosigkeit oder eine Dummheit? Gegenwärtig sei vor allem die Politik der fragwürdige »Wurzelsproß dieser Moral«, befindet Barthes, der allerdings seinerseits erklärt, nach einer »Moral der Sprache« zu forschen. 58 Wenn sich diese Moral nicht in »Spielräumen des Neutralen«, in speziellen Formen des Schweigens (DN, S. 65), in einer Kunst nicht anmaßenden In-der-Welt-seins (DN, S. 149) oder in einer sensiblen Passion der Differenz 59 all dessen erschöpfen soll, was in Affirmationen und

Dem wir ebenfalls Meditationen über das Neutrale verdanken: M. Blanchot, Das Neutrale. Politische Schriften und Fragmente, Berlin, Zürich 2010, bes. S. 174 ff. Hier tritt das Neutrale allerdings nicht nur sprachlich auf, sondern unterläuft und durchdringt alles, auch das Ethische im Sinne von Levinas, das Politische und die Unterscheidbarkeit von Ethik und Politik. 58 Dabei zieht er sogar eine »gute oder zumindest akzeptable« bzw. »bescheidene« »Art des Besitzes« in Betracht, der eine weniger arrogante Art des Sprachgebrauchs ermöglichen könnte. Gemeint ist ein Besitz, »der Zurückgezogenheit denotiert, Zurückhaltung«, aber auch Anonymität, Unauffälligkeit und Beschränkung etc. (DN, S. 115, 241). 59 Zum páthos, zur Leidenschaft der Differenz und zur Sensibilität vgl. DN, S. 133, 139 f. 57

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Politische Implikationen radikaler Sprachkritik

Negationen nicht aufgeht, fragt es sich aber, worin ihre politische Bedeutung liegen könnte.

5.

Politische Implikationen radikaler Sprachkritik

Barthes hat wie kein anderer Sprache, Moral und Politik zusammengeführt, als er den scheinbar unausweichlich faschistischen Charakter der Sprache denunzierte – wobei er freilich ebenfalls nahelegte, dass nur ein bestimmter, nämlich repetitiver, beharrlich vorschreibender und anordnender Sprachgebrauch diese Kritik verdiene (DN, S. 162). Während diese Denunziation der Sprache ihre restlose Politisierung bedeutet, wendet sich Barthes selbst an anderer Stelle gerade gegen eine alles erfassende Politisierung und zieht den »Traum einer Minimalvergesellschaftung« in Betracht, die sich allein daran orientieren würde, was für das Leben unabdingbar und nützlich ist (DN, S. 328). Demgegenüber glaubt er eine Politisierung beobachten zu können, die »alle ökonomischen, kulturellen, ethischen Phänomene« in zunehmend radikalisierten Verhaltensweisen erfasst. Als herausragendes Beispiel dient ihm wiederum die »Arroganz der Sprachen«, aber auch die Gewalt politischen Handelns. Dabei beklagt er, »die politische Wissenschaft kümmert sich (noch) nicht um die Probleme der Sprache (Verhältnis von Diskurs und Macht)«. 60 Sie gehe so weit, »sich ohne Sprache« zu denken. »Unter allen ›Disziplinen‹ verleugnet, verdrängt gerade sie das Objekt Sprache am gründlichsten« (DN, S. 159). Ob dieser Vorwurf seinerzeit gerechtfertigt war bzw. ob er noch heute gerechtfertigt erscheint, bleibe ebenso dahingestellt wie die Frage, ob ausgerechnet die Einstufung der Sprache als Objekt ihrer angeblichen Verleugnung oder Verdrängung entgegenzuwirken verspricht. Was Barthes vorschwebt, ist eine Aufklärung darüber, wie bestimmte Formen sprachlicher Macht dazu führen können, dass sich bspw. ›doxische‹ Ideosphären ausbilden, die ein partikulares Sprachsystem als geradezu selbstverständlich erscheinen lassen und gleich-

An dieser Stelle unterscheidet Barthes mehrere Formen sprachlich vermittelter Gewalt (DN, S. 160). Inzwischen kann keine Rede mehr davon sein, sie werde nicht eigens beachtet; vgl. Vf., »What does (not) count as violence. On the state of recent debates about the inner connection between language and violence«, in: Human Studies. A Journal for Philosophy and the Social Sciences 36, Nr. 1 (2013). 60

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zeitig marginalisieren, was von ihm abweicht. Innerhalb solcher Sphären kann sich Macht auf eine Reihe »nützlicher Vorurteile« stützen, die sie unbefragt zirkulieren lässt und durch die sie sich ihrerseits aufrechterhält. »Keine Macht ist stark genug, wenn ihr nicht eine starke Sprache, ein Sprachsystem zu Gebote steht, das sie gewissermaßen als Relais benutzen kann«, erklärt Barthes mit Blick auf Joseph M. de Maistre, »den Parteigänger der starken Macht« (DN, S. 160). So lenkt Barthes die Aufmerksamkeit auf eine sprachliche Dynamik der Macht, die als solche gerade in dem Maße effektiv ist, wie sie kaschieren kann, was sie bewirkt: nämlich eine bis zur Selbstverständlichkeit normalisierte Sprache in ihrem Sinne spielen zu lassen. Was die fragliche Interpretation der Macht angeht, gelangen wir allerdings nicht wesentlich darüber hinaus, dass ihr wie einem Subjekt der entsprechende Sprachgebrauch als Mittel ihrer Durchsetzung zugeschrieben wird. Dabei wird zugleich unterstellt, Macht und Sprache verhielten sich zueinander äußerlich – wohingegen die Denunziation der Sprache als »faschistisch« sie zuvor rückhaltlos der Gewalt auszuliefern schien. Anders verhält es sich indessen, wo Barthes nach Spielräumen einer Rede forscht, in der Macht bzw. Gewalt und Sprache weder einfach zusammenfallen noch auch in einem lediglich instrumentellen Verhältnis stehen. Wiederum wendet er sich zunächst gegen eine Apologie des Agonalen 61, die er zu einem Gemeinplatz verkommen sieht (DN, S. 213). »Alle behaupten den Konflikt (das Konflikthafte) als die eigentliche Natur der Dinge.« Unter diesem Gesichtspunkt wären »die Traditionslinien des Abendlandes neu zu ziehen: Untersuchung der griechischen maché (Sophisten, Sokrates, Nietzschesche Theorie des Wortgefechts). Maché: logische und psychologische Seite: psychisches Triumphgefühl und logische Annahme: den anderen in Widerspruch zu sich selbst setzen = ihn zum Schweigen bringen: grenzenloser Jubel → tödliche narzißtische Kränkung → Vernichtung« (DN, S. 213). Barthes gibt zu bedenken, wie weitgehend Karl Marx, Sigmund Freud, Charles Darwin und viele andere den Kampf nicht mehr als Übel, sondern als Motor oder Funktionsweise des Sozialen,

Man denke in diesem Zusammenhang auch an J.-F. Lyotard, der die Sprache in seinem Buch über den Widerstreit als Kampf, ja sogar als Bürgerkrieg (der Sätze) beschrieben hat. In Die Körnung der Stimme äußert Barthes sich im Übrigen selbst so: »jeder Sinn ist kriegerisch; das Signifikat ist der Nerv des Krieges, der Krieg ist die eigentliche Struktur des Sinns« (KSI, S. 139).

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Politische Implikationen radikaler Sprachkritik

des Politischen, des Psychischen, der Geschichte etc. betrachtet und sogar einen ›Wert‹ aus ihm gemacht haben. Und es hat den Anschein, als erkenne er in all diesen Theorien letztlich dieselbe Arroganz wieder, die schon in der sophistischen Rhetorik des »niederwerfenden Redens« angelegt gewesen sei. 62 Unter Arroganz will Barthes »all die (Sprech-)Akte« verstanden wissen, »die den Diskurs der Einschüchterung, Unterwerfung, Beherrschung, der hochmütigen Behauptung ausmachen: die sich einer Autorität, der Garantie einer dogmatischen Wahrheit, eines Anspruchs unterstellen, der das Begehren des anderen nicht denkt und für es unempfänglich ist«. Und er fragt sich, »unter welchen kritischen Bedingungen ein Diskurs nicht arrogant sein kann« (DN, S. 253; Hervorhbg. B. L.). In der Sitzung vom 20. Mai 1978 bilanziert er en passant ein ganzes Gespinst von Begriffen, Theoremen und Ideologemen, die ihm allesamt der Arroganz verdächtig sind und die das Abendland geradezu als »auf Arroganz spezialisiert« bzw. programmiert erscheinen lassen. Darunter die Wertschätzung des Willens, die Auffassung der historischen Erzählung als Geschichte von Krieg und Politik, als Diachronie von Kämpfen, Herrschaften, Anmaßungen. Gänzlich zu fehlen scheinen Werte der »Schüchternheit«, der »Zurückhaltung« (DN, S. 256) – und der Neutralität. Wer nicht Partei ergreife, lehre schon Solon, sei womöglich schlimmer als der Feind. Und Perikles insistierte: wer nicht für die gemeinsame Sache sich engagiere, sei nicht bloß ein »stiller«, sondern ein nutzloser, ja schlechter Bürger, der seine Zugehörigkeit aufs Spiel setzt. Daran schließt Barthes seine Frage an: »Sollte die Pflicht, sich [in diesem Sinne] zu politisieren, am Ende ein griechisches Erbe sein?« (DN, S. 301.) 63 Die gegenwärtige Apologetik des agonalen Konflikts scheint diese Einschätzung ohne weiteres zu bestätigen. Steht und fällt die liberale Demokratie als politische Lebensform nicht damit, dass man in einem vitalen, intensiven Konflikt gegeneinander Partei ergreift Zur Frage, inwieweit die Apologie des Konflikts gerade durch dessen Normalisierung überholt sein könnte, vgl. J.-M. Guéhenno, Das Ende der Demokratie, München, Zürich 1996, S. 103 f., 111 ff. 63 Ob es sich wirklich um eine Pflicht handelt, bleibe dahingestellt. Jedenfalls liefert die Geschichte der europäischen Moderne reichlich Belegmaterial dafür, wie man zu opportunen Zwecken polarisierte Zugehörigkeiten herbeigeredet hat, um wie zwischen den einst angeblich verfeindeten »Vaterländern« Deutschland und Frankreich eine intern homogenisierte und nationalisierte Loyalität gegen eine andere setzen zu können. Siehe Kap. XXIX, 1. 62

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und um Hegemonie ringt? 64 Lehrt sie uns nicht im Wesentlichen das Gleiche wie die antike Rhetorik bzw. eine polemische Deutung der Sophistik? 65 So sehr sie sich darum sorgt, dass aus politischen Gegnern nicht Feinde werden sollten, die schließlich ihre geteilte Lebensform zu ruinieren drohen (wie es schon die Griechen der Antike im Übergang von éris und neîkos zu stásis und pólemos haben kommen sehen), so wenig sieht sie doch eine Alternative dazu, dass man gegeneinander politisch antritt, um gegen Andere Recht zu behalten und sich durchzusetzen, sei es auch in anhaltendem, kaum mehr erträglichem Streit.

6.

Revision des Politischen?

Roland Barthes, der den sprachlichen Machtkampf ebenfalls für eine Manifestation kollektiver Arroganz zu halten scheint, empfiehlt uns dagegen nicht, aus dem Politischen radikal auszuscheren. Für ihn ist das Politische »eine Grundordnung der Geschichte« bzw. eine »Dimension des Wirklichen selbst« (KSI, S. 239). Die Politik dagegen lasse es in einer ständigen Wiederholung des Gleichen verkümmern, wo man im ständigen Machtkampf mit den immer gleichen Mitteln ganz und gar aus dem Augen zu verlieren drohe, das Begehren des Anderen zu beachten, es als solches auch zum Ausdruck kommen zu lassen und ihm neuartige Spielräume der Rede einzuräumen. In dieser macht-kritischen Perspektive sondiert Barthes eine Vielzahl von Formen sprachlichen Verhaltens zum Anderen, die mehr oder weniger querstehen zu jenem griechischen Erbe einer Politisierung, die scheinbar ständig dazu zwingt, nicht neutral zu bleiben, sondern Partei zu ergreifen und mit Worten offensiv gegen Andere vorzugehen, um die eigenen Ansprüche möglichst über sie triumphieren zu lassen. Zu diesen Formen gehören: das Aussetzen der eigenen Rede, das Innehalten, das Zögern und Abwarten – und sei es nur deshalb, weil man den Anderen zu Wort kommen lassen will oder weil einem der Andere wirklich zu denken gibt; Zurückhaltung in Fragen, die den

Die folgenden Überlegungen sollen keineswegs der Zurückweisung, sondern der Vertiefung jener Ideen dienen, die man als »radikal-demokratische« bezeichnet. 65 Dabei müssen doch die Rhetorik und die Sophistik längst als gegen den entsprechenden Pauschalverdacht rehabilitiert gelten; vgl. B. H. F. Taureck, Die Sophisten. Eine Einführung, Wiesbaden o. J. 64

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Revision des Politischen?

Anderen bedrängen würden und womöglich Schande über den bringen könnten, der ›ich weiß nicht‹ oder ›vielleicht‹ zu sagen wagt und, wie die berühmte Figur des Bartleby bei Herman Melville, sowohl vor einer Antwort als auch vor der Nicht-Antwort ausweicht (DN, S. 185, 332 f., 335); Gewähren von freien Spielräumen, die Andere auf ihre Antworten nicht festlegen (DN, S. 299); Zulassen von sprachlicher Atopie in der Erfahrung der Abgeschiedenheit, der Muße, des Rückzugs (DN, S. 231, 234, 246). Diese Liste ließe sich vielfältig fortsetzen. Speziell schweben Barthes Formen des Sichzurücknehmens und der Selbsteinschränkung vor, die an die Grenze menschlicher Macht überhaupt führen, insofern sie diejenigen, die sie praktizieren, auf die eine oder andere Art und Weise in eine Position des nachträglichen Affiziertwerdens von einem Sinn-Geschehen versetzen, das sich nicht in Besitz nehmen lässt. Dieses Geschehen eröffnet, so hofft Barthes, unvermutete Spielräume der Rede; und zwar wesentlich dadurch, dass es zunächst die eigene Rede suspendiert. Wer die eigene Rede suspendiert und zuerst zuhört oder sich in die Lage versetzt sieht, zuhören zu müssen, muss sich ein fremdes Sagen vor-geben lassen in einem responsiven Hören, das sich jeglicher Festlegung des Anderen enthält. Aber erfolgt eine solche Suspendierung wiederum nur aus eigener Machtvollkommenheit heraus? Kommt sie nicht einer vorgegebenen Aufforderung gegenüber, zu hören und zuzuhören, ihrerseits schon zu spät? Keineswegs will Barthes mit seinen Überlegungen ohne Umschweife ins Anti- oder Unpolitische ausscheren. Vielmehr legt er eine Vorstellung von ›Zuhören‹ dar, die er für politisierbar gehalten hat, überzeugt davon, Politik bestehe »nicht zwangsläufig im Reden«, ihr mangele es am meisten »an einer Praxis des politischen Zuhörens« (KSI, S. 293). Das Zuhören unterscheidet Barthes als ein Warten darauf, wer spricht, klar vom hörenden Achten auf etwas (Indizien) und vom Entziffern (der möglichen Bedeutung des Gesagten). 66 Das nicht nur in diesem Sinne hörende Zuhören soll sich durch eine eigentümliche Öffnung zum Selbst des Anderen hin auszeichnen, wo es sich von diesem ›vollständig in Anspruch genommen‹ – man könnte auch sagen: entmächtigt – weiß und vor allem Gehörten realisiert, worum es im Zuhören, an das der Andere appelliert, zuallererst geht: darum nämlich, zu bezeugen, dass der Andere existiert. R. Barthes, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt/M. 1990, S. 249 ff. (= ESS).

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Nach nichts anderem verlange der Andere mehr, behauptet Barthes. Jemanden ansprechen heiße vor allem: danach begehren, in den Augen des Anderen zu existieren und die eigene Existenz bezeugt zu finden. Das wirkliche Zuhören bewahrheitet demnach genau das (wenn auch letztlich weit mehr als nur das, wenn es realisiert, worauf der Andere, abgesehen von der Würdigung seiner nackten Existenz, Anspruch erhebt). Es antwortet zunächst vor allem auf das Begehren des Anderen, das Barthes in die Worte fasst: »berühre mich, wisse, daß ich existiere« (ESS, S. 255). 67 Indem das Zuhören sich – vor aller Interpretation – als für diesen Anspruch aufgeschlossen erweist, bezeugt es den elementarsten Anspruch des Anderen. Als auf den Anspruch des Anderen antwortendes Zuhören beginnt es niemals allein aus eigener Macht, sondern muss hinnehmen, das Verstehen des Anderen, seines Anspruchs und dessen, als wer er bzw. sie gehört zu werden begehrt, nur nachträglich leisten zu können. 68 Das Gleiche gilt für die Interpretationsmacht, die An dieser Stelle erscheinen Barthes’ Überlegungen allerdings eigentümlich unpolitisch. Zielt denn das Begehren des Anderen nur darauf, überhaupt als existent wahrgenommen zu werden, oder nicht auch darauf, unter bestimmten (annehmbaren) Bedingungen leben zu wollen? Damit sind Fragen konkreter Ansprüche und reklamierter Anrechte tangiert, die Barthes gar nicht aufwirft, die aber für eine politische Kultur der Beachtung des Begehrens Anderer von entscheidender Bedeutung sind, das sich auch maßlos und in überaus selbstgerechter Weise äußern kann, wie wir wissen. Ähnliche Einwände zieht die hierzulande nun schon einige Jahre anhaltende, vor allem von Levinas inspirierte Diskussion um den Anspruch des Anderen auf sich. In diesem Punkt kommen Barthes und Levinas einander überraschend nahe: Sie suchen nach einem Begehren oder Anspruch des Anderen, der letztlich jeglicher Macht und Interpretation entzogen sein soll. Bei Levinas steht jedoch die historische Erfahrung einer Gewalt im Vordergrund, die sogar so weit schien gehen zu können, angebliche Feinde nicht nur hors-la-loi zu setzen (wie C. Schmitt zu sagen liebte) und zu entrechten, sondern sie in etwas anderes, in ethisch indifferente Objekte nämlich, zu verwandeln, nicht zuletzt kraft einer vermeintlich souveränen ›Definitionsmacht‹, die sich anmaßte zu bestimmen, wer Jude, Deutscher, Arier … ist. Nichts hat Levinas energischer angefochten als die Gewalt dieser Macht. Ihr glaubte er die Machtlosigkeit des Gesichts des Anderen entgegensetzen zu können. Vgl. M. Blanchot, Das Unzerstörbare, München, Wien 1991, S. 194 ff. 68 Ob das Zuhören die Selbstheit (oder das Wer-Sein) des Anderen dann tatsächlich erfassen kann, bleibe dahingestellt. Weder Levinas noch auch Blanchot, denen Barthes hier vielfach nahekommt, waren davon überzeugt. Sie sprachen stattdessen von einer Erfahrung des Unmöglichen, die »der Macht entgeht« (wie Blanchot meinte; vgl. Das Unzerstörbare, S. 116, sowie die entsprechenden Beiträge in I. U. Dalferth, P. Stoellger, A. Hunziker [Hg.], Unmöglichkeiten. Zur Phänomenologie und Hermeneutik eines modalen Grenzbegriffs, Tübingen 2009). 67

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Revision des Politischen?

in diesem Verstehen liegen mag. Sie genügt sich niemals selbst, sondern rückt in eine Position der Nachträglichkeit gegenüber dem Anspruch des Anderen, der danach begehrt, im Modus des Zuhörens bezeugt zu werden. 69 Insofern ist sie ohne eine vorgängige Entmächtigung nicht zu denken, die selbst Barthes noch unterschätzt, wo er nahelegt, das Zuhören geschehe womöglich aus einer Haltung der Generosität heraus, als eine Form der Selbstbeschränkung, die aus freien Stücken dem Anderen »Gehör schenkt«, wie man bezeichnenderweise sagt. Man mag einwenden, was daran politisch sein soll bzw. wie eine derart konzipierte Praxis des Zuhörens als politische denkbar wäre, zumal sich eine Apologie des Sichzurücknehmens und der Selbsteinschränkung sehr leicht ideologiekritische Einwände zuzieht. Wenn solche Formen der Suspendierung oder der Mäßigung eigener Macht aus einer Haltung der Generosität heraus praktiziert werden, zu der man sich großzügigerweise herablässt, spricht wenig dafür, so gerate man an Grenzen eigener Macht. Im Gegenteil: in einer politischen Kultur des Zuhörens, wie sie offenbar Barthes vorschwebte, könnten derartige Gesten der Generosität ohne weiteres als symbolisches Kapital eingestrichen und zur Festigung eigener Macht eingesetzt werden, obwohl sie zunächst den gegenteiligen Anschein erwecken mögen. Und nachdem man sich dazu herabgelassen hat, Anderen (die vielleicht ›nichts zu sagen haben‹) großzügigerweise Gehör zu schenken, könnte man sich darauf berufen, weit mehr getan zu haben, als man ihnen schuldig ist, um dann zur Tagesordnung der üblichen Machtpolitik zurückzukehren. Denn es gibt zwar ein Recht auf freie Meinungsäußerung, nicht aber darauf, ›wirklich‹ Gehör zu finden, und schon gar nicht darauf, im Zuhören Anderer Zustimmung zu eigenen Ansprüchen zu finden. Ob und wie gegebenenfalls der Appell an Andere in Ansprüche und Anrechte eingehen kann, bleibt allemal ein offenes politisches Problem. Ein Vergleich mit der Politischen Theorie Jacques Rancières zeigt freilich, wie nahe das Zuhören im Sinne Roland Barthes’ mit dem elementarsten Akt der Politisierung verwandt ist, den Rancière in einem gewissermaßen irregulären Hören erkennt. Am Beispiel des Ich lasse an dieser Stelle wichtige, psychoanalytisch inspirierte Überlegungen von Barthes zur inter-subjektiven Resonanz beiseite, die sich auch ohne unser bewusstes Zutun zwischen uns abspielt und mehr (oder auch weniger) hervorrufen kann, als wir je zu sagen vermögen (ESS, S. 259).

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Menenius konnte er deutlich machen, wie ein von Unbefugten (die wie Plebejer von Rechts wegen gar nichts zu sagen haben) artikuliertes »Unrecht« dadurch zum Politikum wird, dass es überraschenderweise von einem Anderen, der politisch ›zählt‹, ernst genommen und so als ein politischer Anspruch bewahrheitet wird – also genau dadurch, dass jemand wirklich zuhört und nicht wie gewohnt übergeht oder überhört, was ihm als gewöhnlicher unpolitischer Lärm derer vorkommen mag, die ›nichts zu sagen haben‹, weil sie als politische Subjekte eigentlich gar nicht existieren. Wenn Rancières Analyse zutrifft 70, haben weder die Anteilslosen, die nicht ›zählen‹, noch auch diejenigen, die ›das Sagen haben‹, allein aus eigener Kraft die Macht, darüber zu befinden, wer politisch zählt. Vielmehr kann sich nur im Prozess eines responsiven Zuhörens, das auf ein artikuliertes Begehren Anderer antwortet, nachträglich, durch Andere, bewahrheiten, was und wer politisch ernst zu nehmen ist. Von einer einseitig den Anteilslosen oder den Anteilhabenden zustehenden Interpretationsmacht kann hier gar keine Rede sein. Streng genommen ›hat‹ niemand Macht über die Situation, in der originär ein neuartiger Anspruch Anteilsloser darauf zur Geltung kommt, politisch ernst genommen zu werden. Es handelt sich tatsächlich um ein zwischen-menschliches (keineswegs aber nur dyadisches) Geschehen 71, das eine vorherige Machtverteilung zuerst destabilisiert und dann neu arrangiert, so dass wenigstens ein Streit und ein Konflikt der Interpretationen entbrennen kann zwischen denen, die nichts (oder fast nichts) zu sagen hatten, einerseits und Anderen, die hinnehmen, nicht mehr allein das Sagen zu haben 72, andererseits. Barthes und Rancière geht es in dieser Sicht gleichermaßen darum, wie eine konfliktträchtige Lage, in der auch heterogene Interpretationen des Strittigen aufeinandertreffen können, überhaupt zustande kommt. Während die Lobredner einer agonalen Konfliktkultur fast ausnahmslos den verbalen Schlagabtausch oder den Diskurs als Paradigma der Auseinandersetzung vor Augen haben, lenken Barthes und Rancière unsere Aufmerksamkeit weit mehr auf die Frage, wie ein Konflikt, in dem man sich produktiv streiten kann, überhaupt entAuf die mehrfach zurückzukommen sein wird; v. a. in Kap. XX. Wie es schon von Hannah Arendt betont wurde, die in Vita activa von einem interesse sprach. 72 Zu diesem Ausdruck vgl. P. Stoellger, M. Kumlehn (Hg.), Wortmacht / Machtwort. Deutungsmachtkonflikte in und um Religion. Interpretation Interdisziplinär, Bd. 16, Würzburg 2017. 70 71

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steht – angefangen bei der niemals (auch durch ein formelles Recht nicht) zu garantierenden Möglichkeit, Andere auf Erwiderung hin überhaupt anzusprechen, um ein Unrecht oder eine Ungerechtigkeit zu reklamieren (ohne dass Andere dem beipflichten müssen 73). Rancière will allerdings nicht als Normativist verstanden werden. Er verficht keinen normativen Anspruch eines jeden, gehört zu werden, und schließt sich nicht der diskurspragmatischen Rhetorik der universalen Einbeziehung des Anderen an. Vielmehr beobachtet er, wie jedes Mal (und unvermeidlich), wenn einige Gehör finden, Andere zugleich nicht Beachtung finden. Deshalb, meint er, komme es immer zu einer »falschen Zählung« derer, die ›zählen‹. Auch bei Barthes finden sich, so weit ich sehe, keine normativen Überlegungen zu einer Politik des Zuhörens (die man in der Sprache ›politischer Korrektheit‹ sehr leicht rhetorisch missbrauchen könnte, um Wasser auf die Mühlen eigener Machtpolitik zu leiten). Gleichwohl gibt er zu bedenken, ob es sich eine offene politische Lebensform, die sich nicht nur wie in der Antike oder in gewissen Spielarten des Kommunitarismus zwischen von vornherein einander Zugehörigen zu bewähren hat, leisten kann, sich nicht sensibel für die Belange derer aufgeschlossen zu erweisen, die selbst keinerlei Artikulationsmöglichkeit haben und sich durch Repräsentanten regelmäßig verraten fühlen. 74 Auch das Zuhören im (näher zu präzisierenden) politischen Sinne verdankt sich einer Interpretation. Das wird überdeutlich, wo Roland Barthes das Zuhören als »das evangelische Wort par excellen-

Speziell Rancières politische Theorie erweist sich in diesem Punkt als fragwürdig, wo immer sie den Eindruck erweckt, gewissermaßen auf der Seite der Anteilslosen zu stehen. Abgesehen davon, dass die Rede von Anteilslosen auf irreführende Art und Weise einen schroffen (Klassen-)Gegensatz zu jenen heraufbeschwört, die ihnen einen (oder sogar jeglichen) Anteil verwehren, suggeriert sie eine generelle politische Sympathie für die Anteilslosen. Dabei können diese doch auch rücksichtslose Ansprüche geltend machen, die jede politische Lebensform zu überfordern und zu ruinieren drohen. Starke Argumente hat Rancière aber dafür, dass keine politische Lebensform versprechen kann, alle gleichermaßen einzubeziehen, und dass es immer einige oder viele geben wird, die wenn nicht gar keinen, so doch viel zu geringen Anteil haben. Darin liegt ein niemals auszuräumendes Konfliktpotenzial, von dem das Politische zugleich lebt und überfordert zu werden droht. 74 Unter den in diesem Sinne Anteilslosen finden sich freilich viele, denen an der politischen Lebensform, der sie zugehören, nicht das Geringste liegt. Die offenkundigen Probleme der Politisierung eines nicht näher bestimmten Anspruchs oder Anrechts des Anderen sollten durch eine fragwürdige emphatische Rede nicht überdeckt werden. 73

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ce« bezeichnet (ESS, S. 253). Weder einer bloßen Akustik noch auch einer akroamatischen Hermeneutik ist eindeutig zu entnehmen, worin der politische Sinn dieses Wortes liegen könnte. So können wir uns nur auf verschiedene Vorschläge stützen, die einer politischen Kultur des Zuhörens zu dienen vermögen, welche es als eine Praxis der gastlichen Öffnung einer politischen Lebensform auf Ansprüche fördern und pflegen würde, die sie nur allzu leicht überhört, so dass sie dadurch Gefahr läuft, sich selbst zu zerstören. Den im Über- und Weghören, aber auch in einer politischen Aneignung des Zuhörens liegenden Gefahren für ihre eigene Stabilität wird sie nur begegnen können, wenn sie lernt, ihre Macht, die wesentlich eine Macht der Interpretation ist, auszusetzen, um sich für Ansprüche Anderer zu öffnen, deren Artikulation nicht in ihrer Macht liegt. Auch das ist freilich ›nur‹ eine Interpretation, die zur Revision des Politischen herausfordert, von dem immer wieder behauptet wird, es sei seit Machiavelli als Macht-Politisches längst zu sich selbst gekommen. Tatsächlich wird auch eine Phänomenologie des Zuhörens, ob ›evangelisch‹ und ›inspiriert‹ oder nicht, im Feld des Politischen lediglich als eine anfechtbare, strittige Interpretation des Begehrens des Anderen gelten können. Sie kann nicht ohne jegliche hermeneutische ›Zutat‹ verständlich machen, was das Zuhören im Gegensatz zu einem indifferenten Hören eigentlich zum Zuhören macht: der responsive Rückbezug auf das Begehren des Anderen nämlich. Roland Barthes stützt sich an dieser Stelle auf eine Rhetorik der Bezeugung dieses Begehrens, das er offenbar nicht für beweisbar oder in letzter Instanz sicher fundiert hält. Wir ›wissen‹ von diesem Begehren nur durch die Bezeugung, also durch die nachträglichen Antworten, zu denen es uns herausfordert. Unter diesen Antworten finden sich aber auch solche, die keine Spur mehr davon verraten, dem Anderen als Anderem irgendwie verpflichtet zu sein. So entdeckt Nietzsche auch im Verhältnis zum Anderen scheinbar nur Spuren einer Macht, in der sich die Souveränität des eigenen Lebens manifestieren soll. Im Konflikt dieser Interpretationen verstricken wir uns unvermeidlich in Streit um die Auslegung dieses Verhältnisses und um dessen Sinn, dem Barthes eine ganz andere, Nietzsche entgegengesetzte Wendung gibt: Sowohl in der Sprache im Allgemeinen als auch im Politischen im Besonderen sieht er diesen Sinn darin, dem Begehren des Anderen Antwort zu geben. Demnach müssten sich die Sprache und das Politische ihrem Sinn nach primär in einer Praxis des Zuhörens treffen, die jegliche Macht nur in einer Position der Nachträglichkeit gegen476 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

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über dem vorgängigen Anspruch des Anderen zum Zuge kommen lassen kann. Darin liegt ihre offenbar unüberwindliche Grenze: stets kommt sie zu spät. Dessen ungeachtet kann sie in ihrer Verspätung den Anspruch des Anderen verstärken, verfälschen, umdeuten oder zum Schweigen bringen und erfährt insofern keineswegs eine unüberwindbare Entmächtigung durch den Anspruch des Anderen. 75 Sie ist nicht ein für alle Mal dazu verurteilt, ihm unter allen Umständen, unbedingt und uneingeschränkt gerecht zu werden. Im Gegenteil: die schiere Unvermeidlichkeit, nachträglich auf den Anspruch des Anderen zu antworten, entbindet in keiner Weise davon, zu entscheiden, ob und inwieweit er politisch maßgeblich sein soll – in einer Pluralität von Ansprüchen, denen niemand umfassend gerecht zu werden versprechen kann, wie Rancière mit Recht betont. Dem entsprechend muss konkretisiert und entschieden werden, wer unter welchen Umständen in einer Praxis des Zuhörens politisch besondere Beachtung verdient. Keinesfalls kann man eine ›gastliche‹ Aufgeschlossenheit gegenüber dem Begehren des Anderen ohne weiteres zur Maßgabe einer politischen Lebensform machen, wie es etwa Jacques Derrida scheinbar tut, wo er von einem unbedingten »Gesetz« »absoluter Gastfreundschaft« spricht. 76 In Anbetracht notorischer Fehlinterpretationen einer dezidiert nicht-normativen Phänomenologie, die im Vorfeld der berühmt-berüchtigten Geltungsansprüche danach forscht, was und wer überhaupt danach verlangt, ›zur Sprache zu kommen‹, Gehör zu finden und zu ›zählen‹ (was UnterscheidunVgl. in diesem Sinne die Hinweise auf Nietzsches Bedenken gegen ein neues (ggf. auch selbst verordnetes, geradezu masochistisches) Sklaventum in der Unterwerfung unter ›Unbedingtes‹ bei W. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie. Kontextuelle Interpretation des V. Buchs der Fröhlichen Wissenschaft, Berlin 2012, S. 562 f. 76 J. Derrida, Von der Gastfreundschaft, Wien 2001, S. 27. Wie im Fall der Gastlichkeit, die als primär unvermeidliches Aufgeschlossensein gegenüber dem Anspruch des Anderen niemals ohne eine sekundäre Beschränkung auskommen kann, durch die sie überhaupt nur konkret praktizierbar ist, so ist auch im Fall einer politischen Kultur des Zuhörens eine primäre Ansprechbarkeit durch den Anderen von einer sekundären Beschränkung seines Anspruchs im Sinne eines (begrenzten) Anrechts zu unterscheiden. Wird diese Unterscheidung vernachlässigt, so muss die Apologie des Begehrens des Anderen, wie sie sich bei Barthes findet, in eine im Grunde apolitische oder sogar anti-politische Überforderung der Gestaltungsspielräume des Politischen umschlagen. Deshalb spreche ich nicht von absoluter Gastfreundschaft, sondern allenfalls von unbedingter Gastlichkeit (als einer Herausforderung, der man niemals durch die Befolgung eines Gesetzes gerecht werden kann). 75

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gen, Gewichtungen, Kriterien usw. doch keineswegs erübrigt), muss man die Unverfügbarkeit dieses Verlangens deutlich von der normativen Frage unterscheiden, wie ihm unter bestimmten Umständen Rechnung zu tragen wäre. Hier stellen sich Probleme der Politisierung wie die, ob dieses Verlangen von öffentlicher Bedeutung ist, ob es also anonyme Dritte im Horizont gemeinsamer Angelegenheiten betrifft, die durch die Artikulation unvorhergesehener Ansprüche ihrerseits bereichert, aber auch destabilisiert werden können. Dass die normative Vorgabe bereits etablierter gemeinsamer Angelegenheiten allerdings umgekehrt niemals eine ›irreguläre‹ Praxis des Hin- und Zuhörens reglementieren kann und sollte, betont Rancière, der mit Recht darauf besteht, das Politische 77 ereigne sich nicht gemäß normalisierter Ordnungen diskursiven Streits etwa, sondern im außer-ordentlichen, niemals völlig zu regelnden Hören auf Ansprüche, die im Prinzip jederzeit in unvorhersehbarer Art und Weise danach verlangen können, Gehör zu finden. Sie kommen aber mit diesem Verlangen nur zum Ziel, wo eingespielte agonale Praktiken der Rede wenigstens für Momente aussetzen und es zulassen, dass das Sicht-, Hör- und Sagbare neu arrangiert wird. Gewiss zehrt diese Analyse von der anfechtbaren Voraussetzung, jene Ansprüche seien selten, sie würden vielfach unterdrückt und sie verdienten grundsätzlich, gehört zu werden. Abgesehen von Befunden einer »akustischen Verschmutzung« kommen Phänomene der Überforderung und der Überresonanz angesichts allzu vieler Ansprüche auch bei Barthes, so weit ich sehe, nicht zur Sprache (ESS, S. 251). Nur deshalb kann er den Anschein erwecken, in einer Praxis des Zuhörens den Ansatzpunkt einer »Moral der Sprache« gefunden zu haben, die sich mit der Macht des assertorischen Satzes und einer streitbaren Rhetorik, durch die sich jeder gegen Andere durchzusetzen versucht, nicht abfindet. Zwar gelingt es Barthes, radikal in Frage zu stellen, ob wir im Verhältnis zum Anderen tatsächlich zu einer agonalen Interpretationsmacht verurteilt sind oder ob wir von ihr besessen sind, wie es Nietzsche zu lehren schien. Aber indem er Wege aufgezeigt hat, auf denen es möglich wäre, die beklagte Arroganz der Sprache oder eines agonalen Sprachgebrauchs zu unterlaufen, hat er nicht auch schon die Frage geklärt, was man in diesem Sinne tun Hier folge ich Rancières Terminologie (die mit einer Opposition von Politik und Polizei arbeitet) nicht, sondern reformuliere sie.

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müsste, um diesseits oder jenseits einer normalisierten Politik das Politische im Ereignis des Zuhörens von neuem zu inspirieren. Vielleicht gibt es ja wirklich »keinen Ausweg aus der Arroganz als das Zurückhalten der Interpretation, die Suspension des Sinns«, die im interpretativen Verstehen selber schon einen Ansatzpunkt hat, wenn es stimmt, dass »interpretieren [heißt]: die Arroganz mindern« (DN, S. 258 f.). Dieses ›liberale‹ Verständnis von Interpretation hat im Vergleich zu Nietzsches, das laut Barthes in jedem ausgesagten Sinn einen ›Gewaltakt‹ vermuten lässt, immerhin den Vorzug, nach Spielräumen geringerer Gewalt fragen zu lassen – statt Gewalt und Interpretation zur Deckung zu bringen. Als absehbare Folge einer solchen Identifikation würde sich ergeben, dass es im Grunde müßig wäre, Formen der Interpretation gewalt- und machtkritisch zu untersuchen. Das ergibt nur Sinn mit Blick auf Anderes, dem man interpretativ mit mehr oder weniger Macht und Gewalt (oder auch mit Hilfe einer anderen Macht und Gewalt) nahezukommen versuchen kann – und zwar zunächst dadurch, dass man sich auf Spielräume polymorphen Sinns einlässt und sie politisch, d. h. nicht zuletzt: öffentlich einräumt. 78 So wenig wie irgendeiner der Theoretiker der Alterität, die sich im 20. Jahrhundert zu Wort gemeldet haben, kann Barthes beweisen, dass es gerade das Begehren des Anderen als des Anderen ist, an dem sich die Macht und Gewalt der Sprache, einer bestimmten Praxis des Sprachgebrauchs oder der subtilen Interpretation müssten messen lassen. Aber er hat mit Nachdruck im Verständnis dessen, wozu die Sprache und ihr interpretativer Gebrauch überhaupt ›dient‹, einen Kontingenzspielraum herausgearbeitet, der gar nicht existent zu sein scheint, wo der Sinn der Sprache aufs Aussagen und Rechtbehalten reduziert gesehen wird. Seine Anregung, diesen Sinn nicht im assertorischen Satz, in der Logik der Prädikation, in der agonalen und diskursiven Auseinandersetzung aufgehen zu lassen, sondern vom Begehren des Anderen her neu zu deuten, verknüpft er mit einer Apologie des Zuhörens, die sich ihrerseits machtkritischen Bedenken stellen muss. Wer diesem Begehren als einer Grenze unserer Macht (die sich nur nachträglich zu ihm verhalten kann) das Wort redet, um Barthes ist derart mit der Frage beschäftigt, wie man die Macht der Interpretation als solche unterlaufen kann, dass ihm die Probleme der Interpretation der Macht, die jeglichen öffentlichen Interpretationsspielraum tilgen kann, weitgehend aus dem Blick geraten. Siehe oben, Anm. 16.

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ihm nicht zuletzt politisch, in der Perspektive einer Revision des Politischen, Geltung zu verschaffen, ist seinerseits darauf angewiesen, dass eine solche Interpretation des Begehrens – genau darum handelt es sich nämlich – überzeugend wirkt. 79 Wenn das der Fall ist, kommt diese Interpretation aber unweigerlich mehr oder weniger machtvoll bzw. ›mit Macht‹ zur Geltung. Im Fall von Barthes ist sie sogar explizit darauf angelegt, im Sinne einer »Moral der Sprache« zu wirken, die sich des Begehrens des Anderen nicht aufs Neue bemächtigen, sondern ihm auf sensible Weise Spielräume des Ausdrucks eröffnen soll. Verzichtet das Zuhören in diesem Sinne darauf, den Anderen in Beschlag nehmen zu wollen, um sich stattdessen rückhaltlos einem responsiven Verhältnis zu seinem Begehren auszuliefern, wie ist es dann aber davor zu bewahren, als eine solche Praxis des Zuhörens wiederum politisch angeeignet zu werden? 80 In diesem Falle würde sich eine politische Lebensform womöglich darin gefallen, gerade das, was sie dem Anderen (der auch ein Feind sein kann) schuldet, als einen Wert in Beschlag zu nehmen und auf diese Weise den Sinn jener Moral der Sprache zu konterkarieren. Wiederum zeigt sich hier, dass auch eine Re-Interpretation der Macht (vom Begehren des Anderen her) eine Macht der Interpretation nach sich ziehen kann, die ihrerseits danach verlangt, interpretativ begriffen zu werden. So kommt das Mit- und Gegeneinander von Macht und Interpretation in deren Verflechtung nicht zur Ruhe. Es bleibt bis auf weiteres unaufgehoben und unaufhebbar.

Genau auf diese Schwierigkeit, scheint mir, weist Barthes mit den eingangs zitierten Worten hin. 80 Carl Schmitt würde insistieren, anders könne es gar nicht sein, denn »jeder Versuch, der Macht zu entgehen, wird ein Machtversuch; jede Bewegung, die auf Verhinderung oder Beschränkung der Macht gerichtet ist, wird zur Machtergreifung«. Das Gleiche müsste für jede Erinnerung an eine Wahrheit gelten, die als der Macht entzogen vorgestellt wird. Von sich aus hätte diese Wahrheit keinerlei Macht, es sei denn durch eine Ermächtigung, die sich ihrer bedient. Vgl. C. Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951, Berlin 1991, S. 180. 79

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Kapitel XIV ›Das Sagen haben‹ und die An-Archie menschlicher Rede Deutungsmachtkonflikte in der Angelegenheit menschlicher Reproduktion und Generativität – unter dem Druck der life sciences Worum es im Hinblick auf die Macht unmittelbar geht, ist die Produktion und Reproduktion des Lebens selbst. Chantal Mouffe 1 Die geschlechtliche Fortpflanzung ist letztlich eine Maschine zur Erzeugung von Anderem. Anderem als die Eltern. Anderem als alle Individuen der Gattung. François Jacob 2

1.

Menschliche Rede: Sagen und Gesagtes im Hinblick auf Macht

Spätestens seit Karl Bühlers Organon-Modell der Sprache (1934) gilt es als unbestritten, dass sich menschliche Rede, die normalerweise von etwas handelt, zugleich an jemanden wendet: Jemand (a) spricht zu jemandem (b) über etwas (c) 3; so bringt die Person a als Subjekt der Rede auf c sich beziehendes Gesagtes (d) hervor, das allein im Modus der Erinnerung oder der Verschriftlichung (e) Bestand haben kann, wie Hegel in einer berühmten Passage seiner Phänomenologie des Geistes deutlich gemacht hat, in der er das »Wahre als das Allgemeine der sinnlichen Gewissheit« (f) zum Vorschein brachte, das allein diese Dauer zu verbürgen vermag. 4 Stets wird das Wahre demnach gesagt werden müssen; und nur als Gesagtes und schriftlich NiederzulegenC. Mouffe, Agonistik. Die Welt politisch denken, Berlin 2014, S. 109. F. Jacob, Die Maus, die Fliege und der Mensch. Über die moderne Genforschung, Berlin 1998, S. 136; ders., Das Spiel der Möglichkeiten. Von der offenen Geschichte des Lebens, München 1983, S. 18. 3 K. Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1978. 4 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 41980, S. 84–89, 169. 1 2

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XIV · ›Das Sagen haben‹ und die An-Archie menschlicher Rede

des kann es bestehen bleiben, indem die Rede bzw. das Sagen als geistiger Besitz in ihm aufgehoben wird. Wie kein anderer hat Emmanuel Levinas diese Position angefochten und dem Sagen (dire) im Verhältnis zum Gesagten (le dit), das angeeignet, verschriftlicht und überliefert werden kann, wieder zu eigenem Recht verholfen. Demzufolge ereignet sich das Sagen nicht nur im Verhältnis zum Anderen, sondern geradezu als das Verhältnis zum Anderen; und zwar so, dass es niemals im Gesagten aufgeht, das nach Deutung und Interpretation verlangen mag und an dem sich Streit über das richtige Verständnis des Gesagten entzündet. Auf diese Weise suggerierte Levinas, die an den Anderen gewandte und von ihm her rührende Rede sei in der AnArchie ihres praktischen Geschehens, das sich nicht einmal von der Idee der Herrschaftslosigkeit beherrschen lässt 5, letztlich jeglichem Zugriff entzogen und menschliche Macht könne sich nur des Gesagten bemächtigen, nicht auch des Sagens, das man einer gängigen, martialischen, ja brutalen Redeweise zufolge ›haben‹ (in Besitz nehmen, okkupieren, für sich allein in Anspruch nehmen) kann; gegebenenfalls auch um den Preis, Andere mundtot zu machen und endgültig zum Schweigen zu bringen. Glaubt man Theologen der Gegenwart, so ist es jedoch sehr wohl für möglich zu halten, dass man sogar »in Sachen Religion« ›das Sagen haben‹ kann 6, selbst in einer Angelegenheit also, die nach vorherrschendem Verständnis von einer Religiosität her zu verstehen ist, welche ihrerseits der Spur einer vorgängigen, ihr absolut entzogenen Transzendenz folgt, auf die sie sich allenfalls nachträglich beziehen kann. 7 So gesehen ist Religion als von Transzendenz inspirierte Reli-

5 Vgl. E. Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg i. Br., München 21987, S. 299, 319; ders., Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br., München 1992, S. 224, Anm. 3. 6 Ich beziehe mich hier auf die Tagung des Graduiertenkollegs »Deutungsmacht«, die Philipp Stoellger zum Thema »Wer hat das Sagen in Sachen Religion? Deutungsmachtkonflikte in und um Religion« im Oktober 2014 an der Universität Rostock veranstaltet hat. 7 H. Cancik, B. Gladigow, »Gegenstände und wissenschaftlicher Kontext von Religionswissenschaft«, in: H. Cancik et al. (Hg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Stuttgart 1988, S. 26–38; J. Figl, »Religionsbegriff – zum Gegenstandsbereich der Religionswissenschaft«, in: ders. (Hg.), Handbuch Religionswissenschaft, Innsbruck, Göttingen 2003, S. 62–80; M. Bergunder, »Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft«, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 19, Nr. 1/2 (2011), S. 3–55.

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Menschliche Rede: Sagen und Gesagtes im Hinblick auf Macht

giosität gewiss ein bemerkenswertes Beispiel für eine Angelegenheit, die jeglichen Anspruch, in der ›Sache‹ oder sogar über sie ›das Sagen‹ zu haben, scheitern lassen müsste. Die historische Erfahrung erweckt indessen den gegenteiligen Eindruck: Nichts anderes hat zu vergleichbar wortreichen und machtbesessenen Anstrengungen geführt, sich des Sagens bemächtigen zu wollen, wie gerade der – für viele nach wie vor zweifelhafte, unglaubwürdige oder undenkbare – Transzendenzbezug, in dessen Spur man die Religiosität deuten möchte, die sich schließlich in diversen Religionen ausdifferenziert, deren Theologien sich als mehr oder weniger kanonisierte, autoritativ auf Dauer gestellte Deutungs- und Interpretationsmächte nicht selten gegeneinander zu behaupten versuchen, ohne allerdings radikale Zweifel daran ausräumen zu können, ob es überhaupt möglich ist, ›in dieser Sache‹ das Sagen zu haben oder sogar das Sagen selbst zu beherrschen. Kaschiert die prätendierte Interpretationsmacht nicht deren uneingestandene Ohnmacht in ihrer Besessenheit von der hermeneutischen Machtfrage? Weniger die Frage, »Wer in Sachen Religion das Sagen hat« – jemand wie der Pontifex maximus, eine Institution wie die 1542 zum Schutz vor Häresien als römisch-katholische Variante der Inquisition eingerichtete, nach wie vor existierende Glaubenskongregation oder irgendwelche lokale Interpretationsmachthaber –, als vielmehr die Frage, ob es überhaupt möglich ist, das Sagen zu ›haben‹, konfrontiert uns mit einer sprach- und sozialphilosophischen Herausforderung, als die das von Hegel über Bühler bis hin zu Levinas bedachte Missverhältnis zwischen Sagen und Gesagtem gelten muss, das sich niemals restlos nach der einen oder anderen Seite hin auflösen lässt. Weder kann es Gesagtes geben, das sich nicht wenigstens als Spur eines vorgängigen Sagens begreifen ließe, noch kann es umgekehrt ein Sagen geben, das ohne jeglichen Bezug auf Gesagtes wäre. Es gibt kein Sagen und keine Macht über es, das bzw. die von jeglichem Sachbezug zu trennen wäre. Selbst der unartikulierte Schrei um Hilfe, selbst die Anrede, die noch gar keinen propositionalen Inhalt hat, bezieht sich wenigstens indirekt schon auf etwas, das zur Sprache kommen oder zur Sprache gebracht werden soll. Erst recht gilt das, wo mit dem ›Sagen‹ nicht bloß der situative Vollzug einer an Andere gewandten Rede, sondern eine diskursive Praxis gemeint ist, in der man – sei es in alltäglicher Kommunikation, sei es im fachlich spezialisierten Austausch zwischen Religionswissenschaftlern oder Theologen, sei es auch im öffentlichen politischen Streit über die von 483 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

XIV · ›Das Sagen haben‹ und die An-Archie menschlicher Rede

letzteren erhobenen Geltungsansprüche 8 – zur Sprache bringt, was Religion als Religiosität auf der Spur eines vermuteten Transzendenzbezugs ›eigentlich‹ ausmacht oder ausmachen sollte. Auch in diesen Fällen kann das hier zur Diskussion gestellte ›Sagen‹, das gewisse Machtinstanzen in kommunikativer Absicht oder über sie haben wollen, nicht von jeglichem Sachbezug abgekoppelt gedacht werden; wobei die in Rede stehende Sache auch einen ›Gegenstand‹ betreffen kann, der von überhaupt niemandem in Besitz zu nehmen ist und insofern niemals bloß ›gegenständlich‹ vorliegt. Par excellence, meine ich, gilt das im Hinblick auf die menschlichem Dasein am meisten unter die Haut gehende Fraglichkeit des Lebens als Leben. Von Platon über die neuzeitliche politische Theorie bis hin zur modernen Biologie sind auf diese Herausforderung diverse und gegensätzliche Antworten gegeben worden. Für Platon lag der ›Witz‹ des Lebens in der Sorge um Gerechtigkeit; für Thomas Hobbes lag er in der unaufhörlichen Selbsterhaltung; für John Locke in der Unruhe menschlicher industry und action; für Idealisten wie Johann G. Fichte in vernünftiger Selbstbestimmung, für Nietzscheaner in souveräner Selbststeigerung oder in übermenschlicher Selbstüberwindung, für die modernen Biologen liegt er in der Ermöglichung von Evolution; usw. Aber ist in dieser Angelegenheit nicht jeder kompetent bzw. gleich inkompetent, insofern es in dieser Frage um das Leben geht, dessen Lebbarkeit, wenn überhaupt, nur von Einzelnen einzulösen sein wird, die selbst herausfinden müssen, was es mit ihr auf sich hat? Gilt das unweigerlich nicht auch dann, wenn der Kampf um die Lebbarkeit des eigenen Lebens Andere mit einschließt – wie es unvermeidlich der Fall sein muss, wenn sich das jeweilige Leben in einer generativen Dimension entfaltet? Was auch immer man dazu auf eigene oder fremde Erfahrung, auf religiöse Überzeugungen oder zeitgemäße Theorien gestützt sagen wird, es ist kaum zu bestreiten, dass heute den sog. life sciences eine außerordentliche Interpretationsmacht in dieser Hinsicht zukommt. Wir leben in einer Kultur, die es diesen Wissenschaften von der Evolutionstheorie über die Genetik bis hin zu den auf letzterer basierenden medizinischen Reproduktionstechniken weitgehend überlässt, uns über das Funktionieren des Lebendigen aufzuklären. Vgl. die Situationsskizze d. Vf., »Zur Tradition der Hermeneutik in der Gegenwart einer politischen Kultur des Dissenses. Skizze einer polemogenen Problemlage«, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik (2018), i. E.

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Menschliche Rede: Sagen und Gesagtes im Hinblick auf Macht

Obwohl diese Wissenschaften selbst in dieser Angelegenheit gar keinen Anspruch auf exklusive Interpretationsmacht erheben, versteht man sie als vorrangige Instanzen, die scheinbar aus der Erklärung des Funktionierens des Lebendigen ableiten können, was Leben als Leben ausmacht. Dagegen regt sich zwar vielfach Widerstand, den ich im Folgenden zur Sprache bringen werde. Doch dieser Widerstand kann sich nicht einfach auf eine etwa religiös oder theologisch fundierte Gegeninterpretationsmacht stützen, die mit den life sciences unmittelbar zu konkurrieren vermöchte. Denn dieser Widerstand ist nur vermittels einer Reihe mehr oder weniger bestimmter, allerdings kaum im diskursiven Terrain dieser Wissenschaften selbst zu artikulierender Negationen zu entfalten, die sich gegen ein inzwischen vorherrschendes Lebensverständnis richten. Das bezeugt nicht etwa die Autorität einer mit den life sciences direkt konkurrierenden Interpretationsmacht, an die man sich nur zu wenden bräuchte, weil sie auf andere Weise ›das Sagen‹ hätte, sondern die freie Rede derer, in deren sozialem Leben die Frage auf dem Spiel steht, was ihr Leben als Leben eigentlich ausmacht. Das ist kaum im polemogenen Streit oder in einer mit vermeintlich besten Argumenten bewaffneten Diskussion zu eruieren, sondern eher so, dass man sich im Hören auf Andere ihrer Rede aussetzt, die allenfalls bezeugt, aber niemals beweisen kann, wie in generativer Hinsicht ihr bzw. unser Leben auf dem Spiel steht. Es erscheint als ganz und gar abwegig, zu glauben, eine antagonistische oder agonale Auseinandersetzung könne diese Frage mit Worten, Argumenten und Beweismitteln allein rational entscheiden und auf diese Weise eine rationalisierte (Gegen-)Interpretationsmacht etablieren. Das zeigt sich, wenn in Betracht gezogen wird, wie sehr das Verlangen, zu wissen, was menschliches Leben als Leben speziell in generativer Hinsicht ausmacht, an eine unverfügbare Sensibilität im Verhältnis zu Anderen rührt, die wir – im Gegensatz zu allem, was die modernen life sciences und selbst die Theoretiker der Bio-Politik lehren – nicht als Produktionen oder Reproduktionen von bereits vorhanden Gewesenem verstehen können, selbst dann nicht, wenn in der DNS bereits ihr künftiges Schicksal wie in einem aufgeschlagenen, nur zu dechiffrierenden Buch zu lesen stehen sollte. 9 Was an die Stelle einer derartigen Vorstellung treten könnte, in der man künftiges Leben, so neu und andersartig es sich phänotypisch 9

H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/M. 1986, Kap. XXII.

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XIV · ›Das Sagen haben‹ und die An-Archie menschlicher Rede

auch darstellen mag, als Variation des Selben versteht, aus dem es hervorgegangen ist, steht dahin. Alternativ bieten sich vorläufig nur wenig robuste, zerbrechliche Begriffe an: Selbstheit und Ander(s)heit, die in generativer Hinsicht in keinem Reproduktionsverhältnis stehen. Beide Begriffe beziehen sich auf eine im Vorübergehen eines endlichen, aus sich heraus gelebten Lebens eröffnete Diachronie, die unvermeidlich nur nachträglich erkennbar werden lassen kann, ob und inwiefern künftiges Leben eines aus ihr hervorgegangenen anderen Selbst sich als wirklich zumutbar, lebbar und womöglich bejahbar erweisen wird. Gewiss sind das keine biologischen Termini und Fragen im üblichen Sinne des Wortes. Sie gehören gar keiner Disziplin exklusiv, weder den life sciences noch den Sozialwissenschaften, der Demografie oder irgendeiner Theologie. Denn sie rühren genau daran, wie radikal jedes individuelle (menschliche) Leben sich subkutan in sich selbst als Leben in Frage gestellt sieht – nicht in einem puren Selbstbezug aber, sondern in einem selbsthaften Leben von Anderen her und auf Andere hin. Dass davon die besagten life sciences, denen man weitgehend die Autorität in Sachen menschliche Reproduktion und Generativität zuschreibt, kaum eine Spur verraten, ist Grund genug, eine rückhaltlose Auseinandersetzung über die Frage zu eröffnen, ob sie oder irgendeine andere Instanz überhaupt in dieser Angelegenheit ›das Sagen haben‹ und bis auf Weiteres oder unbefristet Anspruch auf hermeneutische Vormacht erheben können. Im Hören aufeinander in der besagten Angelegenheit zeichnen sich möglicherweise Alternativen ab, die einem agonalen Machtdenken gar nicht zu Gesicht kommen, wenn es sich im Konflikt heterogener Interpretationen nur ein Gegeneinander vorzustellen vermag, in dem man sich auf andere Positionen bestenfalls aus eigener Machtvollkommenheit heraus einlässt, ohne aber davon abzulassen, über sie triumphieren zu wollen. Im Folgenden werfe ich in dieser Perspektive also die Frage auf, ob von der zur Diskussion gestellten ›Sache‹ her – in der Angelegenheit menschlicher Generativität, die Selbstheit und Ander(s)heit diachron in einem Leben von Anderen her und auf Andere hin miteinander verschränkt – gewissermaßen ein generelles machtkritisches Licht auf jeglichen Anspruch fällt, ›das Sagen‹ beherrschen zu können bzw. es in Beschlag nehmen zu wollen. Wo nicht etwa ein maßloser und im Grunde absurder Anspruch geltend gemacht wird, schlechterdings (unbefristet gegenüber jedermann, jederzeit und über alles) ›das Sagen haben‹ zu wollen, sondern in einer bestimmten Angelegenheit wie dieser bis auf Weiteres wirk486 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Menschliche Rede: Sagen und Gesagtes im Hinblick auf Macht

lich etwas zu sagen zu haben, werden wir tatsächlich auf alternative Spielräume eines Sich-sagen-lassens aufmerksam gemacht, ohne die in Wahrheit überhaupt kein Sagen und kein Gesagtes auskommt, solange es nicht seinem kommunikativen Sinn ganz und gar zuwiderläuft. Wo dieses Sich-anderes-anders-sagen-lassen von Anderen nicht bloß hingenommen, sondern bejaht wird, kommt eine An-Archie der Rede zum Vorschein, die bedingungsloses Zuhören und insofern eine Entmächtigung verlangt, welche nicht wiederum aus eigener Machtvollkommenheit heraus, d. h. souverän, sondern nur als Antwort auf den vorgängigen Anspruch des Anderen erfolgen kann. Die über eine gewisse praktische Zuständigkeit, Sachkompetenz oder anerkannte Funktion hinausgehende Prätention, ›das Sagen‹ zu haben, läuft, wie sich zeigen wird, nicht nur diesem Anspruch tendenziell zuwider. Sie lässt sich am Ende auch nichts mehr sagen. Wer ›das Sagen‹ hat, läuft Gefahr, das Hören zu verlieren. Und wer nicht hören kann, wird fühlen müssen, wie es sprichwörtlich heißt. Machttheoretisch reformuliert, heißt das, die Besessenheit von der Macht der Rede und von der Macht über die Rede – sei es auf der Ebene des Verstehens, der Deutung oder der Interpretation – wird sich als Ohnmacht offenbaren, die von Anfang an droht, wenn die eigene Rede sich nicht entmächtigen lässt im Hören auf den Anspruch Anderer, den sie sich niemals aus eigener Kraft verschaffen kann. 10 So gesehen missversteht sich jegliches Ansinnen selbst, ›das Sagen‹ zu haben und es dauerhaft in Beschlag nehmen zu wollen. Statt sich als responsive Macht zu bewähren, versucht es sich als souveräne zu behaupten, die des Anderen am Ende gar nicht mehr bedürfte. Dieses Ziel mag sie erreichen; doch nur um den Preis, ihren kommunikativen Sinn früher oder später dafür opfern zu müssen. Spuren dieses inneren Widersinns sind überall anzutreffen, wo Macht sich auf Dauer behaupten will. Allzu oft gelingt ihr das auch, indem sie sich über diesen Widersinn höchst erfolgreich auch dann selbst Keineswegs bedeutet das, wie ein naheliegender Einwand lauten könnte, dass nun die angemaßte Macht über ›das Sagen‹ auf Subjekte der Rede übergehen muss, die uns zum Hören (zum Aufmerken, Gehör schenken oder gar zur Hörigkeit) ›verurteilen‹ können, wenn es denn stimmt, dass man nicht nicht hören kann auf den Anspruch des Anderen. Zwischen diesem Anspruch und einem Hören, das noch in statu nascendi sich abzeichnende Antwortspielräume offen lässt, spielt sich ein responsives Geschehen ab, das dritte Wege zwischen völliger Entmächtigung und Selbstermächtigung, Macht und Ohnmacht, An-Archie und Herrschaft zu bedenken zwingt. Vgl. die Anm. 101, unten.

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XIV · ›Das Sagen haben‹ und die An-Archie menschlicher Rede

täuscht, wenn sie machttechnisch zunächst raffiniert vorgeht. Über dieses im Erfolg der Macht selbst liegende Scheitern kann man sich nur Klarheit verschaffen, wenn man sich auf den inneren Zusammenhang besinnt, der dazwischen besteht, etwas zu sagen zu haben (einerseits) und darin unweigerlich auf Andere angewiesen bleiben zu müssen (andererseits).

2.

Was heißt es, nichts bzw. etwas zu sagen oder das Sagen zu haben? Machtkritische Vorüberlegungen

Wer – wie etwa Chantal Mouffe, die britische Theoretikerin des Politischen – erklärt, worum es »im Hinblick auf die Macht« geht, wenn vom menschlichen Leben die Rede ist, sagt in der einen oder anderen Art und Weise (der Aufklärung, der Erläuterung, der Deklaration, der Entlarvung oder auch des Dekretierens), was unter Leben als Leben zu verstehen ist. Darüber mag man verschiedener Meinung sein; doch aus dem Streit der Meinungen heben sich Stimmen heraus, die mit einem bestimmten Anspruch einhergehen, besondere Beachtung zu verdienen. Das sind nach gängiger Überzeugung diejenigen, die (wirklich) etwas zu sagen haben. Dieser Ausdruck ist allerdings notorisch zweideutig, denn er kann sich auf den Inhalt dessen beziehen, was zu sagen ist, und/oder auf die soziale Position derer gemünzt werden, die etwas zu sagen haben. Dabei fallen Inhalt und Position oft genug auseinander. Diejenigen, die wirklich etwas zu sagen haben, werden nicht gehört. Und diejenigen, die ›das Sagen haben‹, haben (inhaltlich) nichts zu sagen oder verdienen kaum, gehört zu werden, obwohl sie sich immer wieder Aufmerksamkeit zu verschaffen wissen. Idealiter fällt dagegen beides zusammen: diejenigen, die wie der Molekularbiologe und Medizin-Nobelpreisträger François Jacob vermutlich Ahnung von der Sache haben, haben – zumindest auf ihrem Fachgebiet – auch wirklich ›das Sagen‹ 11; niemals aber so, dass letzteres Anderen im Weg stehen dürfte, die ebenfalls gehört zu werden verdienen, weil sie etwas zu sagen haben; vielleicht Besseres, was in Michel Foucault bescheinigte François Jacob in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France, die Geschichte der Genetik so brillant und wissenschaftlich wie nur möglich geschrieben zu haben. M. Foucault, L’ordre du discours. Leçon inaugurale au Collège de France prononcée le 2 décembre 1970, Paris 1971, S. 71.

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Was heißt es, nichts bzw. etwas zu sagen oder das Sagen zu haben?

diesem Fall biologischem Erkenntnisfortschritt dienlich sein könnte. Andernfalls schlägt die Position derer, die ›das Sagen haben‹, in Anmaßung und Ignoranz um. Denjenigen, die angeblich ›das Sagen haben‹, obgleich sie nichts wirklich zu sagen haben, sollte man nicht Gehör schenken; und zwar um so weniger, wie sie selbstherrlich glauben darüber verfügen zu können, wer (wo, wann, wie, wem gegenüber) sonst noch etwas zu sagen hat und vor allem wer nicht – macht doch das aus allen pädagogischen Institutionen von der Grundschule bis hin zur Universität vertraute explizite oder stillschweigend erlassene Dekret »Du hast (hier) nichts zu sagen«/»Sie haben (hier) nichts zu sagen« buchstäblich mundtot und bewirkt am Ende, dass Subjekte der Rede, als die man uns Menschen von Aristoteles bis Jacques Rancière immer wieder definiert hat, an niemanden mehr sich wenden können. Und zwar am effektivsten dann, wenn ein ausdrückliches Redeverbot gar nicht erlassen werden muss, sondern im Vorhinein verhindert wird, dass Andere überhaupt als Subjekte abweichender Rede in Erscheinung treten können. Dann drohte ihnen ein (gegebenenfalls reversibler) sozialer Tod, wie es in der Politischen Theorie u. a. Orlando Patterson und Judith Butler behauptet haben. 12 ›Das Sagen‹ in Beschlag zu nehmen, ohne etwas zu sagen zu haben, ist Anmaßung; unter Umständen auch kraft Amtes, die auf Dauer kaum Bestand haben kann, wenn sie keinerlei Anerkennung erfährt und sich gewaltsam aufrechterhalten muss, ohne Macht begründen zu können. Viel effektiver ist die Macht derer, die ›das Sagen haben‹ und behalten wollen, wenn sie ohne offenkundige Anmaßung Andere zu Wort kommen lassen, aber subtile Kontrolle sowohl darüber ausüben, wem, wann und wie das Wort erteilt wird, als auch darüber, was überhaupt als Sagbares in Betracht kommt. Macht, die ›das Sagen‹ in Beschlag nimmt, triumphiert weniger darin, dass nur einer, der tatsächlich in der Sache wenig oder nichts zu sagen hat, allein zu Wort kommt, im offenkundig leeren Monolog eines einsamen Machthabers also, sondern vielmehr in der Illusion der freien Rede Anderer, die nicht realisiert, wie ihr von denen, die ›das Sagen haben‹, Grenzen der Sagbarkeit, der Ausdrückbarkeit und der Adressierbarkeit gezogen sind. ›Das Sagen‹ hat am effektivsten diejenige Instanz der Macht, die keinen Gedanken mehr daran aufkommen lässt, es könne jenseits dessen, was sie als Sagbares zulässt, noch Spielräume eines Anders-Sagens, heterodoxer und dissidenter Rede 12

Siehe oben, Kap. XI, 2.

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XIV · ›Das Sagen haben‹ und die An-Archie menschlicher Rede

Anderer geben, die womöglich nicht einmal in Erscheinung treten können. Je mehr sie sich auf diese Macht versteift, desto empfindlicher muss sie auf die geringste Andeutung eines solchen Spielraums reagieren, sei es auch das Radebrechen eines analphabetischen Banausen wie jenes durch Carlo Ginzburg zu Ehren gekommenen Müllers der italienischen Renaissance, der Gott selbst im Käse und in den Würmern vermutete, die ihn zerfressen. 13 So offenbart die Macht über ›das Sagen‹, was sie von Anfang an beunruhigt: die Anarchie der freien Rede, in der jeder den Anspruch hat, nicht nur gehört zu werden von denen, die, indem sie ›das Sagen haben‹, zugleich über das Sehen und Hören Anderer verfügen wollen, gegebenenfalls so, dass sie es ihnen vergehen lassen. Im Gegensatz dazu lässt es die Anarchie der freien Rede zu, dass sogar die Bedingungen der Hör-, Sicht- und Sagbarkeit dessen verändert werden können, was jemand vorzubringen hat. Genau für das Ereignis einer solchen Veränderung steht in der Politischen Philosophie Rancières der Begriff des Dissenses, der sich also nicht in einer kognitiven Unstimmigkeit zwischen verschiedenen Standpunkten oder Urteilen erschöpft. 14 Dissens stellt sich keineswegs ganz und gar kontingent ein, insofern sich etablierte Ordnungen der Rede und des Diskurses danach unterscheiden lassen, ob und wie sie sich im Hören auf unvermutete Ansprüche dem anarchischen Potenzial dissensueller Ereignisse gegenüber aufgeschlossen verhalten oder nicht. Bestimmte Diskursordnungen, allen voran diejenigen, die auf die Gewinnung neuer Erkenntnisse ausgerichtet sind, müssen sogar diese Aufgeschlossenheit eigens kultivieren, d. h. sie müssen dafür sorgen, dass (idealiter) niemals die Macht derer, die vorübergehend ›das Sagen haben‹, den intellektuellen Dissens seitens derer behindert oder gar ausschließt, die gerade nicht ›das Sagen‹, wohl aber etwas zu sagen haben, sei es auch derart skandalös und buchstäblich bodenlos wie Alfred Wegeners – inzwischen zum kanonischen Lehrstoff der Geologie gehörende – Lehre von der Plattentektonik, die wissenschaftliche Wortführer seinerzeit, mit sicherem Gespür für den Konformismus ihrer akademischen Kollegen, als »Gedankenspielerei«, »Phantasiegebilde« und »Fieberfantasie« glaubten abtun und verächtlich machen zu sollen. 15 C. Ginzburg, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Berlin 1990. 14 J. Rancière, Der emanzipierte Zuschauer, Wien 2009, S. 60 f. 15 https://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Wegener 13

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Was heißt es, nichts bzw. etwas zu sagen oder das Sagen zu haben?

Beispiele wie dieses, in dem man innovativen Dissens im Keim durch Verächtlichmachung abweichender Positionen, vernichtende Herablassung, mitleidiges Belächeln und schließlich durch Totschweigen derer, die sie vorzubringen wagten, erstickt hat, finden sich in der Wissenschaftsgeschichte zuhauf, so dass man vor einer abwegigen Idealisierung epistemischer Diskurse gewarnt sein sollte. 16 Zwar bestechen vor allem die naturwissenschaftlichen, mathematischen und technischen Diskurse durch ihre unbestreitbaren Erfolge, doch ist es durchaus fraglich, inwieweit sie dem Anspruch einer möglichst weit gehenden Dissenssensibilität gerecht geworden sind, die sich darin zeigen müsste, dass und wie man Andere anhört, ihnen zuhört, Gehör schenkt und unter Umständen auch auf sie hört. Die gleiche Frage stellt sich, wo es im Horizont des Politischen um Fragen von existenzieller, nicht epistemologisch abzufertigender Bedeutung geht – Fragen wie diejenige, die François Jacob aufgrund seiner Kompetenz als Mediziner und Biologe bereits scheint beantwortet zu haben: Was ist Leben? Oder vielmehr: Wie geschieht Leben? Wie zeigt sich, was Leben als Leben eigentlich ausmacht? Hat hinsichtlich dieser Fragen aber nicht jeder etwas zu sagen? Sind wir nicht Gleiche, insofern wir einander in dieser Frage menschlich nichts voraushaben? Findet menschliches Leben nicht ohnehin in unvermeidlich individuierter bzw. individualisierter Form statt? 17 Damit können sich offenbar Institutionen, an erster Stelle kirchliche, schwer abfinden, die sich eine von höchster Stelle legitimierte, allgemeine Auskunft darüber zutrauen, was Leben als Leben ausmacht; und zwar nicht erst jenseits des Todes, sondern schon vorher – und bis in die intimsten psychosexuellen Dimensionen hinein, wie das Beispiel der aktuellen und noch lange nicht abgeschlossenen Diskussionen um Homo- und Heterosexualität hinlänglich beweist, das nicht selten so behandelt wird, als hätten die betroffenen Subjekte freier Rede in eigener Sache nichts zu sagen, was es mit jener Auskunft aufnehmen könnte. Aus der Sicht solcher Subjekte stellt sich die Erfahrung, selbst etwas zu sagen zu haben, ohne gehört oder ernst genommen zu werden, so dar, als ob sie sozial gar nicht existierten. Für Andere jedenZumal die sog. soziale Epistemologie heute zeigt, dass es kein Wissen gibt, das auf gar keine Approbation durch Andere angewiesen wäre. 17 Vgl. R. Casale, H.-C. Koller, N. Ricken (Hg.), Die Sozialität der Individualisierung, Paderborn 2016. 16

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falls existiert das zu Sagende in diesem Falle nicht. Wird es aber grundsätzlich von der Sache gedeckt? Richtet sich das, was man zu sagen hat, allemal nach dem Gegenstand, von dem die Rede sein soll? Und bemisst sich die soziale Position derer, denen man zubilligt, ›wirklich‹ etwas zu sagen zu haben, stets an der Sache, von der sie weit mehr als nur eine ›Ahnung‹ haben sollten, oder (auch) an der Position, die sie im Rahmen mehr oder weniger fest etablierter diskursiver Ordnungen einnehmen? Wie steht es in dieser Hinsicht mit der Auskunft des Biologen, das sich generativ manifestierende (menschliche) Leben verhalte sich wie eine Maschine oder sei tatsächlich bzw. letztlich eine Maschine zur Erzeugung von Anderem, das ›ganz anders‹ als alle im Prozess der Gattungsgeschichte hervorgebrachten Individuen sei? Handelt es sich um eine von besonderer Einsicht in die ›Sache Leben‹ gedeckte Erkenntnis, der wir kraft der Autorität des Wissenschaftlers Glauben schenken sollten? Hat er nicht mit seiner Logique du vivant (1970) hinlänglich bewiesen, dass er in seiner Disziplin über ausgezeichnetes Wissen um menschliches Leben verfügte? 18 Aber ist das ›ganz Andere‹, als das sich auch Andere herausstellen könnten, überhaupt ein biologischer Begriff? Und kann die Biologie beweisen, dass ›Andere‹ maschinell (re-)produziert werden können? Wenn jedem Anderen eine Ander(s)heit eignet, die paradoxerweise anders als sie selbst ist, wie Paul Ricœur betont hat 19, spielt der Biologe dann nicht mit dem Feuer einer Hyperbolik, der er biologisch-konzeptionell überhaupt nicht Herr zu werden vermag? Spielt er nicht den Nicht-Biologen – darunter Kulturwissenschaftler, Theologen und Philosophen, vor allem aber Laien, denen das zu Kants Zeiten noch mit dem ökonomischen Terminus des »Geschäfts« belegte Geschehen sog. Fortpflanzung 20 und die Dimension generativer Zeiterfahrung anderweitig bekannt ist – die Frage zu, was menschliche Generativität überhaupt bedeutet – wenn nicht (nur) Pro- und Re-Produktion des Selben, wie auch immer es in der Form von »Anderem« variiert anzutreffen sein wird? Und zwingt er infolgedessen nicht dazu, die Frage ganz neu aufzuwerfen, wer in

18 Dt. F. Jacob, Die Logik des Lebenden. Von der Urzeugung zum genetischen Code, Frankfurt/M. 1972. 19 P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 426. 20 J. F. Blumenbach, Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäft [1781], Stuttgart 1971.

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Von der modernen Biologie zur menschlichen Generativität

Sachen Fortpflanzung und Generativität menschlichen Lebens wirklich etwas zu sagen hat – mit oder ohne Autorität, die mit Recht oder anmaßend ›das Sagen hat‹ ? Geht es hier nur darum, wer ›das Sagen hat‹, oder stoßen wir hier an Grenzen dieser Vorstellung selbst? Kann in dieser Sache überhaupt jemand ›das Sagen‹ haben? Oder führt diese Vorstellung selbst schon in die Irre? Wenn ja, warum?

3.

Von der modernen Biologie zur menschlichen Generativität

Zwar hat man den life sciences auf diesem Sachgebiet schon oft eine geradezu hegemoniale Vormachtstellung attestiert, die weit ältere, vor allem religiöse Deutungsangebote marginalisiert zu haben scheint. Doch an dieser Diagnose sind im Lichte der nachfolgenden Überlegungen zu Deutungsmachtkonflikten Zweifel angebracht, die sich unter dem Druck dieser Wissenschaften entzünden, wo heute von menschlicher Generativität als einem primär reproduktiven Geschehen die Rede ist, von dem François Jacob gleichwohl annahm, dass es in der Lage sei, »Anderes«, darunter Andere, hervorzubringen, d. h. maschinell zu produzieren und zu reproduzieren. Seit dem 19. Jahrhundert, als die moderne Biologie zu der wissenschaftlichen Disziplin sich mauserte, wie wir sie heute vor Augen haben, liefert sie uns mehr und mehr die Prototypen aller möglichen Beziehungen, aus denen neues Leben hervorgeht. Und seitdem ist sie nach Charles Darwins Theorie und Gregor Mendels Entdeckung gewisser Vererbungsgesetzlichkeiten, seit der Entdeckung der biochemischen Doppelhelix-Struktur der DNS durch James D. Watson und Francis Crick (1953) und schließlich infolge der Dechiffrierung des genetischen Codes zu ungeahntem Ansehen gelangt, dem man sich bereitwillig unterwirft, wenn man verstehen will, wie eigenes und fremdes Leben hervorgebracht, produziert, reproduziert und gegebenenfalls zweckdienlich modifiziert werden kann. Dabei ist es keineswegs sicher, dass – wie Emmanuel Levinas noch in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts meinte – jene Beziehungen »von ihrer Beschränkung auf die Biologie« wieder frei werden können. 21 Handelt es sich überhaupt um Beschränkungen? Und warum sollte man E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br., München 1987, S. 409.

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sich ihrer wieder entledigen, statt weiter an den Lippen der life scientists zu hängen, wenn sie in Aussicht stellen, wie speziell menschliches Leben nicht nur objektiv zu erkennen, sondern vor Deformationen zu bewahren und sogar in ungeahnter Art und Weise zu optimieren ist? Zweifellos hat die moderne Biologie speziell dort, wo sie Fragen menschlicher Generativität tangiert, eine unerhörte Deutungsmacht erlangt. Nicht aber, weil sie diese Macht angestrebt hat und weil man sich ihr hätte unterwerfen müssen. (Was deuten heißt, davon weiß sie nichts Genaues. Und es erscheint abwegig, den Biologen selbst einen besonders ausgeprägten Machtwillen zuzuschreiben, als ob sie sich gegen den Rest der Welt verschworen hätten.) Vielmehr hat man sich biologischer Erkenntnisse bedient, sie nicht selten gedankenlos generalisiert und derart weitläufig angewandt, dass streckenweise völlig aus dem Blick geraten konnte, dass es sich dabei stets um eine bestimmte, moderne Auffassung des Lebens als Leben handelte. Von der Differenz und Kontingenz, die in diesem ›als‹ steckt (insofern man das Leben auch anders und als anderes verstehen könnte), legt die Biologie selbst nicht Rechenschaft ab. Dazu bedürfte es einer Hermeneutik des Lebens, die darüber aufklären müsste, was es heißt, etwas, jemanden (z. B. sich selbst) oder das Leben so oder anders zu verstehen, u. U. aber auch diesen Als-Charakter des Verstehens zu vergessen und schließlich anzunehmen, was man als etwas aufgefasst hat, erübrige im Grunde jedes weitere Fragen nach diesem ›als‹. Wenn das geschieht, gerät das wie unzulänglich oder raffiniert auch immer entfaltete Verstehen des Lebens aus dem Blick und mündet schließlich in pseudo-objektive Einsichten, die auf den ersten Blick besagen, etwas sei oder verhalte sich so und so – etwa: das Leben sei auf allen Stufen und in allen Lebensformen ein Reproduktionsvorgang und nichts als das. Was sollte daran falsch sein, wenn man dieses, auf eine objektive biologische Erkenntnisform gestützte Verständnis auch auf die menschliche Generativität anwendet? Im Folgenden möchte ich keine direkte Antwort auf diese Frage zu geben versuchen, wohl aber deutlich machen, was es mit der spezifischen Macht eines Verstehens auf sich hat, das als Verstehen in der angedeuteten Art und Weise geradezu unkenntlich werden kann (4.). Sodann wende ich mich einem von der modernen Biologie nahegelegten (aber keineswegs erzwungenen) Verständnis menschlicher Generativität als einem Reproduktionsvorgang zu (5.), um zu ermitteln, inwiefern dieses Verständnis Deutungsmachtkonflikte herauf494 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Exkurs zu Hermeneutik und Macht

beschwört, indem es auf einen Widerstand trifft, der nicht bloß nach einer Gegenmacht verlangt – sei es nach einer Gegeninterpretationsmacht, sei es nach einer Interpretationsgegenmacht –, sondern auch nach einem Umdenken der Agonalität solcher Konflikte (6.). 22

4.

Exkurs zu Hermeneutik und Macht

Wie auch immer man den Begriff der Hermeneutik im Einzelnen spezifiziert – als die Lehre vom Interpretieren, vom Deuten und/oder Auslegen in primären (unreflektierten), sekundären (bewussten) oder tertiären (methodisch vorangetriebenen) Formen –, es handelt sich noch immer um eine Disziplin, die zur Macht und zu (politischen) Konflikten nur ein indirektes, eher zufälliges und unwesentliches Verhältnis zu haben scheint. In der traditionellen Hermeneutik, so wie sie Emilio Betti bilanziert hat, bleibt die Macht weitgehend außen vor; und infolgedessen bleiben auch die Konflikte weitgehend unbeachtet, die sie heraufbeschwört. 23 Von Friedrich D. E. Schleiermacher über Johann G. Droysen und Wilhelm Dilthey, Martin Heidegger, Hans-Georg Gadamer und Paul Ricœur bis hin zu deren Schülern Jean Grondin, Jean Greisch, Günter Figal und vielen anderen ist man zwar zu Interpretationskonflikten vorgestoßen. Doch nehmen diese sich bei näherem Hinsehen als wenig dramatisch aus, nämlich (um einen Buchtitel Ricœurs aufzugreifen) als ein »Konflikt der Interpretationen«, der tatsächlich nur zwischen verschiedenen Interpretationen zu bestehen scheint, die von sich aus in keiner Weise politisch brisant sein müssen. 24 Allerdings können sie das durchaus Dabei werde ich die übliche Differenzierung zwischen Interpretieren (im weitesten Sinne eines Verstehens-als), bewusstem Deuten und methodischem Auslegen womöglich nicht streng durchhalten können. Sie steht hier auch nicht im Vordergrund des Interesses. 23 Vgl. aber E. Betti, Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen 1967, S. 171, zur Beschränkung des Verstehens auf die Teilhabe an einer »Lebenslage«. 24 P. Ricœur, Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I [1969], München 1973. Alasdaire MacIntyre hält Interpretationskonflikte für derart normal, dass er sagen kann, was eine Tradition als ein »sich selbst interpretierendes Gebilde« konstituiere, sei geradezu »der Konflikt unterschiedlicher Interpretationen dieser Tradition, ein Konflikt, der selbst eine Geschichte miteinander konkurrierender Interpretationen besitzt«; A. MacIntyre, »Epistemological Crises, Dramatic Narratives and the Philosophy of Science«, in: The Monist 60 (1977), No. 4, S. 453–472, hier: 22

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werden, wie u. a. die Reformationsbewegung auf europäischem Boden hinlänglich gezeigt hat. Aber haben Protestanten nicht Interpretationen gewisser Texte, die ihnen heilig waren, nachträglich politisiert? Und waren sie – allen voran Martin Luther höchstpersönlich – nicht rasch bereit, ihre Interpretationen politisch zu entschärfen, als es ratsam bzw. opportun erschien? Haben sie sich nicht mit einer autoritären Staatsraison abgefunden – ganz nach der von Kant mit Blick auf Friedrich II. unnachahmlich auf den Punkt gebrachten Devise: »räsonniert« (oder interpretiert) »so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt« – Hauptsache, ihr lauft nicht davon und »gehorcht«? 25 Angesichts einer ›liberalen‹ Staatsmacht, die sich um die Freiheit der Interpretation derart unbesorgt zeigt, steht hermeneutisches Philosophieren notorisch unter dem polemischen Verdacht, ohnehin nichts am Interpretierten ändern zu können und gerade deshalb politisch bedeutungslos oder sogar hinderlich zu sein. Das formulierte Karl Marx in dem prägnanten Satz, die Philosophen hätten die Welt nur verschieden interpretiert, es komme aber darauf an, sie zu verändern. Angesichts der speziellen Ignoranz, die nachweislich in diesem anti-hermeneutischen Satz steckt 26, der Veränderung und Interpretation auf abstrakte Weise gegeneinander ausspielt, mutet es merkwürdig an, dass er uns noch heute an prominenter Stelle, nämlich als Motto der Berliner Humboldt-Universität begegnet. Doch ist der Eindruck schwerlich von der Hand zu weisen, die Hermeneutiker hätten sich, politisch eingeschüchtert oder zahm geworden – jeglichem Ansinnen, ›die bestehenden Verhältnisse‹ zu verändern, absS. 460. Der Autor baut auf eine progressive, narrative (d. h. retrograde) Integration von Interpretationen, die, wenn Charles Taylor Recht hat, am Ende allein durch ihre umfassende, dialektisch gesicherte Plausibilität überzeugen. C. Taylor, Hegel, Frankfurt/M. 1978, S. 290. Anhand von Taylors eigener, hier nicht zur Diskussion stehender Interpretation der Moderne und den ihr innewohnenden Gewaltsamkeiten kann man sich von der Fragwürdigkeit dieses Gedankens überzeugen. 25 I. Kant, »Aufgeklärtheit und ethisch-ästhetischer Ernst Friedrichs II.«, in: B. H. F. Taureck (Hg.), Friedrich der Große und die Aufklärung. Texte und Dokumente, Stuttgart 1986, S. 153 ff. 26 Suggeriert er doch, der Interpretation bedürfe man gar nicht und der Gegensatz von Veränderung und Interpretation sei selbst keine Interpretation. Worauf von hermeneutischer Seite mit Gianni Vattimo repliziert werden könnte, »alles« sei Interpretation, auch deren Leugnung und ein scheinbar keiner Interpretation bedürftiger Begriff der Veränderung. Siehe dazu G. Vattimo, Jenseits der Interpretation. Die Bedeutung der Hermeneutik für die Philosophie, Frankfurt/M. 1997, Kap. I. – Zu Marx’ Diktum vgl. das vorangegangene Kapitel XIII in diesem Band.

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tinent –, bis heute auf ihr akademisches Geschäft beschränkt und dabei vergessen, dass nichts die Welt so sehr verändern kann wie neuartige Arten und Weisen primärer, sekundärer oder tertiärer Interpretation. Wo letztere unterschieden werden, etwa bei Günter Abel 27, fehlt gleichwohl vielfach jeglicher Macht- und Politikbezug, so dass sich eine macht- und politik-indifferente Sprachanalyse mit ihnen befassen kann. Bereits auf der Ebene primärer Interpretationen, wie sie in der Wahrnehmung von etwas als etwas anzutreffen sind, stößt sie allerdings auf Nietzsches Spuren auf Phänomene des »Projizierens, Auswählens, Bevorzugens« (ebd., S. 218). Und auf der Ebene sekundärer und tertiärer Interpretationen diagnostiziert sie miteinander »konfligierende, einander ausschließende und nicht auf eine allen gemeinsame Basis reduzierbare Fürwahrhaltungen« (ebd., S. 336), die sich scheinbar nur mit Macht gegeneinander durchsetzen können. Das geschieht, wie Abel meint, auf dem Wege der Evaluation, die man sich nach dem Vorbild eines wissenschaftlichen Verfahrens auch als eine weitgehend faire vorstellen kann. Gegebenenfalls kann aber auch eine »Klärung der Interpretationsverhältnisse« oder sogar deren Kritik notwendig werden, die bei Abel allerdings nicht als Machtfrage aufgeworfen wird (ebd., S. 178, 487). Zwar taucht bei ihm ein »kamoufliertes Machtwollen« auf, das sich als Nachsicht tarnen kann, doch herrscht in den Regionen der Sprachanalyse zumindest innerhalb der idiomatischen Region derer, für die sie zur wichtigsten, wenn nicht einzig legitimen Praxis der Philosophie überhaupt geworden ist, offenbar ein Klima des Wohlwollens vor, das – von Neil L. Wilson über Willard v. O. Quine bis Donald Davidson – gelegentlich explizit zum Prinzip erhoben wird (vgl. ebd., S. 413, 397). Was auch immer auf den verschiedenen Ebenen der Interpretation strittig sein mag, die »Macht des guten Willens« (Gadamer) wird sich, so die optimistische Grundannahme, demnach doch in jedem Machtkonflikt behaupten und ihn davor bewahren können, in einen bloßen Machtkampf auszuarten. Diese Macht des guten Willens soll sich darin zeigen, »den anderen [sei es ein Text oder wirklich ein Anderer] so stark wie möglich zu machen«. Denn was hätte man auch sonst davon, sich einem Text oder der Rede eines Anderen auszusetzen? Liegt es nicht ganz und gar im eigenen Interesse, sich von bisherigen Interpretationen G. Abel, Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt/M. 1995, S. 14 f.

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(perzeptiven, habituellen und ›aneignenden‹ Deutungen von etwas als etwas; ebd., S. 14 f.) abbringen zu lassen, sofern das als sinnvoll, fruchtbar oder geboten erscheint? Wozu setzt man sich sonst eigens mit Interpretationen als Interpretationen auseinander? So scheint sich die Interpretationsmachtfrage im Zeichen eines principle of charity buchstäblich in Wohlgefallen aufzulösen. Dabei konnte es indessen nicht bleiben, seitdem die Machtfrage von außen an die traditionelle, im deutschsprachigen Raum vor allem durch Gadamer repräsentierte Hermeneutik herangetragen worden ist. Im Laufe der hochgradig politisierten 1960er Jahre ist ihr vermeintlich harmlos-akademisches Prestige nachhaltig entzaubert und ideologiekritisch herausgefordert worden. Unter der Überschrift Hermeneutik und Ideologiekritik wurde sie selbst dem Verdacht ausgesetzt, als politisch scheinbar indifferentes Unternehmen einen freien Blick auf die wirklichen ›Verhältnisse‹ unmöglich zu machen oder sogar ihrerseits Camouflage verdeckter Interessen zu betreiben. So wurde Ideologie-Kritik der Hermeneutik betrieben, die sich als Objekt der Kritik des Ideologievorwurfs bzw. des Vorwurfs der Kritikunfähigkeit erwehren musste. 28 Über Gadamer hinausgehend hat demgegenüber jedoch eine einschneidende, die politischen Provokationen der 1960er Jahre aufnehmende Transformation der Hermeneutik in eine ihrerseits hermeneutische Kritik von Ideologien stattgefunden, wie auf dem Weg von Ricœurs Le Conflit des interpretations (1969) bis hin zu seinen auf das Jahr 1975 zurückgehenden Lectures on Ideology and Utopia deutlich zu erkennen ist. Diese an der Universität von Chicago gehaltenen Vorlesungen machen deutlich, dass der polemische Gegensatz von Hermeneutik und Kritik, der einer (politisch) unkritischen Hermeneutik eine ihrerseits scheinbar auf keinerlei Hermeneutik angewiesene Kritik gegenüberstellte, längst nicht mehr besteht. 29 Die in den 1970er Jahren festzustellende Hinwendung zur Praktischen Philosophie und dann insbesondere zu einem kritischen Verständnis menschlicher Lebensformen (zu deren Verständnis der Text zunächst noch als Modell hatte dienen sollen) hat die Hermeneutik unzweifelhaft mit der Herausforderung konfrontiert, sich im VerVgl. K.-O. Apel et al., Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt/M. 1973. H.-G. Gadamer, P. Ricœur, »The Conflict of Interpretations«, in: R. Bruzina, B. Wilshire (Hg.), Phenomenology. Dialogues and Bridges, New York 1982, S. 299– 320.

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hältnis zu ihnen als kritisch-rekonstruktive auszuweisen, und umgekehrt der politischen Kritik abverlangt, sich zum Kritisierten auf hermeneutisch sensible Art und Weise ins Verhältnis zu setzen. Muss man nicht zuerst verstehen, was man beurteilen oder verurteilen möchte? Kann das Verstehen aber ohne jegliche kritische Distanz vom zu Verstehenden sinnvoll sein? 30 Verdient ein unkritisches Verstehen überhaupt den Titel des Verstehens? Bleibt aber nicht auch ein kritisches Verstehen darauf angewiesen, dass die Aufgabe der Kritik als solche eigens aufgeworfen wird? Und zwar nicht nur als Kritik innerhalb der bestehenden (politischen) Verhältnisse, sondern auch als Kritik dieser Verhältnisse selbst? Dass diese Kritik eben nicht der Prägung durch diese Verhältnisse entgeht 31, dass sie also nicht einen archimedischen Standpunkt außerhalb von ihnen einnehmen kann, beschäftigt die Selbstkritik der Kritik bis heute – bis hin zu Michael Walzers Konzeption einer Situierung des Kritikers in Verhältnissen, von denen er sich gleichwohl distanzieren möchte. 32 So holt eine kritisch sensibilisierte Hermeneutik die hermeneutisch sensibilisierte Kritik gewissermaßen wieder ein: in der Besinnung darauf nämlich, wie auch die kritische Distanzierung von gegebenen Verhältnissen an diese gebunden bleibt. In den um den Zusammenhang bzw. um die innere Zusammengehörigkeit von Hermeneutik und Kritik sich drehenden Diskussionen taucht freilich der Begriff der Macht lange nicht auf, dessen eigentümliche Karriere im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ironischerweise einer gewissen Erschöpfung ideologiekritischer Energien geschuldet war. Vor allem Michel Foucault, der der neueren Diskussion um den Begriff der Macht die wichtigsten Impulse gegeben hat, hat mit ihm keine ›gesellschaftskritischen‹ Absichten mehr 33, Gewiss nicht, wie schon Friedrich Schleiermachers Hermeneutik und Kritik (1838) beweist. Aber es kann keine Rede davon sein, dass Schleiermacher, der sich einer durchgängig traditional geprägten Identität hermeneutisch einschreibt, eine Kritik eben der »sittlichen« Verhältnisse in Betracht gezogen hätte, die ihm die Würde der Tradition verbürgten. Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, Frankfurt/M. 1977, S. 379 ff. 31 Vgl. G. Figal, »Kulturkritik, Aufklärung und hermeneutische Kehre«, in: Der Sinn des Verstehens, Stuttgart 1996, S. 83–100. 32 M. Walzer, Kritik und Gemeinsinn. Drei Wege der Gesellschaftskritik, Berlin 1990. 33 Später hat Foucault bekanntlich bedauert, die Entwicklungen der sog. Kritischen Theorie nicht mehr zur Kenntnis genommen zu haben; vgl. M. Foucault, G. Raulet, »Um welchen Preis sagt die Vernunft die Wahrheit?«, in: Spuren 1 (1983), S. 22–26 und Spuren 2 (1983), S. 38–40. 30

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sondern ein diagnostisches Projekt verfolgt, ohne aber zu einer traditionellen Hermeneutik zurückzukehren, die er sowohl mit seiner Archäologie des Wissens als auch in seinen späteren genealogischen Diskursanalysen rigoros zurückgewiesen hatte. 34 Der innovative Beitrag Foucaults zur Machttheorie liegt weniger darin, wie er die Macht instrumental oder, mit Nietzsche, als einen Ausdruck des Willens gedacht hat 35, als vielmehr darin, sie medial verständlich gemacht zu haben – mit der Folge, dass eine Dimension der Macht nun überall nachweisbar werden konnte. 36 Auf Probleme der Interpretation angewandt, bedeutet das, dass nun jegliches Interpretieren (1–3), Deuten und Auslegen gleichsam einen Machtindex mit sich führt, ohne dass man aber sagen müsste, es gehe in jeglichem Interpretieren (nur) um Macht, d. h. darum, durch Interpretationsmacht ›das Sagen‹ zu haben. Wenn es kein machtfreies Interpretieren gibt, so heißt das nicht, dass es jeglichem Interpretieren nur in diesem Sinne um Macht zu tun sein müsste. Der Machtaspekt einer Interpretation kann schlicht in ihrer beeindruckenden Kraft (dýnamis), in ihrer Salienz und Resonanz liegen, ohne dass es ihr primär oder ausschließlich um Macht gehen müsste. Zwischen Macht als Medium, als Mittel und Ziel sollte man schon unterscheiden, sonst läuft der Nachweis einer universalen Machtdimension, von der auch kein Interpretieren ausgenommen zu denken ist, auf einen vulgären Nietzscheanismus hinaus, nämlich auf die These, einer wie auch immer ›mächtigen‹ Interpretation müsse es um deren Durchsetzung gegen andere Interpretationen gehen; und zwar um nahezu jeden Preis – auch um den Preis, selbst dann vermittels Interpretation ›das Sagen haben‹ zu wollen, wenn man nichts zu sagen hat. In diesem Falle wäre die ›mächtige‹ Interpretation ihrerseits besessen von der Macht; und diese Besessenheit ließe sich ironischerweise als eine Form der Ohnmacht angesichts der Macht beschreiben, von der sie nicht lassen könnte und dürfte. Würde sich eine Interpretation, die nicht darauf aus wäre, sich gegen andere durchDer spätere Titel einer seiner Vorlesungen am Collège de France, »Hermeneutik des Subjekts«, ist denn auch eher ironisch gemeint. Keinesfalls kündigt er eine Rückkehr zu einer Hermeneutik im Sinne Diltheys, Heideggers, Gadamers oder Ricœurs an. 35 M. Foucault, »Nietzsche, die Genealogie, die Historie« [1971], in: ders., Von der Subversion des Wissens, Frankfurt/M. 1987, S. 69–90. 36 Vgl. M. Foucault, »Subjekt und Macht«, in: Schriften in vier Bänden, Bd. IV, 1980– 1988, Frankfurt/M. 2005, S. 269–294, hier: S. 285 ff. 34

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zusetzen, im Konflikt, Kampf oder Krieg der Interpretationen selbst zum Untergang verurteilen? Wäre das der Tod der Interpretation? Können Interpretationen nicht nur dann ›überleben‹, wenn sie über andere Interpretationen den Sieg davontragen? Einen derartigen ›hermeneutischen Darwinismus‹ hat selbst Nietzsche nicht vertreten. 37 Interpretiert man Macht dagegen mit Foucault medial, so folgt aus dem universalen Machtaspekt jeglicher Interpretation in keiner Weise, dass Macht (über andere Interpretationen) auch das Ziel der Interpretation sein muss. Vorläufig wissen wir nur (bzw. verstehen wir jegliches Interpretieren nur so), dass Macht und Interpretation zusammengehören. Das ist nur dann keine triviale These, wenn man weitergehend bedenkt, ob sich daraus Interpretationsmachtkonflikte oder Machtinterpretationskonflikte ergeben. Geraten verschiedene Interpretationen unvermeidlich oder kontingenterweise in Widerstreit oder Widerspruch zueinander, (nur) weil sie jeweils mit einer gewissen Macht (dýnamis, power, Kraft, Stärke, Salienz, Resonanz usw.) einhergehen, die einer anderen Macht ins Gehege kommt? Wenn wir an dieser Stelle die Implikation fernhalten, die besagen würde, dass es in einem solchen Fall wiederum nur darum gehen kann, dass sich eine Interpretation (mit Macht) gegen eine andere durchsetzt, um unter allen Umständen ›das Sagen‹ zu haben – was bedeuten würde, wiederum jegliches Interpretieren als eigentümlich machtbesessen und angesichts dessen ironischerweise ohnmächtig zu beschreiben –, ist zunächst durchaus offen, welche Lage sich aus einem Interpretationsmachtkonflikt ergibt. Keineswegs nur ein ›bloßer‹ Machtkampf, bei dem es gar nicht (primär) um Interpretation und das, was sie in der jeweiligen Sache leistet, sondern doch wieder nur um Macht gehen würde! Zwar suggeriert der eingespielte Gebrauch des Machtbegriffs genau das: wo Macht auf Macht trifft, kann es nur darum gehen, welche sich gegen die jeweils andere durchsetzt. 38 (Komplexere Machtkonstellationen und -geflechte kommen so kaum in den Blick.) Aber wo ein solches ›Gesetz‹ herrscht, schlägt das Streben nach Macht unvermeidlich in Ohnmacht angesichts dieser Dynamik der

37 W. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie. Kontextuelle Interpretation des V. Buchs der Fröhlichen Wissenschaft, Boston, Berlin 2012, S. 23, 212, 389, 407. 38 Als ob es sich um eine Art Zweikampf handeln würde, als ob wir nicht vielfach mit höchst komplexen Verflechtungen von Interpretationsmächten zu tun haben würden, die gegeneinander, aber auch zusammen wirken können.

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Macht um. Nichts als der Sieg über widerstreitende Positionen scheint sie zur Ruhe kommen lassen zu können. Ein solcher Sieg kann indessen niemals endgültig erreicht werden. So bleibt das Streben nach Macht von der Macht selbst besessen, nämlich von ihrem Mangel, von ihrem Nie-genug-sein, von ihrer Endlichkeit in der schlechten Unendlichkeit ihres sich immer von neuem Beweisenmüssens. Von entgegenstehender Macht hätte ein bedingungsloses Streben nach Macht demzufolge nichts Gutes zu erwarten: nur die Drohung einer Niederlage. Für jede Interpretationsmacht würde das bedeuten, sich um ihre eigene endgültige Durchsetzung bemühen zu müssen, wenn es ihr, qua Macht, nolens volens darum gehen muss, sich gegen eine andere Macht, womöglich gegen jede andere Macht, behaupten zu müssen. Im medialen Machtbegriff liegt freilich keine Fatalität dieser Art beschlossen. Er läuft nur darauf hinaus, jeglicher Interpretation, Deutung und Auslegung eine (mehr oder weniger ausgeprägte) Machtdimension zuzuschreiben, nicht aber eine krypto-teleologische Bestimmung der Ausübung von Macht, die uns zur Macht-Besessenheit geradezu verurteilen würde. Wenn eine gewisse Interpretationsmacht mit einer anderen Interpretationsmacht konfligiert, so heißt das nicht, dass beide gegeneinander kämpfen müssten, um ›das Sagen‹ zu haben, sei es mit Mitteln machtvoller Interpretation, sei es mit Mitteln interpretativer Macht. Welche Spielräume verbleiben, wo ein solcher Fall vorliegt, darüber müsste eine Interpretationsmachttheorie aufklären können, die Macht und Interpretation auseinanderhält, nicht aufeinander reduziert und doch quasi chiasmatisch miteinander verschränkt zu denken hätte, wenn es denn stimmt, dass es keine absolut macht-indifferente Interpretation und keine ganz und gar interpretationsfreie Macht geben kann. 39 Eine solche Theorie wird beide Reduktionismen vermeiden, die im Grunde obsolet sind, seitdem Macht hermeneutisch und die Hermeneutik machtkritisch bedacht worden sind: sowohl eine Reduktion, die besagen würde, im Grunde lasse sich jeglicher Konflikt zwischen InterpretaSo wenig übrigens, wie es ein ›reines‹ Reden ›von der Sache‹ ohne die geringste Spur von Anmaßung geben kann. Liegt eine solche (unvermeidliche) Anmaßung nicht allein schon darin, das Wort zu ergreifen, ohne sich der Berechtigung dazu vorher eigens zu versichern? Wie aber kann man je anders das Wort ergreifen, wenn man nicht ›das Sagen‹ hat und darauf angewiesen ist, sich erst einmal Gehör zu verschaffen? Diesen Fragen hat sich v. a. Rancière in seiner Politischen Theorie gewidmet, ohne allerdings Hermeneutik zu betreiben.

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tionen auf ›nichts als‹ Machtkonflikte zurückführen, als auch eine Reduktion, die umgekehrt besagen würde, im Grunde komme es auch in Machtkonflikten nur darauf an, wer, wie und was (unterschiedlich) interpretiert (wird). Stattdessen sagen wir: jede Gegen-Interpretation wird als solche einen Machtaspekt aufweisen müssen; aber das heißt nicht, dass es ihr allein um Macht zu tun sein müsste; und ebenso wenig, dass sie allein qua Interpretation sich durchsetzen könnte – oder dass es überhaupt darum gehen muss. Warum sollte nicht der Verzicht auf hegemoniale Durchsetzung viel überzeugender sein? Warum sollte nicht die Suspendierung eines Machtkampfs den Gegner dazu bewegen können, ebenfalls von ihm abzulassen und sich von einem angeblichen Verurteiltsein zum Streben nach mehr Macht und letztlich von jeglicher Macht-Besessenheit zu befreien? Könnte es nicht sein, dass man einander am Ende dankbar dafür wäre, keinen Machtkampf fortsetzen zu müssen? Carl Schmitt, der in diesen Dingen unüberbietbar Bescheid zu wissen meinte, schrieb in seiner Erörterung des Begriffs des Politischen, wer seinen Gegner durch Widerstandslosigkeit (in Frage käme auch: durch weniger energische Vorbereitung für den ›Ernstfall‹, durch Nachgiebigkeit oder Friedfertigkeit) auch nur glaube rühren zu können, habe schon verloren. 40 Der Theoretiker des Politischen konnte sich beim besten Willen nichts anderes vorstellen, als dass der Gegner oder Feind die eigenen, im Grunde paranoiden Befürchtungen umgehend bestätigen müsste, wenn man einmal davon abgesehen hat, ihn in Schach zu halten oder zu bedrohen. Muss das Gleiche für konfligierende Interpretationsmächte gelten? Muss sich eine gegen die andere(n) mit Macht durchzusetzen versuchen, um nicht ihrerseits ins Hintertreffen zu geraten? Und muss sie das notfalls mit anderen als interpretativen (unter Umständen auch unlauteren) Mitteln zu tun versuchen? Oder schadet ihr am Ende nichts mehr als gerade das? Diese Fragen werden nicht zu beantworten sein, solange man heterogene Interpretationsmächte wie Gespenster auf einer imaginären Bühne ihren Konflikt miteinander austragen lässt, ohne in Rechnung zu stellen, für wen was auf dem Spiel steht im mehr oder weniger machtvollen Konflikt der Interpretationen. Selbst wenn es stimmen sollte, dass wir im Grunde nur »self-interpreting« oder 40

C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin 61996, S. 53.

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»speech-act performing animals« 41 sind, wie Charles Taylor und John R. Searle behaupten, es muss allemal jemanden geben, der oder die interpretiert (wird), Interpretationen auf sich und Andere anwendet (oder auf sich und Andere angewandt findet) und dabei die Erfahrung einer Macht durchmacht, die gerade im Konflikt überhaupt erst als fragwürdige hervortritt. Solange Macht nur wirkt und allenfalls auf geringen Widerstand stößt, hinterlässt sie nichts als gewisse Spuren, hält sich aber weitgehend im Unsichtbaren und nicht Einsehbaren. Sobald sie aber auf deutlichen Widerstand stößt, muss sie sich in wie auch immer euphemistisch beschönigter, verkannter oder ideologisch verzerrter Form als Macht zu erkennen geben. Um verstehen zu können, was es mit Interpretations- bzw. Deutungsmachtkonflikten auf sich hat, muss man tatsächlich vom Widerstand ausgehen, den sie hervorrufen, sei es zunächst auch nur in schwacher, kaum öffentlich sichtbarer Form. Erst der Widerstand gegen eine Interpretationsmacht, der nach einer Gegen-Interpretation und GegenMacht, nach einer Gegeninterpretationsmacht oder nach einer Interpretationsgegenmacht verlangt, führt seinerseits auf die Spur dessen, was im Konflikt der Interpretationen nicht bloß hermeneutisches Spiel, polemisches Wortgefecht und agonaler oder antagonistischer Streitfall ist. Im Folgenden gehe ich zu einer konkreten Beschreibung eines solchen, bislang schwach artikulierten Widerstands über, um deutlich zu machen, worin im Fall menschlicher Generativität die Brisanz eines Interpretationsmachtkonflikts liegt, der sich keineswegs in gewöhnlichem Streit, im agonalen Konflikt oder antagonistischen Kampf gegensätzlicher Parteien erschöpft. Im Verständnis menschlicher Generativität steht nämlich nicht nur ein Gegner, mit dem man sich auseinandersetzt, sondern jeder selbst mit auf dem Spiel. Aber so, dass mit einem bloßen Machtkampf gar nichts auszurichten ist, geht es in der menschlichen Generativität doch zentral um die Erfahrung einer primordialen Entmächtigung, die allerdings vor rhetorischer Aneignung nicht sicher ist. Paradoxerweise hat sich gerade dieser Erfahrung in jüngster Zeit eine fragwürdige Interpretationsmacht bemächtigt, die für sich in Anspruch nimmt, nur zu zeigen, wie uns ›das Leben‹ bestimmt. Aber redet man uns auf diese Weise C. Taylor, »Responsibility for Self«, in: A. O. Rorty (ed.), The Identities of Persons, Berkeley 1976, S. 281–300; J. R. Searle, Making the Social World. The Structure of Human Civilization, Oxford 2010, S. 189.

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nicht eine bestimmte Deutung des Lebens ein? Und zwar mit einer (Interpretations-)Macht, die sich als solche ironischerweise genau in dem Maße unkenntlich zu machen droht, wie sie nur aufzuweisen scheint, was der Fall ist? Fraglich ist allerdings, ob es sich hier um den eindeutigen Fall einer sich auf diesem Gebiet ›das Sagen‹ anmaßenden Interpretationsmacht handelt. Denn es gibt reichlich Hinweise darauf, dass man ihr diese Macht zugeschrieben und überlassen hat.

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Generativität in ›diachroner‹ Perspektive

Was es mit menschlicher Generativität auf sich hat, wird bei Aristoteles auf die denkbar knappste, bis heute oft zitierte und selbst bei François Jacob mit dem aktuellen Stand der Biologie kurzgeschlossene Formel gebracht: anthropôs anthrôpon genna – der Mensch zeugt einen Menschen 42, was ein wenig ungenau ist. Tatsächlich zeugen normalerweise zwei heterosexuelle Menschen einen Dritten, ob unmittelbar in einem nicht technisch vermittelten Verhältnis oder vermittels gewisser bio-medizinischer Verfahren, wie sie heute möglich sind. Alle in diesen Kontext gehörenden Verfahren (In-vitro-Fertilisation, künstliche Befruchtung, Klonen) stellen Variationen eines im Kern triadischen, heterosexuellen Geschehens dar, dessen einzelne Momente (Sexualität und Fortpflanzung, Zeugung, Schwangerschaft, Elternschaft und Erziehung etc.) heute allerdings weitgehend voneinander entkoppelt werden können, ohne dass sich eine klare Grenze abzeichnen würde, jenseits deren von Generativität im ursprünglichen Sinne nicht mehr die Rede sein kann. Aber was heißt eigentlich ›Generativität im ursprünglichen Sinne‹ ? Ist Natürlichkeit desjenigen Geschehens gemeint, in dem sich in Jahrtausenden, bevor die modernen bio-technischen Verfahren möglich geworden sind, die menschliche Fortpflanzung vollzogen hat? Und meint man, eben diese Natürlichkeit sei als maßgebende zu verstehen, also so, dass sie den Rahmen vorgibt, in dem sich menschliche Generativität vollziehen sollte? 43 Bei näherem Hinsehen erweiAristoteles, Metaphysik, Buch Z, Abschnitt 8 (1033 b, 1034 a). Vgl. die vier Bedeutungen des Naturbegriffs bei M. C. Nussbaum, Konstruktionen der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge, Stuttgart 2002, S. 166 f. Wie weit man sich inzwischen von jener unterstellten Natürlichkeit entfernt hat, zeigt ein Vergleich mit 42 43

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sen sich diese Annahmen rasch als problematisch, als unhaltbar oder sogar als skandalös. War die sogenannte natürliche Fortpflanzung, in der Form, wie sie in der menschlichen Gattungsgeschichte Jahrtausende lang vorgeherrscht haben mag, nicht vielfach eine brutale Angelegenheit, zumal für die Frauen und ungezählte Kinder, die nur wenige Tage, Wochen oder Monate ihres kümmerlichen Lebens überlebt haben, wenn sie nicht sofort ausgesetzt worden sind? Ist das Wort Fortpflanzung nicht ein grotesker Euphemismus? Suggeriert es nicht höchst fragwürdige Analogien? Die Menschheit ist kein Wald und der Einzelne weder ein Baum noch sonst irgendein Gewächs oder ein Mitglied der Fauna. 44 Gewiss kann man Analogien zur Fortpflanzung in der Natur herstellen. Aber dabei handelt es sich allemal um ein Verstehen von etwas (menschlicher Generativität) als (Fortpflanzung, Vermehrung, Reproduktion). Etwas wird also als etwas (anderes) bzw. nach dem Vorbild von etwas anderem verstanden, aufgefasst usw. Und in diesem ›als‹ liegt eine untilgbare hermeneutische Differenz, die nicht durch eine umstandslose Identifikation von Generativität und ›natürlicher‹ Fortpflanzung etwa zu beseitigen ist. 45 Auch nicht mit dem fadenscheinigen Argument, als ihrerseits natürlich entstandene Lebewesen müssten sich die Menschen ursprünglich ebenfalls auf natürliche Art und Weise fortgepflanzt haben und dabei müsse es bis auf weiteres auch bleiben. Denn was sollte die Menschen dazu zwingen, auf die Bedingungen ihrer ›natürlichen‹ Entstehung ein für alle Mal festgelegt oder ihnen verpflichtet zu bleiben? Und was spricht überhaupt dafür, dass man ›ursprünglich‹ oder ›von Natur aus‹ das richtige und angemessene oder wahre Verständnis menschlicher Generativität gehabt haben soll? Apriori gar nichts. aktuellen Positionen wie der von Donna Haraway u. a., die nur noch von der (menschlichen) Reproduktion von Cyborgs (also von Hybriden aus Maschine und Organismus) sprechen. Die Rede ist von »natural born Cyborgs« (Andy Clark); vgl. H. Schmidgen, »Cyborg Vision. Über eine Konfiguration zwischen Historischer Epistemologie, Wissenschaftsforschung und Medienwissenschaft«, in: A. Deuber-Mankowsky, C. F. E. Holzhey (Hg.), Situiertes Wissen. Regionale Epistemologie. Zur Aktualität Georges Canguilhems und Donna J. Haraways, Wien, Berlin 2013, S. 51–85, hier: S. 57, 62. 44 E. Levinas, Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt/M. 1992, S. 36. 45 Vgl. Vf., »Leib und Leben. Im Blick der Phänomenologie (Maurice Merleau-Ponty) und der Epistemologie (Georges Canguilhem)«, in: S. Schaede, G. Hartung, T. Kleffmann (Hg.), Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Band 2, Tübingen 2012, S. 463–492.

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Viel näher liegt es, anzunehmen, dass die Menschen, die sich fortgepflanzt und vermehrt haben, anfangs überhaupt kein angemessenes Verständnis der dabei beteiligten Vorgänge hatten. Das betrifft nicht nur ihre physische Fruchtbarkeit und deren tief im Innern menschlicher Leiblichkeit verborgenen Bedingungen, sondern auch die Folgen ihrer Vermehrung; und zwar bis heute, wie an der drohenden Überbevölkerung des Planeten Erde unverkennbar ist. Erst nach und nach, im Laufe einer langen, verworrenen Geschichte, die keinesfalls in bloßer Naturgeschichte aufgeht, sind sich die Menschen offenbar dessen bewusst geworden, was es in diesem Zusammenhang überhaupt heißt, nach einem angemessenen Verständnis ihrer Generativität zu fragen. 46 Angemessen woran aber? Woran hätte man hier Maß zu nehmen? Maß – auch das ist ein ursprünglich griechischer Begriff (métron), der uns ebenso wie die Begriffe Geburt, Herkunft (genea, geneté), Ursprung, Entstehung (génesis), Zeugung, Abstammung (gónos oder goné), werden, entstehen, geboren bzw. gezeugt werden (genésthai oder gígnomai) nahelegt, in Sachen Generativität weiterhin ›Griechisch‹ zu reden und zu schreiben 47; so als hätte sich in der Zwischenzeit gar nichts getan, was zu einer radikalen Revision der mit diesen Etymologien vielfach unerkannt mitgeschleppten Konzepte einladen oder zwingen würde. Dabei besteht zumal im Lichte der modernen Reproduktionstechnologien längst Grund zu dem Verdacht, dass wir in dieser Hinsicht mit unserem Griechisch und Latein am Ende sind – ohne dass sich aber ohne weiteres neue, bessere Idiome abzeichnen würden, um verständlich zu machen, was menschliche Generativität bedeutet. Inzwischen aufgekommene spezifische Zweifel am von der überlieferten Etymologie, Begriffs- und Ideengeschichte suggerierten Verständnis menschlicher Generativität lassen sich in die Form der folgenden Fragen 48 fassen: Zeugt der Mensch einen Menschen – oder

Vgl. E. Fink, Grundphänomene des menschlichen Daseins, Freiburg i. Br., München 1979, S. 326 ff. 47 Vgl. S. Weigel, Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften, München 2006, S. 23; sowie E. Topitsch, Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, München 1972, der auf die bio-sozio-morphen Strukturen griechisch-genealogischen Denkens aufmerksam macht. 48 Bei näherem Hinsehen wird man feststellen, dass sie sich als miteinander verflochten erweisen und analytisch nicht streng zu trennen sind. Ein Versuch, sie zu systematisieren, würde den hier verfügbaren Rahmen sprengen. 46

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zeugen zwei heterosexuelle Menschen eine(n) Andere(n), Dritte(n)? 49 Zeugen sie ihn/sie im Sinne einer Genesis des Gleichartigen, aber nicht Identischen, wie Aristoteles meinte – oder ist mit der gleichen ›Art‹ (génos) noch gar nicht erfasst, inwiefern sich die oder der Dritte in ihrer/seiner Differenz als Andere(r) erweist? Fundiert die Zeugung die Gattung im Sinne einer äußerlichen Aneinanderreihung der Gezeugten, so dass man nacheinander zu leben hat – oder gehen letztere aus Anderen hervor, um sich ihnen gegenüber als different und womöglich als fremd zu erweisen? 50 Handelt es sich bei menschlicher Generativität um eine produktive »Herstellung des Ähnlichen« durch ein »Vermögen, seinesgleichen hervorzubringen« (faculté de produire son semblable), wie François Jacob, die Encyclopédie Jean le R. d’Alemberts und Denis Diderots zitierend, sagt – oder entzieht sich die Ander(s)heit der Gezeugten jeglicher Technik, mit der man Nachkommen ›produzieren‹ könnte? 51 Kann man die verlässliche Herstellung von Seinesgleichen derart optimieren, dass bis auf wenige Ausnahmen auch das künftige Dasein von Anderen mittels eines effektiven vorgreifenden Wissens als produzierbar gelten dürfte – oder entziehen sich Andere als Andere solchem Wissen? Liegt darin ein Mangel an generativer Kompetenz, den man möglichst zu beheben versuchen sollte – oder sollten wir den Entzug des Anderen als einen nicht-privativen denken, d. h. so, dass menschliche Generativität ihren Sinn nur im Verhältnis zu diesem Entzug gewinnt? Liegt dieser Sinn lediglich in einer Ersetzung Vorangegangener, die ihre Nachkommen erzeugen, dann in das soziale Leben aufnehmen (ggf. durch formelle Initiation), sie erziehen, mit überliefertem Wissen konfrontieren, als rechtliche Mitglieder einer Gesellschaft instituieren, ihnen einen Status zuweisen und Aufgaben und Funktionen vom ökonomischen Leben bis hin zur Versorgung der Alten und der Bestattungs- und Memorialkultur delegieren, um eine fortlaufende gesellschaftliche Reproduktion oder auch »das Fort- und Nachleben des Vgl. Levinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 308 ff. Vgl. O. Parnes, U. Vedder, S. Willer, Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt/M. 2008, S. 32 ff. 51 Vgl. Jacob, Die Logik des Lebenden, S. 81; Parnes, U. Vedder, S. Willer, Das Konzept der Generation, S. 60 ff., 80, 131. Zitiert wurde aus dem Artikel »Génération« in: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers von J. le R. d’Alembert und D. Diderot, 1re éd., 1757, t. 7, S. 558–574. Auf diesen Artikel stützen sich auch S. Willer, S. Weigel, B. Jussen et al. (Hg.), Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur, Berlin 2013. 49 50

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Eigenen nach dem Tod in einer säkularen Kultur« sicherzustellen? 52 Oder öffnet sich menschliche Generativität in einem geschichtlichen Leben von Anderen her und auf Andere hin deren eigener Zeit, ohne ihr vorgreifen oder sie vergegenwärtigen zu können? 53 Wird die menschliche Generativität, durch die das Vor- und Nachleben füreinander Anderer und Fremder Gestalt annimmt, durch Gesetze des Erbens, der Weitergabe und der Überlieferung strukturiert, die »sich in der Zeit abspielen« 54 – oder müssen wir sie einer unverfügbaren Dia-Chronie des Lebens Anderer überantwortet begreifen, die weder biologisch noch geschichtlich determinierbar ist und im Ablauf einer objektiven Zeitlichkeit gar nicht aufgeht? 55 Reduziert sich diese DiaChronie darauf, dass Einzelne und Generationen nacheinander leben, so dass sie normalerweise auch in der entsprechenden Reihenfolge wegsterben? Wird in einem solchen Verständnis letztlich »Diachronie also auf Demografie reduziert«; und zwar in einem bloß chronologischen Sinne? 56 Oder spielt sich die Dia-Chronie als die Zeit des Anderen nicht einfach objektiv parallel zu unserer eigenen, vorher oder nachher wie eine verrinnende Frist ›ablaufenden‹ Zeit ab? Im Gegensatz zur Zeugung eines Menschen durch Menschen (Aristoteles) nehmen wir heute an, dass dieser Prozess in unvorhersehbare Lebenswege eines künftigen Selbst mündet 57, das erst zu jemandem werden wird, um später aus sich heraus zu leben; und zwar von den Anderen her, denen es (wie zwiespältig auch immer) sein Leben zu verdanken hat – und auf Andere hin, die es überleben werden. Darin – und nicht im Kriterium einer Fruchtbarkeit, die darauf beruhen soll, dass Wesen miteinander fruchtbare Nachkommen zeugen können (wie es die von Kant übernommene Buffon’sche Regel besagte) 58 – liegt heute das Mindeste, was wir über die menschliche Generativität sagen können. Hier ist das Mindeste aber gerade das am Weigel, Genea-Logik, S. 63. E. Levinas, Die Zeit und der Andere, Hamburg 1984. 54 Willer, Weigel, Jussen, Erbe, S. 35. 55 Zum Diachroniebegriff vgl. Vf., »Im Vorübergehen. Tod(e) und Bild(er): Diachronie des Anderen und Regimes des Sichtbaren«, in: P. Stoellger, J. Wolff (Hg.), Bild und Tod. Bild und Tod. Bd. II. Zu einer Grundfrage der Bildanthropologie, Tübingen 2016, S. 665–696. 56 Weigel, Genea-Logik, S. 96, 122. 57 Vgl. H. Markl, »Freiheit, Verantwortung, Menschenwürde. Warum Lebenswissenschaften mehr sind als Biologie«, in: C. Geyer (Hg.), Biopolitik. Die Positionen, Frankfurt/M. 2001, S. 177–193, hier: S. 187. 58 Vgl. Kant, »Von den verschiedenen Rassen der Menschen«, in: Werkausgabe Bd. XI 52 53

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schwersten zu Begreifende und nicht etwa etwas Triviales, Selbstverständliches. Doch sind wir auf dem Weg einer ganzen Reihe mehr oder weniger bestimmter Negationen dahin gelangt, uns mit keinem technischen, autogenerativen, gender-indifferenten Modell der Erzeugung von bloß nacheinander Lebenden gleicher Art (also von Seinesgleichen) mehr abfinden zu können. Deshalb kann uns auch keine der irdischen Fauna abgeschaute sogenannte Fortpflanzung und deren biologisch optimierte Fitness 59 mehr als theoretische Orientierung dienen. Es mag sein, wie Aristoteles meinte, dass das Werden der Lebewesen ihr Vergehen als Kehrseite hat und dass der generatio die corruptio unweigerlich nicht nur auf dem Fuße folgt, sondern von Anfang an schon innewohnt. Und davon kann sich auch die menschliche Gattung nicht ohne weiteres ausnehmen. Denn auch Menschen können durchaus als Lebewesen aufgefasst werden. Aber darum sind sie noch lange nicht bloße Lebewesen und nichts als das. Die Haut mag altern und welken wie trockenes Laub. Aber das heißt nicht, dass ein alternder Mensch schlicht nur vergeht. Er folgt auch Anderen nach oder geht ihnen voraus. 60 Und sein/ihr Leben vollzieht sich im Vorübergehen und als Vorübergehen an Anderen, ihrerseits Vorübergehenden, deren Leben ebenfalls nicht bloß abläuft oder vergeht wie das Leben einer Pflanze, die verwelkt und schließlich abstirbt. So ›klar‹ das auf den ersten Blick zu sein scheint, so zäh behaupten sich Konzeptionen menschlicher Generativität, die einem angemessenen Verständnis eines zwischen Andere eingefügten, zwischenzeitlichen Lebens – seiner Entstehung aus Anderen und seiner Auslieferung an Andere, die es überleben werden – im Wege stehen. Das gilt für alle Theorien von Aristoteles’ Schrift Über Werden und Vergehen 61 bis hin zu modernen Theorien biologischen Lebens, die es – einschließlich des menschlichen – primär als einen Reproduktionsvorgang auffassen und unter dieser Voraussetzung Prozesse epigenetischer Produktion, der Selbsterhaltung, generativer Fruchtbarkeit (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, S. 7–30, hier: S. 11; vgl. W. Lefèvre, Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie, Frankfurt/M. 2009, S. 45, 139. 59 Vgl. E. Voland (Hg.), Fortpflanzung: Natur und Kultur im Wechselspiel. Versuch eines Dialogs zwischen Biologen und Sozialwissenschaftlern, Frankfurt/M. 1992. 60 Vgl. A. Schütz, T. Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Bd. 2, Frankfurt/M. 1984, Kap. VI, 4. 61 Aristoteles, Über Werden und Vergehen. De generatione et corruptione (griech./ dt.), Hamburg 2011.

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und evolutionärer Modifikation beschreiben – wobei ihnen aber ironischerweise die menschliche Generativität selbst als der Prozess des Hervorgehens aus dem – und des Übergehens in das – Leben Anderer aus dem Blick gerät. 62 Der Prozess der Reproduktion kommt dabei in einer schillernden Vielfalt von Metaphorisierungen zur Sprache. So wird die DNS, die ihn bio-chemisch steuert, wahlweise zum weitergegebenen »Erbgut« oder auch zum »Code«, zur »Information« oder auch zum »Text«, nach dessen Vorbild man wiederum die Lesbarkeit von Geschriebenem neu zu verstehen versuchen kann. 63 Inwiefern sich solche und andere Metaphorisierungen zu fruchtbarem katachrestischem Gebrauch anbieten und wo sie in schieren Missbrauch umschlagen, wo sie noch »lebendig« (Ricœur) und wo sie bereits »tot« sind, ist weitgehend unklar, so dass es ratsam erscheint, auf negative bzw. negativistische Art und Weise nach Antworten auf diese Frage zu suchen. 64 Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang, wie weitgehend neuere Untersuchungen zur Wissenschafts- und Kulturgeschichte des Generationenbegriffs ohne jegliche Berücksichtigung der menschlichen Generativität selbst auszukommen meinen. So wird gerade dasjenige Geschehen, das durch generatio (Zeugung) überhaupt erst Generationen zeitigen kann, wiederum geradezu unkenntlich. Dabei ist es die Generativität, die gewissermaßen den chiasmatischen Ort der Überkreuzung von Natur und Kultur, Biologie und Geschichte, verkörpertem gegenwärtigem und künftigem Leben darstellt. Um das denken zu können, muss man aber die leibliche Existenz generativer Wesen in Betracht ziehen. Und diese Existenz ist zunächst nicht ein Gegenstand diverser Epistemologien all jener Wissensformen, die sich ihrer zu bemächtigen versuchen, sondern Aufgabe einer Phänomenologie generativer, existenzieller Erfahrung, die allerdings ihrerseits diesen Wissensformen vielfach ausgesetzt ist und sich nach ihnen richtet (s. u.). 63 L. E. Kay, Das Buch des Lebens. Wer schrieb den genetischen Code?, Frankfurt/M. 2005; Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, S. 376. Hier wird der kausale Determinismus, wie ihn Pierre-Simon Laplace seiner Fiktion einer dämonischen Weltintelligenz zugrunde gelegt hatte, mit der Vorstellung einer Lesbarkeit des genetischen Codes (als eines Textes) so kombiniert, dass idealiter jedes »Endprodukt« einer Ontogenese als voraussagbar erscheint. So werde aber Lesbarkeit dorthin projiziert, »wo es nichts Hinterlassenes, nichts Aufgegebenes gibt«. Auch hier wird die Ontogenese überhaupt nicht mehr in einem triadischen generativen Verhältnis situiert. Vielleicht erklärt das, warum es »nichts als Wehmut« verrät, in biologisch-generativen Strukturen so etwas wie deren Sinn finden zu wollen (S. 409). 64 Vielleicht teilen die zwischen Biologie, Soziologie, Psychologie und Philosophie changierenden Diskurse über die Generation nur das allgemeine Schicksal einer Metaphorisierung, die die Sprache ganz und gar erfasst hat und keinen Vergleich mit einer ›eigentlichen‹ Bedeutung des Generativen zulässt; siehe dazu P. Ricœur, Die lebendige Metapher, München 1986; J. Derrida, »Der Entzug der Metapher«, in: V. Bohn (Hg.), Romantik. Literatur und Philosophie, Frankfurt/M. 1987, S. 317–355. 62

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Wieso können oder sollten wir uns etwa nicht als algorithmisch determinierte, Informationen verarbeitende Systeme begreifen, die sich nach der »Sprache der Zellen« und nach einer »Grammatik der Biologie« (Erwin Chargaff) zu richten haben, um deren Programm im Zuge einer Weitergabe des Geerbten abzuwickeln? 65 Wieso können oder sollten wir uns nicht als bloße Zwischenstationen des Lebens begreifen, das angeblich nur dort stattfindet, wo Epigenese und Evolution möglich sind, die Gene und Mneme 66 über alle Lebewesen hinweg, die ihren Tod vergeblich hinauszuzögern versuchen, einer unbekannten Zukunft zuträgt? Und wieso sollte man nicht jedes neue Leben in diesem Sinne auf einen »Akt der Übertragung und Weitergabe« zurückführen? 67 Auf »eine Weitergabe wovon? Auf welchen Wegen? Und nach welchen Regeln erfolgt die Ökonomie eines solchen Transfers?« 68 Handelt es sich um ein ganz und gar anonymes Geben ohne gebende Subjekte und ohne Empfänger, die sich für Gegebenes dankbar zu erweisen hätten? Wird biologisch Weitergegebenes (ggf. genetisch codierte Information) also gar nicht als Gabe gegeben? Führt uns die Semantik der Erbschaft nicht in die Irre? 69 Zehrt sie parasitär von einem Vorverständnis menschlicher Generativität, von dem die life sciences kaum mehr eine Spur verraten? Umgekehrt drängt sich die Frage auf, ob Ältere den Jüngeren nicht viel mehr ›weitergeben‹, als ihnen je in ausdrücklichen Akten des Gebens bewusst sein kann. Wo anders als am Leib der Nachkommen, d. h. auch: nachträglich, sollte sich das – wenn auch in Formen unbewusster Wiederholung des Vergangenen – abzeichnen können? Wenn es überhaupt ein Schnittfeld von Biologisch-Kausalem und Vgl. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, S. 380; Weigel, Genea-Logik, S. 251 f., 258. 66 R. W. Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, Leipzig 1904. 67 Noch in aktuellen Diskussionen des Generationenbegriffs liest man, Vererbung sei »eine Gabe, die von jedem Organismus weitergetragen« werde (als ob Organismen Anderen etwas im emphatischen Sinne des Wortes geben könnten); umgekehrt werde aber auch das »als etwas Gegebenes« vorgefundene »Kapital« vorangegangener Generationen ererbt oder vererbt wie eine natürliche Veranlagung. Parnes et al., Das Konzept der Generation, S. 207. 68 Ebd., S. 203. 69 Vgl. Vf., »Überlieferung als Versprechen. Rudimente einer Ethik des weitergegebenen Wortes in der gegenwärtigen Phänomenologie und Hermeneutik«, in: M. Fischer, H.-D. Gondek, B. Liebsch (Hg.), Vernunft im Zeichen des Fremden. Zur Philosophie von Bernhard Waldenfels, Frankfurt/M. 2001, S. 304–344. 65

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Historisch-Sozialem gibt, dann ist es hier zu vermuten: in der leiblichen Existenz derer, die aus dem Leben Anderer hervorgegangen sind und die sich als Adressaten und Empfänger von Gegebenem begreifen können. Wie auch immer man das Hervorgehen als ›produktives‹ näherhin verstehen mag: es wird sich niemals um einen durchgängig technischen bzw. technisierbaren Prozess handeln können, wenn aus ihm Andere hervorgehen, deren Anderheit sich jeglichem theoretischen und praktischen Zugriff entzieht. In ihrer leiblichen Existenz aber werden Spätere die Auswirkungen eines ›Erbes‹ zu gewärtigen haben, das sich ihnen niemals von vornherein eindeutig als biologisch-kausales oder als historisch-soziales darstellt. Ob es als bloße Wirkung oder, emphatisch, als Gabe zu verstehen ist, gibt gleichfalls nichts Geerbtes oder Vererbtes ohne weiteres von sich aus zu erkennen. 70 Allemal sind es die Nachkommen selbst, in deren leibhaftigem Leben sich überhaupt erst der Sinn einer Generativität enthüllen kann, die sich niemals in der Zugehörigkeit zu einer Generation erschöpft. Als Generation begegnet uns in den vielfach polemischen Diskussionen um Generationenbrüche, -konflikte, -verträge und -gerechtigkeit eine scheinbar fertige Ausprägung menschlicher Generativität, die in einem fortlaufenden Prozess nicht nur »Neues für die Gebenden und die Nehmenden entstehen lässt« 71, sondern Andere hervorbringt, die sich aus ihrem eigenen, selbst gelebten Leben nur nachträglich dazu werden verhalten können, was als Auswirkung auf oder als Gabe für ihr Leben zu verstehen ist. Hier interessiert dabei weniger, wie sie »ihren Umgang mit Geburt und Tod organisieren«, indem sie bspw. eine auf Generationen zugeschnittene Sozialpolitik betreiben, sondern was sich zwischen uns abspielt, die wir generative Subjekte sind. Und zwar im doppelten Sinne: Wir sind als ›generierte‹ Subjekte der Generativität unterworfen, indem wir nolens volens unser Leben von Anderen her zu leben haben; auch dann, wenn unsere Verhältnisse zu ihnen von Indifferenz, Ablehnung oder Hass geprägt sind. Als begehrende Subjekte sind wir zugleich einem Leben auf Andere hin unterworfen, deren Leben aus dem unsrigen hervorgehen wird. Entscheidend ist dabei, ob die Generativität nur als eine ›natürliche‹ oder im Sinne der physischen Abstammung ›leibliche‹ zu verstehen ist. Menschliches Leben geht auf vielfache Art und Weise 70 71

Streng genommen gilt das sogar für ausdrücklich Weitergegebenes. Parnes et al., Das Konzept der Generation, S. 310.

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aus dem Leben Anderer hervor – und dabei spielen nachträgliche geschichtliche Wahlverwandtschaften nicht die geringste Rolle. Ebenso vielfältig gestalten sich die Arten und Weisen des Übergangs in das Leben Anderer, die uns überleben werden. Es ist höchste Zeit, sich von einem naturalistischen Verständnis menschlicher Fruchtbarkeit zu verabschieden, das seinen Kern in bloßer Fortpflanzung hat und suggeriert, sie determiniere, wer uns als Angehöriger, Verwandter, ethnischer Genosse, als Vor- oder Nachfahre nahesteht (so dass die Nähe mit einem geringeren Verwandtschaftsgrad zwangsläufig abnehmen müsste). 72 Genau umgekehrt verhält es sich: gelebte Nähe begründet die Generativität in Lebensformen, die im konventionellen Sinne des Wortes auf Verwandtschaft gegründet sein können, aber nicht müssen. Tatsächlich verrät die leibliche Verwandtschaft den Sinn menschlicher Generativität nur allzu oft. Und die bedrohlichsten Gewalttäter finden sich in aller Regel im unmittelbaren familiären Umfeld der Opfer. In der Verwandtschaft im Sinne leiblicher Abstammung liegt gewiss eine eminente Herausforderung, diesen Sinn tatsächlich einzulösen. Aber was sollte dagegen sprechen, jene Nähe in Lebensformen zu realisieren, die nicht auf heterosexueller Elternschaft und nicht auf genealogischer Verwandtschaft beruhen? Ich meine: nichts. 73 Wo immer bestimmte Formen der Nähe in geteiltem Leben das Leben Anderer im Übergang aus dem Leben Vorangegangener und in das Leben von Nachfolgenden möglich machen, zeigt sich der Sinn menschlicher Generativität, der so gesehen von jeglichen Vorstellungen der Abstammung, der sog. Blutsverwandtschaft und der angeblich in ihr begründeten Zugehörigkeit abzulösen ist. Das hat nun auch zur Folge, dass man sich von jeglicher Diskriminierung ›unfruchtbaren‹, weil angeblich zur Generativität nicht fähigen Lebens verabschieden sollte. Fruchtbar ist menschliches Leben nicht, weil es sich fortpflanzt und auf diese Weise reproduziert und vermehrt (wodurch es nur ein populationstheoretisches bzw. statistisches Kriterium erfüllen würde). Fruchtbar ist es vielmehr, insofern es ein Leben im A. Lange, F. Lettke, »Schrumpfung, Erweiterung, Diversität. Konzepte zur Analyse von Familie und Generation«, in: dies. (Hg.), Generationen und Familien, S. 14–43, hier: S. 34. 73 Man denke nur an Formen der Pflegschaft oder der Adoption, die nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis in keiner Weise als sekundär gegenüber üblichen Familienverhältnissen zu betrachten sind. 72

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Übergang von Anderen her und auf Andere hin durch Formen der Nähe in geteiltem Leben möglich macht. Jegliche Assoziation eines solchen Begriffs von Fruchtbarkeit mit bloßer Vermehrung und physischer Verwandtschaft ist fernzuhalten. Letztere kann ihren Sinn nur in einer Generativität erfüllen, die unabhängig von jeglichem Reproduktions- und Vermehrungsdenken ist. 74 Wo aber hat diese Generativität ihren Ort? Etwa in den Labors der »biotechnischen Reproduzierbarkeit des Menschen«, die in den Augen mancher Futuristen bereits auf dem besten Weg dahin sind, nicht bloß massenhaft Replikanten, sondern sogar Neo-Menschen (mit oder ohne Seele) hervorzubringen? 75 Ist genau das der beste Ausweis der Neues zeugenden Kompetenzen einer »biotechnischen Generativität«? Wieso ist hier auch von »scheiternder Generativität« die Rede? 76 Woran bemisst sich überhaupt, ob menschliche Generativität gelingt oder scheitert? Und wer befindet darüber? Ersichtlich kommen hier Probleme einer Deutungsmacht ins Spiel, die sich erneut, diesmal unter Berufung auf ideologisch scheinbar unbelastete sog. life sciences, die es von sich aus gar nicht darauf anlegen, in diesem Feld ›das Sagen‹ zu haben, des menschlichen Lebens zu bemächtigen droht, um vergessen zu lassen, was spätestens die Frühromantik mit ihrer Apologie der Individualität, mit größerem Nachdruck dann der Alteritätsdiskurs des 20. Jahrhunderts gelehrt hatte: dass uns das menschliche Leben niemals als Leben des Menschen (oder der GatGerade dieses Denken hat aber bis hin zu den bio-politischen Exzessen der Nazis andere Vorstellungen menschlicher Generativität derart überformt und beherrscht, dass sich erst nach und nach wieder davon scheinbar unbelastete Alternativen abzuzeichnen beginnen. Man denke nur an Hannah Arendts Begriff der Natalität, an Emmanuel Levinas’ Ethik der fécondité oder auch an Hans Jonas’ Archetyp der fürsorgenden Verantwortung. Und als im biologischen Sinne ›unfruchtbarer‹ Mensch ist man in keiner Weise in generativer Hinsicht als defizitär zu betrachten – so als ob darin ein Mangel liegen würde, sich nicht fortzupflanzen und in diesem Sinne neues, unvermeidlich auch sterbliches Leben möglich zu machen. Eher entsteht gerade jenen ein Mangel, die neues Leben zeugen. Denn sie stehen, lt. Kant, fortan unter der Verbindlichkeit, ihre Kinder, »so viel in ihren Kräften ist«, damit »zufrieden« zu machen, dass man sie ungefragt hat »auf die Welt kommen« lassen (wie die gängige Redeweise lautet). Vgl. I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. VIII (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, S. 394. Das ist noch ein schwacher Ausdruck dafür, dass Eltern die Verantwortung dafür tragen, sterbliches Leben gezeugt zu haben – ohne dass sich absehen ließe, wie sie der daraus erwachsenen ›Verbindlichkeit‹ gerecht werden könnten. 75 Vgl. Parnes et al., Das Konzept der Generation, S. 316 ff., 323. 76 Ebd., S. 324. 74

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tung), sondern stets als von jedem selbst, individuell und im Verhältnis zu Anderen zu lebendes Leben begegnet, über das, als solches, überhaupt niemand unmittelbar Verfügungsmacht hat. Das schließt freilich nicht aus, dass man sich erneut des menschlichen Lebens zu bemächtigen versuchen kann – und zwar am subtilsten dann, wenn man sich einer Deutungsmacht bedient, die sich als solche gar nicht zu erkennen gibt, wenn sie im Rahmen eines biologisch-epistemischen Dispositivs auftritt, in dem es scheinbar nur darum geht, wie wir uns als Lebewesen erkennen. 77 So kann folgenreich in Vergessenheit geraten, inwiefern sich die Erkenntnis des Lebens bzw. des Lebendigen einer vorgängigen Interpretation des Lebens als Leben und des Lebendigen als lebendig verdankt. Sowohl vom Leben als auch von ihrer Lebendigkeit aber haben Menschen, die die Erkenntnis des Lebens möglich machen, selbst keinen ohne weiteres einsichtigen oder unstrittigen Begriff. Über evidente Vorstellungen davon, was ihr Leben als generatives eigentlich ausmacht, verfügen sie selbst nicht. Nur so ist zu erklären, wie bereitwillig man sich gewisser bio-technischer Verfahren zu vermeintlicher Optimierung von ›Nachwuchs‹ bedient, den man als (nicht zuletzt in die eigene Zukunft investiertes) »Humankapital« begreift 78, und wie schwer man sich damit tut, sich eine Generativität »außerhalb der Blutsbande« unter der Voraussetzung vorzustellen, sich davon zu verabschieden, »das Wichtigste an Familie sei die Blutsverwandtschaft«. 79 So wie jegliche andere Vorstellung von Verwandtschaft, so ist und war auch diese allerdings immer schon Fiktion und gerade keine natürliche Tatsache, von der man womöglich ableiten könnte, was Menschen ›ursprünglich‹, ›natürlicherweise‹ oder ›eigentlich‹ miteinander verbindet. 80 J. Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur, Frankfurt/M. 42002. Daran zeigt sich eine merkwürdige Allianz von Biologie, Politik und Ökonomie, die nicht nur im Verhältnis zu den life sciences Widerspruch provoziert. Letztere werden allerdings im Folgenden im Vordergrund des Interesses stehen. 79 Lange, Lettke, »Schrumpfung, Erweiterung, Diversität«, S. 37. 80 Vgl. J. Derrida, Marx’ Gespenster, Frankfurt/M. 1995, S. 36, 92 f. Vom Geschlecht bis hin zum Volk im nationalistischen Diskurs der Moderne hat man sich auf die Genealogie gestützt, auf eine Verwandtschaft ›von Natur aus‹, die auf einem bloßen Phantasma beruht. Niemand hat je eine derartige Verwandtschaft beobachtet. Denn »ein genealogisches Band ist niemals durch und durch real; seine unterstellte Wirklichkeit ist keiner Anschauung je gegeben, sie ist gesetzt, konstruiert, induziert, sie impliziert bereits einen symbolischen Diskurseffekt, eine ›legal fiction‹, wie es bei Joyce, im Ulysses, von der Vaterschaft heißt. Und dies gilt, was immer man bis ein77 78

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Von einer neu zu denkenden Generativität aber hat man so wenig einen Begriff, dass es möglich ist, mit krudesten Vorstellungen diese klaffende Lücke zu füllen. So wollen Soziologen bloß auf Umfragen gestützt ermittelt haben, worin der Sinn menschlicher Generativität liegt, nämlich im »Interesse der Eltern […], ihre Lebensform (oder in biologischer Perspektive: ihre Gene) an ihre Kinder weiterzugeben« – woraus angeblich geschlossen werden kann, »Eltern setzen also auf Reproduktion und Kontinuität«. 81 Von der hier suggerierten Vorstellung, menschliche Generativität sei ihrerseits etwas natürlich Vorgegebenes, haben sich demgegenüber andere schon so weitgehend verabschiedet, dass sie vom »Erwerb« einer neuartigen Generativität sprechen; und zwar »im Sinne einer eigenständigen Interpretation der ›ererbten‹ Kultur bzw. eines neuartigen Zugangs zum ›akkumulierten Kulturgut‹ […] und im Sinne der Bereitschaft, Leben weiterzugeben und Verantwortung für die nächste Generation zu übernehmen«. 82 Erworben wird keineswegs nur eine biologische und kulturelle Generativität, deren Sinn und Form ein für alle Mal feststünde. Erworben wird auch eine neuartige Fraglichkeit dessen, was Leben heißt – eine Fraglichkeit, die nicht einfach zwischen verschiedenen Interpretationsmächten auszuräumen ist, welche in ihren Kämpfen bekannte Positionen (etwa zwischen selbsternannten »Lebensschützern« und anthropotechnischen Futuristen) durchzusetzen versuchen. 83 Abgesehen davon sind wir gegenwärtig Zeugen eines tief schließlich Freud dazu gesagt haben mag, auch von der Mutterschaft, heute mehr denn je. Alle Politiken, alle politischen Diskurse, die sich auf ›Geburt‹ und ›Abstammung‹ berufen, treiben Mißbrauch mit dem, was nur ein in diese gesetzter Glaube sein kann […]. Alles, was innerhalb des politischen Diskurses auf die Geburt, die Natur oder die Nation sich beruft – ja selbst auf die Nationen oder die universale Natur der menschlichen Brüderlichkeit –, dieser ganze Familiarismus besteht in einer ›Renaturalisierung‹ jener ›Fiktion‹.« J. Derrida, Politik der Freundschaft, Frankfurt/ M. 2002, S. 138, 220. 81 M. Kohli, »Von der Gesellschaftsgeschichte zur Familie. Was leistet das Konzept der Generationen?«, in: Lettke, Lange (Hg.), Generationen und Familien, S. 47–68, hier: S. 59. 82 L. Liegle, »Weltgesellschaft als Erwartungshorizont für Generationenlernen und Generationenpolitik«, in: Lettke, Lange (Hg.), Generationen und Familien, S. 69–95, hier: S. 70, 74, 84, 87 ff. 83 Vgl. die aktuelle Übersicht: Vf., »Ansatzpunkte praktisch-negativistischer Anthropologie. Anmerkungen zur Frage, ›ob der Posthumanismus ein Humanismus ist‹«, in: G. Hartung, M. Herrgen (Hg.), Interdisziplinäre Anthropologie. Jahrbuch 06/2018, Berlin, i. E.

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greifenden Transformationsprozesses, in dem sich das Verständnis menschlicher Generativität nicht etwa seinen ›ursprünglichen‹ und ›natürlichen‹ Voraussetzungen zuwendet, sondern nachträglich, im Lichte jener mehr oder weniger bestimmten Negationen, überhaupt erst zu einer annehmbaren Form vorstößt. Dem ging eine ganze Reihe von Zurückweisungen unannehmbar erscheinender Positionen voraus, durch die sich nunmehr nach und nach abzuzeichnen beginnt, wie man sich menschliche Generativität ›positiv‹ vorstellen könnte: als ein Leben im Übergang von Anderen her und auf Andere hin, das zwischenzeitlich die Gestalt eines individuellen Selbst annimmt; und zwar auf der Basis einer Nähe in geteiltem Leben, das erst nachträglich auf mehr oder weniger weit zurückreichende biologische, rechtliche, politische und kulturelle Voraussetzungen hin befragbar wird. Ein solches Selbst ist als Subjekt eines eigenen, stets um seine Lebbarkeit ringenden Lebens nach allem, was wir wissen, weder als das Selbst eines Anderen noch als ein an ihm selbst anderes produzierbar oder reproduzierbar, d. h. nach heutigem Verständnis: technisch hervorzubringen oder nachzumachen. Genau darauf stellt sich auch die menschliche Generativität in ihrer paradigmatischen (aber keineswegs alleinigen oder gar vorrangigen) Form, in der Erwartung eines Kindes nämlich, ein: auf die Ankunft eines technisch unverfügbaren, individuellen, seinerseits künftig aus sich heraus lebenden Selbst eines/einer Anderen, der (oder die) rückhaltlos darauf angewiesen ist, gastliche Aufnahme zu finden, um sich infolge der dadurch angebahnten Nähe selbst verständlich zu werden und ein eigenes Leben auf Andere hin führen zu können. Ein solches Selbst mag später als ein geschichtliches erzählbar werden; zunächst aber existiert es nur als bezeugtes, sei es durch diejenigen, die es tatsächlich gezeugt, sei es durch diejenigen, die es auf andere Weise bei sich aufgenommen haben. Und als ein neues Wesen, das durch sein Bezeugtsein durch Andere überhaupt sozial existiert, kommt es seinerseits als ein Geschehen der Selbst-Bezeugung zur Welt, in dem sich nur zeigen kann, wer es ist. Wie Ricœur deutlich gemacht hat, kann diese Selbst-Bezeugung als der Wahrheitsmodus der Existenz des Selbst gelten. Bevor wir irgendeine Behauptung aufstellen und eine Aussage machen können, die als wahr oder falsch zu beurteilen ist, ist uns die Frage der Wahrheit bereits zugemutet in einer von Anderen verbürgten, später erst selbst übernommenen Existenz, die in dieser Frage lebt, wo sich zeigt, 518 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Generativität in ›diachroner‹ Perspektive

um wen es sich handelt. Das ist niemals zu beweisen, sondern allenfalls so zu bezeugen, dass Andere diesem Selbst Glauben schenken und an es glauben. Wo das nicht gelingt, kann es gar nicht zu einem rein ›epistemischen‹ Weltverhältnis kommen, an dem sich die Philosophie bis heute vorrangig orientiert. Bevor ein wissendes Subjekt der Welt gegenübertreten und seine Ansprüche in ihr geltend machen kann, muss es als beglaubigtes und bezeugtes von Anderen in einer gemeinsamen, geteilten Welt gastlich aufgenommen worden sein. Ohne diese Grundvoraussetzung (die allerdings auf Dauer prekär bleibt, weil sie nie endgültig zu gewährleisten ist) kann die menschliche Generativität ihren Sinn gar nicht erfüllen. Sie mag noch so ›fruchtbar‹ sein – wenn sie die Existenz der Nachkommen nicht beglaubigt und bezeugt, indem sie sie verlässlich in eine soziale und politische Welt aufnimmt, haben die Unglücklichen keine Aussicht auf ein – für sie 84 – wirklich lebbares Leben. Die meisten von ihnen werden nach aller Erfahrung durch ein frühes Ausgesetztwerden, durch spätere Verstoßung, durch Vernachlässigung oder dadurch, dass sie zu einem inneren Exil, zur Marginalität oder zu sozialer Unsichtbarkeit verurteilt werden, entweder nicht lange am Leben bleiben oder es nur noch – mehr oder weniger tief greifend beschädigt und verletzt – irgendwie fristen können. Bezeugt wird allerdings nicht bloß das schiere Dasein im Sinne des Vorhandenseins auf der Welt, sondern die Existenz Anderer, deren künftigem Leben niemand vorgreifen kann und die nachträglich werden zurückfragen können, ob und wie man ihn/sie hat ›zur Welt kommen‹ lassen. Letzteres erschöpft sich nicht in einem einzigen Akt der Aufnahme nach der Geburt bzw. in der Lebensform derer, die einen Neuankömmling aufnehmen; vielmehr ereignet sich dieses Zur-Welt-Kommen immer wieder neu und muss sich immer wieder bewähren, vor allem dort, wo es darum geht, gehört zu werden, um sich auf diese Weise dessen vergewissern zu können, nicht nur wie die angeblich »Stummen der Erde« (die Tiere 85) vorhanden, sondern in den Augen Anderer da zu sein, d. h. in individueller, technisch nicht

Das kann man nicht genug betonen, denn es geht hier in keiner Weise darum, etwa aus der anmaßenden Sicht Dritter über den »Wert« oder »Unwert« fremden Lebens zu entscheiden. Wir wissen, wohin das geführt hat. 85 J. G. Herder, »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«, in: Herders Werke in fünf Bänden, Bd. 4, Berlin, Weimar 1982, S. 61. 84

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XIV · ›Das Sagen haben‹ und die An-Archie menschlicher Rede

verfügbarer, nicht (re-)produzierbarer, auf die Beglaubigung durch Andere angewiesener Art und Weise zu existieren. Von diesen Dimensionen menschlicher Generativität verraten aktuelle Diskussionen um Begriffe wie Generation, Generativität, Erbe, Fortpflanzung so gut wie nichts. 86 So weit sie auch etymologisch, begriffs- und ideengeschichtlich zurückgreifen, sie schreiben sich doch ganz überwiegend in die höchst folgenreiche Zäsur ein, die die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert für alle Auffassungen menschlichen Lebens bedeutete. In dieser Zeit tritt die dominanteste der heute life sciences genannten Disziplinen, die seit Theodor G. A. Roose, Jean-Baptist Lamarck, Gottfried R. Treviranus und Karl F. Burdach begrifflich getaufte Biologie 87, terminologisch und methodisch erstmals in moderner Gestalt auf und erobert sich nach und nach eine ungeahnte Deutungsmacht über das, was Leben im Allgemeinen und menschliches Leben im Besonderen eigentlich ausmacht: Reproduktion, epigenetische Formbildung, Evolution etc. Andere Disziplinen, allen voran die Geschichtswissenschaft und die Soziologie, haben sich den Begriff der Generation seinerzeit angeeignet und sich für eine staatliche Bio-Politik als nützlich zu erweisen versucht. So stehen wir heute vor einer Vielzahl von Diskursen, in denen von generativem Leben und dessen Ausprägungen in Generationen die Rede ist, wohingegen die menschliche Generativität selbst kaum zu Wort kommt. Und wenn, dann in höchst verkürzter Form, als biotechnische Generativität, als demografischer Faktor oder als soziale Produktivkraft, nicht aber in eigenem Recht. Verschärfend kommt hinzu, dass hier nicht von einer gewaltsamen Kolonialisierung eines lebensweltlichen Vorverständnisses menschlicher Generativität ausgegangen werden kann, denn diese orientiert sich vielfach bereitwillig selbst an biologischen Vorstellungen wie dem Konzept genetischer Fitness, ignoriert deren wissenschaftlichen Modellcharakter und nimmt sie wie Handlungsanweisungen, nach denen man am besten Vgl. aber H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 41985, S. 15; Levinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 390 ff.; H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/M. 31982, S. 184 ff. Aktualisierungen dieser Ansätze finden sich u. a. beim Vf., Geschichte im Zeichen des Abschieds, München 1996; bei L. Lütkehaus, Natalität. Philosophie der Geburt, Zug 2006, und bei C. Schües, Philosophie des Geborenseins, Freiburg i. Br., München 2008. 87 W. Baron, »Die Entwicklung der Biologie im 19. Jahrhundert und ihre geistesgeschichtlichen Voraussetzungen«, in: Technikgeschichte 33 (1966), Nr. 4, S. 307– 328. 86

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Zukünftiges Leben: an-ökonomisch

das eigene Humankapital optimieren könnte. So kommt es auch zu »Konsumentenwünschen« an die Adresse von Samenbanken und Reproduktionsmedizinern, gegen die sich ein ›natürliches‹ Verständnis menschlicher Generativität kaum behaupten kann. Nicht im Rekurs auf ein ›ursprüngliches‹, in der menschlichen Gattungsgeschichte von Anfang an aufzuweisendes Verständnis von Generativität, sondern im negativen Einspruch gegen deren technizistische Zurichtung, bio-technisch angeleitete Instrumentalisierung und bio-politische Vereinnahmung für fremde Zwecke 88 stoßen wir heute am ehesten auf die Frage, was für ein Verständnis eines zwischenzeitlichen, von Anderen her und auf Andere hin gelebten generativen Lebens als angemessen gelten kann. Dabei steht uns ein direkter Zugriff auf ein essentialistisches Verständnis menschlicher Generativität nicht zur Verfügung. Vielmehr werden wir ggf. auf negativistischem Wege, d. h. durch eine Reihe mehr oder weniger bestimmter Negationen von Generativitätsauffassungen, die uns als nicht annehmbar erscheinen, nach und nach zu Einsprüchen und Widerstandspotenzialen gegen eine von jenen Diskursen zu verantwortende Übermacht gelangen, gegen die sich nicht diskursiv bevormundete Vorstellungen menschlicher Generativität bislang kaum behaupten können.

6.

Zukünftiges Leben: an-ökonomisch

Was folgt aus all dem im Hinblick auf Interpretationsmachtkonflikte? – Als Macht begegnen uns die life sciences, weil sie auf Widerstand stoßen. Weniger innerhalb der beteiligten wissenschaftlichen Diskurse, als vielmehr dort, wo ihre Resultate in lebensweltliches Selbstverständnis diffundieren, das von sich aus zwar nicht derart eindeutig ist, dass es mit den Ergebnissen dieser Wissenschaften in direkten Widerspruch treten könnte 89, das aber doch zu einer ganzen Reihe mehr oder weniger bestimmter Negationen Anlass gibt. Solche Negationen und Rückfragen speziell an ein ›reproduktives‹ Lebensverständnis ge-

Die mit einer Bio-Technologie allerdings keineswegs unvermeidlich einhergehen muss. Insofern richtet sich das oben Gesagte keineswegs gegen jegliche Biologisierung bzw. Technisierung unseres Lebensverständnisses. 89 Insofern kann man durchaus von einer Ohnmacht angemessener Selbstdeutung sprechen. 88

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XIV · ›Das Sagen haben‹ und die An-Archie menschlicher Rede

hen nicht auf ein ›natürliches‹ Lebens-Verständnis zurück; vielmehr haben sie ein erkennbar historisches Profil. Denn es ist dem modernen Individualitätsdiskurs und einer Philosophie der Alterität zu verdanken, dass wir über einen starken Begriff des (eigenen und fremden) Selbst verfügen, das schlechterdings nicht als ein reproduzierbares vorzustellen ist. Das hat nun auch Folgen für das Verständnis menschlicher Generativität: Zwei Menschen reproduzieren sich nicht – es sei denn, sie missverstehen im Lichte des Gesagten eklatant ihre eigene Generativität –, um eine Wiederholung ihresgleichen 90, ihnen Ähnliche oder Erben ihrer mehr oder weniger verfehlten, gescheiterten Aspirationen hervorzubringen; vielmehr zeugen sie Dritte als künftige Andere, in deren Leben in unabsehbarer Art und Weise auf dem Spiel stehen wird, was die Rede vom ›Leben‹ überhaupt heißt und ob es als lebbar erfahren werden und gelten kann. So öffnen sie sich der Diachronie Anderer, in deren künftiger Geschichte sich der ›Sinn‹ der menschlichen Generativität nachträglich entscheiden wird. Insofern wird niemand je im Vorhinein über sie ›das Sagen‹ haben können. Woher, wird man fragen, ›wissen‹ wir von all dem? Wie kann man sagen, dass menschliche Generativität ›in Wahrheit‹ so zu verstehen ist? Wer dürfte sich anmaßen, in dieser Sache ›das Sagen‹ zu haben, sei es kraft Amtes, durch Amtsanmaßung oder aufgrund besonderer Einsicht in die ›Sache‹, wie sie von Vertretern verschiedener Disziplinen – von der Biologie über die sozialwissenschaftliche Forschung und Demografie bis hin zu diversen Theologien – in Anspruch genommen wird? Nach dem hier entfalteten Verständnis ist die zur Diskussion gestellte ›Sache‹ primär eine geschichtliche Angelegenheit der intergenerationellen Verhältnisse selbst, in denen deren Sinn zwischen den beteiligten generativen Wesen auf dem Spiel steht. Darüber kann überhaupt niemand ›das Sagen‹ haben, auch nicht die übermächtige Deutungsmacht der life sciences, die sich weniger denn je als auf eine Hermeneutik des (menschlichen) Lebens angewiesen darstellen und suggerieren, es gehe hier um Fragen der Erkenntnis des Lebens. Gegen diese Wissenschaften haben wir kein direkt mit ihnen – und auf ihrer epistemologischen Höhe – unmittelbar konkurrierendes Gegen-Wissen aufzubieten, das ihnen ›das Sagen‹ ohne weiteres streitig machen könnte. Vielmehr erscheinen dieAristoteles, »Von der Seele« 416 b 9 ff., in: Vom Himmel. Von der Seele. Von der Dichtkunst, München 1983, S. 297.

90

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se Wissenschaften gerade durch ihren überwältigenden Erfolg als fragwürdig, wo sie auf die menschliche Lebenswelt zurückwirken, aus der sie als epistemologische Projekte einer kollektiven Vernunft ursprünglich entstammen. 91 Dort, in der menschlichen Lebenswelt, so scheint es, entzünden sich Deutungsmachtkonflikte: wo die life sciences entschieden zuviel des Guten tun, indem sie uns darüber belehren, was es, im Lichte neuester Erkenntnisse, mit dem menschlichen Leben (als einem reproduktiven, epigenetisch sich bildenden und der Evolution ausgesetztem Geschehen) angeblich ›objektiv‹ auf sich hat. Im negativen Einspruch gegen eine derart menschliches Leben womöglich insgesamt in den Griff bekommende Macht der Erkenntnis wird diese überhaupt erst als eine Interpretationsmacht kenntlich, die nicht etwa das menschliche Leben als das aufzeigt, was es ist, sondern einer bestimmten, höchst anfechtbaren Auffassung sich verdankt. Mitnichten sprechen die life sciences mit unanfechtbarer sachlicher Autorität, die sie – scheinbar – dazu berechtigen würde, im Feld der menschlichen Generativität ›das Sagen‹ zu haben. Ich sage ausdrücklich ›scheinbar‹, weil diese Erwartung einen Szientismus verrät, der von der ›Sache‹ selbst her, um die es hier geht, nicht gedeckt ist. Tatsächlich untersucht man in den biologischen Laboratorien längst nicht mehr ›das Leben‹, wie der französische Epistemologe der life sciences, Georges Canguilhem, mit Hinweis auf François Jacobs Logique du vivant schon vor Jahrzehnten festgestellt hat. 92 Warum sollten wir dann noch von ihnen erwarten, uns darüber abschließend aufzuklären, was es mit der generativen Dimension menschlichen Lebens auf sich hat? So wird die signifikative Differenz wieder entdeckt, die die life sciences haben vergessen lassen, die Differenz nämlich, die darin steckt, das Leben so oder so als Leben zu verstehen. In dieser Differenz verbirgt sich auch die Anfechtbarkeit eines bestimmten Lebensverständnisses durch ein anderes. Die ›Anfechtung‹ erfolgt aber im Fall menschlicher Generativität nicht im Rekurs auf ein konkurrieIch verweise nur en passant auf die einschlägigen Beiträge von A. Gurwitsch, Phenomenology and the Theory of Science, Evanston 1974, und S. Toulmin, Kritik der kollektiven Vernunft, Frankfurt/M. 1983, wohl wissend, dass die hier suggerierte Verknüpfung von Lebenswelt und kollektiver Vernunft von beiden Autoren so nicht konzipiert wird. Im Hinblick auf die gegenwärtigen life sciences ist es ein Desiderat, diese Problemkonstellation wieder aufzugreifen. 92 G. Canguilhem, »Logique du vivant et histoire de la biologie«, in: Sciences no. 71 (1971), S. 20–25, hier: S. 25; Jacob, Logik des Lebenden, S. 318. 91

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rendes ›natürliches‹ Wissen oder eine bessere Erkenntnis, sondern unter Berufung auf eine niemals zu beweisende, nur zu bezeugende Praxis menschlicher Generativität, die sich nicht in einer Wiederholung des Selben erschöpft, sondern in der gastlichen Aufnahme eines ursprünglich fremden Selbst sich bewährt, um es für eine eigene, unabsehbare künftige Geschichte freizugeben. Zwar findet eine solche Aufnahme unvermeidlich im partikularen oîkos und nómos einer sozialen Lebensform statt, doch daraus folgt keineswegs, das Verhältnis zur Alterität, die ein solches Selbst als ein Anderer bzw. als ein Anderes mit sich bringt, lasse sich seinerseits ganz und gar ökonomisieren. Im Gegenteil: diese Alterität erweist sich als derart unberechenbar, dass sich nur ein an-ökonomisches Verhältnis zu ihr denken lässt 93, so sehr es auch auf häusliche, nachbarschaftliche, gemeinschaftliche, gesellschaftlich-politische und wirtschaftlich förderliche Bedingungen angewiesen sein mag. An-ökonomisch meint hier: wie eine Gabe, die zur gebenden Instanz nicht zurückkehrt. Dass die Aufnahme eines ›eigenen‹, leiblich verwandten, eines adoptierten oder in Pflege genommenen Kindes diesen ›Sinn‹ hat, lässt sich ebenfalls weder beweisen oder auf ein unanfechtbares Wissen gründen noch auch als schlichte ›Gegebenheit‹ ausweisen. 94 Wo das – im zweifelhaften Fahrwasser einer »theologischen Wende« der Phänomenologie in Frankreich etwa 95 – behauptet wurde, wurden ebenfalls Deutungsmachtkonflikte heraufbeschworen. Keineswegs ›zeigt sich‹ von sich aus und ohne unser hermeneutisches Zutun, dass etwa neues Leben selbst oder jemandes Leben wie oder als eine Gabe gegeben wird (und wer oder was als 93 Und zwar im nómos eines oîkos, etwa eines Hauses, dem Autoren wie Hannah Arendt und Jacques Derrida nur die Herrschaft einer despotischen Selbstheit zugetraut haben. (Vgl. J. Derrida, »Die Gesetze der Gastfreundschaft«, in: B. Liebsch, M. Staudigl, P. Stoellger [Hg.], Perspektiven europäischer Gastlichkeit. Geschichte – kulturelle Praktiken – Kritik, Weilerswist 2016, S. 125–142; J. Derrida, Von der Gastfreundschaft, Wien 2001, S. 106.) Es ist an der Zeit, sich von der Etymologie, die das zweifellos nahelegt, zu lösen und eine an-ökonomische Generativität neu zu denken, die den Rahmen einer solchen Souveränität sprengt. 94 Statt sich auf »Gegebenheiten« zu berufen, wie es v. a. J.-L. Marion immer wieder in höchst zweideutiger Art und Weise tut, empfiehlt es sich, behutsame Uminterpretationen von Interpretationen in Betracht zu ziehen, ohne sich dabei ›das Sagen‹ anzumaßen. Bestenfalls geben solche Uminterpretationen zu denken. 95 Ich kann hier nur en passant auf diese Diskussion verweisen, möchte dabei aber nicht die kritische Wende-Diagnose Dominique Janicauds einfach affirmieren; vgl. das Kap. IX in diesem Band.

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Subjekt einer solchen Gabe in Betracht kommt); oder dass gezeugtes Leben seinerseits als oder wie eine Gabe zu verstehen ist, die es als solche in Empfang zu nehmen gälte (etwa im Verzicht auf Kostenerstattung für die dabei aufgewendete Mühe 96); oder dass dieses Leben schließlich ›sich selbst gegeben‹ ist und dass es darum in der Schuld Anderer stehen muss, die es wenn nicht zu einer die Vor-Gabe Anderer ausgleichenden Rückerstattung, dann doch wenigstens zu einer Weiter-Gabe verpflichten könnte. 97 So oder so kann die menschliche Generativität nicht von einer schlichten, nicht interpretationsbedürftigen ›Gegebenheit‹ eines als Gabe verstandenen Lebens her begriffen werden – als ob sich ohne unser eigenes hermeneutisches Verständnis von Leben als Leben von sich aus ›zeigen‹ könnte, wie wir zu ihm in ein generatives Verhältnis versetzt werden. Wenn das zutrifft, so können wir uns nicht, von den life sciences enttäuscht, an eine direkte Phänomenologie des ›Gegebenen‹ wenden, um zu erfahren, was es mit der menschlichen Generativität auf sich hat und worin ihr ›Sinn‹ liegt, um darauf den Anspruch auf ein allgemein maßgebliches ›Sagen‹ zu gründen. 98 Der Streit um die richtige, angemessene oder ihrerseits fruchtbare (!) Deutung menschlicher Generativität wird – wenn überhaupt – nicht zwischen akademischen Spezialdisziplinen entschieden, sondern allenfalls dort, wo die konfligierenden Deutungen, die sie offerieren, im Leben leibhaftiger generativer Subjekte selbst auf dem Spiel stehen, die allerdings keineswegs über ein unproblematisches ›natürliches‹ Verständnis dessen verfügen, was es heißt, zu leben und neues Leben hervorzubringen. Genau das ermöglicht ja erst den weitgehenden Durchgriff bio-technischer Dispositive auf Milieus lebensweltlicher Erfahrung, die sich nicht etwa nur gewaltsam von ihnen kolonialisieren lassen, sondern sich ihnen z. T. bereitwillig fügen und von ihnen glauben profitieren zu können, vor allem dort, wo jene versprechen, für künftiges Leben und aus künftigem Leben Humankapital zu schlagen. Kant, Die Metaphysik der Sitten, § 28 f. Ich komme in Kap. XXV, 4 darauf zurück. Vgl. E. Pulcini, Das Individuum ohne Leidenschaften. Moderner Individualismus und Verlust des sozialen Bandes, Berlin 2004, S. 200 f.; K. Bauer, Einander zu erkennen geben. Das Selbst zwischen Erkenntnis und Gabe, Freiburg i. Br., München 2012; J.-P. Wils, Kunst. Religion. Versuch über ein prekäres Verhältnis, Tübingen 2014, S. 228, 237 f. 98 Vgl. die Beiträge dazu in: S. Gottlöber, R. Kaufmann (Hg.), Gabe – Schuld – Vergebung, Dresden 2011. 96 97

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Es handelt sich hier also nicht um einen nur ›vertikalen‹ Konflikt zwischen einer unterdrückten Lebenswelt einerseits und der überlegenen Macht einer Episteme andererseits, die ihre Deutungsmacht kaschiert, indem sie verkennen lässt, wie sehr sie ihrerseits auf einer impliziten, uneingestandenen Hermeneutik des Lebens aufruht und somit zu strittigen Auffassungen davon Anlass gibt, was Leben (am Leben sein, sein Leben leben, führen, verausgaben, verschwenden oder widmen etc.) heißt. Gerade eine Episteme, die sich selbst nicht in ihrer hermeneutischen Brisanz erkennt, begünstigt eine durchdringende Deutungsmacht, die, wie alle Macht, um so effektiver wirkt, wie sie nicht als solche wahrgenommen und begriffen wird. Bedient man sich ihrer Resultate bereitwillig, wenn lebensweltliches Selbstverständnis ohnehin aus eigener Kraft nichts gegen sie aufzubieten vermag, so kann es sein, dass Deutungsmachtkonflikte nicht zwischen einer ›kolonialisierten‹ Lebenswelt einerseits und Wissenschaften andererseits, sondern unmittelbar zwischen den und innerhalb der Generationen aufbrechen, die aus noch immer unzureichend verstandener menschlicher Generativität hervorgehen. So sind letztlich wir selbst es, wir in unserem individuellem Selbstsein, in deren Leben die radikale Frage auf dem Spiel steht, was es heißt, ein vorübergehendes, diachrones Leben aus Anderen, von Anderen her und auf Andere hin, die uns überleben werden, zu leben, zu führen, zu verschwenden oder zu ›geben‹ (weg- oder hinzugeben), sei es im Rahmen einer Ökonomie der Gegenseitigkeit, sei es in der An-Ökonomie eines Vorübergehens, dessen Anfang sich – nach allem, was wir wissen – niemals mit seinem Ende zu einem Kreis wird schließen können. 99 Auf ihre Weise lehrt das auch die biologische Theorie des Lebens, die es als irreversibles evolutionäres Geschehen deutet, in dem – nachdem die einst onto-theologisch verbürgte great chain of being längst gerissen ist 100 – die Lebewesen ständig Nachkommen ins Sein stoßen, um alsbald selbst für immer zu verlöschen. Was diese Theorie, der heute eine nahezu konkurrenzlose Deutungsmacht zukommt, außer Acht lässt, ist nur durch mehr oder weniger bestimmte Negationen einzusehen, die sich nach dem hier entwickelten Verständnis Zur Zeit als Kreis, wie sie Hegel gedacht hat, vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 585; J. Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, München 1993. 100 Vgl. die klassische Studie von A. O. Lovejoy, Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens [1933/1964], Frankfurt/M. 1985. 99

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Zukünftiges Leben: an-ökonomisch

nicht einfach auf eine (bspw. religiös inspirierte) Gegeninterpretationsmacht stützen können, die es auf epistemologischer Ebene direkt mit den life sciences aufnehmen könnte. Vielmehr sind wir darauf angewiesen, den Konflikt der Deutungen und Interpretationen, der sich paradoxerweise an der Macht einer Gruppe von Wissenschaften entzündet, welche sich ihrerseits gar nicht als Instanzen der Interpretation begreifen, in der An-Archie der freien Rede auszutragen, über die letztlich niemand hermeneutische Vormacht ausüben kann. Weder auf der Ebene des Hörens aufeinander noch im Hinblick auf den ›Gegenstand‹, der hier zur Sprache gebracht wurde: die menschliche Generativität. Sowohl in ihrem auf die Ankunft und Aufnahme Anderer angelegten diachronen Geschehen als auch in der Auseinandersetzung über ihren Sinn verlangt sie uns ab, das ›Sagen‹ aus der Hand zu geben, statt es auf Dauer auch auf die Gefahr hin in Beschlag nehmen zu wollen, auf diese Weise dem ›Sagen‹ seinen kommunikativen Sinn zu rauben. Entweder es kommt bedingungslos und an-archisch von Anderen her und wendet sich zu ihnen auf Erwiderung hin zurück, oder aber der Versuch, es einseitig beherrschen zu wollen, kaschiert am Ende lediglich die Illusion einer Souveränität, die nur auf Kosten der Responsivität des Sagens zu haben ist. 101

101 An diesem vorläufigen Endpunkt der angestellten Überlegungen müsste man sie freilich gleichsam von der Gegenseite her noch einmal aufnehmen – d. h. nicht von der Anmaßung her, ›das Sagen‹ ›haben‹ zu wollen, sondern von der Entmächtigung her, die in der An-Archie der Rede liegt. Dass letztere in einem herrschafts- und zugleich machtfreien Raum geschehen kann, ist kaum anzunehmen (s. o., Anm. 10). Wäre es so, so wäre sie zugleich mit keinerlei Agonalität mehr verbunden, was letztlich auf ihre Depolitisierung hinausliefe. Zu zeigen, wie die An-Archie der freien Rede in eine politische Agonalität hineinwirken kann und wie letztere ihrerseits auf Formen der Entmächtigung angewiesen ist, um nicht auf einen fatalen Machtkampf gegeneinander beschränkt zu bleiben, ist allerdings ein Desiderat, das an dieser Stelle nicht einzulösen ist. Wie dringlich es ist, zeigt die verbreitete, zuletzt auch bei Agamben festzustellende Neigung, als Alternative zur An-Archie lediglich willentliche, ihrer selbst vollkommen mächtige Herrschaft zu sehen, als ob es nicht darauf ankäme, wie beides umzudenken ist, um nicht immer wieder in die gleichen, tradierten Schemata zurückzufallen, an deren Revision nicht nur seit und mit Derrida so oft gearbeitet worden ist; vgl. G. Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung (Homo sacer II.2), Berlin 2010, S. 84 f.; J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1976, S. 125, 425 zur arché.

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Anderen ausgesetzt und ausgeliefert? Übergang zur Chronotopografie des Sozialen

Der Schock der sozialen Geburt […]: Jedes Kind ist ein »ausgesetztes«. Günther Anders 1 Die Abwehr der kindlichen Hilflosigkeit verleiht der Reaktion auf die Hilflosigkeit, die der Erwachsene anerkennen muß, […] ihre charakteristischen Züge. Sigmund Freud 2

Wir sind im Verhältnis zueinander Andere, die als solche weder zu Anderen direkten bzw. unvermittelten Zugang, noch auch von sich selbst transparente Kenntnis haben. 3 Beides gilt heute sozialphilosophisch als gesichert, so problematisch Begriffe wie Vermittlung und Transparenz auch weiterhin erscheinen mögen. 4 Wenn wir in uns selbst ›verandert‹ sind, wie es in unterschiedlicher Weise die Sozialphilosophie dialektischer und phänomenologischer Provenienz lehrt, so heißt das gerade nicht, dass auf diese Weise die Differenz zum ›Anderen‹ als im Eigenen aufgehoben gelten dürfte. Zudem lässt die phänomenologisch-intersubjektivistische Philosophie die Annahme (von der sie anfänglich ausgegangen war), dass man vom zunächst sicherzustellenden Eigenen aus das Problem der Fremderfahrung als das Problem der Erfahrung des Anderen aufwerfen kann, inzwischen als verfehlt erscheinen. Der phänomenologische Versuch, sich aus Verhältnissen zu Anderen zunächst auf das ganz und gar Eigene (als ein solus ipse) zurückzuziehen, um von ihm aus die ganze Welt des Sozialen durch eine Analytik intentionaler Bezüge auf alles andere

G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, München 1956, S. 73. S. Freud, »Die Zukunft einer Illusion« [1927], in: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Studienausgabe Bd. IX, Frankfurt/M. 1998, S. 135–190, hier: S. 158. 3 P. Ricœur, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud [1965], Frankfurt/M. 1974; J. Kristeva, Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt/M. 1990. 4 Vgl. B. Waldenfels, Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung, Berlin 2015. 1 2

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Anderen ausgesetzt und ausgeliefert?

gleichsam wieder aufzubauen, ist frühzeitig gescheitert. Wir können uns auf diesem Wege nicht dem allein uns selbst apodiktisch und adäquat Gegebenen versichern, um von ihm aus das Nicht-Eigene, das nicht originär in eigener Erfahrung Gegebene und das Fremde in den Blick zu nehmen. Husserls entsprechender radikaler Versuch, wie er speziell in seinen Cartesianischen Meditationen vorliegt, droht schon daran zu scheitern, dass er »die (wir fühlen es alle, sehr befremdliche) Möglichkeit und die genauere Art des Für-uns-Seins der Anderen« (§ 41) in eine vom Eigenen aus zu leistende Fremderfahrung verwandeln möchte, die entweder das Fremde im Eigenen aufhebt (als eigene Erfahrung von Fremdem) oder aber das niemals originär uns selbst, sondern nur dem Anderen Gegebene, insofern Fremde, als ganz und gar Unzugängliches erscheinen lässt – zumal zuvor das Eigene als von jeglicher Fremdheit gereinigt erschien. Wie kann es aber so noch ein Verhältnis zu dem unterhalten, was ihm fremd bleibt – (a) in uns selbst, (b) im Relation zu allem außerhalb von uns selbst, (c) zum erfahrungsmäßig nicht originär Gegebenen (wie es auch bei Tieren begegnet), (d) in Bezug auf Andere, (e) auf andere, bekannte und anonyme Andere, die untereinander in Beziehung stehen, und schließlich (f) auf einen »unendlichen Bereich von Fremdem« der Welt, »der die Anderen alle und ich selbst zugehören«? 5 Husserls vielschichtige Antwort läuft im Kern darauf hinaus, dass eine »bewährbare Zugänglichkeit des original Unzugänglichen« möglich sein soll, wie eine berühmte, oft zitierte Formulierung im Paragraphen 52 lautet. 6 So unterstellt er, alles Fremde, besonders aber der Andere, bleibe in gewisser Weise (nämlich ›original‹) stets unzugänglich; aber gerade angesichts dessen stelle letzterer die eigentliche Herausforderung jedes Verhaltens dar, in dem er sich als dennoch zugänglich erweisen können soll. Mehr noch: solches Verhalten soll sich »bewähren« können. So, wie Husserl seine Meditationen entfaltet, hat es allerdings den Anschein, als stehe uns der Andere je nur gegenüber, er werde wahrgenommen, ›appräsentiert‹, per ›Einfühlung‹ gewissermaßen erschlossen und per Analogie als unseresgleichen vorgestellt. 7 Aber Bis auf (a) sind die genannten Punkte systematisch als Gegebenheitsweisen des Fremden in Husserls Cartesianischen Meditationen, Hamburg 1977, § 49, S. 109, zu unterscheiden. 6 Ebd., S. 117. 7 Dieser Eindruck bleibt auch nach der Lektüre der einschlägigen anderen Manuskripte Husserls zum Problem der Intersubjektivität bestehen, die vom Jahr 1905 bis in das Jahr 1935 reichen und in den Husserliana (Bd. XIII–XV) zusammengefasst wurden. 5

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Anderen ausgesetzt und ausgeliefert?

eine Praxis der Bewährung in Spielräumen des Verhaltens kommt dabei nicht in den Blick. Genau darum muss es indessen in einer Überkreuzung des Anderen und des Sozialen gehen, wenn es denn stimmt, was in den Kapiteln I–XIV geltend gemacht wurde: dass ›soziale‹ Beziehungen und Verhältnisse nur mittels eines ›starken‹ Begriffs unaufhebbarer Anderheit zu verstehen sind, die sich einerseits jeglicher Macht soll entziehen können und uns gerade dadurch verantwortlich macht, die andererseits aber rückhaltlos auf unsere praktische Bezeugung angewiesen ist; und zwar umso mehr, als es der von dieser Anderheit ausgehende Widerstand niemals ohne Beihilfe Anderer mit der Übermacht politischer, gewaltförmiger und schließlich manifest kriegerischer Verhältnisse aufnehmen kann. D. h., er ist rückhaltlos darauf angewiesen, dass Andere ihn praktisch würdigen, ohne ihn sich aber dabei zu eigen zu machen. So wurde hier die vom unaufhebbar Anderen ausgehende praktische Herausforderung gedeutet und diese ins Feld eminent strittiger Machtverhältnisse verwiesen, deren sei es ökonomischer, sei es hermeneutischer Potenz rein gar nichts sich scheint entziehen zu können, wenn wir bekannten Theorien der Macht folgen, in denen sich alles darum dreht, ›wer das Sagen hat‹. Bedenken wir dagegen, wie das Neugeborene als ein künftiges, aus sich heraus sich an uns wendendes, zunächst ganz sich selbst, uns und der Welt fremdes Selbst aufgenommen wird, so verbietet sich der Gedanke, sein ›Sagen‹ selbst in den Griff bekommen zu wollen, um es auf diese Weise zu ent-eignen. Gewiss: wir nehmen es auf, um ihm ›mit Macht‹, aber gastlich, seine Lebensmöglichkeiten einzuräumen. Nur so kann es überhaupt existieren und zu leben beginnen. Wir nehmen es aber zugleich auch auf, um es freizugeben für ein eigenes Leben – und nicht etwa, um ihm von Anfang damit zu drohen, es um sein Sagen zu bringen. Dabei entspringt diese Freigabe keiner Generosität unsererseits, sondern ist die ursprüngliche Obliegenheit einer vom Anderen her passionierten Freiheit. Wenn wir ihn zur Sprache kommen lassen, wie es im Deutschen so schön heißt, so nicht, um ihn zum Ausgleich zu ent-eignen. Wenn wir aber, eingedenk dessen, jede(n) Andere(n) von Geburt an als zu freiem Ausdruck fähiges und zu befähigendes Selbst achten wollen, so bedarf das genau jener praktischen Bewährung in sozialen, chronotopisch 8 zu markierenden Spielräumen der Generativität (Bd. II, Teil D), der Subjektivierung, des Dissenses, des Andersseins (Bd. II, Teil E) und des ver8

Siehe zu diesem Begriff die Einleitung zum Bd. II.

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lässlichen politischen Handelns (Bd. II, Teil F), die immer wieder neu eröffnet werden müssen. Das zeigt sich negativ, wo sie teils durch Gleichgültigkeit, teils durch untragbare Überschuldung (Bd. II, Teil G), aber auch in Horizonten der Verletzbarkeit durch Gewalt, Hass und Kriege (Bd. II, Teil H) geradezu verschüttet zu werden drohen. Der anschließende Band dieses Projekts verlagert die skizzierte Überkreuzung der Fragen nach dem Anderen und nach dem Sozialen in diesen, keinerlei Vollständigkeit anzielenden Hinsichten energisch in Felder praktischer Bewährung, welche zunächst allenfalls am Rande einer eher statischen Phänomenologie aufgetaucht sind, die sich sogar dazu versteigen konnte, im Anderen zunächst nur ein spezielles Naturobjekt zu sehen, dem offenbar einige Besonderheiten (wie vor allem der Blick) zukommen. So sieht es aus, wenn wir annehmen, dass »ein anderer Mensch in unseren Wahrnehmungsbereich« tritt, wie es in den Cartesianischen Meditationen bezeichnenderweise heißt – angeblich »als ein Körper […], der als primordialer natürlich bloß Bestimmungsstück meiner selbst (›immanente Transzendenz‹) ist« und ›Leib‹ demnach nur von meinen Gnaden sein dürfte. 9 Dieser programmatische Ausgang vom rätselhafterweise schon als vorhanden vorausgesetzten Eigenen, vom eigenen Leib und Ego verdankt sich aber einer Reduktion, einer Abstraktion, Abblendung, Scheidung und Ausschaltung des Fremden 10, das uns zuvor bereits innewohnte und in Wahrheit niemals in einem reinen Selbstsein zu tilgen sein wird, das, als solches, zu einer befremdlichen inneren oder äußeren Welt kaum mehr Kontakt aufzunehmen vermöchte. Wenn im anschließenden zweiten Band dieses Projekts jene Spielräume chronotopografisch gleichsam abgesteckt und ausgelotet werden, so geschieht das infolgedessen unter Verzicht auf die Annahme, man könnte sie ausgehend vom Eigenen untersuchen, das man zuvor von jeglicher Fremdheit gereinigt hat, um ihm sodann Fremderfahrung als Erfahrung von Fremdem zuzutrauen. Die Erfahrung des Anderen (im doppelten Sinne des Genitivs) unterwandert uns als befremdliche von Anfang an und so, dass wir sie uns nicht transparent machen können. Was aber folgt aus diesem so oft schon ventilierten Befund praktisch? Wie steht es um die praktischen Möglichkeiten jener ›Bewährung‹, die Husserl nur streift? Der anschließende Band will keine 9 Nämlich dank »apperzeptiver Übertragung« von der eigenen leiblichen Erfahrung her; vgl. ebd., § 50, S. 113. 10 Zu diesen Begriffen vgl. ebd. § 44, S. 95–101.

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vorschnelle Antwort auf diese vielleicht schwierigste sozialphilosophische Frage geben. Vielmehr konzentriert er sich darauf, in einer chronotopografischen Beschreibung des Sozialen die Hinsichten anzugeben, die für eine solche Bewährung außerordentlich und, wie ich glaube, primär ›relevant‹ sein müssten. Dabei knüpft der Band II genau dort an, wo der erste zu einem vorläufigen Abschluss gekommen ist: bei der allerersten Aufnahme der Anderen, die zur Welt und zur Sprache erst kommen müssen und insofern als das Paradigma des radikalsten Ausgesetztseins gelten können, das sich denken lässt. Die Frage, die am Rande oder bereits jenseits dieser Topografie gleichsam den Fluchtpunkt des folgenden Bandes markiert, lautet, ob dieses Ausgesetztsein, das niemand je loswird, in eine rückhaltlose Auslieferung an Andere und ihre Gewalt umschlagen muss und ob die Anerkennung des Ausgesetzt- und Ausgeliefertseins nur Abwehr provozieren muss – angesichts radikalster Fremderfahrung, vor der wir am Ende nur die Flucht ergreifen können, sei es anderswohin, sei es in den Wahnsinn und schließlich aus der Welt selbst. 11

Vf., Zeit-Gewalt und Gewalt-Zeit. Dimensionen verfehlter Gegenwart in phänomenologischen, politischen und historischen Perspektiven, Zug 2017. Denkt man das Ausgesetztsein von Anfang an im Hinblick auf eine rückhaltlose Auslieferung an Andere, deren Gewaltträchtigkeit erst nach und nach deutlich werden kann, so geht damit, in der Perspektive jenes Fluchtpunktes, eine existenzielle Dramatisierung der Fremderfahrung einher, die gewiss nicht auf das Problem schierer Unzugänglichkeit des Anderen zu reduzieren ist. Die sozialphilosophischen Konsequenzen daraus zu ziehen, bleibt ein Desiderat.

11

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Namenregister

Abel 975, 1053 Abel, G. 497 Abensour, M. 53 Abraham 184, 200 Abraham, U. Acton, J. E. E. Dalberg 424 Adler, A. 424 Adler, M. 70, 94 Adloff, F. 279 Adorno, T. W. 48, 69 ff., 133, 135, 303, 406, 639, 772, 775, 834, 898, 1006 Agamben, G. 50, 82, 160, 356, 434– 438, 527, 631, 662, 696, 701, 739 f., 743, 745, 877 Agier, M. 717 Aglietta, M. 888 Aischylos 396 Alberti, L. B. 706 Alonso, D. 101 Althusser, L. 665, 690, 693 Altvater, E. 631 Améry, J. 829 Anaximander 563, 914, 942 Anders, G. 140, 528 Antelme, R. 139, 141, 250 Antigone 720 Apel, K.-O. 395, 982 Appadurai, A. 541 Arato, A. 584 Arendt, H. 52, 57 f., 69 f., 90, 95, 102, 116, 134, 140, 142, 254, 260, 285, 298, 308, 315, 331 ff., 370, 397, 404, 449, 463, 474, 515, 524, 590 f., 607– 611, 662, 674, 691, 694, 710, 712 f., 717, 761 f., 791, 801 f., 828, 842,

873, 904 f., 907, 915, 940, 972 ff., 988, 990, 1010, 1045, 1047, 1055 f., 1058, 1061, 1064, 1072 Aristoteles 55, 91, 97, 104, 106, 119, 126, 143, 145, 152, 161, 182, 191, 211, 303, 307, 310, 325, 327, 332, 337, 397, 407, 435 f., 489, 505, 508, 510, 538, 547, 569, 571, 595, 597, 599, 627, 690, 706, 787, 793, 863, 896, 952, 954, 971 Armstrong, T. 949 Arndt, E. M. 50 f. Aron, R. 41, 87, 1051 Augé, M. 545 Augustinus, A. 58, 232, 300, 377 Augustus (Kaiser) 435 Austin, J. L. 391 f., 1020 Avenarius, R. 339 Bachelard, G. 118, 150, 336, 408, 533 Bachmann, I. 272, 846 Bachtin, M. 407, 544 f. Badiou, A. 102, 313, 412, 738 Baecker, D. 49 Baier, A. 870, 872 Baker, K. M. 58 Baldwin, J. M. 111, 601, 675, 908 Balibar, É. 81, 415, 961 Ballanche, P.-S. 715 Barnes, C. 788 Barthes, R. 401, 405 f., 444, 447, 451, 453 f., 460–480, 538, 716, 733, 1004 Bartleby 471 Bataille, G. 48, 273, 275, 284, 290, 295, 357, 405, 408, 853, 983, 1058 Baudrillard, J. 45–53, 1068

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Namenregister Bauman, Z. 90, 133, 164, 309, 545, 591, 639, 1045, 1047, 1058 Bayer, O. 270 Beaufret, J. 166 Bebel, A. 943 Becker, H. 786 Beebe, S. D. 21, 537 Benhabib, S. 302, 639, 778 Benjamin, W. 910 f., 942 Benoist, J. 337 Bensaïd, D. 739 Bentham, J. 852 Berger, P. L. 110, 112, 114, 944 Bergmann, W. 87 Bergson, H. 208, 222, 328, 373, 570, 908 Berlin, I. 190 f. Berman, M. 591 Betti, E. 495 Bia 394 Bichat, X. 361, 408 Bielefeldt, H. 780 Biemel, W. 338 Biran, M.-F.-P. G. M. de 300, 365, 374–378, 381, 387, 410, 426, 431, 448 Blanchot, M. 27, 48, 88, 121, 133 ff., 141, 149, 160, 174, 260, 271, 284, 286 ff., 296, 316 f., 353, 357, 466, 472, 631, 634, 791, 831, 840, 853, 899, 917, 1032, 1046, 1058 Blau, P. 281 Blei, F. 633, 642 Bloch, E. 331 Blumenberg, H. 72, 357, 511 Böckenförde, E.-W. 592, 864 Boethius/Boëthius 332, 887 Boëtié, É. de la 963 Böhme, J. 188 Böll, H. 846 Boltanski, L. 112, 117, 145, 704 Bopp, F. 179 Borchert, W. 299 Borsche, T. 197 Bosch, H. 1041 Bourdieu, P. 85 f., 269, 286, 291, 545, 722, 731, 775

Bourgeois, L. 1071 Boveri, M. 587, 799, 922 Brandom, R. 113, 367, 397 Brecht, B. 719 f., 876 Brettschneider, A. 934 Briand, A. 972, 981 Britten, B. 330 Broch, H. 254, 633, 642 Bröckling, U. 682 f., 686 ff. Brown, W. 739 f., 745 Bruner, J. S. 539 Brunkhorst, H. 602 Brunschvicg, L. 210 Buber, M. 87, 92, 95, 181, 184, 200 ff., 299 f., 311, 691, 864, 975, 984, 988, 1001 Buffon, G.-L. L., Comte de 509, 555 Bühler, K. 198, 200, 481, 483 Burckhardt, J. 424 f., 428 Burdach, K. F. 520, 674 Bush, G. W. 91, 1052 Butler, J. 107, 392, 489, 690, 701, 730, 776, 778 f. Butterwegge, C. 44, 562 Buytendijk, F. J. J. 220 Caillois, R. 48, 86 Callié, A. 269, 273, 279 ff., 290, 295 f., 848, 939 Camus, A. 23, 151, 716, 1002, 1007, 1058 Canguilhem, G. 51, 83, 362 ff., 372 f., 523, 785 Caputo, J. D. 356 Cardano 64 Casey, E. S. 545 Cassirer, E. 68, 91, 156, 184, 194, 327, 392, 397, 982, 985 Castel, R. 46 Castoriadis, C. 319 Celan, P. 27, 205, 221, 304, 330 Certeau, M. de 118, 544 Chargaff, E. 512 Cheal, D. 277 Cheney, D. 91 Chladenius, J. M. 706, 708 Chrétien, J.-L. 343

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Namenregister Cicero, M. T. 136, 392, 794, 863 Clark, A. 506 Clastres, P. 978 ff., 1050 Clausewitz, C. v. 1005, 1039 f., 1044, 1046–1050 Clemens v. Alexandria 563 Cohen, H. 246, 255, 356 Cohen, J. 584 Columbus, C. 910 Cometti, J.-P. 343 Comte, A. 559 Condillac, É. B. de 187, 194, 201, 287, 339 Condorcet, M. J. 57 Cook, J. 56, 545 Courtine, J.-F. 343, 349 Creveld, M. v. 1051 Crick, F. 493 Crouch, C. 678, 701 d’Alembert, J. le R. 508 D’Hondt, J. 63 da Vinci, L. 706 Dahlmann, F. C. 106 Dahrendorf, R. 754 Dallmayr, F. 644 Damon, W. 782 Dante Alighieri 533, 1041, 1053 Därmann, I. 273 Darwin, C. 21, 43, 210, 468, 493 Dastur, F. 311, 324, 343 Davidson, D. 322, 497 Debord, G. 730 Delacroix, E. 560, 1005 Deleuze, G. 50, 300, 543, 724 Derrida, J. 31, 43, 48, 88, 91, 131, 143, 180, 182, 184, 186, 200, 209, 221, 225, 235, 253, 269, 271, 274 f., 278, 281–285, 289 ff., 293, 296, 300, 316, 327, 342, 349, 355, 357, 381, 412, 429, 439, 443, 477, 524, 527, 547, 568, 626, 642, 742 f., 746, 748, 791, 853, 865, 876, 911, 915, 948, 957, 974, 986, 1032, 1057, 1065, 1069, 1071 Descartes, R. 59, 334, 354, 656, 658, 670, 838, 875

Descombes, V. 31 DesPres, T. 1038 Deucalion 18 Dewey, J. 636, 638 Di Muzio, T. 921, 933 f., 948 f. Diderot, D. 56, 508 Didi-Huberman, G. 330, 543, 1008 Diehle, A. 55 Dießenbacher, H. 1051 Dilthey, W. 374, 387, 410, 426, 431, 495, 500, 559 Diogenes v. Sinope 1013 Dobruška, M. 66 Dominguez, P. 101 Donati, P. 81 Donzelot, J. 43, 52, 66, 74 ff., 102, 543 Doretti, M. 101 Dörner, K. 604 Dosse, F. 31 Dostojewski[j], F. 226, 424, 874, 899, 914 f., 942, 1047, 1054, 1057 f. Dreitzel, H. P. 732 Driesch, H. A. E. 94 Droste-Hülshoff, A. v. 661 Droysen, J. G. 495 Du Bois Reymond, E. 673 Dufrenne, M. 357 Dulong, R. 119 Duras, M. 634 Dürer, A. 706 Durkheim, E. 85 ff., 110, 136, 596, 604 f., 610, 920 f., 923, 937, 959, 961, 966 Durosoy, J.-B. 66 Eagleton, T. 1027 Ehrenberg, A. 45, 701, 834, 948 Eichmann, A. 802 Eisler, R. 331 Eliade, M. 346 Elias, N. 64 Emerita, G. 733 Empedokles 1005 f. Enkelmann, W. D. 275 Enzensberger, H. M. 1049 Epiktet 655 f. Erikson, E. H. 817, 871

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Namenregister Esping-Andersen, G. 81 Esposito, R. 88, 620, 626, 629, 631 Eumeniden 396 Euripides 738, 759 Ewald, F. 41, 53, 75, 78, 1069 Fanon, F. 996 Farah, N. 1032 Feinberg, J. 253 Ferguson, A. 57 Feuerbach, L. 87, 111, 202, 301, 445 Fichte, J. G. 51, 211, 224, 484, 673, 801, 1037 f. Ficino, M. 64 Figal, G. 495 Fink, E. 99, 102 f., 114, 144, 150, 160, 163 f., 288, 312 f., 549, 914 Finkielkraut, A. 121, 133, 139, 318 Flavell, J. H. 782 Forster, G. 56, 545, 561, 1055 Foucault, M. 48, 115, 150, 161, 176, 200, 219, 287, 319, 340, 357, 387, 409, 427 ff., 449, 452, 452, 488, 499 ff., 564, 639, 666 ff., 672, 675– 682, 684 f., 690, 693, 701, 738, 740, 745, 748, 756 f., 759 ff., 765, 940, 1003 Frank, M. 670, 960 Fraser, N. 778 f. Frazer, J. G. 88 Frege, G. 982 Freisler, R. 409 Freud, S. 164, 209, 215, 308, 323, 367, 468, 517, 528, 560, 563, 784, 890, 914, 976, 1015, 1018, 1037 Freudenthal, G. 59 Friedrich II. 496 Fukuyama, F. 91, 563, 738, 1059 Gabel, M. 343 Gadamer, H.-G. 91, 129, 131, 184, 495, 497 ff., 595, 597, 987 Gama, V. d. 910 Gamm, G. 144 Garapon, A. 1051 Geck, L. H. A. 57 Geertz, C. 88

Gehlen, A. 242 Geiger, L. 392 Geiger, T. 22, 81 Gellner, E. 799 Georgias v. Leontinoi 860, 879 Georgius Venetus 332 Gerhardt, V. 156 Gethmann, C.-F. 210 Gewirth, A. 617 Giddens, A. 52, 83 Gilligan, C. 251, 779 Ginzburg, C. 308, 490 Girard, R. 976 ff., 980, 994 Godbout, J. 269, 273 Godelier, M. 269, 277, 281 f., 930 Goebbels, J. 1025 Goethe, J. W. 661, 910 Goffman, E. 786 Goldschmidt, G.-A. 398 Goldstein, K. 94, 373 Gondek, H.-D. 342 Goodman, N. 214 Gorgias 392, 394 Görres, J. 801 Gouges, O. de 772 Gouldner, A. W. 281 Goya, F. 1041 Graeber, D. 877, 893 f., 897, 914, 929, 931 f., 934, 937, 941, 948, 957, 965 Graf, W. 409 Grant, R. W. 814 Graumann, C. F. 190 Greisch, J. 343, 446, 451, 495 Grimm, J. 179, 661, 948 Grimm, W. 179, 661, 948 Groethuysen, B. 156 Grondin, J. 495 Grossman, W. 186 f. Grotius, H. 35 Grüny, C. 1042 Guéhenno, J.-M. 469 Gump, F. 767 Günderrode, K. v. 786 Gurwitsch, A. 84, 158, 212, 373, 523, 976

1154 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Namenregister Haar, M. 343 Habermas, J. 44, 57 ff., 62, 72, 91, 174, 185, 303, 318, 322, 395, 409, 606, 640, 675, 708, 719, 790, 841 f., 961, 982 Hadot, P. 161 Haeffner, G. SJ 285 Haftmann, W. 20, 85 Haller, A. v. 795 Hamann, J. G. 188 Haraway, D. 506 Hardt, M. 416, 535, 631, 688, 786 Havel, V. 407, 411 Hegel, G. W. F. 18, 20, 22, 24 f., 30, 58, 60–64, 68 ff., 73, 80, 83, 88 f., 92, 95, 105, 107, 111, 129, 133 ff., 138, 146, 158, 184, 189 f., 196 ff., 206, 208, 232 f., 258, 300, 303, 307, 309 f., 322, 325 f., 330, 333, 339, 354 f., 361, 367, 373, 392, 410, 416, 426, 444, 448, 450, 453, 481, 483, 526, 534, 550, 557 f., 595, 660 f., 669 f., 673, 697, 702, 706, 717, 721, 740, 774, 833 f., 842, 849, 914 f., 922, 958 f., 972, 1005 ff., 1032, 1038, 1055 Heidegger, M. 35, 84, 86, 89, 91, 103 f., 107 ff., 111–116, 119, 123 ff., 151, 153 f., 158, 162 f., 166, 172 f., 185, 192 ff., 206, 208, 210 ff., 225 f., 232, 236, 255, 269, 287 f., 303, 311 f., 315, 323, 325, 327, 339 ff., 345 f., 349, 365–370, 373 ff., 397 f., 410 f., 431, 446, 451 f., 461, 495, 500, 543, 564, 570, 626, 643, 646, 648, 657 f., 677, 696, 706, 729, 742, 892, 901–905, 912, 914 ff., 976, 1023, 1054 f., 1062, 1064 Heimann, E. 79 Heinemann, F. 151 Held, D. 636 Held, G. 98 Held, K. 761, 783 Hénaff, M. 269, 273 f., 280–285, 294 f., 303, 426, 629, 831, 836 ff., 876, 890, 879, 899, 929, 931, 955, 965

Henrich, D. 225, 672, 1060 Henry, M. 342 f., 346, 374 Heraklit 563, 696, 976, 986, 1048 Herder, J. G. 51, 57, 87, 91 f., 184, 187–196, 198 ff., 301, 327, 392, 397, 982 Herodot 55 Hess, M. 66 Hessel, S. 678, 1029 Hiob 994 Hitler, A. 943, 1058, 1063 Hobbes, T. 21, 30, 59 ff., 104 f., 131 f., 135, 138, 146, 163, 205 f., 210, 217, 301, 316, 333, 379, 426 f., 448, 484, 533, 548, 629 ff., 692, 696, 774, 792, 817, 852, 863, 894 f., 971, 976, 978, 1038, 1053, 1070 Hobsbawm, E. 138, 164, 1044 Höffe, O. 815 Hoffmann, G. 87 Hölderlin, F. 301, 361, 443, 795 Homans, G. C. 281 Honneth, A. 35, 62, 71 ff., 83, 426, 639 Horkheimer, M. 48, 62, 69 ff., 834 Hösle, V. 395 Hübenthal, C. 615 Humboldt, W. v. 78, 87, 91 f., 111, 179 f., 184, 187 ff., 192 ff., 196 ff., 202, 301, 327, 392, 496, 982 Hume, D. 559 Husri, S. 51 Husserl, E. 17, 30, 86 f., 89, 107, 109, 112, 158, 185, 206 ff., 211 f., 214, 220, 222, 232 f., 236, 287 f., 300 f., 306, 311 f., 321, 325, 337–345, 347, 349, 351, 354, 357, 529, 531, 566, 585, 706, 873, 992, 1073 Ibn Khaldun 51 Imbusch, H. 562 Iokaste 759 Irigaray, L. 718, 778 Isaak 184 Isokrates 760 Itard, J. 187

1155 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Namenregister Jaar, A. 733 Jacob, F. 481, 488, 491, 493, 505, 508, 523, 567 Jacques, F. 395 James, W. 908 Janicaud, D. 141, 268, 331, 337–357, 524 Janke, W. 157 ff., Jankélévitch, V. 207, 257, 915, 948 Jaspers, K. 69, 90, 126, 151 ff., 162 f., 323, 366, 540, 915, 972, 1060 Jay, M. 831, 838 Joas, H. 72, 90, 343 Jonas, H. 19, 199, 256, 262, 515, 541, 577 ff., 582, 584, 908 Josef K. (Romanfigur) 903 Joyce, J. 355, 372, 516 Jullien, F. 300, 463 Jünger, E. 1034, 1036, 1047 Jussen, B. 508 Kafka, F. 299, 875, 903, 905 Kain 896 f., 975, 1053 Kaldor, M. 21, 537, 1039 f., 1049, 1051 Kalivoda, G. 391 Kalverkämper, H. 391 Kant, I. 35, 56, 60 f., 63 f., 94, 107, 109, 111, 133 f., 145, 185, 196 f., 205, 210, 217, 228 f., 243 ff., 251, 255, 258, 266, 276, 297, 303, 310, 316, 319 ff., 348, 355, 366, 368, 413, 415, 428, 492, 496, 509, 515, 542, 547 f., 555 ff., 560 f., 571, 586, 607, 612 f., 617, 639, 658, 705 ff., 708, 719, 757, 761 f., 771, 774, 793, 800– 804, 821, 826, 831, 840 ff., 848, 874, 902, 906, 915 f., 941 ff., 946, 959 ff., 965, 972, 978, 981, 1002, 1012 ff., 1017, 1019, 1023, 1028, 1038, 1055 ff.,1059, 1071 Kaufmann, F.-X. 80 Kay, L. E. 511 Keegan, J. 1051 Kegan, R. 782 Kellogg, F. B. 972, 981

Kertész, I. 301 Kierkegaard, S. 19, 48, 124, 149, 151, 154, 156, 158 ff., 162 f., 167, 171, 281, 310, 323, 656, 672, 677, 679, 681, 685, 914 f., 1024 Kipphardt, H. 1032 Kittsteiner, H. D. 242 Kirby, A. 541 Kleinberg, E. 166 Kleist, H. v. 786 Kobusch, T. 156 Kofman, S. 141, 1005 Kojève, A. 208, 426 Kolko, G. 1051 Kolnai, A. 1016–1020, 1027 Kondylis, P. 1051 Konrád, G. 407 Konstantin (Kaiser) 435 Koselleck, R. 560, 564 Kraus, K. 1054 Krippendorff, E. 1051 Kropotkin, P. 563, 592 Kruse, V. 65 Küchenhoff, J. 655 Kunert, G. 971 Lacan, J. 48, 287, 302 Laclau, E. 690, 693 Lacoue-Labarthe, P. 53, 133 Lamarck, J.-B. 520, 674 Lambert, J. H. 338 Lang, H. 302 Laplace, P.-S. 511 Larmore, C. 200 Las Casas, B. de 56, 1041, 1053 Latour, B. 49, 99, 535, 602, 895 ff., 921, 923, 1070 Lautréamont (Ducasse, I. L.) 1058 Lazarus, M. 200, 392 Lazzarato, M. 888, 918, 934, 948 Le Blanc, G. 655, 699 f. Leber, A. 860 Lefebvre, H. 545 Lefort, C. 53 Leibniz, G. W. 196, 214, 706 f., 710 Leinkauf, T. 28, 64, 315, 332 Lemkin, R. 972, 1051

1156 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Namenregister Lenin, W. I. 872, 1051 Lessenich, S. 43, 50, 80 f., 934 Levi, P. 801, 1046 Levinas, E. 19, 23, 31, 34, 48, 87 ff., 91 f., 94, 96, 118, 121, 123–127, 133 f., 141, 144, 152, 163, 165 f., 169 f., 176, 180 f., 184 ff., 189, 192 f., 199–203, 206–237, 240, 250, 253– 291, 299, 304–335, 338 f., 346, 348 ff., 352 ff., 357 f., 365, 367 f., 379–385, 387 f., 398, 406, 410 ff., 424, 429–435, 437–443, 466, 472, 482 f., 493, 515, 536, 541, 544, 548, 550, 559, 570, 573 ff., 584 f., 600, 613, 621, 635, 637, 642, 648, 650, 666, 690, 693 f., 706, 710, 725 f., 762, 767, 793, 892, 896 ff., 901, 916 f., 975, 984–988, 990–995, 999, 1001 f., 1943 ff., 1047 ff., 1054 f., 1058 f., 1069 Lévi-Strauss, C. 87, 273, 280 f. Lewin, K. 542, 545 Link, J. 535 Litt, T. 88, 281 Livius, T. 715, 976, 1053 Locke, J. 60, 136, 287, 339, 484, 864, 943 Lohmann, G. 94 Loick, D. 698 Loraux, N. 136, 709, 721 Losurdo, D. 1036, 1045 Lovejoy, A. O. 526 Löwith, K. 84, 86 f., 111 f., 157, 159 f., 255, 309 ff., 345, 976 Luckmann, T. 110, 112, 280 Ludendorff, E. 1049, 1051 Lueger, K. 1025 Luhmann, N. 24, 49, 85, 105, 205, 535, 602, 608, 790, 804, 809, 813, 815, 817 ff., 822 ff., 826 f., 830, 867, 870, 894, 921, 923 f., 1070 Lukács, G. 88 Lukrez 424, 555, 1053 Lützeler, P. M. 633 Luther, M. 496 Luxemburg, R. 303, 772 Lyell, C. 874

Lyotard, J.-F. 88, 91, 107, 353, 396, 402, 468, 5447, 706, 721, 727, 761, 775, 940, 1046, 1067, 1069 Mach, E. 339 Machiavelli, N. 104, 132, 454, 476, 820, 874, 1038 MacIntyre, A. 129 f., 356, 495, 596, 955 Mahnkopf, B. 631 Maimonides, M. 185 Maine de Biran, M.-F.-P. G. 300, 365, 374–378, 381, 387, 410, 426, 431, 448 Maistre, J. de 465, 468, 1036 Malone, D. 919, 921, 934, 948, 963 Malpas, J. 545 Mandeville, B. de 57, 246, 692 Mannheim, K. 576 Marcel, G. 116, 119, 152, 322, 366, 373 f., 907 Marchart, O. 642 Marcuse, H. 926, 942, 1041, 1061 Margalit, A. 739 Marinetti, F. 908 Marion, J.-L. 36, 287 ff., 292, 342 f., 346 ff., 353, 524, 706, 1024 Maritain, J. 156 Markova, I. 190 Mars 976 Marsilius v. Padua 17, 64 Marx, K. 18 f., 22, 43, 88, 117, 136, 310, 444 ff., 450, 468, 496, 591, 753 f., 960, 972 Maupertuis, C. de 201 Mauss, M. 87, 253, 269, 274, 280 f., 283 f., 288 f., 294 ff., 347, 629, 876, 890, 929–934, 937, 955–959, 965 f. Mbembe, A. 996, 1070 Mead, G. H. 22, 87, 111, 303, 673, 675, 708 Meinecke, F. 424, 439 Meister Eckhart 1007 Melville, H. 471 Mendel, G. 240, 493 Menenius 404, 474, 969, 715, 754 Menoetes 1007

1157 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Namenregister Merleau-Ponty, M. 36, 99, 133, 152, 158, 190, 192 f., 206, 208–221, 232 ff., 287 f., 298, 319, 324, 328, 338, 341, 350 f., 353, 364, 367 f., 371, 373 f., 376 f., 387, 431, 447, 539, 543, 545, 613, 621, 645, 707, 710, 906, 924, 961, 998, 1073 Meyrowitz, J. 541 Michaels, A. 533, 545 Mill, J. S. 571 Millett, K. 1042 Milton, J. 914, 947 Minow, M. 302, 767, 769, 778, 789, 793 Mirabeau, Comte de 78 Monod, J. 240 Montaigne, M. de 56, 70, 300, 795, 963 Montesquieu, C. de 56, 70, 887, 1057 Moore, B. 1004 Mouffe, C. 414, 417, 481, 488, 688, 709, 748, 979 Müller-Armack, A. 80 Müller-Lyer, F. 732 Münkler, H. 104, 453, 1039, 1049, 1051 Musil, R. 571, 587 Nabert, J. 224, 915, 990 Nancy, J.-L. 35, 53, 84, 88, 95, 114, 164, 173, 316, 352, 418, 536, 540 f., 548, 624, 626, 631 ff., 643–652, 657, 691 f., 729, 742 f., 745, 791, 870, 877, 940, 1054, 1060, 1064, 1073 Natorp, P. 67 f. Nederveen-Pieterse, J. 544 Negri, A. 416, 535, 631, 688, 696, 786 Nicolaus Cusanus 64, 301, 332 Niederland, W. G. 898 Nienass, B. 101 Nietzsche, F. 156, 245, 324, 424, 427, 445 ff., 450 f., 456–462, 464, 468, 476 ff., 484, 497, 500 f., 625, 656, 678, 774, 892 f., 896 f., 901, 914, 917, 949, 1020, 1023, 1027, 1058, 1074 Nilsson, M. P. 1041

Nishida, K. 545 Nussbaum, M. 138, 505, 612, 782 f. Oexle, O. G. 628 Ogilvie, B. 81 Oldham Appleby, J. 936, 957 Orléan, A. 888 Orwell, G. 400, 830, 852, 1004 Parmenides 198 Parry, J. 282 Parsons, T. 88 Pascal, B. 116, 157, 159, 405, 546, 656, 1009, 1062 Pasolini, P. P. 464 Patočka, J. 69, 90, 133, 281, 341, 439, 573 Patterson, O. 392, 489 Paulus, Apostel 943 Peirce, C. S. 338 Peitho 394 Peperzak, A. 238 Perelman, C. 395 Pessoa, F. 624 Petersen, E. 435 Petrarca, F. 28, 156, 301, 569 Pfeiffer, G. 207 Piaget, J. 150, 209 f., 675, 782, 841 Pico della Mirandola, G. 64, 1035 Piketty, T. 889, 948 Pinder, W. 576 Pinker, S. 19, 165, 980, 1057 Platon 97, 143, 152, 161, 182, 300, 304, 307, 316, 325, 334, 362, 392 ff., 398, 413, 430, 484, 655, 753, 793, 863, 981, 1007, 1020, 1033 Pleines, J.-E. 1048 Plessner, H. 66, 88, 112 f., 131, 157, 159, 205, 373, 633–641, 820, 920, 993, 1061 Plotin 332, 430 Plutarch 563 Polanyi, K. 44, 80, 83, 739, 865, 929, 939, 951 f., 954 ff., 958 Polineikes 759 Pribram, K. 105 Protarchos 394

1158 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Namenregister Proust, F. 408 f., 413 Proust, M. 215 Pulcini, E. 692, 938 Quetelet, A. 85 Quine, W. v. O. 497 Rabelais, F. 914 Rancière, J. 52, 107, 120, 313, 404, 412, 414, 473 ff., 477 f., 489 f., 502, 538, 599, 647, 662, 664, 667, 693– 697, 701, 704 f., 707–737, 740 f., 743, 745 f., 748, 750–756, 761, 765, 858, 940, 995, 1067 Rauschning, H. 1058 Rawls, J. 34, 65, 612, 636 Reagan, R. 683, 1052 Renault, E. 413, 610, 732 Ricœur, P. 31, 48, 90 f., 107, 114–119, 124 ff., 133, 148, 152 ff., 164, 166– 171, 174 f., 181, 185, 211 f., 221, 224, 268, 270, 273, 276, 286, 288, 290, 293, 295 f., 298–308, 311, 318– 334, 338, 341, 343, 345, 348 f., 355, 357, 364–385, 387, 389, 407, 410, 426, 431 f., 434 f., 443, 452, 492, 495, 498, 500, 511, 518, 541, 559, 568, 580, 591, 601, 701, 707, 727, 783, 793, 795, 813, 838, 840, 865, 877, 903, 911 ff., 989 f., 998, 1043, 1058, 1061 f. Rifkin, J. 52 Rimbaud, A. 301, 739, 795 Ritsert, J. 85 Ritter, G. A. 79, 424, 439 Robertson, R. 541 Robins, R. H. 921, 933 f., 948, 967 Roose, T. G. A. 520 Roosevelt, T. 1036 Rorty, R. 145, 455, 459, 581, 594, 596 ff., 618 ff., 738, 961 Rosanvallon, P. 728 Rosenzweig, F. 92 f., 180 f., 184, 189, 200 ff., 204 f., 301, 863, 975, 984 f., 987, 1001 f. Ross, K. 739, 744 Rost, F. 285

Röttgers, K. 49, 65 f., 535, 1070 Rousseau, J.-J. 30, 56, 60, 62, 64, 66, 68, 117, 136, 187, 195, 205 f., 246– 251, 254, 265 f., 415, 555, 557 ff., 670, 692, 783, 800, 831, 840, 971 f., 1002, 1038 Rudolph, E. 464 Rumsfeld, D. 91 Ryklin, M. 451 Ryle, G. 391 Rymanów, Rabbi M. v. 185 Sade, M. de 917, 1058 Sahlins, M. 87, 269, 280, 930 Saint-Simon, C.-H. de 85 Salomo 1032 Sartre, J.-P. 86, 88, 123, 151 f., 166, 168, 206, 208, 211 f., 223 f., 288, 294, 313 f., 323, 330, 351, 370, 426, 538, 580 f., 692, 887, 903, 976, 1002, 1008 f., 1017, 1029, 1041, 1047, 1061, 1073 Saussure, F. de 322, 982 Scanlon, M. J. 356 Scarry, E. 1042 Scheff, T. J. 786 Scheler, M. 86, 206, 209, 246, 311, 319, 321, 1024, 1070 Schelling, F. W. J. 670 Schiller, F. 92, 722, 750, 757, 909, 911, 916 Schlegel, F. 378 Schleiermacher, F. 464, 495, 499, 576 Schmid, J. 1049 Schmidt, H. 53 Schmitt, C. 414, 436, 447, 472, 480, 503, 545 ff., 625, 714, 979, 1024, 1051 f. Scholem, G. 66, 181, 185 f. Schopenhauer, A. 247 Schrödinger, E. 673 Schuhmann, K. 338 Schulz, W. 228 Schürmann, R. 225 Schütz, A. 85 f., 112, 114, 119, 549, 569, 571, 576

1159 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Namenregister Searle, J. R. 92, 109–113, 119 ff., 127, 504 Sebald, W. G. 545 Selman, R. 782 Semprún, J. 624, 651 Sen, A. 782 f., 943 Seneca 58 Sennett, R. 821 Sepehri, P. 789 Serres, M. 273, 545 Shakespeare, W. 563, 914 Shalins, M. 87, 269, 280, 930 Shaw, G. B. 562 Sherman, W. T. 1041 Shklar, J. N. 70, 149, 413, 427, 610, 699, 799, 860, 875 Sigmund, S. 279 Simmel, G. 50, 63 f., 66, 85, 111, 281, 294, 672, 774, 926, 960 Sloterdijk, P. 19, 275, 729, 731, 949, 1060 ff. Smith, A. 56, 692, 894 f., 932, 953, 957 Snyder, T. 135 Sofsky, W. 1042 Sokrates 156, 283, 468, 661, 702 Solon 469, 571 Sombart, N. 274 Sontag, S. 145 Sophokles 720, 738 Spann, O. 66 Spiegelberg, H. 338 Spinoza, B. de 18, 50, 125, 246, 367, 370, 415, 696, 991 Spivak, G. 167 f. Stalin, J. 943 Stangl, F. 1005 Starobinski, J. 94, 206, 269, 283, 296, 361, 770, 840, 850 Stegmaier, W. 477, 501, 544 Stein, L. 64, 66, 79 f. Steinthal, H. 184, 200, 392 Sternberger, D. 761 Stimilli, E. 934 Stirner, M. 19 Stoellger, P. 26, 276, 482 Strawson, P. 380

Streeck, W. 53, 73, 81, 866, 933, 936, 938, 954 Strenger, C. 91 Strulik, T. 804 Stürmer, M. 802 Szasz, T. 786 Szymborska, W. 919 Taguieff, P.-A. 775 Taureck, B. H. F. 424, 470, 549 Taylor, C. 72, 188–196, 200, 452, 496, 504, 613, 910 Tengelyi, L. 342 Tepl, J. v. 557, 563 Terenz 35, 317 Ternon, Y. 90, 133 Theunissen, M. 31, 167 ff., 300, 310 f., 539, 691 Thévenot, L. 117 Thiers, A. 435 Thomas v. Aquin 57 f., 64, 452 Thukydides 130 f., 138, 625 Thurnwald, R. 280 Tibi, B. 51 Tieck, L. 661 Tocqueville, A. de 887, 1002 ff. Todorov, T. 29 f., 90, 249 ff., 254, 538, 544, 639, 801, 803, 1044 ff., 1048, 1057 ff. Tomasello, M. 675 Tönnies, F. 66, 88, 640 Topitsch, E. 507 Toulmin, S. 523 Touraine, A. 42 Trabant, J. 184, 189, 198, 201, 203, 987 Traverso, E. 90, 133, 1007 Treviranus, G. R. 520, 674 Tuchmann, B. 424 Tugendhat, E. 251 ff. Turgot, J. 57 Turiel, E. 782 Ueding, G. 391 Valéry, P. 90, 232, 877 Vattimo, G. 352, 458, 496

1160 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Namenregister Veblen, T. 275 Verbitsky, H. 21 Vergil 1007, 1041, 1053 Veyne, P. 710 Vico, G. 35, 56 f., 100 Victor v. Aveyron 187 Virno, P. 688 Voirol, O. 700 Vollrath, E. 761 Voltaire 56, 133, 139, 164, 722 Vries, H. de 345 Wagner, D. 789 Wahl, J. 152, 207 f. Waldenfels, B. 48, 87, 94 f., 112, 207 f., 245, 321, 450, 535 f., 611, 707 Wallach, J. 1051 Walzer, M. 32, 499, 1034, 1041 f., 1051 Wassermann, F. 1049 Watson, J. D. 493 Weber, M. 72, 85 ff., 121, 424, 439, 448 f. Wegener, A. 490 Weigel, S. 508 Weil, E. 982, 987

Weiss, P. 545, 1072 Wellmer, A. 184, 987 Werber, N. 631 Westerkamp, D. 133, 351, 356 Willer, S. 508 Williams, B. 262, 783 Willke, H. 924 Wilson, N. L. 497 Winch, P. 88 Winnicott, D. W. 253 Wittgenstein, L. 24, 88, 108, 123, 129, 287, 391, 398, 533, 544, 596, 665, 982 Wolf, C. 786 Wollstonecraft, M. 772 Wroblewsky, V. v. 314 Wundt, W. 57, 200 Wyschogrod, E. 164, 1039 Young, I. M. 302, 778 Zacher, H. F. 80 Zimmermann, M. 1033 Žižek, S. 743 Zoll, R. 593 Zweig, S. 68, 70, 78, 1056, 1063 f.

1161 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

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Sachregister

A(anta)gonismus/a(anta)gonistisch 60, 75, 133, 206, 414, 417 f., 446, 461, 485, 504, 561, 642, 696, 698, 701, 748, 921, 1013 f. aísthēsis 705, 719, 722, 735 f. Akroamatisch 197 f., 476 An-Archie/anarchisch 104, 211, 214, 219, 225 ff., 230, 232, 332, 482, 487, 490, 527, 537, 543, 723, 741, 745, 747, 763, 1074 An-ökonomisch/-Ökonomie 245, 261, 276, 278, 282 f., 290 f., 298, 524, 526, 876, 880 ff., 897 f., 916, 932 Anonym/-ität 314, 440, 540, 555 f., 559, 595, 602, 630, 637, 646, 757, 809, 814, 817, 823 f., 828, 867, 875, 903, 958, 1017 Anteilslos/-igkeit 474 f., 664, 710, 712 ff., 718 ff., 729, 750 ff., 754 Anthropogenese 43, 182 Anthropologie 72, 87, 111, 153 f., 191, 280, 288, 297, 340, 373, 692, 803, 818, 825, 896, 898, 914, 949, 1035 Apokalypse/Apokalyptik 582, 1060 f. Archäologie/archäologisch 129, 131, 137, 146 f., 152, 172 f., 211, 214, 219, 224 ff., 266, 340, 395, 403, 535, 676, 894, 1048, 1050 Archäologie der Gewalt/des Krieges 978 f., 1048, 1071 Asymmetrie/asymmetrisch 34, 94, 283 f., 294, 320 f., 380 f., 574, 585, 674, 853, 862, 868, 878 Atheismus/atheistisch 331, 349, 434, 992, 1057

attestation 125, 163, 330, 384, 411 Äußerste, das 89, 124, 139 f., 243, 317, 329, 579, 628, 662, 854, 879, 966, 1005, 1033 ff., 1039–1047, 1053, 1055, 1065 Ausgeliefert 20, 23, 199, 204, 220, 532, 550, 686, 720, 735, 820, 833, 840, 864, 878, 964, 971, 974, 980, 986, 1026, 1053, 1074 Auslieferung 70, 310, 361, 510, 532, 584, 638, 853 f., 873, 879, 971, 975, 986, 991, 1053 Befehl 201 ff., 218, 231, 256, 258 f., 320, 348, 449 Besessenheit 224, 258, 263, 969 Biologie 94, 112, 208, 363, 372 f., 452, 484, 492 ff., 505, 511 f., 520, 522, 556, 567, 674 Bleibe 18, 29, 551, 997, 1055, 1063 f., 1067, 1072 Bürgerkrieg 131, 134, 143, 217, 301, 395, 447, 468, 596, 626, 760, 774, 843, 976, 1007, 1033, 1049, 1060 Bürgerverrat 592, 828, 835, 864 Chiasma/-tisch 33 f., 209, 265, 371, 388, 391, 421, 447, 502, 511 Chrematistik/chrēmatistikē 739, 865, 929, 953 conatus essendi 228, 367, 991 conditio historica 116, 154, 334, 369, 915 f., 1036, 1062, 1064 conditio humana 1034–1038, 1040, 1045, 1050 ff.

1163 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Sachregister Dankbarkeit 279, 285, 288, 293 f., 296 f., 905 ff., 916 f. De-limitiert 415, 420, 728, 742 f., 746 dêmos 415, 420, 603, 696, 721, 734 ff., 834, 837, 858 Demütigung 17, 21, 76, 139, 413, 422, 428, 596 f., 788, 927, 935, 945, 989 Depolitisierung/depolitisiert 54, 57, 75 f., 414, 527, 538, 598, 600, 708, 743, 759, 945, 954, 964, 967, 983, 997 Desaster 21, 28, 69 f., 90, 134 f., 143, 316 f., 1046 Des-Identifikation/-identifizieren 420 f., 624, 649 f. Desolidarisierung 588 f., 618, 623 Dezentrierung/dezentriert 167, 170, 250, 259, 366, 837, 842, 882 Diachron/-ie 170, 232 f., 279, 281, 293, 295, 314, 316, 323, 328, 330, 333 f., 486, 509, 522, 526, 537, 540, 558, 565, 570, 574, 582, 584 f. Differenzsensibilität/differenzsensibel 36, 90, 409, 537, 672, 768, 773 ff., 787, 793 ff. Dissens/-uelle Erfahrung 117, 144, 147, 388, 396 f., 401 ff., 413 f., 417, 490, 588, 590, 598, 621 f., 626, 651, 671, 693, 699, 701, 718 ff., 723, 727 ff., 735, 751 ff., 757, 765, 777, 779, 792, 976, 989, 1002, 1072 Dissoziation 33, 774 f., 940 DNS 363, 485, 493, 511, 566 f., 975 Dritte 74, 77, 86, 92, 94 ff., 124, 171, 244, 258, 263, 265, 286, 309, 439, 478, 505, 508, 522, 537, 541, 548 ff., 569, 572, 593, 600 f., 606, 666, 689, 880, 925, 988, 1001, 1015, 1069 Empörung 220, 415, 428, 610, 678, 732, 760, 934, 1028 f. Entmächtigung 167 f., 170, 443, 473, 477, 487, 504, 527, 765 Entmoralisierung 923, 932, 936, 941, 955, 967 Entteleologisierung 59, 104, 194, 863

Epigenese/epigenetisch 510, 512, 520, 523, 567, 673 Epistemologie/epistemologisch 114 f., 120, 210, 363, 491, 511, 985 Erscheinungsraum 331, 590 Erschrecken/-des 24, 656, 1033, 1036 Ethizismus 313, 411 f., 642 f., 726, 733 Ethos 129, 131, 137, 144, 257, 392, 404, 505 f., 601, 603, 608, 635, 637, 651 f., 721, 751, 846, 856, 861 Existenzialien 21, 122, 154, 208, 369, 373, 913 Expressiv 184, 192, 195, 367, 397, 596 Expressivismus 92, 183, 189–194, 196, 200 Extrem/-fall 117, 135, 137 ff., 143, 164, 257, 277, 400, 455, 626 f., 662, 972, 1005, 1036, 1041 f., 1044 f., 1047 Feinde 67, 183, 302, 315, 402, 458, 470, 472, 587, 625, 802, 911, 977 ff., 1006 f., 1022, 1072 f. Filiation 130, 371 f., 570, 573 ff., 584 Flucht 28, 36, 398 f., 532, 579, 641, 746, 1063 ff. Flüchtling/-e 442, 537, 648, 651, 734, 742 ff., 763, 864, 983, 1055, 1063 ff., 1071 Fortpflanzung 481, 492 f., 505 f., 510, 514, 520, 567 Frieden 61, 77, 217, 799 f., 803 f., 831 f., 843, 928, 981, 991 ff., 995, 1050, 1055, 1060 Fürsorge 239, 251, 295, 297, 312, 515, 569, 571, 779 Gastlichkeit 142, 182, 227, 283, 354, 408, 420, 477, 743, 748, 778, 791, 1063 f. Geburt 19 f., 27 f., 84, 165, 225, 266, 363 f., 369 f., 507, 513, 517, 519, 528, 530, 537, 543, 547, 557, 563, 565, 584, 627, 657, 741, 745, 941, 944, 958, 967, 1035, 1052 Gegengewalt 977 f., 980, 994 f., 1000, 1042, 1072

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Sachregister Gegeninterpretation/-smacht 455, 461, 485, 495, 504, 527 Gegenseitigkeit 217, 262 f., 264, 280 ff., 295, 321, 381, 526, 708 Geld 275, 823, 866, 929, 931, 944, 959 f., 962, 966 Generativ/-e Dimension/Zeiterfahrung 281, 372, 484 ff., 492, 510 f., 513, 515 f., 520–525, 539, 546, 556, 558, 562 f., 565, 570, 572 f., 580 f., 584 ff., 906 f., 916 Generativität 43, 371 f., 452, 486, 492 ff., 504–527, 530, 543, 555 ff., 564 ff., 570, 574 ff., 581 f., 585 f., 916 Genozid/-ale Gewalt 101, 113, 137, 142, 163, 217 f., 230, 410 f., 801, 972, 1001, 1009, 1021, 1028, 1033, 1045, 1047, 1055, 1057 f. Geschichtlichkeit 33, 95, 116, 130, 133, 161, 179, 235 f., 314, 345, 369, 372, 543, 556, 561, 1035 f., 1051, 1056, 1061 f. Geschichtsphilosophie/geschichtsphilosophisch 57, 63, 67, 95, 133, 136, 152, 157 f., 352, 535, 910 Geschlechter 558, 564, 585 Gewalt, gute 380, 441, 988, 1001 Gewaltgeschichte 25, 29, 33, 150, 172, 232, 977, 1038, 1057 Gewissen 134, 140, 156, 170, 181, 185, 228 f., 242 ff., 255, 258 ff., 278, 312, 316, 320, 583, 902, 912, 936, 958, 991, 1058 f. Gleichheit 34, 80, 83, 94, 97, 264, 429, 536, 608, 640, 701, 715 f., 728, 739, 740 f., 745 f., 748 ff., 754 f., 759, 770 Grausamkeit 625, 1008, 1028, 1042 f. Gründungsmythos 894, 932, 957 Historische Erfahrung 120, 354, 472, 483, 830, 864, 874, 881, 915, 985, 1065 Historisierung/historisiert 129, 135, 138, 179, 548 f., 660, 881, 913, 1061 Hölle 1019, 1040 f., 1053 homo capax 383, 432 Humanismus 176, 314

Humankapital 516, 521, 525, 684, 943 Hyperphänomenalität 305, 351, 353, 724 Identitär/-e 60 f., 68, 79, 420 f., 547, 594, 796, 1026 f. In Erscheinung treten 107, 269, 305, 331, 348, 357, 380, 415, 489 f., 637, 647, 695, 698, 700, 712, 717, 720 f., 724 f., 727, 729, 732 f., 759, 762, 807, 823, 858, 1005 Indifferenz 438, 625, 635, 657, 678, 823, 959, 964 f., 1058 Inhuman/-e, das 550, 644, 1069 Inklusion 46, 82, 93, 303, 422, 699, 719 f., 768, 789 f., 793 Institutionen 60, 102, 489, 537, 543, 548, 573 f., 580, 591, 595, 601 ff., 605, 607, 723, 745, 747 f., 755, 788, 834, 846 ff., 858 ff., 861, 865, 874, 880 f., 882 ff., 927, 973, 975, 989, 998 f., 1038, 1067 Jenseits des Seins 173, 270, 304, 316, 319, 324, 398, 430, 433, 648, 986, 991 Juridismus/juridistisch 78, 403, 698 f., 1027 Kapital 17, 41, 47, 81, 275, 291, 298, 363 f., 420, 473, 516, 521, 525, 720, 828, 939, 951, 967 Kapitalismus 54, 98, 803, 865, 921, 951, 954 f. Kommunitaristen/kommunitaristisch 192, 196, 200, 475, 535, 539, 631 Kredit 296, 810, 877, 894, 935, 939, 951 Krieg 68, 103, 113, 121, 130, 134, 142, 217, 231, 248, 304 f., 402, 409, 433, 457, 468, 501, 542 f., 549, 571, 582, 772, 800, 832, 972, 975 f., 980, 985 f., 990 ff., 1000 f., 1006, 1033– 1062, 1071 f. Kriegszustand 800, 978, 1038

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Sachregister Lager 997, 1044 f. Lebensform, politische 27, 29, 144, 146 f., 166, 179, 469, 475, 480, 740, 742, 746, 748, 751, 755, 761, 776, 793, 1069 life sciences 363 f., 484 ff., 493, 512, 515, 520–525, 527, 675 f. low intensity conflicts 1034, 1058, 1060 Machtbesessenheit 417, 459, 483, 487, 500, 696 Metaphorik 511, 542 ff., 546, 549, 720, 838, 840 f., 850, 852, 855, 1010 f. Mimetisches Begehren 977, 995 Misstrauen 27 ff., 210, 800 ff., 807 ff., 817, 820, 822, 825, 830, 835 ff., 840 ff., 847, 849, 855, 867, 869 ff., 875 ff., 880, 882 ff. Mit-Leiden/-schaft 329, 608 f., 873 Moralische Ökonomie 297, 557, 877, 879, 898, 932 Moralökonomie 931 ff., 936, 939, 941, 956 ff., 962, 966 multitude 18, 415, 420, 631, 688, 696, 744 Mundtot 78, 413, 482, 489, 940, 983, 712, 746, 759, 762 ff. Nächste/-r 31, 95, 231, 250, 259, 263 ff., 356, 372, 598 ff., 607, 622, 651, 896, 998 f. Nachträglichkeit 216, 219, 231, 233, 310, 328, 350, 473, 476, 645 Naturzustand 217, 230, 248, 534, 542, 799 f., 831, 844, 972, 978, 995, 1000 f., 1037, 1055 Nazis 135, 314, 324, 515, 911 Negation, bestimmte 73, 83, 526, 535, 686, 729, 926 Neoliberal/-ismus 53, 562, 739 Nicht-Indifferenz 21, 94, 124, 126, 141, 163, 211, 217 f., 222, 229 f., 232, 247, 254, 256, 266, 284, 410, 572, 601, 650, 726, 993, 1003 Nicht-Menschliches 644, 1061

Normalisierung 51, 408, 535, 768, 777, 792 f. Normativität 59, 90, 785 f., 1065 Öffentlichkeit 608, 638, 736, 836 f., 841 f., 847, 857, 859, 1010 Ohr 189, 194, 198, 201 ff., 690, 695, 716, 730, 755, 765, 992 oîkos 58, 275, 524, 865, 951 Ökonomie 41, 47, 73, 161, 257, 260, 275 f., 282, 290 ff., 297, 310, 526, 557, 562, 573, 587, 623, 686, 698, 740, 803, 865, 877, 889–898, 902, 904 f., 919, 933, 941, 948 ff., 952– 967, 986, 996 Ökonomisierung 42, 47, 71, 80, 682 ff., 687 ff., 921, 929, 938 ff., 965 ff., 1050 Ontogenese/ontogenetisch 25, 187, 200, 245, 251 f., 511, 665, 671, 781, 784, 965 Ontologie 89, 103, 108 ff., 112–127, 153 f., 163, 166, 169, 172, 208 ff., 215, 220, 236, 255, 269 ff., 284, 288, 316, 319, 326, 372, 374, 405, 431, 566, 648, 663, 680, 707, 742, 905, 912, 915, 976, 990, 999, 1054 –, direkte 99, 118, 120, 153, 369, 646, 668, 677, 696, 1062, 1064 othering 168, 312, 786 Paradox des Politischen 51, 865, 882, 989, 998, 1038 parrhesía 403, 748, 757–762, 765 Passioniert/-e Freiheit 75, 256, 298, 530, 1070 Passivität 225, 229, 327, 374 f., 378 f., 381–386, 431, 434, 621, 690, 705, 764, 783, 872, 1070 Pathisch 159, 357, 362, 722 ff., 731 ff., 966, 1070 páthos 148, 159, 255, 309, 333, 403, 411, 432, 466, 705, 723 f., 729, 731 Pazifiziert 61, 64, 114, 535, 971, 1038 Perspektivität 706 f., 719, 838, 841 pólemos 143, 394, 402, 470, 549, 696, 976, 986, 1000, 1033, 1037, 1048

1166 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Sachregister Politisierung 77, 271, 292, 298, 400, 467, 470, 473, 475, 478, 600, 607 f., 611, 667, 688 f., 694, 698, 700, 708, 744 f., 761, 773, 936 Polizei/-liche Ordnung 478, 693, 711, 713, 718, 723, 728, 734, 748 f. Remoralisierung 934, 937 ff., 945, 956 Repräsentation 42, 75, 191 f., 354, 357, 367, 549, 624, 724, 1002, 1047 Reproduktion 567, 570, 573 f., 579 Reziprozität 87, 250, 261–265, 277, 280–284, 286, 290, 862, 876, 878, 929 ff., 956 ff. Risiko 75, 810, 818 ff., 846, 880 Schuld-Frage 901, 903, 911, 954, 965 ff. Schuldknechtschaft; debt bondage/ enslavement 293, 866, 933, 936, 939 f., 949 f., 952 f., 955, 962 f., 966 Seele 189, 201, 204, 236, 328, 515, 635, 960 Selbst-Bezeugung 93, 119, 370 f., 518, 573 Sensibilität 64, 355, 368 f., 406, 409, 485, 672, 701, 722 f., 768, 773 f., 777, 793 ff., 935, 1012, 1070, 1072, 1074 Sichausliefern 872 f., 878 Sichtbarkeit 209, 212 f., 699 f., 712 ff., 722, 730 ff., 735, 831, 833, 836–842, 852 f., 858, 868 Signifikative Differenz 86, 289, 450 f., 523, 676 Singularität 93, 152, 174, 314, 354, 429, 558, 609, 611, 613, 632, 641 f., 842, 1061, 1069 Sozialer Tod 22, 489 Sozialpolitik 32 f., 44, 52, 80, 102, 513, 605 Sozialstaat/-lich 17, 32 ff., 43 ff., 52 ff., 65, 71, 74, 76–84, 97, 101, 103, 105, 274, 537, 562, 588 f., 593, 603 ff., 609, 683, 1067 Soziation 35, 103, 647, 657

Spur des Anderen 19, 23, 95, 166, 267, 306, 330, 349, 352, 381, 442, 1030, 1059 stásis 59, 143, 395, 470, 760, 976, 1033, 1037 Staunen 98, 362, 1033, 1060 Sterblichkeit 21, 123, 126, 138, 165 f., 211, 215, 217, 229 f., 256 ff., 265 f., 364, 372, 410, 557, 585, 1052, 1062 Subjektivierung 218, 220, 228 f., 267, 397 f., 658–669, 671 ff., 677–682, 684 ff., 691–702, 736, 741, 745, 749, 762, 934, 967 sujet capable 383 ff., 432, 783, 1070 Sympathie 30, 239, 249, 319, 972 System der Bedürfnisse 62, 453, 922 témoignage 163, 330 Tertialität 94, 97, 309, 313, 412, 1069 Tod, politischer 107, 392 f., 403, 409, 422, 709, 715, 717, 743, 722, 940, 1003 f. Totalitarismus/totalitär/-e Herrschaft 20, 60, 400, 548, 632, 643, 650, 638, 860, 881, 990, 1008, 1044 f., 1947, 1051, 1056 Unfrieden 831 ff., 847, 849, 855, 857, 859, 1050 Ungastlich/-keit 25, 364, 544, 551, 592, 644, 646, 997 Ungesellig/-keit 35, 60, 70, 84, 561, 1013, 1025, 1071 Unsichtbarkeit 519, 699 f., 713, 721, 730, 735, 833, 853 Urteilskraft 608 ff., 706 Verdinglichung 167, 311 Vergemeinschaftung 29, 167, 403, 618, 628–635, 638, 640 f., 645, 650, 742, 750, 1009 Vergesellschaftung/vergesellschaftet 21, 70 f., 76 f., 81, 84 ff., 88, 91, 95, 132, 152, 248, 297, 303, 467, 628, 631, 637 ff., 649 f., 754, 815, 893, 920, 923, 926, 954, 956, 961, 1012 ff., 1024, 1027, 1030

1167 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .

Sachregister Verlassenheit 21, 132, 230, 308, 315, 547, 657, 743, 1042, 1055, 1064 f. Verlässlichkeit 141 f., 175, 580, 591, 616, 806 f., 823 f., 857, 862, 867 f., 880 ff., Vermarkt(lich)ung 71, 79 f., 603, 659, 729 Verrat 17, 326, 333, 344, 587, 804, 811 ff., 819, 826–830, 835, 846, 848, 860, 864, 871, 875 f., 878 f., 883 Verrechtlichung 593, 762, 790, 792, 1013 f. Versprechen 25, 47, 53, 61, 71, 74, 80, 83, 89, 105, 137, 140, 144, 174, 271 ff., 371, 384, 394, 408, 475, 477, 571 ff., 579 ff., 584, 591, 629 f., 732, 740, 748, 750, 789, 829, 884, 911 ff., 946, 967, 985, 995 ff., 1025, 1030, 1065, 1070, 1072 Verwandtschaft 51, 197, 281, 372, 514 ff., 565, 578, 583, 593, 622, 626, 637, 640, 976 Verwundbarkeit 206, 211, 215, 220, 224, 227, 229 f., 235, 259, 368, 822, 878

Verzeitlichung/verzeitlicht 72, 200, 208, 300, 534, 904 Vokativ 92, 184, 202, 353, 1001 Volk 51, 79, 200, 409, 415, 516, 558, 696, 720, 740, 743 ff., 751 f., 954, 976, 1002 f., 1013 Völkermord 164, 571, 985, 1036 f., 1057 Weltbürger/-lich 58, 548, 706, 774, 841, 906, 942 Weltgesellschaft/-lich 45, 58, 65, 98, 640, 961, 1006, 1010 ff., 1014, 1017 Weltkrieg/-e 45, 67, 69, 90, 92, 101, 133, 148, 151, 163 f., 321, 373, 582, 587, 656, 889, 915, 976, 981, 983, 1001, 1055 f. Weltlos/-igkeit 70, 159, 162, 308, 397, 937, 1042, 1055, 1064 ff. Widerstreit 57, 83, 265, 305, 388, 391, 396, 402, 417, 419, 464, 468, 501, 605 f., 642, 709, 721, 761, 922, 999, 1001 f. Zivilität 635, 637, 824, 828, 920, 993

1168 https://doi.org/10.5771/9783495817421 .